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German Pages 426 Year 2019
Jürgen Brokoff, Robert Walter-Jochum (Hg.) Hass/Literatur
Lettre
Jürgen Brokoff (Prof. Dr.) ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin und Projektleiter im Sonderforschungsbereich »Affective Societies«. Nach Promotion und Habilitation in Bonn war er Vertretungsprofessor in Bonn sowie als Fellow der Alexander-von-Humboldt-Stiftung an den Universitäten UC Davis, Yale und Cornell (USA). Seine Forschungsschwerpunkte sind Konzepte von Gegenwartsliteratur, Literatur und öffentliche Meinung, Literatur und Kriegsverbrechen sowie Geschichte der Poesiesprache vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Robert Walter-Jochum (Dr. phil.), geb. 1981, ist seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Bis September 2018 war er tätig am dortigen Sonderforschungsbereich »Affective Societies«. In seiner aktuellen Forschung beschäftigt er sich mit der Schnittstelle von Hassrede und (Gegenwarts-)Literatur. Daneben publizierte er u.a. zur deutschen und österreichischen Gegenwartsliteratur sowie zu den Bereichen Autobiografik, »Literatur und Religion« sowie »Literatur – Affekt – Emotionen«.
Jürgen Brokoff, Robert Walter-Jochum (Hg.)
Hass/Literatur Literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einer Theorie- und Diskursgeschichte
Der Druck dieses Bandes wurde unterstützt durch eine Druckkostenförderung vonseiten der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG – Sonderforschungsbereich 1171: »Affective Societies. Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten«.
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Inhalt
Hass/Literatur Zur Einleitung
Jürgen Brokoff und Robert Walter-Jochum | 9
HASS ALS SPRACHLICHES UND LITERARISCHES PHÄNOMEN Legends of the Origins of Hate On the Etiology of a Societal Phenomenon (A Dialogue with Nicolaus Sombart)
Kirk Wetters | 29 Grundloser Hass: Formen idiosynkratischer Rede
Jörg Kreienbrock | 49 Anticapitalist Affect Georg Lukács on Satire and Hate
Jakob Norberg | 71 Tod der Literatur Hassrede und epochale Liminalität in Avantgarde-Diskursen des 20. Jahrhunderts (Marinetti, DADA, Brinkmann, Bernhard)
Simon Zeisberg | 93
HASSSPRACHE UND AFFEKTIVE GESELLSCHAFTSBILDUNG Der Extremismus der Mitte Hassrede und Ressentiment in der populistischen Gegenwart
Jörg Metelmann | 119 Zorn, Hass, Wut Zum affektpolitischen Problem der Identität
Johannes F. Lehmann | 139
Hassen im Modus bürgerlicher Etikette? Wie rechte Aktivisten den Islam ›rational‹ kritisieren
Aletta Diefenbach | 167 Wie ansteckend ist Hassrede? Normative Kausalität bei der Strafbarkeit affektiven Sprechens
Jonas Bens | 189
LITERATURGESCHICHTLICHE KONSTELLATIONEN DES HASSES Hagens Hass Zu einer handlungsleitenden Negativemotion in Nibelungenlied und Werner Jansens Buch Treue (1916/17)
Peter Glasner | 211 Luther – ein deutsches Hass-Subjekt Der Hass als Affekt des Reformators und seiner Wiedergänger in der Literaturgeschichte
Robert Walter-Jochum | 235 Streit, Infamie, Hass Figuren der Kritik im Fragmentenstreit
Roman Widder | 261 Hass und Nation bei Ernst Moritz Arndt
Jürgen Brokoff | 291 »Gott segnet unser Hassen« Das Hassmotiv in nationalsozialistischer Propagandalyrik
Anneleen Van Hertbruggen | 305 »Ein furchtbarer Haß stieg in ihm auf.« Franz Innerhofers Schöne Tage – ein Hasstext
Stefan Winterstein | 325
HASS ALS THEMA UND GEGENSTAND DER GEGENWARTSLITERATUR Blind vor Hass Elfriede Jelineks Ödipus-Fortschreibung Am Königsweg
Silke Felber | 343 Konstruktionen des Terrors Zur Hassrede in den Romanen Jenseits von Deutschland von George Tenner und Das dunkle Schiff von Sherko Fatah
Stephanie Willeke | 355 Hass als kritische Haltung? Maxim Billers Kolumnen
Martina Wagner-Egelhaaf | 379 Recht auf Satire – Recht auf Beleidigung? Recht, Sprache und Affekt im ›Fall Böhmermann‹
N. Yasemin Ural | 397
Autorinnen und Autoren | 417
Hass/Literatur Zur Einleitung Jürgen Brokoff und Robert Walter-Jochum
EINE MEDIENGESELLSCHAFT DES HASSES? HASSREDE IN DER GEGENWART Der Hass ist ein Thema, das in den gegenwärtigen vernetzten Gesellschaften in aller Munde ist. Insbesondere die Verlagerung eines wesentlichen Teils der gesellschaftlichen Auseinandersetzung in onlinebasierte soziale Medien trägt dazu bei, dass Hassrede – und mit ihr der Hass selbst – als soziales Phänomen einen ungeahnten Aufschwung genommen hat. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür ist sicherlich die Abkoppelung, die in den sozialen Medien von tradierten Formen der Kommunikation unter gleichzeitig Anwesenden gegeben ist, womit die Möglichkeit einhergeht, seinem Hass zunächst ohne direkte, möglicherweise negative Rückkopplungen und Sanktionierungen im sozialen Nahfeld freien Lauf zu lassen. Hassrede in einem engen Wortverständnis – also als Aufstachelung zu Gewalttaten – wird in enger Verbindung mit dieser Zunahme ihrer Präsenz in digitalen Kontexten wahrgenommen, ein Phänomen, das in den letzten Jahren als Begleiterscheinung einer in verschärftem Maße polarisierten Debatte um gesellschaftliche Transformationsprozesse und Globalisierungseffekte verschiedenster Art deutlich sichtbar geworden ist. Ein politisch ermutigendes Zeichen mag dabei sein, dass Phänomenen der Solidarisierung in der Ablehnung des anderen bzw. im Hass auch Phänomene affektiver Gruppenbildungen gegenüberstehen, die sich gegen den Hass wenden, sodass diesem – gegen die Intuitionen derer, die Hass verbreitet sehen wollen – auch eine produktive Komponente der Solidarisierung gegen den Hass abzugewinnen ist. Ein besonders markantes Beispiel, wie in dieser Weise die Stoßrich-
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tung des Hasses umgewendet werden kann – wo also die Verdammung eines Einzelnen durch Hassrede zum literarisch-performativen Material wird, das seinerseits dazu dienen kann, dem hassenden Angreifer durch eine solidarische Kollektivbildung gegenüberzutreten – bildete das Projekt Hate Poetry (2012– 2015). Hier wurde, angeregt durch eine Idee der Journalistin Ebru Tasdemir, ein neues Bühnenformat etabliert: Eine Gruppe von Journalist_innen verschiedener Printmedien, die im Rahmen ihrer öffentlich sichtbaren Arbeit aufgrund des Umstands, dass ihre Namen auf einen möglicherweise vorhandenen Migrationshintergrund hindeuten, mit hasserfüllten Postings, Briefen und E-Mails attackiert wurden, trugen diese in öffentlichen Veranstaltungen vor und machten sie so zum Gegenstand einer kollektiven Performance. Ein kurzer Auszug aus einer Hate-Poetry-Veranstaltung verdeutlicht, welcher Art die Hassrede ist, mit der die Schreibenden demnach in großer Regelmäßigkeit konfrontiert sind. Özlem Gezer (Der Spiegel) und Yassin Musharbash (Die Zeit) lesen hier aus Schreiben vor, die sie erreicht haben: ÖZLEM GEZER: »Der Spiegel hat jetzt die türkische Journalistin Özlem Gezer ins Programm genommen. Und wie nicht anders erwartet, beglückt die uns mit ihren dümmsten antideutschen Gülleartikeln. […] Du bist eine türkische Islam-Muschi.« […] YASSIN MUSHARBASH: »Und der linke, gehirnamputierte, christliche Islam-Speichellecker Journalisten-Oberdepp Yassin Musharbash von der Zeit ist keine Spur besser (Pfiffe) – steck dir deine Parole ›Islam ist Frieden‹ hinten rein!« […] ÖZLEM GEZER: »Ich finde, Sie müssten demütiger sein. Wenn wir Deutschen Ihre Großeltern nicht reingelassen hätten, dann würden Sie jetzt wahrscheinlich ein Kopftuch tragen, sechs Kinder haben und bestimmt nicht für den Spiegel schreiben – wenn Sie überhaupt schreiben könnten.« – (Lachen) und jetzt wird’s echt hart für mich: – »Ich werde übrigens auch Ihren Chefs schreiben! (Lachen) Die sollten Sie in den Putzdienst geben, dann wären (Lachen) – dann wären Sie vielleicht wieder unter Gleichgesinnten und würden nicht so die Klappe aufreißen.« […] YASSIN MUSHARBASH: »Geh endlich sterben, Musharbash, du Faschistensau! Morgen wird dir ein hübsches Paket zugestellt, du weißt schon, die bestellten Druckertoner aus deiner Heimat, Fickdeppenarschland!«1
Deutlich wird, dass die Hassrede sich in den Texten – die hier sicherlich mit Blick auf ihren besonders abschreckenden Charakter, der in seinem Mangel an
1
Zit. nach: Yasemin Ergin: Hate Poetry: Rassistische Leserbriefe unterhaltsam gelesen. Beitrag aus 3sat-Kulturzeit, 19.02.2014. https://www.youtube.com/watch?v=_KWQyRt51Q (29.12.2018).
Hass/Literatur: Zur Einleitung | 11
Argumentation wie seiner beinahe humoristischen Zuspitzung auf absurde Stereotypisierungen aber auch unterhaltsame Züge hat – als eine Kommunikationsform hochgradig affektiver Prägung darstellt: Die Beschimpfung der Journalist_innen mit auch sprachlich interessanten Neologismen, asyndetischen Reihungen von herabwürdigenden Schimpfworten und ihrem von zahlreichen Ausrufen geprägten Stil lassen schon auf sprachlicher Ebene erkennen, dass man es mit einer stark affektiven Rhetorik zu tun hat. Hinzu kommt eine weitere Ebene affektiver Dynamik, und zwar die einer spezifischen gruppenbildenden Relationierung der Einzelnen, die aus der Perspektive der Affect Studies die Hassrede zu einem besonders interessanten Fall macht. Im vorliegenden Beispiel ist diese Relationierung deutlich von einer rassistischen Logik geprägt – die Protagonist_innen werden in den Hassbriefen als ausgeschlossen aus einer implizit wie explizit (»wir Deutschen«) festgelegten ethnisch definierten Gruppe gezeichnet; allein ihre Namen und ihre von den Briefschreiber_innen daraus abgeleitete vermeintliche Herkunft schließen sie von vornherein aus dem ethnisch festgelegten Kollektiv aus. Durch die performative Wiederaufführung, das Reenactment2 der Hasstexte unter Verschiebung der Sprecherposition – die von den Briefen Angesprochenen werden selbst zu den Sprechern und setzen sich hierdurch noch einmal neu zu den Texten in Beziehung – wird ein spezifischer weiterer Effekt hervorgebracht, der ebenfalls diese Kraft der Hassrede zur Gruppenbildung nutzt: nur in entgegengesetzter Weise. Während die Texte auf der semantischen Ebene den Ausschluss der vermeintlich migrantischen Journalist_innen aus einem diffusen ethnischen Kollektiv durch ihre Hassrede betreiben, ermöglicht die performative Logik, die Texte zum Gegenstand einer Art Comedy-Veranstaltung zu machen. In deren Rahmen werden sie dann gemeinsam – in einem affektiven Akt eines Kollektivs der Beschimpften wie des Kollektivs derjenigen, die sich als Publikum mit diesen solidarisieren – verlacht und sie werden dazu genutzt, eine Gegengruppe zum impliziten Kollektiv der rassistischen Briefschreiber_innen herzustellen: Die Hassrede löst eine affektive Solidarisierung im Lachen aus, überführt die Angriffe in einen neuen affektiven Modus und das Reenactment wird
2
Zu einer affekttheoretischen Deutung dieses Begriffs vgl. Adam Czirak u. a.: (P)Reenactment. In: Affective Societies – Key Concepts. Hg. v. Jan Slaby und Christian von Scheve. London: Routledge 2019, S. 200–209.
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so zu einer Form der affektiven Politik, die Performance und das Politische miteinander verschränkt.3
EINE THEORIE DER HASSREDE ALS BAUSTEIN ZUM VERSTÄNDNIS VON AFFECTIVE SOCIETIES Mit Blick auf Hass und Hassrede lässt sich, wie das eingangs angeführte Beispiel verdeutlichen sollte, mit guten Gründen für einen Begriff von Affective Societies argumentieren. Mit Affective Societies beschäftigt sich ein gleichnamiger, von von der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit 2015 geförderter Sonderforschungsbereich an der Freien Universität Berlin. In dessen Rahmen hat im Mai 2018 eine Tagung zum Thema »Hass/Literatur« stattgefunden, die Beiträge dieses Bandes sind großenteils im Rahmen dieser Tagung entstanden. Die »Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten«, wie es im Untertitel des Forschungsverbundes heißt, zu untersuchen, liegt in den skizzierten Fällen auf der Hand. Mit der Wahrnehmung unserer Gegenwartsgesellschaften, aber auch historischer sozialer Formationen als Affective Societies geht der Anspruch einher, Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht ausschließlich, aber auch auf affektive und emotionale Prozesse zurückzuführen, denen in der Geschichte der Gesellschaftstheorien bislang eher am Rande Relevanz und Bedeutung zugesprochen wurden. Konkreter Rahmen der Tagung war die bidisziplinäre Zusammenarbeit im literaturwissenschaftlich-soziologischen Teilprojekt »Gefühle religiöser Zugehörigkeit und Rhetoriken der Verletzung in Öffentlichkeit und Kunst«, das sich mit der Frage beschäftigt, wie in aktuellen gesellschaftlichen Konflikten um religiöse Zugehörigkeit in multireligiösen Gegenwartsgesellschaften affektive Dynamiken sichtbar werden und welche Rolle sie im öffentlichen Diskurs wie auch in dessen künstlerisch-literarischen Reflexionen spielen. Die Hassrede oder – allgemeiner gesprochen – die »Rhetoriken der Verletzung« bilden dabei ein Feld, in dem Affektivität und affektive Grundlagen moderner Gesellschaften gewissermaßen in einer zu Sprache geronnenen Form analysierbar werden, weshalb dieses Feld unter anderem für die Literaturwissenschaft von Bedeutung ist. Ausgangspunkt ist dabei, dass Affekte mit und durch Sprache transportiert werden und an der Bildung von etwas beteiligt sind, was im Anschluss an die inter-
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Zur Dimension des Politischen und ihren affekttheoretischen Implikationen vgl. Jonas Bens u. a.: The Politics of Affective Societies. An Interdisciplinary Essay. Bielefeld: transcript 2019.
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disziplinäre Arbeit des Berliner Sonderforschungsbereichs »affektive Relationalität«4 genannt werden kann. Gemeint ist damit, dass Affekte nicht als Besitz eines Einzelnen oder einer Gruppe wahrgenommen werden, sondern als Intensitäten, die die Rede vom Einzelnen oder einer bestimmten Gruppe in ihren Beziehungen zu anderen erst möglich machen. Affekte sind damit wesentlich Beziehungsphänomene, die nicht zuletzt deshalb innergesellschaftliche Dynamiken erschließbar machen. Eine Emotion oder eine verfestigte Haltung wie der Hass verweist in dieser Perspektive auf affektive Dynamiken, die durchaus konflikthafte Aushandlungsprozesse des gesellschaftlichen Miteinanders sichtbar werden lassen. Sprache, Diskurs und Literatur sind dabei sowohl der Ort, an dem diese Aushandlungsprozesse stattfinden, als auch das Material und die Mittel, mit denen dies erfolgt. Unter Hass lässt sich mit dem Philosophen Aurel Kolnai ein Gefühl von »Feindschaft, Widerstreben, Ablehnung, Gefühlseinstellung negativer Art« verstehen, das von der »Einsetzung der eigenen Person« bestimmt wird, von »Tiefe und Zentralität« geprägt ist und dem eine Intention oder Tendenz der »Vernichtung« gegenüber dem Gehassten innewohnt.5 Hass lässt sich dabei als eine verfestigte Haltung beschreiben, die in dieser Hinsicht von anderen, eher episodisch auftretenden negativen Gefühlen wie Zorn oder Ekel abzugrenzen ist. Häufig gehen dem Hass Erfahrungen der Missachtung und Ohnmacht6 voraus, die sich zu einer »starken einheitlichen Gefühlsbewegung«7 verdichten und gegen ebenbürtige oder überlegene Personen und geistig-unpersönliche Mächte gerichtet sind. Dies unterscheidet den Hass von der Verachtung, die häufig mit einem Gefühl persönlicher und moralischer Überlegenheit einhergeht. Kolnai betont, dass der Hass ein »höher gespanntes metaphysisches Bewusstsein«8 mit sich bringt und sich daher dazu eignet, ein »Weltbild des Hasses« auszugestalten, das nicht auf pragmatische Konfliktlösung orientiert ist, sondern auf die Verfestigung der Ablehnung des gehassten Gegenstandes bzw. dessen Zerstörung, womit ein über den konkreten Einzelfall hinausgehender Welthass einhergehen kann.
4
Vgl. dazu Jan Slaby: Relational affect. Working Paper SFB 1171 Affective Societies, 02/2016. https://refubium.fu-berlin.de/handle/fub188/17927 (29.12.2018); Jan Slaby/ Birgitt Röttger-Rössler: Introduction: Affect in Relation. In: Affect in Relation. Families, Places, Technologies. Hg. v. dens. London: Routledge 2018, S. 1–28.
5
Aurel Kolnai: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Mit einem Nachwort von Axel Honneth. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 100 f., 105.
6
Ebd., S. 103.
7
Ebd., S. 114.
8
Ebd., S. 133.
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Aus literaturwissenschaftlicher Sicht sind vor allem sprachliche Ausformungen des Hasses relevant, die zusammenfassend als Hassrede bezeichnet werden können. Eine allgemein gültige wissenschaftliche Festlegung des Begriffs fehlt; gemeint ist zumeist eine verletzende, herabsetzende oder herabwürdigende Rede gegenüber anderen, die in der Regel mit pauschalisierenden, gruppenbezogenen Negativbewertungen operiert. Dabei steht im Hinblick auf sprach- und literaturwissenschaftliche Phänomene nicht notwendigerweise die direkte Verknüpfung mit dem Aufruf zu physischer Gewalt im Zentrum (wie sie verschiedene juristische Begriffe der Hassrede, etwa in den Vereinigten Staaten, zentral setzen9), sondern in weiter Form die Ausrichtung auf die Verletzung des oder der Angesprochenen, die besonders unter dem Aspekt einer in der Sprache gewährleisteten Subjektivierung von Bedeutung ist. Ein in diesem Sinn weiter gefasster Begriff der Hassrede schlägt sich etwa auch in einer Formulierung des Europarates nieder, wonach darunter jegliche Ausdrucksformen, welche Rassenhass, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder andere Formen von Hass, die auf Intoleranz gründen, propagieren, dazu anstiften, sie fördern oder rechtfertigen, einschließlich der Intoleranz, die sich in Form eines aggressiven Nationalismus und Ethnozentrismus, einer Diskriminierung und Feindseligkeit gegenüber Minderheiten, Einwanderern und der Einwanderung entstammenden Personen ausdrücken.10
Den Konnex zwischen Hassrede und sprachlicher Subjektivität bzw. deren Bedrohung oder Vernichtung betont insbesondere die Philosophin Judith Butler. Das Subjekt wird demzufolge durch die sprachliche Anrufung erst konstituiert – und es kann daher auch durch die sprachliche Verletzung in der Hassrede durch Vernichtung bedroht werden: Sprache erhält den Körper nicht, indem sie ihn im wörtlichen Sinn ins Dasein bringt oder ernährt. Vielmehr wird eine bestimmte gesellschaftliche Existenz des Körpers erst dadurch möglich, daß er sprachlich angerufen wird. […] Wenn die Sprache den Körper erhalten kann, so kann sie ihn zugleich in seiner Existenz bedrohen.11
9
Vgl. dazu den Aufsatz von Jonas Bens im vorliegenden Band.
10 Europarat – Ministerkomitee: Empfehlung Nr. R (97) 20 an die Mitgliedstaaten über die »Hassrede« (30.10.1997), http://www.egmr.org/minkom/ch/rec1997-20.pdf (29.12.2018). 11 Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 14 f.
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Die gleitende Zuordnung der Hassrede zu ihren Gegenständen im Rahmen des Sprechaktes ermöglicht es jedoch auch, ihr zu entgehen bzw. die semantische Zuordnung der Hassrede als Signifikat zu im Sprechakt angesprochenen Signifikanten zu unterlaufen – eine Strategie, die in der eingangs skizzierten Hate Poetry konstruktiv genutzt wird. Auf Derrida aufbauend thematisiert Butler solche Strategien der Umcodierung von Hassrede unter dem Stichwort einer »Reinszenierung und Resignifizierung«.12 In der Iteration – einer von solchen Verschiebungen gekennzeichneten Wiederholung – eines Hasswortes, das durch wiederholte Nutzung mit abweichender Bedeutungszuschreibung einen Teil seiner verletzenden Kraft verlieren kann (wenn es sich auch nicht vollständig von der Funktion der Verletzung lösen lässt), ist es dem durch Hassrede verletzten Subjekt möglich, sich selbst wieder zur Geltung zu bringen und in der sprachlichen Gegenwehr gegen die verletzende Rede die eigene Subjektivität zu stärken. Neben dieser von Butler vor allem adressierten symbolisch-sprechakttheoretischen Verletzung durch die Hassrede sind auch Formen zu berücksichtigen, durch die die gesprochene oder geschriebene Sprache selbst physischmaterielle Wirkung entfaltet und sich so »einer stummen Handlung annähert, einem Schlag, einem Hieb« und »als Ding« fungiert, wie dies Petra Gehring in ihren Überlegungen zur »Körperkraft von Sprache« reflektiert.13 Diesbezüglich wäre dann nicht nur ein symbolisches Verletzungsgeschehen durch Hassrede relevant, sondern gleichzeitig und darüber hinausgehend auch die tatsächlich physische Beeinträchtigung durch die sprachliche Verletzung – eine Beeinträchtigung, der mithilfe der Resignifikationsstrategien, die Butler skizziert, kaum noch beizukommen wäre. Analytische Relevanz erhält durch diesen Grundgedanken die Frage, welche materiale Gestaltung Sprechakten und sprachlichen Wendungen eine derartige Verdinglichung der Sprache ermöglicht. Naheliegend scheint diese sprachliche Kraft der Hassrede in Situationen der direkten (auch körperlichen) Konfrontation – aber auch in besonderer Drastik des sprachlichen Ausdrucks, der Wortwahl und allgemeiner gesprochen der sprachlichen Materialität ist sie zu beobachten.14
12 Ebd., S. 26. 13 Petra Gehring: Über die Körperkraft von Sprache. In: Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung. Hg. v. Steffen K. Herrmann, Sybille Krämer und Hannes Kuch. Bielefeld: transcript 2007, S. 211–228, hier: S. 213. 14 Zu einem Vorschlag zur strukturierten analytischen Erfassung dieser und anderer Dimensionen von Affekt im Diskurs, vgl. Anna L. Berg, N. Yasemin Ural, Christian von Scheve und Robert Walter-Jochum: Reading for Affect – A Methodological Proposal for Analyzing Affective Dynamics in Discourse. In: Analyzing Affective Societies:
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Ein wesentlicher Aspekt von Hassrede liegt in der von Kolnai als »Manichäismus« beschriebenen Struktur, eine affektive Gruppenbildung zu ermöglichen, die bis hin zu einer Gegenüberstellung der hassenden und der gehassten Partei als »Gottesheer gegen Teufelsheer«15 reicht. Kolnai attestiert dem Hass daher eine grundlegende Affinität zum Religiösen, und zwar insofern, als er eine »›Verteufelung‹ des Gegenstandes« mit sich führe, der auf der anderen Seite die Liebe »des absolut wertvollen, also Gottes«16 gegenüberstehe, die mit dem Eigenen assoziiert werde. Über die sowohl argumentativen als auch affektiven Züge der Hassrede kommt es so zur Bildung von Kollektiven im Sinne einer »Affective Economy«, die die Zirkulation der Hassrede dazu nutzt, Festschreibungen von gleichermaßen geliebten wie gehassten Gruppen zu ermöglichen.17 Hass kann insofern als affektives Bindemittel in Kollektiven genutzt werden und gelangt in dieser Hinsicht vor allem als »politischer Haß«18 zur Ausprägung. Diese politische Funktion der Hassrede kann ideologisch eingesetzt werden, wie es in verschiedenen aktuellen ebenso wie historischen Kontexten zu beobachten ist.
ANSÄTZE ZU EINER LITERATURGESCHICHTE DER HASSREDE In literatur- und kulturgeschichtlicher Perspektive lassen sich verschiedene Konjunkturen der Hassrede ausmachen und Konstellationen auffinden, in denen spezifische Umgangsweisen bzw. Funktionalisierungen des Hasses hervortreten. Eine durchgängige, auf den deutschen und europäischen Sprachraum bezogene Literatur- und Kulturgeschichte des Hasses fehlt bislang jedoch. In der Literatur der römischen und griechischen Antike, aber auch in der des deutschen Mittelalters mangelt es nicht an Heldinnen und Helden, deren außerordentlicher Hass gleichzeitig ihre Außerordentlichkeit an sich deutlich werden lässt. Dies gilt etwa für den Hass Medeas, der so weit reicht, dass sie die nach ethischen Maßstäben der Zeit vollständig inkommensurable Tat des Mords an den eigenen Söhnen vollzieht. Die Brüder Antigones, Eteokles und Polyneikes, bilden sich hassende Antipoden, deren angesichts des Hasses vollkommen un-
Methods and Methodologies. Hg. v. Antje Kahl. London: Routledge 2019, S. 45–62 (im Druck). 15 Kolnai: Ekel, Hochmut, Haß, S. 133. 16 Ebd., S. 135. 17 Vgl. Sara Ahmed: Affective Economies. In: Social Text 22 (2004), H. 2, S. 117–139. 18 Kolnai: Ekel, Hochmut, Haß, S. 104.
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versöhnlichem Gegeneinander im Zusammenspiel mit dem Willen der Schwester, beiden gerecht zu werden, die Kraft eignet, das moralisch-rechtliche Funktionieren der Polis infrage zu stellen. Dasselbe gilt unter anderen Bedingungen für das Nibelungenlied, das zudem unter nationalen und nationalistischen Vorzeichen eine vielfältig von Hass bestimmte Rezeptionsgeschichte aufzuweisen hat.19 Der Hass Kriemhilds auf Hagen, ausgelöst von dessen Verrat, kann erst im Blutbad gestillt werden – der Hass wird hier zur Parteien bildenden Kraft, geht aber aus von den diese Parteien symbolisierenden zentralen Figuren, denen er als persönliche Emotion zugeschrieben wird. Die Funktion der Bildung von Hasskollektiven aus politisch-ideologischen Gründen ohne derartige Stellvertreterfiguren lässt sich in den Auseinandersetzungen zwischen Reformation und Gegenreformation im 15. und 16. Jahrhundert,20 dann aber auch etwa im preußischen Nationalismus um 1800 sowie in der Literatur der sogenannten Befreiungskriege beobachten. So befasst sich Ernst Moritz Arndts Schrift Über Volkshaß von 1813 damit, wie der Hass einzusetzen ist, um für die ›Erhebung‹ der deutschen Nation gegen die französische Besatzung zu mobilisieren. Arndts Text führt im Sinne eines kalkulierten Tabubruchs den Hassbegriff als politische Kategorie in den Meinungsbildungsprozess der Zeit ein und macht ihn somit gesellschaftsfähig.21 In diesem Kontext sieht Arndt ab von einer persönlichen Angesprochenheit durch das Hassobjekt, das so nicht nur auf zunächst nicht persönlich tangiert scheinende Mitglieder der eigenen Gruppe, sondern auch auf andere Generationen übertragen werden kann – der persönlichen emotionalen Betroffenheit bedarf es hier im ersten Schritt nicht. In seiner Abstraktheit und Abkoppelung von persönlichen Interessen ist der Hass auf die Franzosen damit Staatsräson und soll nicht nur für die Erhaltung der deutschen Nation bürgen, sondern einen »Gefühlsraum Nation«22 allererst entstehen lassen. In Heinrich von Kleists Herrmannsschlacht (geschrieben um 1808) wird deutlich, dass der Hass zu politischen Zielen zu instrumentalisieren ist – unabhängig von einer tatsächlichen Berechtigung der Vorwürfe, die dem über die Hassrede angesprochenen Gegner (in diesem Fall die römischen Besatzer) zur Last gelegt werden. In der Ambivalenz von nationalistischer Programmatik und deren Beobachtung stehend, veranschaulicht Kleist, wie sowohl im
19 Vgl. hierzu den Beitrag von Peter Glasner im vorliegenden Band. 20 Vgl. hierzu den Beitrag von Robert Walter-Jochum im vorliegenden Band. 21 Vgl. hierzu den Beitrag von Jürgen Brokoff im vorliegenden Band. 22 Dieter Langewiesche: Gefühlsraum Nation: eine Emotionsgeschichte der Nation, die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Gefühlsraum nicht einebnet. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 15 (2012), H. 1, S. 195–215.
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Privaten als auch auf der politisch-öffentlichen Ebene der Hass zum Treibstoff für einen Konflikt wird, der aus spezifischen Interessen der Handelnden geschürt werden kann.23 Der blutigen Drastik der durch Herrmann und seine Mitstreiter fingierten Verbrechen auf dem Feld der politischen Propaganda entspricht im Privaten das listige Schüren einer persönlichen Kränkung, das vor dem Ausmalen von Menschenopfern nicht zurückschreckt. Die Lyrik etwa Arndts, Kleists, Theodor Körners und Max von Schenkendorfs aus dieser Zeit zeugt darüber hinaus davon, dass die Sprache des Hasses insbesondere von Bildern des Überschusses, des Inkommensurablen und des Exzesses geprägt ist – die Vernichtungsintention des Hasses scheint diesen zu rechtfertigen, wenn Kleist in Germania an ihre Kinder bezogen auf die Franzosen in drastischer Weise zum Massenmord aufruft: Alle Plätze, Trift’ und Stätten, Färbt mit ihren Knochen weiß; […] Dämmt den Rhein mit ihren Leichen; Laßt, gestäuft von ihrem Bein, Schäumend um die Pfalz ihn weichen, Und ihn dann die Grenze sein!24
Die Gedichte der Befreiungskriegslyrik verbinden die Beschwörung von Feindschaft und Hass mit einem heroischen Ton, der für die Ausprägung lyrischer Aussage- und Diskursmuster in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts insgesamt typisch ist.25 Für die Artikulation von Hass folgt daraus eine flexible Einsetzbarkeit entsprechender Rhetoriken auch jenseits nationalistischer Ideologie. Georg Herweghs Gedicht Das Lied vom Hasse (1841) ist in dieser Hinsicht prägend, weil es die Rhetorik lyrischer Hassrede auf den internationalen, sozialistischen Kampf gegen Tyrannei und Unterdrückung überträgt:
23 Vgl. Johannes F. Lehmann: Zorn, Hass, Entscheidung: Modelle der Feindschaft in den Hermannsschlachten von Klopstock und Kleist. In: Historische Anthropologie 14 (2006), H. 4, S. 11–29. 24 Heinrich von Kleist: Germania an ihre Kinder. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Helmut Sembdner. Bd. 1, München: DTV 1977, S. 25–27. 25 Jürgen Fohrmann: Lyrik. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 6: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890. Hg. v. Edward McInnes und Gerhard Plumpe. München/Wien: Hanser 1996, S. 392–461.
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Die Liebe kann uns helfen nicht, Die Liebe nicht erretten; Halt’ du, o Haß, dein jüngst Gericht, Brich Du, o Haß, die Ketten! Und wo es noch Tyrannen gibt, Die laßt uns keck erfassen; Wir haben lang genug geliebt, Und wollen endlich hassen!26
Im 20. Jahrhundert wird Georg Lukács die dem Hass gegen die Klassenherrschaft innewohnende soziale und politische Dynamik in seine gattungstheoretischen Überlegungen zur Satire einbeziehen.27 Lukács’ Rede vom »heiligen Haß«28 geht womöglich direkt auf Herwegh zurück, der 1841 geschrieben hatte: Bekämpfet sie ohn’ Unterlaß, Die Tyrannei auf Erden, Und heiliger wird unser Haß, Als unsre Liebe, werden.29
Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts manifestieren sich die politisch motivierte Hassrede und ihre literarisch-kulturellen Formen der Anverwandlung vor allem im Diskurs des Antisemitismus, der nach 1871 im Deutschen Kaiserreich nicht nur im politischen Rahmen an Zulauf gewinnt – etwa im Berliner Antisemitismusstreit 1879/80 –, sondern auch in kulturelle Milieus einwandert. Die von Ludwig Börne schon 1821 getätigte Aussage, dass der »Judenhaß […] einer der pontinischen Sümpfe [ist], welche das schöne Frühlingsland unserer Freiheit verpesten«,30 gilt umso mehr für das im Wilhelminischen Deutschland vorherrschende gesellschaftliche Klima, in dem Judenfeindschaft und Judenhass den
26 Georg Herwegh: Das Lied vom Hasse. In: Vorwärts! Eine Sammlung von Gedichten für das arbeitende Volk. Hg. v. Rudolf Lavant. Zürich: Verlag der Volksbuchhandlung in Hottingen 1886, S. 237 f. 27 Vgl. hierzu den Beitrag von Jakob Norberg im vorliegenden Band. 28 Georg Lukács: Zur Frage der Satire. In: ders.: Werke, Bd. 4. Probleme des Realismus I. Neuwied: Luchterhand 1971, S. 83–107, hier: S. 106. 29 Herwegh: Das Lied vom Hasse, S. 237. Hervorhebung im Original. 30 Ludwig Börne: Der ewige Jude. In: Ludwig Börnes gesammelte Schriften. Vollständige Ausgabe in sechs Bänden, Bd. 3, Leipzig: Max Hesse o. J., S. 139–171, hier: S. 141.
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Status eines »kulturellen Codes«31 erhalten haben. Der im Verlauf des Ersten Weltkriegs sich verschärfende Antisemitismus, der auf perfide Weise die Loyalität deutscher Juden zu Nation und Vaterland infrage stellte (so etwa in der propagandistischen Maßnahme der »Judenzählung« von 1916), hat im Gegenzug assimilationsbereite und national gesinnte Juden dazu veranlasst, ihre Treue zum Staat unter Beweis zu stellen und in die nationalistisch aufgeheizte Hassrhetorik des Krieges einzustimmen. Ernst Lissauers Haßgesang gegen England von 1914 ist das in diesem Kontext bekannteste Gedicht. Es vereint die affektiv aufgeladene Markierung des Feindes mit der diskursiven Produktion eines Kollektivs: Wir wollen nicht lassen von unserm Haß Wir haben alle nur einen Haß Wir lieben vereint, wir hassen vereint Wir haben alle nur einen Feind: ENGLAND.32
In den Jahren der Weimarer Republik, die durch zahlreiche politische, institutionelle und kulturelle Krisen geprägt waren, bildet sich ein Klima der politischen Feindschaft und des Hasses heraus. Die Ermordung politischer Akteure, vor allem in den ersten Jahren der Republik (u. a. die Ermordung Matthias Erzbergers 1921 und Walter Rathenaus 1922), ging dabei mit einer verbalen Radikalisierung Hand in Hand, die in erster Linie die Texte der völkischen Bewegung und des neuen Nationalismus kennzeichnet. So findet der Hass Eingang in Hitlers zweibändige Schrift Mein Kampf (1925/27) und er bestimmt in zahlreichen Reden und Auftritten Hitlers und anderer Agitatoren die Hassrede als das »gesprochene Wort«33 – und auch in der Literatur der Zeit spielt er eine interessante Rolle, als der Hass sowohl als positive Emotion zur Aktivierung der eigenen Anhängerschaft wie auch als negative Emotion, die dem politischen Gegner zugeschrieben wird, figuriert.34 In den Jahren nach 1933 wird Hass zur offiziellen Maxime bei der Planung und Durchführung einer rassenideologisch grundierten antijüdischen Politik, doch ist bei allen Prozessen der emotionalen Mobilmachung und affektiven Aufladung die Bedeutung gegenläufiger Strategien nicht zu unterschätzen.
31 Vgl. Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code: 10 Essays. München: C. H. Beck 2000. 32 Ernst Lissauer: Haßgesang gegen England. In: ders.: Der brennende Tag. Ausgewählte Gedichte. Berlin: Schuster & Loeffler 1916, S. 40. 33 Volkov: Antisemitismus als kultureller Code, S. 54. 34 Vgl. hierzu den Beitrag von Anneleen Van Hertbruggen im vorliegenden Band.
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Im Kontext von Sozialdarwinismus, eugenischer ›Rassenlehre‹ und EuthanasieProjekten kommt es zu einer Verbrämung und Verschleierung von Hass, die sich betont ungerührt und abgekühlt, d. h. frei von affektiver Aufladung gibt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der darauffolgenden Gründung der Bundesrepublik und der DDR ist eine Konjunktur von Hass und Hassrede wieder im Umfeld der Kulturrevolution von 1968 zu verzeichnen. In der politisierten gesellschaftlichen Situation werfen sich – in allen politischen Lagern zwischen Springer-Presse und Sozialistischem Deutschem Studentenbund – die Akteure vor, Hass zu schüren und damit das gesellschaftliche Klima zu vergiften. Literarische Solidarisierungen mit der Protestkultur, etwa durch Hans Magnus Enzensberger oder Walter Boehlich im Kursbuch 15, operieren damit nicht zuletzt auch mit Hassfiguren, die sich gegen das Etablierte, vor allem auch etablierte Formen von Literatur wenden; ebenso tun dies zahlreiche Pamphlete aus zeitgenössischen Protestkontexten, die damit einerseits an die Hassrhetorik futuristischer und surrealistischer Avantgarden anschließen, andererseits jedoch auch zu politischen Aktionen bis hin zum Terrorismus aufrufen.35 Einige Jahre später, in Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke (entstanden 1972/73, postum publiziert 1979) wird der (hier politisch letztlich eher unspezifische) Hass auf das Bestehende schließlich zum zentralen Weltzugang einer pessimistischen Sicht der Dinge, die sich nicht zufällig Goethes Bewunderungen des Kleinen in seiner Italienischen Reise als wichtigen – mit Hassrede belegten – Gegenpol sucht: Man müßte es wie Goethe machen, der Idiot: alles und jedes gut finden was der für eine permanente Selbststeigerung gemacht hat, ist unglaublich, sobald man das italienische Tagebuch liest: jeden kleinen Katzenschiß bewundert der und bringt sich damit ins Gerede.36
Die Gegenwartsliteratur schließlich setzt sich – zum Teil in direktem Rekurs auf theoretische Vorüberlegungen, die etwa Butler geleistet hat – vielfach mit Fragen des Umgangs mit Hass und Hassrede auseinander. Eine wichtige Position im Feld der Versuche, über die Resignifizierung eines Hasswortes politische Relevanz zu entfalten, markiert dabei Feridun Zaimoglus Kanak Sprak,37 wo das verletzende Hasswort des ›Kanaken‹ inhaltlich umgedeutet als Gruppenbeschreibung postmi-
35 Vgl. hierzu den Beitrag von Simon Zeisberg im vorliegenden Band. 36 Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1979, S. 115. 37 Feridun Zaimoglu: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Hamburg: Rotbuch 1995.
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grantischer Milieus der zweiten und dritten Generation genutzt wird.38 ›Kanakster‹ übernehmen die ihnen zunächst als Schimpfwort begegnende Bezeichnung dabei für sich selbst und füllen sie im Sinne eines mit Stolz belegten Inhalts, wodurch sie sich diskursiv eine spezifische gesellschaftliche Nische aneignen, auch durch die Entwicklung einer hybriden Kunstsprache. Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Kontext, dass diese Aneignung dann ihrerseits erneut mit Hassrede operiert, die sich bisweilen gegen die eigene Elterngeneration, aber auch gegen die alteingesessenen ›Alemannen‹ richtet. Hassrede wird in Kanak Sprak somit einerseits zurückgewiesen und unterliegt einer Neuaneignung, andererseits wird sie selbst wieder produktiv gemacht zur Konstituierung einer Ingroup in Abgrenzung von abgelehnten Outgroups. Formate wie das seit der Jahrtausendwende im Theater- wie Filmbereich große Popularität erreichende Reenactment nutzen ähnliche Strategien, indem sie etwa Hassrede zur Wiederaufführung bringen, ihre Inhalte dadurch zum Teil entschärfen oder zur Analyse zur Verfügung stellen, aber auch eine alternative Gruppenbildung ermöglichen, die sich in der Gegenwehr gegen die in der Hassrede vorgenommenen Zuschreibungen realisiert. Zu nennen wären hier neben dem Aktivismus der Hate Poetry paradigmatisch Arbeiten von Romuald Karmakar (Das Himmler-Projekt, Hamburger Lektionen) und Milo Rau (Hate Radio, Breiviks Erklärung).39 In der unmittelbaren Gegenwart zeigt sich so die Relevanz verschiedener Literatur- und Kunstformen, eine Funktion zum gesellschaftlich ausgleichenden Umgang mit der Hassrede zu finden, die in öffentlichen Debatten zunehmend als Herausforderung für den sozialen Frieden erscheint.
ZUM VORLIEGENDEN BAND »Literatur kann den Hass zum Thema machen, sie kann selbst Ausdruck von Hass sein, aber sie kann auch ein Medium bereitstellen, das Hass hinterfragbar, sichtbar und analysierbar werden lässt. (Literarische) Texte daraufhin zu befra-
38 Vgl. dazu Robert Walter-Jochum: »Kanakster« vs. »Ethnoprotze«. Zur Subjektkonstitution durch Hate Speech bei Feridun Zaimoglu. In: Affektivität und Mehrsprachigkeit: Dynamiken der deutschsprachigen (Gegenwarts-)Literatur. Hg. v. Marion Acker, Anne Fleig und Matthias Lüthjohann. Tübingen: Narr Francke Attempto 2019, S. 127–146. 39 Vgl. Robert Walter-Jochum: (Ent-)Schärfungen – Terrorideologien als Material von Reenactments bei Romuald Karmakar und Milo Rau. In: Das Politische in der Literatur der Gegenwart. Hg. v. Stefan Neuhaus und Immanuel Nover. Berlin/New York: De Gruyter 2019, S. 255–272.
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gen, wie sie sich dem Hass nähern, wie sie ihm Ausdruck verleihen, wie sie ihn aber auch textuell herstellen und nachvollziehbar werden lassen, ist das Ziel dieser Tagung« – so wurde es im Call for Papers formuliert. Diese Zielsetzung, der sich die einzelnen Beiträge des vorliegenden Bandes aus sich ergänzenden, literatur- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven widmen, beinhaltet unterschiedliche Herangehensweisen an Sprache und Literatur. Literatur kann dabei erstens als analytisches Medium fungieren, das Hass in konkreten Situationen vorführt und transparent macht, wie und unter welchen Bedingungen Hass zum Tragen kommt. In dieser Hinsicht lässt sich, wie gezeigt, schon die antike Tragödie bisweilen lesen als analytische Versuchsanordnung des Hasses, die verständlich machen soll, wie das sozial meist nicht gedeckte Ausbruchsgeschehen einer Hasstat zustande gekommen ist und was seine Folgen sind – eine Linie der Hassliteratur, die bis in die unmittelbare Gegenwart reicht, wenn wir die Auseinandersetzungen der Gegenwartsliteratur mit Phänomenen wie PEGIDA und anderen Formen populistischer Ausgrenzungspolitiken oder dem internationalen Terrorismus betrachten.40 Ein zweiter wichtiger Punkt ist der einer Verschränkung von Hassliteratur mit historischen bzw. außerliterarischen Hassphänomenen. Auf diese kann Literatur in unterschiedlicher Form reagieren – sie kann sich affirmativ dazu verhalten und selbst zu Hass aufstacheln und ihn schüren (wie solche Formen von Literatur, die sich der Hasspolitik ideologischer Regime andienen); sie kann den Hass kritisch in den Blick nehmen und affektive Gegenpositionen beziehen (etwa im Fall einer antifaschistischen Literatur, die sich dem ideologischen Tenor ihrer Zeit mit einer abweichenden eigenen Position entgegenstellt); oder sie kann ihn analytisch betrachten und in seinem Funktionieren und seinen Verbindungen zu außerliterarischen Positionen einordnen. Nicht zu vernachlässigen sind hier auch Fragen von juristischer wie gesellschaftlicher Sagbarkeit, wie sie mit Debatten um Kunst- und Meinungsfreiheit und ihr Verhältnis zu einem Verletzungsgeschehen durch Sprache verbunden sind.41 Ein dritter Punkt betrifft schließlich die Rhetorik und Materialität der Hassrede: Der Massivität und letztlichen Vernichtungsintention des Hasses folgen vielfach eine spezifische Rhetorik und ein Sprachregister des Außerordentlichen,
40 Vgl. zum Letzteren die Beiträge von Stephanie Willeke und Silke Felber im vorliegenden Band. 41 Vgl. hierzu die Beiträge von Jonas Bens, Aletta Diefenbach, Johannes F. Lehmann, Jörg Metelmann und N. Yasemin Ural im vorliegenden Band.
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des Überschusses und der bis ins Höchste gesteigerten Intensität.42 Sprache kann im Rahmen einer Rhetorik der Verletzung letzten Endes gar zur »Waffe« werden, zum stumpfen Gegenstand, der jenseits eines darüber hinausgehenden inhaltlichen Anspruchs in allererster Linie verletzen soll. Mag diese Sprache der Intensität als ›Standardmodus des Außerordentlichen‹ im Rahmen der Hassrhetorik vielleicht der Normalfall sein, gilt es jedoch auch, alternative Paradigmen der sprachlichen Gestaltung von Hass in den Blick zu nehmen, die auf stärker verdeckte oder sublimierte Weise dem Hass Ausdruck verleihen – etwa im Bereich einer Rhetorik der Kritik, deren Übergänge zur Hassrede fließend sein können.43 Der vorliegende Band und die ihm zugrunde liegende Tagung, die vom 24.–26. Mai 2018 an der Freien Universität Berlin stattgefunden hat, wären nicht denkbar gewesen ohne die großzügige Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die Finanzierung des Sonderforschungsbereichs 1171: Affective Societies – Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten übernommen hat. Ihr sei ebenso gedankt wie dem Vorstand des Sonderforschungsbereichs, der die Förderung von Tagung und Publikation ermöglicht und großzügig unterstützt hat. Ferner danken die Herausgeber allen Beiträgern, ohne die die vorliegende perspektiven- und facettenreiche Auslotung des Feldes »Hass/Literatur« in dieser Weise nicht möglich gewesen wäre. Besonderer Dank gilt Herrn Djordje Kandić für seine Mitwirkung bei der Redaktion der Beiträge.
LITERATUR Ahmed, Sara: Affective Economies. In: Social Text 22 (2004), H. 2, S. 117–139. Arndt, Ernst Moritz: Über Volkshaß. In: ders.: Über Volkshaß und Über den Gebrauch einer fremden Sprache. O. O., o. V. 1813. Bens, Jonas u. a.: The Politics of Affective Societies. An Interdisciplinary Essay. Bielefeld: transcript 2019. Berg, Anna L., N. Yasemin Ural, Christian von Scheve und Robert WalterJochum: Reading for Affect – A Methodological Proposal for Analyzing Affective Dynamics in Discourse. In: Analyzing Affective Societies: Methods
42 Vgl. hierzu die Beiträge von Jörg Kreienbrock, Stefan Winterstein und Robert WalterJochum im vorliegenden Band. 43 Vgl. hierzu die Beiträge von Kirk Wetters, Roman Widder und Martina WagnerEgelhaaf im vorliegenden Band.
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and Methodologies. Hg. v. Antje Kahl. London: Routledge 2019, S. 45–62 (im Druck). Börne, Ludwig: Der ewige Jude. In: Ludwig Börnes gesammelte Schriften. Vollständige Ausgabe in sechs Bänden, Bd. 3. Leipzig: Max Hesse o. J., S. 139– 171. Brinkmann, Rolf Dieter: Rom, Blicke. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1979. Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998. Czirak, Adam u. a.: (P)Reenactment. In: Affective Societies – Key Concepts. Hg. v. Jan Slaby und Christian von Scheve. London: Routledge 2019, S. 200–209. Ergin, Yasemin: Hate Poetry: Rassistische Leserbriefe unterhaltsam gelesen. Beitrag aus 3sat-Kulturzeit, 19.02.2014. https://www.youtube.com/watch ?v=_KW-QyRt51Q (29.12.2018). Europarat – Ministerkomitee: Empfehlung Nr. R (97) 20 an die Mitgliedstaaten über die »Hassrede« (30.10.1997), http://www.egmr.org/minkom/ch/rec1997 -20.pdf (29.12.2018). Fohrmann, Jürgen: Lyrik. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 6: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890. Hg. v. Edward McInnes und Gerhard Plumpe. München/Wien: Hanser 1996, S. 392–461. Gehring, Petra: Über die Körperkraft von Sprache. In: Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung. Hg. v. Steffen K. Herrmann, Sybille Krämer und Hannes Kuch. Bielefeld: transcript 2007, S. 211–228. Herwegh, Georg: Das Lied vom Hasse. In: Vorwärts! Eine Sammlung von Gedichten für das arbeitende Volk. Hg. v. Rudolf Lavant. Zürich: Verlag der Volksbuchhandlung in Hottingen 1886, S. 237 f. von Kleist, Heinrich: Germania an ihre Kinder. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Helmut Sembdner. Bd. 1, München: DTV 1977, S. 25–27. Kolnai, Aurel: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Mit einem Nachwort von Axel Honneth. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. Langewiesche, Dieter: Gefühlsraum Nation: eine Emotionsgeschichte der Nation, die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Gefühlsraum nicht einebnet. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 15 (2012), H. 1, S. 195–215. Lehmann, Johannes F.: Zorn, Hass, Entscheidung: Modelle der Feindschaft in den Hermannsschlachten von Klopstock und Kleist. In: Historische Anthropologie 14 (2006), H. 4, S. 11–29. Lissauer, Ernst: Haßgesang gegen England. In: ders.: Der brennende Tag. Ausgewählte Gedichte. Berlin: Schuster & Loeffler 1916, S. 40.
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Lukács, Georg: Zur Frage der Satire. In: ders.: Werke, Bd. 4. Probleme des Realismus I. Neuwied: Luchterhand 1971, S. 83–107. Slaby, Jan: Relational affect. Working Paper SFB 1171 Affective Societies, 02/2016. https://refubium.fu-berlin.de/handle/fub188/17927 (14.12.2018). Slaby, Jan/Birgitt Röttger-Rössler: Introduction: Affect in Relation. In: Affect in Relation. Families, Places, Technologies. Hg. v. dens. London: Routledge 2018, S. 1–28. Volkov, Shulamit: Antisemitismus als kultureller Code: 10 Essays. München 2000. Walter-Jochum, Robert: (Ent-)Schärfungen – Terrorideologien als Material von Reenactments bei Romuald Karmakar und Milo Rau. In: Das Politische in der Literatur der Gegenwart. Hg. v. Stefan Neuhaus und Immanuel Nover. Berlin/New York: De Gruyter 2019, S. 255–272. Walter-Jochum, Robert: »Kanakster« vs. »Ethnoprotze«: Zur Subjektkonstitution durch Hate Speech bei Feridun Zaimoglu. In: Affektivität und Mehrsprachigkeit: Dynamiken der deutschsprachigen (Gegenwarts-)Literatur. Hg. v. Marion Acker, Anne Fleig und Matthias Lüthjohann. Tübingen: Narr Francke Attempto 2019, S. 127–146. Zaimoglu, Feridun: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Hamburg: Rotbuch 1995.
Hass als sprachliches und literarisches Phänomen
Legends of the Origins of Hate On the Etiology of a Societal Phenomenon (A Dialogue with Nicolaus Sombart) Kirk Wetters
For Anselm Haverkamp
This paper is a preliminary attempt to pose certain questions that have emerged from my recent re-engagement with the writings of a relatively unknown figure, Nicolaus Sombart. In the absence of anything like a Sombart-Forschung, the text that follows reflects a series of problems, topics and working hypotheses, which remain to be developed and perhaps modified. My primary focus, in relatively traditional literary-critical fashion, is the reconstructive reading of Sombart’s 1991 Die deutschen Männer und ihre Feinde. In the process, in order to mark the horizons of possible future inquiries, I will mostly only gesture toward the more familiar figures and ideas with which Sombart might be productively connected. The justification of the eccentric decision to publish work in progress on Nicolaus Sombart is twofold: First, because the question of hate, its possible causes and remedies, is urgent enough to outweigh the usual long-term professional calculations of academic research. Even if it is a personal quirk that caused me to prioritize Sombart’s version of the origins of fascism in the particular psychology of Wilhelminian masculinity, I am confident that readers of his work will find it not less relevant to present-day concerns than many other better-known studies on totalitarianism and authoritarianism that emerged after the Second World War. The second reason to prioritize Sombart is that the genealogy and corpus his work activates is real but under-researched. Sombart’s primary innovation at this technicalpragmatic level is to read Carl Schmitt through the lens of the Bachofen-reception. This genealogical argument, the merits of which were never seriously considered by anyone other than Sombart, was understandably not received enthusiastically by
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purely ›theoretical‹ readers of Schmitt.1 The case of Schmitt-Bachofen is, however, not essentially different from that of other ›great German theorists‹ (e.g. Engels, Lukács, Benjamin, Adorno) who held the nineteenth-century originator of the theo-
1
In the US context see especially John P. McCormick: Carl Schmitt’s Critique of Liberalism. Against Politics as Technology. Cambridge/New York: Cambridge University Press 1997, p. 269. I thank Robyn Marasco for calling my attention to this footnote, in which McCormick addresses the question of Schmitt’s anti-Semitism. McCormick here declares his wish to »refrain from psychologizing« and references Sombart’s work as the main example of »bizarre analyses« of this kind. What goes missing, however, is that the McCormick’s mode of analysis are fundamentally at odds with Sombart’s. According to the latter, who knew Schmitt since childhood (in the 1930s), it is impossible to understand his works without understanding their roots in antiSemitism. For Sombart, Schmitt’s most famous theoretical writings of the 1920s (McCormick’s focus) are only a kind of window dressing, whereas Schmitt’s most important work, written after 1938, represents a recontextualization and partial repudiation of the earlier theories. In any event, except for McCormick, Sombart was essentially never addressed within the U.S. Schmitt scholarship. – The situation in German-language scholarship is somewhat different, but leads to a similar result. Here one can see that certain leading figures of the 1990s, especially Friedrich Balke and Helmut Lethen, were able to receive productive impulses from Sombart. Cf. Friedrich Balke: Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts. Munich: Fink 1996, pp. 319, 338, 348–349, 354. Helmut Lethen: Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, pp. 148, 216, 224. These influential works by established scholars (which Sombart was not), combined with the international Schmitt-revival produced by Giorgio Agamben’s Homo Sacer (1995, English 1998) and Derrida’s The Politics of Friendship (1994, English 1998), displaced and superseded Sombart’s 1991 treatise. The only exception I am aware of is Helmut Lethen, whose latest book frequently references Sombart and can be seen as carrying on his speculative historical-biographical approach, which remains highly skeptical about whether Schmitt should be read purely as ›theory‹. Helmut Lethen: Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich. Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt. Berlin: Rowohlt 2018. The very topic of this book, the role of elites in history and society, bears traces of Sombart’s core sociological focus on the role and constitution of elites. – The best overall treatment of Sombart in his relation to Schmitt remains that of Dirk van Laak, originally from 1993 (fifteen years before Sombart’s death in 2008). Dirk van Laak: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik. Berlin: Akadamie Verlag 2002.
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ry of matriarchy in high esteem.2 In short, Bachofen, though often broadly celebrated as the first to view the relation of sex and culture as a historical dialectic, remains an unwelcome guest when it comes to differentiating reputable and disreputable theoretical genealogies. Within this dynamic of the theory reception – where the label ›theory‹ itself has become increasingly problematic (as in: ›conspiracy theory‹) – Nicolaus Sombart ended up on the disreputable side. The reasons for this can only be characterized as complicated, but given Sombart’s credentials as a Schmittian anti-Schmittian and outspoken defender of an emphatic version of European liberalism vs. what he sees as the long tradition of repressive German statism, I wonder if his case might not be worth reopening for the twentyfirst century. This brings me to the main topic – of hate.
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PRINCIPAL QUESTIONS
I do not claim to be a specialist with respect to the concept and discourse of and on hate, whether in its historical forms or in contemporary society. Others in this volume convincingly frame these aspects of the topic, but I will take the approach that hate is neither self-evident nor clearly definable, whether in its historical semantics or in its current political significance. In gathering and formulating my own thoughts about hate, it was difficult to get beyond what seemed to me to be the predictable and somehow clichéd approaches of literary history and
2
The scholarship on Bachofen and his reception is a respectable niche, which however seems to have been entirely unaware of Sombart’s efforts in this direction. Thus, as a larger project, it would be necessary to check Sombart against various scholarly strands represented in works such as: Uwe Wesel: Der Mythos vom Matriarchat. Über Bachofens Mutterrecht und die Stellung von Frauen in der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980; Georg Dörr: Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007; Richard Wolin: Walter Benjamin Meets the Cosmics. A Forgotten Weimar Moment. http://www.law.wisc.edu/m/ndkzz/wolin_revised_10-13_benjamin_meets_the_cosmic s.doc (2008; 09.08.2018); Peter Davies: Myth, Matriarchy and Modernity. Johann Jakob Bachofen in German Culture 1860–1945. Berlin/New York: De Gruyter 2010. Though such works represent major reevaluations, their lacunae with respect to Sombart’s corpus go beyond Schmitt. Theodor Däubler, for example, another esoteric Geheimtipp of the early twentieth-century German intelligentsia, plays no role in this scholarship.
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criticism: What is special about the idea and the word ›hate‹? To what does it refer, concretely, now and in the past? What is hate as feeling or as a phenomenon? Is it a feeling? Is it an emotion I have firsthand experience with or with which I can empathize? Is there a literary canon, ›classics‹ of hate?3 To what extent is the idea of unreflected, ›pure‹ hate or violent hate speech compatible with the modern concept of ›literature‹ (which must, almost by definition, allow a minimum of self-reflection)? As a result of these initial considerations, I also asked myself: Which academic disciplines are responsible for hate and the discourse on it? One answer jumped immediately to mind: not literature or literary criticism but psychology would be the obvious place to look in order to understand the sources of hate. But, with all due respect to psychology, it is equally clear that questions about hate cannot be addressed entirely within the professional or clinical sphere of psychology. First of all because, when we talk about hate today, we evidently have a political problem in mind, which cannot be addressed by psychology alone. Here one might also think about how the psychologization of politics can backfire, for example when it functions as the pathologization of political opponents. This tendency is arguably already discernible in Adorno-Horkheimer’s Elemente des Antisemitismus. Even if the diagnosis itself is correct, it can easily be interpreted in the context of political conflict as a moral stigmatization and political attack – an attempt to strip certain figures or ideas of their legitimacy. This may be effective in many cases, especially if the object of the attack is genuinely marginal, but as soon as the ›pathology‹ has occupied the political power-centers, it can easily rebuff or reverse the charges. This dynamic was recently on display in the U.S., in attempts to diagnose Donald Trump’s narcissism and dementia.
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In the present volume, see especially the contributions of Jürgen Brokoff, Peter Glasner, Jakob Norberg and Stefan Winterstein, which pose fundamental questions about the dynamics of hate in relation to individual, collective, rhetorical and literary performances. Especially Winterstein’s analysis of the isolating function of hate in the first person, as an aspect of literary interiority, sheds critical light on the more familiar tendencies of hate to galvanize collective sentiment (as in Glasner) or to function as a category of third-personal ascription (as in the categories of hate speech and hate crimes). See also Fatima Naqvi: The Literary and Cultural Rhetoric of Victimhood. Western Europe 1970–2005. New York: Palgrave 2007. Naqvi argues for a constitutive role of victimhood (evidently connected to hate) in contemporary identity- and subject-formation, with respect to which literature, art and film provide a metacommentary and symptomography.
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Another form of responsibility for the discourse on hate can be found in criminal justice systems, which are responsible for ascribing specific forms of thought, speech and action with the label ›hate‹. For example, the Federal Bureau of Investigation defines a »hate crime« as »a criminal offense against a person or property motivated in whole or in part by an offender’s bias against a race, religion, disability, sexual orientation, ethnicity, gender, or gender identity.«4 The decisive aspect of this definition is its emphasis on intent (motivation or partial motivation). Crimes motivated by hate are crimes that are not randomly directed, nor against a specific individual for specific reasons, but based on »bias« against a specific identity, i. e. against and because of the group to which the individual belongs or is imagined to belong. As juristically solid as this may be – for example as a means of imposing stronger punishments for such crimes, in order to deter them and thereby protect society from hate-filled subjects – they do not contribute in a meaningful way to our understanding of the sources of hate. The definition of ›hate‹ simply applies based on the criminal acts and their overt motivations. Reasons and causes need not be pursued further. The question of causality may have the appearance of objectivity, but as soon as it is asked, a further question imposes itself: What are the reasons for seeking to ›understand‹ hate and those who act based on it? How can we understand hate without risking contaminating ourselves with this toxic emotion? What would it even mean to ›understand‹ or ›sympathize‹ with a pathological, criminal and irrational form of emotionality? On this point, the literary classics may yet offer some insights. A literary locus classicus of the representation of hate, for example, would be Edmund’s monologue from the first act of Shakespeare’s King Lear. This speech creates a transparency of motivation that allows the audience to look into the mind of the figure, thereby contributing to the sense of comprehensibility of his subsequent actions: […] Wherefore should I Stand in the plague of custom, and permit The curiosity of nations to deprive me? For that I am some twelve or fourteen moonshines Lag of a brother? Why bastard? Wherefore base? When my dimensions are as well compact, My mind as generous and my shape as true
4
Quoted from Southern Poverty Law: Frequently Asked Questions About Hate Groups. https://www.splcenter.org/20171004/frequently-asked-questions-about-hate-groups# hate%20group (10.08.2018).
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As honest madam’s issue? Why brand they us With base? With baseness, bastardy? Base, base? (I/2)5
The innate yet partial social banishment of a category of individuals – bastards – whose inalterable identity allows them no chance of dignity or recognition, property or power, produces a feeling of denigration and simultaneous self-assertion, of superiority over the hated, unequal, non-consanguineous brother. A lot can be learned from such literary conjectures, but one may also rediscover in them much that is already overly familiar, for example topoi of envy and ressentiment. What Shakespeare presents to us, his audience, is ultimately only a speculation, even if it comes with the pedigree of antiquity and mythic coherence. It is only one more famous legend of the origins of hate. But does this kind of rationalization help with understanding, or may it not also further veil and mystify? Do literary depictions of hate rest only on psychological stereotypes, which incessantly reproduce themselves but are not finally provable in their truth content? At this level there is no shortage of plausible but not easily provable explanations of the origins of hate – for example, a popular one in the last two centuries, the narrative of economic or cultural exclusion as the trigger of societal hate. To conclude these preliminary considerations: The identification and legal incrimination of hating subjects as a factor to be reckoned with in modern societies only repeats and reinforces the forms of identification and exclusion which are often supposed to contribute to hate in the first place (as in the case of Edmund). To put it a little more emphatically: If hate is countered with love, if haters are identified as deficient subjects whereas lovers are taken to be morally superior and essentially better, then this represents not only a full departure from the realm of psychology, it also expresses the political problem of hate in accordance with Carl Schmitt’s notorious friend-enemy distinction. Perhaps we feel it necessary to accept this consequence in the name of securing ourselves against hate (e. g. in the form of foreign or domestic ›terrorists‹), but at least we should be honest about the fact that this means conceding that hatred as a Schmittian organizational form is the dominant normal situation (or at least an inevitable byproduct) of the socioeconomics of modern global societies. Contrary to such a neo-gnostic worldview, and despite the possibility of its current structural dominance, I offer a first citation from my main dialogue partner in this essay, Nicolaus Sombart’s Die deutschen Männer und ihre Feinde: Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmy-
5
William Shakespeare: King Lear. Ed. R. A. Foakes. London: A & C Black Publishers 1997, pp. 179–180.
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thos (1991). On the topic of anti-Semitism, which Sombart understands as the European Urphänomen of hate, he writes: »Zu sagen, Antisemitismus hat es immer und überall gegeben, ist bereits ein antisemitisches Argument.«6 To generalize the point slightly, if hate is accepted as an unavoidable societal fact, without making any effort to question its sources, this means implicitly granting its right to exist and thereby tacitly allowing that those who hate may be, if not justified, then at least fatally incurable in their condition.
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THE AUTHORITARIAN PERSONALITY
In order to develop an important background for Sombart’s ideas, which may help to clarify where his »bizarre analyses« (see footnote 1) are coming from, I now wish to briefly backtrack to Theodor Adorno’s speculations on the authoritarian personality, which has certain affinities to Sombart’s untimely Schmitt book. My main goal here is to highlight a theoretical line that is evidently of great contemporary relevance (not just for Sombart), but which has been largely disqualified as ›out of date‹ in comparison to more recent theoretical trends. In support of this return to the »AP«, I draw support from a recent essay by the Andreas Peglau on the Nicht-Veralten des ›autoritären Charakters‹.7 Peglau claims that the current scholarship on Rechtsextremismus has largely ignored or explicitly dismissed the works of Wilhelm Reich, Erich Fromm and the 1950 authoritarian personality study, while the recent works frequently are at a lower theoretical level than those of the mid-twentieth century theorists at their best. Nicolaus Sombart, according to my hypothesis, can be located on this ›outmoded‹ theoretical line. This point can be easily missed, however, since starting in 1980s Sombart increasingly identifies himself with earlier and less well-known figures such
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Nicolaus Sombart: Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos. Munich: Carl Hanser Verlag 1991, p. 275 (further citations marked with the abbreviation DMF).
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Andreas Peglau: Vom Nicht-Veralten des ›autoritären Charakters‹: Wilhelm Reich, Erich Fromm und die Rechtsextremismusforschung. In: Sozial.Geschichte Online 22 (2018), pp. 91–122. See also, published after the completion of the present essay: Robyn Marasco (Ed.): The Authoritarian Personality. South Atlantic Quarterly 117:4, October 2018.
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as Otto Gross, Theodor Däubler and Johann Jakob Bachofen – a canon he inherits from his lifelong mentor, Carl Schmitt.8
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I have been able to date this shift in Sombart’s thinking based on the following sources: The intense focus on Otto Gross seems to have been a result of Sombart’s reading of Martin Green: The von Richthofen Sisters. The Triumphant and the Tragic Modes of Love. New York: Basic Books 1974. The transformative impact of this book on Sombart’s understanding of the generation of his father (Werner Sombart) is documented in an essay published in Merkur in 1976: Nicolaus Sombart: Gruppenbild mit zwei Damen. Zum Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Eros im wilhelminischen Zeitalter. In: Merkur 30 (1976), pp. 972–990; republished as Nicolaus Sombart: Max Weber und Otto Gross. Zum Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Eros im wilhelminischen Zeitalter. In: Nachdenken über Deutschland. Vom Historismus zur Psychoanalyse. Munich: Piper 1987, pp. 22–51. In this essay, Sombart develops major themes of Die deutschen Männer und ihre Feinde, and settles on Schmitt as the focal point for his extensions of Green’s material (even if numerous topics of Sombart’s discussions with Schmitt significantly pre-date the reading of Green). Schmitt’s correspondence reflects the publication of the Green essay as a rupture in his relationship with Nicolaus: »Der dreifache, von Nicolaus Sombart rite vollzogene Vatermord […] wird Ihnen [Hans-Dietrich Sander] nicht entgangen sein; dergleichen gehört zu den schon seit langem nicht mehr schönen Künsten, ignoriert die Kern-Frage (nämlich Politische Theologie und Versailles) und hat den Vorteil, dass drei auf einen Schlag guillotiniert werden: Max Weber, Werner Sombart und – tiefgebeugt und gottergeben – Ihr alter Carl Schmitt.« Quoted from Schmitt und Sombart: Briefwechsel von Carl Schmitt, Nicolaus, Corina und Werner Sombart. Ed. Martin Tielke and Gerd Giesler. Berlin: Duncker & Humblot 2015, p. 124. Sombart however continues his dialogue with Schmitt regarding major theses of Die deutschen Männer, especially in the letter from July 28, 1978, which begins: »Lieber Herr Professor, Ist es möglich, dass Däubler Bachofen nicht gekannt hätte?« (Briefwechsel, p. 131). Evidence of Sombart’s interest in The Authoritarian Personality can be found at the Literaturarchiv in Marbach, in a photocopied typoscript of an unpublished lecture with the title Der denazifizierte Hitler (»Strasbourg, den 14. August 1977«), in which Sombart comments on the analytic genre of »Psychohistorie«, leading him to enthusiastically invoke the Authoritarian Personality study as a main example: »Eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang spielt zweifellos der Freudo-Marxismus, zu dessen Produkten ja auch Adornos amerikanische Studie ›The Authoritarian Personality‹ gezählt werden muss. Sie ist ein Stück psychohistorischer Hitlerdeutung!« (Bestand: Der Merkur. Briefe an ihn [Paeschke] von Sombart, Nicolaus 1976–1978, 80.3, p. 10).
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To establish the connection to the 1950 Authoritarian Personality and Sombart’s theses, the two most important concepts from Adorno are »the usurpation complex« and »the manipulative type«: (1) To make theoretically plausible the concept of a »usurpation complex«, Adorno mentions its crucial status in »occidental drama«, which attests to its »deep-rooted basis in instinctual dynamics.«9 The quasi-universal nature of this complex inheres, according to Adorno, in the inextinguishable human outrage at the fundamental illegitimacy of all privileges: »In the depths of his heart, everyone regards any privilege as illegitimate. Yet one is forced continuously, in order to get along in the world as it is, to adjust himself to the system of power relationships that actually defines this world« (AP 688). This accommodation to the world as it is – is at the same time a repression, which produces psychological disturbances. An ambivalent polarity emerges from this repression, producing on the one hand an identification with power and illegitimate privilege, on the other hand with the figure of the usurper who promises to overturn the structures through which power is illegitimately distributed. »Deep-lying, archaic mechanisms seem to be involved«, Adorno remarks, and concludes with the following speculative hypothesis: […] [P]eople are afraid of not really being the children of their parents. This fear may be based on the dim awareness that the order of the family, which stands for civilization in the form in which we know it, is not identical with ›nature‹ – that our biological origin does not coincide with the institutional framework of marriage and monogamy, that ›the stork brings us from the pond.‹ We sense that the shelter of civilization is not safe, that the house of the family is built on shaky ground. We project our uneasiness upon the usurper, the image of him who is not his parents’ child, who becomes psychologically a kind of ritualized, institutional ›victim‹ whose annihilation is unconsciously supposed to bring us rest and security. (AP 689)
(2) The »manipulative type« is, according to Adorno, the most dangerous kind of authoritarian personality. Onstage he (or she?) might be called »the intriguer«. Adorno reads the topos and psychology of fratricide into the motivational structure of such figures (of which Shakespeare’s Edmund would certainly be an example): »Manipulativeness may be one form in which death wishes for the siblings are allowed to come to the fore« (AP 769). What makes this type distinct,
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Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson & R Nevitt Sanford: The Authoritarian Personality. New York: Harper 1950, p. 688 (further citations abbreviated AP).
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however, is that he or she does not act out of affect, but instead pursues fixed ideas in a purely instrumental way, while looking on the world as an empty schema that only needs to be administered. This type does not »express« hatred emotionally, but comports himself (to follow Adorno’s gendering) with »sober intelligence, together with […] [the] almost complete absence of any affections« (AP 767). Under conditions of U.S. democracy, the researchers were only able to locate a few examples of this type, but imagined it as dominant under full-blown German fascism (AP 767). Thus, in order to exemplify this type, Adorno mentions Hitler and Himmler, while leaving a special place for Carl Schmitt as the prime example of this type. In a discussion of the attitudes of an extremely fascistic »insect toxicologist« (an occupation of evident symbolism in this context), Adorno writes: »His political concepts are defined by the friend-foe relationship, in exactly the same way as the Nazi theoretician Karl [sic] Schmitt defined the nature of politics. His lust for organization, concomitant with an obsession with the domination of nature, seems boundless« (AP 769). The significance of the fact that Schmitt comes up here in passing to exemplify an extreme point on the famous F-scale should perhaps not be overestimated. It would also be too much to assume that Adorno’s suggestion made a major difference for Sombart. But the affinity is striking, between the distanced empirical-typological method of the AP and Sombart’s historical-psychologicalbiographical study, which also reads Schmitt as the exemplary Typus of a dominant characterological configuration in Germany in the first decades of the twentieth century. Sombart, rather than rely on the AP’s methods of »opinion research« to unfold the authoritarian psyche in a cross section of contemporary society, focuses on a single case study, Carl Schmitt, whom he had known and learned from since childhood. Sombart thus sets aside the concept of an »authoritarian personality« and proceeds in a much more drastic way, presenting Schmitt as the living archetype of German masculinity in the late Wilhelminian and Weimar era. Sombart thus reads Schmitt as the epitome of a gendertheoretical syndrome that was produced en masse during his father’s generation. In this context, Schmitt represents a kind of hypertrophic form, but also functions as an indicator and symptom for the pathological potentials of late modernity and of humanity more generally.
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NICOLAUS SOMBART’S THESIS ON »GERMAN MEN«
In the present context, I will not be able to systematically present Sombart’s long and often extremely questionable book in its full length and complexity. I thus limit myself to selectively underscoring a few central ideas. But first, because the book and its author seem to be almost completely unknown, I am obliged to digress in order to provide some background and orientation.10 Sombart, born 1923, deceased 2008, was the son of the famous national economist Werner Sombart. Second only to Max Weber, Sombart senior represented the upper bourgeois figure of the internationally famous German mandarin – the lifestyle and intellectual style of the institution of German Wissenschaft. Nicolaus was thus ›to the manor born‹, a sociologist von Haus aus, inculcated with the aura of a massive paternal library – even if his actual academic career failed to fulfill these high expectations. From early on he was an outsider, fought in the war, and, after the destruction of his family’s home, sought refuge in Heidelberg, where in 1951 he completed a dissertation with Alfred Weber on SaintSimon and the origins of sociology as a Krisenwissenschaft. He was a founding member of the Gruppe 47 and a friend of Reinhart Koselleck. He abandoned his academic career for a position (starting 1954) as a cultural attaché at the Europarat in Strasbourg. During the roughly five decades of his later life, he remained academically active (at the periphery), publishing essays and shorter works (especially in Merkur), as well as a series of memoirs and, undoubtedly in some sense his life’s work and testament, Die deutschen Männer und ihre Feinde from 1991.11 Also, as quickly becomes evident upon reading the obituar-
10 My primary sources for these narratives are Sombart’s two memoirs: Nicolaus Sombart: Jugend in Berlin (1933–1943). Ein Bericht. Munich: Hanser 1987; Nicolaus Sombart: Rendezvous mit dem Weltgeist. Heidelberger Reminiszenzen 1945–1951. Frankfurt a. M.: Fischer 2000. 11 The relation of Sombart’s memoir project to Die deutschen Männer would be worth a more careful study. On the one hand, Sombart systematically integrates many of his ›theoretical‹ ideas in autobiographical and historical anecdotes. On the other hand, all of his work is permeated by a strong aversion to Wissenschaft, Theorie and the professorial habitus. This standpoint must have contributed to his prioritization of memoirs over scholarly (or semi-scholarly) writings. Especially striking in this regard is Nicolaus’s judgment of his own father, who spent the last decades of his life on an expansive new ›Kulturtheorie‹, which Sombart as a youth enthusiastically supported. But in
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ies, Sombart was perhaps best known for his unconventional lifestyle, which contributed to making him an academic and cultural outsider and may continue to present challenges in relation to his work’s main theses. To put it simply (at risk of oversimplification), Sombart was a vocal defender of sexual liberation, which he also made a part of his public persona and reputation, presenting a consistently (Otto Grossian, or perhaps one could say: hedonistic or libertine) prosex and pro-sexuality platform against the repressive attitudes that, for him, ruled in the generation of Schmitt.12 Leaving aside biographical elements that may have been perceived as ›scandalous‹, the attempt to reconcile Sombart’s views on sexuality and culture with dominant psychoanalytical, feminist and Foucauldian theorizations would be an extensive task whose outcomes I am not ready to predict. For now, I would simply say that Sombart’s understanding of his own politics, based on his belief that the origins of societal violence should be sought in the realm of sexuality, are broadly liberal-progressive and intensely opposed
retrospect he wished he had encouraged his father to commit his life’s story and experiences to posterity (Sombart: Jugend in Berlin, p. 40). 12 Increasingly, in the 1980s and 1990s, the tendency of German sources (including to some extent Sombart) is to suppose that the traditional patriarchy had been mostly defeated, thereby invalidating the old repression theories. If anything, the main risk in the age of neoliberalism is overcompensation in the other direction. See, for example, (cited affirmatively in Dörr: Müttermythos und Herrschaftsmythos, p. 21): Jörg Lau: Männerhaß und Männerselbsthaß als kultureller Mainstream. In: Merkur (655/666), Sept./Oct. 2004, pp. 933–944. Lau’s attack on Klaus Theweleit (who overlaps with Sombart in certain regards) would miss the mark entirely in Sombart’s case, insofar as Sombart argues that male self-hatred is perpetuated precisely in ultra-patriarchal formations which deny the feminine in men. See also (likewise cited by Dörr: Müttermythos und Herrschaftsmythos, p. 23): Jochen Hörisch: Feminismus/Gender Studies. In: Theorie-Apotheke. Eine Handreichung zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen. Frankfurt a. M.: Die Andere Bibliothek 2004, pp. 104–121. Hörisch’s intentionally provocative Bachofen-centric account of feminism is the only one I know of that mentions Sombart. Hörisch’s discussion on feminism’s ability to survive its own successes contains points that are probably no longer politically correct (if they ever were). In any case, this work from 2004 obviously does not reflect the latest in what might be called ›neopatriarchal‹ trends. On the other hand, see: Barbara Vinken: Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos. Munich: Piper 2001, who states on the first page: »Hierzulande ist seit den zwanziger Jahren in Sachen Gleichberechtigung nicht viel passiert« (p. 7).
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to the ideological legacy of the German Sonderweg. But beyond these broad strokes, individual aspects of his ideas could (and should) be critiqued and second-guessed at numerous levels.13 In the context of my own intellectual autobiography, it may also be helpful to readers, given how unknown Sombart and his books are, if I here briefly mention how it was that he came to be a part of my intellectual household: I read him for the first time in the late 1990s at the suggestion of Anselm Haverkamp and, for reasons that I can only speculate about, this was an epoch-making encounter. What Sombart recounted was for me at the time completely unheard of – an Aufarbeitung of the German past that I did not entirely trust, but which seemed all too plausible. I would compare the first reading experience to that of Freud’s Der Mann Moses. One can read this kind of psychohistorical speculation in a completely skeptical way – or one can try to do so –, but the narrative remains spellbinding. It is a grandiose piece of grand theory, presented and told with maximum literary and rhetorical finesse. I leave it to others to decide whether Sombart made a big impact in my subsequent work. I can say that I regularly included him in my bibliographies and perhaps sometimes may have indulged in some ›Sombartian‹ turns of argument. Until recently, I never thought to actually work on this unusual and somehow shady figure. To do so now seems important though, not only at a self-analytical level, but for more generally political reasons – because Sombart’s psychohistory of German men unfortunately seems to have lost little of its relevance (despite obvious massive changes in the state of sexual emancipation globally). Also, at a more academic-pragmatic level, Sombart’s analytic framework remains very useful in dealing with literary authors of the twentieth century. Thomas Mann, Frank Wedekind, Stefan George, Hugo von Hofmannsthal are regularly mentioned by Sombart, but many whom he doesn’t name, such as Heimito von Doderer, also fit the paradigm (father- and sexuality-problems, tied to the origins of his anti-Semitism). After working for more than a decade on a figure like Doderer, one wants to understand how it was, for example, that he was able to write the ultimate satire of patriarchy, the father-novel Die Merowinger oder Die Totale Familie (1962).
13 For example, Sombart’s emphasis of the late Schmitt’s turn toward the sea and the theory of sea power could be read as an anti-German/pro-English celebration of colonialism. One could debate the fairness of this reading, but Sombart’s anti-German/proFrench views also lead him, quite explicitly, to a psychoanalytically inflected liberalEurocentric vision of civilizational universalism.
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I could say much more about these topics, and hopefully at some future point I will, but for now I will conclude by presenting condensations of a few main theses from Sombart’s Die deutschen Männer: (1) Sombart’s Schmitt book, as I mentioned, is based on eccentric gendertheoretical premises, which include a strong biopolitical dimension (though Sombart doesn’t call it that). How does this work? To put it in Sombart’s words: »[…] [D]er Mann weiß, daß nicht er es ist, sondern die Frau, die das Leben spendet und Herrin über den Tod ist« (DMF 80). The masculine lust for power, according to Sombart, rests upon a feeling of inferiority – upon the repressed knowledge that all power depends upon and derives from sexual reproduction. Masculine power is not original or originary but essentially derivative. I quote Sombart again: »Es gibt keine männliche Macht. Es gibt nur männliche Gewalt. Die wahre Macht, die einzig effektive, dauernde, liegt beim Weibe« (DMF 197). The mechanisms of Oedipal compulsion, according to Sombart’s biopolitical claim, reproduce the binary decision/division between male and female. The modern state intensifies this binarism »[…] als unilaterale pro-männliche Lösung der Bisexualität, als Abwehr der Identitätsdiffusion des Bisexuellen zugunsten des männlichen Pols; die säuberliche Scheidung von männlich und weiblich« (DMF 177).14 Thus the identity-political distinction is repressively reproduced in polarized binary gender identities, and all other political enmities and phenomena of hatred are derived from this primary act of repression. This is at any rate what Sombart hopes to show in his analyses of the ›Schmitt case‹. (2) The title-thesis of Sombart’s book claims that »Männerbund und Matriarchatsmythos« are »zwei Seiten derselben Medaille« (DMF 208). According to him, the whole complex of matriarchal thought of the late nineteenth and early twentieth centuries was predominantly a masculine phenomenon, a phantasmatic reaction of men to largely self-imposed ultra-patriarchal social conditions. Psychoanalysis itself, Sombart argues, was a historical reaction to and attempted therapy for the psychological consequences of the modern German fanaticism for an ultra-masculinist idea of the state. The fact that Carl Schmitt of all people is supposed to be exemplary of this phenomenon fits with the thesis of Sombart’s earlier essay on Otto Gross and Max Weber, according to which: »Politisch gesprochen liegt der Mythos des Matriarchats rechts – weit rechts.«15 This is still the standard reading of the Bachofen-reception – but, as Sombart notes, Otto Gross was at the complete opposite end of the spectrum. In the later book on
14 Sombart does not understand bisexuality primarily as a gender identity but as a historical problem of anthropological bimorphism. 15 Sombart: Max Weber und Otto Gross, p. 34.
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Schmitt, Sombart has a more complex and unconventional explanation, which emphasizes a series of anarchist-romantic left-matriarchal protagonists (especially Gross and Däubler) in order to develop a genealogy which, Sombart claims, was crucial for Schmitt’s understanding of the historical trends he sought to oppose. Sombart inherits this genealogy from Schmitt and seeks to reestablish an affirmative relation to it. Sombart thus in effect joins the ranks of his mentor’s most profound ›enemies‹. The whole construction remains highly ambivalent at a number of levels. On the one hand, Sombart invokes and cites Bachofen emphatically in his claim that the course of history and society can only be understood through the »Zusammenhang des Geschlechtsverhältnisses und des Grades seiner tiefern oder höhern Auffassung mit dem ganzen Leben und Geschicken der Völker« (DMF 291, Sombart quoting Bachofen). On the other hand, Sombart distances himself from precisely this conception: Es ist nicht unsere Absicht, uns hier auf eine Abwägung der Glaubhaftigkeit und wissenschaftlichen Brauchbarkeit derartiger Hypothesen einzulassen. Sie scheinen uns indessen von allerhöchstem Interesse, um zu begreifen, was eigentlich in den Köpfen von Männern wie Otto Gross, Ferenczi und Carl Schmitt spukte – Männern, die in der patriarchalischen Wissenschaftstradition des 19. Jahrhunderts aufgewachsen und ausgebildet worden sind. (DMF 327)
Sombart’s reader is thus confronted with a choice between a dualistic, very probably essentialist position and a psychological analysis of precisely those subjects who were able to commit themselves to such a position: »Ob es sich um ein umgreifendes Weltprinzip oder eine Projektion des menschlichen Geistes handelt, müssen wir hier nicht erörtern« (DMF 341). Sombart proceeds to argue, however, that numerous problems of psychology, society, Wissenschaft and institutions, along with their products and byproducts, have incessantly reproduced the gender-blindness of »der abendländlischen Metaphysik« and of German theory up to Habermas and Luhmann. Thus, even though Sombart aligns himself with the ›left matriarchalists‹, he opposes both fundamentalist gender-essentialist dualism and gender-free (implicitly masculinist) conceptions of the modern individual. To put it in the terms of Hans Blumenberg (with Eric Voegelin),16 one could perhaps say that for Sombart the ultimate source of
16 See especially the discussions in Jacob Taubes (ed.): Religionstheorie und Politische Theologie. Bd. 2: Gnosis und Politik. Munich: Fink 1984. See also Yotam Hotam:
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»gnostic recidivism« (to the friend-enemy distinction) always lies in the pathologies of gender relations, which patriarchy distorts into compulsory binarisms. The archenemy of patriarchy is, according to Sombart, the feminine, especially the feminine in ›man‹, with the oppression of women as an inescapable consequence of this form of rule (Herrschaft). The dualism at stake is once again asymmetrical insofar as the idea of male domination conveyed in the term ›patriarchy‹ refers, according to Sombart, to the reality of modern social forms, whereas ›matriarchy‹ gestures toward something imaginary, which »keiner konkreten geschichtlich-gesellschaftlichen Realität und Erfahrung entspricht, sondern nur terminologisch ein breites und diffuses Feld von Aspirationen, Wünschen, Modellvorstellungen, Idealen, Spekulationen und sozialen Forderungen anzeigt« (DMF 339). (3) Thus matriarchy is bound up with the historical dynamics of utopian thought – which in itself is almost self-evident, with or without Sombart. This utopian moment, however, also opens up an important place for literature as the privileged form of quasi-utopian, quasi-theoretical modeling of the nonpatriarchal past and future. This point is also of systematic importance in the context of Sombart’s own anti-theoretical, anti-Wissenschaft self-positioning. He does not want to write any purely ›scientific‹ treatises in the style of Werner Sombart, Max Weber or the Carl Schmitt of the 1920s, nor of Habermas or Luhmann, but conceives his book more upon the model of the later Schmitt (e. g. Land und Meer or Der Nomos der Erde) as a historico-philosophical Dichtung, a legend of the origins of hate. As a consequence, Sombart should not be read as a ›theorist‹ (though this could also be read against the grain) but primarily as a literary author. As someone who experienced academia as an outsider and an insider, he came to see it as a prime example of a system governed by patriarchal power, inescapably implicated in the praxes and political theologies of patriarchy: »denn Theorie ist immer Gewalt« (DMF 95). Literature, on the other hand, seems to be in a position (granting some idealization)17 to conserve the core of matriarchy under the conditions of patriarchy: »Verschüttet und verzerrt durch die patriarchalische Denkstruktur, bleibt die matriarchalische Mythologie in
Moderne Gnosis und Zionismus. Kulturkrise, Lebensphilosophie und nationaljüdisches Denken. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. 17 In this context, Sombart neglects to mention the androcentric metaphysics of the male creator ›ex nihilo‹, in whose image literary and artistic creation was normatively conceived. For a more extended and radicalizing treatment of this problem in literature and art, see Klaus Theweleit: Buch der Könige. Bd. 1: Orpheus und Eurydike. Basel: Stroemfeld/Roter Stern 1988.
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Märchen, Sagen, Epen lebendig – bis hin zum ›Nordlicht‹-Epos Theodor Däublers« (DMF 307–308). This is basically Bachofen’s theory of literature, which sought to uncover the traces and commemorations of a superseded matriarchy in the myths of the patriarchal cultures of antiquity. This thesis is merely adopted by Sombart, without scrutinizing or significantly developing it. Many lines of possible inquiry thus remain open. Literature on this model would by no means be something to naively celebrate as ›anti-patriarchal‹ (as it sometimes seems in Sombart). One would instead need to make more of the ambivalences and argue, first, that modern art and literature (and above all their concept of the ›creative‹ author) are not exempt from the patriarchal dominance that permeates modern societies. Second, it would be necessary to make certain complex distinctions, for example between anti-patriarchal vs. feminist thought and literature. The two are often thought to go together, but the cases of Schmitt and Sombart show that this is not necessarily the case. Patriarchy and anti-patriarchy are evidently complementary and compensatory functions within patriarchal societies. Feminism likewise can be thought of as a movement within and against patriarchy, but insofar as patriarchy refers primarily to actually existing institutional forms (as Sombart suggests), the choice between ›within or against‹ may appear as an either-or between focusing on the social status of women (empirically, biologically, in terms of identity) vs. more broadly on »the feminine« vs. on the organizations of state, law and family that perpetuate gendered forms of violence (with the empirical gender of individuals as the medium of this violence). An example of these differences, which includes subtle contradictions without being necessarily incompatible, can be seen in the difference between ›affirmative action‹ vs. ›institutional reform‹ (reform of the societal organizations into which admission/participation is to be granted). One would also have to consider at what point the ›anti-‹ of anti-patriarchy ultimately causes feminism and anti-patriarchy (or feminist vs. anti-patriarchal literature) to become mutually exclusive. The more intense the violence of patriarchy, the more powerful and complexly sublimated the backlashes. The problem with the ›anti-‹ is that it reintroduces binary gender difference and the friend-enemy polarity, thereby turning Sombart’s anti-Schmitt thesis back into a Schmittian identity-political program.18 But one would also have to concede in one way or another (even on Sombart’s model) that the ›identities‹ have been
18 Those with doubts about the connection of Schmitt with identity politics should read the paragraph of his constitutional theory (§ 16) in which he names »identity« and »representation« as the most essential concepts of the modern state: Carl Schmitt: Verfassungslehre. Berlin: Duncker & Humblot 2003 (1928), pp. 200–220.
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historically and societally reproduced as real and concrete, with real and concrete political functions and possibilities, which do not allow them to simply be ignored or set aside. Sombart, who typically seems to advocate for a more radical and free version of liberalism (perhaps bordering on libertarianism or hedonism), occasionally imagines the impending end of the classical culture of the written word as the only way out of the West’s patriarchal Wahnsystem. He lived long enough to witness at least the partial realization of this dream of freedom in the end of literacy, and found himself caught between the generations, as well as between academic and non-academic cultures. The unpredictable leaps in the ›emancipation‹ of post-war generations left him behind, as can be seen in his Heidelberg memoir from 2000, especially in a chapter in which the patriarchal-bourgeois Lebensform of the aged Benedetto Croce functions as a kind of utopian ideal of spiritual continuity across the generations, kept alive in the face-to-face relation to an aged mentor – as opposed to pure book-learning and especially to a world whose idea of reading is »Surfen im Internet.«19 Die deutschen Männer from 1991 is only a moment in Sombart’s life and thought, which are presented more extensively in his memoirs. This moment also exists in a complex relation to the political situation of the post-89 world. Even if it was a turning point, it may not prove to have been in the direction of utopia. It would be premature to prophesy the end of patriarchy and its syndromes based on Sombart – even if he himself prognosticates in that direction. But one may still sympathize with him in seeing this telos as the only remaining viable trajectory of Geschichtsphilosophie. Regarding the various ›syndromes‹, one may also feel conflicted: Sombart interprets the theoretical disinterest in gender as a philosophicohistorical category as a silencing, repression and an »occultation« (Okkultierung, to use his preferred term). But the interest in such ›occult‹ topics may also have its psychological sources and resources. The plausibility of Sombart’s origin-stories, therefore, like that of Shakespeare’s dramas, draws on specific social-historical and psychological preconditions. In order to find such stories plausible, a spectator of historical dramas must be able to discover himself or herself in the same or similar entanglements as the figures on the stage – and at the same time be motivated by the urge to reflect upon and move beyond such scenarios.
19 Sombart: Rendezvous mit dem Weltgeist, p. 160.
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Grundloser Hass: Formen idiosynkratischer Rede Jörg Kreienbrock
IDIOSYNKRASIE Hans Castorps Leben auf dem Zauberberg ist von einem unerklärlichen Hass auf das Zuschlagen von Türen gezeichnet: »Eine Tür war zugefallen, […] und das war ein Geräusch, das Hans Castorp auf den Tod nicht leiden konnte, das er von jeher gehaßt hatte. Vielleicht beruhte dieser Haß auf Erziehung, vielleicht auf angeborener Idiosynkrasie – genug, er verabscheute das Türenwerfen und hätte jeden schlagen können, der es sich vor seinen Ohren zuschulden kommen ließ.«1 Die Idiosynkrasie, auf welcher Castorps Hass vielleicht beruht, und wie sie Silvia Bovenschen in ihrer Studie Über-Empfindlichkeit. Spielformen der Idiosynkrasie2 beschreibt, verweist auf eine körperliche, rational nicht zu begründende Abneigung, die scheinbar grundlos auftritt. Die Pointe für die Tradition medizinisch-anthropologischer Reflexionen über die Idiosynkrasie von Ptolemaios und Galen bis zu Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno liegt darin, dass der Auslöser der idiosynkratischen Abneigung im Dunkeln bleibt. Die Gründe für Castorps idiosynkratischen Hass bleiben unerklärt. Es kommt »zu unterschiedlichen individuellen Reaktionen auf gleiche Reize«, wie es Werner Stegmaier in seiner Rekon-
1
Thomas Mann: Der Zauberberg. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Hg. v.
2
Silvia Bovenschen: Über-Empfindlichkeit. Spielformen der Idiosynkrasie. Frankfurt
Michael Neumann. Bd. 5, 1. Frankfurt a. M.: Fischer 2002, S. 72. a. M.: Suhrkamp 2001.
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struktion von Nietzsches Verwendung des Begriffs der Idiosynkrasie ausführt.3 Diese Heterogenität abweichender Abneigungen erschwert bzw. verunmöglicht die Entwicklung einer systematischen Ätiologie des Hasses. In Meyers Konversationslexikon aus dem Jahr 1905 heißt es im Eintrag »Idiosynkrasie«: Gegenwärtig versteht man unter I. die eigentümliche Abneigung oder allgemein das eigentümliche Verhalten, welches manche Personen gegen Eindrücke zeigen, welche der großen Mehrheit der Menschen nicht ähnliche Empfindungen oder Reaktionen erregen. So gibt es Menschen, welche in ganz abweichender Weise sich gegen bestimmte Speisen, Gerüche, Arzneien etc. verhalten. […] Die Ursache der sogen. Idiosynkrasien ist unbekannt; jedenfalls liegt sie nicht in einer abweichenden Mischung der Säfte, sondern wohl eher im Nervensystem und zwar in einer nach gewissen Richtungen hin abnorm gesteigerten Empfindlichkeit desselben.4
Eine solch eigentümliche Abneigung nennt der Erzähler von Oswald Wieners Roman die verbesserung von mitteleuropa als den Anlass für die Abfassung des Kapitels purim, welches Heimito von Doderer gewidmet ist: »begonnen am 25. April 1964 nach einer älteren idee. und zwar anlässlich der lektüre von gedrucktem, anlässlich etlicher (man muss öfter zumachen!) beobachtungen von standardereignissen, anlässlich einer gänsehaut des widerwillens.«5 Für den Erzähler in Wieners Roman produziert Lektüre einen körperlichen Widerwillen; eine somatische Reaktion gleich einer Allergie. Das »anarchische[ ] Aufschäumen der Neigungen und Abneigungen«,6 wie es Roland Barthes formuliert, entsteht aus einer gesteigerten Gereiztheit, einer fast pathologisch intensivierten Aversion. Im Folgenden soll eine psycho-somatische Phänomenologie des Hasses entwickelt werden, die sich an dieser »gänsehaut des widerwillens« orientiert, der, wie Freud an einer Stelle von Triebe und Triebschicksale notiert, als »ursprüngliche[r] Sinn des Hassens« eine
3
Werner Stegmaier: Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation
4
Meyers Großes Konversationslexikon. Eine Encyclopädie des allgemeinen Wissens.
des V. Buchs der ›Fröhlichen Wissenschaft‹. Berlin/Boston: De Gruyter 2012, S. 139 f. Bd. 8. Leipzig/Wien: Bibliographisches Institut 1905, S. 875 f. Zur Begriffsgeschichte vgl. Hans Schadewaldt: Idiosynkrasie, Anaphylaxie, Allergie, Atopie. Ein Beitrag zur Geschichte der Überempfindlichkeitskrankheiten. Opladen: Westdeutscher Verlag 1981. 5 6
Oswald Wiener: die verbesserung von mitteleuropa. Salzburg/Wien: Jung 2014, S. CVII. Roland Barthes: Über mich selbst. Übers. v. Jürgen Hoch. München: Matthes & Seitz 1978, S. 127.
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»Relation gegen die fremd und reizzuführende Außenwelt«7 herstellt. Nur wer die Phänomene als Reize zunächst quasi mit der Haut wahrnimmt, sich von ihnen affektieren und irritieren lässt, überempfindlich ist, entdeckt in ihnen eine Qualität, welche eine distanzierende, rational geleitete Beobachtung wahrzunehmen nicht in der Lage ist. So können auf scheinbar paradoxe Weise intensivierte Wahrnehmung und hasserfüllte Aversion koinzidieren. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer stellen in der Dialektik der Aufklärung die Idiosynkrasie im Zusammenhang ihrer Reflexionen über die Elemente des Antisemitismus als somatisch-affektive Reaktion auf einen Reiz dar. Für Adorno und Horkheimer verweist die Idiosynkrasie auf eine anthropologische Urszene: Die Motive, auf die die Idiosynkrasie anspricht, erinnern an die Herkunft. Sie stellen Augenblicke der biologischen Urgeschichte her: Zeichen der Gefahr, bei deren Laut das Haar sich sträubte und das Herz stillstand. In der Idiosynkrasie entziehen sich einzelne Organe wieder der Herrschaft des Subjekts; selbständig gehorchen sie biologisch fundamentalen Reizen. Das Ich, das in solchen Reaktionen, wie der Erstarrung von Haut, Muskel, Glied sich erfährt, ist ihrer doch nicht ganz mächtig.8
Die Hass-Rede des Antisemiten beruht auf einer schockhaft erlebten körperlichen Abneigung. Um diese zu überwinden, und es zur Befreiung vom Judenhass kommen zu lassen, bedarf es, so Adorno und Horkheimer, der Aufhebung des Partikular-Affektiven im Begriff: »Davon, ob der Inhalt der Idiosynkrasie zum Begriff erhoben, das Sinnlose seiner selbst innewird, hängt die Emanzipation der Gesellschaft vom Antisemitismus ab. Idiosynkrasie aber heftet sich an Besonderes.«9 Die Verbindung von Antisemitismus und Idiosynkrasie ist keine Entdeckung von Adorno, sondern lässt sich bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts feststellen. So heißt es in Karl Gutzkows Rezension von Julius Mosens Epos Ahasver: »Die Abneigung des Christen gegen den Juden ist eine physischmoralische Idiosynkrasie, gegen die sich ebenso schwer ankämpfen lässt wie gegen den Widerwillen, den manche gegen Blut oder Insekten haben«.10 Im Versuch über Wagner kommt Adorno auf die prekäre Nähe von Idiosynkrasie und
7
Sigmund Freud: Triebe und Triebschicksale. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 10.
8
Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische
9
Ebd.
Frankfurt a. M.: Fischer 1999, S. 228. Fragmente. Frankfurt a. M.: Fischer 1988, S. 189. 10 Karl Gutzkow: Rezension über Mosen, Ahasver. In: ders.: Vermischte Schriften. Bd. 2. Leipzig: Weber 1842, S. 154 f.
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Antisemitismus zurück. Wagners Judenhass interpretiert Adorno hier als »idiosynkratischen Hass«, der in »der Angst« besteht, »vom ekelhaften Objekt als dessengleichen erkannt zu werden«.11 Der Hass auf die Juden entsteht nicht aus der Differenz, sondern dem Verdacht, dass die idiosynkratische Abscheu auf das Andere im Eigenen reagiert. Insofern ist der Grund des Judenhasses für Adorno in der abgründigen Subjektivität des Antisemiten, nicht aber in den ›objektiven‹ Eigenschaften der Juden begründet. Die idiosynkratische Heftung an Besonderes, die den Hass auszeichnet, kann für den negativen Dialektiker Adorno nicht unmittelbar im allgemeinen Begriff aufgehoben werden. Das Inkommensurable erhebt Einspruch gegen die instrumentalisierte Vernunft. So zeigt sich im idiosynkratischen Widerwillen, der sich oftmals an Details sinnlicher Wahrnehmung entzündet, die Dialektik der Aufklärung: Als natürlich gilt das Allgemeine, das, was sich in die Zweckzusammenhänge der Gesellschaft einfügt. Natur aber, die sich nicht durch die Kanäle der begrifflichen Ordnung zum Zweckvollen geläutert hat, der schrille Laut des Griffels auf Schiefer, der durch und durch geht, der haut goût, der an Dreck und Verwesung gemahnt, der Schweiß, der auf der Stirn des Beflissenen sichtbar wird; was immer nicht ganz mitgekommen ist oder die Verbote verletzt, in denen der Fortschritt der Jahrhunderte sich sedimentiert, wirkt penetrant und fordert zwanghaften Abscheu heraus.12
Es ist die Penetranz des Inkommensurablen, welche idiosynkratisch-affektive Reaktionen auslöst. Diese spontanen Auslösungen können sich einerseits zu reaktionärem Hass verhärten und dessen »seelische Energie« zur »rationaliserte[n] Idiosynkrasie«13 des politischen Antisemitismus instrumentalisiert werden. Andererseits kann dieser Eigensinn ein Element der menschlichen Freiheit im Umgang mit der Natur retten. Dieser erkenntnisfördernde Aspekt der Idiosynkrasie tritt für Adorno und Horkheimer in der von der rationalen Vernunft ausgeschlossenen »[u]nbeherrschte[n] Mimesis«14 zutage. Die Angleichung des Subjekts an seine Umwelt, die sich in der schockhaften Erstarrung zeigt, kann die Herrschaft
11 Theodor W. Adorno: Versuch über Wagner. In: ders.: Die musikalischen Monographien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 7–148, hier: S. 22. Zur Verbindung von Idiosynkrasie und Antisemitismus vgl. Wolf-Daniel Hartwich: Romantischer Antisemitismus. Von Klopstock bis Wagner. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. 12 Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 188. 13 Ebd., S. 192. 14 Ebd., S. 189.
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des Subjekts »am äußersten Gegenpol der Freiheit«15 lösen. In solchen Momenten der Idiosynkrasie »scheint die Freiheit unwiderstehlich als die durchkreuzte Bestimmung der Materie durch«.16 Es erinnert an »ein Verhältnis, das«, laut Wolfram Ette, »für nichtidentisches Bezogensein Raum läßt«.17 Jüngst hat Joseph Vogl eine Unterscheidung zwischen idiosynkratischer und robuster Theorie vorgeschlagen. In Über das Zaudern heißt es: »Während eine robuste Theorie ihre Gegenstände […] immer schon kennt und darum keine Theorie benötigt, setzt ein idiosynkratisches Verfahren die Unerklärtheit seines Untersuchungsbereichs voraus«.18 Vogl identifiziert die idiosynkratische Theorie als eine zaudernde Methode, welche er den »Politiken einer gesteigerten SchlagFertigkeit«19 entgegensetzt. Wird diese »Schlag für Schlag formuliert«, so kennzeichnet jene das Zaudern, d. h. die Unterbrechung einer Logik der Entscheidung. »Im Zaudern«, so Vogl, »verdichtet sich ein kritisches, krisenhaftes Verhältnis von Tat und Hemmung, Handeln und Grund, Gesetz und Vollzug; und dabei wird zwangsläufig der Boden aufgewühlt, auf dem überhaupt sich eine Welt, ein Weltverhältnis konstituiert.«20 Das kritische Verhältnis von Handeln und Grund verdichtet sich in Wieners purim nicht im Zaudern, der Hemmung, sondern wortwörtlich Schlag für Schlag. Diese fallen grundlos, aus dem Abgrund der Wut,21 ohne Erklärung oder Motivation. Wiener beschreibt einen solch abgründigen Ausschlag als eine grausam-exzessive Theateraufführung, in deren Verlauf die Zuschauer von den Schauspielern auf vielfältige Art misshandelt und geschlagen werden. Sie erinnert an vielen Stellen an von Doderers Gewaltexzesse, wie man sie etwa in seinen Kurzgeschichten oder dem Roman Die Merowinger finden kann. Bei Wiener heißt es: »einer, der aussieht wie der bildhauer wotruba, wird ohne ersichtlichen grund in den bauch getreten, und zwar immer wieder, und immer von anderen schauspielern.«22 Die zornigen Figuren Wieners, welche »auf den Schwingen des Hasses«23 schweben, schlagen ohne ersichtli-
15 Ebd., S. 192. 16 Ebd. 17 Wolfram Ette: Freiheit zum Ursprung. Mythos und Mythoskritik in Thomas Manns Josephs-Tetralogie. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 192. 18 Joseph Vogl: Über das Zaudern. Berlin/Zürich: Diaphanes 2007, S. 142. 19 Ebd., S. 137. 20 Ebd., S. 34 f. 21 Vgl. Johannes F. Lehmann: Im Abgrund der Wut. Zur Kultur- und Literaturgeschichte des Zorns. Freiburg i. Br.: Rombach 2012. 22 Wiener: die verbesserung von mitteleuropa, S. CX. 23 Ebd.
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chen grund zu. Wer aus solch grundlosem Hass handelt, handelt gerade nicht schlagfertig, impliziert diese Wendung im alltäglichen Sprachgebrauch doch die Fähigkeit, auf jede Invektive eine passende Antwort geben zu können, ohne wirklich von der sprachlichen Gewalt affiziert zu sein. Schlagfertigkeit, im geläufigen Sinne verstanden, ist ein Schutzmechanismus, der die »gänsehaut des widerwillens« als sensibles Organ zum festen Panzer fixiert und dadurch die idiosynkratische Fähigkeit, Inkommensurables wahrzunehmen, annihiliert. In beiden Momenten, dem Zögern wie dem grundlosen Schlagen, das sich zu keiner Fertigkeit, Methode sistieren lässt, geht der unmittelbare Kausalnexus von Motivation und Aktion, Handlung und ihrem Grund verloren. Ein solches grundloses Schlagen mit Worten identifiziert Karl Heinz Bohrer mit einer spezifisch österreichischen Tradition zynischer Literatur. »Zynismus ist Humanität«, notiert Bohrer, »ist Reflexion der objektiven Grenze, ist Kapitulation und Sieg zugleich. Zynismus ist Verzicht auf den Akt der Tat. Zynismus findet bei österreichischen Schriftstellern statt. Aber die fuchteln nicht herum, die schlagen zu, ›nur‹ mit Worten.«24 In der Tat ließe sich eine österreichische Tradition zynischpolemischer Hassliteratur von Karl Kraus über von Doderer zu Wiener, Konrad Bayer und Thomas Bernhard nachzeichnen. Laut Bohrer ist dieses Schreiben »schnell und lakonisch«.25 Durch das Insistieren auf der Kürze und der Überraschung zeigt sich deren »wunderbare[r] Zynismus«.26 Dieser schlägt plötzlich und scheinbar grundlos zu, ist nicht rückgebunden an ausführliche Begründungen oder nachvollziehbare Motivationen. Ein solches Vorgehen gliche, so Bohrer, einem Herumfuchteln ohne Durchschlagskraft, d. h. dem bloßen Weiterschreiben der Tradition, das weder zögert noch zuschlägt und daher nicht in der Lage ist, Neues wahrzunehmen.
TEST DRIVES Die prekäre Dialektik von Grund und Grundlosigkeit, die sich in Wieners Theater des Hasses finden lässt, diskutiert Avital Ronell unter dem Begriff des Test Drive. Anhand einer Interpretation von Freuds Begriff des Realitätstests erläutert sie:
24 Karl Heinz Bohrer: Über den Mangel an Symbolischem. In: ders.: Nach der Natur. München: Hanser, S. 58. 25 Ebd. 26 Ebd.
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Testing marks a limit, constructing the difference between hallucination and external reality which does not always back up the idea put forth by the self. Without the apparatus of reality-testing, the self exists in the manner of a tenuous hypothesis, unconfirmed, at sea. But it is ›happy‹, floating on its own bouncy ground. The self braves reality-testing not only in mourning but as mourning: test results often imply loss of ground even as the ego gains grouding.27
Das Subjekt muss, um in einer fremden und reizzuführenden Umwelt zu existieren, so Ronells These, seinen eigenen Grund immer wieder neu ausloten und testen; überprüfen, in welcher Realität es lebt. Hass entsteht, folgt man Ronells Theorie des Test Drive, aus der Unfähigkeit des Subjekts, über dem bouncy ground der eigenen Imaginationen und Hypothesen, Neigungen und Abneigungen schweben zu können. Stattdessen testet es, auf dem Realitätsprinzip insistierend, beständig die Welt. Den instabil-abgründigen bouncy ground verwandelt es in festen Grund und Boden. In seinem poetologischen Essay Die Sprache des Dichters diskutiert von Doderer den Begriff der »rhapsodische[n] Probe«.28 Es handelt sich dabei um die mündliche Wiedergabe eines geschriebenen Textes, um dessen literarische Qualität zu überprüfen. Die mündliche Performanz als rhapsodische Probe testet die Sprache. Sie untersucht, ob die Wörter auf einer echten Apperzeption der Wirklichkeit beruhen oder ob sie einem unanschaulichen Diskurs angehören, in dessen Abstraktheit das Inkommensurable der Realität verloren gegangen ist. Wieners Reflexionen über Bayers literarische Strategien definieren diese auf ähnliche Weise nicht als »Mittel künstlerischer Darstellung«, sondern als »Erprobungen der Tüchtigkeiten seiner Vorstellungen«.29 Bayers Literatur ließe sich somit im Sinne Vogls als eine idiosynkratische Theorie der Literatur oder im Sinne Ronells als Test Drive verstehen. Ihr Gegenstand ist nicht einfach gegeben, sondern dieser muss untersucht, erprobt, getestet werden. Erprobung ist für Bayer, in dessen Texten es, wie in denen von Wiener und von Doderer, zu scheinbar grundlosen Ausbrüchen von Gewalt kommt, kein abgewogenes Räsonieren oder eine systematische Untersuchung, sondern sie verlässt sich zunächst
27 Avital Ronell: The Test Drive. Urbana/Chicago: University of Illinois Press 2005, S. 69. 28 Heimito von Doderer: Die Sprache des Dichters. In: Die Wiederkehr der Drachen. Aufsätze, Traktate, Reden. Hg. v. Wendelin Schmidt-Dengler. München: Biederstein 1970, S. 195. Vgl. Martin Brinkmann: Musik und Melancholie im Werk Heimito von Doderers. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2012, S. 171–182. 29 Oswald Wiener: Einiges über Konrad Bayer. In: ders.: Literarische Aufsätze. Wien: Löcker 1998, S. 10.
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auf die durch die aufreizenden Phänomene spontan ausgelösten Affekte. In der idiosynkratischen Reaktion – der »gänsehaut des widerwillens« – wird der Grund der Wörter getestet. Diese stellen nicht mehr die Welt dar, sondern exponieren die Grundlosigkeit der Rede; sie wühlen den Boden der geläufigen Darstellung von Welt auf. Im Affekt wird das Unvorhergesehene nicht sofort, wie durch robuste Theorie, identifiziert oder auf eine Idee reduziert, sondern erprobt. Wenn diese affektiven Proben zur Sprache kommen, drohen sie den Normaldiskurs zu durchbrechen. Der grundlos Hassende verwendet, um mit Hans Blumenberg zu sprechen, eine Sprengmetaphorik, in der die Bilder und Begriffe bis zur »Grenze theoretischen Vollzugs«30 überdehnt werden. Die Hass-Rede als Probe treibt die Sprache an ihre Grenzen, dort, wo sie als Träger von Bedeutung zu explodieren droht, dort, wo ein affektiver Exzess über die Bedeutungsebene des Gesagten hinausschießt. Ihre literarische Strategie ist eine der Eskalation, des pointierten Aufdie-Spitze-Treibens. Alexander García Düttmann vergleicht in seinen Reflexionen über eine Philosophie der Übertreibung ein solch übertreibendes Sprechen mit »ein[em] aktivistische[n] Schlag, eine[r] Blendung, eine[r] Übertreibung, keine[r] ableitbare[n] oder zu Schlußfolgerungen führende[n] Erkenntnis«.31 Doch gerade im Exzess, in der schlagartigen Einsicht, die den geläufigen Diskurs folgerichtiger Argumente übertreibend unterbricht, lässt der Exzess der Hass-Rede blendend etwas sehen. In diesem Zusammenhang könnte man von Doderers Prosa und Wieners verbesserung von mitteleuropa als Phänomenologien energetischer Affekte und ihrer Abreaktion begreifen. Sie gleichen dem, was Judith Butler Excitable Speech32 nennt. Das Adjektiv excitable kann im Deutschen als erregbar, erregend oder stimulierend wiedergegeben werden. Hass-Rede stachelt auf, sie funktioniert wie eine probe.33 In von Doderers großem Panorama des Zorns, dem Roman Die Merowinger, sind es Pointen, die aufstacheln. Sie initiieren einen Prozess von Affekterregung und dessen Abfuhr. Auch in Freuds psychoanalytischer Theorie taucht die energetische Abreaktion im Zusammenhang seines Begriffs
30 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998, S. 180. 31 Alexander García Düttmann: Philosophie der Übertreibung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 205. 32 Judith Butler: Excitable Speech. A Politics of the Performative. New York/London: Routledge 1997. 33 Im Englischen bedeutet das Wort ›probe‹ so viel wie Versuch, Test, Prüfung, aber auch Sonde zur Erkundung von Körperöffnungen.
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der Probehandlung auf. In der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933) heißt es: »Das Denken ist ein probeweises Handeln mit kleinen Energiemengen«.34 Probehandlungen, die eine Verzögerung zwischen Affekt und Handlung einführen oder sich scheinbar grundlos ausagieren, sind jedoch beständig davon bedroht, ihren vorläufigen Als-ob-Charakter als Test zu verlieren. So kommt es zu dessen »Verstetigung«.35 Aus der spontanen Abneigung wird andauernder Hass, die Plötzlichkeit des Durchschlags idiosynkratischer Wahrnehmung wird zur Schlagfertigkeit der robusten Methode Vogls oder zur Pseudologie von Doderers. Die Probe wird zur Realität, die Simulation zur Substanz, das mentale Probehandeln zum agierenden.36 Durch solche Verhärtung vollzieht sich die energetische Abreaktion nicht mehr nur als Fiktion, sondern der Exzess wird zur Aktion. Diese ist jedoch nicht mehr grundlos, sondern begründet, daher aber umso fataler. Hass ist dann gerade keine Spielform der Idiosynkrasie mehr, wie von Bovenschen beschrieben, sondern verwandelt sich in blutigen Ernst. In vielen Texten der Wiener Gruppe finden sich Momente, in denen dieser Umschlag von Sprache in Gewalt auf verschiedenste Weise thematisiert als auch inszeniert wird. In der Regieanweisung zu Bayers Stück die boxer heißt es zum Beispiel: »jeder satz ist ein schlag.«37 Eine Szene aus Bayers idiot verdeutlicht diese Anmerkung auf drastische Weise: »a geht auf die beiden zu, räuspert sich, hustet und setzt zu einer rede an. das heisst er öffnet das maul. / d gibt ihm einen kinnhaken. das mädchen tritt an den gestürzten heran und dann tritt sie dem in die niere. a krümmt sich und stöhnt.«38 Diese Verhinderung der Rede im unmittelbaren Abreagieren des Affekts findet sich auch in Wieners purim: »einer […] erklimmt schnaufend das podium, nestelt an seinem frackmascherl und hüstelt routiniert. es wird sehr still. der eine leimschnupfer [Schauspieler auf der Bühne] tritt den unmittelbar vor seinen begrüssungsworten stehenden in den arsch und
34 Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 15. Frankfurt a. M.: Fischer 1999, S. 96. 35 Rolf Haubl: Ärger, Wut, Zorn – Hass. In: Was ist Hass? Phänomenologische, philosophische und sozialwissenschaftliche Studien. Hg. v. Stephan Uhlig. Berlin: Parodos 2008, S. 26. 36 Vgl. Michael Neumann: Die fünf Ströme des Erzählens. Eine Anthropologie der Narration. Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 61: »Das Spiel ist agierendes Probehandeln, Erzählen ist mentales Probehandeln.« 37 Konrad Bayer: die boxer. In: Sämtliche Werke. Hg. v. Gerhard Rühm. Wien: ÖBV/Klett-Cotta 1985, S. 173 f. 38 Konrad Bayer: idiot. Ebd., S. 243.
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somit vom podium wieder runter.«39 Statt eines Schlagens mit Worten, wie es Bohrer für die zynische österreichische Literatur feststellt, kommt es in diesen Texten bzw. Performances zu exzessiver körperlicher Gewalt, welche die sprachliche Kommunikation radikal unterbricht. »wo die sprache nicht ausreicht«, so Wiener, »prügelt man sich«.40
VERSUCHE EXTREMER ART Eine Sprachform, in der das Wort als Schlag zur Sprache kommt, ist für von Doderer das Aperçu: S’apercevoir de quelque chose heißt es im Französischen für ›eine Sache gewahr werden‹: das Reflexivum deutet schon darauf, daß hier die Elongatur nicht im Handeln liegt. Und aus dem selben Stamme (aperte percipere) kommt ›aperçu‹ für einen treffenden Ausspruch, einen Geistesblitz. Die Apperzeption ist produktiv; es braucht nur einer wirklich sehen – aperçu heißt ja ein ›Gesehenes‹ – und es hat schon geblitzt.41
Im Aperçu kommt es zur plötzlichen Erkenntnis, die unerwartet und ungeplant auftaucht. Diese ist nicht methodologisch abgesichert oder rational begründbar. Sie ist wie eine Pointe, ein treffender Ausspruch, ein Geistesblitz, der das folgerichtige Denken erschüttert. Sie entsteht in Situationen, in denen das Subjekt verletzlich, seine Wahrnehmung nicht von Ideologien verzerrt ist. In einer solchen Lage befindet sich der Österreicher von Doderer in der deutschen Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs. Ich »bin […] leider leicht zu erschüttern«, notiert dieser am 16. Dezember 1944 in den Tangenten, »verletzlich, hundertmal verletzlicher als jeder andere in meiner Umgebung.«42 Aus dieser ÜberEmpfindlichkeit entspringt die aperçuhafte Erkenntnis, welche die geläufige, ideologisch vorgeprägte, robuste Wahrnehmung der Welt unterbricht. Eine solche idiosynkratische Apperzeption nennt von Doderer auch »physiognomische[n] Takt«.43 Im Roman Die Merowinger wird diese aperçuhafte Er-
39 Wiener: die verbesserung von mitteleuropa, S. CIX. 40 Ebd., S. XIV. 41 Heimito von Doderer: Tangenten. Tagebuch eines Schriftstellers 1940–1950. München: Biederstein 1964, S. 265. 42 Ebd., S. 261. 43 Heimito von Doderer: Die Merowinger oder Die totale Familie. München: Biederstein 1962, S. 159.
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kenntnis als schlagartige Wahrnehmung vorgeführt: »Manches Gesicht fährt uns wie eine Faust in den Magen.«44 Auf diesen Schlag reagiert der Apperzipierende nicht mit Hass, sondern mit einer spontanen Reaktion, welche von Doderer als »Vollzug physiognomischer Urteile durch blitzartige aber harmlose Betäubung mit kurzer Faust«45 bezeichnet. Die körperlich erfahrene Abneigung, die wie eine Faust im Magen erfahren wird, löst einen plötzlichen Gegenschlag aus. Physiognomische Urteile sind schlagfertig, aber nicht im Sinne eines Schutzmechanismus gegen die Idiosynkrasie, wie ihn Vogl beschreibt, sondern ihr Durchschlag muss in einer spontan-somatischen Reaktion gesucht werden, welche sich nicht auf Gründe zurückführen lässt. Nur dann sind solche schlagenden Urteile, polemisch dem physiognomischen Takt der Schläge folgend, erkenntnisfördernd, statt in die Verblendung des begründeten Hasses zu führen. Neben dem Aperçu oder der Pointe, wie sie von Doderer versteht, stellt der Essay als Genre ein anderes »Instrument zur Erprobung von Denkvorgängen«46 dar. Der Essay als »Versuch[ ] extremer Art«,47 wie es von Doderer in einer Tagebuchnotiz formuliert, gibt den affektiven Aus- und Überfällen eine prekäre Form. Er ist wie eine Spitze, pointiert, eine anstößige Probe. Er ist der Stachel und das Stigma eines ungesicherten, verletzbaren Denkens. Derart gelingt es dem Essay durch die Pointierung, das zur Sprache zu bringen, was den Begriffen entgeht. »Der Essay«, notiert Adorno, »möchte mit Begriffen aufsprengen, was in Begriffe nicht eingeht«.48 Das Inkommensurable bzw. das »Unverantwortliche«, das im Essay zur Sprache kommt, zeigt sich an seinen »anstößigen Übergänge[n]«, die »mit der Wahrheit verschmolzen«49 sind. Daher reagiert er übertreibend, unreglementiert, exzessiv. »Er [der Essay; JK] reflektiert das Geliebte und Gehaßte«,50 bemerkt Adorno in Der Essay als Form. »Aber was ist mit dem Haß?«, fragt Bohrer anlässlich der Verleihung des Merck-Preises für Essay und literarische Kritik im Jahr 1978:
44 Ebd., S. 155. 45 Ebd., S. 151. 46 Wiener: Einiges über Konrad Bayer, S. 10. 47 Heimito von Doderer: Tagebücher 1920–1936. Hg. v. Wendelin Schmidt-Dengler, Martin Loew-Cadonna und Gerald Sommer. München: Beck 1996, S. 213 ff. Zur Wendung des extremen Versuchs vgl. Brinkmann: Musik und Melancholie im Werk Heimito von Doderers, S. 159–170. 48 Theodor W. Adorno: Der Essay als Form. In: ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 32. 49 Ebd., S. 31. 50 Adorno: Der Essay als Form, S. 10.
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»Könnte er […] ein kritisches und experimentelles Organ werden? Nicht nur die biedere Spruchweisheit, sondern auch der scharfsinnige John Locke wußten: Not macht erfinderisch und der Hunger klug. Die erfinderische Not und der erkenntnisfördernde Hunger bilden zusammen das wölfische Element namens Haß.«51 Es ist kein Zufall, dass Bohrer anlässlich einer Preisverleihung für sein essayistisches und literaturkritisches Werk auf den Hass zu sprechen kommt, ist doch der Essay für ihn das Genre par excellence, in dem polemischer Hass zur Sprache kommt. Bohrer imaginiert »die Kritik aus dem Haß« als »Essay über den Haß«.52 Im Aufsatz Ausfälle gegen die kulturelle Norm. Erkenntnis und Subjektivität – Formen des Essays konkretisiert er die enge Verbindung von Hass und Essay, Adornos Reflexionen über die Form des Essays kritisierend: »Adorno selbst bezieht sich ausschließlich auf die von der tradierten Kultur geschaffenen Normen. Seine Urbanität kennt nicht jene Pein, den Haß, der sprachlich oder gar psychotisch etwas Neues entwerfen würde.«53 Adornos Insistenz, dass der Essay sich nur auf kulturell Vorgeformtes zu beziehen habe, verschließt, so Bohrer, den erkenntnisfördernden surplus des Affekts. Dagegen mobilisiert er die Idee eines »Essay[s] ohne Ideen«.54 Dieser wäre ein »häretischer Essay«,55 der sich zwar auch auf die Tradition bezieht, aber vom Hass strukturiert ist: »Wieso Haß? Wir sprechen vom Haß nicht als Zustand, sondern als ein Mittel, als konstruktiver Destruktion, vom Haß als häretischer Vorstellungskraft, die beim besten Willen nicht übereinstimmen kann. Wir sprechen vom Haß als polemischem Schmerz.«56 Dem Schmerz wohnt eine »Spur entdeckerischer Spontaneität«57 inne. Fehlt diese, degeneriert der Essay zu einer kulturkonservativen Gattung: »Auch Lukacs, Bense und Adorno sprechen vom Essay in seiner letzten kulturkonservativen Ausformung und eben selbst auf eine kulturkonservative Weise.«58 Als Gegensatz zu dieser geläufigen Tradition des Essays betont Bohrer »Wieners hinreißenden Überfall auf unsere Bravheiten«,59 der einer
51 Karl-Heinz Bohrer: Haß-Rede. In: Akzente 26 (1979), H. 1/2, S. 295. 52 Ebd., S. 294. Zu Bohrers Idee des Essays vgl. Georg Stanitzek: Essay – BRD. Berlin: Vorwerk 8 2011, S. 63. 53 Karl Heinz Bohrer: Ausfälle gegen die kulturelle Norm. Erkenntnis und Subjektivität – Formen des Essays. In: ders.: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 20. 54 Bohrer: Haß-Rede, S. 296. 55 Ebd. 56 Ebd., S. 293 f. 57 Bohrer: Ausfälle gegen die kulturelle Norm, S. 19. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 16.
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»Aufkündigung der kulturellen Norm«60 gleichkommt. Die Subjektivität des Essayisten »läßt sich auf die Herausforderungen der Außenwelt ein. Der Zusammenstoß dieser Subjektivität und der Außenwelt aber läßt erst das zustande kommen, dem Gustafssons und Enzensbergers gedankenvolle Traktate das Inkommensurable, von der Wissenschaft nicht Erreichbare, hinzufügen«.61 Dem häretischen Essay ohne Ideen, der aus dem polemischen Schmerz erwächst, gelingt »die Quadratur des Kreises […]: nämlich das Finden einer erkenntnisrelevanten Sprache und dennoch Distanzierung von Kulturnormen und ihren Begriffen, die Verknüpfung von nicht einzuschläfernder Bewußtheit und ausbrechender Spontaneität.«62 Die Sprache des Hass-Essays oszilliert daher unentschieden zwischen Repräsentation und Imagination, Realismus und Fantastik. Es ist eine Form der »verzweifelten Genauigkeit«,63 wie es Bohrer, an Robert Musil anschließend, formuliert. Die essayistische Utopie des exakten Lebens findet bei Musil ihren Ausdruck in der »phantastischen Genauigkeit«64 des Essays. Bei Bohrer heißt es entsprechend über die Prosa des Essays, dass diese »genau zwischen festgelegtem Begriff und gerade gefundenem Zeichen steht, die noch zukünftig ist und daher utopisch«.65 Die utopische Verfasstheit des Hass-Essays hat keinen Ort, keine Form; sie lässt sich keiner Tradition, keinem Genre zuordnen. Hass dekonstruiert den Essay als Form, desavouiert jede Verfestigung erkennender Spontaneität als kulturkonservativ und intensiviert das Bewußtsein für das Inkommensurable. Der Hass-Essay, im Sinne Bohrers, wäre demnach wortwörtlich ein Versuch, ein Test Drive, prekär geformte Idiosynkrasie, die sich nicht zur robusten Theorie verfestigen lässt. Im Essay lebt der Schmerz als Polemik fort. Die Erfahrung einer Be- bzw. Getroffenheit speist sein idiosynkratisch-utopisches Vermögen, »jähe Imagination und Akte der Erkenntnis sich gegenseitig anfeuern«66 zu lassen und dadurch Neues, dem geläufigen Diskurs Inkommensurables zu imaginieren. In diesem Sinn spricht auch Emmanuel Levinas von einer »Empfindlichkeit, die unter die Haut geht, die an die Nerven geht, Überempfindlichkeit, die sich aussetzt bis
60 Ebd., S. 21. 61 Ebd., S. 28. 62 Ebd., S. 23. 63 Ebd., S. 25. 64 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Adolf Frisé. Bd. 1. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 247. 65 Bohrer: Ausfälle gegen die kulturelle Norm, S. 20. 66 Ebd., S. 23.
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zum Leiden.«67 Wie schon bei Barthes ist der idiosynkratische Hass im Essay für Bohrer ein »Mittel schmerzender« bzw. »aggressiver Unterscheidung«.68 Die Kopplung von Schmerz und Erkenntnis, wie sie von Friedrich Nietzsche als produktiver Schmerz beschrieben wird, findet sich ebenfalls in Bohrers Ästhetik des Schreckens. Der Schmerz der »ausgesetzten, wahrnehmenden Artisten-Existenz«, so heißt es dort, »wird erlitten und ist zugleich Instrument der Erkenntnis«.69 Distinktion wird aus dem Schmerz gewonnen. Neigung wie Abneigung manifestieren sich zunächst als unmittelbar körperliche Reaktion, die zu scheinbar unwillkürlich-grundlosen, polemischen Gegenschlägen führt, deren häretische Vorstellungskraft ohne Ideen oder Gründe auskommt.
ÜBERTREIBUNGEN Dieses Moment des aufsprengenden Exzesses findet sich, folgt man Butler, in Formen der excitable speech. Im ersten Kapitel des gleichnamigen Buches macht Butler auf eine eigentümliche Ambivalenz der interpellativen Kraft des Hasses aufmerksam: »In being called an injurious name, one is derogated and demeaned. But the name holds out another possibility as well: by being called a name, one is also, paradoxically, given a certain possibility for social existence, initiated into a temporal life of language that exceeds the prior purposes that animate the call.«70 Der hasserfüllten Rede eignet also immer ein Moment des Überschusses. Dieser surplus des Affekts, der die Rede an ihre begrifflich-semantischen Grenzen treibt, kann diese sowohl zu einem Werkzeug der Verletzung, einer Waffe, oder aber auch zu einem Instrument der Emanzipation machen: »Thus the injurious address may appear to fix or paralyze the one it hails, but it may also produce an unexpected and enabling response.«71 Die überraschende, aber aufgrund ihrer Unvorhersehbarkeit auch ermächtigende Reaktion des durch die Hass-Rede interpellierten Subjekts entsteht aus einem Exzess der Rede, der Eskalation, der Übertreibung. Das Subjekt ist das Resultat einer hypersensiblen Idiosynkrasie, einer »Überreak-
67 Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Übers. v. Thomas Wiemer. Freiburg/München: Alber 1992, S. 120. 68 Bohrer: Haß-Rede, S. 293. 69 Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jünger. München/Wien: Hanser 1978, S. 420. 70 Butler: Excitable Speech, S. 2. 71 Ebd.
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tion der Psyche«.72 Auch für Bovenschen enthält die idiosynkratische Reaktion ein subjektivierendes Potenzial. Es entsteht in dem »Moment, in dem der Betroffene in der diffusen Kombinatorik eigentümlicher Reaktionen sich seiner selbst gewahr wird […]. Das, was wir Individualität nennen, läge demzufolge im Koordinatensystem unserer Zu- und Abneigungen.«73 In Bayers idiot wird eine solche Szene der Interpellation grotesk ad absurdum geführt: »ein mensch tritt auf: bruder! / a: du sau (schlägt ihn nieder)«.74 Statt der Konstitution einer brüderlichen Gemeinschaft wird die Anerkennung des Menschen als zoon logikon brutal verweigert. Erneut zeigt sich in dieser fehlgehenden Adressierung die prekäre Nähe von Sprache und Gewalt, Grund und Handlung. Es ist diese diffuse Grundlosigkeit der Subjektivierung, welche, laut Ronell, den Prozess der Probehandlungen in Gang setzt: It is not clear why the ego would venture out at all on such exploratory probes if it already knows how to build itself an altogether satisfying world without confirmation from outside. But precisely to assure itself that it is not alone, ego must risk the loss of internal plenitude, its homegrown self-appointed communion. Even in its most hallucinatory condition of satisfaction, the ego senses that something may be missing; it becomes insecure and must start up the machinery of testing.75
Die Maschinerie des Tests misst die Grundlosigkeit der idiosynkratisch interpellierten Subjektivierungprozesse aus. Sie wird daher zwangsläufig maßlos, überreaktiv, übertreibend. Die Realitätsprüfungen des Subjekts, im Sinne Freuds, können somit immer nur zu exzessiven Resultaten führen. Statt durch den Test einen Grund zu etablieren, wird in den Probehandlungen des übertriebenen Hasses das Abgründige der Existenz erfahrbar. Auch für den Schriftsteller Maxim Biller, der in den 1980er-Jahren mit seiner Kolumne 100 Zeilen Hass bekannt wurde, gibt es eine Verbindung von Hass und Übertreibung. In seinem Aufsatz Wer ist hier das Arschloch? aus dem Januar 2018 proklamiert er: »Ja, ich glaube fest an die Kraft der polemischen, intellektuellen Übertreibung«.76 Für Biller ist der Hass trotz aller beleidigenden
72 Deutsches Fremdwörterbuch. Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler, Bd. 8. Berlin/Boston: De Gruyter 22017, S. 96. 73 Bovenschen: Über-Empfindlichkeit, S. 25. 74 Bayer: idiot, S. 248. 75 Ronell: The Test Drive, S. 70. 76 Maxim Biller: Wer ist hier das Arschloch? In: Die Zeit, 24.01.2018.
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Schärfe ein Instrument der Aufklärung. Er nennt sich daher auch explizit einen »Hass-Aufklärer«.77 Auch Axel Honneth in einem Idiosynkrasie als Erkenntnismittel betitelten Aufsatz erkennt zum Beispiel in Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung den »kunstfertige[n] Einsatz von Übertreibungen, mit deren Hilfe der theoretisch hergeleitete Zustand in ein solch grelles, bizarres Licht getaucht wird, daß dessen Fragwürdigkeit der Leserschaft wie Schuppen von den Augen springen soll«.78 Biller distanziert sich und die intellektuelle Tradition, in die er sich einschreibt – diese reicht von Heinrich Heine über Karl Kraus bis zu Henryk M. Broder –, vom alltäglichen, in den Massenmedien und sozialen Netzwerken sich manifestierenden Hass. Statt für den »Internet-Hass« argumentiert Biller für einen »bösartigen, wahrheitsliebenden, stringent argumentierenden und maßlos schimpfenden«79 Diskurs. Biller beschreibt diese Tradition der polemisch Hassenden wie folgt: »Aber wir haben unsere Köpfe, und wir haben die Bücher und das Papier, wo die Sätze komplizierter, die Beschimpfungen elaborierter, die Kritiken am Gegner und am jeweiligen Status quo durchdachter sind«.80 Hass ist ohne Maß, stellt Biller fest, um im gleichen Atemzug die Stringenz und Form der polemischen Argumentation zu feiern. Wenn Hass und dessen Übertreibungen mehr als bloßer »Internet-Hass« sein sollen und ihm eine erkenntnistheoretische Dignität zugewiesen werden soll, muss sich, so Billers ambivalente Forderung, maßloser Hass zum stringenten, elaborierten, durchdachten Diskurs verwandeln. Wie gewinnt Hass ohne Maß Form? Wie kommt der idiosynkratische Affekt zur Sprache? Bohrers Beispiel für eine Literatur des Hasses ist Rolf Dieter Brinkmann. »Er wußte«, so Bohrer in Über den Mangel an Symbolischem, »daß Literatur nicht Schrei, Tautologie, Realität ist, sondern Allure, Schönheit, Maske, Symbol«.81 Hass kommt also nicht nur als Inhalt der Rede zur Sprache, sondern manifestiert sich im Stil.82 Es geht diesem nicht um eine realis-
77 Ebd. Vgl. zu Billers Hundert Zeilen Hass auch den Aufsatz von Martina WagnerEgelhaaf im vorliegenden Band. 78 Axel Honneth: Idiosynkrasie als Erkenntnismittel. In: ders.: Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 231. 79 Biller: Wer ist hier das Arschloch? 80 Ebd. Zur Gattung der Polemik vgl. Andreas Dorschel: Passions of the Intellect: A Study of Polemics. In: Philosophy 90 (2015), H. 4, S. 679–684. 81 Bohrer: Über den Mangel an Symbolischem, S. 61. 82 Zur Idee, Hass als eine Form des Stils zu denken, vgl. Jakob Norberg: Hasstext. Affekt und Engagement. In: Engagement. Konzepte von Gegenwart und Gegenwartslite-
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tische Darstellung der Welt. Vielmehr schärft sich der polemische Diskurs durch seinen übertreibenden, über das Gegebene hinaustreibenden Gestus. Durch diesen Überschuss an Stil gewinnt Brinkmanns Hass-Literatur ein kritischutopisches Potenzial. So wie in der idiosynkratisch zaudernden Methode der Nexus von Handeln und Grund fraglich wird, so übertreibt und zersetzt der polemische Hass die Vorstellung von Sprache als einem System unzweideutiger, auf eine gegebene Realität verweisender Zeichen. Der Sprache wird im Hass der Grund entzogen, denn Übertreibungen sind grundlos, wie García Düttmann notiert: »Jede begründete Übertreibung ist keine Übertreibung mehr.«83 Diese Dialektik von Grund und Grundlosigkeit durchzieht sowohl Brinkmanns Ausfälle gegen die kulturelle Norm, Bernhards Tiraden, Wieners purim als auch von Doderers Prosa. Und schon bei Hermann Cohen findet sich eine Stelle in Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, in der es heißt: »Der Haß darf nicht nur keinen falschen Grund haben, sondern er hat überhaupt keinen Grund. Jeder Grund ist für ihn ein falscher. Jeder Grund zum Haß ist nichtig und eitel. Der Haß ist immer ein grundloser Haß.«84 Ist diese Grundlosigkeit für Cohen ein Indiz für die destruktive Kraft des Hasses, so ist ein hasserfülltes Denken in »Versuche[n] extremer Art«85 bei Wiener, Brinkmann, Bernhard und anderen positiv besetzt. Erst wenn man Gründe sucht (und findet), verwandelt sich der idiosynkratische Ausfall in begründeten, ausdauernden Hass. Dann wird die Idiosynkrasie, die Abneigung, die Über-Empfindlichkeit zur Ideologie. Die Anschaulichkeit des plötzlichen Aufscheinens geht verloren und der utopischhäretische Hass-Essay wird kulturkonservativ. In einem nachgelassenen Fragment verweist Friedrich Nietzsche auf die Probleme, die eine solche Verallgemeinerung der Idiosynkrasie mit sich bringt: Es liegt auf der Hand, daß jedes von uns verschiedene Wesen andere Qualitäten empfindet und folglich in einer anderen Welt, als wir leben, lebt. Die Qualitäten sind unsere eigentliche menschliche Idiosynkrasie: zu verlangen, daß diese unsere menschlichen Auslegungen
ratur. Hg. v. Jürgen Brokoff, Ursula Geitner und Kerstin Stüssel. Göttingen: V&R Unipress 2016, S. 269–286, hier: S. 278 ff. 83 García Düttmann: Philosophie der Übertreibung, S. 32. 84 Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Wiesbaden: Fourier 1995, S. 522. 85 von Doderer: Tagebücher, S. 213 ff.
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und Werthe allgemeine und vielleicht constitutive Werthe sind, gehört zu den erblichen Verrücktheiten des menschlichen Stolzes.86
Die individuelle »Idiosynkrasie [d]es Leidens«87 zu einem allgemeinen Gesetz zu erheben, zeigt sich für Nietzsche in Schopenhauers und Wagners romantischem Pessimismus. Dieser sei »jener tyrannische Wille eines Schwerleidenden, Kämpfenden, Torturierten […], welcher das Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln möchte und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch, dass er ihnen sein Bild, das Bild seiner Tortur, aufdrückt, einzwängt, einbrennt.«88 Wird gründlich gehasst und die individuelle Idiosynkrasie zum universellen Prinzip erhoben, wie es etwas die Antisemiten laut Adorno tun, geht deren erkenntniskritische Qualität verloren. Hass wird zu einem nachträglich begründeten Affekt, der unter dem rationalistischen Regime politischer Interessen zu einem mörderischen System instrumenteller Vernunft fixiert wird. War die archaische Reaktion der Idiosynkrasie mit der plötzlichen Erstarrung des Körpers verbunden, in welcher sich die Verbundenheit des Menschen mit der Natur zeigt, so verhärtet und entfremdet sich diese, indem begrifflich fixiert wird. Aus dem idiosynkratischen Versuch wird eine robuste Theorie. »Von der Angleichung an die Natur«, so Adorno und Horkheimer, »bleibt allein die Verhärtung gegen diese übrig.«89 So ist der Hass mit Grund ohne Ende.
LITERATUR Adorno, Theodor W./Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 3. Adorno, Theodor W.: Der Essay als Form. In: ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 9–33.
86 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885–1887. Kritische Studienausgabe. Bd. 12. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988, S. 238. Nietzsches Reflexionen über die Idiosynkrasie kann in diesem Zusammenhang nicht näher nachgegangen werden. 87 Friedrich Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft. Kritische Studienausgabe. Bd. 3. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988, S. 622. 88 Ebd. 89 Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 190.
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von Doderer, Heimito: Die Sprache des Dichters. In: Die Wiederkehr der Drachen. Aufsätze, Traktate, Reden. Hg. v. Wendelin Schmidt-Dengler. München: Biederstein 1970, S. 194–197. von Doderer, Heimito: Tagebücher 1920–1936. Hg. v. Wendelin SchmidtDengler, Martin Loew-Cadonna und Gerald Sommer. München: Beck 1996. von Doderer, Heimito: Tangenten. Tagebuch eines Schriftstellers 1940–1950. München: Biederstein 1964. Wiener, Oswald: die verbesserung von mitteleuropa. Salzburg/Wien: Jung 2014. Wiener, Oswald: Einiges über Konrad Bayer. In: ders.: Literarische Aufsätze. Wien: Löcker 1998, S. 7–20.
Anticapitalist Affect1 Georg Lukács on Satire and Hate Jakob Norberg
The existentialist philosopher Karl Jaspers was Georg Lukács’s psychiatrist in Heidelberg, where they were both members of the circle around Max Weber just before World War I. In the fall of 1914, Lukács tried to avoid service in the Austro-Hungarian army, and Jaspers wrote a medical statement for him, which listed several physical and psychological ailments, such as feelings of insecurity and anxiety, palpitations, insomnia, and vertigo.2 The letter persuaded the military administrators to deploy Lukács as a censor. But Jaspers maintained a diagnostic approach to Lukács after the consultation. In 1923 he read Lukács’s History and Class Consciousness and noted privately that the book expressed »ressentiment, self-hatred, rage«, even a suicidal tendency, and revealed »the complete lovelessness of the deracinated person.«3 To Jaspers, Lukács’s Marxist positions were symptoms of a very troubled soul. Lukács, for his part, was dismissive of Jaspers, who appears as a radical subjectivist in The Destruction of Reason. The two clashed at the Rencontres Internationales de Genève, a sort of summit of European intellectuals held in 1946.4 One would assume that Lukács would reject, vehemently, the existentialist, psy-
1
This essay was originally published in New German Critique 135, Vol. 45, No. 3, November 2018. The author wishes to thank Duke University Press for the permission to reprint it in this volume.
2
Matthias Bormuth: ›Nervosität, Ressentiment, Hass‹: Karl Jaspers begutachtet Georg
3
Bormuth: ›Nervosität, Ressentiment, Hass‹, p. 52, 55.
Lukács. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 8 (2014), no. 4, pp. 45–56, p. 47. 4
Arpad Kadarkay: Georg Lukács: Life, Thought, and Politics. Oxford: Blackwell 1991, pp. 381–401.
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chopathological approach to his Marxist commitment. But rather than dismiss Jaspers’s diagnostic vocabulary, I suggest that Lukács appreciated the political use value of negative affects, especially hate. In contrast to the contemporary concern with the destructiveness and even criminality of hate (as in hate crimes, hate speech), Lukács believed that there is a definite place for hate in the revolutionary struggle; under particular conditions, it can serve as an anticapitalist, revolutionary affect. Lukács’s discussion of the political utility of hate takes place in a literaryhistorical context. Specifically, the political force of hate becomes evident in the genre of satire. In fact, Lukács even regards expressions of negative affects as one of satire’s distinctive traits. In the merciless satires of the revolutionary class, he argues, implacable hatred of bourgeois society is given expressive shape and achieves a mobilizing effect. The association of satire with hate is not singular in literary history. »I never fell in love«, wrote Karl Kraus, the great German-language satirist; »I always fell in hate.«5 In his characterization of the propulsive literary power of hate, however, Lukács assigns a political function to the affect informed by his Marxist conception of class struggles in history. The politically oriented satirist, he claims, discerns the unsustainable character of society with perfect clarity and detects its corruption through the medium of a hatred that nobody and nothing can mitigate. To hate means to be clear-eyed and focused on unavoidable political battles, and to write satire is to attack society explicitly and publicly, an enterprise that can only be strengthened by hate. Satire animated by hate can function as a vehicle of revolution. But why reconstruct Lukács’s understanding of the close relationship between satire and hate, the genre and the affect, at this particular juncture? Why return to Lukács now? Lukács’s argument is relevant today, I would argue, because it so clearly contrasts with contemporary comments on satire. In recent discussions of controversial caricatures of religious figures in the European press, many commentators have wanted to separate the art of satire from ugly affects, and even expressed doubts about the legitimacy of the genre because of its destructive effect on public discourse in a world of cultural and religious fractures. In their comments on satire and caricature in the volatile present situation, Tim Parks and Siddhartha Deb, to select two examples, have both put forward reservations about the viability of satire as an instrument of intervention and reform.6 Satire possesses legitimacy, they claim, when progressive authors and art-
5
Karl Kraus: Kehraus. In: Die Fackel 9 (1907), no. 229, pp. 1–17, p. 17. My translation.
6
Tim Parks: The Limits of Satire. In: New York Review of Books (blog), January 16, 2015. www.nybooks.com/blogs/nyrblog/2015/jan/16/charlie-hebdo-limits-satire
(28.12.2018);
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ists attack or ridicule elites or complacent populations in ways that are caustic and provocative but nonetheless rely on and reconfirm shared moral values that are being violated.7 The standard example is Jonathan Swift’s 1729 pamphlet A Modest Proposal, with its argument that poor families ought to sell children as food. Swift’s grotesque proposal is designed to activate a moral response, a reflective view on the deficiencies of the reader’s own society. These critics concur, however, that satirical writing becomes problematic in a more culturally heterogeneous setting, with a thinner moral consensus, at least if exponents of a majority culture produce texts and images designed to disturb the conventions and pieties of a minority. Such attacks reaffirm prejudices (in the majority) and incite outrage (in the minority) and thus exacerbate cultural polarization rather than contribute to sociopolitical enlightenment. Much satire, then, is merely destructive and illegitimate. Lukács may not tell us very much about satire in a multireligious, multicultural environment; he was, as is well known, preoccupied with class oppositions under capitalism. His treatment of satire does not, therefore, yield an obvious response to the current skeptical attitude to the genre. Yet his reflections on satire and hate might at least subvert the idea that there was once a better age, during which literary provocations were tied to common moral purposes. For Lukács, satire is a polemical and even vicious art form, a medium for explosive negative affect, that nonetheless does belong to the sphere of literary-political struggle. Satire fueled by and expressive of hate is an entirely legitimate device, a valuable weapon, of the revolution, which is not a friendly affair. Lukács, then, can teach us something about the uses of hate in the political sphere and compel us to revise a seemingly straightforward distinction between acceptable and unacceptable satire, the former supposedly constructive and progressive and the latter hateful and destructive. Yet there are internal problems with Lukács’s account, which become noticeable in his struggle to match his thesis with examples drawn from literary
Siddhartha Deb: Is Legitimate Satire Necessarily Directed at the Powerful? In: New York Times Book Review, November 8, 2015. www.nytimes.com/2015/11/08/books/review/islegitimate-satire-necessarily-directed-at-the-powerful.html (28.12.2018). See also Thomas Steinfeld: Karikatur. In: Merkur 69 (2015), no. 11, pp. 36–45. 7
David Bromwich rejects the view that satire, proper satire, is always written for the people, the lower classes, the disenfranchised, and the like against the elites: »A great proportion of satire in all ages has been directed by the haughty against the low and mean. […] Satire may come from the palace as well as the gutter«. David Bromwich: What Are We Allowed to Say? In: London Review of Books 38 (2016), no. 18, pp. 3–10, p. 5.
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history. There is a gap between Lukács’s claims about the genre of satire and his selection of actual literary figures, which suggests that his assessment of hate’s revolutionary potential remains problematic. He cannot quite fit his theoretical assertions with particular cases, a problem in the text that points to tensions in his conception of the genre. Satire, I argue, can be hateful and perhaps also revolutionary, but as a reconstruction of Lukács’s argument indicates, it cannot easily be both at the same time. In his 1911 essay collection Die Seele und die Formen, the young Lukács, not yet a committed communist galvanized by the October revolution, offers the reader a fairly conventional treatment of hate. In a highly literary piece on Søren Kierkegaard and his fiancé, Regine Olsen, Lukács, then in his midtwenties, relates how love between two people can easily morph into hate, a psychologically plausible transformation to occur in intimate relationships that, for one reason or another, turn sour. To avoid entanglements and stay on a religious path, the much older Kierkegaard sought to provoke Regine to hate him rather than adore him by suddenly and offensively dissolving the relationship, thereby allowing her to turn her attention to someone more worthy. Kierkegaard, Lukács writes, wanted Regine and her entire family to view him as a mean seducer, which would lead her to feel »nichts als Haß gegen ihn« (»nothing but hatred for him«).8 Lukács does not linger on the peculiarities of hate here, but relies on the commonsensical notion that hate can grow out of disappointed, wounded love, and that a profound attachment once disturbed can turn into repulsion. The emotional conversion occurs within an intimate interpersonal relationship; the setting is entirely domestic. Almost half a century later Lukács speaks of hate in a very different context, and lets it perform a decidedly political kind of work. The affect remains recognizable but is no longer confined to intimate relationships and has no obvious or at least no explicit connection to some prior feeling of love. In the 1967 preface to History and Class Consciousness, Lukács writes about hatred, his own this time, and claims that deep-rooted negative affects have from a very early age supported his ideological discipline. »I have never succumbed«, Lukács writes, »to the error that I have often noticed in workers and petty-bourgeois intellectuals who despite everything could never free themselves entirely from their awe of the capitalist world. The hatred and contempt I had felt for life under capital-
8
Georg Lukács: Die Seele und die Formen: Essays. Neuwied: Luchterhand 1971, p. 56.
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ism ever since my childhood preserved me from this.«9 In these lines, hate is still the affect of rejection and enduring separation. It holds the individual subject in a permanent grip and precludes any negotiation or reconciliation with the object. But hate is here not directed at a particular person who has wronged or insulted the subject but toward a societal system; it is the anticapitalist affect. As such, hate is relieved of negative connotations, as it effectively protects the political subject from contamination and serves as the affective foundation of an uncompromising stance. Hate has once and for all inoculated Lukács against ambivalence; it helps maintain an attitude of unappeasable negation. This comment from late in Lukács’s life does not stand alone. As a literary critic, Lukács repeatedly notes the affective states of authors, including those authors whom he holds in high regard. The great French realist Honoré de Balzac, he writes in an article from 1934, was gripped by hate toward exploitative capitalism and its erosion of a traditional social order and gave hatred a place in his novelistic portrait of the peasant class.10 Leo Tolstoy, too, Lukács claims in 1936, came to hate the system of exploitation in Russia, expressed hate and contempt for dehumanization, and formulated a stinging, hate-filled critique of Russian society.11 Finally, Maksim Gorky, yet another Russian author of importance to Lukács who comes up in an article from the same year, felt an »ineradicable hate« toward forms of barbarism in his own country.12 This brief overview of author portraits alone reveals that Lukács in an almost systematic fashion associated canonical realist writers with hatred; the affect apparently does not vitiate the quality of their writing or detract from their realism. But let us now move to the text in which Lukács clearly and elaborately articulates the political utility of hate as it assumes a distinct literary form, namely, his 1932 study of satire, Zur Frage der Satire (»On the Question of Satire«). In this essay, published in the Moscow-based, German-language exile journal Internationale Literatur, edited by Lukács’s friend Johannes Becher during the years of fascist politics (1931–1945), hate is not one element in a larger portrait
9
Georg Lukács: History and Class Consciousness: Studies in Marxist Dialectics. Translated by Rodney Livingstone. Cambridge, MA: MIT Press 1971, p. xi.
10 Georg Lukács: Der historische Roman. Probleme des Realismus 3. Werke, Vol. 6. Neuwied: Luchterhand 1965, p. 456. 11 Georg Lukács: Der russische Realismus in der Weltliteratur. Probleme des Realismus 2. Werke, Vol. 5. Neuwied: Luchterhand 1964, pp. 197, 217, 178. 12 Lukács: Der russische Realismus in der Weltliteratur, p. 289.
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of an author but the dominant theme in the characterization of a genre.13 Negative affects such as anger and indignation but most prominently hate, Lukács states in his article, lend force and urgency to satire and distinguish it from other genres that are equally critical of social relations but not overtly aggressive. Hate is constitutive of satire, the affect of the genre. In this text, then, hate is no longer casually used in a way that depends on standard preconceptions about its nature, but receives a more systematic treatment. It is given a definite location in Lukács’s literary criticism. A few words about Lukács’s years of exile in Soviet Union may help situate the article on satire and explain a few of its peculiarities. Lukács traveled to Moscow in 1930, summoned by the Comintern to face questions about his loyalties after his expulsion from the Central Committee of the Hungarian Communist Party. Although Lukács himself would claim that his many years of scholarship and writing in the Soviet Union – he stayed until 1945, with some interruptions in the early thirties – were harmonious and productive, the conditions were severe.14 Under Stalin’s reign, émigrés lived dangerously in Moscow, and about four-fifths of the Hungarian communists were arrested during the purges in 1936–1938.15 Lukács also arrived in the Soviet Union with a reputation as an unorthodox Marxist thinker; he would have to disown History and Class Consciousness on repeated occasions in the early thirties. His biographer does point out that Lukács, during his years in Moscow, published mainly articles, with the exception of the work on the young Hegel in 1938.16 Various material and ideo-
13 The journal was an internationally oriented publication and featured non-German authors. See Lieselotte Maas: Handbuch der deutschen Exilpresse, 1933–1945. Ed. Eberhard Lämmert. Vol. 4. Munich: Hanser 1990, pp. 206–214. 14 After publishing the »Blum Theses« on the transitional democratic dictatorship of the proletariat and the peasantry, Lukács was expelled from the Central Committee of the Hungarian Communist Party and viewed with suspicion by the Comintern (Blum was Lukács’s party code name). For Lukács’s own view of the affair, see the interview with Lukács in Francis Mulhern (Ed.): Lives on the Left: A Group Portrait. London: Verso 2011, p. 8. The biographer Arpad Kadarkay tells the story of how the Comintern ordered Lukács to travel to Moscow and speaks of the ideological conformism demanded of him during his prolonged stay, but also quotes letters of his that express contentment (Kadarkay: Georg Lukács, pp. 295, 318). Lukács, one could add, was used to police surveillance since the beginning of his exile years, so from 1919 on. 15 Kadarkay: Georg Lukács, p. 308. 16 Kadarkay: Georg Lukács, p. 315. Lukács did begin work and published at least parts of his work on the historical novel. Some of the articles from this period are justly fa-
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logical factors, such as poor access to international literary works, relative isolation from the Russian-speaking environment, and the demands of ideological purity, might have muffled his output to some degree; in 1968 Lukács mentioned that each article published in this period had to feature three or so quotations from Joseph Stalin, then an »insurmountable necessity«.17 Yet Lukács himself saw supreme value in ideological adherence to the party, seemed willing to perform the necessary retractions of previous works, and was eager to display himself a dependable soldier in the cultural, literary-critical war on fascism. The 1932 article on satire, one of his first in Internationale Literatur, in many ways fit into this picture of the Moscow exile. It is a fairly brief, combative, and above all fiercely communist statement on contemporary literature, with references to party leaders as indisputable authorities in all political and intellectual matters. It proclaims bourgeois society and culture to be moribund, anticipates the imminent triumphs of a genuinely proletarian literature, yet remains fairly guarded when it comes to naming any authors worthy of consideration in the present. In these ways, the essay might be a product of its particular situation. But the article, which has been anthologized, constitutes a thought-provoking addition to the critical scholarship on satire and, I would argue, makes a powerful contribution to the discussion of affect and literary expression.18 Most interestingly for readers of Lukács, the expanded discussion of hate in the treatment of satire in the early 1930s links the genre to his nearly contemporaneous statements on realist authors cited above and could therefore help us reconstruct the connection between affect and realism; negative affect may in some cases not distract from but be vital to a properly politicized, active cognitive engagement with and narrative representation of capitalist society. In this 1932 essay on satire, Lukács states that the genre’s distinctiveness lies in its openly pugnacious mode of expression, the »ganz offen kämpferische literarische Ausdruckweise«.19 There are several ways for a literary text to be critical of society. A novel, for instance, can seek to represent societal conditions objec-
mous, such as his interventions in the debate on expressionism or Erzählen oder beschreiben. For a chronological bibliography, see Frank Benseler: Revolutionäres Denken: Georg Lukács. Eine Einführung in Leben und Werk. Neuwied: Luchterhand 1984, pp. 26–49. 17 Mulhern: Lives on the Left, p. 10. 18 See Bernhard Fabian (Ed.): Satura: Ein Kompendium moderner Studien zur Satire. Hildesheim: Olms 1975. 19 Georg Lukács: Essays über Realismus. Probleme des Realismus 1. Werke, Vol. 4. Neuwied: Luchterhand 1971, p. 87 (hereafter cited as ER).
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tively, »as they are«, and not engage in overt polemics. The full representation of a flawed society in itself functions as critique, sometimes despite the author’s overt ideological convictions (ER 100). Satire, however, abstains from providing an extensive, apparently rounded picture of the whole of society and focuses instead on an evident, blatant scandal, which reveals, in highly concentrated form, how the social conditions that produced the scandal are in fact unsustainable and insupportable. Yet the openly combative style is defined not simply by the sharp focus on a scandalous phenomenon but also by the explicit enunciation of negative judgments, even negative affective reactions, that the very possibility of such a phenomenon must trigger. Genuinely satirical works, Lukács claims, express and elicit the indignation, the contempt, and the hate that a decaying »societal system [Gesellschaftssystem]« is bound to provoke (ER 100). Satire sets its gaze on glaring embodiments of profound systemic problems and enunciates affective responses. It is a genre characterized by selectivity and explicit evaluation. Neither trait disqualifies the satirist’s art as a form of realism. The absurd scandal, this is the claim of the satirical work of art, emerges as the no-longerhidden truth of the entire criminal structure of society, and, for this reason, satirical literature qualifies as a form of realism (ER 95). Like the realist literary work, the genre strives to adequately represent the contradictions of society. Satire is not, however, primarily associated with humor and wit, which to us may seem like a surprising, or even mistaken, characterization. But Lukács’s conception of satire conforms to the historically dominant one; humor functions as one strategy of the satirist in the attack on an object, but is not typically taken to define satirical writing.20 Harsh judgments and explicit rejections do define it, not only in Lukács’s eyes, and this might explain why the satiric mode has, at moments in literary history, been cast as excessively and unpleasantly negative.21 Lukács himself opens his article by calling satire the stepchild of bourgeois literary theory; satire has sometimes found itself on the margins of literature and the arts (ER 83). Lukács does nothing to soften the image of satire. When he imagines the genre’s future, he instead emphasizes one of the least palatable of affects. He speaks of the entwinement of satire with the implacable hatred of the revolutionary class, a hatred that allows this striving collective to discern, with an »eagle
20 Jörg Schönert: Theorie der (literarischen) Satire: Ein funktionales Modell zur Beschreibung von Textstruktur und kommunikativer Wirkung. In: Textpraxis: Digitales Journal für Philologie 2 (2011), no. 1. www.uni-muenster.de/Textpraxis/joerg-schoenert-theorieder-literarischen-satire (28.12.2018). 21 Frederic Bogel: The Difference Satire Makes: Rhetoric and Reading from Jonson to Byron. Ithaca, NY: Cornell University Press 2001, p. 56.
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eye [Adlerblick]«, all the weaknesses of a moribund capitalist society and begin to work on its annihilation and replacement (ER 101). Lukács even points to a satire fueled by »holy hatred« – »der heilige Haß« – a startling phrase that appears as the last of the essay’s three subtitles (ER 98). But how does hate as an affect enable a focused gaze on a corrupt society, and how does it drive and sustain the political will to eliminate it? Lukács offers the reader key words and images rather than fully articulated arguments; his conception of hatred requires a reconstruction. To begin with, hate is associated with annihilation rather than adjustment. While anger flares up and dies down, hate is nonepisodic; it endures.22 It does not emerge as a reaction to a temporary situation, say a specific action, but takes form in relation to an apparently unchanging object and directs hostility toward a target viewed as »intrinsically and irremediably bad«.23 Consequently, hate seeks not to correct its focused object, which would imply some degree of loyalty to it, but to eliminate it. It is not the modifiable flaws of a person, group, or sociopolitical condition that disturb the hater, but their innermost values or their perceived essence.24 Hate is not interested in reform; as Lukács declares, it enables sustained devotion to the idea of revolution. Hence Lukács’s 1967 assertion that hatred helped him sustain his ideological purity in the struggle against capitalism; he could harness its persistence and reliability. To hate, this is already implied, is also to be certain about the properties of an object, determine it exhaustively, and claim that it will never overwhelm or surprise the observer. The affect has, one could say, a particular epistemic effect. For the convinced hater (and the true hater is perhaps always convinced), no lingering doubts about the reliability of his or her judgment can dissolve the sense that the hate toward the object is necessary and legitimate. To hate is to know; it even creates a particular kind of clarity and conspicuousness in its sharp delineation of the hated object.25 To the nonhater, hating might seem »constituted by an arbitrary re-
22 Rolf Haubl: Ärger, Wut, Zorn – Hass. In: Was ist Hass? Phänomenologische, philosophische und sozialwissenschaftliche Studien. Ed. Stephan Uhlig. Berlin: Parodos 2008, pp. 23–28, p. 27. 23 Jon Elster: Alchemies of the Mind: Rationality and the Emotions. Cambridge: Cambridge University Press 2007, p. 65. 24 Aurel Kolnai: Ekel Hochmut Haß: Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, p. 107. 25 Kolnai: Ekel Hochmut Haß, pp. 123–124.
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jection based on partial knowledge«.26 Yet haters refuse to accommodate more knowledge precisely because they already know more than enough. The detested object is out there, contoured and knowable, and can be registered, with a kind of cool passion, by the person intent on annihilation.27 Hence Lukács’s recurring references to the »clear-sighted [hellsichtig]« hating satirist and the repeated image of the sharp, eagle-like gaze (ER 100). Hate focuses rather than blurs the author’s vision of society – Lukács himself provides the ocular metaphors. Going beyond Lukács but still emphasizing the interconnected traits discussed, one could perhaps say that the nonepisodic character of hatred, an affect congealed into an attitude,28 does not so much recognize as help manufacture an unchanging object, rendering permanent what could be transitory. The world, which the hater claims to know, is petrified under the hateful gaze. To some theorists, this contributes, somewhat perversely, to its political usefulness. With its conserving effect, hate stabilizes an agent’s willingness to pursue objectives, destructive ones, over longer stretches.29 Because of its enduring and unagitated attention to an object defined as irredeemably bad, it even appears compatible with a rational calculation and renders possible the methodical pursuit of political goals over time.30 Hate can support lifelong projects. Lukács does not quite spell out the features of hate in this way, but he does attribute to the revolutionary satirist an implacable attitude toward an economic and political system that needs to be obliterated and replaced, surely a long-term project. Hatred, the »heilige Haß«, equips the satirist engaged in a political struggle with a set of eminently useful traits: certainty, lucidity, endurance, pitilessness. The revolutionary, hate-filled satirist sees society’s grotesque corruption and relentlessly calls for and works toward its destruction. Today Lukács’s account of hatred, even his formulations, seem jarring. We can no longer invoke hate positively in a political context. The affect has de-
26 Avidly: Eleven Theses on Hating. In: Los Angeles Review of Books, June 16, 2015. avidly.lareviewofbooks.org/2015/06/16/theses-on-hating (28.12.2018). 27 Thomas Brudholm cites Charles Darwin saying that hatred does not reveal itself by any movement of the body. Unlike the person gripped by anger, the hater remains calm. Hatred, Brudholm continues, is »likely to wear a mask« – it does not express itself clearly and hides perhaps partly because it is often socially tabooed. Thomas Brudholm: Hatred as an Attitude. In: Philosophical Papers 39 (2010), no. 3, pp. 289–313, p. 291. 28 Brudholm: Hatred as an Attitude, p. 289. 29 Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, p. 95. 30 Elster: Alchemies of the Mind, p. 66.
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clined in reputation. Social scientists, journalists, perhaps the general public, associate hate with intolerance, xenophobia, racism, anti-Semitism, and homophobia. Hate speech, the willful denigration of others based on their race, sexual orientation, ethnic origin, and so forth, links hate to prejudices and aggression against groups.31 Hate crime represents a category of offenses. The Journal of Hate Studies features articles on the politics and propagation of hate, but hate is in this context fully pathologized, an object of social-scientific and ethnographic analysis as well as moral and political concern.32 The pathologization of negative emotions is not universal. Indignation, for instance, may signify an appropriate affective reaction to the violation of a norm, and hence it can appear morally legitimate.33 Hate, by contrast, is devoid of moral content.34 In light of this distinction, it would be difficult to make the argument Lukács propounds in his discussion of satire, and perhaps inconceivable to encourage people publicly to hate in the interest of political advancement of certain ideals or purposes.35
31 See Anne Weber: Manual on Hate Speech. Strasbourg: Council of Europe Publishing 2009. Weber defines it as speech that spreads, incites, promotes, or justifies racial hatred, xenophobia, anti-Semitism, or other forms of hatred based on intolerance. 32 Sample article titles from the journal: »Irrationalism: The Foundation of Hate Propaganda«; »Italian Fascism’s Soviet Enemy and the Propaganda of Hate 1941–1943«; »The New Politics of Hate? An Assessment of the Appeal of the English Defence League amongst Disadvantaged White Working-Class Communities in England.« See Journal of Hate Studies 10, no. 1. 33 See P. F. Strawson’s discussion of indignation as a reactive attitude »essentially capable of being vicarious« in P. F. Strawson: Freedom and Resentment. London: Methuen 1974, p. 14. We can be indignant over how we are treated by others but can also feel vicarious indignation when others are injured. 34 In 2010 the French writer and diplomat Stéphane Hessel published the slender tract Indignez-vous!, which argued that indignation is the basis for genuine engagement. A similar book encouraging young readers to feel hatred would likely not sell as well, or at least would meet with more disapprobation among critics. 35 Interestingly, the profound ugliness of hate does surface in Lukács’s argument, insofar as the genre associated with the affect can barely be allowed to enter the realm of art. According to Lukács, the bitterness against the world that is discernible in satirical works compels post-Hegelian philosophers of aesthetics such as Theodor Vischer to rule it out of arts, which are supposed to exhibit beauty and harmony. In Lukács’s article, then, the utility of hate for political struggle is made apparent, whereas questions about its aesthetic value are voiced, although not by Lukács himself. Today the situation has almost been reversed: hate cannot have the status of a positive political affect,
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Despite this conceptual congealment of hate into a legal and scientific term for particular kinds of criminal and pathological behavior, Lukács’s line of argument remains of interest; the strong objections that underpin contemporary uses of the term do not quite fit his conception of the affect and its political value. The present concern with hate is based on the ugly violence directed at individuals or groups because of the reified traits – sexual, racial, ethnic – assigned to them. While anger can be directed at an immoral action and can at least potentially remain within the realm of the justifiable, hate grows toward a stable object deemed incorrigibly bad: there is hatred of Jews, hatred of women, hatred of foreigners. But the ultimate object of satirically articulated hate in Lukács’s account is quite clearly an entire system, a macrostructure and not any one individual or collective. The revolutionary satirist struggles not against a frozen image of a group but against a »societal order [Gesellschaftsordnung]«, which generates the moral scandals that call for an aggressively critical treatment (ER 99). Yet Lukács does acknowledge that demands must be placed on hate-driven satire to prevent its degeneration into an attack on a superficially conceived, personalized enemy. To return to his definition of satire, works in the genre focus on events, episodes, or figures that exhibit, in a condensed and vivid form, the criminal structure of the social system as a whole. For its effect, satire concentrates on immediately visible and directly scandalizing particulars but must diagnostically frame them as symptoms of systemic ills. In Lukács’s philosophical vocabulary, the satirically represented appearance must be grasped in relation to society’s essence (ER 99). The ideal satirical combination of evident absurdities and genuine social comprehension of the whole (Gesamtzusammenhang) requires, Lukács writes, a rare combination of »sensuous imagination [sinnliche Erfindungsgabe]« and »profound insight [Vertiefung der Weltanschauung]« (ER 97). Yet in most cases this fusion of abilities does not occur, with the consequence that the satirical attack fails to render transparent the underlying conditions embodied in the outrageous events. When does satire succeed in attacking a social order, and when does it go astray by attaching itself to a particular group? Whether the satirical hatred successfully takes aim at the societal conditions of possibility for a moral scandal depends, Lukács claims, on the satirist’s class position. In this connection, he proposes a basic schema. Either a representative of an ascending class, such as the proletariat, attacks the still-dominant but decaying class, or vice versa. In the former case, outrageous phenomena are under-
but, judging by Thomas Bernhard’s rhythmical diatribes against Vienna, Austria, and humanity (and his numerous epigones), hate does enjoy something of a postwar literary existence.
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stood against the background of a dynamic socioeconomic context, the sham legitimacy drains away from obsolete patterns of social subordination and exploitation, and the satirical writing that captures and exposes this process is accompanied by legitimate negative affect, Lukács’s »holy hatred.« In the latter case, however, bourgeois defenders of doomed relations of production seek to attack the rising proletarian class, but their loyalty to a declining society prevents them from grasping the process of its inevitable dissolution; the satirical mockery remains insubstantial. The satirists from the class under pressure might find material for satire but must dispute that there is anything fundamentally wrong with the current structure of society and hence place the blame elsewhere. We see here, I believe, that there is space in Lukács’s scheme for an account of misdirected negative affect, of hate that does not take the social order for its object, that attacks a surrogate, and that therefore lacks justification.36 Lukács also thinks that representatives of the historically condemned bourgeoisie can formulate a self-critique of their own class. But even when the profound injustices of bourgeois society inspire despair in the self-critical members of bourgeois society, they cannot conceive of a society beyond their own and instead attribute the crimes they confront to a fallen human race. For these bourgeois satirists, it is not capitalism that is the problem; it is humanity, the world, the universe. In this case, hatred of society assumes the shape of general misanthropy, with no program for societal change. In this case, too, Lukács understands that hate can come to miss its only legitimate object, the social structure, and instead attach itself to a particular group (too small a target) or the world as such (too large a target). Satire is a genre riddled with serious attribution problems. Satire, then, seems prone to errancy. This puts it in contrast to realist novels, Lukács’s preferred genre. Realism, according to Lukács, is a program of narration that commits novelists to portray society in its fullness and hence leads them to expose problems they might be ideologically inclined to disavow, such as in the famous case of Balzac, whose incredible capacity for literary representation exceeded the narrowness of his political vision.37 A bourgeois novelist can, Lu-
36 Hatred of Jews as an expression of anticapitalism has been common in modern European history. See Jerry Muller: Capitalism and the Jews. Princeton, NJ: Princeton University Press 2010, pp. 66–67. Hatred of a particular ethnic group associated with a socioeconomic order rather than of the order itself might be an example of the misdirected negative affect Lukács hints at but does not discuss explicitly. 37 Lukács: Der historische Roman, p. 453. In an analysis of Balzac’s novel Die Bauern (Les paysans), Lukács claims that the author delivers an absolutely damning critique, in literary form, of the ideological positions that he held as a political thinker.
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kács asserts, still help us discover and understand society, despite his or her class position. Satire, by contrast, emerges as a method of radical attack that can be misdirected unless guided by an adequate consciousness; it is therefore a weapon most properly wielded by the proletariat. Rather than exclude hate from the range of politically acceptable affects, Lukács offers us a structured account of its legitimate and illegitimate uses based on a Marxist class analysis. But it is also at this point in Lukács’s theory of satire and hate that a problem emerges. Lukács can name a series of bourgeois satirists who wrote to ridicule the feudal system, and also selects authors critical of the bourgeois class itself during its era of dominance. He mentions, among others, Swift, Voltaire, Gustave Flaubert, and Kraus. The category of proletarian satirists, however, remains almost unfilled, with the exception of Lenin, who is, I think, not primarily known for his satire. The uncompromising revolutionary satirists who direct their hatred at bourgeois society seem to have failed to materialize, even though Lukács claims that the bourgeois social system generates objects ready for satirical treatment every hour of every day. The »growing hatred, the increasing indignation and contempt of the proletariat«, has not yet, in Lukács’s own account, assumed the form of literary satire (ER 107). Of course, Lukács might have preferred to remain quite reticent and praise Lenin rather than risk an unconventional choice; as mentioned above, he was living and working under pressure during the early 1930s, as at so many other times of his life.38 To understand why this sparsely populated category nonetheless presents a problem for Lukács’s theory, it is helpful, I believe, to distinguish more clearly between different affects, especially contempt and hatred, both of which he mentions. Lukács often groups hate, contempt, and indignation together, but they can be, should be, disentangled. Contempt is typically tied to feelings of superiority toward others39 and could very well be the attitude of an ascending class, energized by its recuperated human agency and convinced of its future advances. Hate, in contrast, is typically induced by long-term frustration with impotence and ineffectiveness; there are negative correlations between hate intensity and
38 Sheila Fitzpatrick also mentions that Lukács tended to ignore contemporary Soviet writers, »except [Andrei] Platonov and the canonical Gorky«. Sheila Fitzpatrick: Diary. In: London Review of Books 38 (2016), no. 23, pp. 42–43, p. 43. 39 Arthur Schopenhauer stipulates that hate and contempt are antagonistic affects and that contempt stems from the conviction that the other is inferior; it is based on the »Ueberzeugung vom Unwerth des Andern«. Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena II. Werke in zehn Bänden, Vol. 2. Zürich: Diogenes 1977, p. 642.
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perceived self-power.40 The object of hatred must seem important, dangerous, and powerful to those who hate, not insignificant, fragile, and weakened.41 This is an insight one does encounter in Lukács’s own work. In Erzählen oder beschreiben, a long programmatic text from 1936, Lukács portrays Flaubert and Émile Zola as two authors who turn away from and express hatred of the fully constituted bourgeois society. Here Lukács emphasizes how the authors retreat from society and freeze in a contemplative relationship toward social reality, indicating that hate is associated with, grows through and is reinforced by, powerless observation from a distance in contrast to active engagement (ER 205). In his analyses of Balzac novels, Lukács notes how the hatred of the lower classes grows in proportion to their powerless dependence on exploitative capitalists and usurers.42 In these contexts, hate appears as an affective realization of misformed cognition that is in turn rooted in conditions of capitalist compulsion.43 The reifying gaze of hate is a response to a society of capitalist reification. Hate originates in states of frustration rather than confidence, conditions of entrapment rather than moments of triumph. The subject hates when it feels stifled and stunted, unable to rectify or escape a situation that reminds it of its limitations and subordination. Hate is the assertive reaction of the self under threat, not the self convinced of its superiority. This conventional account of hate in contradistinction to contempt has implications for Lukács’s argument. Contrary to his assumption in the essay on satire, it is precisely authors under pressure and in despair, defending their preferred social order or at least unable to conceive of an alternative to it, who would likely feel hatred and direct it toward an enemy. Hate may very well possess the traits that Lukács ascribes to it – the cool stability of an attitude, the supposed clear-sightedness about a corrupt object, the drive toward annihilation – and it may for all these reasons be of value to satirical writing, but it seems to have a different context of genesis than he imagines. Satirists may be just as hateful as Lukács thinks they are, but, precisely for this reason, they would typically not be representatives of an ascending class capable of
40 Edward Royzman, Clark McCauley, and Paul Rozin: From Plato to Putnam: Four Ways to Think about Hate. In: The Psychology of Hate. Ed. Robert Sternberg. Washington, D.C.: American Psychological Association 2005, pp. 3–35, p. 17. 41 Kolnai: Ekel Hochmut Haß, pp. 102–103. 42 Lukács: Der historische Roman, p. 457. Lukács does not explain when frustration leads to resignation and apathy and when it leads to hate. 43 For a discussion of how Lukács views the relationship among modern epistemology, sociopolitical order, and material conditions, see Chris Thornhill: German Political Philosophy: The Metaphysics of Law. New York: Routledge 2007, pp. 257–260.
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grasping and shaping the tendencies of the age. The »holy hatred« of the revolutionary satirists may in fact not exist, because these satirists would not be hateful but contemptuous of their class enemy and certain of their historical role. The lack of examples of great proletarian satirists in Lukács’s own essay points to a problem in his construction of the hate-driven revolutionary satirist; the category might remain more or less vacant not because it is historically premature but because the figure does not, cannot, exist. If revolutionary satirists are convinced of their own eventual success, then they are unlikely to hate, since hate is born of exasperation. But if the satirists do hate, then that might mean that the revolutionary change is a much more exasperating enterprise than Lukács would want to concede. Either way, it is difficult for Lukács to unite the political utility of hatred, which lies in its sharp focus, endurance, and implacability, with an articulated vision of revolutionary change. Satire appears as the perfect literary means toward a goal, the revolutionary transformation, but appears as such a means only if the goal seems frustratingly remote. Of course, there could be proletarian satirists who are angered by and hateful of bourgeois society, and angered by different aspects of that society than the self-critical bourgeois satirists, but who have not attained full consciousness of the objective interests and opportunities for agency of the class to which they belong. In another article, Lukács points to the Danish socialist Martin Andersen Nexø as a novelist, not a satirist, who represented the indignation of the proletariat (ER 231). In his article on satire, however, Lukács mentions no one. There could be yet another possibility of reconciling the strands of Lukács’s account, namely, to say that a revolutionary writer has acquired a sense of the working class’s historical mission and is for this reason not likely to be gripped by hate, yet still uses hate rhetorically for political mobilization. Hate, then, serves as an instrument of the revolutionary satirist, an affect used to incite opposition to society but in itself unfelt by the author. Satire would be a purely rhetorical construction, administered by the politically committed author but with no ground in his or her own constitution. Yet Lukács does not admit to such a clear instrumentalization of hate in the interest of the revolution; the satirist really does hate, he seems to maintain, but of course he has difficulties naming proletarian satirists. Again, Lukács cannot unite his view of the political value of hate and its centrality for satire, on the one hand, with the epistemic and political position of the revolutionary author, on the other. Satires depict, and attack, a fallen world, a world that appears grotesque, absurdly immoral. Faced with such an explicitly judgmental genre, with texts that seek to kindle our critical and even aggressive energies toward the objects they repre-
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sent, critics often ask about the genre’s political affiliation.44 Who typically presents to us the image of a world gone wrong? Does the genre have a natural ideological home? There are those who claim that satire, with its sensitivity to moral violations and interventionist character, is on the side of the progressive cause. Satirical works uncover the evils that we live among and try to bring about change through exposing and ridiculing absurdities and hypocrisies.45 Works in the genre may depend for their effect on a shared cultural background or moral code, but they do not want simply to reinforce the status quo. Instead, they deploy shared social codes and norms in order to highlight crimes that society should not accept. Satire is, in other words, a form of immanent critique that produces an enlightened perspective on unknown, ignored, or disavowed moral scandals. Others have claimed, with the same assurance, that satirists worth reading are, constitutionally, conservative, for they typically reveal the insanity of the present by relying implicitly on shared memories of a once-sane age.46 The invoked common sense, from which the present deviates, has a home in the past. Satires are, structurally speaking, close to the elegy, in that they confront society with knowledge of an ideal.47 While the elegist sees the fallen present and poetically mourns the loss of the ideal, the satirist remembers the ideal and launches an attack on the present. Lukács’s scheme accommodates both views delineated above, the portrait of the satirist as progressive and the portrait of the satirist as conservative. With his survey of early and late bourgeois satire as well as his forecast of a future proletarian literature, Lukács can imagine a broad set of class positions and corresponding ideological commitments of satirists. There are, he seems to indicate, multiple sources for normative pictures of society that allow for a critique of contemporary conditions. Lukács knows of satirists who criticize the present from the position of a better future and from the position of an allegedly better
44 Schönert: Theorie der (literarischen) Satire, pp. 6, 10. 45 Parks: The Limits of Satire. 46 Adam Gopnik: The Next Thing: Michel Houellebecq’s Francophobic Satire. In: New Yorker, January 26, 2015. www.newyorker.com/magazine/2015/01/26/next-thing (28.12.2018). 47 In his tract Über naive und sentimentalische Dichtung, Friedrich Schiller famously groups satire and elegy together; they both depend, he argues, on the distance between real and ideal. The real, viewed with knowledge of the ideal, can be an object of attack (satire), and the lost ideal, viewed with knowledge of the real, can be an object of mourning.
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past, and seeks to differentiate between them, but he does argue that they cannot produce equally successful works. Lukács’s definition of satirical texts as narrowly, indeed aggressively, focused on events that encapsulate profound systemic injustices does imply, however, that there can be no genuine satire that does not want a disruption and destruction of the present. No satire deserving of its name can be nonradical, nonrevolutionary. Authors who continue to accept society as it is yet aspire to write satire about problems they discern are, he argues, bound to fail. They are forced to diminish those problems as superficial and selectively chastise behaviors, all the while refraining from a comprehensive and thorough critique of the social system. In this case, satire sheds its ferocity and radicality and tends to slide into the gentler genre of comedy. Or authors do continue to feel the pressure of systemic problems, yet they abstain from condemning the social system as a whole and direct their hostility toward someone or something that is not the root cause of the scandals that disturb them. In that case, the satire is ferocious but misdirected and hence more or less harmful in its false radicality. It attributes flaws to people or groups rather than see problems as rooted in the socioeconomic conditions. Satires must, in Lukács’s view, meet at least two criteria: they must be pugnacious, and they must comprehend society. If the text is not pugnacious, it drops out of the genre and turns into comedy; if the text does not comprehend society, it misuses its distinctive energies and becomes dangerously shallow outrage. But Lukács’s own difficulties in finding adequate examples of proletarian satirists, satirists who hate a society of which they have an analytic grasp, point to a difficulty in the design of the dual requirement. If Lukács is right about the constitution of hatred, and also right about the affect’s entwinement with the genre of satire, he might in fact have to relinquish the account of satire’s revolutionary confidence. For if satire’s fierceness stems from hatred, as Lukács explicitly claims, and hatred builds through perceived helplessness, as his article inadvertently indicates and he suggests elsewhere, then the genuine satirical text, however analytically correct it manages to be, might also be accompanied and even informed by the prospect of its own failure in a confrontation with obstacles. It is at this point that we can reiterate the thesis stated in the introduction: satire might be a genre animated by hate, a genre devoted to destruction, and satire might also be revolutionary, confidently committed to the replacement of the social order, but perhaps it cannot quite be both at the same time. Lukács wants to unite the cool passion of hate with the position of the revolutionary, but he seems to fail to bring them together in a way that neither dissipates the passion nor weakens the assured revolutionary claims.
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But on the basis of Lukács’s account of hate, one could also say that satire seems to be charged with and driven by affects not because of its inherently practical and pragmatic nature but because the satirical project is shadowed by the threat of its impracticality. Aggressive satires could derive their negative energy not from the straightforward desire to change the world but from an anxiety about the actual possibility of an effective intervention. Perhaps they emerge from out of the »torment of impotence« that constitutes the core of hatred.48 There might be an alliance between satire and hate, genre and affect, but that would be one shaped by perpetual irritation, by frustration at the obduracy of a reified world. Viewed in this light, the paradoxes of Lukács’s account of satire and hate would be instructive, because they would offer us an insight into the paradoxes of the genre itself. Lukács would then have set out, in the early 1930s, to present a theoretically sophisticated but also stirring account of revolutionary satire inspired by legitimate hatred, to be put to use in the ongoing cultural battles of the working class against a decaying bourgeois society, but he ended up producing an examination of satire’s troubled internal constitution.
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Tod der Literatur Hassrede und epochale Liminalität in Avantgarde-Diskursen des 20. Jahrhunderts (Marinetti, DADA, Brinkmann, Bernhard) Simon Zeisberg
Im wohl bekanntesten Text der europäischen Avantgarde-Literatur, Filippo Tommaso Marinettis Manifeste du Futurisme (1909), spielt Hass als affektiver Dynamisierungsfaktor eine zentrale Rolle. Wenn es laut Marinetti eben dieser ist, der das Herz der Jungen mit »Feuer« und »Geschwindigkeit« versorge, so geht es dabei um nicht weniger als die Selbstkonstitution des futuristischen Menschen: Eben noch mit seinen Freunden »auf weichen Orientteppichen unsere atavistische Trägheit« zelebrierend,1 schwingt sich das ›veloziferisch‹ gesteigerte Ich des Manifests nach einer Art Wiedergeburt aus dem Schleim der Industrien zu einem enthemmten Vitalismus auf, dem das Alte, die Tradition, die Kultur ein für alle Mal weichen sollen. Bibliotheken, Museen und ganze Städte, so Marinetti, mögen ein Raub der Flammen werden, um dem Neuen Raum zu geben: Mögen also die lustigen Brandstifter mit ihren verkohlten Fingern kommen! Hier! Da sind sie! … Drauf! Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken! … Leitet den Lauf der Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen! … Oh, welche Freude, auf dem Wasser die alten, ruhmreichen Bilder zerfetzt und entfärbt treiben zu sehen! … Ergreift die Spitzhacken, die Äxte und die Hämmer und reißt nieder, reißt ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder!2
1
Filippo Tommaso Marinetti: Gründung und Manifest des Futurismus. In: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938). Hg. v. Wolfgang Asholt und Walter Fähnders. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 3–7, hier: S. 3.
2
Ebd., S. 6.
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Das deiktische »Hier!« des futuristischen Ichs als Ausdruck seines hasserfüllten Angriffs auf die Tradition spielt mit der Möglichkeit eines realen Vollzugs von Gewalt, sublimiert diese gleichzeitig jedoch durch die Überführung in ein literarisches, auf die graphitschwarzen (»verkohlten«) Finger des Autors zurückweisendes Sprach-Kunstwerk. Gegen die poetischen Exerzitien des décadent, der »viel Papier mit irren Schreibereien geschwärzt«3 hat, imaginiert Marinetti eine radikal ›andere‹ Schrift der Moderne, die auf Gewalt, Ikonoklasmus und terroristische Vernichtungslust nicht etwa verweist, sondern diese gewissermaßen selbst performiert. Gerade damit – mit der Identifizierung von Schrift und Gewalt im Zeichen eines im Zwischenraum von Spiel und Ernst angesiedelten artistischen Selbstbegründungsdiskurses – stiftet der Italiener ein Paradigma avantgardistischer Literatur, an dem sich von den Dadaisten bis hin zu den europäischen AvantgardeBewegungen der 1960er-Jahre unzählige Nachahmer(innen) abarbeiten werden.4 Für meine Überlegungen dient Marinettis Manifest als Ausgangspunkt. So soll es im Folgenden darum gehen, das Phänomen avantgardistischer Hassrede im angedeuteten Zusammenhang der Selbstbegründung avantgardistischer Kunst und Literatur durch die Aufhebung von (künstlerischer, literarischer, kultureller) Tradition zu verorten. Um dies mit Blick auf die paradox anmutenden Konzepte möglichst differenziert tun zu können, werden diese zunächst etwas abstrakter zu beleuchten sein, was im Rückgriff sowohl auf Theorieangebote bezüglich der Zeitstruktur avantgardistischer Selbstbegründungsdiskurse als auch auf vorhandene Theorien von Hassrede geschehen wird. Anschließend soll an zwei historischen Textgruppen, nämlich den Anti-Weimar-Invektiven der Berliner Dadaisten Raoul Hausmann und Johannes Baader sowie Rolf Dieter Brinkmanns literaturpolitischen Essays Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter (1968) und Einübung einer neuen Sensibilität (1969), ein Teil der Dynamiken aufgezeigt werden, die den Transfer avantgardistischer Hass-Rhetorik bis in die Postmoderne geprägt haben. Mit einem kurzen Blick auf Thomas Bernhards Alte Meister wird die Untersuchung schließen – einem Text, der sich als retrospektiver,
3
Ebd., S. 3.
4
Für den hier nicht zu leistenden großen Überblick über die historischen Avantgarden und ihre jeweiligen Beziehungen zur Gewalt sei an dieser Stelle bereits auf die Studie Hanno Ehrlichers verwiesen (Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgarden. Berlin: Akademie Verlag 2001). Dem Aspekt des Terrors als Merkmal avantgardistischer Anti-Kunst hat Thomas Hecken eine eigene Untersuchung gewidmet (Avantgarde und Terrorismus. Rhetorik der Intensität und Programme der Revolte von den Futuristen bis zur RAF. Bielefeld: transcript 2006). Hinweise auf weitere Literatur lassen sich diesen Studien entnehmen.
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komisch-ernster Kommentar auf das Projekt der Avantgarde(n) und der ästhetischen Moderne schlechthin lesen lässt.
1
AVANTGARDISTISCHE HASSREDE: THEORETISCHE VORÜBERLEGUNGEN
In den folgenden Ausführungen werden zwei Aspekte avantgardistischer Programm-Literatur genauer zu betrachten sein. Erstens geht es um die eigentümliche Zeit- und Geschichtslogik dieser Texte, die den radikalen Abbruch von Tradition – das Ende oder gar den Tod von Kunst und Literatur – als paradoxen Selbstbegründungsmoment einer immer nur anders möglichen (nicht-)künstlerischen oder (nicht-)literarischen Praxis inszenieren.5 Und zweitens ist der Blick zu richten auf die affektrhetorische Struktur der avantgardistischen Hassreden, die sich von anderen, alltäglichen Formen von hate speech nicht nur hinsichtlich des Hassobjekts (Tradition, Kunst, Literatur, Dichter, Klassiker etc.), sondern auch aufgrund ihrer potenzierten Selbstreflexivität unterscheiden. Worin besteht die Verbindung zwischen diesen Phänomenen? Und nach welchen Regeln funktioniert der unter diesen Bedingungen stehende Diskurs? Pointiert lässt sich die paradoxe Zeitstruktur avantgardistischer Selbstbegründungsgesten mit Eva Geulens Feststellung beschreiben, dass das Schicksal moderner Kunst darin bestehe, »das […] Ende der Kunst immer dort wiederholen zu müssen, wo es darum geht, jenseits dieser ästhetischen Tradition Fuß zu fassen«.6 Explizit beruft sich Geulen in diesem Zusammenhang auf Paul de Man,
5
Vgl. dazu die instruktive Untersuchung von Werner Frick: Avantgarde und ›longue durée‹. Überlegungen zum Traditionsverbrauch der klassischen Moderne. In: Zum Begriff und Phänomen der literarischen Moderne. Hg. v. Sabina Becker und Helmuth Kiesel. Berlin: De Gruyter 2006, S. 97–112. Zum Traditionsverhalten der Avantgarden außerdem Wolf Gerhard Schmidt: ›Le classicisme: c’est cela, l’avantgarde‹.‹ Zur ›restaurativen‹ Stoßrichtung radikalästhetischer Transgressionen in der Moderne. In: Literatur als Wagnis/Literature as a Risk. Hg. v. Monika Schmitz-Emans. Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 127–158. Eine Untersuchung der Paradoxien des avantgardistischen Anfangs ohne Ende hat Aage A. Hanse-Löve vorgelegt (Das Ende vom Anfang. Späte Avantgarden. In: Avantgarde und Modernismus. Dezentrierung, Subversion und Transformation im literarisch-künstlerischen Feld. Hg. v. Wolfgang Asholt. Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 221–240).
6
Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel. Frankfurt a. M. 2002, S. 17. Geulen versteht das unter dem Stichwort ›Ende der Kunst‹ laufende Ver-
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der diese Einsicht in seinem Aufsatz Literary History and Literary Modernity (1970) bereits formuliert hatte. Moderne Autoren, so de Man, könnten gar nicht anders, als die Abbruchgesten zu wiederholen, die ihre Vorläufer immer schon vollzogen hätten: »[…] their claim to being a new beginning turns out to be the repetition of a claim that has always already been made.«7 Was sich in dieser Form als supplementäre Dynamik der Repetition und Iteration darstelle, führe allerdings, so de Man, zu einer paradoxen Kontinuität von Kunst bzw. Literatur im historischen Verlauf. Gerade das Verwerfen der literarischen Tradition zugunsten der ›reinen‹ Präsenz des literarischen Kunstwerks – de Man spricht von ›der Wirklichkeit des Moments‹ – stifte eine Struktur, die Geschichtlichkeit im Sinne von Dauer und Kontinuation erst ermögliche: The continuous appeal of modernity, the desire to break out of literature toward the reality of the moment prevails and, in its turn, folding back upon itself, engenders the repetition and continuation of literature. Thus modernity, which is fundamentally a falling away from literature and a rejection of history, also acts as the principle that gives literature duration and historical existence.8
Betrachtet man die Selbstbegründungsgesten in avantgardistischen Texten unter diesem Gesichtspunkt, lässt sich die Funktion der sie begleitenden Hassreden hypothetisch genauer bestimmen. Im Rückgriff auf theoretische Ansätze wie den Judith Butlers wäre der Hass der Avantgardisten demnach zunächst als performatives Phänomen zu verstehen: Wie andere Formen der Hassrede auch stehen avantgardistische Hassreden zu ihrem Gegenstand nicht etwa in einem einfachen Verhältnis der Referenz – der Avantgardist verweist nicht auf ein in dieser Form tatsächlich gegebenes Objekt namens ›Kunst‹ oder ›Literatur‹ –, vielmehr konstituie-
ständnis (oder Missverständnis) der Hegel’schen Relativierung des romantischen Kunstabsolutismus als ein ›Gerücht‹, das seit der ersten Hälfte des 19. Jh. über Nietzsche bis hin zu Heidegger und Adorno die philosophischen Debatten der Moderne geprägt habe. Über die zahlreichen philosophischen, ästhetischen und ideengeschichtlichen Facetten des Topos vom ›Ende der Kunst‹, ebenfalls ausgehend von Hegel, informieren die Beiträge eines rezenten Sammelbandes: Klaus Vieweg/Francesca Ianelli/Federico Vercellone (Hg.): Das Ende der Kunst als Anfang freier Kunst. München: Fink 2015. 7
Paul de Man: Literary History and Literary Modernity, in: ders.: Blindness and Insight, Minneapolis: University of Minnesota Press 1983, S. 142–165, hier: S. 161. Erstmals ist der Aufsatz erschienen in: Daedalus 99 (1970), H. 2, S. 384–404.
8
de Man: Literary History, S. 161 f.
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ren sie dieses Objekt im ›Moment der Anrufung‹ allererst selbst.9 Was in diesem Sinn als das verhasste ›Andere‹ des avantgardistischen Schreibakts profiliert wird – die Literatur, die Kunst, die Tradition etc. –, erhält im Vorgang seiner ›Anrufung‹ die von de Man erwähnte paradoxe ›Dauer und historische Existenz‹: Durch die iterierende Hassrede, ohne die die »ongoing constitution of the ›apartness‹« des oder der Avantgardisten gar nicht möglich wäre, wird Literatur (Kunst, Tradition) im Zustand ihrer demonstrativen Negation gewissermaßen konserviert.10 Dass diese Form von Hassrede dabei in einer Weise artistisch-selbstreferenziell ist, die sich von den bei Butler, Ahmed und anderen behandelten Varianten von hate speech – etwa der rassistischen oder der homophoben Rede – radikal unterscheidet, liegt auf der Hand. Im Gegensatz zu realen Personen und ›hated bodies‹ (Ahmed), die durch Hassrede verletzt, diskriminiert, marginalisiert werden können, kann bei den Hassreden eines Marinetti auf die alte Kunst, eines Raoul Hausmann auf die Weimarer Klassiker oder eines Rolf Dieter Brinkmann auf die ›alten Dichter‹ von einer tatsächlichen Verletzlichkeit der Adressaten kaum sinnvoll ausgegangen werden.11
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Zur performativen Funktion der Hassrede vgl. Judith Butler: Excitable Speech. A Politics of the Performative. New York/London: Routledge 1997. Wie Butler im einleitenden Kapitel »On Linguistic Vulnerability« darlegt, darf man sich die Verletzung nicht als Produkt von »hate speech« vorstellen, vielmehr sei die Hassrede »the performance of that injury itself« (ebd., S. 18). Im Abschnitt zum Konzept der ›Anrufung‹ (interpellation) führt Butler entsprechend aus, dass das ›Ich‹ und sein ›Anderes‹ im Akt hasserfüllten Sprechens als solche erst hervorgebracht werden (ebd., S. 24–28).
10 So – freilich ohne Bezug auf die Avantgarden – Sara Ahmed: The Organisation of Hate. In: dies.: The Cultural Politics of Emotion. Edinburgh: Edinburgh University Press 2004, S. 42–61, hier: S. 51. Wie Ahmed an selber Stelle feststellt, impliziert Hassrede immer auch ein Interesse am Erhalt des verhassten Objekts. Hass sei nicht etwa der Liebe entgegengesetzt, sondern der Indifferenz, insofern im Hass »the object makes a difference«. Aus diesem verborgenen »need« nach dem Objekt bzw. nach der destruktiven Beziehung zu demselben resultiere eine eigentümliche Dialektik von Destruktion und Konservierung: »There is a relation between destructive attachments and conservation: for the destructive relation to the object to be maintained the object itself must be conserved in some form. So hate transforms this or that other into an object whose expulsion or incorporation is needed, an expulsion or incorporation that requires the conservation of the object itself in order to be sustained.« 11 Dies gilt wohlgemerkt nur auf der Ebene des avantgardistischen Diskurses selbst. Sobald avantgardistische Hassrede sich mit konkreten politischen Handlungen verbindet – wie dies in Italien zu Marinettis Zeiten teilweise der Fall war –, können durchaus reale Bedrohungsszenarien für Autorinnen und Autoren entstehen. Ob und inwieweit
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Und selbst noch dort, wo seinerzeit noch lebende Personen wie etwa Franz Werfel (Bsp. Hausmann) oder die Kursbuch-Autoren um Hans Magnus Enzensberger (Bsp. Brinkmann) von Avantgardisten ›gehasst‹ werden, scheint das selbstreferenzielle Moment der Hassreden für die philologische Analyse weitaus interessanter als die Untersuchung möglicher Verletzungen bei den betroffenen Personen. Dasselbe gilt auf der anderen Seite der rhetorischen Affektbeziehung, nämlich der der ›hassenden‹ Text-Subjekte: Man mag sich aus einem psychologischen Blickwinkel die Frage stellen, ob so etwas wie ›Literatur‹ (›Kunst‹, ›Tradition‹ etc.), ›Dichter‹ (›Künstler‹ etc.) oder auch ›Gedichte‹ (›Gemälde‹, ›alte Städte‹ etc.) überhaupt authentisch gehasst werden kann. Am sofort aufkommenden Absurditätsverdacht lässt sich allerdings schon ablesen, dass die Frage im Hinblick auf die rhetorische Funktion avantgardistischer Hassreden offenbar falsch gestellt ist. Je deutlicher die ihr ›Anderes‹ erzeugende aggressive Rhetorik der Manifeste als selbstreferenzielle Geste erkennbar wird – was ihre potenzielle Gewalttätigkeit als Effekt affektrhetorischer ›Ladung‹ freilich nicht ausschließt –, desto weiter rückt sie von möglichen psychologischen Substraten und personalen Fixierungen ab.12 Was ›hinter‹ der Per-
solche Veränderungen im politisch-gesellschaftlichen Raum allerdings tatsächlich Effekte avantgardistischer Hassrede sind, wäre zu diskutieren. Zu beachten wären dabei Einwände wie die von Jonas Bens in vorliegendem Band, der auf die Wirksamkeit ›sprachideologischer‹ Vorurteile in kultur- und geisteswissenschaftlich geprägten Debatten hinweist. Wenn aus juristischer bzw. soziologischer Sicht bereits der unterstellte Kausalzusammenhang zwischen der hate speech in ruandischen Radiosendungen und dem realen Vollzug des Genozids von 1994 in Zweifel steht, so müsste dasselbe erst recht für einen angenommenen Kausalzusammenhang etwa von futuristischer Hassrede und der politischen Entwicklung in Italien vor und nach 1920 gelten. 12 In seinem inspirierenden Essay zum Hass geht Aurel Kolnai davon aus, dass Hass »offenbar nicht nur gegen einzelne Menschen, sondern auch gegen unpersönliche geistige Mächte möglich ist«. Aurel Kolnai: Versuch über den Haß [1935]. In: ders.: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Mit einem Nachwort von Axel Honneth. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 100–142, hier: S. 106. Bei der Erläuterung seiner These von der Gegenseitigkeit des Hasses – wirklich gehasst werden könne nur, was selbst ›widerhassen‹ könne – gerät er mit dieser Annahme jedoch an seine Grenzen. Im Fall von Nationen oder Parteien, so Kolnai, könnten deren einzelne Vertreter hassen, weshalb man sie als solche selbst auch wider-hassen könne. Ansonsten müsste – etwa im seltenen Fall des authentischen Hasses auf Tiere oder leblose Gegenstände – eine »symbolisch-assoziative Beziehung« im Vordergrund stehen (ebd., S. 123). Es führt offensichtlich nicht weit, die iterierende Hassrhetorik avantgardistischer Manifeste entweder damit zu erklären, dass die Autoren ein magisches Verhältnis zum leblosen Ding ›Litera-
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formanz avantgardistischer Hassreden steckt (oder eben nicht steckt), spielt bei ihrer Beschreibung als performative Ereignisse keine wesentliche Rolle, ja dürfte den Blick auf die in den Texten vollzogene literarisch-artistische Verhandlung von (Selbst-)Differenz und epochaler Liminalität sogar eher verstellen. Um das analytische Potenzial einer solchen Auffassung avantgardistischer Hassrede im Ansatz zu erproben, lohnt sich der Blick auf Marinetti. Dessen ursprünglich an die ›Dichter und Denker der Welt‹, in der publizierten Fassung dann an die ›lebendigen Menschen der Welt‹ gerichtetes Manifest13 mündet bekanntlich in die Vorstellung eines erbitterten Kampfes der Generationen, in dem die futuristische Jugend von heute ihren Nachkommen dereinst unterliegen werde. Auch in diesem Zusammenhang arbeitet der Italiener mit der oben schon erwähnten Identifizierung des Körpers des Dichters mit dem Körper seiner Bücher, die beide dem Vernichtungswillen der Jugend zum Opfer fallen mögen (»Wir wünschen es so!«).14 Das Wegwerfen der Alten »wie nutzlose Manuskripte«, so Marinetti, geschehe zu Recht, wenn der »gute[ ] Geruch unseres verwesenden Geistes […], der bereits den Katakomben der Bibliotheken geweiht ist«, den die Fäulnis »wie Hunde« witternden Jungen in die Nase steige.15 So wie der Hass in den Herzen der Futuristen heute noch brenne, werde er dereinst den Vernichtungstaten der Nachfolger zugrunde liegen:
tur‹ (›Kunst‹, ›Tradition‹ etc.) hatten oder aber die ›Literatur‹ gehasst haben, weil sie von deren Vertretern ›widergehasst‹ wurden. Das Spiel manifestöser Hassrede entzieht sich derlei psychologischen und interpersonalen Modellbildungen und beweist damit seinen genuin sprachlich-performativen, selbstreferenziellen Charakter. 13 Die verschiedenen Textfassungen des ersten Manifests finden sich dokumentiert in: Filippo Tommaso Marinetti: Le premier manifeste du futurisme. Kritische Ausg. von Jean-Andreoli de Villers. Ottawa: Éditions de l’Université d’Ottawa 1986, die betreffende Stelle hier: S. 45. Vgl. dazu auch Ehrlicher: Die Kunst der Zerstörung, S. 96. Laut Ehrlicher zog Marinettis »Entscheidung für die spätere Formulierung die volle Konsequenz aus dem avantgardistischen Anspruch auf eine Rückführung der Kunst in Lebenspraxis«, der als solcher um 1909 nicht mehr ganz neu gewesen sei, sondern sich in der zeitgenössischen Kritik des Symbolismus bereits vielfältig gefunden habe. 14 Marinetti: Gründung und Manifest des Futurismus, S. 6. 15 Ebd. In einem weiteren berühmten Bild imaginiert sich Marinettis futuristisches ›Ich‹ am Lagerfeuer »in einer Winternacht – auf offenem Feld, unter einem traurigen Hangar, auf den ein eintöniger Regen trommelt«. Dort würden die gealterten Futuristen von der Jugend aufgefunden werden, »zitternd und bemüht, uns an dem kümmerlichen kleinen Feuer zu wärmen, das unsere Bücher von heute geben, die unter dem Flug unserer Bilder auflodern.« (Ebd.)
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Sie werden uns alle lärmend umringen, vor Angst und Bosheit keuchend, und werden sich, durch unsere stolze, unermüdliche Kühnheit erbittert, auf uns stürzen, um uns zu töten, und der Haß, der sie treibt, wird unversöhnlich sein, weil ihre Herzen voll von Liebe und Bewunderung für uns sind.16
Ehrlicher hat das, was er die generationelle »Übertragung emotionaler Erregung« nennt, als Bruch Marinettis mit dem »Mythos des geglückten Aufstands« gedeutet.17 An besagter Stelle werde »die performative Kraft der Setzung [unterminiert], da die Iterativität dem Anspruch des Gesetzten auf absolute Geltung auf struktureller Ebene die Autorität nimmt und das Prinzip der Zeitlichkeit einführt, das der Futurismus mit seiner Revolte doch eigentlich abschaffen möchte«.18 Gemäß unseren Vorüberlegungen ist diese Einsicht zumindest zu differenzieren. Wichtig ist dabei zunächst, dass Marinettis Proklamation sich nicht gegen das ›Prinzip der Zeitlichkeit‹ als solches richtet,19 sondern dezidiert gegen das der Tradition, deren transgenerationeller Kontinuitätsanspruch in der im Manifest inszenierten ›ewigen‹ Wiederholung des Bruchs durchaus wirkungsvoll dementiert wird: Wo die Alten (Bücher) weggeworfen werden wie ›nutzlose Manuskripte‹, bevor sie in den Katakomben des Geistes (Bibliotheken) vermodern können, verlieren Tradition und Geschichte immer aufs Neue ihre Geltung zugunsten jenes »desire to break out of literature toward the reality of the moment«, das laut de Man das Kernprinzip literarischer Modernität darstellt. Zum paradigmatischen Text der europäischen Avantgarde(n) wird Marinettis Manifest aber erst durch sein Wissen um die Paradoxie, auf der das Verfahren der avantgardistischen Selbstbegründung beruht. Ehrlichers Eindruck, Marinetti habe die Revolte »nicht als Wiederholung und Reproduktion […], sondern als jeweils neues und einzigartiges ›Ereignis‹« inszeniert, wobei ihm der Selbstwiderspruch im Sinne einer Umarmung des Irrationalen gleichsam bloß unterlaufen
16 Ebd. Der von Marinetti beschriebene Ausdruck von Liebe als Hass ist interessant, betrachtet man ihn im Zusammenhang der Paradoxie von Avantgarde und Tradition: Erst durch den Hass kommt es zur Vernichtungstat, die als Bedingung der Möglichkeit von ›Literatur‹ bzw. ›Kunst‹ deren Kontinuation ermöglicht. 17 Ehrlicher: Die Kunst der Zerstörung, S. 97 f. 18 Ebd., S. 97. 19 Dies ließe sich übrigens schon damit begründen, dass der ›Futurismus‹ bereits seinem Namen nach auf einem Konzept der ›Zukunft‹ und des ›Fortschritts‹ basiert, das bei aller absurden – im Weiteren dann auch faschistischen – Gebrochenheit nicht ohne den Einbezug zeitlicher Faktoren gedacht werden kann.
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sei, beleuchtet demnach nur die eine Seite des rhetorischen Spiels.20 So trifft zwar zu, dass das Manifest konsequent auf die Präsenzeffekte des »Hier« und »Drauf« setzt, um den Moment des Ab- und Aufbruchs sprachgestisch zu realisieren.21 Was dabei allerdings nicht übersehen werden darf, ist die Tendenz zur selbstreferenziellen Brechung dieser Gesten in der auf Wiederholungen basierenden sprachlichen Performanz. Zumal am Ende des Manifests schlägt Marinettis an der Werbung geschulte Rhetorik der Präsenz bzw. Insistenz22 in ein metareflexives Spiel mit der Iteration von (Selbst-)Zitaten um, wobei wiederholt auf das adverbiale ›noch einmal‹ (›encore une fois‹) zurückgegriffen wird. Dieses findet sich in der an Nietzsches Zarathustra erinnernden Exklamation »Aufrecht auf dem Gipfel der Welt schleudern wir noch einmal unsere Herausforderung den Sternen zu!«,23 die in den letzten Zeilen des Manifests gleich zweimal auftaucht. Eingeklammert dazwischen steht der Satz »Wehe dem, der uns diese infamen Worte noch einmal sagt!«,24 sodass sich ein auffälliges Muster ergibt. Die Stelle sei nach dem Text der französischen Erstveröffentlichung zitiert: Debout sur la cime du monde, nous lançons encore une fois le défi aux étoiles! Vos obiections? Assez! Assez! Je les connais! C’est entendu! Nous savons bien ce que notre belle et fausse intelligence nous affirme. – Nous ne sommes, dit-elle, que le résumé et le prolongement de nos ancêtres. – […] Mais nous ne voulons pas entendre! Gardez-vous de répéter ces mots infâmes! Levez plutôt la tête! Debout sur la cime du monde, nous lançons encore une fois le défi aux étoiles!25
20 Ehrlicher: Die Kunst der Zerstörung, S. 98. 21 Zur ›Rhetorik der Präsenz‹ in futuristischen Texten vgl. auch Helga Finter: Semiotik des Avantgardetextes. Gesellschaftliche und poetische Erfahrung im italienischen Futurismus. Stuttgart: Metzler 1980, S. 190 f. 22 Zur Nähe des ›Futuristischen Manifests‹ zur Reklame vgl. Luca Somigli: Legitimizing the Artist: Manifesto Writing and European Modernism, 1885–1915. Toronto: University of Toronto Press 2003, S. 155. Wie Somigli zeigt, ist das äußerliche Vorgehen Marinettis – die Begründung einer neuen ›Kunstrichtung‹ durch die Publikation eines Manifests in der Zeitung – als solches um 1910 keineswegs neu. In der Platzierung des ›Futurismus‹ als Marke sei Marinetti jedoch neue Wege gegangen, was ihm erst durch sein jahrelanges Experimentieren mit Strategien der Werbung möglich gewesen sei. 23 Marinetti: Gründung und Manifest des Futurismus, S. 7. 24 Ebd. 25 Hier zit. nach Filippo Tommaso Marinetti: Manifeste du Futurisme. In: Marinetti. Hg. v. Giovanni Lista. Paris: Seghers 1976, S. 176–179, hier: S. 179. Hervorhebung: SZ.
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Durch die Hervorhebung wird eine verborgene zweite Referenzialität der Drohung (»Gardez-vous«) deutlich. Auf erster Ebene ist sie offenkundig an die Zweifler gerichtet, die mit ihren ›Einwendungen‹ (»obiections«) den kosmischen Höhenflug des futuristischen Ichs stören. Auf zweiter Ebene lässt sie sich jedoch auch als Geste in Richtung des vorliegenden Textes bzw. der ostentativ wiederholten Exklamation deuten (»ces mots infâmes«) – eine Wendung ins Selbstreferenzielle, die dem von de Man beschriebenen Mechanismus des ›Sich-auf-sichselbst-Zurückfaltens‹ modernistischer Abbruchgesten entspricht. Gerade dort, wo Tradition bei Marinetti im affektrhetorisch aufgeladenen Sprech- bzw. Schreibakt ein für alle Mal überwunden werden soll, tritt neben die explizit erwähnte Paradoxie der Erfüllung des literarischen Erbes durch seine Zerstörung (»Nous ne sommes […] que le résumé et le prolongement de nos ancêtres.«) ein performatives Bewusstsein des Textes für die Unmöglichkeit des – mit literarischen Mitteln herzustellenden – Durchbruchs aus der Literatur in die Sphäre reiner Präsenz.26 Auf diese Weise wird, in der hasserfüllten, ›infamen‹ Auslöschung von Tradition und Kontinuität, jene paradoxe ›Dauer‹ gestiftet, die (im negativen Vorgriff auf die unvermeidliche Wiederholung durch ›Andere‹) das Ultimative der vom Futuristen markierten Grenze strukturell durchstreicht.
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HASS AUF WEIMAR: MANIFESTE DES BERLINER DADAISMUS (HAUSMANN, BAADER)
Als frühe deutschsprachige Beispiele für einen avantgardistischen ›Hass auf die Literatur‹ kommen die Anti-Weimar-Invektiven der Berliner Dadaisten Raoul Hausmann und Johannes Baader in Betracht. Sie fallen in das revolutionäre Jahr 1919 und zielen auf das politisch-literarische Doppelsymbol ›Weimar‹, gegen dessen traditionsstiftende Funktion sie mit allen Mitteln dadaistischer Angriffskunst zu Werke gehen. Die Texte – vor allem Hausmanns Alitterel – Delitterel – Sublitterel und Gegen die Weimarische Lebensauffassung sowie Baaders Flugblatt Dadaisten gegen Weimar – führen dabei exakt vor Augen, was Ehrlicher mit Blick auf die dadaistische Avantgarde als Problem der »strukturell be-
26 Dass hierbei eine Verunsicherung auch des (vermeintlichen) abendländischen ›Logozentrismus‹ (Derrida) im Spiel ist, liegt auf der Hand: Anders als es die logozentristische Tradition der Verwechslung von Schrift und Stimme, Buchstabe und gesprochener Sprache vorsieht, ›deutet‹ der futuristische Avantgardist auf deren Nicht-Identität, indem er die Schrift – und letzthin eben auch die eigene – mit den Mitteln der Schrift auszulöschen versucht.
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dingte[n] Repetierbarkeit der Anfangsetzung«27 bezeichnet hat. Wenn Baaders Flugblatt seinen Lesern die Verkündung des »OBERdADA als Präsident des Erdballs« in Aussicht stellt – sie soll am 6. Februar 1919 ausgerechnet im Kaisersaal des Lokals Rheingold in der Berliner Bellevuestraße erfolgen –,28 während Hausmann in zweitgenanntem Pamphlet expositorisch die »dadaistische Welt« verkündet,29 spiegelt dies die paradoxe Logik des ewigen Aufbruchs wider, die in der radikalen Negation von Tradition und Institutionalität relative Kontinuität und Gruppenzugehörigkeit schafft. Dieser Struktur entsprechend, gewinnt die unvermeidliche Hassrede der Dadaisten auf die bürgerlichen Dichter im Allgemeinen und Goethe und Schiller im Besonderen den Charakter eines sich in verschiedenen Medien (Text, Bild, Performance-Kunst etc.) wiederholenden Rituals, in dem das bis ins Absurde gesteigerte Affektpotenzial des dadaistischen Diskurses zum Bestandteil eines an der Grenze von Gewalt und Gewaltverweigerung gespielten artistischen Spiels wird.30 Aufforderungen wie diejenige Hausmanns in Gegen die Weimarische Lebensauffassung, die »schleimblasentreibenden Tröpfe [gemeint sind die bürgerlichen Literaten; SZ] im Unflat ihrer so grässlich ernsthaften sechzigbändigen Werke [zu] ertränken«, oder die Feststellung, »[n]och kläglichere Folgen als der alte Fritz« hätten »Goethe und Schiller« gezeitigt, sei »die Regierung Ebert-Scheidemann« doch eine »Selbstverständlichkeit aus der dummen und habgierigen Haltlosigkeit des dichterischen Klassizismus«,31 performieren den Bruch mit der Tradition mittels der Iteration herabsetzend-schmähender Gesten, ohne die die fortwährende Selbstadressierung der Autoren als Dadaisten offenbar nicht auskommt.32 Dass ihre Texte dabei vor allem, wie auch schon Marinetti, auf die Abgrenzung von zeitgenössischen Strömungen zielen,33 lässt sich als literaturpolitisches Manöver im Rahmen der skizzierten Diskursfunktion verorten. Durch die mutwillige Aus-
27 Ehrlicher: Die Kunst der Zerstörung, S. 195. 28 [Johannes Baader u. a.:] Dadaisten gegen Weimar. In: Asholt/Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen, S. 163. 29 Raoul Hausmann: Pamphlet gegen die Weimarische Lebensauffassung. In: Asholt/ Fähnders (Hg.): Manifeste und Proklamationen, S. 171 f. 30 Hausmann bezeichnet sein Verfahren im Pamphlet explizit als »Spiel«. Ebd., S. 172. 31 Ebd., S. 171. 32 Zu Hausmann als zentraler Figur des Berliner Dadaismus vgl. Riccardo Bavaj: Gegen den Bürger, für das (Er-)Leben: Raoul Hausmann und der Berliner Dadaismus gegen die ›Weimarische Lebensauffassung‹. In: German Studies Review 31 (2008), S. 513–536. 33 Im Fall Marinettis ist dies der Symbolismus als ästhetizistische Strömung, die zu Beginn des ersten ›Futuristischen Manifests‹ Gegenstand polemischer Betrachtung wird.
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blendung von Diskontinuitäten aller Art wird die modernistische Konkurrenz – bei Hausmann sind es die ›Expressionisten‹ bzw. ›Aktions‹-Dichter Becher, Werfel und Hasenclever – in einen bürgerlich-konservativen Traditionszusammenhang gestellt: »Eure zerfetzte Nichtigkeit«, so heißt es in Alitterel – Delitterel – Sublitterel, »haben wir schon vorgestern ausgekotzt. (Ich fordere dem deutschen Geist ein Organ. Es kann nur ein Nachttopf sein.) Die Aktionsdichtung ist schlimmer als Meuchelmord. Hat man noch nicht diesen Johannes Becher lebend zersägt? Er bespeit Menschen und Dinge aus seiner ekelhaften Dichterschnauze. […] Ich fordere die literarische Fabrik. Oder die deutschen Dichter von Schiller bis Werfel und von Goethe bis Hasenclever in den Abort getunkt.«34 Weit stärker noch als im besprochenen Manifest Marinettis (das am Massenmedium Zeitung parasitiert) begreift die Ablehnung von Tradition bei den Berliner Dadaisten den Angriff auf die überkommenen Formen ›logozentrischer‹ Schriftkultur mit ein. In diesem Zusammenhang ist exemplarisch auf Baaders – von Hausmann, Tzara, Grosz, Janco, Arp, Huelsenbeck, Jung, Ernst und Mey ko-signiertes – Flugblatt Dadaisten gegen Weimar zu verweisen. Wie Ehrlicher bemerkt hat, diente die »experimentelle typographische Gestaltung, die nicht nur unterschiedliche Schriftgrößen und -arten miteinander mischt, sondern auch die räumliche Linearität der Schrift durch seitenverkehrte, vertikal, [sic!] oder in unterschiedlichen Höhen gesetzten Lettern und Wörter nachhaltig durcheinander bringt«, als Vorbild für zahlreiche pamphletistische Veröffentlichungen im erweiterten Kreis der Berliner Dadaisten.35 Eine genauere Besprechung dieses formal wie inhaltlich äußerst vielschichtigen Artefakts kann hier nicht erfolgen. Hinzuweisen ist jedoch auf die Zuspitzung der aggressiven Rhetorik in der militanten Formel »Wir werden Weimar in die Luft sprengen. Berlin ist der Ort !da .. da .. [i. Orig. invers und gespiegelt; SZ] Es wird niemand und nichts geschont werden.«36 Auf welche Facetten des überdeterminierten Symbols ›Weimar‹ sich das komisch-ernste Spiel mit der Sprache politischer Gewalt richtet, lässt sich aus dem B.Z.-Artikel entnehmen, den Baader zur Bezeugung der politischästhetischen Einstellung des ›Gegners‹ in das Flugblatt montiert (und dabei mit den erwähnten Mitteln verfremdet). Aufs Korn genommen wird demnach zumal der pathetisch vorgetragene bürgerliche Glaube an das bei den politischen Wahlen des Jahres gesuchte »persönliche Genie«, ohne das an ein Fortbestehen der
34 Raoul Hausmann: Alitterel – Delitterel – Sublitterel. In: ders.: Texte bis 1933. Hg. v. Michael Erlhoff. Bd. 1. München: Edition Text und Kritik 1982, S. 55. 35 Ehrlicher: Die Kunst der Zerstörung, S. 228. 36 [Baader u. a.:] Dadaisten gegen Weimar, S. 163.
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deutschen »Rasse« nicht zu denken sei.37 Gegen diese mit den Mitteln dadaistischer ›Gegen‹-Dokumentation erzeugte Konstruktion von Tradition – das Aufzeigen einer vermeintlich direkten Linie vom bürgerlichen Genie-Kult des ausgehenden 18. Jahrhunderts zur antirevolutionären, autoritätsgläubigen Mentalität des Bürgertums im Jahr 1919 – platzieren Baader und seine Ko-Autoren die ›Gegen‹-Ästhetik des Flugblatts, in der das Moment der Sprengung, der Fragmentierung, Destruktion, Dispersion etablierter Sinnstrukturen Aussage und formale Struktur gleichermaßen bestimmt.
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HASS AUF DIE ALTEN DICHTER: ROLF DIETER BRINKMANN UND DER TOD DER LITERATUR 1968
Im Rahmen des in den 1950er- und 1960er-Jahren geführten Streits um die retrospektive Bewertung der Avantgarden und ihrer ›Aporien‹ in Deutschland nimmt Rolf Dieter Brinkmanns Werk eine interessante Stellung ein. In der eingehenden Studie von Christoph Zeller wurde Brinkmanns ›Poetik des Lebens‹ zu Recht in den Kontext einer Wiederaufnahme avantgardistischer Konzepte gestellt. Bis in die späten 1960er-Jahre hinein tendenziell optimistisch, ab 1970 dann eher pessimistisch übe Brinkmann sich in einer dichterischen Überwindung der Grenze zwischen Sprache und sinnlicher Erfahrung, die für ihn zugleich die Grenze von Tod und Leben markiere. »Die Heftigkeit, mit der Brinkmann das Leben gegen eine für abgestorben angenommen Kultur ausspielt«, so Zeller, »wird nur von den apokalyptischen Bildern übertroffen, gegen die, dem Autor zufolge, eine ›lebendige‹ Form des Ausdrucks anzugehen habe. Mit Worten versucht Brinkmann vergeblich, Worte zu überwinden, mit Medien – Schnappschüssen, Postkarten, Werbung, Landkarten etc. – die Medialität der Darstellung zu verbergen, um das Leben ästhetisch zu erfassen und damit die Utopie des Authentischen wieder ins Recht zu setzen.«38 Die Heftigkeit, von der Zeller spricht, schlägt sich in den Texten Brinkmanns in fortgesetzten Invektiven gegen diejenigen Autoren und Künstler nieder, die bei den Konzepten ›von gestern‹, den Verfahren der modernen Kunst, stehen geblieben seien. Noch im Band Rom, Blicke, 1979 postum erschienen, nimmt Brinkmanns Sprache in affektrhetorischer Hinsicht
37 Ebd. Der von Baader bzw. seinen Ko-Autoren selektierte Ausschnitt stammt aus der Ausgabe der B.Z. vom 27. Januar 1919 und bezieht sich auf die im weiteren Verlauf des Jahres anstehenden Wahlen des Präsidenten und des Volkshauses. 38 Christoph Zeller: Ästhetik des Authentischen. Literatur und Kunst um 1970. Berlin/Boston: De Gruyter 2010, S. 237.
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dort besonders Fahrt auf, wo es um die Bewertung der vermeintlich avantgardistischen, tatsächlich aber längst konventionellen zeitgenössischen Kunst geht: [D]ahinter liegen sie [die Künstler; SZ] und formulieren noch einmal, was schon da ist, dahinter klimpern sie atonal und modellieren sie ihre stereotypen Ansichten, zweite Wahl, freundliche Arschkriecher, elende hirnvergammelte Schwätzer, Zahnpopler, die Erfindung der Schreibmaschine beleidigende, schließlich nur armselige Häufchen, die ihre blöden Fleppen ins Reine bringen wollen, Dicktuer, avantgardistische Konventionelle.39
Bewegt sich Brinkmann auf diese Weise auf der Linie eines Postavantgardismus, der das Kernprogramm der Avantgarden einzulösen gedenkt, indem er deren historische Überholtheit konstatiert, so zeigt sich das Paradoxe dieser Programmatik gerade dort, wo der Autor auf im Diskursraum der Zeit vollzogene (und debattierte) Gesten des Abbruchs von Tradition reagiert. Sein Augenmerk gilt dabei zum einen den Beiträgen im Kursbuch 15, in dem mit Walter Boehlich, Yaak Karsunke, Karl Markus Michel und Hans Magnus Enzensberger gleich vier Autoren den ›Tod der Literatur‹ zum Gegenstand ihrer Überlegungen gemacht hatten.40 Zum anderen bezieht sich Brinkmann auf die sogenannte ›Fiedler-
39 Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1979. Hier zit. nach Hannelore Schlaffer: Der Einzige und die Anderen. Zur Sprache der Verachtung. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 37 (1983), H. 5, S. 844– 849, hier: S. 845. 40 Diese Zuspitzung in der November-Ausgabe kommt dabei freilich nicht von ungefähr. Auch die weiteren Kursbuch-Ausgaben des Jahres 1968 hatten sich bereits mit der Funktion von Literatur im Klassenkampf auseinandergesetzt und dabei eine ›neu‹-linke Position zu formulieren versucht, die die Möglichkeiten eines politischen Engagements der Autor*innen ausloten sollte. Eine wesentliche Rolle bei der Politisierung der literarischen Akteure hatten dabei die Provokationen des SDS beim Treffen der Gruppe 47 im fränkischen Waischenfeld gespielt. Dort waren die Autor*innen um Hans Werner Richter mit »Dichter! Dichter!«-Rufen bedacht worden, was den studentischen Verdacht der konterrevolutionären Ausrichtung der Gruppe dokumentieren sollte. Dass ähnliche Gesten auch im Pariser Mai 1968 eine Rolle gespielt hatten, konnten die Leser*innen des Kursbuchs von Karl Markus Michel erfahren, der sich in seinem Beitrag mit dem studentischen Graffito »La poésie est dans la rue« auseinandergesetzt hatte. Nimmt man die gleichzeitig virulente ›Fiedler-Debatte‹ hinzu, kann man sagen, dass Ende 1968 eine diskursive Gemengelage vorlag, in der Enzensbergers Entscheidung, den ›Tod der Literatur‹ in einem eigenen Heft zu reflektieren, konzeptuell durchaus nahelag. Zu den Hinter-
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Debatte‹, die im Anschluss an Leslie Fiedlers Postmoderne-Manifest Cross the Border – Close the Gap (1968) unter deutschen Intellektuellen und Schriftstellern entbrannt war. Fiedler hatte in seinem Beitrag – der in Christ und Welt abdruckten Fassung seines Freiburger Vortrags vom Juni 1968 – einer Literatur des Rausches und der populären Mythen das Wort geredet, die die in geistiger Artistik erstarrte Literatur der Moderne ablösen werde: »Die Literatur, die den Namen ›Die Moderne‹ für sich in Anspruch nahm – womit sie die Auffassung verband, […] daß über sie hinaus nichts Neues mehr möglich sei – […] diese Literatur ist tot, das heißt, sie gehört der Geschichte an.«41 Brinkmanns programmatische Essays der späten 1960er-Jahre greifen die ›amerikanische‹ Intervention Fiedlers auf, indem sie sie direkt gegen die an der Debatte beteiligten deutschen Schriftsteller wenden. Neben den Autoren des Kursbuchs werden so etwa auch Helmut Heißenbüttel, Martin Walser, Reinhard Baumgart und Jürgen Becker mit Schmähungen überzogen – jene Autoren also, die auf Fiedlers Beitrag mit Einwänden reagiert hatten.42 Wie die Kritik am Ultimativitätspostulat der Moderne bei Fiedler bereits erkennen lässt, ist der bundesdeutsche Diskurs um den ›Tod der Literatur‹ in den späten 1960er-Jahren von einem Wissen um die Wiederholungsstrukturen geprägt, die die Kontinuität des Diskontinuierlichen, die paradoxe Zeitlogik der (literarischen) Moderne, begründen. Dieses Wissen ist nicht nur den Texten Brinkmanns eingeschrieben (wie gleich zu zeigen ist). Auch die zentralen Beiträge im Kursbuch 15, die Aufsätze Michels und Enzensbergers, zielen keineswegs darauf, das ›alte‹ Zitat vom ›Tod der Literatur‹ affektiv zu beglaubigen, sondern bemühen sich vielmehr, seiner bloßen Re-Zitation durch Verfahren intellektueller Distanzierung zu entkommen. Bei Michel dominiert in dieser Hinsicht die Reflexion auf die materiellen Bedingungen von Literatur, die sich seiner Ansicht nach im Rahmen der ›von unten‹ betriebenen Eroberung neuer
gründen vgl. Henning Marmulla: Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68. Berlin: Matthes & Seitz 2011. 41 Leslie Fiedler: Das Zeitalter der neuen Literatur. In: Postmoderne in der deutschen Literatur. Lockerungsübungen aus fünfzig Jahren. Hg. v. Uwe Wittstock. Göttingen: Wallstein 2015, S. 48–73, hier: S. 50. 42 Eine umfassende Rekonstruktion der ›Fiedler‹-Debatte einschließlich der (bundes)deutschen Diskussionen um den ›Tod der Literatur‹ ist der trotz ihres kryptischen Titels instruktiven Magisterarbeit Danny Walthers zu entnehmen. Vgl. Danny Walther: Die ›Fiedler-Debatte‹ oder Kleiner Versuch, die ›Chiffre 1968‹ von links ein wenig aufzuschreiben. Magisterarbeit an der Universität Leipzig 2007. http://textfeld.ac.at/text/801/ (04.12.2018).
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Schrift-Räume – etwa von Hauswänden – und der damit verbundenen Herstellung politisch-ästhetischer Gegen-Öffentlichkeiten in der Gegenwart veränderten.43 Bei Enzensberger dagegen wird die Rede vom ›Tod der Literatur‹ als solche ironisch betrachtet, wobei die Paradoxie der kontinuierlichen Selbstaufhebung moderner Dichtung pointiert herausgestellt wird: »Auch gibt zu denken, daß der ›Tod der Literatur‹ selber eine literarische Metapher ist, und zwar die jüngste nicht. Seit wenigstens hundert Jahren, sagen wir seit Lautréamont, befindet sich die Totgesagte, nicht unähnlich der bürgerlichen Gesellschaft, in einer permanenten Agonie, und wie diese hat sie es verstanden, die eigene Krisis sich zur Existenzgrundlage zu machen.«44 Auch weil Enzensberger in diesem Zusammenhang zum »Jahr 1968« feststellt, »daß ihm nicht mit Phrasen begegnet werden kann«, kann sein Essay Gemeinplätze, die neueste Literatur betreffend kaum als Affirmation der virulenten Pathosformel verstanden werden. Weder ihr agitatorischer Einsatz – etwa bei Karsunke im selben Heft – noch ihre postmoderne Reaktualisierung bei Leslie Fiedler stößt beim Herausgeber des Kursbuchs auf vorbehaltlose Zustimmung. Vor diesem Hintergrund treten die Aufsätze Brinkmanns von 1968/69 als Versuche hervor, mit der Iterativität des Diskurses umzugehen, ohne den Anspruch auf Authentizität im Vollzug der (post-)avantgardistischen Ab- bzw. Aufbruchsgeste aufzugeben. In Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter (November 1968) und Einübung einer neuen Sensibilität (Juni 1969) dominiert dabei eine Strategie des Anti-Diskursiven. Anstatt zu argumentieren oder auf vorhandene Argumente einzugehen, zielen die Texte geradewegs auf die Delegitimation der Diskursposition der ›Alten‹, die in diesem Zuge als solche überhaupt erst konstruiert wird. So schickt Brinkmann gleich im ersten Satz von Angriff aufs Monopol »vorweg«, er fühle sich »komisch unter all diesen ›alten‹ Leuten«, um zwei Absätze weiter in einer inserierten Groteske den »Typ[ ]« zu imaginieren, »der bisher auf Fiedler geantwortet hat« – einen Schriftsteller, der in der Korrespondenz mit seinesgleichen mit dem eigenen Verstorbensein kokettiert: »›Lieber, verehrter Herr N.N., sind Sie schon tot?‹ und der liebe, verehrte Herr N.N. antwortet: ›Ja, ich wußte gar nicht, daß Sie es auch schon sind!‹«45 In Einübung einer neuen Sensibilität setzt sich diese Linie fort. Mit erregten Wortgesten werden die Beiträge der Kursbuch-Autoren
43 Vgl. Karl Markus Michel: Ein Kranz für die Literatur. Fünf Variationen über eine These. In: Kursbuch 15 (1968), S. 169–186. 44 Hans Magnus Enzensberger: Gemeinplätze, die neueste Literatur betreffend. In: Kursbuch 15 (1968), S. 187–197, hier: S. 188. 45 Rolf Dieter Brinkmann: Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter. In: Wittstock (Hg.): Postmoderne in der deutschen Literatur, S. 65–77, hier: S. 65.
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als »verkleidete Bankrotterklärung« einer ›alten‹ Generation bezeichnet, deren Macht auf der Iteration der Rede vom ›Tod der Literatur‹ basiere. Diese »blinde Vorstellung«, so Brinkmann, »näßt sich […] noch ein wenig durch das Denken der mit Abstraktionen vollgestopften jüngeren Generation weiter, zeigt einmal mehr den entsetzlichen Abrichtungscharakter, den die Verlautbarungen einer heruntergekommenen Generation besitzen …«46 Dass diese Lektüre an der Vielstimmigkeit und dem kritischen Potenzial des Kursbuchs geradewegs vorbeigeht, bedarf kaum der Erwähnung. Deutlich dient die repulsiv-aggressive Affektrede Brinkmanns – das Sprechen zwischen Ekel, Wut und Hass – hier dem Ziel, den eigenen Text als authentische Reaktion eines ›jungen Dichters‹ auf die (unterstellte) Repression durch die ›Alten‹ zu inszenieren. Zu diesem Zweck werden absolute Grenzen zwischen Alt und Jung bzw. Moderne und dem Zeitalter ›danach‹ gezogen, die in auffälliger Weise auch Grenzlinien von Affekten sind. Auf der einen Seite operiert die ›alte‹ Generation in einem System der intellektualistischen Gefühlserstarrung, das durch die Auslösung »modische[r] Chocks« künstlich am Leben gehalten wird (wozu es laut Brinkmann eben die Rede vom ›Tod der Literatur‹ braucht).47 Auf der anderen Seite sitzt der ›junge‹ Autor Brinkmann in der diegetischen Schreibszene, hört Popmusik, nimmt Drogen und produziert einen von ›starken‹ Affekten geprägten (Anti-)Diskurs, der die Möglichkeit des Durchbruchs durch die Schichten modernistischer Konvention – eines Durchbruchs zum Realen, zum Leben, zum ›reinen‹ Augenblick etc. – zugleich verkündet und performativ zu vollziehen sucht. Es ist in diesem Sinne der Affekt – seine Omnipräsenz bei Brinkmann und seine (unterstellte) Absenz bei den ›Alten‹ –, der die Akte der Wiederholung der Pathosformel voneinander unterscheidet. Mit der Feststellung, es sei »[n]ichts« am Denken der ›Alten‹, »was sie und ich anfassen könnten, was wir gebrauchen könnten, was uns Spaß machen würde, weiterzugehen«, re-authentisiert Brinkmann das Zitat von der absoluten Schwelle am Ende der Literatur und der Moderne, indem er seine Verwendung durch die ›Alten‹ polemisch herabwürdigt: Und genau das [die Möglichkeit einer ›anderen‹ Dichtung; SZ] ist die Perspektive, die nicht nur unterschlagen, sondern gar nicht einmal gesehen worden ist in der hohlen, pathetischen Formulierung vom Ende der Literatur … dieser Blick hätte jener Formel einen
46 Rolf Dieter Brinkmann: Einübung einer neuen Sensibilität. In: Rolf Dieter Brinkmann. Hg. v. Maleen Brinkmann. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995, S. 147–155, hier: S. 147. 47 Ebd.
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Sinn gegeben, der sich in dem Paradox begreifen läßt: die Literatur muss verschwinden, damit sie um ein Stück realer für jeden einzelnen von uns wird.48
In der performativen Entfaltung dessen, was Brinkmann als Programm einer Dichtung nach der Moderne skizziert – die Rede ist von einer Literatur, die, vermittelt über die Empfindung des schreibenden Ichs, die »riesige Materialfülle der Augenblicke« in sich bündelt und dabei »nicht immer ängstlich mitzureflektieren« braucht, »daß jedes Material künstlich ist und sie selber in einzelnen Produkten etwas Künstliches darstellt«49 –, bleibt der Hass-Affekt als Vehikel rhetorischer Liminalisierung in den Essays durchgehend virulent. Er findet sich an strategisch wichtigen Stellen wie etwa dem programmatischen ›Einsatz‹ von Popmusik in Angriff aufs Monopol, den Brinkmann dazu nutzt, die »deutsche[n] Dichter« – hier trifft es Heißenbüttel, Becker, Baumgart und Walser – als »Schlampen« zu bezeichnen, die im Vergleich zu den nach Realisierung strebenden Musikern der DOORS »faul« seien.50 Seinen markantesten Niederschlag findet er jedoch im Untertitel desselben Essays, der zu dessen relativer Bekanntheit wohl beigetragen haben dürfte: Ich hasse alte Dichter. Dass es sich dabei nicht, wie man zunächst denken mag, um eine direkte Aussage des Autors Brinkmann, sondern eben wiederum um ein Zitat handelt, wird am Ende des Textes aufgedeckt. Im letzten Absatz des Essays erfährt der Leser, dass Brinkmann den Satz im Werk des amerikanischen Beat-Poeten Gregory Corso aufgeschnappt hat: »›Ich hasse alte Dichter! […]‹, steht irgendwo bei Gregory Corso.«51 Die Konstruktion ist ebenso intrikat wie strukturell erhellend. Als Zitat stellt der Satz die Wiederholung einer rhetorischen Affektgeste dar, die – denkt man an Marinetti und die Folgen – als solche immer schon auf das Archiv der Avantgarden zurückweist.52 Hierzu trägt die Juxtaposition mit dem Haupttitel
48 Ebd. 49 Ebd., S. 153. Hierzu gehören Aussagen wie die zu Beginn von Einübung einer neuen Sensibilität, wo es heißt, die ›neue‹ Literatur müsse auf die »eigenen Möglichkeiten« zugehen, »die ganz Oberfläche werden wollen« (ebd., S. 147), aber natürlich auch die unzähligen expliziten und impliziten Hinweise auf die Ästhetik des Cut-ups, die beide Essays durchziehen. 50 Brinkmann: Angriff aufs Monopol, S. 66. 51 Ebd., S. 77. 52 Eine Pointe des Essays Brinkmanns, die erst im Nachhinein erkennbar wird, stellt die Tatsache dar, dass Charles Bukowski in einem Brief an Douglas Blazek wenige Jahre vor Brinkmann dieselbe Stelle bei Corso zitiert. Bei Bukowski läuft dies auf die durchaus böse gemeinte Prophezeiung hinaus, Corso werde mit 45 selbst gar nicht mehr
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bei, in dem mit dem Wort »Angriff« ein Element aus der Kernsemantik des Avantgarde-Diskurses, dem Metaphernfeld des Militärischen, präsent ist.53 Was den Essay Brinkmanns paratextuell rahmt, ist in (typisch) paradoxer Weise also beides zugleich: ein rhetorisch wirksames Signal des Aufbruchs, das die im Text projektierte Zusammenschließung der Jugend zu einer gegen die »häßlichen, zynischen alten Männer des Kulturbetriebs« gerichteten Affektgemeinschaft vorbereitet;54 und ein postmodernes Pastiche von Zitaten, das die Iterativität des Diskurses nicht etwa verbirgt, sondern – zumindest auf den zweiten Blick – offen ausstellt. Beim Hass des Dichters Brinkmann auf die ›tote‹ Avantgarde, gegen die die Essays eine ›lebendige‹ Avantgarde in Stellung zu bringen suchen, han-
schreiben: »we simply refuse to give more to an Age that already stinks like an old garbage can, and that after Pound there has to be somebody and after Eliot there has to be somebody, and it’s a shame but – Ginsberg, Corso, the rest have been sucked in playing their entrails across the applause of the crowd, and they are dead and they know that they are dead […], too long they have taken the bait, and I think of one of Corso’s poems: ›I Hate Old Postmen [sic!]!‹’ this sounds nice, but I predict that when Corso reaches the age of 45 he won’t be writing at all […].« Charles Bukowski: Selected Letters. Vol. 2: 1965–1970. Hg. von Seamus Cooney. London: Virgin Books 2004, S. 67. Bei der Fehlschreibung ›Postmen‹ (statt ›Poetmen‹) handelt es sich wohl um einen Transkriptionsfehler des Herausgebers. Da Bukowskis Briefe erst nach dessen Tod veröffentlicht wurden, ist unwahrscheinlich, dass Brinkmann die Stelle kannte. Dies freilich zeigt umso mehr, dass es sich bei den hier und dort auftauchenden Formulierungen um Zitate aus dem Archiv der Avantgarden handelt. Was bei Marinetti als Struktur der Wiederholung erkannt und formal ausgestellt wird, ist in den 1960er-Jahren längst zum konventionellen Element des Avantgarde-Diskurses geworden. 53 Was im Essay dann ›angegriffen‹ wird, ist das ›europäisch-abendländische Kulturmonopol‹, dessen Hegemonialherren die ›alten Dichter‹ – sprich die deutschen Kritiker Fiedlers – sind: »und diese Leute, alles ganz ausgekochte Individualisten (will man ihren Statements Glauben schenken), zweifellos überragende Geister, immer am Ball etc., vertreten wie gehabt die abendländische Reflexion gegenüber einem Amerikaner, der hergekommen ist und einfältig-einfach ausspricht, was seit einiger Zeit bereits so offensichtlich ist: daß das europäisch-abendländische Kulturmonopol gebrochen ist.« Brinkmann: Angriff aufs Monopol, S. 65. 54 Ebd., S. 70. Am Ende des Essays wird entsprechend plakativ verkündet, es müsse sich »die Kluft zwischen den Generationen […] noch weiter vertief[en]«, um endlich zu den Produkten einer ›neuen‹ Literatur zu kommen. Bis dahin gelte »hierzulande« noch das Gesetz: »Die Toten bewundern die Toten.« (Ebd., S. 77.)
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delt es sich um eine epigonale Affektgeste – aber um eine, die ihre Aktualität im Diskurs vehement behauptet.
4
(K)EIN ENDE: KUNSTHASS IN THOMAS BERNHARDS ALTE MEISTER
Wie und wo endet die Hassrede der Avantgardisten? Eine komisch-ernste Antwort auf diese Frage liefert Thomas Bernhard in seinem 1985 erschienenen Roman Alte Meister. Eine Komödie.55 Im Zentrum desselben steht der notorische Hassredner und geniale Kunstexperte Reger, der mit seinen alle zwei Tage stattfindenden Besuchen im Kunsthistorischen Museum zu Wien (fast) genau das macht, was Marinetti 1909 für die Zukunft des ›futuristischen‹ Menschen kategorisch ausgeschlossen hatte. Er lasse es nicht zu, so Marinetti, »daß man täglich in den Museen unser kümmerliches Dasein, unseren gebrechlichen Mut und unsere krankhafte Unruhe spazieren führt. Warum will man sich vergiften?«56 – Worte, die dem Duktus nach zwar auch von Reger stammen könnten, die durch dessen groteske Museumsabhängigkeit jedoch geradewegs konterkariert werden. Reger, der sich selbst die Diagnose »Kunsthaß im Grunde«57 stellt, verachtet die Kunst wegen ihres Scheiterns am Leben, kann vom Betrachten derselben aber dennoch nicht lassen. Nach dem Tod seiner Frau, die er einst auf einer Bank des Museums kennengelernt hatte, erhofft er sich ausgerechnet von der »zum Erbrechen widerwärtigen und fatalen Kunst«58 die Rettung vor dem Leben, das ihn als »Toter, der noch zu leben hat«59 allein zurückgelassen hat. Es ist der Kulminationspunkt eines Desillusionierungsvorgangs, der vom jugendlichen Glauben an die Autonomie der Kunst (»Ich bin in die Kunst hineingeschlüpft, um dem Leben zu entkommen«60) zur Alterseinsicht in die absolute Nichtigkeit derselben
55 Die folgenden Überlegungen geben einen Ausblick auf eine detailliertere Untersuchung des Romans, die ich an anderer Stelle präsentieren werde. Das Verhältnis von Bernhards Text zur Tradition der Avantgarde(n) ist – seltsamerweise – noch kaum erforscht, weswegen es hier Wesentliches zu entdecken gibt. 56 Marinetti: Gründung und Manifest des Futurismus, S. 6. 57 Thomas Bernhard: Alte Meister. Eine Komödie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 307. 58 Ebd., S. 244. 59 Ebd., S. 252. 60 Ebd., S. 190.
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führt: »Alles hier im Kunsthistorischen Museum […] bedeutet uns am Ende, nämlich an dem entscheidenden Punkte unserer Existenz nichts mehr.«61 Die Ironie Bernhards bei der Beobachtung der Leitkonstruktionen moderner Kunst erschöpft sich nicht in der Pointe, dass im Roman der gealterte Kunsthasser selbst im Museum gelandet ist. Zwar tragen die zahllosen Anspielungen auf die Hass- und Gewaltrhetorik der Avantgarden zum intertextuellen Schillern des Romans wesentlich bei, etwa wenn Reger seine affektgeladenen Einlassungen zur Kunst mit Schimpftiraden über die Wiener Aborte verbindet62 oder wenn er an anderer Stelle konstatiert, die »österreichische zeitgenössische Kunst« sei »keinen Schuß Pulver wert«.63 Seine reflexive Tiefenschärfe gewinnt das Zitaten-Spiel aber erst durch den gleichzeitigen Rekurs auf die Autonomie-Tradition der Kunst, auf die die utopische Signatur des Kunst(hass)diskurses Regers negativ bezogen bleibt. Durch den Ausbau der Figur zu einer veritablen Metonymie der Strukturen, die dem doppelten Diskurs moderner Kunst zugrunde liegen, schreibt Bernhard seinem Roman eine Genealogie der ästhetischen Moderne ein, in der die Negation von Tradition deren unbedingte Geltung stets aufs Neue produziert. Dies zeigt sich zuallererst in Regers Familiengeschichte selbst: Auf der einen Seite ist die Figur angeblich mit Stifter, Heidegger und Bruckner verwandt, was einen Bezug zum konservativen Zweig der Moderne impliziert. Auf der anderen Seite stammt sie von einem Steyrer »Doppelmörder« ab, dessen Taten für das Gewaltpotenzial der Avantgarden im Sinne des totalen Abbruchs von Genealogie stehen.64 Indem Reger von sich sagt: »Ich in mir bin ja alle zusammen«, bekräftigt er nicht nur seine Überdeterminiertheit als Figur, sondern lässt darüber hinaus eine Akzeptanz des eigenen Erbes erkennen, von der aus ein Ende der Moderne im Sinne der Aufhebung (oder Integration) ihrer Paradoxien möglich zu werden scheint.65 Dass es ganz so weit im Roman dann doch nicht kommt, hat mit dessen raffinierter Erzählkonstruktion zu tun. In einer Art Mimikry des auf Iteration von Zitaten beruhenden modernen Kunstdiskurses wird Regers Monolog – einschließlich seiner gegen
61 Ebd., S. 302. 62 Vgl. ebd., S. 168–170. 63 Ebd., S. 220. Die Kursivsetzung der Wörter im Text gibt einen typografischen Hinweis auf ihren Zitatcharakter, impliziert zugleich jedoch eine besondere (affekt)rhetorische Emphase. Beide Motoren des Diskurses, Affekt und Iteration, kommen damit auf kleinstem Raum zusammen. 64 Ebd., S. 100. 65 Ebd. Dieses in Aussicht gestellte Ende impliziert dabei selbst wiederum Affekte: So gelingt es Reger endlich, über den Tod seiner Frau zu weinen (vgl. ebd., S. 284), und er gerät ob der Hilflosigkeit der Kunst gegenüber dem Leben in Rührung (vgl. ebd., S. 303).
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Ende noch einmal aufflammenden Hassrede auf die Kunst und das Museum66 – auf einer zweiten Erzählebene von einer Figur namens Atzbacher zitiert.67 Deren Diskurs verlängert die Rede Regers – des »Gedankenvater[s]«68 Atzbachers – in eine Zukunft hinein, die hinter dem Tod der Figur liegt. Eben dies, sein Weiterleben als Zitat, wird von Reger dabei in einer Adresse an Atzbacher metaleptisch vorweggenommen: »Wahrscheinlich ist mir das Überleben nur durch Sie möglich. […] Sie sind jener Mensch, der mich weiterexistieren läßt […].«69 Auch an Bernhards Ende der Moderne ist damit schließlich alles beim Alten: Nach dem Tod der Kunst geht es weiter.
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66 Vgl. ebd., S. 307 f. 67 Auf einer dritten Ebene operiert schließlich der namenlose extradiegetische Erzähler des Romans, der in der für Bernhard typischen Weise die Reger-Zitate Atzbachers selbst nochmal zitiert. Diese weitere Rahmung ist nicht unwichtig, da erst durch sie die doppelte Distanz der Erzählung gegenüber den diegetischen Figuren realisiert wird: Wie Reger ist auch Atzbacher ›nur‹ jemand, der zitiert wird, kann auf eine Herrschaft über den Diskurs also keinen Anspruch stellen. 68 Ebd., S. 25. Diese Bezeichnung Regers wählt Atzbacher selbst, wobei er zugleich allerdings (unterdrückte) emanzipatorische Tendenzen zu erkennen gibt: »Ich gehe natürlich viel lieber ins Ambassador, als ins Kunsthistorische Museum, aber wenn ich es nicht erwarten kann, bis Reger ins Ambassador kommt, gehe ich gegen elf ins Kunsthistorische Museum, um ihn zu treffen, meinen Gedankenvater.« 69 Ebd., S. 189.
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Hasssprache und affektive Gesellschaftsbildung
Der Extremismus der Mitte Hassrede und Ressentiment in der populistischen Gegenwart Jörg Metelmann
In seinem Tagesthemen-Kommentar zur Veröffentlichung des Verfassungsschutzberichts im Juli 2018 hat der WDR-Journalist Georg Restle die Unvollständigkeit, ja Wirklichkeitsferne der aufgezählten Gefahrenszenarien ›rechter Extremismus‹, ›linker Extremismus‹ und ›Islamismus‹ angemahnt: »Wenn hier von Extremismus gesprochen wird, fehlt ein ganz entscheidender Teil: Nämlich der Extremismus, der längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.«1 Dieser Extremismus sei im Bundestag und in den Landtagen angekommen, schleiche sich wie Gift in die Herzen vieler Menschen und verschiebe die Grenzen des Sagbaren, wenn selbst die Menschenwürde für verhandelbar erklärt wird. Dieser Extremismus der Mitte ist das Ressentiment. Viele Kommentare und Studien haben auf die zentrale Rolle dieses Gefühls bei der Erklärung des Populismus hingewiesen, der seit einigen Jahren den politischen Diskurs der westlichen Gesellschaften radikal verändert hat. Ich möchte einleitend zwei dieser Ansätze kurz vorstellen, um dann im Hauptteil einen dritten zu entfalten, der im Kontrast zum emotionssoziologischen Verständnis von Salmela und von Scheve sowie dem theater- und diskurstheoretischen Zugang von Stegemann einen narrativ-medienkulturwissenschaftlichen Rahmen in Gestalt von Gefühlsszenarien präsentiert. Im Kern plädiere ich dafür, mittels einer Analyse der Geschichte hinter den aggressiven Worten und Parolen den emotionalen Grund – im Sinne von sowohl Boden als auch Begründung – zu verstehen, der Menschen Kränkung und Groll empfinden lässt. Die Ansätze unterscheiden
1
Georg Restle: Kommentar. In: Die Tagesthemen, Sendung vom 24.07.2018, www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/video-der-tagesthemen-kommentar-von-georgrestle-zum-verfassungsschutzbericht-vom--100.html (26.09.2018).
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sich dabei im Meta-Framing, können aber an einzelnen Punkten auch produktiv ins Gespräch gebracht werden. In ihrem Plädoyer für eine umfassendere, nicht allein ökonomisch informierte Analyse der Motive für die grassierende Radikalisierung sehen Mikko Salmela und Christian von Scheve eine genau beobachtende Soziologie der Gefühle als Scharnier, das die Kluft zwischen Erklärungen auf der systemischen Makro-Ebene und dem offensiv-abwertenden Verhalten auf der individuellen Mikro-Ebene überbrücken könne. Das Ressentiment, neben der emotionalen Distanzierung der für sie zweite wichtige Scharnier-Mechanismus, deuten sie dabei als eine komplexe Emotion, die aus zwei aufeinander bezogenen Gefühlslagen besteht: The first mechanism relates to ressentiment and explains how negative emotions – in particular fear and insecurity – experienced in post-industrial societies can transmute through repressed shame into anger, resentment and hatred towards perceived ›enemies‹ of the self, such as immigrants, refugees, the unemployed, and political and cultural elites.2
Der zentrale Punkt der Argumentation ist, dass sich durch den Bezug auf das zugrunde liegende Gefühl der Scham die Stoßrichtung der Aggression erklären lasse. Während sich unterdrückte Scham (repressed shame) im Rechtspopulismus in Kombination mit Angst und Unsicherheit eher gegen Dritte wende, die als Feinde des gefährdeten Selbst wahrgenommen werden (Flüchtlinge, Asylsuchende, sexuelle Minderheiten), agiere der Linkspopulismus auf der Grundlage einer eingestandenen Scham (acknowledged shame) bei Bedrohung und dem Gefühl des Ausgeschlossenseins eher mit einer institutionenbezogenen Kritik an der EU oder dem Internationalen Währungsfonds.3 In seiner Analyse zum »Gespenst des Populismus« hat der Dramaturg Bernd Stegemann dieser Opposition zwischen Rechts und Links eine weitere Form des Populismus und Letzterer auch eine aktualisierte Form des nietzscheanischen Ressentiments zugeordnet. Der »liberale Populismus«, der »die Launen des Marktes zur absoluten Wahrheit erklärt«, vereinige »die Behauptung der Alternativlosigkeit, die in der Trias von Neoliberalismus, Biopolitik und postmoderner Diversität gründet, mit der Tarnung, eben gerade nicht populistisch zu sein, da man doch die Vernunft des Common Sense vertrete.«4 Angelehnt an die De-
2
Mikko Salmela/Christian von Scheve: Emotional roots of right-wing political popu-
3
Ebd., S. 573.
4
Bernd Stegemann: Das Gespenst des Populismus. Ein Essay zur politischen Drama-
lism. In: Social Science Information 56 (2017), H. 4, S. 567–595, hier: S. 587.
turgie. Berlin: Theater der Zeit 2017, S. 66.
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finition von Jan-Werner Müller, der Populismus nicht über Inhalte, sondern die Art der Begründung erklärt, sieht Stegemann den liberalen Populismus in Analogie zum rechten Populismus, der sich auf einen nicht näher erklärten Volkswillen beruft, als eine Haltung, die Marktlogik einfach als eine höhere Vernunft gegenüber Kritik und demokratischen Mehrheiten einzustufen.5 Begegnen sich nun beide, zum Beispiel aktuell in Talkshows mit etablierten Parteien und einer Vertreterin der AfD, dann offenbare das »hochmütige Wegblicken« des »Juste Milieu« den »Ekel des Herrenmenschen vor dem Ressentiment des Sklaven«.6 Die Geschichte des Ressentiments, an dessen Ende die eben geschilderte affektive Reaktion steht, zeigt für Stegemann nämlich vor allem, wie sehr sich die Eliten der bürgerlichen Kultur über den Vorwurf des Ressentiments eine berechtigte Kritik an den ausbeuterischen Grundlagen ihrer Besserstellung vom Hals halten – die Dominanz von Gender- und Race-Fragen habe die Diskriminierung durch Eigentumsverhältnisse in den Hintergrund gedrängt. Ganz in der Manier von Bernie Sanders, der gegen Trumps rechten Populismus mit einem auf Klassengegensätzen und ökonomischer Ungleichverteilung aufbauenden Argumentarium operierte, fordert Stegemann daher eine klare Klassenkampf-Kante »Kapital gegen Menschheit«, nur so sei gegen die TINA-Logik der liberalen Eliten wie auch gegen die rechtspopulistische Revolte gegen eben dieses liberal-abgeschirmte Sprechen anzugehen.7 Beide hier nur sehr pointiert vorgestellten Zugriffe auf das Ressentiment enthalten bereits narrative Elemente, die ich im Folgenden unter Rückgriff auf das Modell von Christiane Voss noch stärker in den Vordergrund des Nachdenkens stellen will. So lässt sich Salmelas und von Scheves Verbindung von negativen Gefühlen mit Scham, die zu einer bestimmten Feindbild-Projektion führt, als Abwehr-Narrativ gegen die Zurückweisung von Bedürfnissen verstehen. Und Stegemanns Aufteilung in zwei Arten des Ressentiments – das »gute Böse des Herren, der sich dadurch als besonders freier, aufregender und komplexer Charakter gibt, und das linkische Böse des Sklaven, der für seine niederen Triebe nur Verachtung verdient«8 – ist auch als die Geschichte einer Selbstwerdung mit einem guten oder eben schlechten Ende (gesehen aus der hegemonialen Sprecherposition) zu positionieren. Mein Vorschlag, Ressentiment als Gefühlsszenario zu deuten, setzt nun nochmals bei Judith Butler und ihrem Konzept des in der Hasssprache sedimentierten Traumas an, er betont also ausdrücklich das Moment der
5
Ebd., S. 65.
6
Ebd., S. 139.
7
Ebd., S. 174.
8
Ebd., S. 144.
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verletzenden Kraft der Sprache, um von dort aus zu fragen, wie die emotionale Erfahrung in die Worte eingeschrieben ist.
1
MEHR ALS WORTE: JUDITH BUTLERS THEORIE DER HASSREDE
Butlers Text beginnt bekanntlich mit der Frage, wie Worte überhaupt verletzen können, also wirken können wie etwa eine Ohrfeige.9 Ihre beiden wichtigsten theoretischen Bezugspunkte bei der Bearbeitung dieser Frage sind der Philosoph der Sprechakte, John L. Austin, und der Philosoph der Anrede, Louis Althusser (wenn ich sein umfangreiches Werk einmal so zuspitzen darf). Beide kommen für Butler darin überein, dass sie als Grundlage für das Funktionieren sowohl des Sprechakts als auch der Anrede (Interpellation) eine »›rituelle‹ oder ›zeremonielle‹ Dimension« annehmen, die das Gelingen der Kommunikation garantiert.10 Doch während Austin von einem Subjekt ausgehe, das, bereits konstituiert, die Sprache konventionell gebraucht, behauptet Althusser bekanntlich die Einsetzung bzw. Schöpfung des Subjekts durch genau diesen Sprechakt der Anrede, wobei er eine (göttliche) Stimme voraussetze, deren Appell sich niemand entziehen könne.11 Butler, ihrem Interesse am Nachweis der unmöglichen Souveränität im Umgang mit Sprache geschuldet, widerspricht beiden Positionen. Weder könne man, wie Austin suggeriert, die Konventionen hinreichend von möglichen Kontexten freihalten, die ein anderes Verstehen, ein Misslingen der Rede verhindern, noch sei bei Althusser die anrufende Stimme ein Souverän, denn sie ist selbst erst durch ihre eigene Anrufung in die Möglichkeit gesetzt worden, selbst anrufen zu können. Es gibt kein souveränes Sprecher-Ich, das über die Worte willentlich regieren kann, und das gelte auch für die Hassrede: Das Subjekt, das hate speech spricht, ist zweifellos für dieses Sprechen verantwortlich, jedoch nur selten sein Urheber. Das rassistische Sprechen vollzieht sich durch die Anrufung der Konvention: Es zirkuliert, und obgleich es ein Subjekt erfordert, um gesprochen zu werden, beginnt oder endet es nicht mit dem sprechenden Subjekt oder mit dem jeweils verwendeten Namen.12
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Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 9–71.
10 Ebd., S. 46. 11 Ebd., S. 56. 12 Ebd., S. 60 f., kursiv im Text.
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In diesem Zitat sind zwei weitere Punkte interessant. Zum Ersten ist zu betonen, dass die behauptete Verantwortung für die Wahl der Worte »mit dem Sprechen als Wiederholung, nicht als Erschaffung verknüpft« ist, wie Butler an anderer Stelle sagt.13 Niemand hat die souveräne Sprechermacht, andere Personen über eine diffamierende, rassistische Namensgebung dauerhaft als ›Herabgesetzte‹ zu konstituieren. Vielmehr ist es vor allem die Wiederaufnahme (Butler sagt: »nur selten sein Urheber«) von bestehenden Schimpfnamen und Hassreden, aus der einerseits die vermeintliche Macht des Sprechers, andererseits aber auch die Macht der Angesprochenen resultiert, diese Anrede aufzunehmen und re-signifizierend umzuwenden. Die Iterabilität jedes Zeichens, die sie aus Jacques Derridas Kritik an Austins Ausschließung der »parasitischen« Verwendung von Sprechakten übernimmt, macht sowohl das eine wie auch das andere erst möglich. Diese unhintergehbare Zitierbarkeit gründet, so der zweite Punkt, in der Geschichtlichkeit der Sprachgemeinschaft als soziale Formation, die als historisch gewordene sprachliche Haltung zueinander »eine der ursprünglichen Formen [ist], die diese sozialen Beziehungen annehmen.«14 Es ist eine Art »Schicksalsgemeinschaft«,15 die die Sprecherinnen und Sprecher einer Sprache teilen, die letztlich den eigentlichen Grund dafür darstellt, dass und »[w]ie Sprache verletzen kann«. Denn diese Geschichtlichkeit ist auch die Sedimentierung von Gebrauchsweisen eines Namens oder Ausdrucks, die zu einem bestimmten Zeitpunkt pejorativ und verletzend waren: Wenn man die Kraft des Namens als Effekt seiner Geschichtlichkeit versteht, erscheint sie nicht mehr als bloße Kausalfolge oder ein ausgeteilter Schlag. Vielmehr wirkt die Kraft teilweise durch ein kodiertes Gedächtnis oder ein Trauma, das in der Sprache weiterlebt und in ihr weitergetragen wird.16
Die sprachlich konservierten Traumata werden im Zeichen immer wieder durchgespielt, woraus sich für Butler dann die praktische Frage ergibt, ob man »in die Szene des Traumas eine umgekehrte Weise des Zitierens einführen«17 kann. Ihre Antwort lautet: Nein, kann man nicht. Auch der Zensor müsse die traumatisierenden Worte nennen, selbst der stärkste Widerstand gegen hate speech re-zirkuliere das
13 Ebd., S. 68. 14 Ebd., S. 54. 15 Ebd., S. 54, Fußnote 42. Butler möchte diese Gemeinschaft jedoch nicht »universell« verstehen, sondern nur so, dass »der gesellschaftliche Kontext der Sprache innewohnt«. 16 Ebd., S. 64. 17 Ebd., S. 64 f.
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Trauma erneut in der Nennung seines Namens. Aus diesem Grund könne und dürfe es keine Listen zu regulierender Begriffe geben, denn am Ende schadeten sie unter Umständen den von Hassrede Betroffenen selbst, die die pejorativen, sie verletzenden Begriffe anders verwenden wollten (wie sie am Beispiel von queer erläutert), dies dann aber nicht mehr dürften. Was bleibt, ist laut Butler der Appell an die Verantwortlichkeit der Sprechenden, die durch die mangelnde Souveränität aller Beteiligten radikalisiert wird. Es gebe keinen anderen Weg der TraumaBearbeitung und Sprach-Reinigung als die Anstrengung zu unternehmen, »den Verlauf der Wiederholung zu steuern«,18 so schwierig das auch sei.
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EMOTIONALE SZENARIEN: ZUR THEORIE KOMPLEXER GEFÜHLE
Das Trauma als Erfahrungssediment lässt sich als Gefühlsszenario beschreiben, das einen Namen und eine Geschichte hat – im Kern steckt, das ist für mich der entscheidende Anschlusspunkt, eine narrative Emotion. Christiane Voss hat dazu in ihrer grundlegenden Studie Narrative Emotionen einige aufschlussreiche Facetten einer vollständigen und in sich stimmigen Theorie der Gefühle benannt, für die allgemein gilt, dass kleine Erzählungen die Grundeinheit einer Emotion bilden. Eine »Emotion« ist dabei im Unterschied zum Oberbegriff »Gefühl« bestimmt als ein »Gefühl des Bewegtseins (von etwas)«, dies im Gegensatz wiederum etwa zur »Stimmung«, die kein Objekt hat (kein von etwas). Im Hinblick auf das Verständnis einer Emotion ist es für Voss wichtig, a) das Objekt und seine Bewertung, b) das davon ausgelöste Verhalten sowie c) die körperliche Reaktion (physische Veränderung) zu untersuchen (hinzu kommt noch, hier aber nicht so wichtig, die weitere Ebene des Wohlfühlens beim Fühlen, das H-Gefühl). Mit einem solchen integrativen Ansatz – sie nimmt hier auf die wichtige Arbeit Theorie der Gefühle von Agnes Heller Bezug – gelingt es Voss zum einen, zwischen naturalistischen und kulturalistischen Theorien zu vermitteln, indem sie von einem Übergang zwischen primären und sekundären Gefühlen ausgeht, je nach Grad der kulturellen Formung durch soziale und mediale Interaktion. Zum zweiten kann sie mit ihrem narrativen Fokus auch präziser benennen, worin genau diese Interaktion besteht: Verabschiedet man sich von einem zu atomistischen Verständnis der Emotionen als punktuell auftretenden, einfachen Zuständen, wird der Blick frei für den sequenziellen und of-
18 Ebd., S. 66.
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fenen Charakter der Emotionen sowie für die komplexe Dramaturgie emotionaler Abläufe generell. Was wir durch die Einbeziehung des Narrativen in die Analyse der Emotionen gewinnen, ist die Vorstellung von der Form, in der wir die emotionalen Sequenzen erleben und in der Folge davon beschreiben und verstehen. […] Das strukturelle Verständnis emotionaler Szenarien, das uns als Deutungsfolie auch neuer emotionaler Erfahrungen dient, gewinnen wir aus einem abstrahierenden Querschnitt der vielen emotionalen Interaktionen, mit denen wir in Erzählungen, Spielen, Filmen, Berichten und vor allem in Begegnungen im Laufe unseres Lebens konfrontiert werden.19
Es mag Ausdruck einer medienkulturwissenschaftlichen déformation professionelle sein, dass Voss hier die Welt der Repräsentation (Erzählungen, Filme, Berichte) vor der präsentischen Erfahrung in Begegnungen nennt, obwohl sie Letzteren den größeren Einfluss beizumessen scheint (»vor allem«). In jedem Fall spielen Medien im weitesten Sinne eine wichtige Rolle, denn sie versorgen uns auch mit einem »Begriffsverständnis solcher Emotionsterme, die wir biografisch eventuell nie selbst erfahren haben«.20 Es ist dies begründet und möglich durch die »Sprachabhängigkeit unseres Emotionsverständnisses« sowie durch die »Fähigkeit zur Phantasie«, die uns immer schon an »übersubjektive Erfahrungs- und Verstehensräume« anbinden.21 Ein solches Verständnis gilt, wie Voss immer wieder betont, vor allem für sekundäre oder komplexe Emotionen wie »Eifersucht, Verliebtheit, Neid, Schuld, Scham, Stolz, Enttäuschung, Rache, Freude, Mitleid, Glück, Hass, Ressentiments, Langeweile« oder für »höherstufige Emotionen wie Stolz auf Mitleid, Schuldgefühle über Neid usw.«22 Obgleich auch primäre Gefühle wie Hunger schon bald nach der Geburt eine kulturelle Formung erfahren – das Kind isst den einen Brei (Birne) lieber als den anderen (Apfel), je nach Angebot, rahmender erster Erfahrung, Vorbild etc. –, funktionieren sie doch weit weniger komplex als die sekundären Emotionen, die den gesellschaftlichen Aktionsraum von Menschen als sozialen Wesen entscheidend prägen. Mit einem solchen Begriff von ›Emotion‹ kann diese logischerweise nicht unbewusst oder auch nicht ungeformt sein (wie etwa in der Affekttheorie), denn es geht per definitionem um Emotionen als eine wertende Verstehensform.23
19 Christiane Voss: Narrative Emotionen. Eine Untersuchung über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien. Berlin/New York: De Gruyter 2004, S. 212–213 und 219. 20 Ebd., S. 214. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 221. 23 Ebd., S. 222.
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In der konkreteren Anwendung dieser Theorie lässt sich nun jeder komplexen Emotion ein Kern zuweisen, eine paradigmatische Verkettung von Eindrücken, Gefühlen, Verhaltensweisen und Fantasien im Hinblick auf ein Objekt, um die herum sich die Emotion bildet. Bei der »Eifersucht« etwa handelt es sich um eine quälende Verlustangst. Allgemein formuliert findet sich im Kern einer jeden narrativen Emotion als emotionales Szenario entweder: a) b) c) d)
ein Verlust oder ein (Zu-)Gewinn, die Erfüllung oder Enttäuschung unserer Wünsche und Zielvorstellungen, die Bestätigung oder Durchkreuzung unserer Erwartungen, die Anerkennung oder Zurückweisung unserer Bedürfnisse und Bemühungen.24
Im Gegensatz zu Theorien, die Emotionen auf universelle Urthemen zurückführen – etwa Selbsterhaltung (Baruch de Spinoza, Charles Darwin), Erlebnisse in der Kindheit (Sigmund Freud) oder auch Würde (Robert Solomon) –, geht Voss davon aus, dass sich die Komplexität narrativ verstandener Emotionen nicht weiter vereinfachen lasse, da sonst eben genau die Vielschichtigkeit unzulässig reduziert werde. Es geht für die Emotionsforschung also (auch) darum, in Detailanalysen die Struktur einzelner Emotionen zu beschreiben: Genau dies soll im nächsten Abschnitt in Wiederaufnahme des Butler-Arguments im Hinblick auf das »Ressentiment« skizziert werden.
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RESSENTIMENT ALS GEFÜHLSSZENARIO
Warum aber von Ressentiment sprechen, wenn ich auf Butlers hate speech, also ausdrücklich auf »Hass« Bezug nehmen will – das sind doch zwei unterschiedliche Emotionen, wie eben noch einmal in der Auflistung von Voss gesehen? Es ist eine der Grundeinsichten im Nachdenken über Ressentiments seit Friedrich Nietzsche, dass die Aversion, die sich entladen darf, nicht ins Ressentiment führt, sondern es die psychische Antwort »solcher Wesen« ist, »denen die eigentliche Reaktion, die der Tat, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten«.25 Oder, in den Worten von Max Scheler, der in Das
24 Ebd., S. 218. 25 Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. In: ders.: Jenseits von Gut und Böse/Zur Genealogie der Moral. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Mon-
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Ressentiment im Aufbau der Moralen unter der Sigle »Seelische Selbstvergiftung« Nietzsche kritisch fortgedacht hat: Der Racheerfüllte, der durch das Gefühl in Aktion versetzt wird und sich rächt; der Hasser, der dem Gegner Schaden zufügt oder ihm wenigstens ›seine Meinung‹ sagt, oder sich auch nur bei anderen über ihn ausschimpft; der Neidische, der das Gut, das er im Neide im Auge hat, zu erwerben sucht durch Arbeit, Tausch, Verbrechen und Gewalt, verfallen nicht in Ressentiment. Nur dort liegt eine Bedingung für seine Entstehung, wo eine besondere Heftigkeit dieser Affekte mit dem Gefühl der Ohnmacht, sie in Tätigkeit umzusetzen, Hand in Hand geht, und sie darum ›verbissen‹ werden – sei es aus Schwäche leiblicher und geistiger Art, sei es aus Furcht und Angst vor jenen, auf welche die Affekte bezogen sind. Das Ressentiment ist also seinem Boden nach vor allem auf die jeweilig Dienenden, Beherrschten, auf die vergeblich gegen den Stachel einer Autorität Anlöckenden beschränkt.26
Der Hass bzw. die Hassrede, die unwidersprochen und eingebettet in ein (wie auch immer großes) Akzeptanz-Milieu bleibt, führt – mit Scheler gesprochen – also nicht ins Ressentiment. Es sei vielmehr die Unmöglichkeit des Ausdrucks eines Gefühls, die zur Ohnmacht, zur persönlichen Kränkung führe, die sich dann bei jeder erneuten unmöglichen Expression verschärft – das Re-Sentiment verstanden als Wieder-Holung der Kränkung. Eine weit verbreitete Erklärung für das Wiedererstarken der Ressentiments in Europa ist gemäß dieser Logik, dass es das Silencing, die Sprechverbote der »politischen Korrektheit« waren, die das Gefühl der Ohnmacht bestimmter Gruppen und Schichten immer weiter gesteigert haben, weil viele Menschen glaubten, nicht mehr das sagen zu dürfen, was sie denken. Die Populismen der letzten Jahre, kulminierend in Donald Trumps Diffamierungsreise ins Weiße Haus, lassen sich vor diesem Hintergrund als ein Sprachventil verstehen, dass eine wahrgenommene ›Stauung‹ öffnet, ein Ohnmachtsgefühl bearbeitet: Vielleicht rede ich zu pauschal, das mag sein. Aber warum soll ich in einer Demokratie nicht meine Meinung äußern? […] Ich fahre mit einem Transporter die Technik und Fahnen zu den Demonstrationen von ›Karlsruhe wehrt sich‹, das ist eine Bewegung gegen die Islamisierung von Deutschland und Europa. Ich weiß nicht, wie man anders seinen Unmut
tinari. München/Berlin/New York: dtv/De Gruyter 1993, S. 270 (= Kritische Studienausgabe, Bd. 5). 26 Max Scheler: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: ders.: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Vierte durchgesehene Auflage, hg. v. Maria Scheler. Bern: Francke 1955, S. 41, Hervorhebung im Original.
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rüberbringen kann, als über solche Kundgebungen. Ich rufe dann auch: ›Merkel muss weg‹ und ›Merkel spaltet die Deutschen und Europa‹.27
Man kann aus diesem von einer überregionalen Zeitung dokumentierten Zitat eines gewählten Volksvertreters (für die Republikaner, allerdings parteilos seit 01.01.2017) eines demokratischen Repräsentationsorgans (Stadtrat von Speyer) zunächst die konstitutive Spannung herauslesen, die in einer liberalen Öffentlichkeit zwischen dem Schutz vor Diffamierung und Verletzung sowie dem Recht auf freie Meinungsäußerung besteht. Es ist dies genau der Punkt, an dem Butler, wie schon beschrieben, für den verantwortlichen Umgang mit Sprache und gegen eine Zensur plädiert: Man behauptet also, daß die Sprache handelt, und zwar gegen uns handelt. Und auch diese Behauptung ist ein sprachliches Geschehen, wie jenes erste der sprachlichen Verletzung; man will es deren Kraft entgegensetzen. Wir machen also auch dann von der Kraft der Sprache Gebrauch, wenn wir versuchen, ihr entgegenzutreten. Wir sind gefangen in einer Bindung, die keine Zensur zu lösen vermag.28
Das Zitat aus dem Sound eines Rechtsrucks zeigt aber eben auch, dass es um mehr als Worte geht. Denn der Speyrer Stadtrat Alois Röbosch kann seine Positionen ja öffentlich kundtun und in den institutionalisierten Meinungsbildungsprozess einbringen und damit im Sinne des politischen Systems partizipieren. Und er redet ja sogar laut eigener Einschätzung »zu pauschal«, man darf ergänzen: andere Gruppen der Gesellschaft allgemein diffamierend und damit in Butlers Sinne absolut nicht verantwortlich. Und er hat trotzdem das Gefühl, seinen »Unmut« nicht äußern zu können, nicht gehört zu werden und sich daher wehren zu müssen (»Karlsruhe wehrt sich«). Die Ohnmacht ist also nicht nur eine, die daher rührt, dass man glaubt, nicht alles sagen zu dürfen, sondern auch eine, die sich aus der Frustration nährt, überhaupt nicht gehört zu werden, selbst wenn man etwas sagt, kurz: politisch und gesellschaftlich ›abgehängt zu sein‹. Leicht erkennt man hierin Schelers Beobachtung, es seien vor allem die »Dienenden, Beherrschten«, bei denen sich das Ressentiment ausbilde – was im Beispiel-Fall von Röbosch ja kontraintuitiv ist, denn er ist ja gerade Mitglied eines lokalen
27 Der Kleinunternehmer Alois Röbosch, Stadtrat von Speyer, in: Sound eines Rechtsrucks. Sieben Deutsche erklären, was sie an der AfD finden. Eine Dokumentation. Süddeutsche Zeitung, Buch Zwei, 07./08.01.2017, S. 12 f. 28 Butler: Haß spricht, S. 9.
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demokratischen Entscheidungsorgans, das er durch seine Teilnahme auch politisch legitimiert. Dieses Doppel von Einschluss und gleichzeitiger Ablehnung ist eine Spielform der breiteren gesellschaftlichen Gefühlsströmung, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein, obwohl man die (gefühlte) Mehrheit stellt. »Ich als weißer Mann über fünfzig fühle mich als einer, der durch seine Steuern den ganzen Laden am Laufen halten darf, sich im Übrigen aber zurückzuhalten hat, weil er zur Mehrheit gehört«, so der Leipziger Jura-Professor Thomas Rauscher.29 Es geht um Gefühle, hier um das Gefühl des Verlusts von Macht als »weißer Mann über fünfzig«, der eigentlich das symbolische Zentrum der Gesellschaft sein sollte, dies aber »gefühlt« nicht mehr ist. Die Kränkung wiederholt sich, wenn er – wie Rauscher berichtet – von der Fachschaft wegen Kritik an Tweets wie »Je suis PEGIDA« von Treffen wieder ausgeladen wird oder die Minderheiten von der »Meinungselite« immer wieder favorisiert werden: »[D]as ist das Ersetzen der bestehenden Rechtslage durch moralisierende Begriffe, um sich selbst als Vertreter einer moralisch besseren Gesellschaft zu präsentieren.«30 Diese letzte Beschreibung ist insofern interessant, als sie im Argumentkern genau die nietzscheanische Bewegung des Ressentiments wiederholt, bei der ja der Kraft des Faktischen (»Gut«/»Schlecht«) von den »Schwachen« die Kraft der Moral bzw. des Moralisierenden (»Gut«/»Böse«) entgegengesetzt wird. Letztlich wirft Rauscher der »Meinungselite«, wenn diese die Ressentiments der »Populisten« oder »Abendspaziergänger« kritisiert, ihrerseits Ressentiment vor, indem sie die Welt gefühlsethisch codiere und aus Sicht anderer (z. B. Rauschers) damit verkehre. Was diese Volte zeigt, ist, dass es mit dem Ressentiment nicht ganz so einfach ist, dass es sich dabei stets um die ›bösen‹ Feinde einer offenen, egalitären Gesellschaft handelt – nicht zuletzt kann auch zum Beispiel die Kritik selbst als eine Form von Nietzsches schöpferischem Ressentiment gesehen werden, wenn sie als Funktionselement einer bürgerlichen Öffentlichkeit die adlige Willkür infrage stellt.31 Allgemeiner gefasst kann man mit Wendy Brown festhalten, dass es zum Konzept des liberalen Subjekts selbst konstitutiv gehört, anfällig für Ressentiment zu sein: It is their [all liberal subjects’; JM] situatedness within power, their production by power, and liberal discourse’s denial of this situatedness and production that cast the liberal subject into failure, the failure to make itself in the context of a discourse in which its self-making is as-
29 Sound eines Rechtsrucks, S. 11. 30 Ebd., S. 13. 31 Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008, S. 353.
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sumed, indeed, is its assumed nature. This failure, which Nietzsche calls suffering, must either find a reason in itself (which redoubles the failure) or a site of external blame upon which to avenge its hurt and redistribute its pain. […] Starkly accountable yet dramatically impotent, the late modern liberal subject quite literally seethes with ressentiment.32
Für Brown ist es also die liberale Prämisse eines autonomen, universalen Subjekts, die das Individuum beim Versuch, ein solches Subjekt zu werden bzw. zu sein, quasi notwendig ins Ressentiment treibt. Und ›not-wendig‹ ist hier genau das richtige Wort, denn das Subjekt kann sich nicht selbst als universales Vernunft- und Werte-Wesen schaffen, ohne sich zunächst in der Partikularität seines So-Seins wiederzufinden und dort situieren zu müssen – was vor allem eine »situatedness within power« ist, wie Brown betont. Um sich in dieser Machtkonstellation behaupten, d. h. die eigene Stimme erheben und so die Not mangelnder Anerkennung zum Besseren wenden zu können, positioniert sich das Individuum allein oder mit anderen als Opfer und Aufbegehrender, das sein ›Stück vom Kuchen‹ will. Was natürlich voraussetzt, dass man überhaupt einen allgemein akzeptierten Anspruch auf den ›Kuchen‹ hat, was für eine adlige Gesellschaft vor der Französischen Revolution nicht, für die egalitären Demokratien nach 1776 bzw. 1789 aber der Fall ist. Dazu notiert schon Max Scheler, dass beim Ressentiment eine »gewisse Gleichstellung des Verletzten mit dem Verletzer stattfindet«: Soziologisch folgt hieraus der wichtige Satz, daß sich um so größere Mengen dieses seelischen Dynamites bilden werden, je größer die Differenz ist zwischen der politischverfassungsmäßigen oder der ›Sitte‹ entsprechenden Rechtsstellung und öffentlichen Geltung der Gruppen – und ihren faktischen Machtverhältnissen. Nicht auf einen dieser Faktoren allein, sondern auf die Differenz beider kommt es an. In einer nicht nur politischen, sondern auch sozialen, auf Besitzgleichheit hin tendierenden Demokratie wäre zum mindesten das soziale Ressentiment gering. […] Die äußerste Ladung von Ressentiment muss demnach eine solche Gesellschaft besitzen, in der, wie in der unsrigen, ungefähr gleiche politische und sonstige Rechte resp. öffentlich anerkannte, formale soziale Gleichberechtigung mit sehr großen Differenzen der faktischen Macht, des faktischen Besitzes und der faktischen Bildung Hand in Hand gehen: In der jeder das ›Recht‹ hat, sich mit jedem zu vergleichen, und sich doch ›faktisch nicht vergleichen kann‹.33
32 Wendy Brown: States of Injury. Power and Freedom in Late Modernity. Princeton: Princeton University Press 1995, S. 67 und 69, Hervorhebung im Original. 33 Scheler: Ressentiment, S. 43.
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Weil die eine als katholisches Arbeitermädchen vom Lande, der andere aber als Millionärssohn, weil der eine als Sohn einer türkischstämmigen ›Gastarbeiter‹Familie in Berlin, die andere aber als Tochter einer Arztfamilie in München geboren wird, gestaltet sich das Aufwachsen und Ankommen in gesellschaftlichen Kontexten anders, um nicht zu sagen: nicht vergleichbar. Und doch sind die (jungen) Menschen vor dem Hintergrund der universalen Struktur des demokratisch-rechtsstaatlichen Gemeinwesens auf der Ebene der attribuierten Rechte in ihrer Andersheit auch gleich und auf dieser Ebene vergleichbar. Wendy Brown fasst diese kulturelle Spannung, die ihrer Einschätzung nach zum Ressentiment anstachelt, in der Form der beiden »konstitutiven Paradoxien des Liberalismus«: zum einen die zwischen individueller Freiheit und sozialer Gleichheit – wie auch schon Scheler anzeigt –, und zum anderen die zwischen dem Individualismus, der den Liberalismus legitimiert, und der kulturellen Homogenität, die dieser Individualismus im Hinblick auf seine Universalität benötigt – also die Frage, wie viel Differenz artikuliert und als öffentlich wichtig im Diskurs verhandelt werden kann und darf. Als aktuelles Beispiel für dieses zweite Paradox können die Diskussionen um die Unisex-Toiletten im US-Wahlkampf dienen, mit denen möglichen Diskriminierungen von Transsexuellen begegnet werden sollte, was aber im Vergleich zu den artikulierten Problemen anderer gesellschaftlicher Gruppen, besonders einer weißen Unter- und Mittelschicht, als zu elitär und abgehoben wahrgenommen wurde. In dieser kulturtheoretischen Rahmung gehören liberales Subjekt und Universalismus auf der einen, ressentimentales Subjekt und Partikularismus auf der anderen Seite zur gleichen Medaille der Moderne, die mit dem allgemeingültigen Anspruch antritt, Andersheit gleich zu behandeln – ohne Vergleich. Zugleich mit diesem Anspruch entsteht aber die Notwendigkeit, legitime Ansprüche auszuhandeln, die aus oftmals ungleich und ungerecht verteilten besonderen Bedingungen hervorgehen. Und diese Aushandlung geschieht im Modus des Vergleichs mit anderen Gruppen in der Gesellschaft, die das haben, was man selbst nicht hat. Das Ressentiment gehört, so verstanden, elementar zu einer demokratisch-republikanischen Gesellschaftsform und es erscheint folgerichtig, dass sich seit 1750 auch eine prominente mediale Form entwickelt hat, die diese Konflikte in Texten, auf der Bühne und der Leinwand paradigmatisch bearbeitet: das Melodram.34 Es vermittelt in der Fiktion, so formuliert es Christof Decker,35 zwischen Differenz und
34 Vgl. zu diesen Gedanken umfassend Jörg Metelmann: Ressentimentalität. Die melodramatische Versuchung. Marburg: Schüren 2016. 35 Christof Decker: Hollywoods kritischer Blick. Das soziale Melodrama in der amerikanischen Kultur 1840–1950. Frankfurt a. M.: Campus 2003, hier: S. 14.
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Emanzipation (also Ausweitung der Rechte auf bisher Ausgeschlossene unter Betonung von bestehenden Unterschieden zwischen Gruppen) auf der einen Seite sowie Gleichheit und Gleichwertigkeit auf der anderen (durch Reduzierung von sozioökonomischen Unterschieden, um Neidgefühle einzuhegen). Es ist vor diesem Hintergrund verständlich und folgerichtig, wenn Peter Sloterdijk annimmt, dass wir in ein »Jenseits des Ressentiments« erst dann gelangen könnten, wenn der Prozess der Aufarbeitung und Vergeltung von erlittenem Unrecht, wie er ihn in den »thymotischen« Maschinen »welterlösender Gotteszorn« und »sozialmessianischer Kommunismus« analysiert hat, zum Stillstand käme.36 Das würde nach Maßgabe bisheriger Erfahrungen aber wohl bedeuten, dass die Geschichte an ihr Ende kommen, also die Historizität des Menschseins, die ihn geburtlich in partikulare Kontexte einbettet, aufhören müsste. Wenn das – wie zu vermuten – nicht eintritt, dann dürfte medial die demokratiemessianische Form des Melodrams virulent bleiben, dem es um die Anerkennung aus dem Grunde des guten Gefühls, moralisch auf der ›richtigen‹ Seite zu stehen, geht. Daraus folgt das Recht, eine Stimme zu haben: [Das Melodram] ist der Ort für den ohnmächtigen Zorn darüber, dass es immer weiter ungerecht zugeht auf der Welt und dass es keinen Gott und keinen Himmel gibt. Strenggläubige Christen und Marxisten können mit dem Melodram nichts anfangen.37
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SZENARIENWECHSEL: DIE AUSEINANDERSETZUNG UM EINE ANDERE VISION
Kehren wir noch einmal zurück zu unserer Ausgangsbeobachtung: Bei den Phänomenen von Hass-Rede und den Debatten um politische Korrektheit geht es um mehr als Worte, nämlich um Gefühlsszenarien. Diese sind als komplexe Emotionen (Hass, Ressentiment, Neid, auch Schuldgefühle wegen Neid) zu beschreiben, die sich um einen thematischen Kern bilden (oder anteilig um mehrere Kernthemen) und als narrative Struktur unser Wahrnehmungsskript für Wirklichkeit bilden. Im Falle des Ressentiments ist das, wie bei Scheler gesehen, in der Tat eine komplexe Gefühlsstruktur, in die verschiedene Gefühlsanteile und soziale Faktoren mit einfließen. Ein wichtiger Marker für das Ressentiment ist die reaktive, andere Werte herabsetzende, imaginäre Aktionsstruktur – ein Pro-
36 Sloterdijk: Zorn und Zeit, S. 352–354. 37 Georg Seeßlen: Kino der Gefühle. Geschichte und Mythologie des Film-Melodrams. Reinbek: Rowohlt 1980, S. 25.
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zess, an dem sich die Rolle der Medien bzw. die grundlegende Medialität und Narrativität von Emotionen hervorheben lässt, denn das Handeln des Ressentiments ist gefühlsethische Zeichenbestimmung, wie auch Reinhard Olschanski in Ressentiment festhält: Doch das Spiel der Bestimmung hat bei aller Kontingenz einen Ankerplatz. Es speist sich aus der Wunde, aus den erlittenen Insulten und Kränkungen – und aus verfestigten Mustern und Haltungen, die als Reaktionsbildungen das weitere Handeln mit bestimmen. Die Verletzungen und Reaktionsbildungen sind es, von denen her sich die Zeichen ausdifferenzieren. Sie unterhalten das Spiel der ressentimentalen Konstruktion und sind auch sein impliziter ›Realgehalt‹. Die Zeichen, die sie generieren, sind letztlich Symptome eines prekären Selbstverhältnisses – Zeichen, die die Wunde des Selbst manifestieren, ohne diese zu repräsentieren.38
Als ein anschauliches Beispiel für diese »Manifestation ohne Repräsentation« könnten einige Äußerungen der Dresdner PEGIDA-Demonstrationen gelten, die die Öffentlichkeit der Republik einige Monate in Atem hielten. Unter anderem verkündeten die Demonstranten ja, sie schützten und bewahrten mit dem Protest gegen Islamisierung und Überfremdung auch die christliche Kultur des Abendlandes (so auch der Name: PEGIDA = Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes). Das war doch sehr erstaunlich, denn es handelt sich bei Ostdeutschland um die ›gottloseste‹ Region der ganzen Welt, so das Ergebnis von Langzeiterhebungen zu globalen Glaubensstrukturen.39 Wenn eines sicher nicht beim abendlichen Spaziergehen um die Frauenkirche verteidigt wird – so lässt sich auf der Basis von Fakten (aber eben nicht von Gefühlen!) sagen –, dann ist es das christliche Abendland, ganz einfach weil das Christentum im atheistischen Osten überhaupt keinen breiter geteilten, gelebten Realitätszusammenhang (mehr) bildet. Übersetzt formuliert: Die Wunde manifestiert in der Proklamation, sie repräsentiert sich aber nicht als solche, zeigt eben nicht die wirkliche Kränkung. Ein solcher Hinweis auf die Statistik wäre wohl mit der Parole »Lügenpresse« quittiert worden, mittels derer in Dresden und anderswo die gegenwärtig dominante post-faktische Bedingung schon etwas vor Donald Trump Einzug hielt.
38 Reinhard Olschanski: Ressentiment. Über die Vergiftung des europäischen Geistes. Paderborn: Fink 2015, S. 22. 39 Matthias Karmann: Warum so wenige Ostdeutsche an einen Gott glauben. In: Die Welt online, 19.04.2012. www.welt.de/politik/deutschland/article106205333/Warumso-wenige-Ostdeutsche-an-einen-Gott-glauben.html (01.04.2017).
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Mit Blick auf die Gefühlsszenarien, um die es hier ja geht, ist dazu anzumerken, dass Emotionen schon immer ein großes Stück weit post-faktisch waren und sind, was aber eben nicht bedeutet, dass sie keine Wirklichkeit schaffen. Im Gegenteil, sie sind in den rekursiven Schlaufen von Wahrnehmung und erfahrungsgeleiteter Modifikation extrem wichtige Orientierungspunkte für unseren Alltag, ermöglicht doch allein die schnell ablaufende Vorselektion durch den emotionalen Relevanzrahmen, mit der Fülle an Informationen umzugehen.40 Nicht nur vor diesem Hintergrund, sondern auch im Hinblick auf die genannten Paradoxien des liberalen Subjekts klingt es zwar prima facie gut und überzeugend zu fordern, wir sollten Gefühle für den Fußball und das Kino reservieren, wohingegen im politischen Alltag nüchterne Fakten die Entscheidungen motivieren sollten.41 Diese Forderung ist jedoch nicht nur unrealistisch, wenn wir tagtäglich sehen, wie sich beides zumal in Plots der durchmedialisierten ›Realität‹ vermischt. Sie ist auch falsch, wenn man die Erkenntnisse über die Orientierung und Identität stiftende Funktion von Emotionen einbezieht, und prolongiert die westliche Malaise einer Cartesianischen Spaltung von Geist und Körper noch im 21. Jahrhundert. Nein, es geht im Gegenteil endlich darum, Gefühle ernst zu nehmen als das, was Menschen bewegt und auch Wahlen gewinnt, wie es das schöne Washingtoner Bonmot über Trump auf den Punkt bringt: »Seine Anhänger haben ihm zugehört, aber ihn nicht ernst genommen; seine Kritiker haben ihn ernst genommen, aber ihm nicht zugehört.« Sprich: Sie haben die emotionale Botschaft nicht gehört, die Trump an alle jene sendete, die sich im oben schon geschilderten Sinne ›abgehängt‹ fühlten und fühlen. Und es scheint ihm gelungen zu sein, sich selbst als die politische Bühne für starke Emotionen zu inszenieren, auf die seine Anhänger ihre Gefühlsmuster projizieren konnten. So wäre es zu erklären, dass ein Kandidat die Wahl gewinnen konnte, der sachlich für kaum mehr stand als US-amerikanische Hegemonie-Nostalgie. Argumente haben es in einer solchen Situation oft schwer. Man kann Trumpoder auch AfD-Wählerinnen zwar sagen, dass sie sich durch die Wahl dieser Person oder Partei wahrscheinlich persönlich schlechter stellen werden, doch kommt die Sachinformation nicht durch. Gefühlstheoretisch lässt sich das damit erklären, dass Emotionen nicht auf vergleichsweise abstrakte, wie logisch auch immer formulierte Kritik reagieren, sondern auf bildliche und plastischdarstellerische Einflüsse, die das gesamte Gefühlsszenario verändern können:
40 Voss: Narrative Emotionen, S. 27, unter Bezugnahme auf Damasio und DeSousa. 41 Martin Kolmar: Europa und der Rest der Welt: Das Leid der Anderen. In: Neue Zürcher Zeitung online, 02.04.2016. www.nzz.ch/meinung/kommentare/europa-und-derrest-der-welt-das-leid-der-anderen-ld.11034 (03.10.2018).
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Wenn so viele auch bildliche Elemente in das narrative Grundgeflecht einer Emotion eingehen, sind entsprechend umfangreiche Gegenausmalungen vonnöten, um die überzeugende Plastizität und Wirklichkeit emotionaler Wahrnehmungen zu relativieren.42
Das bedeutet in der letzten Konsequenz, dass man dem tief sitzenden Ressentiment weiter Bevölkerungsteile in Deutschland und Europa, das sich aus Angst vor der Zukunft gegen ›die Fremden‹, gegen ›den Islam‹ und gegen ›die Eliten‹ wendet, nicht mit Informationsbroschüren aus Brüssel und Berlin beikommt. Es geht vielmehr um das Szenario einer anderen Zukunft, eine imaginäre Bühne, die einen Projektionsraum zu öffnen vermag, in den sich die Bürgerinnen und Bürger neu und anders hineinzudenken vermögen. Das bedeutet wiederum, dass es ›populistisch‹ sein muss, wenn dieser vielfältig und widersprüchlich verwendete Terminus hier heißen soll, dass es die Köpfe und – wichtiger noch – Herzen vieler Menschen zu erreichen vermag. Ein solches ›linkes‹ Szenario – wenn man einmal das Bild einer »national erneuerten Festung Europa« als das ›rechte‹ Szenario nehmen will, das sich in den letzten Monaten eines großen Zuspruchs erfreute – ist nicht in Sicht, wie viele Kommentatoren bemerkt haben43 und wie es auch der eingangs zitierte Bernd Stegemann nur appellativ (»Kapital gegen Menschheit«) herbeizuwünschen vermag. Guter Rat scheint teuer, doch könnten die schon zitierten Einschätzungen von Max Scheler zur Bildung eines ressentimentalen Gefühlsszenarios vielleicht erste Anhaltspunkte liefern. Die »äußerste Ladung von Ressentiment« finde sich in der formal egalitären Gesellschaft mit großen Macht-, Status- und Einkommensunterschieden, in der »jeder das ›Recht‹ hat, sich mit jedem zu vergleichen, und sich doch ›faktisch nicht vergleichen kann‹«. Brauchen wir also eine Kombination aus Grundeinkommen, mehr Mindestlohn und gedeckelten ManagerGehältern, damit die Vergleichsspanne, die die Kassiererin vom Topmanager trennt, kleiner und damit auch der imaginative Grollfaktor geringer wird? Damit nicht (weiter) das passiert, was Scheler »Verletzung als Schicksal« nennt, also die kontinuierliche Kränkung durch der eigenen Willens- und Verfügungsmacht »entzogene Zustände«?44 Oder müssten wir, um die verheerenden Fehler einer nationalistischen Abgrenzung und wechselseitigen Herabsetzung in Europa nicht zu wiederholen, gleich gänzlich in Richtung einer zur »Besitzgleichheit hin ten-
42 Voss: Narrative Emotionen, S. 216. 43 Thomas Beschorner: Sozialdemokratie in der Krise: Linke Heldengeschichte dringend gesucht. In: Spiegel Online, 15.01.2017. www.spiegel.de/politik/deutschland/sozial demokratie-in-der-krise-gastbeitrag-thomas-beschorner-a-1129338.html (15.03.2017). 44 Scheler: Ressentiment, S. 43.
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dierenden Demokratie« gehen, also das sozialistische Experiment des 20. Jahrhunderts noch einmal, gleichsam nach dem kompletten Durchgang durch die Individualisierung, starten und es nur besser umsetzen? Die Technik alleine, wie es etwa das vielbesprochene Accelerate Manifesto45 glauben machen mag, wird es wohl nicht richten.
5
MIT ANDEREN WORTEN, MEHR ALS WORTE
Mein Plädoyer für einen Blick auf die Emotionen ›hinter‹ den Worten soll natürlich keinesfalls das Gewicht der Worte verringern oder die Verantwortung schmälern, die jede und jeder für den Gebrauch der Sprache hat. Die emotionalen Szenarien von Ressentiment, Hass, Neid – es ist allein schon aussagekräftig, dass es bei den Themen Populismus, Flüchtlingskrise und Re-Nationalisierung hauptsächlich um diese ›negativen‹ Emotionen geht – sind zu einem großen Teil diskursiv geprägt und natürlich spielen Worte dabei eine entscheidende Rolle. Das hat nicht zuletzt die »Neue Rechte« verstanden, die den eigenen Jargon einer aufmerksamen Sprachprüfung unterzieht und alte ›Reizworte‹ durch technisch anmutende Termini ersetzt, wie etwa »Ausländer raus« durch »Remigration«, »Rasse« durch »Identitäten« und »Rassisten« durch »Ethnopluralisten«. Martin Sellner, Vordenker der »Identitären Bewegung« und ihr europaweiter Sprecher, hat dabei die Verbindung von Wort-Sound und Gefühlsklang sehr genau im Blick: Wir und unsere Ideen sind heute immer noch ›draußen‹ – in der Rolle des metapolitischen Belagerers und Partisanen. Wir belagern die Festung ›Political Correctness‹ und versuchen, die emotionale Barriere zu überwinden, die man um sie gezogen hat. […] Diesen Ideenkern [Grenzschließung, Leitkultur, Remigration; JM] und sein Ziel, den Erhalt der ethnokulturellen Identität, müssen wir durch die emotionale Barriere der Gegner ins Zentrum bringen.46
45 Alex Williams/Nick Srnicek: #ACCELERATE MANIFESTO for an Accelerationist Politics, 14.05.2013. criticallegalthinking.com/2013/05/14/accelerate-manifesto-for-anaccelerationist-politics/ (30.03.2017). Vgl. zur Kritik Fred Turner: Maschinenträume. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 04.12.2016, S. 55: »Die Automatisierung allein aus der Perspektive einer möglichen Ersetzung mühevoller Arbeit zu betrachten ist schon erstaunlich naiv. Wer wird die Maschinen bauen? Wer wird sie bedienen?« 46 Zitiert nach: Ronen Steinke: Hipster und Hetzer. In: Süddeutsche Zeitung, Buch Zwei, 25./26.03.2017, S. 11.
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Es geht also zwar um die Sprachhoheit – »Wir müssen Wörter und Bilder wählen, die der Mehrheit gefallen und für sie verständlich sind« heißt es im Schulungsmaterial der Sommerakademie der Identitären Bewegung47 –, letztlich aber darum, »die emotionale Barriere zu überwinden« und die Herzen zu gewinnen. Politik ist in diesem neu-rechten Entwurf dezidiert Gefühlspolitik, die sich auf die kulturelle Identität mit den verbundenen Ängsten und Fantasien richtet – im Gegensatz zu den erwähnten (neu-)linken Überlegungen, die ökonomisch (Grundeinkommen, Mindestlohn, Arbeitszeitverkürzung)48 oder technizistisch (Beschleunigung, Maschinenglauben im Accelerate Manifesto) argumentieren. Man muss kein Emotionssoziologe sein, um im post-faktischen Zeitalter absehen zu können, welcher Zugang wahrscheinlich mehr Menschen anspricht.
LITERATUR Beschorner, Thomas: Sozialdemokratie in der Krise: Linke Heldengeschichte dringend gesucht. In: Spiegel Online, 15.01.2017. www.spiegel.de/politik/ deutschland/sozialdemokratie-in-der-krise-gastbeitrag-thomas-beschorner-a1129338.html (15.03.2017). Bregman, Rutger: Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15-StundenWoche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen. Reinbek: Rowohlt 2017. Brown, Wendy: States of Injury. Power and Freedom in Late Modernity. Princeton: Princeton University Press 1995. Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997. Decker, Christof: Hollywoods kritischer Blick. Das soziale Melodrama in der amerikanischen Kultur 1840–1950. Frankfurt a. M.: Campus 2003. Karmann, Matthias: Warum so wenige Ostdeutsche an einen Gott glauben. In: Die Welt online, 19.04.2012. www.welt.de/politik/deutschland/article106205333/ Warum-so-wenige-Ostdeutsche-an-einen-Gott-glauben.html (01.04.2017). Kolmar, Martin: Europa und der Rest der Welt: Das Leid der Anderen. In: Neue Zürcher Zeitung online, 02.04.2016. www.nzz.ch/meinung/kommentare/ europa-und-der-rest-der-welt-das-leid-der-anderen-ld.11034 (03.10.2018).
47 Ebd. 48 Vgl. hierzu Rutger Bregman: Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen. Reinbek: Rowohlt 2017.
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Metelmann, Jörg: Ressentimentalität. Die melodramatische Versuchung. Marburg: Schüren 2016. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. In: ders.: Jenseits von Gut und Böse/Zur Genealogie der Moral. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/Berlin/New York: dtv/De Gruyter 1993 (= Kritische Studienausgabe, Bd. 5). Olschanski, Reinhard: Ressentiment. Über die Vergiftung des europäischen Geistes. Paderborn: Fink 2015. Restle, Georg: Kommentar. In: Die Tagesthemen, Sendung vom 24.07.2018. www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/video-der-tagesthemen-kommentar-von -georg-restle-zum-verfassungsschutzbericht-vom--100.html (26.09.2018). Salmela, Mikko/Christian von Scheve: Emotional roots of right-wing political populism. In: Social Science Information 56 (2017), H. 4, S. 567–595. Scheler, Max: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: ders.: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Vierte durchgesehene Auflage, hg. v. Maria Scheler. Bern: Francke 1955. Seeßlen, Georg: Kino der Gefühle. Geschichte und Mythologie des Film-Melodrams. Reinbek: Rowohlt 1980. Sloterdijk, Peter: Zorn und Zeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008. Sound eines Rechtsrucks. Sieben Deutsche erklären, was sie an der AfD finden. Eine Dokumentation. Süddeutsche Zeitung, Buch Zwei, 07./08.01.2017, S. 12 f. Stegemann, Bernd: Das Gespenst des Populismus. Ein Essay zur politischen Dramaturgie. Berlin: Theater der Zeit 2017. Steinke, Ronen: Hipster und Hetzer. In: Süddeutsche Zeitung, Buch Zwei, 25./26.03.2017, S. 11. Turner, Fred: Maschinenträume. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 04.12.2016, S. 55. Voss, Christiane: Narrative Emotionen. Eine Untersuchung über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien. Berlin/New York: De Gruyter 2004. Williams, Alex/Nick Srnicek: #ACCELERATE MANIFESTO for an Accelerationist Politics, 14.05.2013. criticallegalthinking.com/2013/05/14/acceleratemanifesto-for-an-accelerationist-politics/ (30.03.2017).
Zorn, Hass, Wut Zum affektpolitischen Problem der Identität Johannes F. Lehmann
Zorn, Hass, Wut – aber auch andere, verwandte Emotionen, wie Ressentiment, Empörung, Ärger etc. – erscheinen als politische Emotionen, insofern ihnen Reden oder Handlungen in diesem Feld kausal zugeschrieben werden. Die Bandbreite an Phänomenen, die auf solche Emotionen verweisen oder mit ihnen erklärt werden, reicht von friedlichen Demonstrationen, Verschiebungen in Wahlergebnissen (Protestwahlen), skandierten Parolen (mit unterschiedlicher Nähe zur Gewalt) bis hin zu volksverhetzenden Reden, manifesten Gewaltakten oder Attentaten. Ausgangs- und Zielpunkt der folgenden Ausführungen bilden Wutartikulationen, wie sie sich in den Wahlergebnissen der AfD und der verbalen Besetzung der Diskursposition der ›Wut‹ niederschlagen, einerseits sowie die (kritische oder selbstaffirmative) Rede von »Wutbürgern« andererseits. Es geht um Zorn und Wut auf ›linke‹ oder liberale Politik, wie sie derzeit »besorgte Bürger« auf die Straße (PEGIDA) und in die Arme rechtspopulistischer Parteien treibt, d. h. es geht um Zorn und Wut in ihrer Qualität politischer Dynamik und nicht um ideologisierte und starre Formen längst sedimentierten Hasses oder Ressentiments von Rechtsradikalen. Vor dem Hintergrund der konzeptuellen Geschichte des Zorns und seiner epochalen Umcodierung an der Schwelle zur Moderne um 1800 soll zunächst der diskursive Zusammenhang von Hass und Zorn bzw. Wut erörtert werden. Während der alte Zorn als Wunsch nach Rache gedacht wurde, wird die moderne Wut als Hass auf Widerstände gefasst (1). Erst auf der Basis dieser revolutionären, energetischen Demokratisierung des Zorns kann eine Theorie der modernen Wut formuliert werden. Sie fasst Wut als Alarmsystem der eigenen Energiebilanz. Das Erleben des Entzugs der eigenen Handlungsenergie und die ›Beobachtung‹ der ungleichen Verteilung von Handlungsmacht erzeugt Wut (2). Die Re-
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kurrenz auf Wut als einem Alarmsystem für die ungleiche Verteilung von Handlungsmacht steht in engstem Zusammenhang mit (politischer) ›Identität‹. Noch mehr als auf die ›Fremden‹ richtet sich die rechte Wut, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der sogenannten »Flüchtlingskrise« (2015), auf jene, denen zugeschrieben wird, die Unterscheidung von Eigen und Fremd selbst entziehen zu wollen. Wut ist Effekt und Generator von Identität (3). Schließlich soll ein Blick auf die andere Seite der Wut geworfen werden: Kann man Wut von rechts als Element einer gesellschaftlichen Gesamtaffektivität verstehen, die auf spezifische Gegenlagen im Diskurs der ›Linken‹ verweist (4)? Insbesondere dieser letzte Punkt macht eine methodische Vorüberlegung unerlässlich: Bei der historischen und theoretischen Erklärung von Zorn, Hass und Wut zur Aufhellung der gegenwärtigen Lage geht es nicht um ein Verstehen, das rechtspopulistische Wut (und schon gar nicht ihre gewaltförmigen Extreme) verständlich oder gar nachvollziehbar machen soll, die Analyse zielt – in maximaler Distanz zu den politischen Inhalten – auf die Strukturlogik der Emotionen und ihrer Begründungsnarrative. Es geht auch nicht allein um Emotionen und ihren unmittelbaren Ausdruck, sondern um ›Wut‹ als Diskursposition, darum, dass im politischen Diskurs Wut als Fremd-, aber auch als Selbstbeschreibung genutzt wird, wenn sich, wie etwa in Bremen, eine Partei »Bürger in Wut« nennt. Es geht um die politische Dimension der Wut. Worin besteht die genuin politische Dimension der Wut? Sie hängt mit der Besonderheit zusammen, dass Wut (gerade im Gegensatz zum Hass) nicht unmittelbar ein Objekt zum Gegenstand hat, sondern eine Relation. Bei allen anderen Emotionen geht es um die unmittelbare Relation zu einem Objekt, man liebt einen Menschen, man hasst schlechtes Wetter, man fürchtet eine Schlange, man hofft auf eine Zusage, man trauert um sein Haustier und so weiter. Bei Wut dagegen geht es um die Besonderheit, dass das Objekt der affektiven Relation selbst eine Relation ist. Diese Relation, die in der Wut Gegenstand der affektiven Relation ist, ist typischerweise ein energetisches Ungleichgewicht zu den eigenen Ungunsten. Wut entsteht, wenn man seinen eigenen Energieeinsatz in Relation zum Effekt und seine eigene Handlungsmacht im Vergleich zum anderen als asymmetrisch erfährt. Etwa: Ich mache und tue – und du liegst nur faul auf dem Sofa. Oder: Ich bin dir treu – und du betrügst mich. Gegenstand der Wut ist eine Relation, ein Verhältnis der asymmetrischen Verteilung von Handlungsenergien und Handlungsmacht, und gerade das markiert das Politische der Wut, geht es doch auch im Politischen um Hegemonien und die Verteilung von Handlungsmächtigkeit sowie um die Beobachtung und die Kritik dieser Verteilung. Was genau heißt das? Einerseits kann man sagen, dass liberale, rechtsstaatliche Demokratien auf der Basis von Gewaltenteilung, Rechtsordnungen und bürokratischen Verfahren per se dafür sorgen,
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dass Handlungsmacht verteilt wird, dass ihre Konzentration in den Händen einiger weniger verhindert werden soll. Bereits die athenische Demokratie basierte auf solchen Mechanismen. Andererseits besteht aber Politik gerade darin, vor diesem Hintergrund, innerhalb und außerhalb der Institutionen, um die Verteilung der Macht zu ringen. Gemäß der klassischen, nun bereits hundertjährigen Definition von Max Weber ist Politik das »Streben nach Machtanteil oder Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt«.1 Wenn man von einer Frage behaupte, sie sei politisch, so seien damit immer »Machtverteilungs-, Machterhaltungs- oder Machtverschiebungsinteressen«2 gemeint. Im Rahmen solcher Machtverteilungsverschiebungen fallen nun auch Entmächtigungserfahrungen an, für die ›Wut‹ sich als eine Art Alarmsystem begreifen lässt.
1
REVOLUTION UM 1800: ZORN, HASS, WUT
Im Feld der negativen Emotionen von Zorn und Wut ereignet sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ein diskursives Erdbeben, das die abendländische Tradition im Nachdenken und Theoretisieren dieser Affekte zum Einsturz bringt. Das deutlichste Zeichen hierfür ist die Herauslösung der Rache aus der Definition des Zorns. War von Aristoteles über die Stoa, Thomas von Aquin, Descartes und Hobbes bis hin zu Thomasius und Wolff der Zorn über den erlittenen Schmerz angesichts einer Beleidigung und den dadurch ausgelösten Wunsch nach Rache definiert worden, so wird der Affekt Ende des 18. Jahrhunderts plötzlich ohne notwendigen Bezug auf Beleidigung und das Streben nach Rache definiert: So zum Beispiel bei dem Juristen Westphal, der die Wolff’sche Definition, die, wie üblich, auf die Beleidigung abhebt, explizit zurückweist: »Das hassen wir, wogegen bey uns unangenehme und übelwollende Empfindungen entstehen, weil es unserem Wunsch und Verlangen zuwider. Geschieht es mit Aufbrausen ist der Zorn da. Hier braucht keine Beleidigung, keine pflichtswidrige Handlung eines anderen vorhanden zu seyn.«3
1
Max Weber: Politik als Beruf. Nachwort von Ralf Dahrendorf. Stuttgart: Reclam 1992, S. 7.
2 3
Ebd. Ernst Christian Westphal: Grundsätze von rechtlicher Beurtheilung der, aus Hitze des Zorns unternommenen, erlaubten und unerlaubten Handlungen. Halle: o. V. 1784, S. 8 (Hervorh. im Text). Ausführlich hierzu Johannes F. Lehmann: Im Abgrund der Wut.
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An die Stelle der Beleidigung, die das korrespondierende Moment des Wunsches nach Rache darstellt, rückt eine generalisierte Blockade der eigenen Wünsche, ein Hassen von etwas, das uns zuwider ist, ohne dass dies notwendigerweise eine Beleidigung sein muss. Während der alte Zorn (von den rhetorischen Affektenlehren über die Scholastik bis zur Schulpsychologie des 18. Jahrhunderts) immer als Zugleich von Schmerz und Lust gedacht wurde, als Schmerz über die Kränkung und als Lust der angestrebten Rache, so wird nun dieses zweite Moment, das Lust- und Strebensmoment, zurückgenommen und ersetzt durch das Gefühl der eigenen, bedrohten und herausgeforderten Kräfte angesichts ihrer Blockade. Entsprechend heißt es in Immanuel Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: »Der Zorn ist ein Schreck, der zugleich die Kräfte zum Widerstand gegen das Übel schnell rege macht.«4 Und der Hallenser Philosoph und Psychologe Johann Christian Hoffbauer schreibt exakt im Sinne derselben Denkfigur: »Denn die Anlässe zum Zorn hat schon das Kind, so bald es einen Widerstand empfindet, gegen welchen es seine Kräfte aufzubieten sich versucht fühlt.«5 Bei Albert Mathias Vering schließlich heißt es in seiner Psychischen Heilkunde von 1817: »Jenes Gefühl, welches aus dem Abscheu eines Objects entspringt, und mit einer heftigen Tätigkeit, dasselbe zu entfernen, begleitet ist, heißt Zorn; ein Gemüthszustand, der zu den Affecten gezählt wird.«6 An die Stelle der Rache tritt die Kraft und die Energie, ein Übel zu entfernen, an die Stelle der Beleidigung tritt ein Widerstand gegen die eigenen Bestrebungen, ganz allgemein ein ›Übel‹, das sich dem Willen in den Weg stellt. Diese energetische Umformulierung des Zorns lässt sich lesen als die Auflösung der Doppelcodierung in der alten Zorntheorie, und zwar durch die Einführung des Gefühlsbegriffs als einem Relais der Selbstreferenz. Der Zorn war als Zugleich von Schmerz und Lust immer sowohl gegenwärtige Empfindung des Schmerzes als auch Bewegung bzw. Begierde nach zukünf-
Zur Kultur- und Literaturgeschichte des Zorns. Freiburg i. Br.: Rombach 2012, S. 131–190. 4
Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Stuttgart: Reclam 1983,
5
Johann Christoph Hoffbauer: Untersuchungen über die Krankheiten der Seele und die
S. 197. verwandten Zustände. Dritter Theil: Psychologische Untersuchungen über den Wahnsinn, die übrigen Arten der Verrückung und die Behandlung desselben. Halle: Trampen 1807, S. 312. 6
Albert Mathias Vering: Psychische Heilkunde. Erster Band. Leipzig: Barth 1817, S. 58. Dass Vering eigens erwähnen muss, dass der Zorn ein Affekt ist, liegt an der durch Kant etablierten terminologischen Trennung von Affekt und Leidenschaft.
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tiger Rache. Exakt hier setzen nun um die Wende zum 18. Jahrhundert die diskursiven Trennoperationen an. Explizit fragt Christian Thomasius in seiner praktischen Sittenlehre: Ist der Zorn eine Rachbegierde (und damit böse) oder ist er eine »Gemüths-Bewegung / die das Böse empfindet / und nach dieser Empfindung den Menschen antreibet / dasselbe von Halse loß zu werden«7 (und damit indifferent)? Thomasius diskutiert hier die Möglichkeit, den Zorn auf den gegenwärtigen Schmerz und das Loswerden-Wollen des Übels zu beschränken, eine Alternative, die er allerdings ablehnt: »Nun geben aber alle zu / daß der Zorn / so ferne er eine Rachbegierde ist / ein eigentlicher Zorn sey.«8 Thomasius spricht daher explizit von zwei möglichen, sich aber ausschließenden Zornbegriffen: »Jener verlanget nach Rache als was guten [sic!]/ und hat die Beleidigung oder das Böse schon überstanden; Dieser aber will nur das gegenwärtige Böse von Halse loß werden / ohne Verlangen nach Rache.«9 Wie wir gesehen haben, etablieren die Zorndefinitionen des späteren 18. Jahrhunderts nun exakt diesen zweiten Zornbegriff, der auf die Gegenwart des Erlebens fokussiert und auf das bloße Loswerden-Wollen des Übels. Dieser Begriff heißt dann in der Moderne zunehmend ›Wut‹. Was in den Vordergrund rückt, ist das gegenwärtige Empfinden der eigenen Kraft, ihre Beeinträchtigung und ihre energetische Formierung zum Widerstand. Die Zorndefinition stellt um auf Selbstreferenz der eigenen Kräfte. Dies formulierbar zu machen ist die Leistung des im 18. Jahrhundert neu hinzutretenden Begriffs des Gefühls. Das Gefühl meldet, so formuliert es der Philosoph und Anthropologe Johann N. Tetens, »die Beziehung des gefühlten Objekts auf die gegenwärtige Beschaffenheit der Seele und ihrer Vermögen und Kräfte.«10 Im Zentrum dieser Rückmeldung steht die jeweils gegenwärtige Beschaffenheit der eigenen Kräfte. Noch einmal Tetens: »Nur jetzige Veränderungen, gegenwärtige Zustände von uns, können Objekte des Gefühls seyn. Die Vorstellungen haben auch das Vergangene und
7
Christian Thomasius: Ausübung der Sittenlehre. Mit einem Vorwort von Werner Schneiders. Halle: o. V. 1696 (Reprint: Hildesheim: Olms 1968), S. 423.
8
Ebd., S. 424.
9
Ebd., S. 423.
10 Johann N. Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung. Bd. 1. Leipzig: o. V. 1777 (Reprint: Hildesheim/New York: Olms 1979), S. 184. Ähnlich auch Friedrich Eduard Beneke: Lehrbuch der Psychologie. Berlin u. a.: E. S. Mittler & Sohn 1833, S. 157. Er nennt Gefühl »das unmittelbare Bewußtsein, welches uns in jedem Augenblicke unseres wachen Lebens von der Beschaffenheit unserer Thätigkeiten und Zustände inwohnt«.
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Zukünftige zum Gegenstand.«11 Und anders als das Begehrungsvermögen geht das Gefühl nicht über den gegenwärtigen Moment hinaus. Es besteht »in keinem Bestreben, in keinem Ansatz, eine neue Veränderung zu bewirken. Es gehet nicht über das Gegenwärtige hinaus.«12 Und anders schließlich als der mit dem Begehrungsvermögen verknüpfte alte Begriff des Affekts (der eine Figur der Bewegung, eine vorübergehende perturbatio animi beschreibt)13 arbeitet das Gefühl immer. Immanuel Kant hat in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht die Trennung von Zorn und Rache exakt auf die um 1770 neue Unterscheidung von Gefühls- und Begehrensvermögen bezogen. Zorn und Rache, die bis dato immer als Affekt (Vorstellung plus Begierde) vereinigt gedacht waren, werden aufgespalten in einerseits Gefühl/Affekt (Zorn) und andererseits Begehren/Leidenschaft (Rache). Mitten durch den alten Affekt des Zorns läuft die neue Grenze zwischen Gefühls- und Begehrungsvermögen. Das Interessante in unserem Zusammenhang ist nun, dass hierbei Elemente des Hasses selbst in die Definitionen des Zorns eintreten und ihrerseits in Richtung auf Selbstreferenz transformiert werden. Wir hatten gesehen, dass etwa bei Westphal der Hass selbst zum Definiens des Zorns wurde, wenn es heißt: »Das hassen wir, wogegen bey uns unangenehme und übelwollende Empfindungen entstehen, weil es unserem Wunsch und Verlangen zuwider. Geschieht es mit Aufbrausen ist der Zorn da. Hier braucht keine Beleidigung, keine pflichtswidrige Handlung eines anderen vorhanden zu seyn.«14 Das ist insofern plausibel, da im Hass immer schon jenes Loswerden-Wollen formuliert worden war, das nun auch für den Zorn bzw. die Wut als Gefühl bestimmend wird. In der aristotelischen Rhetorik wird dieser Punkt als Abgrenzung gegen den Zorn explizit gemacht: Der Zürnende will, so heißt es in Abschnitt II. 4 über Liebe und Hass, »daß der, dem er zürnt, auch leidet, dieser aber [der Hassende; JL] will, daß er nicht mehr existiert«.15 Beim Hass geht es seit jeher
11 Tetens: Philosophische Versuche, Bd. 1, S. 170. Der Abschnitt heißt: »1) Das Gefühl hat nur mit gegenwärtigen Dingen zu thun.« 12 Ebd., S. 171. 13 Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 1990, S. 117–136. 14 Westphal: Grundsätze von rechtlicher Beurtheilung, S. 8 (Hervorh. im Text). 15 Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt, m. e. Bibliographie, Erläuterungen u. e. Nachwort v. Franz G. Sieveke. München: Fink 51995, S. 97. Vgl. hierzu: Josef König: Einführung in das Studium des Aristoteles: an Hand einer Interpretation seiner Schrift über die Rhetorik. Hg. v. Nicolas Braun. Freiburg i. Br./München: Alber 2002, S. 156–160.
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um jenes Negative des Weghaben-Wollens, das nun auch im neuen Gefühl des Zorns bzw. der Wut dominiert. Der Hass war in der Frühen Neuzeit exakt in diesem Sinne nie nur ein Affekt unter anderen, sondern als Bewegung des Abscheus und als das Gegenteil des Liebens sozusagen eine Meta-Emotion, die selbst als Einteilungskriterium und Quellpunkt aller anderen Emotionen gedacht wurde. »Was die Menschen begehren, lieben, und wovon sie Abneigung empfinden, hassen sie«,16 heißt es bei Hobbes. Aus Liebe und Hass als Bewegungen, denen Lust und Schmerz korrespondieren, werden dann alle anderen Affekte generiert. Liebe und Hass sind die »zwey HauptAffecten, welche auch die Quelle der übrigen Affecten seyn«.17 Gemäß der im 17. Jahrhundert etablierten Definition des Affekts aus dem Doppelspiel von Vorstellung und Bewegung wird die Liebe als Streben nach Vereinigung mit einem Objekt, das wir uns als Gut vorstellen, gedacht und der Hass als »ein Studium separationis, oder Bemühung sich von etwas loszureissen«.18 Durch die verschiedenen Mittel und Chancen dieses Vereinigens oder Losreißens können dann die anderen Affekte als »Derivati« von Liebe und Hass erklärt werden.19 Wenn nun Affekte aber nicht mehr als Bewegungen im Hinblick auf Vorstellungen gedacht werden, sondern, wie bei Kant, als Gefühle, dann wird sowohl im Hass als auch in dem zur Wut transformierten Zorn das Gefühl des Schmerzes und die Kraft des Widerstands betont, wie sie sich jetzt äußert. Der Hass mit seinem Loswerden-Wollen wandert so ins Gefühl der Wut. Der Hass als Bestreben, das Übel loszuwerden, fokussiert seit jeher stärker den Subjektpol als der Zorn, der mit seinem Rachewunsch am Anderen orientiert ist. Hass wird dage-
16 Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hg. v. Iring Fetscher. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 51992, S. 40. Vgl. das Kapitel »Von Verbesserung des Hasses, in: Geistreiche Christen-Lehr. Von der christlichen Vollkommenheit, hg. v. R. P. Ioh. Ios. Surin, der Gesellschaft Jesu Priestern, Tomus II. O. O.: o. V. 1739, S. 446: »Frage: Was ist der Haß? Antwort: Es ist eine Bewegung der Seelen, wodurch sie sich abwendet von allen, was ihr schlimm vorkommet.« 17 M. Johann Ambrosio Hilligen: Anatomie der Seelen: darinne derselben Logicalische und Moralische Natur des Verstandes, Willens, Mental-Gedächtnis der Phantasie, Affecten […] entworffen. Leipzig: Georgi 1737, S. 160. Vgl. auch: Artikel: »Affekten«. In: Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften von einer Gesellschaft Gelehrten. Hg. v. Heinrich Martin Gottfried Köster. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Barrentrapp & Wenner 1778, S. 280–288, hier: 284. 18 Hilligen: Anatomie der Seelen, S. 163. 19 Ebd., S. 164.
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gen stärker auf das subjektive Empfinden des Übels bezogen: »Der Haß entsteht, wenn ich mir etwas an einem vorstelle, das in Ansehung meiner übel ist.«20 In dem Maß nun, in dem das Gefühl als Selbstreferenz des jeweiligen gegenwärtigen Moments und als Rückmeldungsapparat für das Fühlen der eigenen Kräfte in die Emotionsbeschreibungen eintritt, rückt eben diese Subjektivität, nämlich die eigenen Kräfte als Gegenstand des Gefühls ins Zentrum. Das wird sinnfällig im Begriff des Selbstgefühls, wie er im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts sozusagen als Konsequenz aus dem Begriff des Gefühls entsteht. Das Gefühl, das nicht Vorstellung und nicht Begierde ist, ist immer Selbstgefühl, insofern das Gefühl immer eine Rückmeldung über und eine Rückwirkung auf die eigenen Kräfte bzw. die »innern Realitäten« gibt.21 »Demnach«, so formuliert auch der Psychologe Johann Heinrich Abicht, »sind alle unsere Gefühle Selbstgefühle.«22 Tetens definiert das »Selbstgefühl« als »das Gefühl jedweder Art von inneren Zuständen und Veränderungen für sich betrachtet, so wie sie für sich in uns vorhanden sind.«23 »Wir fühlen auch die subjektivistischen Verhältnisse und Beziehungen der Gegenstände und der Veränderungen auf unseren jetzigen Zustand, oder eigentlich, wir empfinden die Dinge mit ihren Wirkungen und Eindrücken in uns, die sie in Gemäßheit ihrer Beziehungen auf uns hervorbringen.«24 Das Gefühl, als jene Instanz der Selbstreferenz, deren Tätigkeit weder Vorstellung noch Wille ist,25 meldet nicht innere Verstandesoperationen, sondern zugleich Fremd- und Selbstverhältnisse.
20 Versuch von dem Mechanismo der Leidenschafften überhaupt, durch Herrn Lallemant. In: Zuverläßige Nachrichten von dem gegenwärtigen Zustande, Veränderung und Wachsthum der Wissenschaften, 157. Theil. Leipzig: Joh. Fried. Gleditschens Buchhandlung 1753, S. 43–65, hier: S. 46. 21 Tetens: Philosophische Versuche, Bd. 1, S. 187. 22 Johann Heinrich Abicht: Psychologische Anthropologie. Erste Abteilung. Aetiologie der Seelenzustände. Erlangen: Palm 1801, S. 68. So auch bei Heinrich Benedikt von Weber: Vom Selbstgefühle und Mitgefühle. Ein Beytrag zur pragmatischen Anthropologie. Heidelberg: Mohr und Zimmer 1807, S. 9. 23 Tetens: Philosophische Versuche, Bd. 1, S. 190. 24 Ebd. (Hervorh.: JL). 25 Erste Ansätze zur Unterscheidung des Gefühls von Vorstellung und Wille finden sich bereits bei Moses Mendelssohn: Über die Empfindungen. In: ders.: Ästhetische Schriften in Auswahl. Hg. v. Otto F. Best. Darmstadt: WBG 1994, S. 29–110, hier: S. 65. Siehe auch ders.: Morgenstunden. In: ders.: Sämmtliche Werke. 2. Bd.: Philosophische Schriften. Ofen u.a.: Burian 1819, S. 294 f.
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Vor diesem Hintergrund wird die Umcodierung des Zorns, der nun auch zunehmend Wut heißt, als Geschehen plausibel, das nun ganz im Inneren der Selbstreferenz der eigenen Kräfte stattfindet: Dieses Gefühl des Zorns ist nach Karl Friedrich Burdach eine »Beeinträchtigung unseres eigenen Ichʼs oder jede Beschränkung einer andern Kraft, deren Zusammenhang mit uns wir fühlen«.26 So kann dann auch der Wunsch nach Rache und Vergeltung, wo er als Folge des Zorns weiter im Spiel bleibt, mit dem Bewusstsein einer Kräftekonkurrenz und der Selbstaffektion durch das eigene Kraftgefühl erklärt werden. Zorn ist nun die Antwort auf ein inneres Energiemissverhältnis, ein inneres gestörtes Gleichgewicht. So formuliert das explizit Theodor Weitz in seinem Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft (1849): »Der Zornige ergreift jedes Mittel um den auf ihn wirklich geschehenen oder nur eingebildeten Angriff abzuwehren und dasjenige zu beseitigen was er als nächste Ursache des gestörten Gleichgewichts seines innern Lebens betrachtet.«27 Ein solches Selbstgefühl spielt nun auch für den Zusammenhang von Hass, Wut und Identität eine zentrale Rolle, insofern zunächst auf der Ebene der Individuen Hass als Effekt eines bedrohten Selbstgefühls erzählbar wird. Mit diesem Begriff des Selbstgefühls werden Motivlagen plausibel, die Handlungen allein auf die Steigerung oder die Stabilisierung des Selbstgefühls beziehen. Es werden Umschläge von Liebe in Hass erklärbar, Neid und Kränkungen als Beweggründe für einen Hass, der nichts will als das eigene Selbstgefühl wiederherstellen oder steigern. »Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, daß ich nicht Herr bin«28 – dieser Satz Franz von Moors aus Schillers Räubern ist sozusagen das Generalmotiv des Hasses aus Selbstgefühl. In den Fokus rückt nicht das Objekt der Begierde, das gewollt und erstrebt wird, und auch nicht das unmittelbar schädigende Objekt selbst, sondern in den Fokus rückt all jenes, was in der Form der Einschränkung das eigene Herrsein, was immer das auch für den Einzelnen bedeutet, unterminiert. Es geht nicht ums Haben, sondern ums Weghaben-Wollen – nämlich all jene und all das, was das eigene Selbstgefühl ver-
26 Ebd., S. 164. 27 Theodor Waitz: Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft. Braunschweig: Vieweg 1849, S. 475. 28 Friedrich Schiller: Die Räuber. In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Klaus Harro Hilzinger u. a. Band 2: Dramen I. Hg. v. Gerhard Kluge. Frankfurt a. M.: Klassiker Verlag 1988, S. 30.
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dunkelt. Noch Büchners Robespierre tötet Danton und die Dantonisten aus seinem bedrohten »Selbstgefühl«.29 Im Feld des Politischen taucht ein solcher Begriff des Hasses erstmals bei Herder auf, interessanterweise in seiner Schrift zum Sprachursprung. Der Zusammenhang zwischen Sprachursprung und National- bzw. Familienhass liegt darin, dass die Sprachschöpfung zugleich an die ureigenste Erfahrung gekoppelt wird, an den fiktiven poietischen Akt, in dem die Seele unvermittelt Ausdrücke für Eindrücke und damit für das Eigenste eine eigene Form findet, die dieses Eigene ausdrückt.30 Alle anderen Formen sind das Fremde, das von dieser Kraft der Zeichenstiftung, die hier zugleich als Lebenskraft schlechthin firmiert, abgelehnt wird. Das Hassen des Fremden ist die Kehrseite der Konstitution des Eigenen, der Hass ist gewissermaßen Funktion der eigenen Identitätskonstitution und der Identitätskohäsion, wenn er auf Kollektive, sei es Familien, sei es Stämme oder Nationen, übertragen wird. Wenn später in den Kriegsapologien von Valentin Embser bis Ernst Moritz Arndt und Heinrich Gottlieb Tzschirner der Hass als differenzkonstituierende Lebenskraft gefeiert wird, dann hat das bei dieser Denkfigur seinen Ursprung. Valentin Embser schreibt bereits 1779, dass der »kriegerische Geist nicht verlöschen [dürfe], wenn die Nation ihre Stärke, ihre Tugend, ihre Glückseligkeit nicht verlieren«31 solle. Heinrich Gottlieb Tzschirner lobt in seinem Essay Über den Krieg
29 Vgl. Georg Büchner: Dantons Tod. In: ders.: Dichtungen. Hg. v. Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Frankfurt a. M.: Klassiker Verlag 2006, S. 11–90, hier: S. 85. Dantons Behauptung, dass alle Epikuräer sind und »sich ein ganz behagliches Selbstgefühl zurecht« machen, die er hier kurz vor der Hinrichtung äußert, lässt sich auf Robespierre rückbeziehen, dem Danton mit eben diesem Argument die »Absätze […] von den Schuhen« getreten hatte. Ebd., S. 33. 30 Vgl. auch Herders Zeilen aus dem Gedicht Selbst: »Nicht was Du siehest (auch das Thier bemerkt), / Nicht was Du hörest (auch das Thier vernimmt), / Nicht was Du lernest (auch der Rabe lernt), / Was Du verstehest und begreifst, die Macht, / Die in Dir wirkt, die innre Seherin, / Die aus der Vorwelt sich die Nachwelt schafft, / Die Ordnerin, die aus Verwirrungen / Entwirrend webt den Knäuel der Natur / Zum schönen Teppich in und außer Dir: / Das bist Du selbst; die Gottheit ist’s, wie Du.« Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte. Wien/Prag: Haas 1879, S. 51–54, hier: S. 51 f. 31 Johann Valentin Embser: Die Abgötterei unsers philosophischen Jahrhunderts. Erster Abgott: Ewiger Friede. Mannheim: E. F. Schwan 1779, S. 172. Vgl. zu Embser: Wilhelm Janssen: Johann Valentin Embser und der vorrevolutionäre Bellizismus in Deutschland. In: Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Hg. v. Johannes Kunisch und Herfried Münkler. Berlin: Duncker & Humblot 1999,
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diesen als den »Grund der fortdauernden, von der Natur hervorgebrachten Individualität der Völker« sowie als jene Kraft, die ihnen »ihr individuelles Seyn und Leben sichert«.32 Am weitesten ist hier Ernst Moritz Arndt in seinem Text Über Volkshaß gegangen, in dem er Differenz, Hass und ›Leben‹ politisch und nationalistisch eng führt. Der Hass ist nicht Ausdruck des Zorns, sondern Energie der differenzerhaltenden Lebenskraft: »Volkshaß ist so natürlich und nothwendig als das Leben, ja er ist das Leben selbst, denn ohne reinen Haß gegen Etwas ist gar kein Leben.«33 Hass ist demnach die negative Seite der Konstitution des Eigenen, alle Zeichen der »Kultur« stehen unter der impliziten Spannung der Kontingenz ihrer Setzung und müssen durch Abwehr des Fremden permanent als das Eigene heroisiert werden. Die Identität des eigenen Stammes, so Herder, impliziert ein Herabsetzen aller anderen – und wenn dieses Herabsetzen wiederum auch die anderen uns entgegenbringen, da sie ihrerseits im vollen Selbstgefühl der Überlegenheit ihres Eigenen segeln, dann ist »die Trompete des Krieges geblasen«. Herder fährt fort: »Das gilt die Ehre, das weckt Stolz und Mut des ganzen Stammes! Von beiden Seiten Helden und Patrioten! Und weil jeden die Ursache des Krieges traf und jeder sie einsehen und fühlen konnte, so wurde der Nationalhaß in ewigen, bittern Kriegen verewigt.«34 An solche Sätze können noch heute die Neuen Rechten mit ihrem Begriff des »Ethnopluralismus«35 bruchlos anschließen, wenn sie aus der Homogenität von Stammes- und Nationalzugehörigkeit die differenzerhaltende Ausweisung aller Fremden propagieren. Sie argumentieren dabei wie Herder mit
S. 43–56, sowie Jörn Leonhard: Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914. München: R. Oldenbourg 2008, bes. S. 208–215. 32 Heinrich Gottlieb Tzschirner: Über den Krieg. Ein philosophischer Versuch. Leipzig: Barth 1815, S. 110 f. 33 Ernst Moritz Arndt: Über Volkshaß und Über den Gebrauch einer fremden Sprache. Leipzig: Fleischer 1823, S. 3–21, hier: S. 3. Siehe hierzu auch den Beitrag von Jürgen Brokoff im vorliegenden Band. 34 Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache [zuerst 1772]. Hg. v. Dietrich Irmscher. Stuttgart: Reclam 1989, S. 110. 35 Zu dem auf Henning Eichberg zurückgehenden Begriff vgl. Claudia Globisch: Radikaler Antisemitismus. Inklusions- und Exklusionssemantiken von links und rechts in Deutschland. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2013, S. 247–252, sowie dies.: »Deutschland uns Deutschen, Türkei den Türken, Israelis raus aus Palästina.« Zum Verhältnis von Ethnopluralismus und Antisemitismus. In: Die Dynamik der europäischen Rechten. Geschichten, Kontinuitäten und Wandel. Hg. v. ders. u. a. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 203–225.
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der positiv-bewerteten Innenseite des Hasses, mit Ehre, Stolz und Mut und berufen sich allerdings nicht auf den Hass, sondern auf Begriffe wie Wut, Zorn oder, wie Francis Fukuyama und Peter Sloterdijk, auf den griechischen Begriff des thymos.36
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WUT UND ENERGIE: ZUR (POLITISCHEN) THEORIE DER WUT
Jenseits der historischen Rekonstruktion verschiedener Zorn-, Hass- und Wutmodelle kann man eine Wuttheorie formulieren, die ihrerseits die Metaphern von Energie und Widerstand aufnimmt, aber auch weiterdenkt. War in der Vormoderne die soziale Relation für Zorn entscheidend, so geht es in der modernen Wut um die energetische Relation zwischen Energieeinsatz und Ertrag und somit um das Erleben negativer Energiebilanzen und die Beobachtung von asymmetrischer Verteilung von Handlungsmacht. Unter ›Handlungsmacht‹ verstehe ich das Erleben des Erfolgs des eigenen Energieeinsatzes, sie ist also zunächst subjektintern zu denken. Wenn wir eine Handlung ausführen, dann setzten wir Energie ein – und erwarten einen Effekt. Wütend macht, wenn sich dieser Effekt nicht einstellt und die eigene Energiebilanz ins Negative rutscht: wenn man dem eigenen Kind etwas zwanzigmal erklärt und es versteht es immer noch nicht, wenn man den Knoten der Schnürsenkel nicht und wieder nicht aufkriegt und so weiter. Wut zeigt sich hier als Alarmsystem der eigenen Energiebilanz. Es geht also nicht einfach um die Blockade des eigenen Wunsches oder die Frustration und auch nicht um die inhaltliche Norm, dass Kinder zu verstehen oder Schnürsenkelknoten aufzugehen haben, sondern um die formale Relation zwischen Energieeinsatz und Erfolg. Mit einer solchen Beschreibung liegt man ganz in der Linie einer energetischen Anthropologie, wie sie im 19. Jahrhundert nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Thermodynamik entwickelt worden ist. Robert Mayer, einer ihrer Erfinder, wusste etwa, dass der Mensch »seiner Natur nach so beschaffen ist, daß er gerne mit Aufwendung geringer Mittel möglichst große Erfolge erzielt«.37 Und wenn sich dieses Verhältnis umkehrt, entsteht nach Mayer Zorn. Man kann nun diese an der modernen Metaphorik gewonnene Theorie der Wut als Alarmsystem der Energiebilanz auch auf interpersonale Asymmetrien
36 Vgl. hierzu meine Rezension zu Sloterdijks Buch Zorn und Zeit (2006): Von Achill zu Al-Qaida. Sloterdijks Essay zur politischen Ökonomie des Zorns. In: IASLonline, 17.01.2007. https://www.iaslonline.lmu.de/index.php?vorgang_id=1845 (10.12.2018). 37 Robert Julius Mayer: Ueber Auslösung. In: ders.: Die Mechanik der Wärme. Hg. v. Hans Peter Münzenmeyer. Heilbronn: Stadtarchiv 1978, S. 413–416, hier: S. 416.
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übertragen und als Strukturlogik von Wutbegründungsreden auch in älteren und sehr alten Wutszenen beobachten. Wutreden enthalten immer zugleich zwei Pole: Zum einen den verbalen Angriff auf den anderen, der die Wut ausgelöst hat, und zum anderen die Rechtfertigung eben dieser Handlung. Die Wutrede liefert immer ihre eigene Begründung. Die Wut artikuliert sich dabei in der Form einer Geschichte, und zwar als Geschichte eines energetischen Ungleichgewichts. Wutreden sprechen von dem Einsatz der eigenen Energie, die nicht den erwarteten Ertrag erbracht hat, und werfen dies dem anderen vor: »Ich habe Energie aufgewendet, während du dies nicht getan hast.« Obwohl die Antike eine solche Konzeptualisierung von Wut/Zorn nicht vorgenommen hat, kann man diese Form des energetischen Gefälles aber dennoch sogar hier in einigen erzählten Szenen erkennen. In der Ilias folgt die erste Wutrede des Achill, als Agamemnon ihm seine Beutefrau streitig macht, genau diesem Schema: Ha, du in Unverschämtheit Gehülleter, sinnend auf Vorteil! […] Dir, schamlosester Mann, dir folgten wir, dass du dich freutest; Nur Menelaos zu rächen und dich, du Ehrvergeßner, An den Troern! Das achtest du nichts, noch kümmert dich solches! Selbst mein Ehrengeschenk, das drohest du mir zu entreißen, Welches mit Schweiß ich errungen und mir verehrt die Achaier.38
Bereits die Ausgangssituation enthält ein Gefälle, da Achill seine Energien für den Kampf um Ziele bereitstellt, die nicht seine eigenen sind. ›Ich gehe für dich in den Kampf, setze meine Energie für deine Ziele ein.‹ Die wutauslösende Handlung der Wegnahme der Beutefrau steigert das Gefälle, indem sie es missachtet: ›Und jetzt nimmst du mir das Geschenk, das ich mit meinem Energieeinsatz gewonnen habe.‹ Auch Martin Luther folgt diesem Modell in seiner Predigt vom Zorn: »Solt ich nicht billich zürnen? Dies und das hat er mir gethan da fur, das ich im so viel guts gethan habe und gerne das hertz im leib mitgeteilt hette, Das ist der danck und lohn, damit er mich bezalet, Solt ich das leiden und solche bosheit also hingehen lassen?«39 In allen diesen Beispielen geht es um die eigene negative Energiebilanz im Vergleich zum anderen.
38 Homer: Ilias. In: ders.: Ilias. Odyssee. Übersetzt von Johann Heinrich Voß. Vollständige Ausgabe. München: DTV 1979, 1. Gesang, V. 149–162. 39 Martin Luther: Eine Predigt vom Zorn, auff das Evangelium Matth.b. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). Bd. 41. Weimar: Böhlau 1910 (Reprint: Weimar: Böhlau 1964), S. 743–752, hier: S. 744.
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Das gilt auch für die Situationen, in denen man wütend wird, obwohl man selbst gar nicht beteiligt ist, nicht beleidigt oder gekränkt oder verraten wird. Ein einfaches Beispiel für diese Wut aus der Position des Beobachters findet sich in Montaignes Essay Über den Zorn: Wenn ich zum Beispiel durch unsre Straßen ging und beobachtete, wie kleine Jungen von einem wutschnaubenden Vater, einer irrsinnig tobenden Mutter grün und blau geschlagen und zu Boden geprügelt werden – wie oft packte mich da die Lust, mit einem bühnenreifen Donnerwetter dreinzufahrn, um die Ärmsten zu rächen!40
Beim Beobachtungsärger wird der Wütende Zeuge einer Szene, in der ein starkes Gefälle herrscht: zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Schwäche und Stärke, Unschuld und Schuld, Wehrlosigkeit und Gewalt, Hilflosigkeit und Handlungsmacht. Entscheidend ist – wie immer bei Wut – das Bild (oder das Narrativ) eines eklatanten Ungleichgewichts. Auf der einen Seite ein maßloses Handeln und auf der anderen Seite ein maßloses Nicht-Handeln(-Können). Das können auf der Seite des maßlosen Handelns Gewaltexzesse eines Serienmörders oder Kinderschänders sein oder einfach die Rücksichtslosigkeit eines Autofahrers, der mit 90 km/h durch die geschlossene Ortschaft rast. Es geht beim Täter nicht nur um den Normverstoß allein, sondern immer auch darum, dass sein Handeln als regellos erscheint, als maßloses Handeln. Das Handeln außerhalb der Norm verweist in besonderem Maße auf die Tatsache des Handelns selbst, auf die schiere Faktizität des Handelns. Und diese Handlungsenergie saugt gleichsam die Energien derjenigen, die zuschauen, auf, indem sie sich (zunächst) zum Zuschauen verdammt sehen. Das eminente Handeln verurteilt zwangsweise zum Zuschauen und verweist den Zuschauer so auf sein Nicht-Handeln und die Ohnmacht des bloßen Zuschauers gegenüber diesem als maßlos empfundenen Handeln. Und genau dieses energetische Gefälle bzw. dessen individuell empfundenes Ausmaß – zwischen dem energetischen Handeln und dem energetisch leeren Nicht-Handeln – ist eine Bedingung dafür, dass hier Wut entstehen kann. Es geht also darum, dass der Beobachter und das sich nicht wehren könnende Opfer zum Handelnden in eine analoge Relation geraten. Das energetische Gefälle zwischen dem maßlos Handelnden und dem maßlosen Nicht-Handelnden springt sozusagen auf die Relation zwischen dem Täter und dem Beobachter über. Die Wut, die hier entsteht, hilft dann dabei, selbst ins Handeln zu kommen, d. h. einzugreifen, wenn man zusieht, wie drei auf einen gehen.
40 Michel de Montaigne: Vom Zorn. In: ders.: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Zweites Buch. Frankfurt a. M.: Eichborn 1998, S. 577–587.
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Mein Vorschlag wäre also, Wut als Alarmsystem der eigenen Energiebilanz zu verstehen – als Ausdruck für ein erlebtes Missverhältnis der eigenen Energie im Vergleich zu dem Effekt, den man mit dem eigenen Handeln erreicht, oder im Vergleich zur Energie und Macht des Handelns anderer, denen man bloß zuschauen kann. Und weil es jeweils um die eigene aufgewendete oder mangelnde Energie geht, ist Wut verknüpft mit der eigenen Identität. Wut bewacht die aufgewendete Energie und verweist auf den mit ihr stets unternommenen und bedrohten Aufbau des eigenen Selbstbildes als eines Subjekts, das sich in der Aufwendung der eigenen Energie als wirksam erfahren will und wütend wird, wenn ihm diese eigene Energie im Erleben und im Effekt entzogen wird. Die Asymmetrie in der Verteilung der Handlungsmacht, die entsteht, wenn man sich angesichts des Handelns der anderen auf den Platz des Nicht-Handelns, des bloßen Zuschauers versetzt sieht, spielt nun gerade im Feld des Politischen eine zentrale Rolle, wo insgesamt um die Verteilung der Handlungsmacht gerungen wird und Wut auch entsteht, wenn die eigene Handlungsmacht als entzogen erlebt wird.
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VON DEN ›WUTBÜRGERN‹ ZUR ›FLÜCHTLINGSKRISE‹
Man könnte einwenden, dass die Wut, wenn man sie als Reaktion auf die Asymmetrie der Verteilung von Handlungsmacht versteht, nur das bloße Verhältnis von Macht und Ohnmacht beschreibt; wütend werde man einfach aus der Ohnmacht heraus. Das ist aber keine ausreichende Erklärung, da es in der Wut immer zugleich darum geht, die Relation von Energieaufwand und Ertrag bzw. die Relation der Verteilung von Handlungsmacht an einem Gleichgewichtsmaßstab zu messen und sie als in Unordnung geratene Relation zu beobachten. Es geht um die Relation von Zuschauen und Handeln. Ohnmacht allein kann ja auch zur Angst führen oder zur Verzweiflung oder zur Resignation, die Wut aber entsteht, weil eine Relation von Macht und Ohnmacht beobachtet wird. Wut kann im Politischen immer dann entstehen, wenn derlei Asymmetrien im Erleben der eigenen Handlungsenergien und in der Beobachtung der Verteilung von Handlungsmacht eminent werden, wenn das Erleben (oder auch die diskursive Konstruktion) der eigenen Handlungsmacht ins energetische Minus kippt – und dann in der Wut sozusagen kompensiert werden soll, etwa durch Protestwahlen oder skandierte Parolen, die zum Ziel haben, die eigene Handlungsmächtigkeit wiederherzustellen. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun auch der Begriff des Wutbürgers verstehen. Seinen ersten Auftritt hatte er im Jahr 2010, als der Spiegel-Journalist
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Dirk Kurbjuweit den Begriff prägte.41 Gemeint waren Protestierer gegen den Stuttgarter Bahnhofsneubau und gegen die Kritiker von Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab. Im Kontext von Migration und Islamkritik lebt der Begriff bis heute fort, etwa in dem Buch von Hajo Funke: Von Wutbürgern und Brandstiftern: AfD – Pegida – Gewaltnetze.42 Kurbjuweit gibt in seinem Essay nun eine Beschreibung der Wutbürger, die – ohne es zu wollen – Wut gemäß der eben entwickelten Theorie erklärbar macht. Geschrieben ist der Essay nämlich aus einer dezidiert neoliberalen Perspektive, in der Wandel und Strukturanpassung ein Diktat ökonomischer Überlebensrationalität sind, zu der es keine Alternative gibt. Das aber wollen, so Kurbjuweit, die Wutbürger nicht einsehen: »Der Wutbürger wehrt sich gegen den Wandel, und er mag nicht Weltbürger sein.«43 Er soll aber den Wandel wollen und er soll Weltbürger sein wollen, da Wandel und Weltbürgertum sowieso unausweichlich sind. Wutbürger sind laut Kurbjuweit gegenwartsfixierte Zukunftsverweigerer. Zukunft, so hat man allerdings in Zeiten des Neoliberalismus schon seit den 80er-Jahren gelernt, gibt es überhaupt nur für den, der sich rechtzeitig für sie fit macht. Vielleicht noch nie vorher in der Geschichte der Neuzeit ist die Existenz der Zukunft für Menschen von der eigenen Zukunftsfitness und von rechtzeitigen Anpassungsleistungen so abhängig gemacht worden wie gemäß dieses Denkens. Es geht nicht mehr um die Frage, welche Zukunft wir haben werden oder gar wollen, wie wir sie gestalten, sondern in strategisch-dramatischer Zuspitzung immer nur um die Frage, ob und, wenn ja, für wen, es überhaupt eine Zukunft gibt. Aus dieser neoliberalen Perspektive ist der Essay über die Wutbürger geschrieben. Als Subjekte einer Gegenwart, die die Zukunft mitgestalten wollen, ohne einfach den Imperativen des Wandels zu folgen, sind Wutbürger eine Bedrohung: »Deutschland wird erstarren, wenn sich allerorten die Wutbürger durchsetzen.«44 In dieser Lage, in der die bedingte Zukunft als ein sich so verselbstständigt habender, immer schon laufender Wandlungsprozess erscheint, dem gegenüber in der rechtzeitigen Anpassung die einzige Chance auf das Überleben besteht, sind die Handlungsmächte höchst ungleich verteilt. Gegenüber dieser ›Zukunft‹,
41 Dirk Kurbjuweit: Der Wutbürger. Stuttgart 21 und Sarrazin-Debatte: Warum die Deutschen so viel protestieren. In: Der Spiegel 41 (2010), S. 26. 42 Vgl. Hajo Funke: Von Wutbürgern und Brandstiftern: AfD – Pegida – Gewaltnetze. Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg 2016. 43 Kurbjuweit: Wutbürger, S. 26. 44 Ebd.
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die sowieso permanent ›handelt‹ und tut, was sie tut, ist die eigene Handlungsmacht notwendig schwächer und von vornherein im Hintertreffen. Die Zukunft ist nicht der Raum gemeinsamer Gestaltung und Entscheidung alternativer Möglichkeiten, sondern bloß der Test, wer es geschafft haben wird, sich rechtzeitig anzupassen – und wer untergegangen sein wird. Angesichts dieser strukturellen Asymmetrie zwischen Handeln und NichtHandeln und einer Politik, die sich weitgehend auf das Managen dessen zurückgezogen hat, was alternativlos geboten ist,45 war lange Lethargie, Politikverdrossenheit oder Apolitisierung die vielbeklagte Antwort. In diesem Sinne waren die Proteste in Stuttgart eine kommunalpolitisch bedingte Ausnahme. Wenn jetzt – im Zuge und seit der sogenannten ›Flüchtlingskrise‹ (2015) – diese Verdrossenheit Artikulationsformen der (politischen) Wut gewichen ist (AfD, PEGIDA), dann hat das ebenfalls mit einer Asymmetrie der Verteilung von Handlungsmacht zu tun. Warum aber hier Wut und nicht noch mehr Verdrossenheit? Wut entsteht hier leicht, weil sich die Situation als asymmetrische Verteilung von Handlungsmacht narrativieren lässt und weil Handeln und Nicht-Handeln hier als tatsächliche Alternativen gedacht werden können. Das hat auch mit der ästhetischen Qualität der Emotion zu tun: Wut als Beobachtung eines Verhältnisses funktioniert immer dann besonders gut, wenn die Relation anschaulich wird, wenn sie real oder imaginär als Szene erscheint, wie etwa die vielen Tausend Flüchtlinge, die die Grenze überqueren. Während die politisch alternativlosen Anpassungsakte (von Bankenliberalisierung über Hartz IV bis G 8 im Gymnasium) angesichts der Globalisierung gar nicht als eminentes Handeln respektive Nicht-Handeln erschienen, so ist das im Fall der Migration anders. Die rechtspopulistischen Wutrekurrenzen reagieren auf ein entschieden nicht alternativloses Handeln, das zugleich als eminentes Handeln wahrgenommen wird (in der Rede von »unkontrollierter Grenzöffnung!«, obwohl ja gar nichts geöffnet wurde). Ein Weiteres kommt hinzu: Während gegenüber der ökonomisch-bedingten Vielleicht-Zukunft alle allein sind und nur jeder seine eigenen Schäfchen ins Trockene bringen will und etwa im zeitverkürzten ›Bildungs‹Run versucht, noch schneller als der andere zu sein (Kurbjuweit etwa droht offen mit »chinesischem Tempo«46), taucht angesichts der zunehmenden und zunehmend als Problem erlebten Migration ein bedrohtes Wir auf, das sich der eigenen Handlungs(ohn)mächtigkeit versichern kann und für diese auch performativen Ausdruck sucht und findet.
45 Vgl. vor allem das erste Kapitel »There is no alternative« in Astrid Séville: Der Sound der Macht. Eine Kritik der dissonanten Herrschaft. München: Beck 2018, S. 21–48. 46 Kurbjuweit: Wutbürger, S. 26: »Die nächste Moderne wird von chinesischem Tempo und chinesischen Dimensionen bestimmt werden.«
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Das wutauslösende Moment liegt neben der szenischen Symbolik der Grenzüberschreitung auch darin, dass die Politik im Fall der Migration ein merkwürdiges Nicht-handeln-Können für sich reklamiert und Migration, ganz analog zur ökonomischen Globalisierung, als unausweichlich erscheinen lässt. Man muss Weltbürger sein wollen oder man wird untergehen. Dirk Kurbjuweit überträgt in seinem Essay die neoliberale entpolitisierende Anpassungs- und Handlungsentmächtigungsrhetorik auf das Feld der Migration. Auch sie ist, wie die ökonomischen Beschleunigungen und die Globalisierung der Märkte, nur hinzunehmen, letztlich muss man den Wandel einfach akzeptieren, so fordert es der amtierende EU-Kommissar für Migration, Dimitris Avramopoulus: »At the end of the day, we all need to be ready to accept migration, mobility and diversity as the new norm and tailor our policies accordingly.«47 Migration meint hier nicht den Ausnahmefall des Asyls, sondern ganz allgemein menschliche Wanderungsbewegungen. In diesem Sinne sprach auch Frans Timmermanns als stellvertretender EU-Kommissionspräsident im Oktober 2015 davon, dass Migration das »Schicksal der Menschheit« sei.48 Es ist nun exakt diese vorgebliche Unausweichlichkeit, die zu der wutauslösenden Asymmetrie in der wahrgenommenen Verteilung von Handlungsmacht beiträgt, ja, sie konstituiert. Hier wird – in der Beschreibung der unausweichlichen Realität der Migration und der Forderung, die Vorstellung einer relativen sozialen und ethnischen Homogenität als unsinnige Illusion aufzugeben – eine Anpassung gefordert, die sich nicht auf ein Fitnesstraining zur Verbesserung der Überlebenschance in der Zukunft bezieht und somit Individuen und ihr Schicksal vereinzelt, sondern die sich auf die in und durch die Vergangenheit gebildete ›Identität‹ bezieht, die zudem die Identität eines Kollektivs (Nation) betrifft. Genau deshalb kann hier ›Wut‹ sozusagen als Alarmsystem für die Beobachtung der Verteilung von Handlungsmacht und Handlungsmächtigkeit ›anschlagen‹. In der Polarisierung von neurechter Identitäts- und ihr gegenüberstehender Akzeptanzrhetorik geht es auf einer Meta-Ebene um die Möglichkeiten des Handelns selbst, um die Verteilung von Handlungsmächtigkeit – und das heißt auch um
47 Dimitris Avramopoulos: Europe’s migrants are here to stay. It’s time to start crafting our policies accordingly. In: Politico, 18.12.2017. https://www.politico.eu/article/europemigration-migrants-are-here-to-stay-refugee-crisis/ (21.11.2018). Siehe kritisch hierzu auch Michael Bröning: Lob der Nation. Warum wir den Nationalstaat nicht den Rechtspopulisten überlassen dürfen. Bonn: Dietz 2018, S. 23 f. 48 Opening remarks of First Vice-President Frans Timmermans at the First Annual Colloquium on Fundamental Rights. Brüssel, 01.10.2015. http://europa.eu/rapid/pressrelease_SPEECH-15-5754_en.htm (21.11.2018).
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die Bedingungen demokratischer und politischer, das Gemeinwesen gestaltender Handlungsmächtigkeit überhaupt. Wer wütend ist, ist gebannt in seine eigene Handlungsohnmacht, in seine negative Energiebilanz und versucht – qua Wut – die wahrgenommene Asymmetrie umzukehren und Handlungsmacht wiederzugewinnen. Jenseits der Irrationalität der Wut, die leicht zu diskreditieren ist, liegt hier der Grund dafür, dass ›Wut‹ nicht nur eine in diesem Sinne diffamierende Fremdbeschreibung ist, sondern zugleich als Selbstzuschreibung übernommen wird. Viele Anhänger der AfD bezeichnen sich selbst als wütend und auch die Bremer Partei namens »Bürger in Wut« deutet auf diesen Zusammenhang. Das wiederum lässt sich mit der oben formulierten Theorie der Wut auf die sogenannte Flüchtlingskrise und die Ereignisse des Jahres 2015 beziehen. Analysiert man die hier vorgebrachten Wutbegründungen und Narrative, sieht man, dass die Aufnahme von Flüchtlingen, wie sie 2015 ereignishaft, (scheinbar) plötzlich und in großer Zahl stattfand, für viele als symbolische Szene einer Handlungsentmächtigung der nationalstaatlichen Politik wirkte. Viele Beiträgerinnen und Beiträger in den entsprechenden Foren und Debatten machen darauf aufmerksam, nicht gefragt worden zu sein, oder auch darauf, dass die ›unkontrollierte Grenzöffnung‹ einen Rechtsbruch dargestellt habe und damit eine Verletzung ihrer demokratischen Rechte. Zugleich wird die Grenzöffnung (und die Aufnahme von Flüchtlingen) als ein Verschenken der eigenen Arbeitsleistung empfunden und damit als Entzug der eigenen Identität im Sinne der eigenen aufgewendeten Arbeit, die gleichsam durch die widerrechtliche Schenkung enteignet worden sei. In einem Diskussionsforum zu einem Beitrag im Cicero mit dem Titel Phänomen Wutbürger – Warum so zornig? schreibt ein Teilnehmer, es handele sich um »Verrat am eigenen Volk«. Ein anderer formuliert: Der Staat darf einfach nicht mal eben kurz 1,8 Millionen Muslime (davon 1,2 Mill. Männer ohne Pass, dafür mit Smartphone) ins Land lassen und im Zweifelsfalle lebenslang alimentieren. Dafür hat die Regierung kein Mandat. Die Regierung hat nicht das Recht dazu den über Generationen aufgebauten Sozialstaat mal eben kurz an die Dritte Welt zu verschenken.49
Es geht mir hier nicht um eine inhaltliche Kritik an dem Fehlen humanitärer Empathie in einer akuten Krise, der Wortwahl (»Verrat am Volk«) und auch nicht an den genannten (falschen) Zahlen, sondern um das wutauslösende Mo-
49 Christian Heinze: Phänomen Wutbürger – Warum so zornig? In: Cicero, 13.09.2016. Kommentare, 14:01 Uhr. https://www.cicero.de/kultur/phaenomen-wutbuerger-warumso-zornig (21.11.2018).
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ment, das sich in der spezifischen Wutbegründungslogik manifestiert. In beiden Aussagen folgt die Begründung der Wut dem Narrativ des Entzugs und der Veruntreuung der eigenen aufgewendeten Energie. Was Generationen aufgebaut haben, werde kurzerhand verschenkt. Zugleich wird darauf hingewiesen, dass man nicht gefragt worden sei, dass man nur zuschauen könne. Die Aufnahme von sehr vielen Menschen in sehr kurzer Zeit erscheint aus dieser Perspektive als ein maßloses Handeln (im Sinne eines Nicht-Handelns), das die Bürger zum bloßen Zuschauen verurteilt. Und dieses Zuschauen-Müssen, nicht nur bei der Flüchtlingsaufnahme, sondern auch bei der zunehmenden ökonomischen Asymmetrie zwischen Reich und Arm, taucht in den Wutreden immer wieder auf. Eine Beiträgerin schreibt: »Und da sollen wir Bürgerinnen und Bürger kritiklos zuschauen? Mitnichten. Folglich entsteht eine zunehmende Wut auf die herrschenden Verhältnisse.«50 Die Problematik der Grenze und der hier diagnostizierte »totale Kontrollverlust« wie auch die Ohnmacht derer, die zwar angeblich das Volk sind, sich aber zum nicht-handelnden Zuschauen verurteilt sehen, diese beiden Aspekte werden verhandelt als ein Problem der Handlungsentmächtigung und des Entzuges des ›Eigenen‹ als eines von Grenzen konstituierten Handlungssubjekts. Gegen die »unkontrollierte Grenzöffnung« wird Wehrhaftigkeit und Verteidigung angemahnt, die Wut richtet sich als die Energie eines Umkehrschubs auf die Wiederherstellung dieser Handlungsmächtigkeit und rekurriert hierfür – als Voraussetzung – auf das Narrativ der Verteidigungsenergie der eigenen Identität. Nur wer identifiziert ist, kann wütend werden. Man kann hier auch einmal die Gegenprobe machen und sich fragen, warum die Veruntreuung von 31,8 Milliarden Euro, die dem deutschen Staat durch Cum-Ex-Geschäfte entwendet wurden, gerade keine kollektive Wut auslöst, obwohl der finanzielle Schaden und die Enteignung des Eigenen hier gigantische Ausmaße hat – es fehlt hier schlicht die Szene der Handlungsentmächtigung, der Betrug erscheint nicht als eminentes Handeln, dem man zuschauen muss. Hier bleibt dann nur – diesmal von linker Seite – der Appell an die Wut: »Wir müssen so wütend werden, dass diese Leute Angst bekommen.«51
50 Ebd., 12:35 Uhr. 51 Matern Boeslager: Warum es OK ist, dass wir das Leben der Superreichen finanzieren. Wenn es nicht OK wäre, würden wir uns ja aufregen, oder? In: Vice, 22.10.2018. https://www.vice.com/de/article/3kmm4j/cum-ex-steuergelder-warum-es-ok-ist-dasswir-das-leben-von-superreichen-finanzieren (21.11.2018).
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WUT UND IDENTITÄT – BLICK AUF DIE ANDERE SEITE
Fasst man Identität mit Herder als die Summe der eigenen aufgewendeten Energie, als Produkt der eigenen ›Arbeit‹, wobei das ›Eigene‹ daran jeweils individuell oder kollektiv konstruiert wird, dann sieht man, dass das Wutnarrativ der Wütenden hier genau jene Veruntreuung und Enteignung der eigenen Energie in Relation zum Ertrag formuliert. Zugleich ist ›Identität‹ bei der Wut der Rechten und bei ihrer Besetzung der Position der Wut aber auf einer grundlegenderen Ebene im Spiel. Mehr noch als auf Migranten oder Fremde richtet sich die Wut auf jene, die Identität als das Prinzip von Unterscheidung entziehen. So richtet die sogenannte »identitäre Generation« ihre »Kriegserklärung« nicht primär an Ausländer und Fremde, sondern an die eigenen Eltern, die 68er, denen vorgeworfen wird, die Fähigkeit zur Verteidigung und zur Abgrenzung des Eigenen verloren und ihren Kindern damit jede Möglichkeit der Identität genommen zu haben. Diese Kriegserklärung liest sich so: Entwurzelt und orientierungslos habt ihr uns in diese Welt geworfen, ohne uns zu sagen, wohin wir gehen sollen, wo unser Weg liegt. Und alles, was uns Orientierung hätte geben können, habt ihr zerstört. […] Ihr habt alles und jeden hinterfragt und kritisiert, und somit glauben wir an nichts und niemanden mehr. […] Wir suchen unsere Identität und finden sie unter den Trümmern eurer Zerstörungswut. Tief müssen wir graben, um uns selbst wiederzufinden.52
Die 68er dagegen seien als Identitätsverunsicherer wehrlos: »Kämpfen und notfalls auch töten, könnt ihr das überhaupt noch? Wisst ihr überhaupt noch, wie man sich wehrt?«53 Die Identifikation mit der Position der Wut reklamiert eine Fähigkeit zur Unterscheidung und zur Abgrenzung und richtet sich gegen all jene, die das Prinzip der Unterscheidung und ihrer Verteidigung vorgeblich aufgegeben haben. Diagnostiziert wird dies als eine Art Todesverfallenheit und Lebensmüdigkeit, als Feminisierung, der die Wut als Ausdruck der Vitalität, der Jugend und der wehrhaften Männlichkeit gegenübergestellt wird. Während die Moderne hier, wie seit jeher, mit der Auflösung von Unterschieden, mit Globalität, Universalismus, Dekadenz, mit grenzüberschreitenden Finanz- und Warenströmen, dem Juden-
52 Markus Willinger: Die identitäre Generation. Eine Kriegserklärung an die 68er. London: Renovamen 2013, S. 10 f. 53 Ebd., S. 45.
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tum und dem Weltbürgertum gleichgesetzt wird, so wird, wie seit jeher in der Moderne, diesen Identitätsmüdigkeiten die Vitalität und die »Lebensfrische« der jungen »Generation« entgegengesetzt und die Wehrhaftigkeit echter Männer, die noch Wut haben. Der alte Gegensatz von Untergangsgeraune auf der einen und Vitalität und Wehrhaftigkeit auf der anderen Seite, wie er bereits in den Kriegsapologien um 1800 formuliert wurde, kehrt wieder. Die Wut gehört einmal mehr auf die Seite der Lebenskraft, sie antwortet auf die erlebte Handlungsentmächtigung und auf Grenzentzüge. Die Depotenzierung der eigenen erlebten oder auch phantasmatisch projizierten und diskursiv besetzten negativen Energiebilanz führt zu ›Wut‹. Als eine Art vormoderner Männlichkeitswahn von Verunsicherten ist diese Wut leicht zu durchschauen. Wut tendiert außerdem dazu, sich in ihrer Fixiertheit auf den Pol der eigenen energetischen Depotenzierung blind zu stellen gegen andere Perspektiven. Diese kognitiv einschränkende Perspektivität teilt die Wut mit allen anderen Emotionen, in der Wut wird sie allerdings besonders destruktiv. In diesem Sinne hat Heimito von Doderer die Wut als die »katastrophalste Form der Apperceptions-Verweigerung«54 bezeichnet. Das ist die eine Seite. Was aber wäre die andere Seite? Kann man sich für einen Moment fragen, ob die erheblichen Wutquanten, die sich hier artikulieren (bzw. mobilisiert werden), und zwar von jenen, die nicht immer schon rechtsextrem waren, auf etwas antworten, auf etwas zeigen, was, jenseits der in dieser Wut artikulierten konkreten politischen Inhalte, wert wäre, angeschaut zu werden? Es geht dabei nicht um Verständnis für rechtsextremen Fremdenhass und chauvinistischen Nationalismus, es geht vielmehr um die Frage, ob die Polarisierung, wie sie derzeit über die Sphären rechtsextremistischer Milieus weit hinausgeht, von beiden Seiten beobachtbar ist. Wenn von Neurechten Grenzen, Begrenzungen, Verteidigungen des Eigenen und Identifizierungsakte und -emotionen (wie Wut und thymos) eingeklagt werden und insbesondere jene bekämpft werden, die derlei Verteidigungen zugunsten von Vermischungen aller Art vermissen lassen, kann man dann in diesen Übertreibungen von ›rechts‹ nicht doch eine Art Seismographen für gewisse wunde Punkte sehen, deren diskursive und emotionale Abblendung ›von links‹ ebenfalls Teil des affektiven Gesamtsystems sind? Ist es nicht tatsächlich so, dass, wie Carlos Strenger sagt, »unserer Kultur die Fähigkeit verloren geht, die eigene Lebensform und ihre Werte argumentativ zu verteidigen«55 –
54 Heimito von Doderer: Die Merowinger oder die totale Familie. München: Biederstein 1962, S. 230. 55 Carlo Strenger: Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit. Berlin: Suhrkamp 2015, S. 12.
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Strenger bezieht sich hier konkret auf die durch die »Ideologie der politischen Korrektheit« unter Druck geratenen Prinzipien der Aufklärung, »den Geist der Kritik, das Beharren auf individueller Autonomie, die Ablehnung jeder Autorität, die sich weigert, sich vertraglich zu binden oder diskursiv zu legitimieren, und das Recht auf den ›aufrechten Gang‹« –, und dass folglich die »Verteidigung unserer Kultur an die politische Rechte outgesourct« wird?56 Eine solche Unfähigkeit der Linken sieht man etwa in den Schwierigkeiten, mit feministischer Kritik am Islam umzugehen. Statt hier eindeutig Stellung zu beziehen und die eigenen (feministischen) Werte zu verteidigen gegen das vom politischen Islam gebrauchte Verfügungsregime über den weiblichen Körper, sieht der moralisch korrekte Diskurs hier nur eine kolonialistische Kritik am Islam, die die kulturelle Identität von Moslems nicht ausreichend respektiere. Volker Weiß hat das in seinem Buch Die autoritäre Revolte: Die neue Rechte und der Untergang des Abendlandes mit eindrücklicher Deutlichkeit belegt und gezeigt, dass etwa die ägyptisch-amerikanische Feministin und Frauenrechtlerin Mona Eltahawy, die im Islam Misogynie sieht und verurteilt, von den Linken dafür des ›Imperialismus‹ geziehen wird. Hier sieht man deutlich, wie die Verteidigung des Eigenen (Selbstbestimmungsrecht der Frau, Rechtsstaatlichkeit, Gleichheitsgrundsatz etc.) von der dogmatischen Fixiertheit auf westliche Selbstkritik (Imperialismus, Kolonialismus etc.) blockiert wird. Dazu kommt ein Paradox der Linken im Umgang mit dem Konzept der kulturellen Identität selbst. Während man selbst einem Identifizierungstyp mit der eigenen ›Kultur‹ folgt, der durch Dekonstruktion und die Kritik am phallogozentrischen Abendland eine maximale Distanz impliziert, will man den ›Anderen‹ dies aber gerade nicht zumuten oder zutrauen. Während man selbst jenseits der Identität ist, legt linke Identitätspolitik aber Identitäten von denen, die sie gegen Diskriminierung verteidigt, als unhintergehbar fest: »Diese Inkonsequenz einer Kulturkritik, die dem Anderen plötzlich naturhaft andichtet, was man selbst überwunden hat, schafft tatsächlich eine ›Wahrheit‹ des rechtspopulistischen Islamdiskurses.«57 Die Konzentration der ›Linken‹ auf die liberale Pluralisierung von Minderheitsrechten und die Vielfalt von kulturellen Identitäten statt auf soziale Gleichheit hat mit zu der Lage geführt, in der sich heute Kosmopoliten und Kommunitarier gegenüberstehen und sich gegenseitig verachten. Statt Verachtung bräuchten wir
56 Ebd., S. 17 f. 57 Volker Weiß: Die autoritäre Revolte. Die neue Rechte und der Untergang des Abendlandes. Stuttgart: Klett-Cotta 2017, S. 256.
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vermutlich wieder mehr Dialektik, etwa eine Dialektik der Grenze,58 eine Dialektik des Nationalstaats59 und auch eine Dialektik des Populismus.60
5
SCHLUSS
Versteht man Wut als Alarmsystem von negativen Energiebilanzen und als Beobachtungssystem der asymmetrischen Verteilung von Handlungsmacht, dann kann sie, jenseits der (berechtigten) Verurteilung und Ablehnung ihrer politischen Instrumentalisierung, als Symptom lesbar gemacht werden, das demokratietheoretische Relevanz hat. Wenn Wut die eigenen Energiebilanzen bewacht und damit das ›Eigene‹ und seine Begrenzungen als Bedingungen der eigenen Handlungsmacht, dann meldet sich in der Wut ein Bedürfnis, das oberhalb privater Lebensschickale eine demokratisch-politische Dimension hat. Jenseits von der Diffamierung der Wutbürger einerseits und der neurechten Forderung nach mehr Wut auf die angeblichen Feinde der eigenen Identität andererseits sollte man nach Alternativen suchen. Die Theorie der Wut als Alarmsystem der eigenen identitätskonstituierenden Energie und die vielen Wutreden, die dieses Muster bestätigen, lehren, dass offenbar massenhaft negative Energiebilanzen vorhanden sind und/oder propagandistisch noch verstärkt werden. In der Wut meldet sich – als Alarmsystem für die eigene Handlungsmacht – ein Bedürfnis, das zu den Dekonstruktionen und Dezentrierungen der Moderne, der Globalisierung, der Individualisierung etc. insgesamt quer steht. Handlungsmacht und positive Energiebilanzen bleiben aber auch unter Bedingungen der Moderne, vermutlich mehr denn je, Bedürfnisse, die sich weder durch moralische Belehrungen seitens der identitätsdezentrierten Kulturweltbürger noch auch durch entpolitisierende Appelle an die Unausweichlichkeit von zukünftigen Entwicklungen wegkurieren lassen werden. Die Wut, die angesichts von erlebten Asymmetrien in der Verteilung von Handlungsmacht Alarm schlägt, ist neben allem anderen immer auch eine Mahnung an das antagonistische Prinzip des Politischen selbst. Sie ist eine Mahnung daran, dass gehandelt wird, so oder anders – und daran, dass alle Behauptungen von Handlungsohnmacht und Zwangsläufigkeit Standpunkte behaupten, die Macht ausüben, indem sie Handlungsmacht entziehen.
58 Konrad Paul Liessmann: Lob der Grenze: Kritik der politischen Unterscheidungskraft. Wien: Zsolnay 2012. 59 Bröning: Lob der Nation. 60 Chantal Mouffe: Für einen linken Populismus. Berlin: Suhrkamp 2018.
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Hassen im Modus bürgerlicher Etikette? Wie rechte Aktivisten den Islam ›rational‹ kritisieren Aletta Diefenbach
1
EINLEITUNG
Im politischen Diskurs stehen Differenzmarkierungen von Kollektiven als ›anders‹ meist in einem engen Zusammenhang mit Fragen der Macht. Denn sie eröffnen den Raum, um Menschen und bestimmte Gruppen in ihrer Gleichwertigkeit infrage zu stellen, sie ungleich zu behandeln oder ihren Ausschluss zu rechtfertigen. Differenz zu markieren und abzuwerten haben daher oft die Funktion, Hierarchien und Machtverhältnisse zu stabilisieren. Solche Ideologien der Ungleichwertigkeit1 wandeln sich im historischen Verlauf und haben sich nach den Erfahrungen des Holocausts und im Einklang mit modernen Gleichheits- und Freiheitsvorstellungen semantisch neue Figuren gesucht. Da insbesondere biologistische Narrative von einer angeblichen Existenz unterschiedlicher Rassen heute nicht mehr als legitim erscheinen, wird das Andere heute ethnisiert oder kulturalisiert. Als »Rassismus ohne Rassen«2 stehen dann kritikwürdige Verhal-
1
Wilhelm Heitmeyer: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und erste empirische Ergebnisse. In: Deutsche Zustände. Folge 1. Hg. v. dems. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 15–36.
2
Étienne Balibar: Gibt es einen Neo-Rassismus? In: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. Hg. v. dems. und Immanuel Wallerstein. Hamburg: Argument 1990, S. 23–38.
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tensweisen nicht mehr explizit für Rasse, sondern werden auf Kultur, Ethnie oder Religion festgeschrieben und auf diese Weise »naturalisiert«.3 Vor diesem Hintergrund zeigen sich gegenwärtig mit neuer Brisanz die Gefahren des öffentlichen Sprechens über ›Kultur‹. Im Zuge transnationaler Migration sind rechts-nationalistische Bewegungen aufgekommen und die Erfolge ihrer Parteien führen eindringlich die anhaltende Sogkraft vor Augen, welche Alteritätserzählungen des Anderen und Fremden4 für Gesellschaftsmitglieder entfalten können. Als symbolischer Träger fungiert heute hierbei insbesondere der Islam, der einen resonanzfähigen Imaginationsraum für problembehaftete Differenz schafft und als verdichteter Code das Übel repräsentiert.5 Differenz zwischen einem ›Wir‹ und den anderen zu markieren, drückt als soziale Beziehung auch stets Affekte und Emotionen aus. So sind die wüsten Parolen gegenüber Muslimen, etwa von Politkern als spitzfindig inszenierte Tabubrüche, bekannt. Sie zirkulieren auch auf Demonstrationen wie bei PEGIDA,6 in besonders scharfer Weise im Internet7 und finden sich mittlerweile auch durch Redebeiträge der rechts-nationalistischen Oppositionspartei der Alternative für Deutschland (AfD) in Bundestagsdebatten wieder. Analysen zeigen zudem, wie Organisationen hetzerische Aufwiegelungen über Religion strategisch produzieren.8 Fortwährende
3
Vgl. Eduardo Bonilla/Tyrone A. Forman: ›I Am Not a Racist But ...‹: Mapping White College Students’ Racial Ideology in the USA. In: Discourse & Society 11 (2000), H. 1, S. 50–85.
4
Zygmunt Bauman: Making and Unmaking of Strangers. In: Thesis Eleven 43 (1995),
5
Vgl. Yasemin Shooman: »... weil ihre Kultur so ist«. Narrative des antimuslimischen
6
Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Franziska Kunz und Tino Schlinzig: PEGIDA –
H. 1, S. 1–16. Rassismus. Bielefeld: transcript 2014. Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und »Wende«-Enttäuschung? Analysen im Überblick. Bielefeld: transcript 2016. 7
Vgl. Christian Schütte: Zur Funktion von Hass-Zuschreibungen in Online-Diskussionen. Argumentationsstrategien auf islamkritischen Websites. In: Hassrede/Hate Speech. Interdisziplinäre Beiträge zu einer aktuellen Diskussion. Hg. v. Jörg Meibauer. Gießen: Gießener elektronische Bibliothek 2013, S. 121–142. http://geb.uni-giessen.de/geb/ volltexte/2013/9251/pdf/HassredeMeibauer_2013.pdf (05.01.2019).
8
Vgl. Cherian George: Hate Spin. The Twin Political Strategies of Religious Incitement and Offense-Taking. In: Communication Theory 27 (2017), S. 156–175. Vgl. Aletta Diefenbach/Christian von Scheve: ›Islamisierung des Abendlandes‹. Zur Struktur der Angst vor dem Islam als mobilisierende Emotion im Rechtspopulismus. In: Politik mit Gefühl – Vom Umgang mit Gefühlen und anderen Kleinigkeiten im Feld
Hassen im Modus bürgerlicher Etikette? | 169
und ansteigende körperliche Gewalt dokumentiert schließlich die extremste Form von Feindseligkeit, wobei sich auch immer wieder zeigt, wie Sprache und Kommunikation physische Gewalt vorbereiten.9 Drohen, Dämonisieren, Diffamieren oder aggressive Handlungen drücken offen die Aversion gegenüber als ›anders‹ markierten Menschen aus und werden daher als Hass und Menschenfeindlichkeit gewertet. Hass ist ein vielschichtiges Phänomen. Mit Georg Simmel gesprochen liegt ihm aber charakteristischerweise ein interpretativer Akt von erlebter Feindschaft zugrunde, in der sich die, zumeist unfreiwillig eingegangene, soziale Beziehung als Gefahr für das Eigene darstellt.10 Hass als performative Handlung zielt dann darauf, den Gegner abzuwehren, zu schädigen, verletzen oder im Extremfall zu vernichten.11 Feindschaft und damit einhergehende affektive Aufladungen treten aber nicht nur exzessiv, pejorativ und aggressiv auf. Ebenso wie biologistischrassistische Denkfiguren heute kaum noch explizit zu den Selbstbildern vieler Bürger gehören, gilt es als unsittlich und für den öffentlichen Diskurs untauglich, Minderheiten feindselig zu begegnen und sie grobschlächtig herabzuwürdigen. Daher vollziehen sich ausschließende Sprechweisen auch in affektiven Registern und Darstellungsformen, die auf Verbalattacken verzichten und sich in der Nähe einer für die demokratische Meinungsbildung wichtigen Möglichkeit der Kritik an kulturellen Erscheinungen verorten wollen. Insbesondere gegenwärtige kulturrassistische Diskurse und damit einhergehende konventionalisierte Sprechweisen sind hierfür ein Beispiel.12
von Politik und politischer Bildung. Hg. v. Anja Besand, Bernd Overwien und Peter Zorn. Berlin: Bundeszentrale für politische Bildung 2019 (im Erscheinen). 9
Vgl. Karsten Müller/Carlo Schwarz: Fanning the Flames of Hate: Social Media and Hate Crime. SSRN 2018. https://ssrn.com/abstract=3082972 (11.12.2018).
10 Vgl. Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin: Duncker & Humblot 1968. 11 Auseinandersetzungen über die Eigenmächtigkeit von Sprache, wie sie insbesondere in den Debatten um Hassrede stattfinden, verweisen auch auf die verletzende Wirkung von Sprechweisen. Hass manifestiert sich daher auch als Gewalt durch Sprache, die nicht mit einem korrespondierenden Gefühlsleben oder Intentionen der Sprecherin einhergehen müssen. Vgl. insbesondere Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006. 12 Vgl. auch Monika Schwarz-Friesel: »Dies ist kein Hassbrief – sondern meine eigene Meinung über Euch!« – Zur kognitiven und emotionalen Basis der aktuellen antisemitischen Hass-Rede. In: Meibauer (Hg.): Hassrede/Hate Speech, S. 143–164. Vgl. Teun
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Zu einem solchen affektiven Register der »kühlen« und »ungerührten« Aversion13 gehört auch das Phänomen der sogenannten »Islamkritik«,14 wie sie sich in der nachfolgenden antimuslimischen Redeweise über die Gefahr einer ›Islamisierung‹ darstellt. Sie stammt aus Gruppeninterviews mit Basisaktivisten aus der neurechten Szene.15 Legt man in diesen kollektiv erzeugten Gesprächsverläufen die Perspektive auf die diskursiven Elemente der Konstruktion von Wirklichkeit und Emotionalität,16 die sich als gemeinsame Muster über alle Interviews hinweg finden, dann drückt sich in ihrer ›Islamkritik‹ eine ambivalente Semantik und Affektivität aus, die versucht den Islam zu problematisieren, ohne dabei Feindseligkeiten zu kommunizieren.
2
»DIE VORANSCHREITENDE ISLAMISIERUNG«
Die Vorstellung einer Bedrohung durch den Islam basiert zunächst darauf, die Existenz von unterschiedlichen Kollektiven anzunehmen. In den Gruppendiskussionen funktionierte solch eine Differenzsetzung über Staatsbürgerschaft, Kultur
van Dijk: Racist Discourse. In: Routledge Encyclopedia of Race and Ethnic Studies. Hg. v. Ellis Casmore. London: Routledge 2003, S. 351–355. 13 Vgl. Jürgen Brokoff/Robert Walter-Jochum: Hass und Verachtung aus literaturwissenschaftlicher Sicht. In: Emotionen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. v. Hermann Kappelhoff u. a. Stuttgart/Weimar: Metzler 2019 (in Vorbereitung). 14 Vgl. Floris Biskamp: Orientalismus und demokratische Öffentlichkeit. Antimuslimischer Rassismus aus Sicht postkolonialer und neuerer kritischer Theorie. Bielefeld: transcript 2016. 15 Darunter waren drei Ortsgruppen der bewegungsaffinen Partei Alternative für Deutschland, eine westdeutsche Gruppe der vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften Jugendorganisation der Identitären Bewegung und eine Lokalgruppe des bundesweit agierenden Protestbündnisses PEGIDA. Die Interviews wurden 2017 mit dem Ziel geführt, die Bedeutung von Religion für Gruppenbildungen in der rechten aktivistischen Szene zu erhellen. Um Fragen zur religiösen Identität kontextualisieren zu können, zielte die Fragestrategie auch darauf, politische Anliegen allgemein und die eigene Verortung im sozio-politischen Raum offenzulegen. Die Interviews wurden vollständig transkribiert und mit hermeneutischen Verfahren der rekonstruktiven Sozialforschung analysiert. Vgl. Ralf Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung: Einführung in qualitative Methoden. Oplanden: Leske & Budrich 2003. 16 Vgl. Peter Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M.: Fischer 2003.
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und Religion. Dazu riefen die Basisaktivisten eine Vielzahl von liberalen bis kulturellen Bezügen und Kategorien auf. Sie verorteten sich selbst dabei zuvorderst als Mitglieder eines politischen Gemeinwesens. Hauptbezugspunkt war hierfür die national konnotierte Kategorie der Bundesrepublik Deutschland und damit verbunden die Wertschätzung für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Dies verdeutlicht anschaulich eine Reaktion von Armin aus einer ostdeutschen AfDOrtsgruppe. Als die Gesprächsteilnehmer in der Gruppe darüber diskutierten, was es bedeutet, deutsch zu sein, zog er das Grundgesetz aus seiner Tasche, nannte es »unsere Bibel« und las jenen Artikel vor, der die deutsche Staatsbürgerschaft regelt. Und er schloss mit den Worten: Und damit hab’ ich jede Diskussion … wenn Sie jetzt sagen: […] »[Das] steht [zwar] auf dem Papier so und das ist ja nichts wert oder ich hab’ da andere Auffassungen.« Dann sind wir auf unterschiedlichen Welten. Das ist hier das viel beschriebene Deutsche. Basta. Einigkeit.17
Das Zitat lässt auf einen für Armin affektiv aufgeladenen Moment schließen, der den hohen Wert und die absolute Gültigkeit des deutschen Grundgesetzes für Armin zum Ausdruck bringt. Das Grundgesetz als ordnungsgebende Instanz für politische Fragen ist für ihn nicht hinterfragbar und dessen Unverhandelbarkeit stellt für ihn eine Grenze des Sagbaren dar. Zugehörigkeit zum politischen Eigenen entscheidet sich für ihn strikt durch Staatsbürgerschaft. Damit rekurriert er auf ein liberales Prinzip von Zugehörigkeit. Neben diesem Selbstverständnis, das sich mit dem Bezug auf die Verfassung innerhalb einer liberal-demokratischen und rechtsstaatlichen Tradition verortet, wurde das Eigene aber auch als Kultur,- Werte- und zivilisatorische Gemeinschaft imaginiert.18 Hauptreferenzen waren die Sprache, Geschichte, Europa, das Christentum und die gemeinsame wirtschaftliche Leistung, wobei sich diese Werte- und Kulturgemeinschaft nicht immer klar bestimmen ließ, wie das Zitat von Denis von den Identitären dokumentiert. DENIS: Also man wirft uns immer vor: Ja, Nationalstolz. Das ist viel komplexer bei uns, […] das ist quasi wie ’n Zwiebelprinzip. Man hat die Familie, man hat die Dorfgemein-
17 Unterstreichungen in den transkribierten Zitaten stehen für Betonungen, Auslassungspunkte stehen für Pausen, in eckigen Klammern stehen sie für Kürzungen und Wörter in eckigen Klammern dienen der besseren Verständlichkeit. 18 Auffällig war, dass über alle Gesprächsverläufe hinweg nur ein Redebeitrag bei den Identitären explizit mit einer Referenz auf Hautfarbe auf eine somatische Charakterisierung für das Eigene zurückgriff. Dieser Redebeitrag war jedoch nicht anschlussfähig.
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schaft, man hat da verschiedene regionale Dialekte. Für mich gibt’s auch gar nicht: Das ist ’ne genuin deutsche Kultur, [die] Deutschen, das gibt’s für mich halt auch gar nicht. […] Dann natürlich das Nationale, wir haben auf jeden Fall ’ne eigene Geschichte, die Sprache, aber eben auch Europa.
Denis weist einen unreflektierten Rekurs und Stolz auf das Nationale zurück, um Zugehörigkeit und Gemeinschaft zu bestimmen. Vielmehr erkennt er die dynamischen Elemente, Varianz und verschiedenen Bezüge kollektiver Zugehörigkeit an, was er als »Zwiebelprinzip« beschreibt. Dieses politische und kulturelle Gemeinwesen nahmen die Aktivisten jedoch als »geschwächt« wahr. Nach ihrer Wahrnehmung hat eine Mehrheit des Kollektivs den Wert der Kultur für das Politische verloren und ist sich ihrer Fragilität nicht ausreichend bewusst. In dieser Hinsicht zeichneten die Gesprächsverläufe ein Bild vom Eigenen, das von Krisen und dem Verlust des Identitären und damit einhergehend dem Zerfall des Politischen zeugt. Gründe hierfür sahen sie in der Geringschätzung eigener Traditionen, durch »Egoismus«, Orientierung am »Konsum«, Materialismus und Hedonismus, durch verkrustete Strukturen und Intransparenz in der politischen Elite, durch Sozialabbau und letztlich durch einen Lebensstil, der demografisch das politische Gemeinwesen dezimiert. Vor diesem Hintergrund ist aus der Sicht der Aktivisten die eigene liberalkulturelle Gemeinschaft einer »Islamisierung« ausgesetzt. Hierbei wird die andere Seite des ideologischen Grundsatzes von der Existenz unterschiedlicher Kulturkollektive wirksam. Den »Deutschen« steht das kollektive »muslimische Andere« durch numerische Größen, Relationen und damit einhergehende Möglichkeiten der Machtgewinnung »gegenüber«. Für die Interviewten vollzieht sich demzufolge derzeit eine kaum noch steuerbare und mit hoher Gewissheit einsetzende Verschiebung von Mehr- und Minderheitenverhältnisse zugunsten des Kulturkollektives »der Muslime«. Diese zahlmäßige Machtverschiebung erfolgte in den kollektiven Deutungen durch zwei gesellschaftliche Entwicklungen: durch die Zuwanderung sowie durch den zukünftigen demografischen Wandel. In den Interviews trat stellvertretend für die Zuwanderung vor allem der Umgang der deutschen Regierung mit der »Flüchtlingskrise« von 2015 als verdichteter Bezugspunkt mit hohem Affizierungspotenzial hervor, wie diese Passage aus der Diskussion mit Aktivisten von PEGIDA verdeutlicht: HARALD: Und das andere ist die schiere Masse, die durch die Öffnung der, oder die Offenhaltung der Grenze, muss man ja sagen, die war ja schon [vor der Fluchtbewegung 2015] offen, man hat sie nur nicht geschlossen dann. Nach dem Motto: Da können wir nix machen, was sollen wir machen. Und damit ist eine Zunahme von Muslimen hier. Und ir-
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gendwann wird’s die schiere Masse sein. […] Niemand hat behauptet, dass von heute auf morgen jetzt ’ne Islamisierung schlagartig kommt. Die kommt schrittweise und über Verschiebungen von Machtverhältnissen. Und das ist meine Befürchtung. ELISABETH: Ist ja schon über die Jahre. Greift ja immer mehr Raum.
Harald äußert eine Kritik an der »Offenhaltung der Grenzen«, die es in seinen Augen ermöglicht, unkontrolliert nach Deutschland einzuwandern. Durch die semantische Verknüpfung von Zuwanderung mit dem Islam und die Vorstellung von einer »schieren Masse« erfolgt für ihn ein relationaler Machtgewinn von »Muslimen« gegenüber dem eigenen Kollektiv. »Schrittweise« und »über Jahre« »Raum greifend«, wie es Harald und ihm zustimmend Elisabeth formulieren, erfolgt daher die »Islamisierung«. Diese zeitliche Dimension war ein weiterer wichtiger Bezugspunkt in den Diskussionen über die Vorstellung von sich ändernden Kultur- und Machtverhältnissen. Wenngleich die Anzahl der Neuen gegenwärtig bisher nur fragmentarisch den eigenen »Raum« besetzt, so machte in den Diskussionen der demografische Wandel als weitere gesellschaftliche Großentwicklung die Islamisierung gewiss. Demgemäß kehre der demografische Wandel für sie in Zukunft die Mehr- und Minderheitenverhältnisse als statistisch gesicherter Fakt um. Dieses Zukunftsszenario veranschaulicht ein Wortwechsel aus dem Interview mit den Identitären, bei welchem Nils den demografischen Wandel zunächst ansprach und Denis ihm mit folgenden Worten zu Hilfe sprang: DENIS: Also, wir haben ca. achtzig Millionen Einwohner. Siebzig […] Also so sechzig Millionen sind jetzt so genuin sach’ ich mal Deutsche, und zwanzig Millionen sind halt Immigranten. Wir haben eine Fertilitätsrate, bei den deutschen Frauen, vom Jahrgang 1974 bis 1992 von 0,2, währenddessen im Durchschnitt muslimische Frauen eine von 3,1 haben. Das heißt, das wird schon an vielen deutschen Großstädten – also in Frankfurt ist das glaube ich schon umgekippt, also da gibt’s jetzt schon über fünfzig Prozent Migranten – und, wenn man sich heute den demografischen Wandel anguckt, dann haben wir halt noch ’ne viel größere Mortalitätsrate und wir haben also noch mehr Einwanderung durch Flüchtlinge. So, und wenn wir das weiterrechnen, wenn das so bleibt, und das sind jetzt die schönen Zahlen, dann sind wir ab 2040 glaub’ ich schon, … ein bisschen später vielleicht, sind wir Minderheit im eigenen Land auf jeden Fall. Und das wird immer so weitergehen. Und die 0- bis 15-Jährigen, da sind wir schon lange die Minderheit. NILS: Ja, äh […] also auf jeden Fall wird sich was ändern.
Denis trägt in dieser Passage eine ganze Reihe von Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung vor. Darin teilt er die Bevölkerung in zwei Kategorien, »Deutsche« und
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Andere, die wahlweise »Immigranten« oder »muslimisch« sind. Er zitiert daraufhin unterschiedliche Fertilitätsraten von »deutschen« und »muslimischen Frauen«, Mortalitätsraten sowie weitere Faktoren, welche die Entwicklung zwischen »genuin« Deutschen und den Anderen bestimmt. Auf Grundlage dieser biologistisch anmutenden Interpretation und einer nach seinem Dafürhalten konservativen Schätzung kommt er zu dem Schluss, dass sich in weniger als dreißig Jahren die kulturellen Mehr- und Minderheitenverhältnisse statistisch gesehen umkehren würden: »Minderheit im eigenen Land«. Nils schließt die Passage, indem er Denis’ Prognose mit dem Hinweis auf eine sich ändernde Bevölkerungsentwicklung zusammenfasst.
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MUSLIME ALS POTENZIELLE BEDROHUNG FÜR DAS GEMEINWOHL
Der Idee der Islamisierung liegt also zunächst die Vorstellung von dauerhaft kulturell unterschiedlichen und zahlenmäßig unterschiedlich starken Kollektiven von »Deutschen« und »Muslimen« zugrunde, die sich in einem politischen Verbund gegenüberstehen, wobei sich durch Zuwanderung und höhere Geburtenraten die Machtverhältnisse schrittweise zugunsten der »Muslime« ändern. Aus der Sicht der Aktivisten birgt diese relationale Verschiebung »Probleme«, wie die nachfolgende Interaktion in dem Interview mit Aktivisten von PEGIDA verdeutlicht. MARKUS: Also ich möchte mal was sagen. Es wird hier, eigentlich von allen [Teilnehmenden], immer sehr, sehr stark auf den Islam abgestellt. Das ist sicher auch ’n wichtiges Thema, auch für mich. Aber es ist nicht ausschließlich der Islam. HUBERT: Eben. ELISABETH: (unverständlich) MARKUS: Also, Masseneinwanderung aus dem Orient oder aus Afrika lehne ich ab, ja. Nicht nur wegen des Islam. Aus Afrika kommen noch andere. Das ist für mich nicht das ausschließliche Thema, sondern die Massenzuwanderung aus völlig inkompatiblen Kulturen. ELISABETH: Ja. MARKUS: Eben wie gesagt, Orient, Afrika, sind dann die Haupt- (1 Sek Pause) -herkunftsländer. Ich hab’ mit Engländern und Franzosen, Italienern überhaupt keine Probleme. Aber diese Leute machen uns Probleme. Nicht, nicht nur wegen des Islam. ELISABETH: Richtig, ja, ja.
Markus fasst in diesem Wortwechsel die vorangegangenen Redebeiträge zusammen und möchte diese präzisieren. Zwar stimmt er wahrgenommenen
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Schwierigkeiten in Verbindung mit dem Islam zu. Er stellt dann aber heraus, worin für ihn das eigentliche Problem liegt, wofür er Zustimmung von den anderen erhält: Es ist die »Massenzuwanderung aus völlig inkompatiblen Kulturen« aus dem »Orient« und aus »Afrika«. Ablehnungswürdig ist also zunächst nicht per se der Islam oder die Zuwanderung, so sei etwa Einwanderung aus westeuropäischen Gesellschaften unproblematisch. Vielmehr gehe es im Kern um eine »kulturelle« Differenz, die unvereinbar mit dem Eigenen sei und zu Problemen führe. Auch wenn Markus in dem Zitat diese Unvereinbarkeit nicht allein im Islam sieht, war die Religion in den Diskussionen dennoch die Hauptreferenz, um die wahrgenommenen »Probleme« zu thematisieren. In dieser Hinsicht wurden in den Gruppendiskussionen dem als muslimisch markierten Kollektiv Eigenschaften zugeschrieben, die in ihrer Struktur zwei semantische Merkmale aufwiesen: Zum einen erkannten die Interviewten innerhalb des Kollektivs der »Muslime« Verhaltensweisen von öffentlichem Charakter, die eine negative Auswirkung auf das Gemeinwohl hatten. Diese wurden zum anderen als in dem Kollektiv überproportional anzutreffende Verhaltensweise beschrieben. Durch diesen evaluativen Charakter ging von der Gruppe eine mehrfache, »potenzielle« Bedrohung im Sinne einer Gefahr für das Eigene aus, welche sich wiederum mit der zunehmenden Präsenz von Muslimen mit hoher Wahrscheinlichkeit verschärfen würde. Dieses »Risiko«, wie es Martin von PEGIDA an einer Stelle im Interview beschrieb, setzte sich wiederum aus drei Formen negativer Klassifikationen19 zusammen. Zum einen lässt sich aus den Gruppeninterviews eine Vielzahl solcher Vorurteile und Stereotype über Muslime zu einem Topos bündeln, welcher im Kern zu der Einschätzung kommt, muslimische Gläubige hätten Schwierigkeiten, demokratische Bürger und Teil des politischen Gemeinwesens, seiner Institutionen und etablierten Prozeduren zu sein. So wurden etwa historische oder theologische Denkfiguren aufgerufen, beispielsweise eine vermeintlich geschichtlich ausgebliebene Aufklärung in muslimischen Gesellschaften oder die muslimische Rechtsordnung der Scharia, welche die Unvereinbarkeit mit dem deutschen Grundgesetz veranschaulichen sollten. Ebenso galten Verweise auf autokratische Regime in muslimisch geprägten Gesellschaften als ein Beleg für die Wahrscheinlichkeit einer fehlenden demokratischen Gesinnung von Muslimen. Mit diesen Vorstellungen über eine politische Inkompatibilität war daher nicht allein
19 Vgl. Sighard Neckel/Ferdinand Sutterlüty: Negative Klassifikationen. Konflikte um die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit. In: Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft. Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration. Hg. v. Wilhelm Heitmeyer und Peter Imbusch. Wiesbaden: VS Verlag 2005, S. 409–428.
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die Idee verbunden, dass Muslime den politischen Prozess beeinflussen könnten. Vielmehr war damit die Sorge verbunden, Muslime könnten, sobald sie eine numerische Mehrheit stellten, die jetzige rechtsstaatliche Ordnung durch demokratische Verfahren in ein nach islamischen Normen geprägtes Herrschaftssystem umwandeln. Darüber hinaus diskutierten die Interviewten kulturelle Gepflogenheiten im öffentlichen Leben, welche das friedliche gesellschaftliche Miteinander stören würden. Hierzu riefen sie insbesondere Stereotype über Geschlechterrollen im Islam auf, etwa die Vorstellung von der Benachteiligung von Frauen, die sich in einem geforderten getrennten Schwimmunterricht für Schulmädchen äußern würde. Zuletzt findet sich in den kollektiven Deutungen noch ein drittes Themenfeld von negativen Zuschreibungen, welches in seiner semantischen Grundfigur den Schluss zulässt, insbesondere zugewanderte Muslime bedrohten die physische Unversehrtheit und das materielle Wohlergehen der eigenen Gruppe. Dazu zirkulierten in den Diskussionen Einschätzungen zu den Gefahren des islamistischen Terrors, medial vermittelte Geschichten über Gewalttaten, Vergewaltigungen bis hin zu Daten, die höhere Kriminalitätsraten insbesondere von männlichen muslimischen Einwanderern und Geflüchteten belegen sollten. Darüber hinaus, wenngleich in weit weniger hohem Ausmaß, traten kollektiv geteilte Vorstellungen hervor, wonach Muslime den Sozialstaat ausnutzen würden. Zusammenfassend zeichnen diese negativen Auswirkungen der »Islamisierung« für die Aktivisten eine Verschärfung der bereits existierenden krisenhaften gesellschaftlichen Verhältnisse, eine Entwicklung, die sich in den Worten der Diskussionsteilnehmerin Elisabeth aus der Gruppe von PEGIDA als »zunehmende Überfremdung« anfühle und in deren Zuge sie »nicht selber muslimisch werden müssen« wolle, »weil es dann an [ihr] Leben ginge«. Interpretative Akte einer existenziellen Bedrohung, wie sie bei Elisabeth exemplarisch zum Ausdruck kommen, stellen diskursiv die Möglichkeit in den Raum, die affektive Beziehung gegenüber als fremd markierten Menschen nicht allein als sorgenvoll oder skeptisch zu werten, sondern diese auch in Semantiken der Gegnerschaft mit weitaus stärkeren aversiven Gefühlen auszudrücken. In dieser Hinsicht war die kollektive Kommunikation über die »muslimischen« Gefahren jedoch in allen Interviews von dem Bemühen geprägt, diskursiv präzise zwischen Angst, Skepsis und Sorge und solch einem möglichen Feindschaftserlebnis zu unterscheiden. So begann etwa das Interview mit der süddeutschen AfD-Ortsgruppe mit der affirmativen Selbstdarstellung von Klaus über sein Gefühlsleben. »Ich bin kein Nazi oder so (lacht), Ausländerhasser, was weiß ich (lacht). Ich habe viele Freunde, die aus dem Ausland kommen, auch einige muslimische (lacht). Nur, dass Sie mich oder uns jetzt hier nicht falsch verstehen, ja.« Nicht aus intensiven Gefühlen der Abneigung, so gibt Klaus bekannt, speist sich seine skeptisch-
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ablehnende Haltung gegenüber dem Islam, vielmehr liegen ihr Gründe und Phänomene außerhalb seines affektiven Erlebens zugrunde.
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KRITIK IM MODUS DER ALLGEMEINGÜLTIGKEIT
Um solch einem Bild der ideologisch gefestigten Islamfeindlichkeit entgegenzuwirken, waren die Erzählungen über die »Islamisierung« daher von weiteren semantischen Figuren und rhetorischen Mitteln begleitet. Sie ließen die geäußerten Deutungen zum Islam und über Muslime nicht per se als aversiv und ablehnend erscheinen, sondern als behutsam geäußerte Kritik, die sich um Präzision hinsichtlich verschiedener Erscheinungsformen des Islam bemüht. Auf diese Weise konnten sich die Sprecher als »rational« urteilende Bürger präsentieren und wahrnehmen. Demgemäß erfuhren nur solche Handlungsweisen innerhalb des muslimischen Kollektivs eine kritische Prüfung, die in liberal-demokratischen Gesellschaften allgemein keine bis wenig Zustimmung erfahren. Mit ihrer Sorge um eine mögliche Demokratieunfähigkeit beriefen die Sprecher sich etwa auf säkulare und rechtsstaatliche Prinzipien. Die Rede von der Benachteiligung von Frauen im Islam reibt sich wiederum an den gesellschaftlich weit verbreiteten und rechtlich verankerten Normen von individuellen Freiheitsrechten. In diesem Sinne gilt etwa, dass diejenigen, die eine Teilnahme ihrer Töchter am schulischen Schwimmunterricht kategorisch ablehnen, deren Recht auf individuelle Entfaltung und Selbstbestimmung beschneiden. Ebenso artikulieren die Wahrnehmung eines zerfallenden Sozialstaates und die Möglichkeit eines ungerechtfertigten Sozialhilfetransfers eine Kritik, die sich nicht willkürlich an einer bestimmten Lebensweise stört, sondern die sich aus meritokratischen und bedürfnisorientierten Gerechtigkeitsvorstellungen über einen fairen sozialen Ausgleich speist. Zuletzt verweist das von dem muslimischen Kollektiv ausgehende Gewaltpotenzial auf das rechtsstaatlich verankerte Recht auf physische Unversehrtheit. Durch den Rekurs auf solche allgemein abzulehnenden Verhaltensweisen sprechen die Interviewten einer kulturellen Minderheit also nicht prinzipiell ihre Existenzberechtigung ab. Die in den Interviews vollzogene öffentliche Anprangerung des Islam verortet sich für sie nicht in einer unbegründeten Aversion gegenüber einer partikularen Gruppe. Die Kritik bewegt sich vielmehr in einem Modus des normativen Konsens und der Allgemeingültigkeit, denn die Verhaltensweisen würden auch in der »eigenen Gruppe« als problematisch klassifiziert
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werden.20 Die öffentliche Artikulation von allgemein anerkannten Gefahren für das gesellschaftliche Miteinander macht daher aus ihrer Sicht ihre »Islamkritik« zu einem legitimen Sprechakt im demokratischen Diskurs. So stellt beispielsweise Andreas von den Identitären klar, dass ihre Kritik nicht pauschal dem Islam gilt, sondern: »[Sie] bezieht sich natürlich in erster Linie auf das, was wir im Moment hier von den negativen Folgen des Islam haben.«
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DEKONSTRUKTION DER IMAGINIERTEN GRUPPENEXISTENZEN
Neben der Einschränkung ihrer Kritik allein auf Fehlverhalten, das rechtlich sanktioniert wird und (in ihren Augen) allgemein soziale Missbilligung erfährt, gehörten noch eine Reihe weiterer Relativierungen zu ihrem rhetorischen Repertoire. Negative Kollektivzuschreibungen, wie sie das skizzierte Bedrohungsszenario durch eine religiöse Minderheit bereithält, haben gegenüber jenen, die sich dem Islam zugehörig fühlen, einen pauschalisierenden und damit diskriminierenden und potenziell verletzenden Effekt. Dessen waren sich auch die Interviewten bewusst und hoben daher als gegenläufige Strategie die Heterogenität von kollektiver Zugehörigkeit hervor. Ein Beispiel hierfür ist diese Interaktion zwischen Martin und Harald von PEGIDA: MARTIN: Da sind kulturelle Einstellungen [bei afrikanischen und arabischen Eingewanderten] vorhanden. Und ich muss nicht hundert Jahre alt werden, um zu wissen, wie Türken ticken, ja. Also, dass die uns belügen und hinters Licht führen und, und, und, und – HARALD: – Wenn man uns, wenn man uns gerne ja Rassismus unterschiebt, und wenn jetzt sowas kommt wie »Wir wissen, wie Türken ticken«: Natürlich wissen wir auch, dass es Unterschiede gibt – MARTIN: – Ja, klar, natürlich. HARALD: – bei Türken.
Martin spricht hier wieder die Zuwanderung aus nichteuropäischen Staaten an und stellt die Gefahren dar, die von »Türken« ausgehen. Aus seiner Sicht sind sie keine Bevölkerungsgruppe, die sich durch Integrität auszeichnet und der man Vertrauen schenken kann. Der Vorwurf von unlauterem Verhalten drückt klar eine abwertende Semantik aus. Martin möchte weitersprechen, doch Harald unterbricht ihn und
20 Vgl. Ferdinand Sutterlüty: In Sippenhaft. Negative Klassifikationen in ethnischen Konflikten. Frankfurt a. M.: Campus 2010.
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interveniert mit einer Interpretation, die der pauschalisierenden Redeweise gegenüber Türken entgegenwirken soll. Er erkennt in Martins Deutung eine rassistische Aussage und möchte solch einen Vorwurf entkräften, indem er die Darstellung über Türken relativiert. Stellvertretend für die ganze Gruppe der Aktivisten von PEGIDA stellt er klar, dass sie auch Unterschiede von Menschen türkischer Herkunft wahrnehmen, was Martin wiederum sogleich affirmiert. Nachdem bestimmten Menschengruppen also pauschal eine negative Verhaltensform zugeschrieben wurde, die auf eine starke Aversion gegenüber einer ganzen Gruppe hinweisen könnte, wurde das Bild einer in sich homogenen Minderheit verworfen und als rhetorische Gegenstrategie die Vielfalt und Individualität von Personen herausgestellt. Negative Gefühle kanalisieren sich damit kommunikativ wiederum nur auf diejenigen, die sich durch ein kritikwürdiges Fehlverhalten auch für eine Abwertung qualifizieren. Wie bereits vorab dargelegt, impliziert die Vorstellung einer »Islamisierung« darüber hinaus die Annahme, unterschiedliche Gruppenexistenzen würden sich unvereinbar und durch eine unveränderbare Differenz gegenüberstehen. Solche kollektiven Kulturalisierungen haben einen naturalisierenden Effekt, was wiederum als diskriminierend erfahren werden kann. Daher folgten auf solch kommunizierte Unvereinbarkeiten als weitere rhetorische Strategie Hinweise auf die Dynamik, den Konstruktionschararkter und die Wandelbarkeit von Gemeinschaften – sowohl mit Blick auf die eigene Gruppe als auch jene, die als anders markiert wurden. Damit drückten die Interviewten ihre prinzipielle Offenheit gegenüber Differenzen aus. Sie erfahren ihre Akzeptanz auch bis zu dem Punkt, bis zu dem sie ein Zusammenleben aus ihrer Sicht nicht negativ beeinträchtigen. Armin und Frieder aus der ostdeutschen AfD-Ortsgruppe formulieren diese Unterscheidungsleistung ihrer Kritik wie folgt: ARMIN: Jeder ist uns willkommen, jeder der […] sagt: »Menschenskinder, natürlich mach’ ich mit. Meine Kinder gehen in den Kindergarten. Ja, also Schwimmunterricht – na selbstverständlich gehen wir zum Schwimmunterricht. Ja, nur so geht das doch. Und nicht anders. FRIEDER: – weil [das] zur Regelschulpflicht [gehört].
Armin bringt hier zum Ausdruck, dass er Zuwanderung nicht prinzipiell ablehnt und Fremde nicht per se als anders begreift. Vielmehr formuliert er an sie eine Haltung, die notfalls auch mit der Bereitschaft von Assimilation einhergehen sollte, um auf diese Weise ein Zusammenleben zu gewährleisten, das sich nicht durch Segregation, sondern durch ein Miteinander auszeichnet. Er veranschaulicht diese Forderung am Beispiel von Erziehungsfragen. Wer demgemäß die Teilnahme an öffentlichen Errichtungen und schulischen Angeboten verweigert,
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tut dies nicht aufgrund von unveränderbaren Gewohnheiten, sondern aufgrund einer bewussten Entscheidung, sich den Konformitäten und Normen der Aufnahmegesellschaft nicht anpassen zu wollen. Rhetorische Strategien der Dekonstruktion von Homogenität und Unveränderbarkeit zielen daher darauf, Kollektive nicht als unweigerlich oppositionell erscheinen zu lassen. Ihrer Angst oder Skepsis liegt demnach kein geschlossenes Feindbild gegenüber dem Islam zugrunde, was auf affektiver Ebene den Effekt erzielt, ihre Kritik und Aversion nur gegen jene Personen zu richten, welche allgemeine Gepflogenheiten und Werte für ein gelingendes Miteinander missachten.
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ABWERTUNG MIT DISKURSIVER WERTSCHÄTZUNG KONTERKARIEREN
Wenngleich in den Gruppendiskussionen an manchen Stellen die Idee von homogenen Gruppen verworfen wurde, sollten wiederum in einer anderen rhetorischen Strategie Essenzialisierungen gerade dem Eindruck einer pauschalen Aversion entgegenwirken. So erkannten die Interviewten auch pauschal Verhaltensweisen an dem muslimischen Kollektiv, die sie wertschätzten und bewunderten. Andreas von den Identitären teilte solch eine positiv besetze Affektivität gegenüber Muslimen mit den folgenden Worten: ANDREAS: […] Zum Islam [und der Bedrohung] … es gibt den [Publizisten] Stocker, […] der hat geschrieben: Er sieht die Bedrohung des Abendlandes nicht im Kopftuch, sondern in der Jogginghose. – alle lachen – ANDREAS: Und, ey, natürlich habe ich [als gläubiger Katholik] mit ’nem gläubigen Moslem größere Schnittmengen als mit dem, dem Egoisten äh, öh im Prenzlauer Berg [in Berlin], wenn das ist, wo die wohnen.
Andreas fühlt sich als Katholik einem gläubigen Muslim näher als Personen, die er dem eigenen Kollektiv zurechnet, wofür er exemplarisch »Egoisten« aus Berlin nennt. Geringschätzung erfährt in diesem Zitat von Andreas daher nicht der »Andere«, der zwar anders aufgrund seiner Religion ist, aber nicht anders aufgrund seiner religiös motivierten Wert- und Weltvorstellungen. Verurteilt werden von Andreas vielmehr jene, die das eigene Kollektiv durch fehlende Solidarität und Gemeinnützigkeit schwächen. Dies erkennt er in egoistischen Verhaltensweisen und einem Leben in der »Jogginghose«, die hier wohl als Metapher für eine fehlende Orientierung am Gemeinwohl interpretiert werden kann.
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Wertschätzung gegenüber Muslimen, mit denen zudem auch ein Gefühl der eigenen Minderwertigkeit oder Schwäche zum Ausdruck kommt, dokumentiert ein Dialog zwischen Sina, Arthur und Damian von der süddeutschen AfD-Ortsgruppe: SINA: In vielen Dingen find’ ich das auch, also leben die auch ihr Leben viel konservativer, gerade jetzt Türkinnen, die ich kenne. Oder haben auch Werte, wo ich sage, hier können wir uns auch echt mal ’ne Scheibe abschneiden. ARTHUR: Sind oft auch noch gesunde Familien SINA: Ja! ARTHUR: nicht gleich geschieden SINA: Nee ARTHUR: und sonst was, muss man auch sehen. DAMIAN: Weil die halt eben auch diesen Patriotismus leben, gell. SINA: Ja also da gibt’s vieles, wo ich sag’: Na, da haben die uns einiges voraus. Aber deswegen halt diese Gefahr, jetzt nicht bei denen, die ich so kenn’, aber eben doch den Islam, der dann letztendlich …
Sina räumt ein, dass sie stellvertretend an den »Türkinnen« aus ihrer Arbeit Eigenschaften des anderen Kollektivs erkennt, die sie an dem eigenen vermisst, was sie als Defizit kommuniziert. Sie spricht von »konservativen Werten«, welche Arthur und Damian anhand eines traditionellen Familienlebens und eines gelebten Patriotismus konkretisieren. Sina schließt diese Passage, indem sie zwei verschiedene Affekte zum Ausdruck bringt: Zum einen äußert sie erneut ihre Bewunderung gegenüber ihren türkischen Bekannten, zum anderen bleibt dennoch eine gewisse Skepsis gegenüber dem Islam als Glaubenssystem. Trotz dieses unguten Gefühls, das Sina hier mitkommuniziert, zielen solche kollektiven Bezeugungen der Wertschätzung darauf, den Eindruck abzuwenden, man würde pauschal negative Gefühle gegenüber einer bestimmten Gruppe hegen.
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WISSENSCHAFTLICHKEIT ALS WAHRHEITSREGIME
Solche spekulativen und subjektiven Empfindungen, wie sie Sina äußerte, waren daher in den Diskussionen die Ausnahme. Vielmehr lag die wichtigste Strategie der »Islamkritik« darin, die vorgebrachten Argumentationen und Realitäten über die drohende »Islamisierung« durch autorisierende Wissensformen im Bereich des Objektiven und Faktischen zu verorten. Wenn also persönliche Erfahrungen geteilt wurden, erhielten sie in den Diskussionen erst ihre Gültigkeit, indem sie durch Referenzen auf Wissenschaftlichkeit als »Fakten« abgesichert wurden.
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Hierbei waren es neben Statistiken, etwa zu Kriminalitätsraten oder dem demografischen Wandel, auch Expertenanalysen, die der Interpretation Legitimität verleihen sollten. Klaus und Arthur aus der süddeutschen AfD-Ortgruppe zeigen diese Deutungsweise auf. KLAUS: Ich seh’ einfach Entwicklungen. Und das ist ja nicht so, dass wir die erfinden, oder dass es Fantasien sind, sondern wenn man guckt, die Geschichte der letzten (2 Sekunden Pause) Jahre, Jahrzehnte, dann kann man sehen, wie der Islam sich ausbreitet, und wie er, wie er sich manifestiert. Also […], von Marokko bis Pakistan, Bangladesch, Indonesien, ist ja der real existierende Islam [zu beobachten]. Und da […], der ist nicht gleich, da gibt’s ganz, ganz, ganz viel Unterschiede. Aber es gibt dann doch auch ganz viel Ähnlichkeiten. Ja, also, die Rechte der Frauen sind mehr oder weniger, also gut, in SaudiArabien noch ’n bisschen mehr als eingeschränkt als woanders, aber es ist doch so, dass als Indikator […], wie viel jüdische Gemeinden gibt’s denn in diesen Ländern, von Marokko bis Pakistan? ARTHUR: Und was passiert mit Christen, die abfallen (unverständlich)? KLAUS: Und was passiert mit Muslimen, die abfallen vom Glauben? Und so weiter. Es gibt einfach Dinge, die kann man messen. Da muss man gar nicht erfinden oder [sich] ängstigen, sondern man kann einfach gucken, man geht hin, misst es, man misst die Entwicklung, die Ausbreitung des Islams, nach Süden, in Afrika, als Beispiel nur. […] Aber ich will damit nur sagen, also, da darf man sich natürlich schon fragen, würde ich gerne unter ’nem marokkanischen Islam leben, oder ’nem indonesischen, oder saudi-? Da gibt’s schon noch ’ne Palette. Aber keine, die ich wählen würde, und keine, die irgendwas mit unserem Wertesystem zu tun hat. Und von daher, was jetzt gerade in Frankreich stattfindet, eben dass die Juden nicht mehr sicher in Paris leben, das findet jetzt hier auch statt. Das sind einfach knallharte Fakten. Und die Juden haben Angst, also und. Solang ich hier noch die Möglichkeit seh’, mich zu engagieren, hab’ ich’s, tu’ ich’s.
Klaus stellt in diesem längeren Zitat klar, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen und Problemlagen, die er mit Blick auf den Islam wahrnimmt, nicht von subjektiven Eindrücken und Empfindungen geprägt sind oder gar erfunden (»Fantasien«) seien. Vielmehr bezieht er seine Schlussfolgerungen über den Islam als kulturell problematisches Phänomen aus differenzierten Analysen von »messbaren« und daher real existierenden Verhältnissen, die von seiner regionalen Ausbreitung über muslimischen Antisemitismus und Frauendiskriminierung bis hin zu einer fehlenden Religionsfreiheit reichen. Auch in der Diskussion mit der Gruppe der Identitären waren Wissenschaftlichkeit und Objektivität ein wichtiger Referenzpunkt, um ihre Kritik am Islam zu formulieren:
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CHRIS: Natürlich, wenn man sowas sagt, […] dann meint man natürlich nicht jeden. Aber es gibt gewisse Tendenzen in einem bestimmten Kollektiv, die einfach schon dahin gehend etwas zeigen. Natürlich sind nicht alle Flüchtlinge Vergewaltiger und Mörder, Terroristen, was weiß ich. Aber es ist schon erstaunlich, dass, wenn solche Fälle ans Licht kommen, dass es halt komischerweise sehr oft Flüchtlinge sind, dass halt einfach überproportional diese Gruppe bei den Tätern präsent ist. Und das kann man irgendwann auch nicht mehr leugnen. Das hat ja auch nichts mit Hass oder Rassismus zu tun, wenn du Fakten ansprichst. Fakten können nicht rassistisch sein!
Chris arbeitet in dieser Deutung wieder mit der Vorstellung von unterschiedlichen Kulturkollektiven. Zwar relativiert er zunächst seine pauschale Kritik gegenüber dem imaginierten Kollektiv von Zugewanderten, stellt dann aber dennoch heraus, dass von ihm ein hohes Gewaltpotenzial auszugehen scheint. Diese Einschätzung entspringt aber nicht aus seinen eigenen negativen Gefühlen gegenüber diesem Kollektiv (»Hass«), die Bedrohung ist vielmehr ein »Fakt«, der aufgrund seiner Objektivität keine verzerrte Sicht auf eine Minderheit darstelle.
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FAZIT
In der vorgestellten Redeweise von rechten Aktivisten begegnet man einer Vielzahl von kollektiven Deutungsmustern, welche ihre Haltung gegenüber wahrgenommenen gesellschaftlichen Verhältnissen zum Ausdruck bringen sollte. In dieser kollektiven Selbstpositionierung artikuliert sich als zentrale gesellschaftliche Herausforderung eine drohende und bedrohliche »Islamisierung«, die ihre öffentliche Kritik am Islam rechtfertigen soll. Um dieses Anliegen hervorzubringen, war es für sie wichtig, auch die damit vermittelte Affektivität zu moderieren. Diese Art des »Identitätsmanagements« (Goffman) war von einer ganzen Reihe von sich widersprechenden kommunikativen Mechanismen gezeichnet. Kollektiven Abwertungen qua Religionszugehörigkeit oder Herkunft standen affektive Aufwertungen gegenüber. Argumentationsketten bauten auf als homogen imaginierten Gruppen auf, die austauschbar als türkisch, afrikanisch, migrantisch oder muslimisch bezeichnet wurden, um sie dann an andere Stelle wieder aufzulösen. Aussagen relativierten die Interviewten als selektiv, präsentierten sie dann in einem anderen Zusammenhang jedoch als gesicherte »Fakten«. Ihre antimuslimische Erzählung über eine »Islamisierung« war dabei von einer Wortwahl und Tonalität geprägt, die auf starke Diffamierungen verzichtete und von Distanzierungsleistungen gegenüber subjektiven Empfindungen zeugte. Im Ergebnis sollte diese wenngleich in ihren semantischen Bezügen ambivalente Redeweise
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Rationalität, Objektivität, Sachlichkeit, Ausgewogenheit und demokratische Legitimität vermitteln. Diese kommunikativen Stützen verhinderten daher auch, die diagnostizierte Bedrohung als tiefsitzende Aversion, als »Hass« gegenüber anderen Menschen erscheinen zu lassen. Diese Formen des kollektiven Interpretationsaktes verweisen auf das ideologische und affektive Dilemma, das die Redner während der Gruppendiskussionen offenbar austrugen: Auf der einen Seite war ihnen bewusst, dass sie durch die imaginierte Bedrohung der Islamisierung eine Minderheit symbolisch abwerteten. Gleichzeitig lag ihnen daran, zentrale Normen des gegenwärtigen politischen Diskurses, wie Gleichheit, Freiheit, Toleranz sowie eine diskriminierungsfreie Rede für sich zu beanspruchen. Im Ergebnis artikulierte sich ihre Haltung gegenüber dem Islam daher zwischen einer Rhetorik der Inklusion und Exklusion, die letztlich Misstrauen, Sorgen und »Befürchtungen« artikulierte. Der Islam blieb für sie daher trotz erheblichen Wohlwollens verdächtig, stand er aus ihrer Sicht doch im Zusammenhang mit Verhaltensweisen, die sie als nonkonformistisch empfanden.21 Diese Spielart der Ablehnung des Fremden im Register einer rationalen Affektivität steht gegenwärtig neben weitaus affektiver aufgeladenen Hassreden, die in rechtsextremen bis rechtspopulistischen Kreisen zirkulieren und als Vorurteile, Stereotypen und Ängste bis tief in die Mitte der Gesellschaft reichen.22 Die dazugehörigen Deutungsangebote zwischen klar verschwörungstheoretischen und eher polarisierenden und pauschalisierenden »Fakten« über den Islam oder »die Muslime« produzieren dabei nicht allein explizit fremdenfeindlich eingestellte Öffentlichkeiten, sondern finden sich auch im medialen Mainstream und bei etablierten Parteien.23 Öffentlich Praktiken zu problematisieren, die liberal-rechtsstaatlichen Prinzipen zuwiderlaufen, ist für die demokratische Meinungsbildung essenziell. Doch liegt die Grenze zwischen legitimer Kritik und islamfeindlichem Sprechen nah beieinander. Denn soziale Konflikte mittels Kultur und der Figur des Frem-
21 Vgl. Monika Wohlrab-Sahr: Die libertäre Migrantin und der frauenfeindliche Imam. Der Islam in deutschen Talkshows zwischen Devianz und Nonkonformismus. In: Devianz und Dynamik. Festschrift für Hubert Seiwert zum 65. Geburtstag. Hg. v. Edith Franke, Christoph Kleine und Heinz Mürmel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, S. 219–241. 22 Vgl. Gert Pickel/Alexander Yendell: Islam als Bedrohung? Beschreibung und Erklärung von Einstellungen zum Islam im Ländervergleich. In: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 10 (2016), H. 3/4, S. 273–309. 23 Vgl. Ruth Wodak: Politik mit der Angst. Wien: Edition Konturen 2016.
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den oder Anderen zu codieren, steht meist in einem engen Zusammenhang mit Fragen der Macht, Intoleranz und Etabliertenvorrechten. Misstrauen, Verdacht und Sorgen gegenüber den »integrationsunwilligen« Fremden verschieben heute den rassistischen Diskurs von Semantiken der biologischen oder zivilisatorischen Überlegenheit hin zu Rechtfertigungen, in denen der Fremde aufgrund seiner kulturellen »Stärke« die krisenhafte eigene kulturelle Identität in ihrem angestammten Territorium bedroht (Ethnopluralismus). Historisch betrachtet setzen sich diese Artikulationen zwar von dem politischen »Hass« auf Fremde und Andere ab, wie sie etwa während der Befreiungskriege gegenüber Franzosen24 und später zur Zeit des Nationalsozialismus gegenüber Juden öffentlich propagiert wurden. Als »apokalyptisches Angstbild« operiert das Islamisierungsnarrativ dennoch mit Zukunfts- und Argumentationsfiguren, die auch aus dem Antisemitismus bekannt sind und die an geschichtlich tradierte Mythen und Codes des kolonialen Orientalismus anschließen.25
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24 Vgl. den Beitrag von Jürgen Brokoff über Hass und Nation in den Schriften des Dichters und Publizisten Ernst Moritz Arndt in diesem Band. 25 Yasemin Shooman: Zur Debatte über das Verhältnis von Antisemitismus, Rassismus und Islamfeindlichkeit. In: Antisemitismus und andere Feindseligkeiten. Interaktionen von Ressentiments. Hg. v. Katharina Rauschberger und Werner Konitzer. Frankfurt a. M.: Campus 2015, S. 154.
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Wie ansteckend ist Hassrede? Normative Kausalität bei der Strafbarkeit affektiven Sprechens Jonas Bens
Die Hilfsmittel, mit denen im Frühjahr 1994 in Ruanda mehr als 800 000 Angehörige der Tutsi-Minderheit ermordet wurden, waren denkbar einfach – Macheten, Knüppel, einige wenige Gewehre. Doch das wohl wichtigste Instrument des Genozids war das RadioTelevision Libre des Mille Collines (RTLM).1
Dieser Satz stammt aus einer Presseankündigung für das Theaterstück Hate Radio, mit dem der Schweizer Theatermacher Milo Rau den bewaffneten Konflikt in Ruanda verarbeitet, im Zuge dessen es zu einem Völkermord der ethnischen Mehrheit der Hutu an der ethnischen Minderheit der Tutsi kam.2 Raus künstlerischer Zugriff auf das Geschehen in Ruanda besteht in der Nachstellung einer Radiosendung während des bewaffneten Konflikts, in der Hassrede performiert wird. Hate Radio repräsentiert damit eine in der historischen Rezeption verbreitete Vorstellung, dass gerade beim Völkermord in Ruanda die über das Radio gesendete Hassrede ein zentraler Faktor für die Eskalation des Konflikts gewe-
1
Brut Wien: IIPM – International Institute of Political Murder: Hate Radio. http://archiv.brut-wien.at/programm/detail/796/de/index.html (11.01.2019).
2
Eine umfassende historische Aufarbeitung des Ruanda-Konflikts bietet Gerard Prunier: The Rwanda Crisis: History of a Genocide. New York: Columbia University Press 1998. Eine politisch-anthropologische Perspektive hat Mahmood Mamdani: When Victims Become Killers: Colonialism, Nativism, and the Genocide in Rwanda. Princeton: Princeton University Press 2001.
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sen sei.3 Im Internationalen Straftribunal für Ruanda, das in den 1990er-Jahren Verbrechen im Zusammenhang mit dem Völkermord verhandelte, spielten diese Propagandastraftaten auch eine bedeutende Rolle. Ein wichtige Referenz für die strafrechtliche Rechtsprechung zur strafbaren Hassrede ist der dort verhandelte Nahimana-Fall, der auch »media case« genannt wird.4 Die Vorstellung vom kausalen Zusammenhang von performierter Hassrede und Gewaltakten bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Überlegungen. Dazu sind zunächst einige Ausführungen über die Strafbarkeit der Hassrede, besonders im internationalen Strafrecht, zu machen, um auf dieser Basis zu den entscheidenden Problemen der Kausalität zu kommen. Dabei kommt es darauf an, juristische, rhetoriktheoretische, sprechakttheoretische und affekttheoretische Überlegungen miteinander ins Gespräch zu bringen. Es ist das Anliegen dieses Aufsatzes, herauszustellen, dass die Frage der Kausalität des affektiven Sprechens im Kern ein normatives Problem ist – eine Fokussierung, die in der anhaltenden Diskussion um die Angemessenheit der Strafbarkeit affektiven Sprechens nicht immer ausreichend Berücksichtigung findet.
HASSREDEDELIKTE IM INTERNATIONALEN STRAFRECHT UND IHRE KAUSALITÄTSPROBLEME Hassrede ist zunächst eine bestimmte Form des affektiven Sprechens. Die linguistische Anthropologie beschreibt mit Affekt jene Dimension des Sprechens, in der der/die Sprecher*in dem Sprechakt seine/ihre Gefühle beilegt.5 Dies können
3
Das vielleicht meistgelesene als journalistische Reportage angelegte Buch über den Ruanda-Konflikt legt ebenfalls einen starken Schwerpunkt auf die Rolle von Hassrede über das Radio: Philip Gourevitch: Wir möchten Ihnen mitteilen, daß wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden. Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 1999.
4
International Criminal Tribunal for Ruanda, The Prosecutor v. Nahimana et al. (Media case): ICTR-99-52.
5
Bei der linguistischen Anthropologie handelt es sich um einen Teilbereich der Sozialund Kulturanthropologie. Traditionell wird dieser als ein Teilbereich der Vier-FelderAnthropologie (four field anthropology) US-amerikanischer Prägung aufgefasst. Zur Geschichte der linguistischen Anthropologie siehe Jacqueline Holzer: Linguistische Anthropologie: Eine Rekonstruktion. Bielefeld: transcript 2005. Obwohl soziolinguistische Forschungen in Deutschland disziplinär stärker von den Sprachwissenschaften und der Soziologie dominiert sind, gibt es auch in Deutschland linguistisch anthropologische Forschungen, schwerpunktmäßig in der Sozial- und Kulturanthropologie der
Wie ansteckend ist Hassrede? | 191
Sprecher*innen einerseits auf semantischer Ebene tun, etwa durch den Gebrauch von Emotionswörtern. Zum anderen wird Affekt aber auch durch paralinguistische Äußerungen wie Mimik, Gestik, Prosodie, Intonation usw. ausgedrückt. Die affektive Dimension des Sprechens verweist in besonderer Weise auf die Schnittstelle zwischen Sprecher*in und Zuhörer*in. Bei der Hassrede geht es damit nicht etwa nur um die Gefühle des/der Sprecher*in, sondern auch um die Gefühle derer, zu denen er/sie spricht. Denn eingeschrieben in den soziolinguistischen Affektbegriff ist die Idee, dass der/die Sprecher*in durch affektives Sprechen den/die Zuhörer*in bewegt (affiziert) – und zwar unabhängig davon, ob dies von dem/der Sprecher*in auch beabsichtigt ist. Insofern ist das affektive Sprechen als ein sozialrelationales Geschehen aufzufassen, innerhalb dessen das Sprechen als soziale Praxis erscheint und die Gefühle aller beteiligten Akteure relevant sind. Gerade weil alle diskursiven Praktiken, insbesondere Praktiken des öffentlichen Sprechens, eine affektive Dimension haben, und zwar unabhängig davon, ob es auf semantischer Ebene Emotionen zum Inhalt hat, werden durch das Sprechen permanent bestimmte Stimmungen und Gefühle vermittelt und die Stimmungen und Gefühle von Zuhörer*innen beeinflusst.6 Das macht das Sprechen zu einer potenziell gefährlichen Angelegenheit, weil es in Zuhörer*innen Gefühle und Stimmungen wecken kann, die als nicht wünschenswert gelten, und sie wiederum zu nicht wünschenswertem Handeln anstiften kann. Es gibt daher in allen menschlichen Gesellschaften das Phänomen, dass bestimmtes affektives Sprechen vermieden, tabuisiert, unterdrückt, gar verboten wird. Solche Sprechverbote finden sich in mehr oder weniger starker Ausprägung in allen Rechtsordnungen – in staatlichen Rechtsordnungen nicht selten als Gegenstand des Strafrechts. Das internationale Strafrecht ist keine Ausnahme. Hassrededelikte gehören bereits in den frühesten Kanon des internationalen Strafrechts. Der erste und bekannteste Fall dieser Art war der Prozess gegen Julius Streicher, den Gründer und Herausgeber der nationalsozialistischen Wo-
Amerikas, der sogenannten Altamerikanistik. Für einen einführenden Überblick in die linguistische Anthropologie siehe: Laura Ahearn: Living Language: An Introduction to Linguistic Anthropology. Malden: Wiley Blackwell 22017. Umfassende Überblicke über das Forschungsfeld von Affekt und Sprache in der linguistischen Anthropologie finden sich bei: Niko Besnier: Language and Affect. In: Annual Review of Anthropology 19 (1990), H. 1, S. 419–451; Bonnie McElhinny: The Audacity of Affect: Gender, Race, and History in Linguistic Accounts of Legitimacy and Belonging. In: Annual Review of Anthropology 39 (2010), H. 1, S. 309–328. 6
Vgl. Besnier: Language and Affect, S. 437.
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chenzeitschrift Der Stürmer, vor den Nürnberger Militärtribunalen.7 Streicher wurde wegen seiner Publikationen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt. Seitdem hat es immer wieder internationale Strafprozesse gegeben, in deren Zentrum Hassrede im Kontext bewaffneter Gewalt gestanden hat: sowohl bei den beiden großen UN-Tribunalen der 1990er-Jahre, dem Jugoslawien- und dem Ruanda-Tribunal, wie auch beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), der 2003 seine Arbeit aufgenommen hat.8 Vor dem IStGH sind in letzter Zeit Straftaten im Zusammenhang mit den Ausschreitungen nach der vorletzten Präsidentschaftswahl in Kenia verhandelt worden. Dort stand es in Rede, dass politische Akteure, etwa auch Medienvertreter*innen, durch den Aufruf zum Hass ihre Zuhörer*innen dazu gebracht hätten, Gewalt anzuwenden.9 Als internationale Hassrededelikte im engeren Sinne kann man diejenigen Straftaten bezeichnen, in denen bestimmte Sprechakte selbst unter Strafe gestellt sind. Bei diesen Delikten kommt es nicht darauf an, ob sich die Zuhörer*innen auch tatsächlich durch den Hass anstecken lassen und physische Gewalt anwenden. Im internationalen Strafrecht gibt es nur ein echtes Hassrededelikt in diesem Sinne, nämlich die Aufstachelung zum Völkermord – ein Verbrechen, das auch vom IStGH verfolgt wird.10 Es ist keine Voraussetzung für die Strafbarkeit we-
7
Vgl. Wibke Kristin Timmermann: Incitement in International Criminal Law. In: International Review of the Red Cross 88 (2007), H. 864, S. 823–853, hier: S. 827–829.
8
Für einen rechtshistorischen Überblick siehe Richard Ashby Wilson: Incitement on Trial: Prosecuting International Speech Crimes. Cambridge: Cambridge University Press 2017.
9
In der Liste der Anklagepunkte gegen Joshia Arap Sang heißt es: »Mr. Sang, by virtue of his position within Kass FM as a key broadcaster, intentionally contributed to the commission of the crimes against humanity referred to above by: (i) placing his show Lee Nee Emet at the disposal of the organisation; (ii) advertising the meetings of the organisation; (iii) fanning the violence through the spread of hate messages explicitly revealing desire to expel the Kikuyus; (iv) broadcasting false news regarding alleged murders of Kalenjin people in order to inflame the atmosphere in the days preceding the elections; and (v) broadcasting instructions during the attacks in order to direct the physical perpetrators to the areas designated as targets.« International Criminal Court: The Prosecutor v. William Samoei Ruto, Henry Kiprono Kosgey and Joshua Arap Sang. Decision on the Confirmation of Charges Pursuan to Article 61(7)(a) and (b) of the Rome Statute. ICC-01/09-01/11, 23.01.2012, S. 131.
10 Art. III (c) Völkermordkonvention; Art. 25 III lit. e IStGH-Statut.
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gen Aufstachelung zum Völkermord, dass ein Völkermord im Kontext der Hassrede tatsächlich passiert.11 Es lässt sich aber auch zu einer Strafbarkeit von Hassrede kommen, ohne dass die Verletzung eines solchen speziellen Hassrededeliktes erforderlich ist. So kann der/die Sprecher*in der Hassrede an der Verwirklichung einer anderen Straftat, etwa bestimmter Gewaltdelikte, als Täter*in oder Teilnehmer*in beteiligt sein, wobei die Hassrede der Tatbeitrag ist. Hier kann es verschiedene Konstellationen geben. So kann man etwa durch Hassrede ein Verbrechen begehen, wenn es einen gemeinsamen Plan gibt, der vorsieht, dass einige die Gewaltakte ausführen und andere Hassrede betreiben, um die Tat zu ermöglichen.12 Es ist auch denkbar, dass man in anderen Gewalttäter*innen durch Hassrede den Entschluss hervorruft, Gewalt anzuwenden. Das ist dann besonders deutlich, wenn andere, die die physische Gewalt anwenden, durch die Hassrede gelenkt werden, etwa in Form militärischer Befehle.13 Auch ist vorstellbar, durch die Hassrede eine*n bereits zur Tat entschlossene*n Haupttäter*in psychisch bei ihrer/seiner Tat zu unterstützen, indem die Hassrede sie/ihn anfeuert oder bestärkt.14 Bei allen diesen Formen der Strafbarkeit der Hassrede, die eigentlich Täterschafts- und Teilnahmeformen zu Gewaltdelikten sind, muss ein Kausalitätsverhältnis zwischen dem Sprechakt der/des einen und der Anwendung von physischer Gewalt durch die/den anderen bestehen, um die Strafbarkeit zu begründen. Kern der strafrechtlichen Kausalitätslehre ist die Vorstellung einer logischen Kausalität im Sinne einer Bedingungsformel (conditio sine qua non). Danach ist eine Handlung für den Eintritt des Taterfolges kausal, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Taterfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele.15 Die Massengewalt dürfte also nicht stattgefunden haben, würde man sich die Hassrede hinwegdenken. Abgesehen von den damit im Zusammenhang stehenden strafrechtsdogmatischen Fragen, die unten noch genauer ausgeführt wer-
11 Die Volksverhetzung, die im deutschen Strafrecht in § 130 StGB normiert ist (übrigens im internationalen Vergleich eines der strengsten Hassrededelikte), ist auch ein solches echtes Hassrededelikt. Dort heißt es unter anderem im Gesetzeswortlaut in Absatz 2: »Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer […] zum Haß […] gegen Teile der Bevölkerung […] aufstachelt.« 12 Diese Konstellation wäre eine Mittäterschaft oder mittelbare Täterschaft gem. Art. 25 III lit. a IStGH-Statut. 13 Hierbei ginge es dann um eine Anstiftung gem. Art. 25 III lit. c IStGH-Statut. 14 Dabei würde es sich um eine Beihilfe gem. Art. 25 III lit. b IStGH-Statut handeln. 15 Vgl. Volker Erb: Die Zurechnung von Erfolgen im Strafrecht. In: Juristische Schulung 1994, S. 449–456, hier: S. 449.
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den, wirft die Notwendigkeit eines solchen Kausalitätsverhältnisses im Strafprozess erhebliche Beweisprobleme auf. Daher drängen Befürworter*innen der Bestrafung von Hassrede im internationalen Strafrecht darauf, genau zu prüfen, ob die/der Täter*in nicht schon ein echtes Hassrededelikt begangen hat – eben die Aufstachelung zum Völkermord.16 Denn dann muss eine Kausalität zu den Gewalttaten anderer nicht mehr bewiesen werden.17 Es wäre aber verkürzt zu meinen, dass bei dem speziellen Hassrededelikt der Anstachlung zum Völkermord die Kausalität zwischen Sprechakt und physischer Gewalttat vollständig abgeschnitten sei. Die Kausalitätsfrage haftet dem Delikt dennoch an, wenngleich in grundsätzlicherer Hinsicht. Aufstachelung zum Völkermord ist ja gerade als internationaler Straftatbestand geschaffen worden, weil eine Kausalität von Sprechakt und Völkermord typischerweise angenommen wird. In der deutschen Rechtssprache wird die Aufstachelung zum Völkermord als »selbstständiges Massengefährdungsdelikt« kategorisiert.18 Darin steckt die Vorstellung, dass durch das affektive Sprechen die Masse der Zuhörer*innen gefährdet wird, Völkermord zu begehen. Im echten Hassrededelikt wird die Kausalität zwischen Sprechakt und physischer Gewalt also typisiert und muss nur im Einzelfall nicht mehr nachgewiesen werden. Während sich das Kausalitätsproblem bei der strafbaren Hassrede oft ganz praktisch im Strafprozess stellt, ist die Frage bei den speziellen Hassrededelikten auf die theoretische und die rechtspolitische Ebene verschoben.
EMPIRISCHE UND KONZEPTUELLE PERSPEKTIVEN AUF DIE KAUSALITÄT VON HASSREDE UND GEWALT Die genannten Kausalitätsfragen betreffen den Bereich der sozialen Beziehungen zwischen Sprecher*in und Zuhörer*in. Daher liegt es nahe, danach zu fragen, was sich aus sozialwissenschaftlicher Sicht über den Kausalzusammenhang von
16 Eine Sammlung von Aufsätzen, die diese Stoßrichtung teilen, findet sich in: Predrag Dojčinović (Hg.): Propaganda, War Crimes and International Law: From Speaker’s Corner to War Crimes. Abingdon: Routledge 2012. 17 Eine Analyse der internationalen Strafrechtsprechung zeigt allerdings, dass in der gerichtlichen Praxis die dogmatische Unterscheidung zwischen echten und unechten Hassrededelikten verwischt. Stattdessen hat die Rechtsprechung regelmäßig auch bei Anstachelung zum Völkermord eine Kausalität zu physischen Gewaltakten geprüft, siehe Wilson: Incitement on Trial, S. 34 f. 18 Kai Ambos: Internationales Strafrecht. München: C. H. Beck 42014, S. 199.
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Sprechakten und der Anwendung physischer Gewalt sagen lässt. Bezüglich des zu Beginn angeführten Beispiels des ruandischen Völkermordes in den 1990erJahren sind einige sozialwissenschaftliche Studien zur Rolle von Hassrede im Radio bei der Massengewalt vorgelegt worden. Diese Untersuchungen sprechen eher gegen ein auch nur einigermaßen klares Kausalverhältnis.19 Zum einen gibt es Forschungen, die danach fragen, wer 1994 in Ruanda überhaupt ein Radio zur Verfügung hatte und diese Radiosendungen hören konnte. Obwohl das Radio im ländlichen Ostafrika nach wie vor das wichtigste Massemedium darstellt, ist die tatsachliche Durchdringung der ländlichen Bevölkerung mit Radiosendungen vermutlich weniger groß als etwa die des Fernsehens im urbanen Afrika.20 So zeigt sich auch für Ruanda, dass die entsprechenden Radiostationen, insbesondere RTLM, keineswegs flächendeckend sendeten und nur eine Minderheit der Täter überhaupt je eine solche Hassradiosendung gehört hat.21 Eine begleitende Interviewstudie deutet zudem darauf hin, dass diejenigen, die solche Sendungen verfolgten, die dort verbreitete Tutsi-feindliche Rhetorik nicht notwendigerweise auch internalisierten.22 Narrative Interviewstudien mit Täter*innen im Gefängnis haben Aussagen darüber untersucht, wie sie den Druck, Gewalt anzuwenden, erlebt haben und wodurch er aus ihrer Sicht motiviert war. Nur wenige geben die Radiosendungen als bedeutenden Faktor für ihre Motivation an, sondern verweisen überwiegend auf Gruppendruck innerhalb von Dorfgemeinschaften und Verwandtschaftsgruppen.23 In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird insbesondere hervorgehoben, dass es sich beim ruandischen Völkermord um eine intensiv geplante und gut organisiere Aktion gehandelt hat, im Zuge derer Hutu-Milizen nach strengen Vorgaben und vorbereiteten Strategien gehandelt haben. Radiosendungen waren im Rahmen dieser Strategien zwar ein wichtiges Instrument, könnten aber nicht als
19 Vgl. Wilson: Incitement on Trial, S. 17. 20 Einige vom Verfasser selbst erhobene Daten über die Outreach-Arbeit des IStGH in Norduganda deuten ebenfalls darauf hin, dass auf dem Land jedenfalls nicht so viel Radio gehört wird, wie allgemein angenommen wird. 21 Vgl. Scott Straus: What Is the Relationship Between Hate Radio and Violence? Rethinking Rwanda’s ›Radio Machete‹. In: Politics and Society 35 (2007), H. 4, S. 609– 637, hier: S. 622. 22 Vgl. ebd., S. 626. 23 Vgl. Charles Mironko: The Effect of RTLM’s Rhetoric of Ethnic Hatred in Rural Rwanda. In: The Media and the Rwanda Genocide. Hg. v. Allan Thompson. London: Pluto Press 2007, S. 125–135, hier: S. 129 f.
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Ursache der Massengewalt angesehen werden.24 Zwar gibt es auch Untersuchungen, die zu dem Ergebnis kommen, dass solche Radiosendungen die Gewalt während des Völkermordes signifikant erhöht hätten,25 doch auch diese gehen nicht so weit, dem Radio eine deutlich übergewichtige oder gar entscheidende Rolle zuzugestehen.26 Insbesondere über eine logische Kausalität im Sinne einer conditio sine qua non lässt sich aus dieser sozialwissenschaftlichen Forschung nur schwerlich etwas Verbindliches aussagen. Dennoch ist die Vorstellung, dass aus Hassrede Gewalttaten werden, weit verbreitet, wie sich nicht zuletzt an Milo Raus Hate Radio zeigen lässt. In der soziolinguistischen Forschung wird hier das Konzept der Sprachideologie (language ideology) relevant. Sprachideologie bezeichnet ein kulturelles (oder subkulturelles) System von Konzepten über soziale und sprachliche Beziehungen und die mit ihnen verknüpften moralischen und politischen Interessen.27 Untersuchungsgegenstand sind damit die zunächst unhinterfragten Grundannahmen, die Menschen über Sprache und den Zusammenhang von Sprache und sozialen Beziehungen teilen. Während also die Frage, wie sich öffentliche Rede auf das Handeln von Zuhörer*innen auswirkt, bereits an sich Gegenstand soziolinguistischer Forschung ist, gilt das gleichzeitig für die soziokulturell variablen sprachideologischen Systeme, die das Verhältnis von Wort und Tat im Alltagsverständnis konzeptualisieren. Aus soziolinguistischer Perspektive lässt sich zwar feststellen, dass viele Menschen in Europa wie in Afrika meinen, Hassrede führe zur Gewalt. Die Frage nach den sozialwissenschaftlichen Maßstäben für die Behauptung eines Kausalitätsverhältnisses ist damit freilich noch nicht beantwortet. Behandelt man das Problem der Kausalität von Hassrede und physischer Gewalt auf konzeptueller Ebene, ergeben sich ähnliche Probleme, wie sie in der empirischen Forschung zutage treten. Geht man zunächst sprechakttheoretisch an das Problem heran und bemüht hierzu die Sprechakttheorie J. L. Austins, lässt sich Hassrede als in drei Sprech-
24 Vgl. Richard Carver: Broadcasting and Political Transition: Rwanda and Beyond. In: African Broadcast Cultures: Radio in Transition. Hg. v. Richard Fardon und Graham Furniss. Oxford: James Curry 2000, S. 188–197, hier: S. 190 f. 25 Vgl. David Yanagizawa-Drott: Propaganda and Conflict: Evidence from the Rwandan Genocide. In: The Quarterly Journal of Economics 129 (2014), H. 4, S. 1947–1994. 26 Vgl. Wilson: Incitement on Trial, S. 53. 27 »Language ideology [… is] the cultural (or subcultural) system of ideas about social and linguistic relationships, together with their loading of moral and political interests.« Judith T. Irvine: When Talk Isn’t Cheap: Language and Political Economy. In: American Ethnologist 16 (1989), H. 2, S. 248.
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akte aufgespalten analysieren: in einen lokutionären Akt, einen illokutionären Akt und einen perlokutionären Akt.28 Die Äußerung des Satzes »Bringt den Abschaum um, sie haben es nicht anders verdient!« etwa stellt zunächst als lokutionärer Akt eine Handlung dar, die einen bestimmten Inhalt, eine bestimmte semantische Bedeutung, vermittelt und in die Welt setzt.29 Als illokutionärer Akt stellt der geäußerte Satz auch noch eine Handlung dar, die über die reine Äußerung einer bestimmten Information hinausgeht.30 Hier wird etwas befohlen; genauer gesagt wird ein Tötungsbefehl gegeben. Als perlokutionärer Akt stellt die Aussprache dieses Satzes eine Handlung dar, mit welcher der/die Sprecher*in etwas erreichen will, nämlich eine bestimmte Reaktion bei den Zuhörer*innen hervorzurufen.31 In diesem Fall geht es darum, die Hörer*innen zum Töten anzustacheln. Bereits an dieser Stelle zeigt sich die Nähe von Austins Begriff der Perlokution zum soziolinguistischen Begriff des Affekts, wie er oben eingeführt worden ist. Beim affektiven Sprechen schließt die/der Sprecher*in an die Gedanken und Gefühle seiner/ihrer Zuhörer*innen an.
28 Eine eingängige Erläuterung dieser Begriffe liefert Eike von Savigny: Analytische Philosophie. Freiburg: Alber 1970, S. 90 f. 29 »[Der Sprecher] äußert gewisse Geräusche, äußert gewisse Wörter in einer gewissen Konstruktion, und er äußert sie mit einer gewissen ›Bedeutung‹ im üblichen philosophischen Sinne, d. h. es ist von etwas die Rede und darüber wird etwas gesagt. Diese gesamte Handlung, ›etwas zu sagen‹ nenne – d. h. taufe – ich den Vollzug eines lokutionären (locutionary) Aktes […].« John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart: Reclam 1972, S. 112. 30 »Einen lokutionären Akt vollziehen heißt im allgemeinen auch und eo ipso einen illokutionären (illocutionary) Akt vollziehen […] wie etwa: eine Frage stellen oder beantworten; informieren, eine Versicherung abgeben, warnen; eine Entscheidung verkünden, eine Absicht erklären; ein Urteil fällen; berufen, appellieren, beurteilen; identifizieren oder beschreiben; und zahlreiche derartige Dinge […] d. h. einen Akt, den man vollzieht, indem man etwas sagt, im Unterschied zu dem Akt, daß man etwas sagt.« Austin: Sprechakte, S. 116 f. 31 »Wenn etwas gesagt wird, dann wird das oft, ja gewöhnlich, gewisse Wirkungen auf die Gefühle, Gedanken oder Handlungen haben; und die Äußerung kann mit dem Plan, in der Absicht, zu dem Zweck getan worden sein, diese Wirkungen hervorzubringen. […] Das Vollziehen einer solchen Handlung wollen wir das Vollziehen eines perlokutionären (perlocutionary) Aktes nennen […].« Austin: Sprechakte, S. 118 f.
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Diese Vorstellung vom affektiven Anschluss an das Publikum findet sich bereits bei Aristoteles in seinen Abhandlungen zur Rhetorik.32 Aristoteles behandelt die Lehre von den Affekten beim öffentlichen Sprechen in seinem zweiten Buch und sieht das affektive Sprechen als zentrale Strategie, Zuhörer*innen zu überzeugen.33 Dabei steht für Aristoteles im Vordergrund, dass der/die Redner*in die Gefühlslagen seiner/ihrer Zuhörer*innen kennen muss, um überzeugend zu wirken.34 Die Lehre von den Affekten handelt Aristoteles also im Wesentlichen unter der Überschrift der Zuhörerpsychologie ab.35 Sowohl der sprechakttheoretische Zugang als auch derjenige der aristotelischen Rhetorik zeigen das konzeptuelle Grundproblem bei der Kausalität der Hassrede. Während der lokutionäre und der illokutionäre Aspekt im Sprechakt selbst liegen, und mithin auch von dem/der Sprecher*in beeinflusst werden können, liegt der Vollzug des perlokutionären Aspekts außerhalb des Einflusses der/des Sprecher*in. Was der Sprechakt bei der/dem Hörer*in erreicht, ob sie/er den Sprechakt tatsachlich als Tötungsaufruf versteht, liegt eben auch im Zugriffsbereich der/des Hörer*in. Aus der Sicht der aristotelischen Rhetorik gilt das Gleiche. Die Wirkung der Hassrede ist von psychologischen Faktoren abhängig, die jedenfalls ebenso stark beim Publikum liegen wie bei dem/der Redner*in. Beide Ansätze, die man als Spielarten eines soziolinguistischen Affektbegriffs bezeichnen kann, haben gemeinsam, dass sie affektives Sprechen im Wesentlichen als eine Handlung denken, die der/die Sprecher*in ausführt und die dann in den Zuhörer*innen wirksam wird oder nicht. Jüngere Ansätze aus den
32 Aristoteles: Rhetorik. Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 4, erster Halbband. Berlin: Akademie Verlag 2002. 33 »Da aber die Rhetorik auf ein Urteil abzielt […], ist es notwendig, das Augenmerk nicht nur auf die Aussage zu richten, damit sie beweis- und überzeugungskräftig werde, sondern auch auf sein eigenes Auftreten und darauf, den Urteilenden zu beeinflussen. Was die Glaubwürdigkeit betrifft, kommt es sehr darauf an […], daß der Redner einen bestimmten Eindruck hinterläßt, daß die Zuhörer den Eindruck gewinnen, die Stimmung des Redners, die er vermittelt, spräche sie in irgendeiner Weise an, schließlich darauf, ob auch die Zuhörer selbst gerade in irgendeiner Stimmung sind. […] denn nicht vollkommen gleich erscheint einem etwas, ob man nun liebt oder haßt, zornig oder gutmütig ist, sondern völlig oder dem Ausmaß nach verschieden.« Aristoteles: Rhetorik, II 1 (2–4). 34 Zur breiteren Einordnung dieser Frage in die antike Rhetorik siehe Roland Barthes: Die alte Rhetorik. In: ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 15–101, hier: S. 76 f. 35 Aristoteles: Rhetorik, II 12–17.
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kulturwissenschaftlichen Affect Studies vertreten dabei in wesentlich konsequenterer Weise einen relationalen Ansatz.36 Anstatt Affekt im Kern als eine Transmission von der/dem Sprecher*in zur/zum Zuhörer*in zu denken, implizieren die Affect Studies stärker, dass sich affektive Dynamiken zwischen Körpern im Raum abspielen, und sprechen von »affektiver Relationalität«.37 In dieser theoretischen Richtung wird Affekt ganz allgemein als das relationale Geschehen zwischen Körpern verstanden. Körper wiederum werden, zugegebenermaßen tautologisch, als alle Einheiten verstanden, die affizieren und affiziert werden können – es sind also keineswegs nur biologische Körper gemeint, sondern alle denkbaren menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten.38 Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Grundüberlegungen erscheint Hassrede als ein relationales affektives Geschehen zwischen Körpern. Die/der Hassredner*in als Körper affiziert mit ihrer/seiner Sprache, aber – und da zeigt sich bereits die Überschneidung mit dem soziolinguistischen Affektbegriff – die/der Hörer*in muss auch affiziert werden. In welcher Form ein Körper innerhalb einer affektiven Relation affiziert wird oder sich affizieren lässt, ist ein komplexes Problem, das nicht immer als eine bewusste Entscheidung oder Hinwendung konzeptualisiert werden kann. Jedenfalls liegt es aber außerhalb dessen, was allein vom Körper, der affiziert, also dem/der Hassredner*in, abhängt. Als konsequent relationales Geschehen lassen sich Affekte nicht im Sinne eines einigermaßen klaren Kausalverhältnisses steuern. Damit stellt sich die Frage der Kausalität von Hassrede und physischer Gewalt sowohl auf empirischer wie auf konzeptueller Ebene als prekär dar. Es zeigt sich, dass es einen Zusammenhang zwischen dem zum Hass aufstachelnden Sprechakt und physischer Gewalt gibt, dass dieser Zusammenhang aber in mehrfacher Hinsicht unterdeterminiert ist.
36 Als zentrales Dokument dieser heterogenen Forschungsrichtung innerhalb der Cultural Studies kann gelten: Melissa Gregg/Gregory J. Seigworth (Hg.): The Affect Theory Reader. Durham: Duke University Press 2010. 37 Jan Slaby/Birgitt Röttger-Rössler: Introduction: Affect in Relation. In: Affect in Relation – Families, Places, Technologies: Essays on Affectivity and Subject Formation in the 21st Century. Hg. v. Birgitt Röttger-Rössler und Jan Slaby. London: Routledge 2018, S. 1–28. 38 Jan Slaby/Rainer Mühlhoff: Affect. In: Affective Societies: Key Concepts. Hg. v. Jan Slaby und Christian von Scheve. London: Routledge 2019, S. 27–41.
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HASSREDE UND NORMATIVE KAUSALITÄT IM INTERNATIONALEN STRAFRECHT Die strafrechtliche Kausalitätslehre ist sich dieses Problems bewusst. Deshalb beschränkt sich das Strafrecht bei der Untersuchung der Kausalität von Tathandlung und Taterfolg in keiner Rechtsordnung allein auf die logische Kausalität im engeren Sinne. Die logische Kausalität wird, wie oben schon angedeutet, mit einer Bedingungsformel festgestellt. Die Tathandlung muss conditio sine qua non für den Eintritt des Taterfolgs sein. Lässt sich die Tathandlung nicht hinwegdenken, ohne dass der Taterfolg, also hier die physische Gewalt, in seiner konkreten Gestalt entfiele, ist die Tathandlung für den Erfolg kausal.39 Aber diese Feststellung der logischen Kausalität allein reicht für eine Strafbarkeit nicht, denn nach dieser Kausalitätsregel ergeben sich normative Probleme.40 Ein in der juristischen Ausbildung beliebtes Beispiel ist, dass hiernach auch der Zeugungsakt der Eltern der/des Gewalttäter*in für deren/dessen Gewalttat kausal wäre, weil es ohne die Zeugung die Tat nie gegeben hätte. Wegen solcher und ähnlicher Schwierigkeiten tritt in der strafrechtlichen Dogmatik neben die logische Kausalität auch noch eine normative Kausalität. Normative Kausalität fragt danach, was aus rechtlicher Sicht als kausal gelten soll.41 Die Zeugung der/des Täter*in ist zwar logisch kausal, soll aber aus rechtlicher Sicht nicht kausal sein. Diese Einschränkungen und manchmal auch Erweiterungen der logischen Kausalität durch normative Überlegungen gehören zum alltäglichen Handwerkszeug der Strafrechtsdogmatik. In der deutschen Strafrechtsdogmatik, die so in internationalen Strafprozessen nicht angewendet wird (dort gibt es andere Denkfiguren, die zum selben Ergebnis führen), wird nicht nur über Kausalität gesprochen, sondern auch über objektive Zurechnung.42 Der/dem Täter*in, in unserem Fall also der/dem Hassredner*in, wird der resultierende Völkermord dann zugerechnet, wenn ihre/seine Handlung eine rechtlich zu missbilligende Gefahr geschaffen hat und sich der
39 Vgl. Erb: Zurechnung des Erfolges, S. 449. 40 Vgl. Thomas Rönnau/Florian Faust/Michael Fehling: Kausalität und objektive Zurechnung. In: Juristische Schulung 2004, S. 113–118. 41 Vgl. Dieter Medicus: Die psychisch vermittelte Kausalität im Strafrecht. In: Juristische Schulung 2005, S. 289–296. 42 Vgl. Harro Otto: Die objektive Zurechnung eines Erfolges im Strafrecht. In: Juristische Ausbildung 1992, S. 90–99.
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Taterfolg nach einem typischen Kausalverlauf in dieser Gefahr realisiert hat.43 Nach dieser Formel, die zur conditio sine qua non-Formel hinzutritt, kommen normative Elemente ins Spiel. Zunächst geht es darum, dass die/der Täter*in eine Gefahr schaffen muss, die vom Recht missbilligt wird. In diesem Falle also die Gefahr, dass sich andere von der Hassrede anstecken lassen. Zudem nimmt das Recht an, dass diese Gefahr sich typischerweise realisiert, also, dass sich Menschen von der Hassrede auch anstecken lassen. Genau diese normative Kausalität steckt hinter dem Konzept des speziellen Hassrededelikts. Zwar wissen wir empirisch und konzeptuell, dass Hassrede nur als ein Faktor unter mehreren anderen Faktoren physische Gewalt hervorruft und dass sich die Bedeutung der Hassrede für die Gewalt dem Grade nach kaum, wenn überhaupt, bestimmen lässt. Das Recht schafft aber normativ Hassrede als eine Gefahr und kategorisiert die Ansteckung zur Gewalt als typische kausale Folge der Hassrede. Nur auf dieser Grundlage normativer Kausalität erreicht man eine Strafbarkeit wegen Hassrede. Was bedeuten die genannten Aspekte für das Phänomen der strafbaren Hassrede im internationalen Strafrecht? Typischerweise hat das internationale Strafrecht mit hochkomplexen sozioökonomisch grundierten politischen Phänomenen zu tun. Erst das Strafrecht zerlegt diese Phänomene in Straftaten von Einzelpersonen. Die Frage des Strafrechts lautet dann: Hat sich ein individueller Mensch, der etwas in ein Mikrofon gesprochen hat, strafbar gemacht oder nicht? Wenn Hunderttausende Täter*innen Hunderttausende Opfer umbringen, wie es in Ruanda in den 1990er-Jahren passiert ist, dann liegt es in der Natur der Sache, dass sich die Frage, was genau zu was geführt hat, nicht wissenschaftlich valide beantworten lässt. Für die Hassrede gilt das nicht nur aus praktisch-empirischen Gründen, sondern bereits deshalb, weil sich zwischen Sprechakt und Gewalttat ein Kausalverhältnis nur normativ setzen, aber nicht hinreichend schlüssig darlegen lässt. Zwar mag man philosophisch auch danach fragen können, woher wir denn wissen, dass die Betätigung des Abzugs einer Pistole auch wirklich kausal für den Tod dessen war, auf den sie gezielt hat. Praktisch ist das allerdings, aller Erfahrung nach, den meisten Menschen in einem Strafprozess leicht glaubhaft zu machen. Bei den Effekten, die Sprechakte auf diejenigen haben, auf die sie gezielt haben, ist das schon wesentlich schwieriger. Was das internationale Strafrecht also macht, ist, diesen Kausalzusammenhang normativ zu behaupten und nach dieser Behauptung zu bestrafen.
43 Vgl. Bernd von Heintschel-Heinegg: Die objektive Zurechnung im Strafrecht (1. Teil – Grundlagen und Kausalitätstheorien). In: Juristische Arbeitsblätter 1994, S. 31–34.
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Genau an diesem Punkt setzt ein großer Teil der kritischen Literatur des internationalen Strafrechts allgemein an. Das internationale Strafrecht sei, so seine Kritiker*innen, letztlich der Versuch, hochkomplexe politische Probleme in vereinfachte rechtliche Strafbarkeiten zu zerlegen.44 Dabei würden strukturelle Gewaltursachen dadurch unsichtbar gemacht, dass sie durch die Konstruktion von Einzeltäterschaften personalisiert würden.45 Letztlich müssten politische Strafverfahren doch an allen Ecken und Enden politisch-moralische Erwägungen in ihre Verfahren einfügen, um innere Widersprüche zu verdecken. Das mache internationale Strafverfahren zu politischen Verfahren, die sich als rechtlich tarnten.46 Diese Kritik hat viel zur Erhellung der Mechanismen internationalen Strafrechts beigetragen. So zutreffend solche Analysen im Einzelfall auch sind, scheint es, dass viele dieser Ansätze im Kern einem Missverständnis darüber aufsitzen, wie politisch bzw. unpolitisch das Strafrecht denn normalerweise, also im nationalen Rahmen, ist. Bei genauerer Betrachtung ist das Strafrecht nicht nur auf der Ebene der Schaffung von Straftatbeständen, sondern in unzähligen einzelnen Schritten der strafrechtlichen Auslegung auf moralisch-normative Überlegungen angewiesen.47 Was als Auslegungsmethodik erscheint, in der Kausalität eben rechtstechnisch festgestellt wird oder nicht, ist im Kern normativ aufgeladen und damit von politischen Erwägungen abhängig.48 Bei der internationalen Strafbarkeit der Hassrede wird man also der Frage nicht ausweichen können, ob man aus politischen Gründen Sprechakte in bestimmten Erscheinungsformen kriminalisieren will. Dabei wird man sich dann auch darüber bewusst sein müssen, dass der Zusammenhang von Hassrede und physischer Gewalt normativ typisiert wird, mag er sich im Einzelfall auch empirisch nicht zeigen.
44 Vgl. Samuel Moyn: Judith Shklar Versus the International Criminal Court. In: Humanity 4 (2013), H. 3, S. 473–500. 45 Vgl. Kamari Clarke: Fictions of Justice: The International Criminal Court and the Challenge of Legal Pluralism in Sub-Saharan Africa. Cambridge: Cambridge University Press 2009. 46 Diese Kritik am politischen Strafverfahren hat eine lange Tradition. Das berühmteste Beispiel hierfür ist: Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München: Piper 1964. 47 Aus rechtsphilosophischer Perspektive ist daher auch gefordert worden, eine politische Rechtstheorie zu entwickeln. Siehe dazu: Rudolf Wiethölter: Ist unserem Recht der Prozess zu machen? In: Zwischenbetrachtungen im Prozess der Aufklärung: Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag. Hg. v. Axel Honneth. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989. 48 Dieter Grimm: Methode als Machtfaktor. In: ders.: Recht und Staat in der Bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S. 347–372.
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ZUR KRITIK DER STRAFBAREN HASSREDE Es bleibt eine anhaltende Grundsatzdebatte um die Frage, ob Hassrede mit den Mitteln des Strafrechts verboten werden sollte oder nicht. Den sicherlich wichtigsten Beitrag zu diesen Fragen hat Judith Butler in Haß spricht: Zur Politik des Performativen geleistet, wo sie – ausgehend von der oben bereits angeführten Sprechakttheorie J. L. Austins – eine Kritik der Kriminalisierung von Hassrede konturiert.49 Aufbauend auf den oben dargestellten konzeptuellen Überlegungen entfaltet Butler ihre Argumentation im Wesentlichen entlang zweier Achsen. Erstens zeigt sie, dass das Rechtssystem durch die Etablierung des Hassredeverbots die Sprache des Hasses aufführe und damit unbeabsichtigt wieder in Umlauf bringe.50 Zweitens weist sie nach, dass das Recht gar nicht wissen könne, wie das, was Hassredner*innen sagen, denn nun bei denen, die von der Hassrede beleidigt wurden, aufgenommen wird. Das liege an der Nicht-Determinierbarkeit des perlokutionären Aspekts des Sprechakts oder – affekttheoretisch gewendet – daran, dass zu jedem Körper, der affiziert, auch noch ein Körper kommen muss, der sich affizieren lässt. An zahlreichen Beispielen legt Butler dar, wie das Verbot der Hassrede diejenigen unterdrücken kann, die von ihr geschützt werden sollen, und wie die, die gehasst werden, durch eine Fehlaneignung der Hassrede ermächtigt werden können.51 Butlers Präferenz ist im Ergebnis der typisch USamerikanische Vorzug der möglichst uneingeschränkten Meinungsfreiheit. Gegen beide von Butlers Argumenten, auch wenn sie sich im Wesentlichen aus den gleichen konzeptuellen Überlegungen speisen, wie sie in diesem Aufsatz aufgeführt worden sind, lassen sich Einwände anbringen. Zunächst legt Butlers erste These nahe, das Recht mache sich einer sprechakttheoretischen Banalisierung schuldig und verstehe die Unbestimmbarkeit der Perlokution nicht. Diese Kritik scheint an einem entscheidenden Punkt in die falsche Richtung zu gehen. Das Problem liegt nicht darin, dass das Recht den perlokutionären Aspekt der Hassrede unterschätzen würde. Es scheint vielmehr so, dass sich die Strafrechtsdogmatik des aus der Perlokution resultierenden Kausalitätsproblems voll bewusst ist. Das Strafrecht reagiert hierauf, indem es ein Auslegungssystem schafft, in dem die Ambivalenz der Perlokution der/des Sprecher*in aus normativen Gründen außer Acht gelassen wird. Damit hat das Recht, wenn überhaupt, kein epistemologisches oder sprachtheoretisches Defizit, sondern ein politisches
49 Judith Butler: Haß spricht: Zur Politik des Performativen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997. 50 Vgl. ebd., S. 191 f. 51 Vgl. ebd., S. 199–253.
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Problem. Es mag, wenn man dieser Meinung ist, allenfalls aus normativen Erwägungen heraus falsch gestaltet sein. Butlers zweite These begegnet einem noch grundlegenderen Einwand. Ihr Ansatz erscheint innerhalb der von ihr aufgeführten politischen Fragestellungen deshalb so überzeugend, weil sie sich mit der berechtigten Frage auseinandersetzt, was Hassrede bei denen auslöst, die von ihr angegriffen werden. Das internationale Strafrecht hat hingegen eine andere Blickrichtung – ebenso wie das deutsche Rechtssystem, das der Meinungsfreiheit einen wesentlich geringeren Stellenwert gegenüber anderen Erwägungen einräumt als das der Vereinigten Staaten. Der § 130 des deutschen Strafgesetzbuchs etwa, die Volksverhetzung, hat eine Reichweite, die in den USA kaum mehr als verfassungsgemäß angesehen würde. Das hat damit zu tun, dass sich das internationale Strafrecht – genau wie das deutsche Strafrecht vor dem Hintergrund der Erfahrung des Nationalsozialismus – nicht in erster Linie um die Frage dreht, was die Hassrede mit denen macht, die von ihr angegriffen werden, sondern mit denen, die sich von ihr anstecken lassen. Judith Butler hat in ihrem Nachwort zur deutschen Übersetzung ihres Buches diese unterschiedliche rechtshistorische Gemengelage zwar anerkannt, allerdings angedeutet, die Grundüberlegungen ihres Arguments behielten ihre Gültigkeit.52 Das scheint nur bedingt zu stimmen. Liest man nämlich Butlers Argumente mit Blick darauf, wie sie die Ansteckungsgefahr von Hassrede konzeptualisiert, wird deutlich, dass sie das Problem konzeptuell unterschätzt. In ihrem dritten Kapitel, in dem sie das Verbot bespricht, sich in der USamerikanischen Armee als homosexuell zu outen, misst sie der »ansteckende[n] Macht des magischen Wortes«53 eine eher untergeordnete Rolle zu. Zwar gibt sie zu bedenken, dass das öffentliche Outing als Praxis homosexueller Aktivist*innen eine Ansteckungswirkung haben soll, nämlich, dass sich auch andere outen.54 Sie argumentiert aber, dass durch solch eine Konzeption »der diskursiven Produktion von Homosexualität« die Neigung entstünde, »die sprachliche Benennung an die Stelle dessen zu setzen, was sie benennt«.55 Es zeigt sich, dass Butler letztlich keine klare Vorstellung von der Ansteckungswirkung von Hassrede hat. Es verwundert daher kaum, dass sie sich ausführlich mit den Fragen des Verbots des homosexuellen Bekenntnisses und der Pornografie auseinandersetzt, ihre Ausführungen zum Kern des Hassredeverbots, nämlich der Eindämmung öffentlicher Lynchings von Schwarzen, aber nur randständig bleiben. An dieser
52 Vgl. ebd., S. 257–262. 53 Ebd., S. 180. 54 Vgl. ebd., S. 195. 55 Ebd., S. 197.
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Stelle würde die Kehrseite der Hassredethematik, die den affektiven Sprechakt nicht nur unter dem Aspekt der Beleidigung von Zuhörer*innen wahrnimmt, sondern der Ansteckung von Zuhörer*innen zur Gewalt, ins Zentrum des theoretischen Interesses gerückt. Diskutiert man also über die Frage, ob das Rechtssystem Hassrede verbieten soll, muss man sich die normative Frage vorlegen, was man im Einzelfall für gefährlicher hält: den Staat, der Einschränkungen der Meinungsfreiheit und Zensur zur Unterdrückung von Andersdenkenden einsetzt, oder die aufgebrachte Masse, die, vom Hass angesteckt, gewaltvoll diejenigen angreift, die es zu hassen gilt. Es liegt in der Natur der Sache, dass es auf solche Fragen nur historisch spezifische Antworten gibt, die stark von einer ganzen Reihe normativ-politischer Erwägungen abhängig sind. Weder ist die Angst vor der Masse eine Tugend an sich, noch ist es die Angst vor dem Staat. Die hier gemachten Überlegungen verweisen vielmehr darauf, dass es letztlich darauf ankommt, das Hassstrafrecht vom Grunde auf in seiner vollen politischen Tragweite zu diskutieren, wobei man kaum darauf wird hoffen dürfen, dass das Verbot affektiven Sprechens Zusammenhänge regelt, die jenseits von politisch-moralischen Einschätzungen stehen, die man nicht auch ganz anders treffen könnte.
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Literaturgeschichtliche Konstellationen des Hasses
Hagens Hass Zu einer handlungsleitenden Negativemotion in Nibelungenlied und Werner Jansens Buch Treue (1916/17)
Peter Glasner
Wer im mittelhochdeutschen Nibelungenlied blättert, wird nicht zuletzt mit großen Emotionen konfrontiert. Denn stoffbedingt geraten die Nibelungen in zorn, wenn Siegfrieds erster Auftritt die Ritter am Rhein herausfordert, Kriemhild und Brünhild entgleiten im Königinnenstreit über die Rangstellung ihrer Männer in hasserfüllten Schlagabtausch und Siegfrieds Witwe wie dessen Mörder Hagen betrachten sich bis zur eigenen Vernichtung als Hassobjekte. Bei einem derartigen Stoff verwundert es kaum, dass in 65 Strophen von zorn und mindestens in 33 Strophen von haz1 erzählt wird.2 Ist folglich das mittelalterliche Nibelungen-
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Gezählt wurden nur explizite Hassakte (in den Strophen 99, 127, 137, 142, 206, 631 f., 799, 840, 863, 865, 890, 919f., 1108, 1133, 1203, 1270, 1538, 1632, 1654, 1732, 1771, 1779, 1786, 1880, 1902, 1910, 1918, 1931, 2140, 2275, 2281) sowie ›wörtliche‹ Zornaufwallungen (in den Strophen 91 f., 109, 116, 118, 142, 190, 205, 413, 460, 463, 476, 486, 631, 678, 695, 823, 836, 863, 869, 877, 966, 983, 987, 1010, 1136, 1210, 1426, 1457, 1461, 1552, 1558, 1573, 1575, 1595, 1602, 1615, 1621, 1745, 1819, 1839, 1844, 1864, 1883, 1892, 1895, 1960, 1981, 1983, 2054, 2058, 2091, 2109, 2144, 2212, 2218, 2257, 2268, 2270, 2272, 2310, 2344, 2355, 2360, 2373). Würden auch Synonyme oder Umschreibungen dieser Emotionen mitberücksichtigt, ergäbe sich selbstredend eine noch größere Zahl an derart emotional aufgeladenen Szenen.
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Der Bedeutsamkeit von Emotionalität und Affektivität in mittelalterlicher Literatur entsprechend ist auch die hierauf bezogene Forschung umfangreich, weshalb hier lediglich exemplarisch verwiesen wird auf die ›nibelungische Anthropologie‹ Jan-Dirk Müllers (in ders.: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen: Niemeyer 1998, S. 201–248) sowie auf Gerd Althoff: Gefühle in der öffentlichen Kom-
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lied ein Hasstext? In meinem Beitrag unterziehe ich das Nibelungenlied3 einer neuen Lektüre, um das Zusammenwirken von furht, zorn und haz nachzuvollziehen. In einem zweiten Schritt nehme ich dann eine moderne Reformulierung, eine aktualisierende Wieder- oder Neuerzählung des Nibelungenstoffs aus dem originären Hasskontext des Ersten Weltkrieges in den Blick: Das Buch Treue,4 den Nibelungenroman des promovierten Germanisten und Mediziners, des Trägers sowohl der Goethe-Medaille (1940) als auch des Raabe-Preises (1942) und späteren SS-Offiziers Werner Jansen5 aus dem Jahr 1916. Bei Das Buch Treue6 handelt es sich nach Werner Hoffmann
munikation des Mittelalters. In: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Hg. v. Claudia Benthien, Anne Fleig und Ingrid Kasten. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2000, S. 82– 99; Irmgard Gephart: Der Zorn der Nibelungen. Rivalität und Rache im ›Nibelungenlied‹. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2005; Alexander Brungs: Charakteristische Aspekte des Zorns in seiner Darstellung durch Philosophen des Mittelalters. In: Das Mittelalter 14 (2009), H. 1, S. 28–40; William Layher: ›She was completely wicked‹: Kriemhild as exemplum in a 13th century sermon. Image – Topos – Problem. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 138 (2009), S. 344–360. Hatte Klaus Ridder 2003 noch das Desiderat einer »Theorie der Affekte« (ders.: Kampfzorn: Affektivität und Gewalt in mittelalterlicher Epik. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200–1300. Cambridger Symposion 2001. Hg. v. Christa Bertelsmeier-Kierst und Christopher Young unter Mitarbeit von Bettina Bildhauer. Tübingen: Niemeyer 2003, S. 225) betont, so kann inzwischen u. a. verwiesen werden auf Elke Koch: Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin/New York: De Gruyter 2006 sowie auf Johannes F. Lehmann: Im Abgrund der Wut. Zur Kultur- und Literaturgeschichte des Zorns. Freiburg i. Br.: Rombach 2012. 3
Ich zitiere nach der Ausgabe Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B hg. v. Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse. Stuttgart: Reclam 2011 und verwende die Sigle NL mit Strophen- bzw. Versangaben.
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Ich zitiere nach der Ausgabe Werner Jansen: Das Buch Treue. Nibelungenroman. Hamburg/Braunschweig/Berlin: Georg Westermann 1917 unter Verwendung der Sigle BT mit Angabe der Seitenzahl(en).
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Zur Biographie von Jansen vgl. Hyuk-Sook Kim: Das Ende des historischen Romans im Zeitalter seiner Verklärung. Werner Jansen und seine Heldenzeit-Trilogie. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2008, S. 26–71; Wolfgang Weismantel: [Art.] ›Jansen, Werner‹. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Hg. v. Wilhelm Kühlmann. Bd. 6. Berlin/New York: De Gruyter 22009, S. 110; Werner Hoffmann: Das Buch Treue. Werner Jansens Nibelungenroman. In:
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um eine der erfolgreichsten Neugestaltungen des Nibelungenliedes und zudem um die erste in Romanform, der der Plot der mittelhochdeutschen Dichtung zugrundeliegt. Auf die erste Ausgabe aus dem Jahr 1916 folgten bis in den Zweiten Weltkrieg hinein immer wieder Nachdrucke: 1927 wurde das 111.–120. Tsd. ausgeliefert, 1942 das 166.–180. Tsd. und 1943, im Todesjahr des 1890 geborenen Verfassers, das 181.–195. Tsd.7
Jansens Nibelungenroman mit dem stauferzeitlichen Nibelungenlied zu vergleichen, ist bereits durch die Programmatik seines Vorsatzes selbst motiviert: »Dies Werk maßt sich nicht an, das alte Buch Treue zu ersetzen oder sich ihm zu vergleichen. Es steht auf den Schultern des Nibelungenliedes und will, ohne den Stoff zu entfremden, in den Ausdrucksmitteln unserer Zeit von der alten Schönheit künden« (BT Vorsatz). Vor den folgenden kontrastiv-komplementären Textanalysen soll Jansens eigene Verortung seines Nibelungenromans im Kontext der nationalmythischen Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes skizziert werden, da sich aus dieser Blickrichtung bereits Abweichungen seiner Reformulierung von seiner vorgeblichen Vorlage erkennen lassen.
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DAS BUCH TREUE ›AUF DEN SCHULTERN‹ DES NIBELUNGENLIEDES
Jansen adressiert sein Publikum mittelalterlich traditionell mit Bescheidenheitstopik (»maßt sich nicht an, […] sich ihm [dem Nibelungenlied] zu vergleichen«) und setzt das Verhältnis seines Nibelungenromans zu dessen Referenztext seinerseits mit einem populären mittelalterlichen Gleichnis, den Zwergen auf den Schultern von Riesen (Nanos gigantum humeris insidentes), ins Bild. Mit dieser gelehrsamen Anspielung etwa auf das Verhältnis von Antike und Mittelalter oder Altem und Neuem Testament8 ist ›bei aller Bescheidenheit‹ immer diese Frage Herders mitgestellt: »Ist der Zwerg auf den Schultern des Riesen nicht
Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos. Hg. v. Joachim Heinzle, Klaus Klein und Ute Obhof. Wiesbaden: Reichert 2003, S. 511. 6
Zu Jansens Nibelungenroman vgl. Hoffmann: Das Buch Treue, S. 511–521; Kim: Das
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Hoffmann: Das Buch Treue, S. 511.
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Zum entsprechenden Gleichnis bzw. Sprichwort vgl. Walter Haug: Die Zwerge auf
Ende des historischen Romans, S. 84–121.
den Schultern von Riesen. Epochales und typologisches Geschichtsdenken und das Problem der Interferenzen. In: ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Tübingen: Niemeyer 1989, S. 86–109.
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immer größer, als der Riese selbst?«9 Jansens Nibelungenroman auf die Schultern des Nibelungenliedes gestellt, wirft seinerseits die Frage auf, in welcher Hinsicht sein doch vorgeblich stofftreues, lediglich stilistisch aktualisierendes ›Zwergenwerk‹ weitsichtiger als das alte Heldenepos sei. Im Fortgang des Vorsatzes beantwortet Jansen diese Frage selbst so: »Es will den fernen Spiegel des edelsten Deutschlands der schmählichsten Vergessenheit entreißen und unserem Volk wieder nahe rücken, daß es mit Scham und Stolz seines unerschöpflichen Reichtums gewahr werde und ihn ehre« (BT Vorsatz). Das erscheint bereits so unglaubwürdig wie historisch falsch, wenn hier nur an die weit verbreiteten Klischees etwa des politischen Diskurses wie die sprichwörtlich gewordene ›Nibelungentreue‹ in Jansens eigener Gegenwart erinnert wird.10 Seit dem 19. Jahrhundert resultierte die Popularisierung des Nibelungenliedes vor allem aus den vielfältigen Bestrebungen, das mittelalterliche Heldenepos zum deutschen Nationalmythos zu stilisieren. Aus diesem Grunde begegnet das Nibelungenlied seit den antinapoleonischen Kriegen – auf Mittelhochdeutsch wie in Übersetzungen, Übertragungen und Neuerzählungen – auch in genuinen Hasskontexten. Im Vor-
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Johann Gottfried von Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Text, Materialien, Kommentar. Hg. v. Wolfgang Proß. München/Wien: Carl Hanser 1978, S. 107.
10 Im unmittelbaren zeitlichen Umfeld des Erscheinens von Jansens ›Treue-Buch‹ kommen u. a. auch Das Nibelungenlied in der Übertragung von Karl Simrock. Berlin: Julius Bard 1910 sowie Rudolf Herzogs Die Nibelungen. Des Heldenliedes beide Teile neu erzählt. Berlin: Neufeld & Henius 1913 und Wilhelm Scherers Nibelungentreue. Kriegsgesänge. Regensburg/Rom: Pustet 1916 heraus. Dass zumindest der Nibelungenstoff zu Jansens Gegenwart alles andere als vergessen war, dokumentiert bereits die Popularität des wohl berühmtesten Nibelungenklischees der sogenannten Nibelungentreue, wie sie Bernhard von Bülow als Kennzeichnung des Verhältnisses des Deutschen Reiches zu Österreich-Ungarn in Umlauf gebracht hatte. Vgl. hierzu Herfried Münkler/Wolfgang Storch: Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos. Berlin: Rotbuch 1988, S. 73–85; Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen. Hamburg: Rowohlt 2010, S. 80–83; Tobias Hermann Kehm: Der Nibelungenmythos im Ersten Weltkrieg. Die Entstehung kontrafaktischer Narrationen und deren Wirkung auf das Geschichtsbewusstsein. Hamburg: Diplomica 2015, S. 65–68; Kim: Das Ende des historischen Romans, S. 99–101. Grundlegend für die Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes sind zudem Helmut Brackert: Nibelungenlied und Nationalgedanke. Zur Geschichte einer deutschen Ideologie. In: Mediaevalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor zum 80. Geburtstag. Hg. v. Ursula Henning und Herbert Kolb. München: C. H. Beck 1971, S. 343–364 sowie Otfrid Ehrismann: Das Nibelungenlied in Deutschland. Studien zur Rezeption des Nibelungenliedes von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. München: C. H. Beck 1975.
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satz seines Nibelungenromans behauptet Jansen, dass »1815 […] das Nibelungenlied von August Zeune als ›Feld- und Zeltausgabe‹ zum erstenmal volkstümlich besorgt« (BT Vorsatz)11 worden sei. Eine unmittelbar mobilisierende Wirkung schrieb der erste Bonner Germanist Karl Simrock, selbst berufener ›Wiedererwecker‹ deutscher Nationalliteratur, dem mittelalterlichen Heldenepos zu. Im Vorwort seiner Walther-Ausgabe, erschienen vor dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, heißt es über mittelalterliche Literatur wie das Nibelungenlied martialisch: »[…] nichts ist geeigneter, unser erstorbenes Vaterlandsgefühl wieder ins Leben zu rufen […]. Das ist Feld- und Zeltpoesie, damit kann man Armeen aus der Erde stampfen, wenn es den Verwüstern des Reichs, den gallischen Mordbrennern, der römischen Anmaßung zu wehren gilt.«12 Da »nationale Ideologie im Nibelungenlied«, so schon Klaus von See, »nicht von der Handlung her zu begründen war«, suchten jene Interpreten, die das Nibelungenlied als Nationalepos propagierten, Ur-Deutsches »in den Charakteren«.13 So ist das Nibelungenlied etwa für Friedrich Heinrich von der Hagen »die lebendige Urkunde des unvertilgbaren Deutschen Karakters«.14 Und dies aufgrund solcher Figureneigenschaften wie »Gastlichkeit, Biederkeit, Redlichkeit, Treue und Freundschaft bis in den Tod, Menschlichkeit, Milde und Großmuth in des Kampfes Noth, Heldensinn, unerschütterliche[r] Standmuth, übermenschliche Tapferkeit, Kühnheit, und willige Opferung für Ehre, Pflicht und Recht«.15 Für von der Hagen war es offenbar kein Widerspruch, die Figuren des Epos zudem zu schätzen
11 Tatsächlich bringt Zeune 1815 eine mittelhochdeutsche Ausgabe mit Worterklärungen für Schüler heraus: Das Nibelungenlied. Die Urschrift nach den besten Lesarten neu bearbeitet und mit Einleit und Wortbuch zum Gebrauch für Schulen versehen von August Zeune. Berlin: Maurersche Buchhandlung 1815. Zu Zeunes Nibelungenliedausgabe vgl. Peter Glasner: Das Nibelungenlied im Tornister. Freiheit, Einheit und Reinheit im national-kulturellen Diskurs der Befreiungskriege. In: »Der Friede ist keine leere Idee …« Bilder und Vorstellungen vom Frieden am Beginn der politischen Moderne. Hg. v. Thomas Kater. Essen: Klartext 2006, S. 176–185. 12 Walther von der Vogelweide. Herausgegeben, geordnet und erläutert von Karl Simrock. Bonn: Adolf Marcus 1870, S. 1. 13 Klaus von See: Das Nibelungenlied – ein Nationalepos? In: Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Joachim Heinzle und Anneliese Waldschmidt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1991, S. 43–110, hier S. 65. 14 Der Nibelungen Lied. Erneuet und erklärt von Friedrich Heinrich von der Hagen. Zweite umgearbeitete Ausgabe. Frankfurt a. M.: Franz Varrentrapp 1824, S. I. 15 Ebd., S. III.
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wegen ihrer »wilden Leidenschaften und düstern Gewalten der Rache, des Zorns, des Grimmes, der Wuth und der grausen Todeslust«.16 Es muss hier nicht ausgeführt werden: Das Nibelungenlied ist bereits stofflich widerständig gegen identifikatorisch-nationalistische Vereinnahmung, denn weder die mythischen Nibelungen noch die historischen Burgunden sind ›deutsch‹. Zeitlos faszinierend bleibt der Erzähltext aber nicht zuletzt deshalb, weil es die großen Emotionen, Liebe und Hass, sind, die die Figuren um- und die Handlung vorantreiben. Und diese Emotionen sind personenbezogen und handlungsmotiviert, aber nicht ideologisch oder gar rassistisch begründet. Wer mit den Nibelungen zu Hass anstiften will, bedarf einer ›geeigneteren‹ Reformulierung des Nibelungenliedes.
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FURHT, ZORN UND HAZ IM NIBELUNGENLIED
Um die Hassdarstellung im hochmittelalterlichen Epos mit dessen Adaptation durch Jansen vergleichen zu können, analysiere ich zunächst exemplarische Szenen aus dem Nibelungenlied: Siegfrieds Ankunft in Worms als erste Thematisierung von Negativemotionen und kollektiver Affektkontrolle als höfischer Alternative zu Hassreaktionen, Hagens hasserfüllte Grußverweigerung vor Kriemhild am Etzelhof sowie die beiden Untergangsszenen des Bluttrinkens in Etzels Halle und Hagens letzte Begegnung mit Kriemhild. 2.1 Höfische Alternativen zu zorn und haz Bei Siegfrieds Ankunft in Worms identifiziert ihn das Sagenwissen Hagens als ›Drachentöter Siegfried‹. Die entsprechende Binnenerzählung der Hagen-Figur führt auch in die affektive Logik der Protagonisten des Nibelungenliedes ein. Bei geeigneter Veranlassung wird aus latenter Gewaltbereitschaft der Helden leichthin heroischer zorn, der sich seinerseits zu haz zu steigern oder gar zu verstetigen droht. Wenn der tollkühne Siegfried bei seiner Brautwerbung um Kriemhild an den Königshof zu Worms kommt, verschweigt er sein Anliegen und fordert stattdessen die verdutzten Burgunden zum Kampf um Land und Leute heraus.17 In seinem »übermüete« (NL 52, 2) ist er bereits vor der ersten Begegnung auf seinen späteren Mörder bezogen, hatte doch König Siegmund von Xanten die Brautfahrt seines Sohnes mit der Warnung vor Hagen von Tronje zu verhindern
16 Ebd., S. III f. 17 In der dritten Âventiure wird von Siegfrieds Aufbruch in Xanten (Str. 42–68) und seiner Ankunft in Worms (Str. 69–126) erzählt.
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versucht: »der kan mit ubermüete der hôchverte pflegen, daz ich des sêre fürhte, ez mug uns werden leit« (NL 52, 2 f.).18 Bekanntlich halten Warnungen oder Belehrungen einen Siegfried-Typ nicht auf. In Worms angekommen, fasziniert der dort nur seiner Fama nach bekannte Held durch blendende ritterliche Erscheinung. Einzig durch die Teichoskopie Hagens kann der provokante Fremde mit dem sagenhaften Drachentöter identifiziert werden. Bemerkenswerterweise werden die abenteuerlichen Szenen Horterwerb und Drachenkampf nicht eigens vom Erzähler geschildert.19 Vielmehr ist es die Hagen-Figur, die von Jungsiegfrieds Abenteuern durch die Frage veranlasst erzählt, wie der Hof zu Worms auf die waffenklirrende Herausforderung des Fremden reagieren solle. Den Drachenkampf Siegfrieds nennt Hagen lediglich, um dessen Unverwundbarkeit anzuführen. Stattdessen fokussiert er Siegfried als »des hordes herre […] der vreisliche man« (NL 95, 4) – als ›Herrn über den Nibelungenschatz‹ und ›furchterregenden Mann‹, der zudem unversehens leicht in »zorn« (NL 92, 3) gerate. In diesem Zusammenhang ist zum ersten Mal im Nibelungenlied auch von haz die Rede, denn Hagen leitet aus seiner Charakterisierung Siegfrieds diesen Rat zum Umgang mit dem fremden Drohpotential aus Xanten ab: »Wir suln den herrn enpfâhen deste baz, daz wir iht verdienen des jungen recken haz« (NL 99, 1 f.). Dass Siegfried dann aber den Willkomm des Königs von Burgund einzig mit einer Reizrede als Kampfansage um den Preis von jeweils Land und Leuten des Unterlegenen pariert, lässt bei den derart provozierten Burgunden ebenso wie bei Hagen allenthalben Zorn aufwallen. Obgleich schon nach den Schwertern gerufen wird, kommt es aber nicht zum Ausbruch des Kampfes, weil sich Gernot, ein Bruder des Königs, nicht von der allgemeinen Wutaufwallung anstecken lässt und in seiner Besonnenheit – übrigens im Gegensatz zu Hagen – darauf beharrt, dass noch nichts vorgefallen sei, das nicht auf höfische Art beigelegt werden könnte.20 Schließlich ist es König Gunther selbst, der mit souveräner Gestik des Landesherren den Fremden freundlich und friedlich willkommen heißt, Land und Leute Siegfried rhetorisch zur Verfügung stellt und so den Konflikt der Erstbe-
18 Zum Deutungsspektrum vom mhd. übermuot, das von einem ›neutralen‹ heroischen Epitheton (der übermüete Hagen) über die Bezeichnung einer »sittlichen Indifferenz« bis »in die Nähe rücksichtsloser Anmaßung« oder »von Verbrechen« reicht vgl. Müller: Spielregeln, S. 237–242. 19 Zu Hagen als Erzähler bzw. der Binnenerzählung Hagens über Jungsiegfrieds Abenteuer vgl. Müller: Spielregeln, S. 125–136. 20 So greift Gernot ein, um einen Kampfausbruch zu verhindern: »lât iuwer zurnen stân. uns enhât der herre Sîvrit solches niht getân, wir enmugenz noch wol scheiden mit zühten, deist mîn rât.« (NL 118, 1–3)
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gegnung mit Siegfried beilegt.21 Der Szenenverlauf zeigt sowohl die latente Gewaltbereitschaft als auch das anfänglich Intakte der Wormser Hofkultur. Noch gelingt es aber, Aggressivität durch höfisches Begrüßungsritual zu bannen und schließlich in höfische Spiele zu kanalisieren. Die Basis dieses Triumphes von Friedfertigkeit und höfischer Kultiviertheit über die Aggressivität eines vermeintlich Unverwundbaren ist hierbei zweierlei: einerseits die Affektkontrolle am Wormser Hof, die Ausbrüche von Übermut dezidiert verbietet (vgl. NL 121), und andererseits Siegfrieds Minne zu Kriemhild. Denn nachdem Gunthers Bruder Gernot allen Rittern Äußerungen von Übermut untersagt hat, »dô gedâhte Sîvrit an di hêrlichen meit« (NL 121, 4). Die Szene von Siegfrieds Ankunft am Wormser Hof macht zudem deutlich, dass männliche Aggression zwar Zorn provoziert. Wenn aber die Gegenpartei noch nicht von Hass dominiert wird, vermag sie ihrerseits gewaltfrei zu parieren, ohne an Ehre und Ansehen einzubüßen.22 Noch frei von Hass entscheiden die Figuren zu Beginn des Nibelungenliedes selbst über die Semantik ihrer Ehrbegriffe. Der Verlust dieser Entscheidungsfreiheit bzw. von Hass alternativlos auf Vernichtungskurs gehalten zu werden, ist eine Gemeinsamkeit, die im Nibelungenstoff schließlich die Figuren Hagen und Kriemhild verbindet. 2.2 Wechselseitiger Hass: Hagen und Kriemhild Das Verhältnis von Hagen und Kriemhild ist als eine sich schließlich steigernde Spirale von Hassakten beschreibbar, die den Handlungsverlauf ebenso durch verletzende Zeichen, verwundende Worte wie durch ›flammende Ereignisse‹ vorantreiben: Hagen ermordet nicht nur Kriemhilds Gatten, sondern lässt auch dessen Leichnam ausgerechnet vor Kriemhilds Kemenate ablegen,23 die Bahrprobe erweist Hagen unstrittig öffentlich als Mörder, diese quasi göttliche Wahrheit wird aber von höchst menschlichen Fake News verdrängt, sodass Kriemhild kein
21 »›Ir sult uns wesen willekomen‹, sô sprach daz Uoten kint, ›mit iuwern gesellen, di mit iu komen sint. wir sulen iu gerne dienen, ich und di mâge mîn.‹ dô hiez man den gesten schenken den Gunthers wîn.« (NL 124) 22 Obgleich Siegfrieds Auftritt brüskiert und zornig macht, gilt ein Kampf mit ihm als kaum ehrenhaft und wenig nützlich: »swaz helde nu dar under müese ligen tôt, wir hetens lutzel êre und ir vil kleinen frum.« (NL 122, 2 f.) 23 Dass Hagen den Leichnam Siegfrieds vor Kriemhilds Kemenatentüre ablegt (vgl. NL 1000 f.), ist für den Erzähler Ausdruck »[v]on großer übermüete« (1000, 1) sowie »von eislicher râche« (1000, 2) und damit begründet, »daz si in dâ solde vinden« (1001, 2).
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Recht am Hof ihrer Brüder widerfährt.24 Als sie den Nibelungenhort, einstige Morgengabe Siegfrieds, zu verschenken beginnt, versenkt Hagen den Hort – vom Erzähler explizit gemacht »durch haz« (NL 1133, 3) – im Rhein.25 Bei Kriemhilds heimtückischer Einladung an den Etzelhof trotzen die Nibelungen mehrfachen Angriffen von Kriemhilds bzw. Etzels Mannen. Dem unumkehrbaren Ausbruch der Kämpfe ist eine berühmte Szene vorgeschaltet, die ich im Folgenden analysieren möchte, weil sie als Kippmoment die Ablösung höfischer Konfliktbewältigung durch einzig hassgesteuertes Handeln darstellt. Jan-Dirk Müller hat dies als »Verhöhnung des höfischen Codes«26 bezeichnet. In der 29. Âventiure wird erzählt, wie sich Kriemhild, immer wieder von Trauerattacken durch den Anblick von Siegfrieds Mörder heimgesucht, mit vierhundert Hunnen mit schlecht verhohlenen Rüstungen Hagen und dem Spielmann Volker nähert. Hierdurch veranlasst, befragt Volker Hagen nach der Gesinnung der Gegenseite: »Wizzet ir, friunt Hagene, ob si iu sîn gehaz? […] als ich mich versinne, si sint zornec gemuot« (NL 1771, 1–4). Allem Anscheine nach richtet sich der Zorn der Hunnen sowohl gegen Hagen als auch gegen Volker, wohingegen Hagen alleiniges Hassobjekt zu sein scheint. So wie Siegfried seine Fama als Drachentöter vorauseilte, so gilt Hagen bei den Hunnen schon als Siegfrieds Mörder, bevor er am Etzelhof ankommt. Das Aufmarschieren der Hunnen hat unmittelbaren Effekt im Affektiven: Hagen antwortet »in zornes muote« (NL 1773, 1), dass sich dieses Aufgebot einzig gegen ihn richte, und sucht sich deshalb neuerlich Volkers unverbrüchlicher Waffenbruderschaft zu versichern. Im Angesicht der hunnischen Übermacht gibt die Volker-Figur ihr berühmt gewordenes Blankover-
24 Nach magischer Vorstellung beginnen die Wunden eines Toten wieder zu bluten, wenn der Mörder in die Nähe der Leiche tritt. Der Erzähler des Nibelungenliedes schildert die sogenannte Bahrprobe als ›großes Wunder‹ (»Daz ist ein michel wunder, vil dicke es noch geschiht: swâ man den mortmeilen bî dem tôten siht, sô bluoten im di wunden, als ouch dâ geschach. dâ von man di schulde dâ ze Hagene gesach.« NL 1041). Im Nibelungenlied fungiert die Bahrprobe als übernatürliche und somit unabweisliche Identifikation Hagens als Mörder. Umso skandalöser muss es erscheinen, dass der Witwe keine Gerechtigkeit durch ihre Brüder widerfährt. 25 Auf Anraten Hagens veranlassen Kriemhilds Brüder Kriemhild, den Nibelungenhort nach Worms bringen zu lassen. Seinem König gegenüber behauptet Hagen, ohne jedoch daran zu glauben, es könne zur Versöhnung mit Kriemhild beitragen, wenn diese den Hort bei sich hätte (vgl. NL 1104 f.). Da Kriemhild mit großzügigen Schenkungen auch unbekannte Krieger ins Land lockt, versenkt Hagen hinter dem Rücken der Burgunden den Hort im Rhein (vgl. NL 1134). 26 Vgl. Müller: Spielregeln, S. 420.
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sprechen unverbrüchlichen Zurseitestehens selbst in größter Gefahr: »ob ich uns engegene saehe den kunec selbe gân mit allen sînen recken. di wîle ich leben muoz, sô entwîch ich iu durch vorhte nimmer einen fuoz« (NL 1775, 2–4). Die heroische Standhaftigkeit ist hier abermals durch die Gefährdung der eigenen Heldenfama motiviert. Die Begegnungsszene von Kriemhild und Hagen in der 29. Âventiure ist auch deshalb so herausragend, weil hier vor dem Ausbruch der Kämpfe über angemessenes Agieren reflektiert und regelrecht diskutiert wird: Welches Verhalten ist angesichts wechselseitigen Hassens zwischen einem Heroen und einer Königin angemessen? Im Konfliktraum von Heroischem und Höfischem verkörpern sich in den Figuren Hagen und Volker quasi alternative Antworten auf diese Frage. Während Volker trotz seiner uneingeschränkten Parteinahme für den Siegfriedmörder Hagen von Tronje weiterhin für die Aufrechterhaltung des höfischen Protokolls plädiert,27 steht Hagen für die Verhaltensalternative des Unhöfisch-Authentischen, und seine Argumente dafür, sich nicht vor der nahenden Königin zu erheben, sind wiederum auszustellende Furchtlosigkeit und unumwundener Hass: »sô wolden sich versinnen dise degene, daz ichz durch vorhte taete, […] ich enwil durch ir deheinen nimmer von dem sedele stên. Jâ zimet ez uns beiden ze wâre lâzen daz. zwiu sold ich den êren, der mir ist gehaz? […]« (NL 1778, 2–1779, 2)
Implizit scheint hier die mittelalterliche Lehre von den zwei Körpern des Königs auf, wie sie Ernst H. Kantorowicz in The King’s two Bodies beschrieben hat.28 Volker könnte trotz seiner Frontstellung gegenüber Kriemhild als Königin aufstehen, erhöbe er sich doch lediglich vor dem unsterblichen Amtskörper derselben. Hagens Hass jedoch ist radikal und reduziert »die Interaktion auf die Alternative vriuntschaft oder haz«.29 Seine Ehrverweigerung sowohl vor dem natürlichen Körper als auch vor dem unsterblichen Körper Kriemhilds als Königin ist als neuerliche Verletzung regelrecht inszeniert. Vor ihrer physischen Vernichtung erleidet sie Respektverweigerung, Herabsetzung und damit sukzessive zer-
27 »›Nu stê wir von dem sedele‹, sprach der spilman. ›si ist ein küneginne, und lât si fürgân. bietet ir di êre. si ist ein edel wîp. dâ mit ist ouch getiuret unser ieweders lîp‹« (NL 1777). 28 Vgl. hierzu Robert E. Lerner: Ernst Kantorowicz – a Life. Princeton/Oxford: Princeton University Press 2017, S. 347. 29 Müller: Spielregeln, S. 420.
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störte Identität: Eine Königin, vor der man sich nicht erhebt, ist nur noch dem Titel nach eine Königin. Es ist die Kriemhild-Figur selbst, die im Dialog mit Hagen den wechselseitigen Hass zu ergründen sucht: »nu sagt mir mêre, zwiu tâtet ir daz, daz ir daz habt verdienet, daz ich iu bin gehaz?« (NL 1786, 1 f.) Hagens Antwort hierauf ist als Sprechakt eine Gesprächsverweigerung, repliziert er doch so schlicht wie martialisch: »waz sol des mêre? der rede ist nu genuoc« (NL 1787, 1). Hagen verbalisiert, was er mit demonstrativer Respektverweigerung längst visualisiert hat, und wiederholt damit die Verletzung seiner Gestik. Die Szene schildert Hagens Hass als eine wohl kalkulierte Phasierung sich steigernder Hassakte: Auf die verweigerte Ehrbezeugung folgt eine weitere Herabsetzung, die nicht nur symbolisch, sondern unmittelbar physisch verletzt: Der übermüete Hagene leit über sîniu bein ein vil liehtez wâffen, ûz des knopfe schein ein vil liehter jaspes, grüener danne ein gras. wol erkand ez Kriemhild, daz ez Sîfrides was. (NL 1780)
In Form einer ›demonstrativen Schaugeste‹, so Joachim Heinzle, präsentiert sich Hagen Kriemhild gegenüber unverhohlen als Siegfrieds Mörder.30 Vor der Königin demonstrativ sitzen bleibend hat sich Hagen zudem das Schwert Siegfrieds über seine Beine gelegt. Die Ikonographie dieser Schaugeste ist in der mediävistischen Forschung kontrovers diskutiert worden.31 Vor dem Hintergrund der Hassthematik lässt sich möglicherweise neuerlich ein Beitrag dazu leisten, Hagens Schaugeste zu interpretieren. Hagens Haltung – »sitzend, das Schwert über die Oberschenkel gelegt – erinnert an die typische Haltung des Richters, der zu Gericht sitzt«.32 Dementsprechend haben Marianne Wynn einerseits und Cordula Kropik andererseits die Schaugeste Hagens als Richterinszenierung aufgefasst. Nach Wynn verkehre die Richterpose Hagens die Rollen von Täter und Opfer
30 Zu demonstrativer Schaugeste und Schaubildtechnik im Nibelungenlied vgl. Joachim Heinzle: Das Nibelungenlied. Eine Einführung. Frankfurt a. M.: Fischer 1994, S. 82. 31 Vgl. hierzu den Stellenkommentar von Heinzle in: Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung und Kommentar. Hg. v. Joachim Heinzle. Berlin: Deutscher Klassiker Verlag 2015, S. 1400 f. 32 Heinzle: Das Nibelungenlied und die Klage, S. 1400.
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und mache Kriemhild zur Angeklagten.33 Kropik hingegen begründet die vermeintliche Richterrolle Hagens damit, dass er über Siegfried geurteilt habe, da er dessen Tötung »aus der Beleidigung Brünhilds rechtfertigt«.34 Demgegenüber hat Joachim Heinzle eine rechtliche Bedeutung der Hagen-Geste zurückgewiesen und das demonstrative Schaubild stattdessen so gedeutet: »In ihre beiden Komponenten zerlegt – das Sitzen und das Zeigen des Schwerts –, diene sie vielmehr der Zeichnung der Kontrahenten: der Heroisierung Hagens und der Darstellung von Kriemhilds Leid.«35 Mit Heinzles Deutung stimmt überein, dass der Erzähler kommentiert, Hagen und Volker seien schließlich stolz darauf, sich vor niemandem aus Furcht zu erheben.36 In meiner Deutung des Schaubildes geht es der hassenden Hagen-Figur aber doch vor allem um dies: neuerlich Kriemhild zu verletzen und deren Hass anzufachen. Beides gelingt. Wenn Kriemhild das Schwert Siegfrieds erkennt, bricht sie in Tränen aus und der Erzähler kommentiert: »ich waene, ez hete dar umbe der küene Hagen getân« (NL 1781, 4). Zudem lässt sich die Herabgewürdigte ihrerseits zu einem neuen Hassakt hinreißen: »des gie in an den fuoz diu edele küneginne und bôt in vîentlichen gruoz« (NL 1783, 3 f.). Damit ist ein weiterer (verbaler) Schlagabtausch der beiden Kontrahenten stimuliert. Von Hass getrieben verzichten die Figuren auf höfische Interaktionsformen, deren rituelle Stabilität ja auch darauf abzielt, stets Handlungsräume zur Abwägung von Alternativen und zur Friedewahrung offen zu halten – ein weiterer Schritt in Richtung offener Ausbrüche von physischer Gewalt, wie es sowohl Hagen als auch Kriemhild anstreben. So brüstet sich Ha-
33 Vgl. Marianne Wynn: Hagen’s defiance of Kriemhilt. In: Medieval Studies. Presented to Frederik Norman. London: University of London Institute of Germanic Studies 1965, S. 104–114; vgl. Heinzle: Das Nibelungenlied und die Klage, S. 1400. 34 Cordula Kropik: Inszenierte Sage. Überlegungen zum Traditionsverständnis des Nibelungenepikers. In: Nibelungenlied und Nibelungenklage. Neue Wege der Forschung. Hg. v. Christoph Fasbender. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005, S. 141–158, hier S. 148; vgl. Heinzle: Das Nibelungenlied und die Klage, S. 1400. 35 Heinzle: Das Nibelungenlied und die Klage, S. 1400 f. 36 Zum Brautwerbungsbetrug Siegfrieds gehört auch, sich Brünhild gegenüber als Vasall Gunthers ausgegeben zu haben (vgl. NL 418–420). Vor diesem Hintergrund muss es provozieren, wenn Kriemhild von Siegfried schwärmt, dass »elliu disiu rîche ze sînen handen solden stân« (NL 812, 4). Zudem muss Brünhild glauben, von Gunther allein und nicht von Siegfried mit der Tarnkappe unterstützt besiegt worden zu sein. Über den vermeintlichen Vasallenstatus Siegfrieds und die Stellung Gunthers geraten die beiden Königinnen in zornigen Schlagabtausch, der schließlich in Kriemhilds Kebsenvorwurf (Brünhild sei bloß eine Nebenfrau Siegfrieds) gipfelt (vgl. NL 836).
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gen offen mit seinem Mord an Siegfried und bezichtigt zudem Kriemhild einer Mitschuld an dessen Tod: »ich binz aber, Hagene, der Sîfriden sluoc, den helt ze sînen handen. wi sêre er des engalt, daz diu schone Kriemhilt di vroun Brünhilden schalt!« (NL 1787, 2–4)
Die Beschuldigung der Witwe durch den Mörder muss besonders schmerzlich treffen, weil sie zutrifft. Kriemhild hatte im Königinnenstreit nicht nur ihrerseits öffentlich herabsetzende Hassreden gegen Brünhild geführt. Naiverweise war sie es auch, die dem heimtückischen Hagen die verwundbare Stelle ihres Mannes verraten hatte. Nach Siegfrieds Tod beklagt Kriemhild deshalb auch, nichts von Hagens Hass auf Siegfried gewusst zu haben: »wâ man in verhouwen solde, dô er daz an mir ervant, wi moht ich des getrûwen, daz er im waere gehaz« (NL 1108, 2 f.). Jenseits jeglicher Hofetikette ist die Front zwischen Hagen und Kriemhild auf allen Interaktionsebenen präsent. Dennoch legt Hagen nochmals verbal nach. Da seine abermalige Verbalattacke semantisch reine Wiederholung ist, dient diese Äußerung einzig der weiteren Verletzung seines Hassobjektes: »Ez ist et âne lougen, kuneginne rîch, ich hân es alles schulde, des schaden schedelich. nu rechez, swer der welle, ez sî wîp oder man. ich enwolde danne liegen, ich hân iu leides getân.« (NL 1788)
Der Szenenausschnitt aus der 29. Âventiure veranschaulicht auch, wie facettenreich die Register von Hassaktionen in einem mittelalterlichen Erzähltext sein können, finden sich doch ebenso herabsetzende Gebärdensprache, Schmäh- und Schimpfreden sowie ›flammende Taten‹. Im Folgenden wird sich auch zeigen lassen, dass allen Äußerungsformen von Hass eine Verletzungsfunktion eigen ist, die auf die Vernichtung der Gegenpartei abzielt. 2.3 Vertierung durch triuwe und haz Zu den herausragenden ›flammenden Taten‹, die sowohl den Untergang der Nibelungen als auch Kriemhilds zur Folge haben, zählen insbesondere der Überfall der Hunnen auf die burgundischen Knappen in der 32. und Hagens hierauf erfolgter zweiter Mord in der 33. Âventiure: die Tötung von Kriemhilds und Etzels
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Söhnchen Ortlieb, nach der die blutigen Kämpfe in Etzels Halle ausbrechen.37 Die handlungsleitende Negativemotion ist nunmehr allenthalben der heroische Zorn, der ein todbringendes Rasen unter den Helden entfacht. Vor dem finalen Showdown wird aber nicht nur von schier endlosen Einzelkämpfen, sondern auch von barbarischer Vertierung der Wormser Hof- und Ritterkultur erzählt.38 Der wechselseitige Hass von Hagen und Kriemhild hat seine Erweiterung in den wechselseitigen Racheakten von Hunnen und Burgunden gefunden. So wie Kriemhild in ihrem Hass unnachgiebig bleibt, so bleiben auch die Nibelungen in ihrer fatalen Treue fest und liefern Hagen nicht an Kriemhild aus.39 Als nächste Eskalationsstufe lässt Kriemhild daraufhin den Saal in Brand setzen. Angesichts des drohenden Feuertodes der Nibelungen manifestiert sich ein spektakulärer Zivilisationsverlust. Angeführt von Hagen trinken die Nibelungen das Blut der Gefallenen.40 Damit ist aber das Hassnarrativ des Nibelungenliedes als Geschichte von Zivilisationsverlust vor dem Untergang noch nicht auf seinem Höhe- respektive Tiefpunkt angelangt. Die Schlusspartie konfrontiert einmal mehr Kriemhild mit Hagen, die abermals nach dem Verbleib des Hortes fragt. Als dieser den Geheimnisverrat verweigert, solange noch einer seiner Könige lebe, lässt Kriemhild ihren Bruder Gunther enthaupten. Das ist ein zynischer Triumph Hagens und das bitterste Resultat seines Hasses auf Kriemhild: seinen König dafür geopfert zu haben, nun alleiniger Geheimnisträger zu sein, der mit seinem Verschweigen letztmalig in seinem Hass über Kriemhild triumphiert. Kriemhild, ihrerseits um
37 »Hagen«, so Jan-Dirk Müller, »funktioniert das Mahl in eine eigene Gewaltorgie um, indem er es scheinbar mit einem Trinkspruch auf Etzel und seine Gastfreundschaft fortsetzt, es in zynisch parodiertem Minnegedenken zur Totenfeier für Sivrit umdeutet und Etzels Sohn den Kopf abschlägt.« Müller: Spielregeln, S. 428. 38 »Zuerst im Untergang Sivrits, dann dem der Nibelungen wird erzählt«, so Jan-Dirk Müller, »wie Heroen zu Tieren werden. […] Dieses ›Tier-Werden‹ zeichnet der Erzähler zunächst auf der Ebene der Kampfmetaphorik nach, dann immer buchstäblicher bis hin zum Trinken des Bluts der Feinde. […] Die vorgeschobene Beute, das Wild, wird durch die wahre Beute, Sivrit, substituiert.« Müller: Spielregeln, S. 448. 39 Kriemhilds Angebot, die Nibelungen zu verschonen, wird von Gernot damit zurückgewiesen, die Verwandtschaft mit Kriemhild könne keine Geiselauslieferung begründen. Vgl. NL 2102. 40 Zwar weist Müller zu Recht daraufhin, dass mit dem Bluttrinken auf Geheiß Hagens die magische Praktik neuerlichen Kräftegewinnens noch mit anklinge. Die Folge erzählter Mahlmotivik steht aber doch vor allem im Zeichen des »Verspielen[s] der höfischen Alternative« (so Müllers Kapitelüberschrift) als Narrativ eines Zivilisationsverlustes. Vgl. Müller: Spielregeln, S. 432 f.
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den finalen Triumph ihrer Rache betrogen, enthauptet daraufhin eigenhändig das Objekt ihres Hasses.41 Kriemhild als Rachefurie mit einem Schwert in der Hand entfesselt nun sogar bei den eigenen Mannen derartigen Hass, dass es schließlich der alte Hildebrand, ein Vasall ihres Mannes Etzel, ist, der Kriemhild nicht nur erschlägt, sondern regelrecht zerstückelt.42 Dass ein solches Textende im Mittelalter als Skandalon galt, dokumentiert auch die Überlieferung, die dem Hass nicht das letzte Wort ließ, sondern das Nibelungenlied zumeist mit der Klage mildernd fortsetzte.43
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WERNER JANSENS BUCH TREUE: NEUE SUBJEKTE, NEUE OBJEKTE DES HASSES
Wenn Werner Jansen in seinem Buch Treue die Hagen-Figur »zur zentralen Gestalt macht«,44 sind nicht unerhebliche Eingriffe gleichermaßen in die Figurenkonstellation, in das Motivationsgefüge sowie in die Affektcodierung zu gewärtigen. 3.1 Hagen als »eiserner Kanzler« Während aber das Nibelungenlied die Hagen-Figur als höfisch-konventionelles Männlichkeitsideal aus Schönheit, Stärke und Stattlichkeit einerseits und Heroisch-Furchterregendem andererseits gestaltet, gleicht Jansens Hagen-Figur mehr dem Germanengott Wotan wagnerscher Prägung (vgl. BT 10). Zudem verwendet Jansen für Hagen immer wieder das Epitheton der »eiserne Kanzler«,45 wobei die Leserschaft im Kaiserreich wohl noch an Bismarck hat denken müssen.
41 »Si zôch iz von der scheiden. daz kund er niht erwern. dô dâht si den recken des lîbes wol behern. si huob im ûf daz houbet, mit dem swerte siz absluoc.« (NL 2370, 1–3) 42 Die Tötung Kriemhilds durch Hildebrand dokumentiert am Eposende abermals, wie im Nibelungenlied »Gewalt und Gegengewalt« schließlich »keine Rücksicht mehr auf herrschaftliche, gefolgschaftliche oder verwandtschaftliche Struktur nimmt«. Müller: Spielregeln, S. 444. 43 Müller weist darauf hin, »daß nichts im Epos« – bei aller »Lust an der Gewalt« – »seine nationalistische oder militaristische Aneignung rechtfertigt und daß diese auf grober Fehllektüre basiert.« Müller: Spielregeln, S. 443. 44 Hoffmann: Das Buch Treue, S. 511. 45 Jansens »eiserner Kanzler« ist kein Porträt Bismarcks (vgl. Hoffmann: Das Buch Treue, S. 512). Das zitierte Epitheton assoziiert jedoch Hagen bereits mit einem Macht- und Realpolitiker.
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Ebenso ohne Vorlage im Nibelungenlied ist Jansens Hagen mit tierhaftem Scharfblick und Biss eine martialische Verkörperung misogyner Heroik. Dass Hagen keine Frauen um sich duldet (vgl. BT 14, 43), wird gleich mehrfach erzählt.46 In diesem Charakterzug liegt bereits vor jedweder Handlungsveranlassung der Hass gegen seine weibliche Antagonistin mitbegründet. Zu Jansens Innovationen oder schlichten Hinzudichtungen gehört vor allem die Doppelgängermotivik von Sigfrid und Gunther, die zwar die Verwendung so mythischer Zaubermittel wie Sigfrids Tarnkappe obsolet machte, selbst aber nicht minder phantastisch ist.47 Bei der Zeichnung der Hauptfiguren tendiert Jansen zudem dazu, im Nibelungenlied Angelegtes ins Extreme zu steigern. So macht seinen König Gunther etwas aus, »das […] größer [ist] als sein Zorn […], mächtiger als seine Liebe zu Burgund: seine unersättliche Gier nach Gold« (BT 19). Während die Treue des mittelalterlichen Hagen Person und Amt seines Königs Gunther gilt, ist Jansens Hagen zunächst einzig »der Institution, und über sie hinaus seinem Volk, seinem Vaterland«48 verpflichtet. Nach Hoffmann »verkörpert Hagen nicht nur die Idee der Treue, er ist gleichsam die Treue selbst in einem so unbedingten Sinne, daß sie als höchster Wert ihren Sinn und Zweck in sich selbst trägt (vgl. BT 255) und im Grunde inhuman wird«.49 Denn Hagen belehrt Volker so: »Die Treue macht stark, nicht der Mann, dem man sie hält!« (BT 151) Diese Zweikörperlehre des modernen Hagen gründet auch in der Abwertung der Gunther-Figur.50 Jansens Gunther ist ein schwacher, dekadenter König und der Hass Hagens gleichsam dessen Erziehungsmittel zur Mannbarkeit: »Ich will einen König für mein Volk! Ich will, daß er sich besinne; und da er im Guten versagte, hab’ ich ihn durch die Hölle geschleppt, damit er Mann werde. Ich hab’ es getan, ich trage meine Tat und mehr! Was kümmert’s mich, wer unter unsern Schritten fällt!« (BT 150)
46 Zu Jansens Frauenfiguren vgl. Kim: Das Ende des historischen Romans, S. 101–110. 47 Jansens Hagen erklärt derartige Motivik für ›Kinderkram‹ (BT 58); vgl. Hoffmann: Das Buch Treue, S. 513. 48 Hoffmann: Das Buch Treue, S. 120. 49 Ebd. 50 Gunthers Schwäche gründe in »früh[en] sexuellen Ausschweifungen«, so Hoffmann: Das Buch Treue, S. 512.
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3.2 Mehr als mittelalterliche Misogynie: Jansens Frauenfeindlichkeit Auch dem berühmten Königinnenstreit, von der Wormser Hoföffentlichkeit vor dem Münster in eine vertrauliche Badeszene am Rheinufer verlegt,51 fügt Jansen eigene Motivvariationen des Hasses hinzu. Zwar bleibt er dem Stoff bzw. dem Plot des Nibelungenliedes dahin gehend treu, dass Chriemhild und Brunhild aufgrund der Standeslüge Sigfrids auf Isenstein darüber zunächst in excitable speech, schließlich aber in hate speech geraten, welcher ihrer Männer den höheren Rang beanspruchen könne. Anders aber als im Nibelungenlied ist bei Jansen Brunhilds Fremdheit in Worms Grund des Hassens. In ihrer »Schmährede«52 vermag sie in der beständig zur Heimat verkitschten Rheinlandschaft – »[d]er emotional aufgeladene Begriff der Heimat durchzieht leitwortartig den ganzen Roman«53 – nur den verabscheuungswürdigen Charakter ihrer Nebenbuhlerin zu erkennen: »Ihr paßt gut zu einander, du und dein Land! Liegt es nicht da wie eine selbstgefällige, eitle Dirne […]? Ich hasse dies Land ohne Größe, ohne Mark!« (BT 130) Im Schlagabtausch dieses Hassdialogs würdigen sich die Protagonistinnen gemessen an mittelalterlichen Verhaltenscodes und Standesvorstellungen nicht nur aufs Äußerste herab. Brunhilds Beschimpfung Chriemhilds als »entartete Frau« (BT 132) ist vielmehr offenkundig ohne mittelalterliches Pendant. Zudem lässt Jansen den Hass Chriemhilds auch in maßloser Eifersucht gründen: »[D]ie hochmütigste der Frauen [Brunhild] soll ihre Strafe haben, die Nebenbuhlerin in Schönheit, Macht und Liebe soll vernichtet am Boden liegen« (BT 133). Und auch diesen Ausgang des Königinnenstreites kennt das Mittelalter nicht: Von einer triumphierenden Chriemhild darüber aufgeklärt, nicht von Gunther bei der Brautwerbung besiegt, sondern von seinem Doppelgänger Sigfrid auch noch in der Brautnacht bezwungen worden zu sein, richtet Jansens Brunhild ihren maßlosen Hass gegen das Kind, das sie trägt: Sie preßt die Schenkel, daß die Mähre sich zuschanden müht und wie ein Pfeil dem fernen Rauch entgegen stürzt, der sich gegen die Ferne hebt; der Rauch ist Worms. Blut dringt durch ihr Gewand, strömt über den Sattel; ihre Züge verzerren sich: die Strafe beginnt!
51 Kim weist darauf hin, »[a]uch in der Völsungensaga und im Held des Nordens von Friedrich de la Motte Fouqué liegt der Schauplatz am Strand«. Kim: Das Ende des historischen Romans, S. 103, Anm. 110. 52 Ebd., S. 104. 53 Hoffmann: Das Buch Treue, S. 121.
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Die Rache beginnt! Sie zerschlägt ihr Herz, das nicht von der Liebe lassen kann, und flammend wächst der Haß aus den Trümmern. (BT 135)54
Schließlich verschafft Jansen seiner Hagen-Figur auch eine neue Motivation, seine Königin Brunhild zu rächen, denn Chriemhild schwört bereits vor Sigfrids Tod Land und Leuten Burgunds ab: »Was schiert mich Burgund! Ich bin Königin zu Xanten, nicht zu Worms, und die Niederlande stehen mir näher als die alte Sippe!« (BT 147 f.) Hagens Hass hat hiermit bereits eine Motivationsfacette, die ›positiv‹ codiert ist, denn Hagen »wittert Gefahr, und tollkühne Verachtung reißt einen Rachegedanken in seiner Seele bloß, so gesättigt von wilder Grausamkeit wie keiner seinesgleichen« (BT 148). Jansen steigert Chriemhilds Hochmut zur außenpolitischen Bedrohung ganz Burgunds und die Schande des Königshauses zur Ehrlosigkeit des ganzen Volkes: »[H]ier geht es um die Ehre meines Volkes«, erklärt Hagen, und »dies Volk mag nicht atmen ohne Ehre!« (BT 154) Darüber hinaus betreibt Jansen erheblichen Aufwand mit diversen Strategien von Sympathiesteuerung, um seine Hagen-Figur dem zeitgenössischen Publikum als ›vorbildlich‹ erscheinen zu lassen, obwohl oder gerade weil (sein) Hagen als Mörder Sigfrids ein Verbrecher ist. So agiert der moderne Hagen mitnichten skrupellos, sondern muss erst von der Stimme seines Herzens sowie von einem Runenspruch von der Legitimität seines Hasses auf Sigfrid überzeugt werden: »[D]er sonnige Liebling der Götter leuchtet wie Baldur selber über die Flur […]. Wer lebt, der diesen hassen könnte? – Hagen […] spricht im Herzen: ›Ich bin es; ich hasse ihn. […] Muß ich ihn nicht hassen um meines Königs willen? Offenbart er nicht in jeder Stunde seines Lebens die Schande meines Herren?‹« (BT 158) So wird die Ermordung Sigfrids zu einer Angelegenheit der Staatsräson. Da Hagens Hass in seiner maßlosen Vaterlandsliebe gründet, ist er zum ›größten Selbstopfer‹ bereit, nämlich für dieses Vaterland zum Verbrecher zu werden und Schuld auf sich zu nehmen. Hierbei hat Hagen in den beiden größten Sympathieträgern des mittelalterlichen Stoffes, in Chriemhilds jüngstem Bruder Giselher und Markgraf Rüdiger, überraschenderweise prominente Fürsprecher. Rüdiger verklärt den ›eisernen Kanzler‹ zu einer Naturgewalt, die ebenso festgeschriebenem Fatum wie der unveränderbaren eigenen Natur folge: [Rüdiger] sieht die Tat des Mörders in einem anderen, schärferen Licht, und er erkennt sie als etwas, das nie vergeben wird […] und nicht anders geschehen konnte. Kann der Sturm anders als stürmen? Die Treue anders als Treue sein? Er erkennt höhere Mächte über dem
54 Kim nennt diese Schilderung eine »Abtreibung mit sozusagen bloßen Händen«. Kim: Das Ende des historischen Romans, S. 105.
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Kanzler und über der Königin, und sein milder Sinn umfaßt sie beide mit gleicher Sorge. (BT 255)
3.3 ›Größte‹ Treue: Travestie für den König Bei Jansen findet sich nach Sigfrids Ermordung eine Szene, die ihresgleichen in der Stoffgeschichte der Nibelungen nicht hat. Ein von Gewissensbissen in Fieberwahn getriebener König, der mit seinen Schreien das Mordgeheimnis ebenso enthüllt wie er infantil seine Mutter herbeisehnt,55 wird von dem Mörder Sigfrids, den er seit der Tat selbst hasst, regelrecht betreut: »ich wache und pflege« (BT 225). Aber auch Hagen scheint in einer Art von Wahn zu sein, sieht er doch am Krankenbett seines Königs die Reihe seiner eigenen Ahnen vorüberziehen, die ihm ihre Ehrbezeugung erweisen und so dem Tronjer neue Kraft verleihen.56 Das ist aber des Kitschigen wie des Schauerromanhaften noch nicht genug. In seiner »Treue ohne Maß« (BT 229) weiß einzig der ›eiserne Kanzler‹ seinen siechen König vor dem Tode zu bewahren und schreckt auch vor diesem »Narrenopfer« (BT 226) nicht zurück: In Frauenkleidern lässt Hagen »fünf Tage und Nächte« (BT 226) seinen König in der Illusion genesen, seine Mutter pflegte ihn, und zeigt angesichts der Rettung seines Herrn mehr als Mitgefühl mit dem König, den er »mit erschütterndem Liebesblick umfaßt« (BT 228). 3.4 Rassistische Hassbilder: Jansens Hunnen Hyuk Kim hat als regelrechte Feindbilder Jansens die ›entarteten Welschen‹ und ›Mischblut‹, ›Neger‹ und Katholiken sowie vor allem das ›Affenvolk‹ der Hun-
55 Die Motivik des schwachen Gunther, der (noch) nicht von seiner Mutter getrennt werden kann, kommt bereits im Waltharius vor. An dessen Stelle wird Hagen als Geisel Attilas verwandt: »Hunc, quia Guntharius nondum pervenit ad aevum, Ut sine matre queat vitam retinere tenellam, Cum gaza ingenti decernunt mittere regi.« (»Diesen beschloß man mit mächtigem Schatze dem König zu senden, weil nämlich Gunther damals noch nicht in das Alter gekommen, daß ohne Mutter er konnte sein zartes Leben bewahren.«) Waltharius. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und hg. v. Gregor Vogt-Spira. Stuttgart: Reclam 2010, S. 34 f. 56 Im Zusammenhang mit Hagens Tod verweist Kim auf den Germanenglauben, »in einer anderen Existenz oder in einer anderen Sippe als Wiedergeborener fort[zu]leben«, bzw. an eine ›germanische Seelenwanderung‹. Kim: Das Ende des historischen Romans, S. 118.
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nen ausgemacht.57 Das mittelalterliche Nibelungenlied hingegen kennt keinerlei herabsetzende Darstellung von Fremdheit, nicht einmal des Heidenkönigs Etzel.58 Die Darstellung der Hunnen ist in Jansens Buch Treue auch ein plakatives Beispiel für rassistisches Sprechen. Und für dieses gilt nach Judith Butler, dass »die Minderwertigkeit der Rasse dessen [behauptet wird], an den sie sich richtet, und [es] bewirkt zugleich die Unterwerfung dieser Rasse durch die Äußerung selbst«.59 So sind bei Jansen kulturelle wie ethnische Kontraste in ihrer völkischen Grundierung zudem grotesk plakativ. Auf der einen Seite steht die »glänzende Schar riesiger, blondbärtiger Germanen« (BT 264) und auf der anderen befinden sich hunnische »Reiterscharen, endlos, endlos und schrecklich, wie Schwärme des Todes, schlitzäugig, breitmäulig und gelb« (BT 242) als »Etzels plattnasige […] Affen« (BT 246).60 3.5 Hass und Erotik: Hagen und Kriemhild In seinem Hass hat Jansens Hagen-Figur in Chriemhilds Hass ihr Äquivalent gefunden und dieser gleich dimensionierte Hass wirkt paradox. Er ruft in den Hasssubjekten eine Art von Respekt hervor und perpetuiert dadurch zugleich den Hass auf das Gegenüber, »fast dankbar, einen Feind« (BT 213) auf Augenhöhe zu haben. In der letzten Begegnung von Hagen und Chriemhild wird der gegenseitige Hass stoffbedingt in nicht mehr steigerungsfähiger Intensität gezeigt. Bei Jansen wird die Negativemotion Hass jedoch völlig ins Positive pervertiert. Den Protago-
57 Vgl. die gleichnamigen Unterkapitel zu »3.2.3 Jansens Feindbilder« in Kim: Das Ende des historischen Romans, S. 217–242. Jansens Hunnenklischees sind wie vieles in seiner Dichtung so tendenziös wie unoriginell. Schon Klaus von See verweist in diesem Zusammenhang etwa auf Friedrich Hebbel und Felix Dahn, die in ihren Gedichten Auf das Nibelungenlied (1858) und in Deutschen Liedern (1859) mit vergleichbaren Hunnenbildern und Heroisierungen Hagens aufwarten. Vgl. von See: Das Nibelungenlied, S. 334. Zum Feindbild von Jansens Hunnen vgl. Kim: Das Ende des historischen Romans, S. 219–221; Hoffmann: Das Buch Treue, S. 518. 58 Zu Beginn der 22. Âventiure des Nibelungenliedes werden die Hunnen als prächtiges und ansehnliches Reitervolk beschrieben (vgl. NL 1343). 59 Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2016, S. 116. 60 Nach Kim »respektiere [Etzel] das Gastrecht nur ›des Treusinns seiner Deutschen wegen‹«. Zudem sei Etzel »neidisch auf die Deutschen«, denn er »fühlt in der Tiefe, er müsse dies lichte Geschlecht bewundern und hassen« (BT 327). Kim: Das Ende des historischen Romans, S. 220.
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nisten im Nibelungenlied absolut wesensfremd, agieren Jansens Hagen und Chriemhild neuerlich getrieben von der Erotik ihres Hasses. Wenn Chriemhild Hagen den bluttriefenden Kopf ihres Bruders vorhält, »strömt Glut in den Wunden [Hagens], und sein maßlos wildes Herz schlägt in einem solchen Hochgefühl des Lebens, daß er sich reicher dünkt als je zuvor« (BT 346). Jansens Hagen triumphiert, denn der Tod des Königs macht seinem Kanzler das Sterben leicht. Chriemhild wird hieraufhin von einem regelrechten Zornrausch gelenkt, »eine wahnsinnige Lust ergreift sie« (ebd.) und sie hebt »voll Angst, um die Krone ihrer Rache zu kommen, […] das Schwert über sich und schlägt es auf den Tronjer« (ebd.). Hagens Leib stürzt und vollbringt eine letzte Heldentat. Er »streckt sich und zerreißt im Tode noch die Fesseln, die sein Heldentum schändeten« (ebd.).
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›[NICHT] AUF DEN SCHULTERN VON RIESEN‹: DAS BUCH TREUE UND DAS NIBELUNGENLIED
Die Konfrontation von mittelalterlicher und moderner Nibelungenerzählung bestätigt neuerlich Klaus Ridders Betonung von »Affektbewertungen: Wie Affekte eingeschätzt werden, gehört zu den wichtigsten Charakteristika kultureller Stile.«61 Jansens moderne Reformulierung des Nibelungenliedes sucht Hagens Hass in Vorbildlichkeit umzumünzen. Wenn der Staat in Not ist, sei auch ein Verbrechen Treuepflicht, denn »[d]ie Götter sehen lieber eine rasche, wilde Mannestat, denn feiges Zaudern vor den Gespenstern einer geringen Schuld« (BT 87). Hiermit nimmt Jansen eine Deutung der Hagen-Figur vorweg, wie sie sich schließlich auch bei Alfred Rosenberg, einem Hauptideologen des Nationalsozialismus, wiederfindet.62 Und plumpe Herrenmenschenlogik ist es, wenn es bei Jansen ferner heißt: »Noch immer behält der Recht, dem die Gewalt gegeben ist« (BT 187). Derartiges Gedankengut an Soldaten im Ersten Weltkrieg adressiert ist eine nationalistische Entkoppelung von Pflicht und Moral. Während das Nibelungenlied in seiner Alternativlosigkeit schier negativdidaktisch vorführt, wie sich fatales Ethos und scheiternde Affektkontrolle, Treue und Hass, so verzah-
61 Ridder: Kampfzorn, S. 246. 62 »Uns erscheint selbst eine unheimliche Gestalt wie Hagen bedeutend größer als etwa Petrus, der ›Fels‹. Hagen wirft seine Ehre weg im Dienst für die Ehre seines Königs und stirbt zuletzt dafür stolz und ungebrochen.« Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. München: Hoheneichen-Verlag 1937, S. 188.
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nen, dass es ausnahmslos alle in den Untergang reißt,63 ist Jansens Nibelungenroman ein regelrechter Hasstext. Denn er propagiert Hass als vorbildlich, wenn er sich gegen die ›richtigen‹ Objekte – gegen ›staatsfeindliche‹ Männer und Frauen oder gegen ›minderwertige‹ Völker – richtet. Damit steht aber Jansens Neuerzählung der Nibelungen eben nur paratextuell erlogen auf den Schultern des mittelalterlichen Mythos.
LITERATUR Textausgaben Das Nibelungenlied. Die Urschrift nach den besten Lesarten neu bearbeitet und mit Einleit und Wortbuch zum Gebrauch für Schulen versehen von August Zeune. Berlin: Maurersche Buchhandlung 1815. Der Nibelungen Lied. Erneuet und erklärt von Friedrich Heinrich von der Hagen. Zweite umgearbeitete Ausgabe. Frankfurt a. M.: Franz Varrentrapp 1824. Das Nibelungenlied in der Übertragung von Karl Simrock. Berlin: Julius Bard 1910. Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B hg. v. Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse. Stuttgart: Reclam 2011. Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung und Kommentar. Hg. v. Joachim Heinzle. Berlin: Deutscher Klassiker Verlag 2015. Herzog, Rudolf: Die Nibelungen. Des Heldenliedes beide Teile neu erzählt. Berlin: Neufeld & Henius 1913. Jansen, Werner: Das Buch Treue. Nibelungenroman. Hamburg/Braunschweig/Berlin: Georg Westermann 1917. Scherer, Wilhelm: Nibelungentreue. Kriegsgesänge. Regensburg/Rom: Pustet 1916. Waltharius. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und hg. v. Gregor Vogt-Spira. Stuttgart: Reclam 2010. Walther von der Vogelweide. Herausgegeben, geordnet und erläutert von Karl Simrock. Bonn: Adolf Marcus 1870.
63 Ridder begründet »[d]ie Kritik einer die Gewalt feiernden Kriegerethik […] mit der Verschriftlichung […] überwiegend durch Litterati, die in der christlich-lateinischen Schriftkultur zuhause sind«. Ridder: Kampfzorn, S. 223, Anm. 7.
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Luther – ein deutsches Hass-Subjekt Der Hass als Affekt des Reformators und seiner Wiedergänger in der Literaturgeschichte Robert Walter-Jochum
Die affektive Mobilisierungskraft der Figur Martin Luther ist – allen Wehklagen auch der protestantischen Kirchen über schwindende Mitgliederzahlen zum Trotz – ungebrochen, wie die Ereignisse des Lutherjahres 2017, etwa mit 120.000 zu Ehren des Reformators am 27./28. Mai des Jubiläumsjahres beim Kirchentag in den Wittenberger Elbwiesen Versammelten, unter Beweis gestellt haben. In ihrer Betonung der Ökumene, christlicher Freiheits- und Friedensbotschaften und ihrem Setzen auf eine gemeinschaftsorientierte ›Eventisierung‹ des 500. Jahrestags von Luthers Thesenanschlag sind diese Feierlichkeiten sicherlich weit weg von dem, was im Zusammenhang des vorliegenden Bandes unter dem Signum ›Hass/Literatur‹ analysiert wird und bedürfen einer spezifischen Zurichtung des Jubilars, die in der aktuellen gesellschaftlichen Situation als anschlussfähig angesehen wird – Luthers Hass steht dabei eher im Hintergrund oder wird allenfalls als Problem behandelt, mit dem sich auch jener einmal auseinandersetzen müsse, der Luther und sein Werk ansonsten feiert. Die Jubiläumsfeierlichkeiten unterstreichen indes, dass eine affektive Vergemeinschaftung – ein zentraler Aspekt des Zusammenkommens von Menschen in religiösen Kontexten1 –
1
Der vorliegende Aufsatz ist aus der Beschäftigung mit Affektivität, Vergemeinschaftung und Hassrede in religiösen Kontexten hervorgegangen, der sich das Projekt »Gefühle religiöser Zugehörigkeit und Rhetoriken der Verletzung in Öffentlichkeit und Kunst« im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereich 1171 »Affective Societies« widmet. Ein wesentlicher Ausgangspunkt dieses Projekts ist die Annahme, dass religiöse Vergemeinschaftung wesentlich von affektiven Prozessen bedingt wird, die sich auch an diskursiven Verhandlungen von
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auf Grundlage eines spezifischen Lutherbildes auch heute noch ohne größere Schwierigkeiten gelingt. Derartige Vergemeinschaftungsprozesse – die Bildung von, sagen wir, Affective Communities bzw. Societies – sind für ein Verständnis gesellschaftlichen und insbesondere religiösen Zusammenlebens zentral. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, lässt sich schon das Geschehen in der Frühphase der Reformation im frühen 16. Jahrhundert als ein ebensolcher Prozess beschreiben: Mittels nicht zuletzt affektiver Dynamiken bildet sich hier eine neue Kirche heraus, es findet eine Gruppenbildung statt, die natürlich einerseits auf Argumenten und Sachbezügen basiert, bei der aber auch unterstrichen werden muss, dass die affektive Relationalität2 der an ihr Beteiligten und ihre affektive Abgrenzung von Gegengruppen als konstitutiv für die Herausbildung des Protestantismus angesehen werden können.3
Religiosität beobachten lassen, nicht zuletzt in Bezug auf ein Geschehen der Verletzung durch Sprache und Sprechakte. Vgl. zum weiteren Projektkontext Christian von Scheve/Robert Walter-Jochum: Reading for Affect: The Religious-Secular Divide. An Account of Affect, Emotion, and Conflict in Multicultural Societies. In: Public Spheres of Resonance. Constellations of Affect and Language. Hg. v. Anne Fleig und Christian von Scheve. London: Routledge 2019 (im Druck). 2
Mit »affektiver Relationalität« ist die – im Anschluss an die Spinoza-Rezeption von Gilles Deleuze herausgestellte – grundlegende Funktion von Affekten gemeint, Gruppen zu bilden und Verhältnisse zwischen Individuen und Objekten zu etablieren. Zu diesem Begriffsverständnis, das großen Anklang in den angloamerikanisch dominierten Affect Studies gefunden hat, vgl. beispielsweise Jan Slaby: Relational affect. Working Paper SFB 1171 Affective Societies, 02/2016. https://refubium.fu-berlin.de/handle/fub188/ 17927 (14.12.2018); Jan Slaby/Birgitt Röttger-Rössler: Introduction: Affect in Relation. In: Affect in Relation. Families, Places, Technologies. Hg. v. dens. London: Routledge 2018, S. 1–28.
3
Derartige Abgrenzungsdynamiken sind im skizzierten Projektrahmen in erster Linie untersucht worden für Bereiche des interreligiösen Kontakts zwischen zeitgenössischen dominant christlichen Gesellschaften und dem Islam. Vgl. hierzu etwa N. Yasemin Ural/Anna L. Berg: Freedom of Speech and Secular Affect in German Public Debates. In: Inside Out. Affect and Emotion in Multi-Religious Secular Societies. Hg. v. Christian von Scheve u. a. London: Routledge 2019 (im Druck); Aletta Diefenbach/Christian von Scheve: ›Islamisierung des Abendlandes‹. Zur Struktur der Angst vor dem Islam als mobilisierende Emotion im Rechtspopulismus. In: Politik mit Gefühl – Vom Umgang mit Gefühlen und anderen Kleinigkeiten im Feld von Politik und politischer Bildung. Hg. v. Anja Besand, Bernd Overwien und Peter Zorn. Berlin: Bundeszentrale für politische
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Für eine solche affekttheoretische Lesart des Reformationsgeschehens ist aus literaturwissenschaftlicher Sicht interessant und zentral, dass sie sich mit den Texten Martin Luthers auf Grundlagen beziehen kann, die ihrerseits in Rhetorik, Sprachmaterial und Pragmatik eine herausgehobene affektive Gestalt aufweisen. Für eine Fragestellung, die spezifische historische und systematische Konstellationen von Hass und Literatur in den Mittelpunkt stellt, sind Luthers Texte nicht zuletzt deshalb bedeutsam, weil eine wesentliche Rolle in ihnen der sprachlich artikulierte Hass spielt, der auch dazu dient, das Kollektiv der Reformation gegenüber anderen Kollektiven abzugrenzen und so eine relationale Stabilisierung des ›Reformationsvolks‹ zu ermöglichen. Diese affektive Komponente von Luthers Schrifttum ist in der Literatur immer wieder unterstrichen worden und sie ist selbst bei einem flüchtigen Blick auf die entsprechenden Texte unverkennbar – auch wenn wir eine zeitliche Alterität in Rechnung stellen müssen, die uns Luthers Texte aus heutiger Sicht womöglich deutlich affektiver erscheinen lässt, als das für die Zeitgenossen der Fall war.4 Der ›hassende Luther‹ ist gleichsam ein affektiver Motor der Gruppenbildung, die unabdingbar ist, um den Erfolg der Reformation in ihrer Abgrenzung von der katholischen Kirche, aber auch anderen Gruppen zu gewährleisten. Im Folgenden wird es mir darum gehen, an einigen Beispielen nachzuzeichnen, wie diese Affektivität von Luther als Hassendem in der literarischen Lutherrezeption im 20. und 21. Jahrhundert produktiv gemacht wird – in sehr unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichen Ausrichtungen und Schwerpunktsetzungen, aber markant an die Effekte einer von affektiven Dynamiken des Hasses ausgehenden Gruppenbildung ansetzend und diese reflektierend. Unnötig zu sagen, dass die Auswahl der hier vorzustellenden Texte dabei sehr begrenzt bleiben muss – an aktuellen Überblicksdarstellungen zur Lutherrezeption in der
Bildung 2019 (im Druck); Robert Walter-Jochum, Anna L. Berg, N. Yasemin Ural: Michel Houellebecqs Soumission und »die Muslime« im französischen und deutschen Diskurs darüber. In: Diskurs – kontrastiv. Diskurslinguistik als Methode zur Erfassung sprachübergreifender und transnationaler Diskursrealitäten. Hg. v. Heidrun Kämper u. a. Bremen: Hempen 2018, S. 176–191. Vgl. hierzu auch die Beiträge von Aletta Diefenbach und N. Yasemin Ural im vorliegenden Band. 4
Vgl. dazu etwa Birgit Stolt: Martin Luthers Rhetorik des Herzens. Tübingen: Mohr Siebeck 2000, hier S. 1–41. Zum Begriff der Alterität und seiner auch kritischen Reflexion, vgl. die Beiträge in Manuel Braun (Hg.): Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität. Göttingen: V&R unipress 2013.
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Literatur, in die sich diese Einzelpositionen einordnen lassen, herrscht, zumal nach dem Lutherjahr 2017, kein Mangel.5 Zunächst werde ich einige kurze Worte zum hier zugrunde liegenden Verständnis von Hass und zum affekttheoretischen Paradigma sagen, von dem das hier Untersuchte ausgehen wird. In einem zweiten Schritt komme ich zu einigen Anmerkungen zu herausstechenden ›Hass-Texten‹ Luthers, an denen sich zeigen lässt, inwiefern sie auf eine Gemeinschaftsbildung durch von der Hassrede ausgehende affektive Dynamiken setzen. Drittens skizziere ich kurz wesentliche Konjunkturen der literarischen Rezeption des hassenden Luther im ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, was sich nicht zuletzt mit den Lutherjahren 1883 (450. Geburtstag), 1917 (400 Jahre Thesenanschlag) und 1933 (500. Geburtstag) verbindet. Schließlich widme ich mich zwei Beispielen: der 1933 uraufgeführten »Reichssendung« Wende in Worms von Josef Buchhorn und dem im Lutherjahr 2017 erschienenen Roman Evangelio von Feridun Zaimoglu. Während Buchhorns Hörspiel vielleicht als paradigmatisch für die ideologische und in Bezug auf die Abgrenzung von Gruppen über den Hass bejahende Aneignung der Figur Luther im Nationalsozialismus gelten kann, zeigt der jüngste Roman Zaimoglus, dass man dem hassenden Luther offensichtlich auch vor dem ganz anders gearteten zeitlichen Hintergrund unserer Gegenwart etwas abgewinnen kann, vor allem im Hinblick auf die affektive Kraft seiner Sprache.
1
AFFEKTTHEORETISCHE VORÜBERLEGUNGEN
Der phänomenologische Philosoph Aurel Kolnai fasst unter ›Hass‹ 1935 ein Gefühl von »Feindschaft, Widerstreben, Ablehnung, Gefühlseinstellung negativer Art«, das von »Einsetzung der eigenen Person, Tiefe und Zentralität« geprägt und durch eine Intention oder Tendenz der »Vernichtung« gegenüber dem Gehassten gekennzeichnet ist.6 Als Hass wird dabei eine verfestigte Haltung beschrieben, die sich insofern von anderen (eher episodischen) negativen Gefühlen wie Zorn oder Ekel abgrenzen lässt. Kolnai betont, dass der Hass ein »höher ge-
5
Vgl. etwa mit besonderem Schwerpunkt auf die literarische Lutherrezeption Norbert Mecklenburg: Der Prophet der Deutschen. Martin Luther im Spiegel der Literatur. Stuttgart: Metzler 2016. Auf die Rezeption der auch hier relevanten ›Judenschriften‹ Luthers konzentriert sich: Wolfgang Kraus u. a. (Hg.): Martin Luthers »Judenschriften«. Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015.
6
Aurel Kolnai: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Mit einem Nachwort von Axel Honneth. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 100 f., 105.
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spanntes metaphysisches Bewusstsein«7 mit sich bringt und sich daher dazu eignet, ein »Weltbild des Hasses«8 auszugestalten, das nicht auf pragmatische Konfliktlösung orientiert ist, sondern auf die Verfestigung der Ablehnung des gehassten Gegenstandes bzw. dessen Zerstörung, womit ein über den konkreten Einzelfall hinausgehender ›Welthass‹ einhergehen kann. Ein wesentlicher Aspekt von Hassrede liegt in deren von Kolnai als »Manichäismus« beschriebenem Potenzial, eine affektive Gruppenbildung zu ermöglichen, die bis hin zu einer Gegenüberstellung der hassenden und der gehassten Partei als »Gottesheer gegen Teufelsheer«9 reicht. Kolnai attestiert dem Hass daher eine grundlegende Affinität zum Religiösen, und zwar insofern, als er eine »›Verteufelung‹ des Gegenstandes« mit sich führe, der auf der anderen Seite die Liebe »des absolut wertvollen, also Gottes«10 gegenüberstehe, die mit dem Eigenen assoziiert werde. Über die sowohl argumentativen als auch affektiven Züge der Hassrede kommt es so zur Bildung von Kollektiven im Sinne einer »Affective Economy« – wie das die Affekttheoretikerin Sara Ahmed nennt –, die die Zirkulation der Hassrede dazu nutzt, Festschreibungen von geliebten gleichermaßen wie gehassten Gruppen zu ermöglichen.11 Hass kann insofern als affektives Bindemittel in Kollektiven genutzt werden. Während Kolnai von einer phänomenologischen Traditionslinie herkommend Hass zunächst als Emotion fasst, d. h. als im Inneren eines Individuums aktualisiertes Konzept, das mit einem spezifischen Fühlen gegenüber der Außenwelt einhergeht,12 öffnet Ahmeds relationaler Blick auf Emotionen die Perspektive hin auf die Logik der Affect Studies, die weniger an individuellem Fühlen interessiert sind als an den relationalen Dynamiken, die mit Emotionen einhergehen, den nicht einfach konzeptuell zu fassenden affektiven Intensitäten, die hier entstehen, und den Abgrenzungsmechanismen, die dafür sorgen, dass Emotionen und Affekte nicht als Eigentum eines Individuums oder einer Gruppe an-
7
Ebd., S. 133.
8
Ebd.
9
Ebd.
10 Ebd., S. 135. 11 Vgl. Sara Ahmed: Affective Economies. In: Social Text 22 (2004), H. 2, S. 117–139. 12 Ein derartiges Emotionsverständnis vertreten etwa die im Bereich der psychologischen Emotionsforschung gängigen Appraisal-Theorien. Vgl. dazu Klaus R. Scherer/ Angela Schorr/Tom Johnstone (Hg.): Appraisal Processes in Emotion: Theory, Methods, Research. Oxford/New York: Oxford UP 2001; Richard S. Lazarus: Emotion and Adaptation. Oxford/New York: Oxford UP 1991.
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gesehen werden können, sondern ein Medium bereitstellen, in dem diese Entitäten erst entstehen.13 In diesem Kontext stellt sich daher die Frage, inwiefern Hassrede eine affektive Dynamik hervorrufen kann, die zu einer (religiösen) Gruppenbildung beiträgt. Es geht dabei nicht um den Hass als innerliches Gefühl, sondern um die relationalen Dynamiken, in denen er sich verwirklicht: Affekte verbinden Objekte, sie bestehen als Intensitäten in den Zwischenräumen zwischen ihnen und lassen Kollektive und Individuen erst erkennbar werden.14 Interessant ist es, diese Dynamiken im Hinblick auf Fragen des interreligiösen Kontakts zu analysieren – etwa in dem Spannungsfeld, das in Auseinandersetzungen um die Rolle des Islam in zeitgenössischen europäischen Gesellschaften entsteht – und sich hier anzusehen, inwiefern in solchen Kontexten affektive Dynamiken hervortreten, die in einem Geschehen von Verletzung wurzeln. Derartige zeitgenössische Szenarien sind Gegenstand des Forschungskontextes, aus dem die vorliegende Studie hervorgegangen ist. Die hier skizzierte theoretische Anlage ist jedoch zeitlich und kulturell nicht auf diesen Gegenwartskontext festgelegt, vielmehr gilt es zu überprüfen, ob es nicht in anderen religiösen Gruppenbildungen vergleichbare Effekte gibt. Die Schriften von Martin Luther und seine Karriere als literarische Figur lassen, so meine These, die einschlägigen Dynamiken der Hassrede ebenso deutlich erkennbar werden. Hass zeichnet in den verschiedenen Fällen, auf die ich im Folgenden eingehen werde, auf unterschiedliche Weise für eine affektive Dynamisierung verantwortlich, die zur Her-
13 Ein Grundlagentext, von dem dieses Verständnis von Affekt und Intensität ausgeht, ist Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Aus dem Franz. übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin: Merve 1992. Für die Begründung der Affect Studies wird dieser Text wirksam durch die englische Übersetzung durch Brian Massumi, der in seinem Vorwort die hier angesprochenen Begriffe in ihrem Zusammenhang darstellt. Vgl. Brian Massumi: Notes on the Translation and Acknowledgments. In: Gilles Deleuze/Félix Guattari: A Thousand Plateaus. Capitalism and Schizophrenia. Übers. v. dems. Minneapolis: University of Minnesota Press 1987, S. XVI–XX. Vgl. auch Brian Massumi: Parables for the Virtual: Movement, Affect, Sensation. Durham: Duke University Press 2002. 14 Vgl. zur Frage der Tragfähigkeit eines solchen Hassverständnisses für die literaturwissenschaftliche Arbeit die Überlegungen in Jürgen Brokoff/Robert Walter-Jochum: Hass und Verachtung aus literaturwissenschaftlicher Sicht. In: Emotionen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. v. Hermann Kappelhoff u. a. Stuttgart/Weimar: Metzler 2019 (im Druck).
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stellung religiöser, aber auch ideologischer Kollektivität genutzt werden kann bzw. eine solche befördert.15
2
LUTHERS TEXTE, DER HASS UND SEINE RELEVANZ FÜR DIE AFFEKTIVE KOLLEKTIVBILDUNG
Auch wenn dies hier nur in aller gebotenen Kürze möglich ist, scheint es doch nötig, an einigen Beispielen die skizzierten affektiven Dynamiken des Hasses in Luthers Werk nachzuzeichnen. Charakteristisch – und auch von Kolnai betont – ist die für die Hassrede typische Methode der Arbeit mit sich ausschließenden Gegensätzen, die jeweils zu maximal entgegengesetzten Polen gesteigert werden: In den Schriften, die am deutlichsten von Luthers Hassrede zeugen, läuft diese Gegensatzbildung stets auf die Opposition zwischen Gott und Teufel hinaus. Insofern ist Luther natürlich selbst Rezipient einer rhetorischen Logik, die er weitertreibt und seinerseits auf verschiedene Bereiche überträgt, um sie sich zur Ermöglichung einer affektiven Gruppenbildung nutzbar zu machen16 – sei es,
15 Letztere Differenzierung ist insofern von Bedeutung, als theoretisch unterschieden werden kann zwischen einem intentional-strategischen Einsatz des Hasses, um eine solche Kollektivbildung voranzutreiben, und einer Hassrede, die weniger strategischen Zwecken verpflichtet ist, sondern sich – etwa aufgrund vom Sprecher nicht strategisch eingesetzter (Glaubens-)Überzeugungen – kollektivbildend auswirkt. Die Frage, mit welcher der beiden Formen man es im Einzelfall zu tun hat, ist – angesichts der erkenntnistheoretischen Unmöglichkeit, vom Text auf auktoriale Intentionen zu schließen – abschließend nie zu beantworten. Indes mag manches dafür sprechen, dass beispielsweise im Fall Luthers strategische Aspekte hinter solchen der tief empfundenen Glaubensüberzeugung zurücktreten: Manichäismus, Verteufelung und existenzieller Kampf gegen als teuflisch wahrgenommene Mächte verdanken sich dann nicht einer strategisch-rhetorischen Entscheidung, sondern ergeben sich aus tiefer liegenden Grundüberzeugungen, die Luther in der Forschung verschiedenenorts zugeschrieben werden. Den Zusammenhang zwischen Luthers theologischen Überzeugungen und seiner Rhetorik und Polemik verhandelt etwa Thomas Pfau: Faith against Reason: Reflections on Luther’s 500th. In: andererseits. Yearbook of Transatlantic German Studies 5/6 (2016/2017), S. 127–138. 16 Bei Stolt wird dies mit einer Technik des »sermo humilis« in Verbindung gebracht, also einer »Art der christlichen Redekunst, die auf Breitenwirkung und das Gewinnen der Seelen abzielt« und sich dazu einer »volkstümlichen, christlichen Rhetorik« bediene, die den Glauben als »Herzenssache« ansieht und dementsprechend ihre affekti-
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dass dies strategischen Interessen geschuldet wäre, sei es, dass diese Logik seinen eigenen Glaubensüberzeugungen entsprach. Wesentliche Gegengruppen, die in immer wiederkehrenden scharfzüngigen Formulierungen mit dem Teufel assoziiert und der evangelischen ›Ingroup‹ entgegengesetzt werden, sind die ›Papisten‹ – also die Rom treue katholische Kirche –, die Juden und die ›Türken‹. Wenngleich der späte Luther der letzten Lebensjahre ab 1543, als seine in puncto Hass wohl berüchtigtste Schrift – Von den Juden und ihren Lügen – entsteht und erscheint, gefolgt von Wider das Papsttum zu Rom vom Teufel gestiftet (1545), für drastischen Hass am einschlägigsten ist,17 muss man sagen, dass auch schon ein Vierteljahrhundert früher, etwa in An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (1520), ein hinreichender Grad an Drastik erreicht war, um einerseits die Reformation zur Massenbewegung zu machen und andererseits Kaiser und Papst in einem Maße gegen sich aufzubringen, dass Luther vom Wormser Reichstag wenig später in Acht und Bann geschlagen wurde. Wie es die gemeinsame Rückführung der drei wesentlichen Gegengruppen auf den Teufel auch nicht anders erwarten lässt, finden sich immer wieder Stellen in Luthers Hasstexten, die diese miteinander in enge Verbindung setzen. So heißt es in Von den Juden und ihren Lügen: Und wenn ich meine Papisten nicht hette erfaren, So were mirs ungleublich gewest, das auff Erden so boese Leute sein solten, die oeffentlicher, erkanter warheit, das ist Gott selbs ins Angesicht, wissentlich solten widerstreben. Denn ich solchen verstockten mut in keines Menschen Hertz, Sondern allein in des Teufels hertz, mich hette versehen. Aber nu verwunder ich mich nicht, weder der Tuercken noch der Jueden blindheit, hertigkeit, bos-
ve Gestaltung wählt. Zu betonen wäre demgegenüber jedoch, dass das affektive Register des sermo humilis jedoch nach dem ursprünglichen Verständnis der antiken Rhetorik ein tendenziell mildes wäre, während Luthers Hassreden zwar eine ›populistische‹ und insofern »volkstümliche« Rhetorik auszeichnet, die indes von starken Affekten geprägt ist (die eher zum höchsten rhetorischen Register des sermo altiloquus passen würden). Vgl. Stolt: Martin Luthers Rhetorik des Herzens, S. 64, 66. 17 Bering spricht in Bezug auf diese Schriften treffend davon, dass sich Luthers »bibelinduzierte Aggressionshemmungen« im Laufe der Zeit immer weiter abgebaut hätten, was am Spätwerk deutlich zu erkennen sei. Dietz Bering: War Luther Antisemit? Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe. Berlin: Berlin University Press 2014, S. 164.
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heit, Weil ich solchs mus sehen in den aller heiligsten Vetern der Kirchen, Bapst, Cardinal, Bisschoven.18
Auch die Rede von der Papstkirche als »teufels Synagoga, die sich selbs sondert von der gemeinen Christenheit«19 zeigt die Verknüpfung dieser verschiedenen Gegner in Luthers Rhetorik an. Schon 1520 wird der Papst als »blutseuffer« bezeichnet,20 der »heubt teuffel«21 ist der Autor des kanonischen Rechts, der Papst hat – im Gegensatz zu den Protestanten – »nit glaubenn noch geyst«22 und macht mit dem »Endchrist[en]«23 gemeinsame Sache; elf Jahre später, in seiner Warnunge […] An seine lieben Deutschen nach dem Reichstag von Augsburg, skizziert Luther mit selbstverleugnendem Vernichtungseifer, wie mit der katholischen Geistlichkeit, die den Krieg suche, umzugehen wäre: Wie wol auch jtzt, wo jch jnn solchem Bebstischen und Pfeffischen auffrur ermordet werde, Do will ich einen hauffen Bisschoff, Pfaffen und Muenche mit mir nemen, das man sagen sol, Doctor Martinus sey mit einer grossen Procession zum grabe bracht, Denn er ist ein grosser Doctor uber alle Bischove, Pfaffen und Muenche, darumb sollen sie auch mit jm zum grabe gehen auff dem rucken [d.h., auf der Bahre/im Sarg liegend; Anm. RWJ], das man davon singen und sagen sol. Und woellen also zur letze ein walfertlin [ein »Wallfährtlein«; Anm. RWJ] mit einander thun, sie, die Papisten, jnn abgrund der helle zu jrem luegen und morden Gott, dem sie mit liegen und morden gedienet, Ich zu meinem Herrn Jhesu Christo, dem ich jnn warheit und friede gedienet habe.24
18 Martin Luther: Von den Juden und ihren Lügen [1543]. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 53. Weimar: Böhlau 1920, S. 417–552, hier: S. 449. 19 Martin Luther: Wider das Papsttum zu Rom vom Teufel gestiftet [1545]. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 54. Weimar: Böhlau 1928, S. 195–299, hier: S. 245. 20 Martin Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung [1520]. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 6. Weimar: Böhlau 1888, S. 381–469, hier: S. 406. 21 Ebd., S. 410. 22 Ebd., S. 412. 23 Ebd., S. 425. 24 Martin Luther: Warnunge D. Martini Luther, An seine lieben Deutschen [1531]. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 30 III. Weimar: Böhlau 1910, S. 276–320, hier: S. 279.
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Die Logik dieses kleinen Textes zeigt besonders gut den Willen, durch die Hassrede gegen die ›Outgroup‹ die eigene ›Ingroup‹ zu stärken und mögliche Zweifel an der neuen Lehre durch die wahrzunehmende Drastik im Keim zu ersticken, verweist sie doch darauf, dass auch im Krieg gegeneinander »beide gebet und frieden drumb unverloren sein [sollen], sondern zu uns widder keren und den geistlichen an stat des gebets eitel fluch, und an stat des friedes eitel unfrieden, und beides die fuelle, zu komen, Amen«.25 Deutlich wird: Indem sich die Gruppe der eigenen Glaubensgenossen dem Konflikt aussetzt, verdammt sie einerseits die katholischen »geistlichen«, stärkt aber dadurch den eigenen Zusammenhalt über »gebet und frieden«. Luther spricht vom ›aufgezwungenen Krieg‹, aus dem das protestantische »heufflin« siegreich gegen die katholische Übermacht hervorgehen werde: Wer nicht weis, was da sey mit boesem gewissen und verzagtem hertzen kriegen [Krieg zu führen], Wolan, der versuchs jtzt, wenn die Papisten kriegen, so sol ers erfahren […]. Und unser gebet sol uns nicht heel haben [es soll nicht geheim sein], wollens anzeigen offentlich, nemlich der siebend Psalm: der an seiner ersten schlacht das gantz Israel schlug, das zwentzig tausent man mit Absalom auff der walstat tod blieben, von einem kleinen heufflin erschlagen.26
Während der Krieg gegen die »Papisten«, den Luther 1531 beschwört, nur ein befürchteter ist, für den es sich zu rüsten gilt, der aber in dieser Form zu seinen Lebzeiten nicht kommt, ist es bereits zwei Jahre zuvor ein anderer Kriegsgegner, gegen den Luther sich – abermals in gleichzeitiger Festigung der eigenen Anhängerschar – zum Kriegspropagandisten aufschwingt: die Türken. In Vom kriege widder die Tuercken schreibt er: »der Tuercke (wie gesagt) ist ein diener des Teuffels, der nicht allein land und leute verderbet mit dem schwerd […] sondern auch den Christlichen glauben und unsern lieben Herrn Jhesu Christ verwuestet.«27 Den Zweck seiner antitürkischen bzw. antimuslimischen Hassrede, die dann folgt (und von den um Luthers Ruf besorgteren Herausgebern von Auswahlausgaben seines Werks gern weggelassen wird), macht Luther sehr deutlich, denn man sollte »dem volck nu anzeigen alle das wuest leben und wesen, das der Tuerck fueret, auff das sie die not zum gebet deste bas fuelen«28 – ein Gebet, das
25 Ebd., S. 277. 26 Ebd., S. 281 f. 27 Martin Luther: Vom kriege widder die Tuercken [1529]. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 30 II. Weimar: Böhlau 1909, S. 107–148, hier: S. 120. 28 Ebd., S. 121.
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gleichermaßen die Gruppe der protestantischen Christen stärken soll wie auch die gegen die Türken ziehenden Heere. Nun folgt eine über acht Druckseiten reichende Suada antimuslimischer Vorurteile, um »uns Deuedschen widder sie zu reitzen […]. Ich wil meinen lieben Christen […] ettlich stueck erzelen, damit sie deste bas bewegt und gereizt werden vleissig und mit ernst zu beten widder den feind Christi yhres herrn«.29 Hier geht es etwa gegen die Zwei-Reiche-Lehre des Protestantismus, die der Türke nicht anerkenne, was ihn zu einem »rechte[n] moerder oder strassen reuber«30 mache, »Denn es wird yhn ynn yhrem gesetz gebotten als ein gut Goettlich werck das sie rauben, morden und ymer weiter umb sich fressen und verderben sollen, wie sie denn auch thun«.31 Schließlich endet Luther mit einem Vergleich zwischen Protestantismus, dem Papst und ›dem Türken‹: Ich und die meinen halten und leren friede, Der Bapst mit den seinen kriegt, mordet, raubet nicht allein seine widderwertigen, sondern brennet, verdampt und verfolget auch die unschuldigen, frumen [Frommen; Anm. RWJ], rechtgleubigen, als ein rechter Endechrist. Denn er thut solchs sitzend ym Tempel Gottes als ein heubt der kirchen, welchs der Tuerck nicht thut. Aber wie der Bapst der Endechrist, so ist der Tuerck der leibhafftige Teuffel. Widder alle beyde gehet unser und der Christenheit gebet: Sie sollen auch hinuntern zur helle und solt es gleich der iuengst tag tun, welcher (ich hoffe) nicht lange sein wird.32
In seiner antijüdischen Spätschrift schließlich, die ich hier jetzt nicht mehr ausführlich zitieren will, legt Luther den ihn lesenden Gläubigen ausgiebig und in farbenreicher Darstellung die Vergehen und Lästerungen dar, die die Juden angeblich gegen die Christen und Christus selbst begingen, wobei er sich intensiv zeitgenössischer protoantisemitischer Schmähschriften bedient, die den Zweck der Verächtlichmachung des Gegners gut erfüllen.33 Schließlich ruft er dazu auf, den Juden gegenüber »eine scharffe barmhertzigkeit [zu] uben«.34 Unter anderem tue man gut daran, ihre Synagogen und Schulen anzuzünden, ebenso ihre Häuser und Bücher, den Rabbinern müsse man verbieten, zu lehren, den Aufent-
29 Ebd. 30 Ebd., S. 123. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 125 f. 33 Vgl. zu einer Erhellung von Luthers Judenfeindschaft vor dem Hintergrund der von ihm benutzten Quellen etwa die Darstellung bei Thomas Kaufmann: Luthers Juden. Stuttgart: Reclam 2014. 34 Luther: Von den Juden und ihren Lügen, S. 522.
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haltsort der Juden beschränken, ihnen den Wucher untersagen und sie zur Zwangsarbeit heranziehen. Aber all das sei mit der Gefahr verbunden, dass sie bei Letzterer immer noch größere Schäden anrichten, und so kommt Luther zu dem Schluss, dass ein Ausstoßen der Juden aus der deutschen Nation die beste Lösung sei: So lasst uns bleiben bey gemeiner klugheit der andern Nation[en], als Franckreich, Hispanien, Behemen etc. und […] Sie aber jmer zum Land ausgetrieben. Denn, wie gehoert, Gottes zorn ist so gros uber sie, das sie durch sanffte barmhertzigkeit nur erger und erger, durch scherffe aber wenig besser werden. Drumb jmer weg mit jnen.35
Am spektakulären Format von Luthers Hassreden kann, wie diese besonders abschreckenden Beispiele zeigen, kein Zweifel bestehen. Dem Hass kommt dabei eine zentrale Funktion zu, um die eigene Position zu festigen, was insbesondere auch in den inhaltlichen Abgrenzungen deutlich wird, die in allererster Linie in den antipäpstlichen Schriften zum Tragen kommen. Hier geht es ja auf einer anderen Ebene des Textes um ganz konkrete Fragen der Bibelexegese und des kirchlichen Lebens, die aber eben nicht sine ira et studio verhandelt werden, sondern in Einbettung in die skizzierten Hasstiraden. Diese dienen ebenso stark der Abgrenzung nach außen wie der Sicherung der eigenen Anhängerschaft, des evangelischen Glaubensvolks, das ja in allererster Linie durch die gemeinsame Abkehr von der römischen Kirche geschaffen wird. Die argumentative Linie, auf der diese Abkehr vollzogen wird, wird dabei massiv unterstützt durch eine affektive Dynamik, die die eigene Positionsbestimmung nicht nur auf Grundlage von nüchtern vorgetragenen Sachargumenten vollzieht, sondern durch eine affektivrelationale Positionierung.
3
LUTHER-TEXTE: NEUER HASS, NEUE KOLLEKTIVE
3.1 Luther-Texte seit dem Lutherjahr 1883 Wenn schon Luther die Dichotomie ›göttlich vs. teuflisch‹ adaptierte und einerseits zur Verächtlichmachung der katholischen Kirche, andererseits des Judentums und des Islams nutzte, wird die Flexibilität, die dieses Konzept bietet, deutlich. So nimmt es nicht wunder, dass der hassende Luther als literarische Figur eine große Karriere vor sich hatte, die natürlich nicht erst um die Wende zum
35 Ebd., S. 526.
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20. Jahrhundert begann, wo ich einsetzen möchte. Einige markante Positionen in diesem Sinne seien angesprochen, bevor ich zu zwei Beispielen komme, die ich genauer betrachten will.36 Die Nutzung des hassenden Luther für die Stiftung der Einheit der deutschen Nation findet sich etwa im frühen Deutschen Reich, wenn Heinrich von Treitschke 1883 – zu Luthers 400. Geburtstag – bekräftigt, dass »der Reformator unserer Kirche der gesammten deutschen Nation die Bahnen einer freieren Gesittung gebrochen hat, daß wir in Staat und Gesellschaft, in Haus und Wissenschaft überall noch den Athem seines Geistes spüren«.37 Er erscheint ihm rückblickend als »Führer der Nation, heldenhaft wie ihr Volksheiliger, der streitbare Michael«38 und nicht zuletzt als derjenige, in dem »die elementarischen Kräfte, die in der tief erregten Nation arbeiteten [… nicht zuletzt der »Nationalhass«; Anm. RWJ], sich zu einem mächtigen Strome vereinigen und gewaltig aufwallend alles römische Wesen aus unserem Staate, unserer Kirche hinwegschwemmen.«39 An Luther beeindrucke »diese Gewalt zermalmenden Zornes und diese Innigkeit frommen Glaubens […]. Wir Deutschen finden in Alledem kein Räthsel, wir sagen einfach: das ist Blut von unserem Blute. Aus den tiefen Augen dieses urwüchsigen deutschen Bauernsohnes blitzte der alte Heldenmuth der Germanen, der die Welt nicht flieht, sondern sie zu beherrschen sucht durch die Macht des sittlichen Willens«40 – eine Kraft, die Treitschke seinem Deutschen Reich auch wünscht, dem die katholische »Priesterkirche«41 ausgetrieben werden müsse. Im Ersten Weltkrieg findet ein erneutes Lutherjahr statt – 1917 jährt sich zum 400. Mal der Thesenanschlag des Reformators, was – angefangen von der Imagination des Mannes mit dem Hammer in der Hand, der die alldeutsche Nation schmiedet – zu vielerlei Indienstnahmen Luthers Anlass gab. Vom eifrigen Luther-Leser Gerhart Hauptmann ist von 1917 das Fragment einer Luther-Rede erhalten, die nie fertig ausgeführt wurde, aber bereits im November 1916 notierte er, vom Kriegs- ebenso wie vom ›Luther-Taumel‹ beseelt, im Tagebuch:
36 Zum weiteren Kontext vgl. Mecklenburg: Der Prophet der Deutschen, zum hier behandelten Zeitraum insb. S. 145–165; vgl. auch Matthias Luserke-Jaqui: »Ein Nachtigall die waget«: Luther und die Literatur. Tübingen: Narr Francke Attempto 2016. 37 Heinrich von Treitschke: Luther und die deutsche Nation. Vortrag, gehalten in Darmstadt am 7. November 1883. Berlin: Reimer 1883, S. 4. 38 Ebd., S. 5. 39 Ebd. 40 Ebd., S. 25. 41 Ebd., S. 29.
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Heut, 16, sind wir wieder Luther. […] Luther sind wir! Luther! Luther! Unsre Kanonen unsre Maschienengewehre unsre Jungens sind »Luther« (Verzeih, Luther aber es ist so!)42
In Ernst Lissauers Gedicht Die Ausgiessungen, das zu dem 1917 erschienenen Zyklus Die ewigen Pfingsten gehört, findet sich ein Modell, das in der Folge große Nachahmer finden sollte – die Einordnung Luthers in eine Ahnenreihe. Nachdem das Feuer des Heiligen Geistes der Pfingsten zunächst über Homer und Franz von Assisi ausgegossen worden ist und deren Leben mit historischer Gewalt verändert hat, trifft es auch Luther: »Von ihrem Brausen zu Wittenberg barst die enggemauerte Zelle, / Luther der Mönch trat heraus, umdonnert von Helle.« – gefolgt dann von Beethoven, der »mit Schrei« an den Flügel fällt, »ausgießend große Musiken«. Die »wandernden Feuer« des »pfingstlichen Lichts«43 bürgen hier für historische Umbrüche – ganz ähnlich wie in der Folge in einer immer wieder kritisch wie affirmativ beschworenen Ahnenreihe: von Luther zu Hitler. Bevor Thomas Mann44 1937 im Tagebuch vermerkte: »Nein Hitler ist kein Zufall, kein illegitimes Unglück, keine Entgleisung. Von ihm fällt ›Licht‹ auf Luther zurück, und man muß diesen weitgehend in ihm wiedererken-
42 Zit. nach Peter Sprengel: Hauptmann und Luther, oder: Die unvollendete Nation. In: Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur. Hg. v. Christiane Caemmerer u. a. Amsterdam/Atlanta: Rodopi 2000, S. 419–441, hier: S. 425. Sprengel geht ausführlicher auf Hauptmanns Lutherrezeption ein. 43 Alles: Ernst Lissauer: Die ewigen Pfingsten. Gesichte und Gesänge. Jena: Diederichs 1919, S. 9 f.; vgl. auch ebd. Die Gedichte um Luther »I. Gesicht«, »II. Der Teufel« (hier wird Luther ringend mit dem Teufel gezeigt, den er schließlich zerdrückt: »Brust an Brust, / Luther preßt ihn ein voll Lust, / Dunkel murrt aus ihm ein Singen, / Von der Kraft des Schalls / Schwillt sein breiter Hals, / Langsam lockern sich die Schrauben, / Feuer qualmen, / Luthers harte Fäuste malmen, / Stark mit Schnauben / Siegreich singend mit Getösen / Hält er fest im Griff den Bösen, / Tot.«; ebd., S. 26), »III. Arbeit an der Bibel (1–3)«. In »Der Abendmahlstreit« werden Luther und Zwingli porträtiert, die sich im Kampf um eine dogmatische Frage als Feldherrn gegenüberstehen: »Doktor Luthers Lehre fährt / Wider ihn auf wie Feuer und Schwert: / Schänder und Schimpfer des Sakramentes! / Es brach das Brot und bot den Wein der Christ / Und sprach gesegnend: Liebe, dieses ist / Mein Fleisch und Blut des Neuen Testamentes.« (Ebd., S. 31 f.) 44 Vgl. hierzu auch Mecklenburg: Der Prophet der Deutschen, S. 191–211.
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nen. Er ist ein echtes deutsches Phänomen.«45 und diesen »schimpffroh[en], zanksüchtig[en], […] mächtige[n] Hasser, zum Blutvergießen von ganzem Herzen bereit«,46 den »widerborstige[n] Orthodoxe[n], der aus der Kirche nur austritt, um eine Gegenkirche mit einem Gegendogma, mit neuer priesterlicher Scholastik und neuen Verketzerungen zu errichten; antirömisch nicht nur, sondern antieuropäisch, furios nationalistisch und antisemitisch«47 deutlich kritisch sah, gab es in einem weiteren Lutherjahr – 1933 – wesentlich unkritischere Bezugnahmen auf den Reformator, der hier als Stichwortgeber ganz anderer Art erschien. 3.2 Von Luther zu Hitler: Josef Buchhorn: Wende in Worms Von besonderer Reichweite, wenn auch nicht ästhetischer Qualität war eine am 19.11.1933, zu Luthers 450. Geburtstag, ausgestrahlte »Reichssendung«, also ein Radiohörspiel, mit Heinrich George in der Rolle des Reformators, das der Berliner Journalist, Literat und NS-Funktionär Josef Buchhorn48 unter dem Titel Wende in Worms49 geschrieben hatte. Bereits in der Widmung des vier Jahre später gedruckten Stücks wird sehr deutlich, welche historische Linie hier gezogen werden soll: Es war der erste Aufbruch eines Volkes, das sich selber suchte. So soll die »Wende in Worms« an neuer Wende deutscher Geschichte Urkunde sein, die verpflichtet. Ich lege sie
45 Thomas Mann: Tagebücher 1937–1939. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M.: Fischer 1980, S. 118 (19.10.1937). 46 Thomas Mann: Die drei Gewaltigen. In: ders.: Sämtliche Werke. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 19: Essays VI: 1945–1950. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 650–660, hier: S. 651. 47 Ebd., S. 652. 48 Buchhorn arbeitete seit 1899 als Journalist. Zwischen 1921 und 1932 war er Abgeordneter der Deutschen Volkspartei im Preußischen Landtag. Nach der ›Machtergreifung‹ wurde er Gau-Amtsleiter für Presse und Kultur im Gau Kurmark und Referent der Reichsschrifttumskammer. Vgl. zu Buchhorn die biografische Darstellung im Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft. Das Handbuch der Persönlichkeiten in Wort und Bild. Eingeleitet v. Ferdinand Tönnies. Bd. 1. Berlin: Deutscher Wirtschaftsverlag 1930, S. 235. 49 Josef Buchhorn: Wende in Worms. Eine deutsche Freiheitsdichtung. Cottbus: Albert Heine 1937. Vgl. auch die knappen Anmerkungen zu diesem Text bei Mecklenburg: Der Prophet der Deutschen, S. 159.
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in tiefer Dankbarkeit und Verehrung in die Hände des Mannes, der zweitem Aufbruch deutscher Nation Wegweiser und Führer ist.50
Wende in Worms widmet sich den Tagen rund um Luthers Auftritte während des Wormser Reichstags 1521, auf dem er von Kaiser und Reichsständen dazu aufgerufen wurde, seine – vor allem papstfeindlichen – Lehren zu widerrufen. Luthers Heldentum besteht hier darin, dass er standhaft bleibt und zu seinen Lehren steht – trotz der Konsequenzen, die das für ihn haben wird. So erscheint er in der Logik des Stücks als treuer Deutscher, der ›durchzieht‹, was er einmal begonnen hat, wie etwa auch der päpstliche Nuntius Aleander, der Bösewicht des Stücks, fürchtet, als ein Gesprächspartner einwirft, das Papsttum werde an einem Bettelmönch nicht zugrunde gehen: »Wär’ es einer von den Bettelmönchen aus Welschland oder Ungarn, dann: nein. Aber es ist einer aus Deutschland, aus deutschem Gemüt. Und das ist noch schlimmer Ding als deutscher Zorn …«51 Und etwas später stellt er dann fest: »Deutschland darf nicht lebendig werden, nicht zu alter Kraft erwachen, wie zu Barbarossas Zeit. Es muß gebunden bleiben, beherrscht von Fremden und im Bann von Fremden. Beherrscht – von Rom … / Deutschland darf kein Gewissen haben. Aber der Luther ist sein Gewissen und darum: weg mit ihm und – laßt ihn meucheln! […] Deutschland wird in dem Luther leben, und er wird Deutschlands Führer sein, wenn ihm vor morgen nicht die Zunge dorrt!«52
Während es sich bei Aleander um einen begnadeten Hassredner handelt, dem es jedoch an einer zu motivierenden Volksmasse fehlt, wird deutlich, dass Luthers eigene Sprache im Stück dem Original gegenüber eher gemäßigt wird – er wird abgeschliffen zu einem Konsenskandidaten des allgemeinen Deutschtums, als dessen wortgewaltigster und überzeugendster Fürsprecher er eher beschrieben als gezeigt wird. Als Hassredner erleben wir neben den »Papisten« eher Luthers Anhänger, die – etwa in der dramaturgisch etwas ungelenk eingefädelten Mauerschau zur Eröffnung von Luthers Anhörung – sehr deutlich machen, welche Gegensätze zwischen Luther und den Seinen auf der einen und den Anklägern des Reformators auf der anderen Seite bestehen: So hat Johannes von Eck demnach »Kein gutes Gesicht«, die »Höflinge aus Spanien […] [s]ehen alle wie Buben des Teufels aus … Aalglatt«, Aleander schließlich wird – wenig verwunderlich,
50 Buchhorn: Wende in Worms, S. 5. 51 Ebd., S. 32. 52 Ebd., S. 60 f.
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wenngleich inhaltlich doch nicht recht motiviert – als Jude gekennzeichnet: »Mußt’ sich gegen sein Gesicht verteidigen, weil es Erzväter Art hat. / Ich würde ihm den Juden glauben. / Ein Überall, der Herr. In Schlichen, Kniffen, Pfiffen kommt ihm keiner gleich.«53 – und Kaiser Karl V. schließlich ist »reichlich jung und unreif«, »so schmächtig, finster, so – undeutsch, nein!«54 Offensichtlich ist die Vereinnahmung Luthers für ein völkisches Projekt, was hier sehr deutlich wird. Ergänzt wird diese völkische Grundfolie, die den Kampf Papsttum gegen Luthertum zum Kampf einer teuflisch-undeutschen Clique gegen die braven und standhaften Deutschen macht, durch eine nahtlose Einbindung in den NS-Jargon. In einer als mitreißend konzipierten Ansprache Luthers an seine Anhänger zwischen seinen beiden Auftritten vor den Reichsständen heißt es folglich: »Soll ich brennen, ihr Liebden, dann nur darum, daß ganz Deutschland eine Lohe werde! Laßt uns hoffen! Der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht. […] Ein Wort? … Nehmt eins, auf daß ihr brüderlich miteinander fahret und zur rechten Volksgemeinschaft kommt. Denn die tut not. Fürnehmlich meinem deutschen Land: Die größte Ehre, die ein Mensch dem andern tun kann, ist: ihn für einen frommen, wahrhaften Mann zu achten, die größte Schmach, ihn für einen bösen, lügenhaftigen, leichtfertigen Mann zu halten – Liebet euch untereinander: Das ist die Satzung von dem Herrn, der euch als Brüder vor seinen Himmel wollte.«55
Am deutlichsten sichtbar ist, dass eine direkte Linie zwischen Luther und Hitler als vermeintlich charismatischen Führerfiguren gezogen wird, die ihrerseits Exponenten des Deutschtums sind. Dabei operiert das Stück mit einer durch Hassrede gegen die anderen (hier sind das die Vertreter der katholischen Kirche, die ›Papisten‹, die aber gleichzeitig mit antisemitischen Stereotypen verschränkt werden) sowie der Solidarisierung gegen die Hassrede der Gegner fungierenden affektiven Gruppenbildung. Hass erweist sich in einer doppelten Bewegung als Haltung, die das deutsche Volk in einer affektiven Dynamik zusammenhält: Der Hass von außen wird als Treibstoff einer internen Solidarisierung genutzt, der Hass von innen nach außen dient der Abwertung des Gegenübers und der gleichzeitigen Aufwertung des Eigenen. Luther als »Kriegsposaune«56 der Volksgemeinschaft und des »ruhmvollen deutschen Volkes« ruft seine »Brüder« explizit
53 Alles: Ebd., S. 52. 54 Ebd., S. 53. 55 Ebd., S. 59. 56 Ebd., S. 43.
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dazu auf, sich untereinander zu lieben, während die Gegenpartei als gegen das Volk wütende Tyrannei gebrandmarkt wird, die mit Gottes Hilfe vom Himmel vertrieben werden muss. Der Luther des Stücks beruft sich dabei auf einen wehrhaften Christus – »Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert, denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen gegen seinen Vater« –, der den Konflikt nicht scheut, sondern ihn mit aller manichäischen Entschlossenheit aufnimmt. Luther wird so von den durch ihn orchestrierten und zusammengeschweißten Massen, vor allem »der guten, die deutsch im Blute sind und die wie Deutsche fühlen«,57 gefeiert: »Hosianna dem, der gekommen ist in dem Namen des Herrn! / Luther! Luther!! Luther!!! / Lob ihm und Ehr’! / Heil ihm, dem Gnadenreichen! / Dem Apostel des Herrn! / Erlöser deutscher Christenheit! / Bruder Martinus! / Luther! Luther!! Luther!!! […] Heil ihm, dem deutschen Mann! / Der deutsches Volk errettet! / Sich wieder heimgegeben! […] Das Reich muß uns doch werden!«58
Versatzstücke aus Luthers Lehren und Texten – wie hier der Schlussvers aus seinem Lied Ein feste Burg ist unser Gott – werden in Buchhorns Hörspiel mit NS-Ideologemen vermischt, sodass die lutherische Lehre erscheint, als hätte sie schon seit über 400 Jahren denselben Zweck verfolgt, den sich in der Zeit des Stücks der NS-Staat auf die Fahnen schreibt: die Schaffung einer kampfbereiten Volksgemeinschaft aller Deutschen in einem vereinten Reich, die jüdischen und ausländischen Einflüssen (durch Spanier, Römer und Franzosen) wehrhaft entgegensteht. Die Hassrede gegen die aus dieser Volksgemeinschaft auszustoßenden dient dabei als Mobilisierungs- und Bindemittel dieses Projekts. Wenngleich das Stück Luthers Lehren natürlich entstellt wiedergibt und sie in ideologisch wie ästhetisch kruder Weise der eigenen nationalsozialistischen Logik anverwandelt, ist doch zu erkennen, dass die Dynamik der Hassrede, wie sie in Luthers eigenen Texten erkennbar ist, in ähnlicher Weise funktionalisiert wird. Zumindest insofern, könnte man sagen, erweist sich Josef Buchhorn als gelehriger Schüler des Doktor Luther. 3.3 Feier der Sprachkraft: Feridun Zaimoglus Evangelio Zum Schluss komme ich nun zu einem Text, der in allerjüngster Zeit – im Lutherjahr 2017 – gegenüber dem anfangs angedeuteten ›Konsens- und Kirchen-
57 Ebd., S. 55. 58 Ebd., S. 66 f.
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tagsluther‹ den Reformator als Hassredner wieder in Erinnerung gebracht hat: Feridun Zaimoglus Lutherroman Evangelio.59 Die Handlung von Evangelio schließt zeitlich, wenn man so will, direkt an das vorgestellte Buchhorn-Hörspiel an und zeigt uns Luther als Schutzgefangenen des sächsischen Kurfürsten auf der Wartburg, wo er als »Junker Georg« Unterschlupf findet und sich vor seinen päpstlichen Widersachern, denen er als Geächteter ausgeliefert wäre, versteckt (auf der Wartburg blieb Luther vom 4. Mai 1521 bis zum 1. März 1522). Ein wesentlicher Effekt der Tatsache, dass sich der Text zunächst auf diese Episode in Luthers Leben fokussiert, ist, dass der Held hier eben das nicht mehr tun kann, was er in den anderen Luther-Texten macht: eine Mobilisierung durch die an ein ›Massenpublikum‹ gerichtete Hassreden zu erreichen. »Zerfahren ist mein Werk […], jetzt bin ich gescholten und versteckt, bin ins Rattennest gestoßen«,60 klagt Zaimoglus Luther Melanchthon im Brief sein Leid, denn isoliert auf der Wartburg ist der Reformator aufs Medium des Briefs angewiesen, um nach außen zu wirken. In weiten Teilen muss er sich mit sich selbst, dem eigenen körperlichen Leiden, der Situation von Bann und Gefangenschaft sowie dem Kampf gegen die Macht des Teufels, der ihn bedrängt, auseinandersetzen – vor allem Letzterer wird in bildhafter Breite ausgeführt bis dahin, dass Luther selbst vom Teufel auf wundersame Weise eine Bisswunde davonträgt und mit seinem Bewacher, dem katholischen Waffenknecht Burkhard, zu Pferd auszieht, um den von ihm in den Bergen um Eisenach vermuteten Antichristen zu bekämpfen. Das Wüten Luthers wird hier als das eines Kranken, Leidenden gekennzeichnet, der sich in einer Welt voller Aberglauben, Dämonen und Brutalität be-
59 Zaimoglu kann nicht zuletzt deshalb als Experte für Formen der Hassrede und ihrer Wirkungen gelten, weil er in den 1990er-Jahren mit seinen sogenannten Kanak-Texten spezifische Formen der verletzenden Rede in ihrem Potenzial für eine sprachliche Subjektivierung im interkulturellen und mehrsprachigen Kontext ausgelotet hat. Vgl. Feridun Zaimoglu: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Hamburg: Rotbuch 1995, und ders.: Koppstoff. Kanaka Sprak vom Rande der Gesellschaft. Hamburg: Rotbuch 1998. Zu einer Deutung dieser Texte in Bezug auf die spezifische Verbindung von Hassrede und Subjektkonstitution in ihnen, vgl. Robert Walter-Jochum: »Kanakster« vs. »Ethnoprotze«: Zur Subjektkonstitution durch Hate Speech bei Feridun Zaimoglu. In: Affektivität und Mehrsprachigkeit: Dynamiken der deutschsprachigen (Gegenwarts-) Literatur. Hg. v. Marion Acker, Anne Fleig und Matthias Lüthjohann. Tübingen: Narr Francke Attempto 2019, S. 127–146 (im Druck). 60 Feridun Zaimoglu: Evangelio. Ein Luther-Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2017, S. 23.
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wegt. Wenn die Hassrede sonst den Modus des Außerordentlichen anzeigt, der aufgrund der von ihr ausgelösten affektiven Dynamiken besondere Kraft zur Gruppenbildung eignet, wird sie hier in einem Kontext präsentiert, der ohnehin von Krassheiten bereits nur so strotzt – der ausufernde Hass in Luthers Tiraden gegen den Satan, den Papst, Juden, Frauen und andere ist da nur eine Form des ungefilterten Ausbruchs unter vielen in einer Welt der überbordenden affektiven Intensität – einer Welt, in der Hexen verbrannt werden, Hinrichtungen zum beliebten Unterhaltungsprogramm gehören und Dämonen- und Satansvorstellungen nicht exzentrischer Aberglaube, sondern gängige Praxis sind, der auch der Kirchenmann selbst verhaftet ist. Die Heilung eines der Wächter auf der Wartburg, der an einer Wunde zu verenden droht, stützt Luther durch eine auf die Kraft des Wortes vertrauende Hassrede gegen die Macht Satans, die – neben den vom Schlachtfeld mitgebrachten Heilungstechniken Burkhards sowie der Heilkunst des jüdischen Baders Neham Rosenhag – in einer für den Roman spezifischen wilden Mischung dazu beizutragen scheint, dass der Wächter Schrotter schließlich überlebt; das Wort wird zur Waffe gegen den Antichristen, ihm kommt in dieser zwischen Sprachgewalt und Magie changierenden Welt offensichtlich eine, mit Petra Gehring gesprochen, »Körperkraft von Sprache«61 zu, die zur Waffe des Reformators wird: »Heiland, sei uns Wehr. Heiland, sei das Wort, das der Herr im Anfang sprach, feg durch diesen Leib des Knechts, feg durch Deines Feindes Leib, lösch den Brand, kühl den Knecht, dreimal verbrannter Satan, sag auf den Namen Gottes, sag auf den Namen Gottes. Wir stehen geschlossen beim Herrn, kraft des Wortes im Anbeginn ring ich dich nieder, ich schlag dich mit Knütteln in die Hölle, verschling dich selbst, Heil unsrem Christus, leck du Aasgespenst den Brunz der Gottlosen, zergeh, zerfall, zerschell, heilig heilig heilig ist Gott, der Allmächtige, in Seinem Namen wetz ich dir das hässlich Maul, zerblüh, zerschwind, zerfall, zerfriss dein eigen Afterloch!«62
61 Unter diesem Stichwort werden bei Gehring die Effekte von Sprechakten (der Hassrede) behandelt, die in einem entschieden körperlichen Bereich anzusiedeln sind. Luthers bei Zaimoglu vorgeführte ›Sprachmagie‹ lebt hier von der Ambivalenz zwischen der tatsächlichen Kraft des Sprechakts selbst und einer möglichen magischen Wirkung, an die der Protagonist selbst zu glauben scheint, die jedoch von seinem Gegenüber im Text bezweifelt wird. Vgl. Petra Gehring: Über die Körperkraft von Sprache. In: Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung. Hg. v. Steffen K. Herrmann, Sybille Krämer und Hannes Kuch. Bielefeld: transcript 2007, S. 211–228. 62 Zaimoglu: Evangelio, S. 253 f.
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Eine Art und Weise, den Hass einzusetzen, findet sich hier also im Rahmen eines quasi magischen Kampfes des heftig aufgeladenen Gotteswortes gegen die Macht des Antichristen – es erfolgt eine Verlagerung in der Pragmatik der Hassrede, die mit einer stärkeren Konzentration auf den Sprechakt selbst und das drastische Sprachmaterial verbunden ist. Die Frage der affektiven Dynamik, die im sozialen Kontext von der Hassrede auszulösen ist, bleibt auch bei Zaimoglu virulent, wird jedoch – im Gegensatz zu den ideologischen Texten etwa im Nationalsozialismus oder Ersten Weltkrieg – skeptisch gewendet. Gegen Ende des Romans wird deutlich, dass die geharnischte Rede, fällt sie auf fruchtbaren Boden, vom Redner nicht mehr zu kontrollieren ist: Die ›Zwickauer Propheten‹ um Thomas Müntzer sowie andere von Luthers Weggefährten in Wittenberg verfolgen einen Weg, der aus der Hassrede Hasstaten werden lässt – die Bilderstürmerei, Aufstände gegen Klöster und weiter gehende kriegerische Forderungen von Gruppen, die sich im Zuge der Reformation entwickeln, zeigen diese Entwicklung, der Luther wiederum mit Hassrede begegnet, diesmal gegen seine eigenen Anhänger. In einem Brief an Spalatin schreibt Luther: »Haben wir teutsches Volk anhänglich gemacht mit zauberisch besprochenem Gemüll? […] Das Volk will trächtig und brünftig werden, es versteht des Christen Freisein als Lösung von gut evangelischem Benimm, auf diese Arten wird’s Heil verscherzt. […] Ich geh im teutschen Gewand, doch meine vielen Teutschen schlemmen Dreck! Ich wirke für deutsche Tracht, doch meine Teutschen wollen Kehricht fressen. […] Dieses Volk muss neu bekehrt werden.«63
Der ihm beigesellte katholische »Mordbube« Burkhard ist derjenige, der überraschenderweise durchschaut, dass Hassrede und Gewalt zusammenhängen, wenn er Juden64 und Frauen gegen die Tiraden der Reformatoren in Schutz nimmt – »Was schwätzen die Ketzer wie Pfaffen meiner Kirche über Weiberzähmung? Man müsst jeden Hengst zum Wallach machen, dann hätten die Frauen Ruh.«65 –; dem getriebenen Luther Zaimoglus ist solche Einsicht nicht vergönnt, aber er wendet den sprachlichen Eifer in dieser Phase gewissermaßen um und steckt all die affektive Dynamik, die sonst seine Hassrede ausmachte, in ein anderes Projekt: die Übersetzung der Bibel, die eben zentraler Baustein dieses Plans ist, das »Volk« neu zu »bekehren«. Die Kraft von deren Sprache, die auch in anderen Texten als
63 Ebd., S. 333 f. 64 Vgl. ebd., S. 250 f. 65 Ebd., S. 317.
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Luthers bleibendes Vermächtnis angesehen wird, resultiert Zaimoglu zufolge gewissermaßen wie in einem Modell der Energieumwandlung aus einer Kanalisierung des sonst nach außen gerichteten Hasses, der in die Kraft der Sprache fließt. In einer von Luthers Begründungen seines Übersetzungsplans wird diese Verbindung gut deutlich. Er formuliert hier: »Ein starker Zorn erfrischt das Blut, ich will und werd werken auf gut Teutsch, dass auch dem Hintersass, der im Leben nie ein Buch aufgeschlagen, kaum der Schädel schwitzt, ich gürte jedem lateinisch Wort wie einer Sau den Schellengurt um den feisten Hals und nenn’s teutsches Glöcklein, das Brimborium der Römerschwätzer ersetz ich durch Gottes Grimm, denn Ihm zugewandt sind wir erhört, von Ihm abgewandt rott und erbost. Er ist das rechte Geleit, und wenn Er soll sprechen zu uns Teutschen, dann ohne Zag und Papistenspucke. […] Meine neue Schreibart ist teutsch. […] Mit Fäustel, Eisen und Klöpfel will ich hauen grob und hauen glatt den Stein. Der Steinmetz haut den Klotz heraus, das bin ich.«66
Die affektiv aufgeladene Sprache des Hasses lässt sich in der Welt, die Zaimoglus Roman zeichnet, einerseits klassischerweise zur Mobilisierung nutzen – ein Weg, der dem Gefangenen Luther jedoch zunächst versperrt bleibt. Seine Hassreden gegen andere Gruppen gehen daher mehr oder weniger ins Leere, zumal sie in seinem Hauptansprechpartner, dem Waffenknecht Burkhard, einen verständigen Gegenredner finden, der in der Lage ist, die Hassrede als zielgeleitetes Ressentiment zu enttarnen und gewissermaßen die Luft aus ihr zu lassen. Bleibt eine dritte Funktion der Hassrede, die im Sinne einer spezifisch sprachlichen Kraft materialisiert wird: Sie verliert ihre eigentliche soziale HassFunktion, aber dient dazu, das Wort selbst magisch aufzuladen – einerseits in der exquisiten Pragmatik der Bannung des Teufels durch Gottes Wort, das hier zur Waffe wird, und andererseits in etwas anderer Form, indem sie die Sprache der neu übersetzen Bibel imprägniert. Der Hass verliert so seine zersetzende Kraft und erhält eine rhetorische Überwältigungsfunktion, die nicht im argumentativen Bereich verbleibt, sondern sich ins sprachliche Material verlagert. So präsentiert Evangelio eine Feier der Kraft der Sprache – einerseits an seinem Objekt, der Sprache Martin Luthers, und andererseits durch die kreative Neuschöpfung dieser Luther-Sprache in der Sprache Feridun Zaimoglus.
66 Ebd., S. 281 f.
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258 | Robert Walter-Jochum
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Streit, Infamie, Hass Figuren der Kritik im Fragmentenstreit Roman Widder
Mit über fünfzig eigenständigen Publikationen und unzähligen kleineren Beiträgen gehört der Fragmentenstreit zu den umfangreichsten Kontroversen des 18. Jahrhunderts. Enorme Bedeutung hat ihm auch die Nachwelt beigemessen und ihn gerne als Musterbeispiel für den kritischen Geist der Aufklärung angeführt. Friedrich Schlegel etwa kam in seinem Aufsatz Über Lessing 1797 zu folgendem Schluss: »Man verstand ihn nicht, also haßte, verleumdete und verfolgte man ihn aufs ärgste.«1 Immer wieder ist der Fragmentenstreit wie hier als Dokument eines religiös motivierten Hasses in die Geschichtsbücher eingegangen: auf der einen Seite die Barbarei orthodoxer Theologen, personifiziert insbesondere durch den Hamburger Prediger und Theologen Johann Melchior Goeze (1717–1786), auf der anderen Seite der freiheitliche Geist der Aufklärung, vertreten durch Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781). Dass selbst der Romantiker Schlegel die Ratio (»verstand«) so einfach dem Hass (»haßte«) entgegensetzen konnte, zeigt, wie zentral dabei der Topos von der Irrationalität des Hasses war. Noch Aurel Kolnai hat darauf beharrt, dass »jeder echte Haß« angesichts seines stets metaphysisch verallgemeinernden Weltbilds »einen Splitter von Religionshaß in sich birgt«.2 Allerdings hat Kolnai in seiner Phänomenologie des Hasses ebenso betont, dass der manichäisch operierende, auf Feindschaft angewiesene Hass, wo immer seine Ursprünge liegen mögen, »ein wesentliches, mitentscheidendes Element der Lebensgestaltung selbst« ist.3
1
Friedrich Schlegel: Über Lessing. Kritische Neuausgabe. Bd. 2: Charakteristiken und Kri-
2
Aurel Kolnai: Ekel, Hochmuth, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Mit einem
tiken I. Hg. v. Ernst Behler. Paderborn u. a.: Schöningh 1967, S. 100–125, hier: S. 119. Nachwort von Axel Honneth. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 100–142, hier: S. 133. 3
Kolnai: Ekel, Hochmut, Hass, S. 102.
262 | Roman Widder
Hass ist dabei nicht nur Emotion, die uns widerfährt, er verdankt sich zugleich einer Rationalisierungsoperation. Zu Recht ist auch das simplifizierende Bild des Fragmentenstreits in der jüngeren Vergangenheit revidiert worden.4 An ihm treten die Aporien des Aufklärungsdiskurses zutage, und zwar besonders markant, so die Hypothese des vorliegenden Aufsatzes, im Blick auf die Hass-Semantik. Hass ist im Fragmentenstreit keine Kategorie der Subjektivierung, sondern eine Semantik zur Bestreitung der Legitimität von Kritik. Das Schüren von Hass wird stets dem anderen zugeschrieben, in je unterschiedlicher Absicht. Der Fragmentenstreit bietet sich darum für eine systematische Differenzierung an: Streit, Infamie und Hass lassen sich als verschiedene Seiten des kritischen Diskurses beschreiben. Der Streit, als Leitbegriff der Aufklärung, verdeckt mit seinem Anspruch auf Unparteilichkeit und Interesselosigkeit in der Arbeit der Kritik das Moment gesellschaftlicher Distinktion. Die Infamie hingegen macht gerade das Moment der symbolischen und sozialen Wertung in der Kritik explizit und agiert insofern unter umgekehrten Vorzeichen: Der Zugewinn an gesellschaftlicher Macht ist das schamlose Prinzip ihrer Version des Streits. Von Hass schließlich ist dort die Rede, wo das Infam-Werden der Kritik zu einer ohnmächtigen Feindschaft geworden ist. Hass ist das eskalierende Beharren der Kritik unter der Bedingung ihrer Unmöglichkeit. Die spezifische Konstellation des Fragmentenstreits soll dabei schrittweise entfaltet werden: Zunächst werde ich zeigen, wie Lessings Konzept des interesselosen Streits eng an seine Apologie des Urheberrechts gebunden ist und insofern als Konzept des publizistisch einträglichen Streitens zusammengefasst werden kann (I.). Im Anschluss wird zu diskutieren sein, weshalb der Hass als Thema und rhetorisches Argument von Anfang an einen wesentlichen Aspekt des Streits darstellt, wobei der sogenannte ›Pöbel‹ als fiktiver Agent des Hasses zugleich mit dem Publikum zusammenfällt, um das gestritten wird (II.). Im nächsten Schritt stellt sich die Frage, inwiefern den Fragmenten der Apologie von Hermann Samuel Reimarus in der Tat, wie Goeze behauptet hat, nicht nur kritisch-polemische, sondern auch infame Aspekte eigneten, indem die Grenze von Geschichte und Fiktion gerade bei Reimarus überschritten wird (III.). Der Diskurs der Infamie kann, wie am Beispiel von Lessings Kritik der Ehre deutlich wird, als logische Kehrseite des interesselosen Streitens gedeutet werden (IV.).
4
Vgl. exemplarisch Helmut Thielecke: »Lessing und Goeze«. In: Lessing contra Goeze. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Stuttgart u. a.: Boorberg 1970, S. 39–52. Exemplarisch für eine Lektüre, die Lessings Urteil über Goeze übernimmt, vgl. Martin Bollacher: Lessing: Vernunft und Geschichte. Untersuchungen zum Problem religiöser Aufklärung in den Spätschriften. Tübingen: Niemeyer 1978.
Streit, Infamie, Hass: Figuren der Kritik im Fragmentenstreit | 263
Zum Analytiker und somit Autor des Streits selbst wird deshalb Goeze, der Lessings systematische Diffusion von unparteilicher Herausgeberschaft und parteilicher Polemik als Organisationsprinzip seiner Publikationen aus den Fragmenten erkennt (V.). So wird zu guter Letzt die Emergenz des Hasses sichtbar – nicht als das Andere der Kritik, sondern als ihre laute Ohnmacht (VI.).
I.
LESSINGS IDEAL INTERESSELOSEN STREITS
Von seinen ersten Publikationen an war Lessing fortwährend in polemische Debatten und publizistische Skandale involviert.5 Der unaufhörliche Streit mit dem Publikum war dabei die konsequente Folge seines Emanzipationsbegriffs. Besonders prägnant legte Lessing dies in der Vorrede zu Wie die alten den Tod gebildet (1769) dar. Kontext war ein gelehrter Disput über die Existenz und Bedeutung von Skeletten auf antiken Plastiken, den sich Lessing mit Christian Adolph Klotz (1738–1771), Philologe und Rhetorik-Professor in Halle, lieferte. Aufklärung prozessiert demnach im Streit: »Es sei, daß noch durch keinen Streit die Wahrheit ausgemacht worden: so hat dennoch die Wahrheit bei jedem Streite gewonnen.«6 Lessing postuliert damit den Streit als Selbstzweck und Imperativ aller Aufklärung, eine Konzeption, die zweifellos von radikaler Modernität ist. Anders als etwa später für Schiller hatte die Emanzipation der Menschheit für ihn keine langen ästhetischen Vorarbeiten zur Voraussetzung, sondern konnte und musste im Hier und Jetzt beginnen. Aus dieser bedingungslos fortschrittlichen Position ergeben sich eine Reihe von Schwierigkeiten. Resultat war das Paradox jedes konsensuellen Wahrheitsbegriffs: Um konstruktiv zu streiten, braucht es die Fiktion einer Wahrheit. Indem jedoch der Streit selbst zur einzigen Wahrheit wird, droht sich diese Fiktion aufzulösen.7 Nicht umsonst stand das Verhältnis historischer und metaphysischer Wahrheit selbst im Zentrum des Fragmentenstreits. Lessing begegnet dem Problem später, indem er das streitende Subjekt nach dem Modell des arbeitenden Bürgers modelliert, was seinerseits
5
Vgl. Roman Lach/Jürgen Stenzel (Hg.): Lessings Skandale. Tübingen: Niemeyer 2005.
6
Gotthold Ephraim Lessing: Wie die alten den Tod gebildet. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Wilfried Barner. Bd. 6: Werke 1767–1769. Frankfurt a. M.: Dt. Klassiker-Verlag 1985, S. 715–779, hier: S. 717. Auf diese Ausgabe wird im Folgenden unter Angabe der Bandnummer und der Seitenzahl verwiesen.
7
Vgl. systematisch Gert Mattenklott: Lessing, Heine, Nietzsche. Die Ablösung des Streits vom Umstrittenen. In: Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Hg. v. Wolfram Mauser und Gunter Saße. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 339–348.
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eine Gefahr der ökonomischen Überformung birgt. Der Streit um die Wahrheit ist für Lessing keine Möglichkeit, sondern moralische Pflicht. Wahrheit ist nicht durch Gnade gegeben, sondern muss durch Arbeit erworben werden.8 Als ebenso problematisch zeigt sich jedoch, was sich als pädagogisches Paradox der Emanzipation fassen ließe. Ausgangspunkt des Streits war für Lessing ein Publikum, das in hohem Maße noch der Erziehung zum Streiten bedurfte. Dabei setzt Lessing den Streit dem Hass entgegen: Nicht zwar, als ob ich unser itziges Publicum gegen alles, was Streitschrift heißt und ihr ähnlich siehet, nicht für ein wenig allzu ekel hielte. Es scheinet vergessen zu wollen, daß es die Aufklärung so mancher wichtigen Punkte dem bloßen Widerspruche zu danken hat, und daß die Menschen noch über nichts in der Welt einig sein würden, wenn sie noch über nichts in der Welt gezankt hätten. / ›Gezankt‹; denn so nennet die Artigkeit alles Streiten: und Zanken ist etwas so unmanierliches geworden, daß man sich weit weniger schämen darf, zu hassen und zu verleumden, als zu zanken.9
Warum ekelt (»ein wenig allzu ekel«) sich das Publikum vor dem Streit? Laut Kant geht dem Ekel die Überwindung des Hasses voraus.10 Denkbar also, dass »unser itziges Publicum« auch deshalb wenig Lust zum Streiten hat, weil es eine Verbindung von Streit und Hass antizipiert. Lessing hingegen führt Ekel und Hass im Publikum zusammen, indem er das spannungsvolle Verhältnis des Streits zu seiner eigenen Schriftlichkeit abblendet. Denn Lessings Streitbegriff ist selbstverständlich metaphorisch: Gemeint ist die »Streitschrift«, also die publizistische Kontroverse. Mit dem Verweis auf das Zanken jedoch erneuert er den metaphorischen Rückbezug auf den verbalen Streit als Interaktion. Diese Tilgung der medialen Differenz erweist sich als ausschlaggebend. Durch den Rückbezug auf das Zanken scheint Lessing alle Abgründe schriftlich organisierter
8
Im Rahmen des Fragmentenstreits formuliert Lessing eine Ethik des gläubigen Individuums, das er nicht nur als zweifelndes, sondern auch als forschendes fasst: Nicht das Wissen um die Wahrheit, sondern »die aufrichtige Mühe«, sie zu erlangen, die unaufhörliche »Nachforschung der Wahrheit« macht demnach den »Wert des Menschen« aus, während der »Besitz der Wahrheit« selbst ihn »träge« machen würde. Gotthold Ephraim Lessing: Eine Duplik. Werke und Briefe, Bd. 8, S. 505–587.
9
Lessing: Wie die alten den Tod gebildet, S. 717.
10 Während Condillac den Hass noch als bloße Steigerung des Ekels fasste. Vgl. Winfried Menninghaus: Ekel. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. v. Karl-Heinz Barck. Bd 2. Stuttgart: Metzler 2001, S. 142–177.
Streit, Infamie, Hass: Figuren der Kritik im Fragmentenstreit | 265
Streitkultur überbrücken zu können: Die latente Konjunktion von schriftlichem Streit und Hass wird so in die Entgegensetzung beider Kategorien verwandelt. Die Tilgung der medialen Differenz fundiert in Lessings Apotheose des Streits aber eine noch grundsätzlichere Problematik. So begründet Lessing die Ablehnung des Streits durch das Publikum dahin gehend, dass »der größere Teil des Publici« selbst aus Schriftstellern bestehe, die den »polemischen Ton nicht dulden« wollten, weil er ihren »erschlichenen Namen«11 gefährlich werde. Beiläufig verurteilt Lessing damit die ökonomisch interessierte Arbeit am eigenen Namen durch journalistische Kritiker und akademische Gelehrte. Einzuwenden wäre demgegenüber, dass manch einer den polemischen Ton ebenso suchen könnte, weil dieser dem eigenen Namen vorteilhaft wird. Diese ökonomische Rückseite des politischen Streits bildet die größte Gefahr für seine angebliche Wahrhaftigkeit, setzt sie doch einen Imperativ der Kritik ohne jede ethischsoziale Begründung in Gang. Der Vollständigkeit halber sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass gerade Lessing sich mit dem ökonomischen Interesse von Autoren offensiv auseinandersetzte und den Autor dabei als sich selbst vermarktenden Produzenten fasste. Gemeinsam mit dem Drucker, Übersetzer und Freimaurer Johann Joachim Christoph Bode (1731–1793) verfolgte er Pläne für einen AutorenSelbstverlag, der in einer als Deutsches Museum betitelten Buchreihe die hervorragendsten Autoren des Landes versammeln sollte. Nach wenigen Publikationen scheiterte das Projekt, einige Ideen sind jedoch in Lessings Fragment Leben und leben lassen. Ein Projekt für Schriftsteller und Buchhändler (um 1777) erhalten. Lessing zufolge sollten sich Buchhändler, Drucker und Autor unter Umgehung des Verlags die Einnahmen paritätisch teilen. Er greift unter anderem die wichtige Unterscheidung zwischen Eigentums- und Nutzungsrechten auf, zweifelt das Recht des Verlagseigentums an und räsoniert darüber, worin man den »zu verarbeitenden rohen Stoff« zu erblicken habe, den der Autor dem Verleger liefere. Lessing zufolge soll der Autor lediglich einen »Teil seines Gewinnstes« und bestimmte Aufgaben an den Buchhandel auslagern, »damit ihm alles erspart werde, was das Zeit versplitternde Detail des Kaufmanns erfordert: Buchhalten, Mahnen, Einkassieren u. Dergl.«.12 Unklar bleibt, wie sich der Autor die ökonomische Expertise des Kaufmanns zunutze machen soll, ohne sich in seine Abhängigkeit zu begeben. Autorschaft ist hier jedenfalls vollständig in das industrielle Produktionsgefüge der Gesellschaft integriert.
11 Lessing: Wie die alten den Tod gebildet, S. 717. 12 Gotthold Ephraim Lessing: Leben und leben lassen. Ein Projekt für Schriftsteller und Buchhändler. Werke und Briefe, Bd. 10, S. 233–239, hier: S. 238.
266 | Roman Widder
Lessings Text folgt innerhalb der Debatten des 18. Jahrhunderts einer Eigentumstheorie der Literatur, welche die Arbeitstheorie des Eigentums auf die Geistesarbeit der Schriftsteller übertrug und damit die Grundlage für das moderne Urheberrecht inklusive Schutzfristen und Erbfolge schuf.13 Wenn sich jedoch der Name des streitenden Bürgers in den des sich ökonomisch vermarktenden Autors transformiert, wird die Arbeit des Autors immer auch die Arbeit am eigenen Namen darstellen. Die Sorge von Autoren um den eigenen Namen wurde durch die Professionalisierung von Autorschaft mit Sicherheit nicht verringert, sondern vielmehr befördert. Dies mag für Lessings Kalkül eine Marginalie gewesen sein oder nicht,14 bleibt aber vor allem insofern von Bedeutung, als Lessing seit 200 Jahren einer zwar polemischen, im Kern jedoch uneigennützig streitenden Aufklärung Modell steht, einer Aufklärung, die am ästhetischen Denken geschult ist und stets im Sinne einer Entgegensetzung von Sprache und Gewalt, von Kritik und Macht argumentiert.15 Lessings Aufklärung im Streit setzt kommunikative Akteure voraus, die jeden materiellen Interesses entbehren, gleichzeitig aber wie Kaufleute handeln und im Schreiben und Streiten wohlhabend werden sollen. Wie die liberale Idylle gleichberechtigt tauschender Händler in der politischen Ökonomie folgt dieser Idealismus des publizistischen Streits einem präsentistischen Modell.16 Die Kontingenzen, die dabei ausgeblendet werden, kehren dann in Form von behauptetem Hass und empfundener Verleumdung zurück in den Diskurs der Argumente.
13 In den Selbstverlagsprojekten des 18. Jahrhunderts kündigte sich die Entwicklung des Urheberrechts an. Mit diesem wurde der Autor nicht mehr vom Verleger, sondern vom Leser bezahlt. Durch den Übergang vom Verlagseigentumsrecht zum Urheberrecht und vom Bogenhonorar zum Absatzhonorar steigt der Autor gewissermaßen zum Unternehmer auf. Vgl. paradigmatisch Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn u. a.: Schöningh 1981. 14 Gerade seine Polemiken können durchaus als Element einer erfolgreichen Werkpolitik gedeutet werden. Vgl. dazu Alexander Nebrig: Von Lessings Stil zu Nietzsches Ich. Literarisches Selbstlob in Polemik und Autobiografik. In: DVJS 87 (2013), H. 2, S. 240–263. 15 Vgl. jüngst die Lessingpreisrede von Juliane Rebentisch: Lessings Unruhe. Der Streit um die Wahrheit und seine Bestreitung. https://soziopolis.de/verstehen/wie-sprichtdie-wissenschaft/artikel/lessings-unruhe/ (02.01.2019). 16 Hierzu grundlegend die Beiträge in Warren Montag/Mike Hill (Hg.): Masses, Classes, and the Public Sphere. London: Verso 2001.
Streit, Infamie, Hass: Figuren der Kritik im Fragmentenstreit | 267
II. DER PÖBEL ALS FIKTIVER AGENT DES HASSES Will man der Frage nach dem Zusammenhang von Streit und Hass nun am Gegenstand des Fragmentenstreits auf den Grund gehen, so stößt man auf das Problem, dass der Diskurs des Hasses und seiner Bekämpfung ein elementarer Bestandteil der Fragmente selbst war. Bereits das erste von Lessing 1774 unter dem Titel Von Duldung der Deisten publizierte Fragment aus der Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes von Hermann Samuel Reimarus handelt vom Hass.17 Der Behauptung, »daß jetzt der Unglaube und die Freidenkerei von Tage zu Tage mehr einreiße«, widmet sich Reimarus mit folgenden Worten: Das ist in den Ohren des blindgläubigen Pöbels eine Posaune, welche die Religionsgefahr ankündigt, und ihm Haß und Verfolgung wider alle, die nicht glauben wollen, einbläset. Denn der Pöbel glaubt so kräftig, daß er sich wohl auf seinen Glauben totschlagen ließe, und andre gern totschlüge, die das nicht glauben was er glaubt.18
Weite Teile jenes ersten von Lessing publizierten Fragments widmen sich dem Hass: Schuld tragen für Reimarus »die Herren Theologi«.19 Sie sind es, die »den Pöbel aufhetzen«, die Anhänger der vernünftigen Religion »verhaßt machen«, »vernünftige Verehrer Gottes bei der Gemeine mit verhaßten Benennungen anschwärzen«.20 Die wiederkehrende Formel »Haß und Verfolgung« präsentiert sich dabei als historische Erinnerung an Jahrhunderte nicht nur theologisch inspirierter Kontroversen, sondern auch inquisitorischer Verfolgung von Ketzern. Allerdings wirkt sie angesichts der Zensurpraktiken des aufgeklärten Absolutismus doch, gelinde gesagt, als Übertreibung.21
17 Die Handschrift der Apologie ist vermutlich 1669/70 in Hamburg durch die Kinder von Reimarus in Lessings Hände gefallen. Die Identität des Verfassers Reimarus wurde erst 1814 durch seinen Sohn Johann Albert Heinrich Reimarus mit Gewissheit geklärt. 18 Gotthold Ephraim Lessing: Von Duldung der Deisten: Fragment eines Ungenannten. Werke und Briefe, Bd. 8, S. 115–135, hier: S. 118. Soweit möglich werden Reimarus sowie Lessings Respondenten aus der von Wilfried Barner herausgegebenen Werkausgabe Lessings zitiert, welche die Fragmente in der Reihenfolge ihrer Publikation durch Lessing enthält. 19 Ebd., S. 120. 20 Ebd., S. 121, 120, 128. 21 Der Fragmentenstreit stand dabei unter anderem im Kontext der Kontroverse um die rationalistische Übersetzung des Neuen Testaments durch Karl Friedrich Bahrdt. Er endete schließlich auch mit einem Publikationsverbot Lessings zu theologischen
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Bei Reimarus wie auch in der Folge der Auseinandersetzung wurde der Hass stets einem ganz bestimmten Agenten zugeordnet, nämlich dem sogenannten Pöbel, der wie zum apotropäischen Schutz der Apologie am Anfang des Textes aufgebaut wird: Daß er [der Prediger] sie da mit rednerischen Ausdrücken, welche die Einbildungskraft und Affecten erregen und mit verhaßten Namen, wovon die Zuhörer nicht einmal richtige Begriffe haben, öfters zur Schau stellet: das dienet zu nichts, als den unverständigen Eifer des blinden Pöbels wider unschuldige Leute in Feuer zu setzen. […] Denn er urteilt nach sich selbst: wenn bei ihm der Glaube wegfiele, so bliebe gar keine Religion übrig. Unchristen klingen in des Pöbels Ohren als ruchlose lasterhafte Bösewichter.22
Wie Lessing rekurriert auch Reimarus auf ein Subjekt der Mündlichkeit, im Gegensatz zu diesem allerdings in negativer Absicht. Die Schrift scheint hier zur Sublimierung des mündlichen Hasses befähigt. Wer aber ist der Pöbel, der vermeintliche Agent des Hasses? Im historischen Sprachgebrauch der frühen Neuzeit handelte es sich um ein Synonym zu dem, was auch ›gemeiner Mann‹ ge-
Themen, das ihn dann zur Arbeit an Nathan der Weise (1779) veranlasst hat. Ob solcherlei Teilzensur mit Hass und Verfolgung gleichzusetzen ist, darf aber bezweifelt werden. Lessing hat die riskante öffentliche Auseinandersetzung jederzeit gesucht und auch auf die Verhaftung Bahrdts mit dem gelassenen Kalkül reagiert, sich die konfessionelle Spaltung des Reichshofrats in Wien in seiner Argumentation zunutze zu machen. Für Reimarus selbst lässt sich schließlich nicht feststellen, dass er zu irgendeinem Zeitpunkt Probleme mit der Zensur, geschweige denn mit dem Strafrecht gehabt hätte. Seine erste Publikation, Die Abhandlungen von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (1754), in der er sein deistisches Programm der Beschränkung auf die aus der Vernunft ableitbaren Wahrheiten bereits dargelegt hatte, hatten keinesfalls anstößig gewirkt. Auch die weiteren Veröffentlichungen von Reimarus, die dem gleichen Geist folgten, erfuhren viel Beifall und Zustimmung. Vgl. zur Kontroverse um Bahrdt zuletzt Hannes Kerber: Die Aufklärung vor Gericht. Zum historischen Hintergrund von G. E. Lessings Anmerkungen zu einem Gutachten über die itzigen Religionsbewegungen (1780). In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 68 (2018), H. 1, S. 27–72. Zu Reimarus vgl. Dietrich Klein: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Das theologische Werk. Tübingen: Mohr Siebeck 2009; sowie Gerhard Alexander: Einleitung. In: Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Hg. v. Gerhard Alexander. Frankfurt a. M.: Insel 1972, S. 9–38. 22 Lessing: Von Duldung der Deisten, S. 120.
Streit, Infamie, Hass: Figuren der Kritik im Fragmentenstreit | 269
nannt, im Gegensatz zu diesem allerdings mit herabsetzender, pejorativer Konnotation verwendet wurde. Auch die res publica literaria nutzte die Herabsetzung der allermeisten als ›Pöbel‹ spätestens seit Opitz zur Distinktion nach unten. Das galt auch für die aufgeklärte Religionskritik. Deren Spiritus Rector Spinoza hatte seinen Tractatus theologico-politicus (1670) noch auf Lateinisch verfasst und im Vorwort klar betont: »Das gemeine Volk, überhaupt alle, die mit ihm die gleichen Affekte teilen, lade ich also nicht ein, diese Seiten zu lesen. Lieber wünschte ich mir, sie beachteten dieses Buch überhaupt nicht, statt lästig zu werden […].«23 Reimarus selbst begründete die Nicht-Publikation der Apologie im Vorbericht folgendermaßen: »Lieber mag der gemeine Hauffe noch eine Weile irren, als daß ich ihn, (obwohl es ohne meine Schuld geschehen würde) mit Wahrheiten ärgern, und in einen wütenden Religions-Eiffer setzen sollte.«24 Für die Aufklärung hatte die Pöbel-Formel nicht zuletzt die Funktion, zwischen den auf zukünftige Vollendung steuernden Ansprüchen der Vernunft und dem Elend der Gegenwart einen zeitlichen Abstand zu installieren, in dem die Wirklichkeit statthaben durfte. Lessings Philosophie des Streits kassiert nun nicht nur diesen Abstand, sondern er wirft mit der Apologie zudem einen Text in den Ring, dem die Verachtung für den Pöbel in besonderer Weise zu eigen war. Dass es sich bei der Kritik des Pöbels, die theologisch im Gebiet der Akkomodationslehre zu situieren wäre,25 um keine Marginalie handelt, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Sache der Gelehrsamkeit im Fragmentenstreit selbst zur Kernproblematik des Streits gehörte. Einer der ›kleinen‹ Respondenten Lessings, Johann Daniel Schumann (1714–1787), hat sie darum ins Zentrum seiner Abhandlung Über die Evidenz der Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion (1778) gestellt. An zentraler Stelle erörtert er ausführlich die Frage, »Ob der Ungelehrte zu einer vernünftig gründlichen Überzeugung gelangen könne?« Schumann beharrt auf dem sozial egalitären Anspruch des christlichen Glaubens: Die Offenbarung sei »mitteilbar für alle und
23 Baruch de Spinoza: Theologisch-politischer Traktat. Übers. u. hg. v. Wolfgang Bartuschat. Hamburg: Meiner 2012, S. 13. 24 Vgl. den Auszug aus dem Vorbericht im Kommentar von Lessing: Werke und Briefe, Bd. 8, S. 852 f. 25 Vgl. Lutz Danneberg: Von der accommodatio ad captum vulgi über die accommodatio secundum apparentiam nostri visus zur aestetica als scientia cognitionis sensitivae. In: Hermeneutica Sacra. Studien zur Auslegung der Heiligen Schrift im 16. und 17. Jahrhundert. Hg. v. Torbjörn Johansson, Robert Kolb und Johann Anselm Steiger. Berlin: De Gruyter 2010, S. 313–379.
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jede, die zu ihrer Kenntnis gelangen können«.26 Man verkenne den christlichen Glauben also, wenn man ihn mit theologischer Gelehrsamkeit in eins setze: »ich gestehe, daß ich noch nicht alle Bücher aus allen Jahrhunderten durchgelesen und geprüft habe«.27 Weil der Glaube des Ungelehrten nicht von der Expertise der Gelehrten abhängen dürfe, stellt Schumann die Frage, ob »der Mangel an Gelehrsamkeit den guten Menschenverstand schlechterdings hindere, gegründete Überzeugung in der Religion zu erhalten«.28 Die biblischen Berichte, so dann jedoch Schumanns problematische Antwort auf seine eigene Frage, hätten denselben Wahrheitsstatus verdient wie andere historische »Tatsachen«.29 Der Glaube an sie lasse sich beim Blick auf die Quellen gut begründen. Schumann verpflichtet sich damit in seiner Argumentationsweise bereits auf die Autorität des historischen Diskurses, ohne aber einer historischen Kritik der Bibel, wie Reimarus sie in nuce praktizierte, gerecht zu werden. Für Lessing erweist sich sein Argument als dankbares Angebot, weigert dieser sich doch, wie es in seiner Entgegnung auf Schumann heißt, aus der einen »Klasse von Wahrheiten«, den historischen, in eine andere, nämlich in die metaphyischen, »herüber [zu] springen«.30 Erstaunlich ist, dass selbst Schumann als Verteidiger der Offenbarung ihre Wahrheit wesentlich aus ihrer Wirkung bestimmt. Wenngleich er Nützlichkeit und Wahrheit unterscheiden will, kehrt ein Argument immer wieder: »Man nehme dem großen Haufen diese Religion, und ich zittere vor den Folgen«.31 Selbst Schumann also glaubt offenbar nur bedingt und will den Glauben in erster Linie für den Pöbel. Lessing kann auch hier zustimmen: Die Wunder habe es einst gebraucht, um »die Menge aufmerksam darauf zu machen«,32 was eigent-
26 Johann Daniel Schumann: Über die Evidenz der Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion. In: Lessing: Werke und Briefe, Bd. 8, S. 355–437, hier: S. 373. 27 Ebd., S. 374. 28 Ebd., S. 380. 29 Ebd., S. 379. 30 Gotthold Ephraim Lessing: Über den Beweis des Geistes und der Kraft. Werke und Briefe, Bd. 8, S. 437–447, hier: S. 443. 31 Schumann: Über die Evidenz des Beweises, S. 375. Das betrifft auch sein historisches Argument selbst. Die Popularität des Zeugnisses verschafft demselben, Schumann zufolge, bereits ausreichend Legitimität: »das Zeugnis der unmittelbaren Jünger Jesu fand Beifall bei einer großen Menge ihrer Zeitgenossen, die in der Nähe und im Stand waren, dessen Wahrheit zu prüfen […], bewegte die Bekenner desselben, ihrem neuen Glauben nicht nur die angeerbte Landesreligion, sondern auch Familienfreundschaft, Ehre, Gut und Leben aufzuopfern.« Ebd., S. 399. 32 Lessing: Über den Beweis des Geistes, S. 444.
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lich gepredigt wurde. Heute aber, so Lessing, benötige es solche Wunder eben nicht mehr. Auf das Problem der Gelehrsamkeit und die Gefahr gelehrter Bevormundung der Ungelehrten geht Lessing hingegen nicht ein. Der Pöbel stellt einerseits jenes Subjekt dar, das von Hass erfasst zu werden droht, fungiert zugleich aber auch als Adressat der Wunder-Erzählungen im Evangelium. In beiden Fällen handelt es sich um eine affektive Antithese zur Rationalität der gelehrt und belesen streitenden Aufklärungsautoren. Der Pöbel ist im Fragmentenstreit so omnipräsent, weil er die Kluft zwischen Glauben und Wissen personifiziert, um die der Streit kreist. Von der Pöbel-Hass-Topik lässt sich deshalb nicht auf geschichtliche Tatsachen oder reale Publikumsaffekte schließen. Der Pöbel und sein Hass gehören vielmehr zum Symptomfeld des Streits, an dem seine Untiefen zur Erscheinung kommen. Festzuhalten bleibt deshalb zunächst nur, dass nicht die Hassrede, sondern die Rede von der Hassrede im Fragmentenstreit zur Herabsetzung des Gegners diente. Der hassende und bewundernde33 Pöbel ist das anthropomorphe Äquivalent des Hasses und zugleich sein fiktiver Agent im historischen Diskurs.
III. DIE HISTORISCHE FIKTION DER APOLOGIE Das erwähnte erste Fragment Von Duldung der Deisten, in dem Reimarus für die Toleranz all derjenigen eintritt, »die gar keine Offenbarung erkennen und bloß vernünftig leben und denken wollen«,34 schlug keine allzu hohen Wellen. Gerade in Hamburg war der Streit um die Toleranz ein altes Thema, das bereits im 16. Jahrhundert Auseinandersetzungen zwischen dem Hamburger Rat und luthe-
33 Hier schließt die Problematik nicht nur an den Streit um die Rolle des Wunders in der Poetik der Frühaufklärung an, sondern auch an Lessings Mitleidspoetik und ihre Distanzierung von der Bewunderung im Briefwechsel über das Trauerspiel (1756). Agent dieser Bewunderung war ebenfalls der Pöbel: »Das Wort Bewunderung wird von dem größten Bewunderer, dem Pöbel, so oft gebraucht, daß ich es kaum wagen will, aus dem Sprachgebrauche etwas zu entscheiden. Seine, des Pöbels Fähigkeiten sind so gering, seine Tugenden so mäßig, daß er beide nur in einem leidlichen Grade entdecken darf, wenn er bewundern soll. Was über seine enge Sphäre ist, glaubt er über die Sphäre der ganzen menschlichen Natur zu sein. Lassen Sie uns also nur diejenigen Fälle untersuchen, wo die bessern Menschen, Menschen von Empfindung und Einsicht, bewundern.« Gotthold Ephraim Lessing: Briefwechsel über das Trauerspiel. Werke und Briefe, Bd. 3, S. 662–737, hier: S. 679 f. 34 Lessing: Von Duldung der Deisten, S. 122.
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rischen Geistlichen prägte.35 Für die Aufklärung spezifisch war hier lediglich eine Vertiefung der »Kluft zwischen universalgeschichtlicher Toleranz und gegenwartsbezogener Indifferenz«.36 Anstoß erregte erst die zweite Publikation aus den Fragmenten. 1777 ließ Lessing unter dem Titel Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend gleich fünf Fragmente aus der Apologie folgen, inklusive seiner eigenen Gegensätze des Herausgebers. Reimarus greift im ersten Fragment Von der Verschreiung der Vernunft auf den Kanzeln zunächst weiterhin den von den Theologen angeblich von der Kanzel gepredigten Hass an. Erst allmählich entwickelt er dann seine historische Kritik am Wahrheitsgehalt der Offenbarung. Das dritte Fragment Durchgang der Israeliten durchs Rote Meer rechnet ausführlich vor, dass die Israeliten dabei mindestens neun Tage gebraucht haben müssten. Entzündet hat sich der Disput dann aber vor allem am fünften Fragment Über die Auferstehungsgeschichte. Reimarus zweifelt darin nicht nur den Wahrheitsgehalt der Auferstehungsgeschichte an, wobei er insgesamt zehn Widersprüche zwischen den Evangelisten anführt, er liefert darüber hinaus eine eigene, alternative Version des historischen Sachverhalts. Seine These lautet, die Jünger hätten »den Leichnam gestohlen, und nun gingen sie herum und sagten, er sei auferstanden«.37 Im Detail malt Reimarus aus, wie die »Jünger des Nachts zum Grabe gekommen, den Körper gestohlen, und darnach gesagt, Jesus sei auferstanden«.38 Dieses durch die englischen und holländischen Deisten geprägte Narrativ war das Resultat einer Überspitzung der Kritik an der Verbalinspiration, der protestantischen Lehre von der wörtlichen
35 Die Gründe für die außergewöhnlich große religiöse Toleranz Hamburgs waren stets kommerzieller Art gewesen. Dass sich »Toleranz« auf »Finanz« reimt, bemerkte bereits Christian Friedrich Daniel Schubart: Vaterlandschronik, 46. Stück. Stuttgart 1787, S. 364. Zitiert nach Franklin Kopitzsch: Gotthold Ephraim Lessing und seine Zeitgenossen im Spannungsfeld von Toleranz und Intoleranz. In: Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation. Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte. Beiheft 3. Hg. v. Walter Grab. Tel Aviv 1980, S. 29–91, hier: S. 34. 36 Klaus Berghahn: Grenzen der Toleranz. Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung. Köln u. a.: Böhlau 2000, S. 3. Die Toleranzbereitschaft der Aufklärung erstreckte sich meist nicht auf Atheisten und blieb gegenüber Juden an Assimilationserwartungen geknüpft, sodass die Aufklärung laut Klaus Berghahn in mancher Hinsicht sogar die romantische Entstehung des modernen Antisemitismus im Kontext der Stein-Hardenbergschen Reformen in Preußen vorbereitet hat. 37 Gotthold Ephraim Lessing: Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend. Werke und Briefe, Bd. 8, S. 173–312, hier: S. 282. 38 Ebd., S. 290.
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Inspiriertheit und Widerspruchsfreiheit der Bibel, die im 17. Jahrhundert aufgekommen war, um das Schriftprinzip (sola scriptura) gegen die katholische Lehre zu festigen, indem sie Gott selbst die Autorschaft der Bibel zuschrieb.39 Die Reimarus-Kritik erschöpft sich aber keineswegs darin, den historischen Wahrheitsgehalt des biblischen Textes anzuzweifeln, sondern sie ersetzt die biblische durch eine eigene Geschichte. Auffällig ist dabei, dass Reimarus in seiner Kritik die Möglichkeit einer allegorischen Bibelhermeneutik, die den buchstäblichen vom inneren Sinn der Schrift immer schon unterschieden hat, zu keinem Zeitpunkt in Erwägung zieht. An die Stelle einer allegorischen Lesart tritt nicht nur ein historischer Wahrheitsbegriff, sondern innerfiktional ein Anspruch auf empirische Verifizierung: Warum, fragt Reimarus, haben die Jünger nicht »alle Hohe-Priester und Schriftgelehrten als Zuschauer zum Grabe eingeladen«?40 Es ist der empirische Wahrheitsbegriff der modernen Naturwissenschaften, der hier auf das fiktive Publikum der Auferstehungsgeschichte projiziert wird: »Hätte er sich doch nur ein einziges mal nach seiner Auferstehung, im Tempel vor dem Volke und vor dem hohen Rate zu Jerusalem, sichtbar, hörbar, tastbar gemacht […]«.41 Das Inadäquate dieses Wahrheitsbegriffs zeigt sich auch dort, wo Reimarus über die Ohnmacht Christi im Angesicht seiner Hinrichtung klagt und damit das dogmatisch zentrale Paradox der Menschlichkeit Gottes schlichtweg ignoriert. Selbst Spinoza, auf dessen Tractatus theologico-politicus (1670) die radikale Trennung von Glauben und Wissen und auch die Skepsis gegenüber jedem biblischen Wunder in letzter Instanz zurückgeht, hatte das Leiden Christi noch literal gedeutet, die Auferstehung aber allegorisch. Lessing deutet in seinen Gegensätzen eines Herausgebers nur sehr indirekt auf diese Möglichkeit hin: »Aus ihrer inneren Wahrheit müssen die schriftlichen Überlieferungen erklärt werden, und alle
39 Vgl. Klein: Reimarus, S. 32–37; sowie Henning Reventlow: Bibelautorität und Geist der Moderne. Die Bedeutung des Bibelverständnisses für die geistesgeschichtliche und politische Entwicklung in England von der Reformation bis zur Aufklärung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980. Lessing, so wird in der Forschung immer wieder betont, intendierte mit der Publikation der Fragmente nicht eigentlich eine Attacke auf die Orthodoxie, sondern erhoffte sich eine Auseinandersetzung mit den wichtigsten Theologen der neueren Schule, die aber zunächst gar nicht, dann in Person Johann Salomo Semlers ebenfalls ablehnend reagierten. Zur Entwicklung der Neologie im Umfeld von Lessing vgl. Björn Pecina: Mendelssohns diskrete Religion. Tübingen: Mohr Siebeck 2016. 40 Lessing: Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, S. 284. 41 Ebd., S. 310.
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schriftlichen Überlieferungen können ihr keine innere Wahrheit geben, wenn sie keine hat«.42 Trotzdem ist die Auslassung des Allegorischen bei Reimarus auch für Lessings Beiträge signifikant. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt sie dann schließlich in der Kritik des Autodidakten Johann Daniel Müller (1716– 1786). Dass der äußere Sinn der Buchstaben durch die Fragmente der Apologie widerlegt sei, so Müller, sei nicht zu bedauern. Lessing und der Fragmentist hätten aber den sensus spiritualis, »die innere wahre Lehre und den allegorischen Sinn der Dinge zugleich mit verworfen«.43 Es war also nicht so sehr die Skepsis gegenüber dem historischen Wahrheitsgehalt, sondern die darüber hinausgehende historische Spekulation des Fragmentisten, an der sich die meisten Kritiker im Fragmentenstreit abarbeiteten. Diese war schon im 18. Jahrhundert kaum noch als rationalistische Bibelauslegung lesbar, wie die späte Entgegnung durch den Begründer der historisch-kritischen Methode Johann Salomo Semler (1725–1791) zeigt.44 Heutigen Lesern offenbart die Apologie sogar zahlreiche Elemente einer antisemitischen Verschwörungstheorie.45 Trotzdem hat das Publikum auf die Fragmente nur in Einzelfällen mit jenem »wütenden Religions-Eiffer« (s. o.) reagiert, den Reimarus antizipiert hatte. Als herausragendes Beispiel sei hier die Rezension von Gottfried Leß angeführt. Sie besticht
42 Lessing: Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, S. 313. 43 Johann Daniel Müller: Der Sieg der Wahrheit des Worts Gottes über die Lügen des Wolfenbüttelschen Bibliothecarii, Ephraim Lessing, und seines Fragmenten-Schreibers in ihren Lästerungen gegen Jesum Christum, seine Jünger, Apostel, und die ganze Bibel. O. O. 1780, S. 197. Zu Müller vgl. Reinhard Breymayer: Ein unbekannter Gegner Gotthold Ephraim Lessings. Der ehemalige Frankfurter Konzertdirektor Johann Daniel Müller aus Wissenbach/Nassau (1716 bis nach 1785). In: Pietismus – Herrnhutertum – Erweckungsbewegung. Festschrift für Erich Beyreuther. Hg. v. Dietrich Meyer. Bonn u. a.: Habelt 1982, S. 109–146. 44 Semlers Beantwortung der Fragmente eines Ungenannten insbesondere vom Zweck Jesu und seiner Jünger (1779) enthielt einen Anhang mit einem scharfen Angriff auf Lessing. Vgl. hierzu Harald Schultze: ›Zufällige Geschichtswahrheiten‹: Lessing und Semler im Streit. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 98 (2001), H. 4, S. 449–463. 45 Das betrifft natürlich insbesondere die Struktur der Erzählung, lässt sich aber auch verbatim beobachten: Hätten die Apostel auf den Betrug der Auferstehungsgeschichte verzichtet, so hätten sie auch die Juden überzeugen und damit »so viel tausend Seelen mit so vielen Millionen Seelen der Nachkommenden, jetzt so verhärteten und verstockten Juden aus ihrem Verderben gerettet«. Lessing: Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, S. 310. Zum Antisemitismus von Reimarus vgl. auch Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Übers. v. Karl S. Guthke. München: Beck 2008, hier: S. 708, 713.
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durch die Gelassenheit, mit der sie Lessing für die Publikation der Fragmente dankt, feststellt, »daß er [der Fragmentist] nicht mit küler Untersuchung schreibt, sondern mit Hize und einer sichtbahren Begierde, die Relgion falsch zu finden […]«, um sodann zum Auslöser der eigentlichen Empörung überzuleiten: Zwar würden bereits die ersten vier Fragmente von wie auch immer aufgekommener »Feindschaft« gegen das Christentum zeugen. Das »bei weitem wichtigste unter allen« sei jedoch das fünfte Fragment, und zwar alleine wegen der wirklich »heftigen Ausdrücke, ja wirklichen Schimpfworte, die er sich gegen Christenthum, Bibel, und Jesum und seine Apostel gestattet« hat.46 Was sich als Textkritik gab, wurde als infamierendes Sprechen rezipiert. Als verleumdet wahrgenommen wurden aber nicht nur die Jünger Christi, sondern metonymisch verbunden mit diesen sämtliche Christen.
IV. INFAMIE: MEDIUM VON HASS ODER FORM DES STREITS? Auch Goezes Angriff auf Lessing und den Fragmentisten setzte folgerichtig das Moment der Infamie ins Zentrum: Die Fragmente könnten nicht als textkritische Interpretation der Bibel, sondern müssten als »lauteste Lästerung«47 des Christentums verstanden werden, weil der Verfasser nicht davor zurückgeschreckt sei, »die Jünger Jesu als die ärgsten Bösewichter anzuschwärzen, indem er es als eine ausgemachte Wahrheit annimmt, daß sie den Leib Christi gestohlen, und hernach die Welt mit der schandbaren Lüge von seiner Auferstehung betrogen hätten«.48 Selbstverständlich wusste auch Lessing genau um das Infame der Apologie. Den »Ton der Verhöhnung«49 versucht er bereits in seinen Gegensätzen des Herausgebers zu vermeiden, eben weil derselbe von Reimarus angeschlagen wurde. Lessing
46 Anonymus [Gottfried Leß]: Rezension von Gotthold Ephraim Lessing: Zur Geschichte und Litteratur. Vierter Beitrag. In: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen. 1778/2, 129. u. 130. Stück, S. 1041–1053, hier: S. 1043 f. 47 Johann Melchior Goeze: Lessings Schwächen. Das dritte Stück. In: Lessing: Werke und Briefe, Bd. 9, S. 447–471, hier: S. 448. 48 Johann Melchior Goeze: Etwas Vorläufiges gegen des Herrn Hofrats Leßings mittelbare und unmittelbare feindselige Angriffe auf unsre allerheiligste Religion, und auf den einigen Lehrgrund derselben, die heilige Schrift. In: Lessing: Werke und Briefe, Bd. 9, S. 11–39, hier: S. 20. 49 Gotthold Ephraim Lessing: Gegensätze des Herausgebers. Werke und Briefe, Bd. 8, S. 312–351, hier: S. 315.
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kommentiert hier die ersten vier Fragmente, nicht aber das fünfte Fragment. In der Auseinandersetzung sind schon mehrere Hundert Seiten geschrieben, bis er sich im 5. Anti-Goeze endlich mit dem Vorwurf auseinandersetzt, das Fragment stelle die Apostel »als Dummköpfe, Bösewichter, Leichenräuber« dar.50 Lessings Antwort ist zweiteilig. Selbst wenn dem so wäre, argumentiert er zunächst, dürfe sich ein wahrer Christ nicht so einfach beleidigen lassen. »Leere Schimpfworte bringen ihn nicht auf; sie mögen wider ihn selbst, oder wider seinen Glauben gerichtet sein. Ruhige Verachtung ist alles, was er ihnen entgegensetzt«.51 Ungeachtet dessen behauptet Lessing, dass der Fragmentist mit solchen »Ehrentiteln« gar nicht umgegangen sei.52 Er habe lediglich, so Lessings zweites Argument, »in seinem Herzen dafür halten können, daß wir betrogen sind: aber er hat sich wohl gehütet zu sagen, daß wir von Betrügern betrogen sind«. Solche Unterschiede hält Lessing für alles andere als »bloßen Wörterkram«.53 Tatsächlich zeigt sich hier die spezifische Textur und Komplexität der Reimarus-Infamie: Sie besteht in der Tat nicht in einzelnen, ad hominem gerichteten Beschimpfungen, sondern in der von ihm zusammengereimten Geschichte selbst, in seiner eigenen »Erfindung«,54 obwohl er ja gerade eine solche den Aposteln vorwirft. Die platonische Unterscheidung von Wahrheit und Lüge ist es, welche bei Reimarus die Unterscheidung von historischem und allegorischem Sinn in doppelter Hinsicht ersetzt: Einerseits wirft er den Aposteln vor, nicht die Wahrheit gesagt, sondern gelogen zu haben. Andererseits aber beschränkt er sich selbst keineswegs auf die Kritik der historischen Überlieferung. Bei seiner Spekulation darüber, wie es »wahr, und würklich geschehen sein«55 kann, handelt es sich nicht mehr um Interpretation, weder um die alte hermeneutica sacra noch um moderne Textkritik.56 Lessing aber streitet dies ab. Den »Verdacht« der Apologie will er nicht als »Beweis« verstanden wissen. Reimarus habe »nichts von den Aposteln positiv behauptet«.57 Dass Lessings umständliche Refutatio hier irrt und irren will, wurde ver-
50 Gotthold Ephraim Lessing: 5. Anti-Goeze. Werke und Briefe, Bd. 9, S. 201–209, hier: S. 203. 51 Ebd., S. 202. 52 Ebd., S. 203. 53 Ebd., S. 206. 54 Lessing: Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, S. 286. 55 Ebd., S. 285. 56 Zur hermeneutica sacra in der Frühen Neuzeit vgl. den Überblick bei Johansson/ Kolb/Steiger (Hg.): Hermeneutica Sacra. 57 Lessing: Gegensätze, S. 204.
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schiedentlich bemerkt. Das »Abstracto der Tat« und das »Concreto des Täters«58 lassen sich nicht so einfach trennen, wie Lessing meint, denn was seit Spinoza auf dem Spiel stand, war ja gerade die moralische Integrität der Evangelisten.59 Die Rede von den »ehrlichen Leuten«,60 von denen Jesus nach der Auferstehung laut Reimarus niemand gesehen habe, rückt die Apostel indirekt ins Licht der Unehrlichkeit. Hier sei jedoch die gesellschaftliche Problematik hervorgehoben, die sich dabei um die Sache der Ehre oder des symbolischen Kapitals ergibt. Strukturell lassen sich die beiden Argumente Lessings schließlich in einer Kritik der Ehre zusammenführen: Im einen Fall betrifft die Frage der persönlichen Beschimpfung die Ehre der Apostel (»Betrüger«), im anderen – vermittelt über diese – die Ehre des gläubigen Christen. Lessing findet sich hier auf einem vertrauten Terrain wieder, kann er doch seine in Minna von Barnhelm (1767) an Tellheim vorgeführte Kritik der Ehre voraussetzen, die in den Kontext der Mitleidspoetik gehört: Die Kränkung der eigenen Ehre nimmt allzu persönlich, was nur der gesellschaftlichen Person, oder im Fall der Polemik: der Person des Arguments, gilt. »Die Ehre ist – die Ehre«,61 heißt es dort, wobei die an sich selbst festhaltende Ökonomie der Ehre dem Mitleid und seiner Ökonomie des Tauschs entgegengesetzt wird. Die Ehre ist für Lessing auch darum anachronistisch geworden, weil er sie auf individualpsychologische Aspekte reduziert und ihre kommunikative und kommunale Dimension ausblendet. Die Infamie, also die Verleumdung oder der Entzug der gesellschaftlichen Ehrbarkeit, lässt sich ebenso gut als jener Modus der Kritik oder des Streits fassen, der für eine Gesellschaft von Anwesenden, also in kleinen, städtischen Publika und ihrer vorwiegend mündlichen Kommunikation typisch und auch tragfähig war. Hier ließen sich Worte durchaus auf Personen beziehen und im Kampf um die öffentliche Meinung konnte sich die Macht gesellschaftlicher Gruppen ausspielen. Dort, wo von Infamie die Rede war, stand häufig das auf dem Spiel, was heute als moralische Ökonomie firmiert.62 Der Verruf von Meistern
58 Lessing: Gegensätze, S. 206. 59 Vgl. Lutz Danneberg: Der Fragmentenstreit als Streit um die hermeneutica sacra und das testimonium divinum der Heiligen Schrift. In: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 19 (2015), S. 239–264. 60 Lessing: Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, S. 309. 61 Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm, oder das Soldatenglück. Werke und Briefe, Bd. 6, S. 9–113, hier: S. 86. 62 Institutionell war diese moralische Ökonomie in den Zünften verankert, den zentralen Feinden der Liberalisierungsbewegungen um 1800, deren Namen (›ziemen‹) selbst auf das Selbstverständnis einer moralischen Ökonomie verweist. Vgl. Arnd Kluge: Die
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durch Gesellen ist dabei nur ein Beispiel dafür, dass Infamie nicht mit Stigmatisierung gleichzusetzen ist, sondern im Dienst legitimer ökonomischer Interessen stehen konnte. Die Ehre – das haben neuere Forschungen immer wieder betont – war nicht zwangsläufig jenes harte und irrationale Exklusionsmedium, das für ein Anwachsen der Randgruppen in der Frühen Neuzeit verantwortlich zeichnete. Konflikte um Ehre schrieben sich häufig von Ansprüchen auf kommunale Autonomie her und sind nicht ohne Grund bis in die heutigen Tage ein wiederkehrendes, nicht verschwindendes Thema geblieben. Allerdings ging es im Diskurs der Infamie nie um Wahrheit, sondern um ein aus affektiven und ökonomischen Momenten zusammengesetztes Interesse. Auch deshalb, weil die Existenz des Interesses von der interesselosen Kritik verleugnet wird, gerät die Infamie im kritischen Diskurs der Moderne selbst in Verruf. Lessings Streitideal, das von seiner Ehrkritik fundiert wird, setzt insofern ein unwahrscheinliches Subjekt-Modell voraus: Dem ökonomisch alles andere als interesselosen Subjekt des Streits soll sein eigener Name, sprich seine Ehre, gleichgültig sein. In Wirklichkeit verhält es sich umgekehrt: Zwar ist die Infamie in einer Gesellschaft von Abwesenden weitgehend dysfunktional geworden, doch ein interesse- und namenloses Subjekt ist dadurch noch nicht garantiert, die Gefahr des Verrufs keineswegs gebannt. In einer durch Skandale strukturierten Öffentlichkeit kann die Infamierung durchaus zur wesentlichen Strategie der Aufmerksamkeitsökonomie werden, in etwa so, wie es die Wunder – laut Lessing und Schumann – für die Apostel waren, um die Aufmerksamkeit des Pöbels auf die Wahrheit der christlichen Lehre zu lenken. Je öffentlicher die Auseinandersetzung, desto heftiger scheint vielmehr die Agonalität des Streits und desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Person die Sache verdrängt, insbesondere dann, wenn die Existenz der Person geleugnet wird. Der Fragmentenstreit jedenfalls ist ganz offenkundig, insbesondere in seiner zweiten Phase, von einem Kampf um den guten Namen gezeichnet, wie schon die Betitelung der Publikationen zeigt: Lessings Anti-Goeze (1778), mit der Assoziation zum Anti-Christen, zielt ebenso auf die Schädigung des Namens seines Kontrahenten wie Goezes dreiteilige Serie Lessings Schwächen (1778) und Friedrich Daniel Behns AntiLeßing (1778). Der Name ist hier zum leitenden Prinzip des Streits geworden.
Zünfte. Stuttgart: Steiner 2007, S. 22. Zum »zünftischen Idiom« der Ehre vgl. auch Robert Castel: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Übers. v. Andreas Pfeuffer. Konstanz: UVK 2000, S. 105.
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V. GATTUNGEN DES HASSES: POLEMIK, PASQUILLE, SATIRE Dass die Form des Streits, nämlich die »Klage, über meine Art zu streiten«,63 zum eigentlichen Gegenstand des Streits mit Goeze geworden ist, wie Lessing im 8. Anti-Goeze zusammenfasst, ist vor allem Goeze zu verdanken. Nicht Lessing, der Initiator, sondern Goeze, der Reflektor, sollte darum als Autor, als Urheber des Streits gelten. Goezes Kritik an Lessing war von Anfang keine theologische Auseinandersetzung, sondern eine Formkritik des Streits. Ausgehend von Goezes Kritik lassen sich eine Reihe von kritischen Verfahren ausmachen, die Lessings Vorgehen in der Auseinandersetzung charakterisieren: Allen voran beschwert sich Goeze über mangelnde Transparenz der Argumentation64 und die Diffusion der Rollen. Lessing spielt mit dem fließenden Wechsel zwischen seinen Funktionen als Herausgeber, Kritiker und selbstständiger Theoretiker. Einerseits distanziert er sich immer wieder offensiv von den Fragmenten, gleichzeitig aber steht er immer wieder für sie ein und scheint ihre inhaltliche Position auch weitgehend zu teilen. Goeze, der seine Hochachtung für den Schriftsteller Lessing im Laufe der Zeit mehrmals betont und selbst ein journalistisch geübter Polemiker war,65 vermisst dabei die Transparenz der Argumentation. Lessings Gegensätze des Herausgebers wirken für ihn nicht ohne Grund als ScheinGegensätze, als Produkte einer inszenierten Naivität, welche die Ernsthaftigkeit der Offenbarungsfrage zu einer scholastisch wirkenden Gedankenübung herabwürdigt. Ein weiterer Punkt ließe sich insofern als Dissimulation der Tragweite fassen: So, wie der Herausgeber die Fragmente präsentiert, würde man »die Bibel Preis geben, um die Religion zu retten, aber welche Religion? Gewiß nicht
63 Gotthold Ephraim Lessing: 8. Anti-Goeze. Werke und Briefe, Bd. 9, S. 349–357, hier: S. 350. 64 »Es ist eine wesentliche Pflicht eines Weltweisen, daß er die Worte, welche die Hauptbegriffe in seinen Sätzen ausdrücken, richtig und bestimmt erkläre, und den Lesern ohne alle Zweideutigkeit auf die bestimmteste Art, die möglich ist, sage, was er selbst dabei denket, und was der Leser dabei denken soll.« Goeze: Etwas Vorläufiges, S. 13. 65 Zur Abfolge von Goezes Kontroversen vgl. Hans Höhne: Johan Melchior Goeze: Stationen einer Streiterkarriere. Münster: Lit-Verlag 2004. Insgesamt zur Perspektive Goezes Ernst-Peter Wieckenberg: Johan Melchior Goeze. Hamburg: Ellert & Richter 2007, S. 186–206; sowie Peter Michelsen: Lessing, mit den Augen Goezes gesehen. In: Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Hg. v. Wolfram Mauser und Gunter Saße. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 379–392.
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die christliche, als welche mit der Bibel stehet und fällt«.66 Es ist die hypokritische Lapidarität, mit der Lessing die Tragweite der Aussagen des Fragmentisten herabmoderiert, die sich Goezes Empörung verdient. Lessing schreibt letztlich im Dienst einer überkonfessionellen Vernunftreligion. Für alle Beteiligten ist von Anfang an klar, dass unter der Voraussetzung des Lessing’schen Wahrheitsbegriffs – der, wie beschrieben, mit dem Ideal des Streits selbst zusammenfällt – vom Christentum am Ende nichts übrig bleiben kann. Auch deshalb, weil Lessing das nicht zugesteht, dreht sich die Kontroverse zunehmend auch um die Integrität der Person Lessings. Ein dritter Aspekt betrifft die Elliptik: Das Stilmittel der gekonnten Auslassung von nicht selten wesentlichen Punkten war schon prägend für die Gegensätze des Herausgebers. Die »Beschuldigungen« der Apostel im 5. Fragment, so bereits Goeze gegen Lessing, »übergeht er mit völligen aber sichtbar parteiischen Stillschweigen«.67 Ähnliches lässt sich auch in der Replik auf Schumann bezüglich der Frage der Gelehrsamkeit beobachten. Hinzuzufügen wäre, viertens, noch das Moment der Retardation. Der Fragmentcharakter der Fragmente wurde ja einzig und allein von Lessing definiert: Lessing rückt sich selbst dadurch in eine Position des Mehrwissens. Auch seine AntiGoeze gehen nicht systematisch vor, sondern schieben die Zurückweisung der Vorwürfe immer mehr auf und amplifizieren die eigene Bedeutung als Medium zwischen den Fragmenten und dem Publikum damit immer weiter. Entscheidend ist schließlich, dass Lessing ein Spiel mit dem kritischen Idiom der Unparteilichkeit treibt, die er immer wieder für sich in Anspruch nimmt. Er wehrt sich dagegen, als »Advocat«68 des Fragmentisten zu gelten, verteidigt diesen jedoch bis aufs Äußerste. All diese Streitverfahren verdichten sich in Goezes Urteil über die »Theaterlogik« Lessings.69 Zur Veranschaulichung können hier die viel zitierten letzten
66 Goeze: Etwas Vorläufiges, S. 20. 67 Ebd., 23. 68 Lessing: 8. Anti-Goeze, S. 350. Zu dieser scheinbaren Unparteilichkeit gehört auch, dass er den Fragmentisten bald nur noch »meinen Ungenannten« nennt und so die Intimität zwischen sich und dem Fragmentisten betont. Vgl. hierzu auch Ludwig Rohner: Die literarische Streitschrift. Themen, Motive, Formen. Wiesbaden: Harrassowitz 1987, S. 72–88. 69 Goeze: Lessings Schwächen. Das dritte Stück, S. 469. Indirekt bestätigt Karl Lessing diesen Befund später in einem Brief, wenn er seinen Bruder für die »theologische Komödie« lobt, die er jüngst geliefert habe. Vgl. Karl Lessing: Brief vom 25.08.1778. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe, Bd. 12, S. 189. Mattenklott betont das Theatralische in Lessings Polemik ebenfalls und deutet es dahin gehend, dass das
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Sätze des 5. Anti-Goeze dienen, welche spätere Kommentatoren immer wieder für Lessing eingenommen haben: Herr Goeze weiß sehr wohl, daß mein Ungenannter eigentlich nur behauptet, daß die Apostel es ebenfalls gemacht, wie es alle Gesetzgeber, alle Stifter neuer Religionen und Staaten zu machen für gut befunden. Aber das fällt dem Pöbel, für den er schreibt und prediget, nicht so recht auf. Er spricht also mit dem Pöbel die Sprache des Pöbels, und schreiet, daß mein Ungenannter die Apostel als Betrüger und Bösewichter lästere. – Das klingt! das tut Wirkung! – Vielleicht, wie gesagt, aber auch nicht. Denn auch der geringste Pöbel, wenn er nur von seiner Obrigkeit gut gelenkt wird, wird von Zeit zu Zeit erleuchteter, gesitteter, besser: anstatt, daß es bei gewissen Predigern ein Grundgesetz ist, auf dem nämlichen Punkte der Moral und Religion immer und ewig stehen zu bleiben, auf welchem ihre Vorfahren vor vielen hundert Jahren standen. Sie reißen sich nicht von dem Pöbel, – aber der Pöbel reißt sich endlich von ihnen los.70
Kontext dieser vielleicht berühmtesten Passage des Fragmentenstreits ist eben die bereits erwähnte, problematische Unterscheidung von Betrug und Betrüger. Diese Position der Textstelle veranschaulicht, dass der Pöbel als ambivalente Legitimationsfigur der Aufklärung genau in dem Moment aufgerufen wird, in dem die Argumente eigentlich fehlen. Die Unterscheidung von Betrug und Betrüger ist zudem der eigentliche Ort jener von Goeze beklagten Theaterlogik, schließlich unterscheidet das Theater vor allen anderen Medien systematisch zwischen Person und Sache und begründet eine Darstellungslogik, die für das Politische wegweisend war, gerade auch bei Lessing, für den die Bühne ein Medium der Öffentlichkeit, die Öffentlichkeit wiederum nach dem Modell der Bühne organisiert war. Die Religion wiederum, und hier liegt die Tücke der vorliegenden Einlassung Lessings, wird von ihm offenkundig als Funktion des Politischen gedacht. Zunächst fällt noch einmal der ungemein emanzipative Impetus Lessings in die Augen: Er erinnert daran, dass die Emanzipation der Menschheit nur in der Emanzipation aller bestehen kann – der Pöbel ist es, so Lessings überraschende Umwertung des diffamierenden Begriffs, der sich losreißen und von seinen Ketten befreien soll.71 Dafür muss die pädagogische Herablassung zu ihm um das
»Szenische in Lessings Rhetorik« als Form eines großen Selbstgesprächs verstanden werden könne. Mattenklott: Die Ablösung des Streits vom Umstrittenen, S. 345. 70 Lessing: 5. Anti-Goeze, S. 207. 71 Es sei hier nur nebenbei daran erinnert, dass Hegel ein halbes Jahrhundert später bezüglich des Pöbels zu dem gegenteiligen Schluss gekommen ist: Hegel fasst diesen keineswegs als Rest einer nichtaufgeklärten Vormoderne, sondern vielmehr als ein
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Vertrauen auf seine Selbsttätigkeit ergänzt werden, und in diesem grundsätzlichen Vertrauen scheint sich Lessing zunächst von seinen Kontrahenten zu unterscheiden. Er experimentiert mit der Selbstaufklärung des Publikums, das für ihn nicht nur Richter ist, sondern Produzent einer Wahrheit, die durch den historischen Prozess erst noch entfaltet werden muss.72 Andererseits hat die Selbstaufklärung des Publikums auch hier eine Rückseite: Denn die Emanzipation des Menschen kann alleine dann gelingen, wenn der Pöbel »nur von seiner Obrigkeit gut gelenkt wird« (s.o.). Steuerung und Lenkung des Publikums entpuppten sich damit als vorausgesetzter Zweck des Streits. Dies entspricht ganz der Performanz des Fragmentenstreits durch Lessing, bei dem der intendierte Ausgang nie offen war. Wenn Lessing dabei die Religion als Funktion der Politik betrachtet, als mythische Legitimation des jeweiligen Staats, handelt es sich zudem um eine alles andere als unparteiische Positionierung. Er extrapoliert damit vielmehr noch einmal die These von Reimarus. Diesem zufolge war die legendarisch operierende Gründung einer Religion den Aposteln nur aufgrund ihrer politischen Ohnmacht notwendig geworden. Diese Auffassung von Religion, in der dieselbe nur noch eine Schwundstufe von Politik darstellt, entspricht der Form, in der Polizeiwissenschaftler des 18. Jahrhunderts die Religion traktierten – eine politische Soziologie der Religion, die selbstverständlich mit ihrer massiven Herabsetzung einherging. Goeze selbst hatte die mit »Rebellion«73 bezeichneten politischen Folgen einer Abkehr von der Wahrheit der Heiligen Schrift selbst als Argument verwendet. Goezes Fehler sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er mit der Formkritik des Streits eine produktive Perspektive auf die Auseinandersetzung begründet hat. Blickt man auf die performativen Strategien, mit denen Lessing den Streit führte, so muss man Klaus Lazarowicz folgen, der Lessings AntiGoeze bereits 1963 nicht im Kontext der theologischen Polemiken der Zeit, sondern im Rahmen einer Geschichte der Satire abgehandelt hat: »Wo die Polemik künstlerische Intentionen hat und verwirklicht, nimmt sie Gestalt als Satire.«74
genuines Produkt der internen Widersprüche der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Hg. v. Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, § 244. 72 Vgl. Wolfgang Kröger: Das Publikum als Richter. Lessing und die »kleineren Respondenten« im Fragmentenstreit. Nendeln/Liechtenstein: KTO Press 1979. 73 Goeze: Etwas Vorläufiges, S. 37. 74 Klaus Lazarowicz: Verkehrte Welt. Vorstudien zu einer Geschichte der deutschen Satire. Tübingen: Niemeyer 1963, S. 177.
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Unterscheidungskriterium wäre demnach die Fiktionalität. Weil Goeze ein realer Charakter ist, gehören Lessings Anti-Goeze der pragmatischen Textsorte der Polemik an. Dass Lessing die »satyrische Schreibart«75 von sich weisen muss, ist jedoch nicht überraschend. Nicht von Ungefähr hat Schlegel über den AntiGoeze behauptet, er dürfe gerade aufgrund seines Reichtums »an poetischem Geiste […] unter allen seinen Schriften den ersten Rang«76 beanspruchen, während er auf die theologisch-philologische Kontroverse mit keinem Wort einging. Während sich die Polemik rhetorisch von der Kritik durch Überspitzung und Personenbezogenheit, Subjektivität und Parteilichkeit unterscheiden ließ, trennte sie vom Pasquill ihre Uneigennützigkeit und moralische Intention.77 Sie blieb eine legitime Form der Kritik, solange sie erkennbar im Dienst der Argumente stand. Ihre Unterscheidung vom Pasquill war zugleich die zwischen einem legitimen und einem illegitimen, einem tugendhaften und einem gehässigen Hass. In diesem Sinn konnte Schlegel am Polemiker Lessing den »tugendhaften Haß der halben und der ganzen Lüge«78 loben. Goeze selbst hat Lessings anonym publizierte Anti-Goeze als »Pasquille« gewertet, wovon es auch die »äußerlichen Kennzeichen« trage, nämlich »die Verleugnung seines und des Verlegers Namens«, der aber doch allen bekannt sei, weshalb es schwer werde für Lessing, »seine Ehre zu retten«.79 Zwischen polemisch-tugendhaftem Hass und infamer Gehässigkeit taucht also noch einmal jene Trennung auf, die das Desinteresse vom Interesse unterscheidet. Weil diese Trennung aber ihrerseits fiktiv ist, werden Streit und Kritik desto mehr von Hass und Infamie heimgesucht, je mehr sie sich ins Kleid der Interesselosigkeit werfen.
VI. ÜBERSCHREIEN UND ÜBERSCHREIBEN: HASS ALS OHNMACHT DER KRITIK Lessings pädagogisch-ästhetisches Projekt hat im Anti-Goeze die theologischphilologische Streitfrage gewissermaßen ›überschrieben‹. Mit der minimalen Differenz von Überschreien und Überschreiben hatte Lessing selbst schon im 1. Anti-Goeze gespielt, um die Agonalität des Streits hervorzuheben: »Über-
75 Lessing: 8. Anti-Goeze, S. 351. 76 Schlegel: Über Lessing, S. 106. 77 Vgl. auch Thomas Wolf: Pasquill. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 6. Tübingen: Niemeyer 2012, S. 682–686. 78 Schlegel: Über Lessing, S. 105. 79 Goeze: Lesssings Schwächen. Das dritte Stück, S. 448 f.
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schreien können Sie mich alle acht Tage: Sie wissen, wo. Überschreiben sollen Sie mich gewiß nicht.«80 Anders als bei der Darstellung des Streits durch das Zanken (s. o.) wird die mediale Differenz hier zwar nicht metaphorisch unkenntlich gemacht, aber durch einen ironischen Parallelismus relativiert. Indem er Goezes Predigten als unidirektionale Form der Kommunikation und institutionelle Bemächtigung der öffentlichen Auseinandersetzung brandmarkt, sanktioniert er umgekehrt die schriftliche Auseinandersetzung als natürliche Form der Kontroverse. Der Glaube an die Selbstheilung des Publikums durch publizistisch vermittelte öffentliche Diskussion beweist damit einmal mehr ein logozentrisches Weltbild, und zwar je mehr, je medienvergessener Lessing die konkreten Schauplätze und Kanäle ignoriert, in denen ein Publikum überhaupt zu sich selbst finden kann. Tatsächlich hat Lessing Goeze im Fragmentenstreit überschrieben, indem er mit der Entdifferenzierung des Publikums experimentierte: Theologie und Geschichte, Philologie und Pädagogik finden sich für ihn alle auf dem einzigen Terrain des menschlichen Geistes wieder. Lessings eigener Diskurs stellt sich dabei jedoch keineswegs als egalitär dar, er gibt sich vielmehr als Herablassung der Ästhetik in die irdischen Gefilde des religiösen Bewusstseins und der theologischen Hermeneutik.81 Zu fragen wäre insofern, ob Hass als Symptom einer gewaltsamen Entdifferenzierung des Publikums beschrieben werden kann, und im vorliegenden Fall als Produkt der diskursiven Abblendung der Legitimität theologischer Argumentation als solcher. Denn Goeze verfällt in der geschilderten Konstellation allmählich dem Hass und realisiert damit das, was diskursiv von Beginn des Streits an präsent war und angeblich vermieden werden sollte. Er nennt die Fragmente nun eine »abscheuliche[ ] Mißgeburt« und vergleicht ihren Autor mit »Satan«.82 Seine letzten Beiträge wirken mehr und mehr wie Serien von Beschimpfungen und Exklamationen: Lessing-Argumente erwidert er mit »Elender Einwurf!« oder »Welches Geschwätz!«.83 Bei der moralischen Herabsetzung Lessings kennt er
80 Gotthold Ephraim Lessing: 1. Anti-Goeze. Werke und Briefe, Bd. 9, S. 93–101, hier: S. 93. 81 Wie sehr Goeze die Theologie gegenüber der Ästhetik offenbar in der Defensive sah, zeigt auch seine Schrift gegen das Theater, die nämlich nicht nur die Sittlichkeit des Schauspiels untersucht, sondern umgekehrt sogar fragt, ob Geistliche selbst Komödien schreiben sollten. Vgl. Johann Melchior Goeze: Theologische Untersuchung der Sittlichkeit der heutigen deutschen Schaubühne […]. Hamburg: Johann Christian Brandt 1770. 82 Johann Melchior Goeze: Lessings Schwächen. Das zweite Stück. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe, Bd. 9, S. 357–395, S. hier: 357. 83 Goeze: Lessings Schwächen. Das dritte Stück, S. 466, 463.
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keine Grenzen mehr: »Wahrlich! die Moral der Kannibalen ist weit gesunder, als die Moral dieses Menschen.«84 Goezes Verwunderung ist nun Entsetzen gewichen. Zahlreiche Wiederholungen und ein sichtbarer Formverlust dokumentieren seine Fassungslosigkeit. Der Verdacht, dass Lessing »mit dem Nahmen der christlichen Religion nur spiele«,85 weil er die natürliche Religion meint, wenn er christliche Religion sagt, erhärtet sich. Besonders empört sich Goeze über die Tatsache, dass Lessing das Offensichtliche noch immer nicht zugestehen will, dass nämlich ohne Bibel kein Christentum bestehen kann. Offenbar hatte Goeze nicht geahnt, dass Lessing seine Formkritik des Streits stets nur durch eine ironische Zuspitzung beantworten würde, weil er Kritik als bewusstes Spiel mit der Regelverletzung praktizierte.86 Wie also ließe sich verschriftlichter Hass jenseits seiner kunstvollen polemischen Indienstnahme fassen? Gesteht man jenem Kannibalen-Vergleich etwa zu, Hassindiz zu sein, so ließe sich Hass womöglich als das polemische Bild fassen, dem aber sowohl der argumentative Zweck der Polemik, als auch die pragmatische Intention der Pasquille abhandengekommen ist. Hass ist ebenso bösartig, aber wehrloser als die Pasquille. Und interessanterweise entsteht Hass, so gefasst, bei Goeze gerade dort, wo dieser versucht, bei der Sache zu bleiben. Schließlich bemüht er sich unentwegt, der Polemik »ein Ende zu machen«87 und zur Sache zu kommen. Wie ernst es ihm dabei ist, wird dadurch deutlich, dass er Lessing unaufhörlich zitiert. Während Lessing die eigene Polemik auskostet und Goeze höchstens verkürzt paraphrasiert, zitiert Goeze Lessing unentwegt wörtlich, um ihn seiner Fehler zu überführen. Dabei ist es der größte Fehler Goezes, dass er immerzu versucht, bei der Sache zu bleiben, und den Streit »im Vertrauen auf Gott und auf die Gerechtigkeit der Sache« führt.88 Gerade sein Wille zur Sachlichkeit wird zur Quelle seines Hasses, der wie jeder Hass auf das Gefühl der Unrechtmäßigkeit und moralischen Verwerflichkeit des Gehassten aufbaut.89 Während Lessing am satirisch-polemischen Thema eine experimentelle philosophische Essayistik entwickelt, hält Goeze an einer wortgetreuen Kritik seines Gegners fest. Doch der paranoische Versuch, im Angesicht der Aufklärung qua
84 Ebd., S. 451. 85 Ebd., S. 454. 86 Wolfram Mauser: Toleranz und Frechheit. Zur Strategie von Lessings Streitschriften. Lessing und die Toleranz. Hg. v. Peter Freimark, Franklin Kopitzsch und Helga Slessarev. Detroit u. a.: Wayne State Univ. Press 1986, S. 276–291. 87 Goeze: Lessings Schwächen. Das dritte Stück, S. 453. 88 Goeze: Lessings Schwächen. Das dritte Stück, S. 452. 89 Vgl. Kolnai: Ekel, Hochmut, Haß, S. 108–115.
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Sachlichkeit die Abwesenheit des eigenen Hasses zu beweisen, ist darum aussichtslos, weil derselbe für die radikale Aufklärung eine Existenzbedingung darstellt. Lessings Polemik bleibt deshalb frei von Hass, während sich ihre Überlegenheit im Hass des anderen dokumentiert. So lässt sich von einem allmählichen Wirklichwerden des Hasses im Fragmentenstreit sprechen. In der elften und letzten Abteilung seines Anti-Goeze (1778) hat Lessing sein Ziel erreicht: »Sie haben mich förmlicher Gotteslästerungen beschuldigt; sagen Sie selbst: wissen Sie infamierendere Beschuldigungen, als diese? Wissen Sie Beschuldigungen, die unmittelbarer Haß und Verfolgung nach sich ziehen?«90 Der theologische Hass, der als rhetorisches Argument schon die Anfänge der Apologie prägt, ist im Laufe des Streits zu einer subjektiven Option geworden, um einer Kritik Gehör zu verschaffen, die sich gegenüber dem ästhetischuniversalistischen Diskurs Lessings nicht mehr darstellen kann. Umgekehrt ist der Fragmentenstreit erst durch die von Lessing betreute Realisierung des Hasses zu einem Glanzstück der Legitimation jener interesselosen und bedingungslosen Kritik geworden, auf die wir uns stolz berufen, wenn wir für Aufklärung streiten. Hass ist im Fragmentenstreit also nicht das Gegenteil des Streits, sondern das verzweifelte Festhalten an der Kritik unter der Bedingung ihrer Unmöglichkeit. Er ist der Name für die ohnmächtige, aber trotz allem zum hässlichen Ausdruck gebrachte Kritik. Aufklärung hingegen beweist sich nicht zuletzt in der Produktion von Hass. Es ist der Hass der anderen, der dem Diskurs der Kritik auch dort recht zu geben vermag, wo die ihm eigene Fähigkeit des Unterscheidens schon lange versagt hat.
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90 Gotthold Ephraim Lessing: 11. Anti-Goeze. Werke und Briefe, Bd. 9, S. 417–425, hier: S. 420.
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Hass und Nation bei Ernst Moritz Arndt Jürgen Brokoff
I In einer noch zu schreibenden Literatur- und Diskursgeschichte des Hasses und der Hassrede in Deutschland nimmt die Zeit zwischen der Niederlage der preußischen Armee gegen Napoleon im Jahr 1806 und der endgültigen Niederlage Napoleons im Jahr 1815 eine wichtige Stellung ein. Denn in Texten dieser Zeit, zu denen Flugschriften, Reden, Dramen und zahlreiche Gedichte gehören, ist nicht nur metaphorisch von Hass die Rede. ›Hass‹ wird in dieser Zeit als politische Kategorie, als Instrument des politischen Kampfes, als Redeform in die Diskussion eingeführt. Das geschieht in einer Schrift des Dichters und Publizisten Ernst Moritz Arndt, die im Juni 1813 geschrieben wird und die den Titel Ueber Volkshaß trägt. Das Kompositum »Volkshaß« zeigt an, dass es um einen bestimmten Typus von Hass geht, der mit dem Kollektivbegriff des Volkes verbunden ist. Der Philosoph Aurel Kolnai erwähnt in seinem Versuch über den Haß von 1935 den »politischen Haß«, der von persönlicheren Formen des Hasses abzugrenzen sei.1 Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es sich bei Arndts Konzept des Volkshasses in diesem Sinne um eine Variante des politischen Hasses handelt, die in historischer Perspektive Aufschluss über die Struktur des Hasses und die Funktionsweise der Hassrede gibt. Dass die Publizistik und Literatur in der Zeit der Besetzung Preußens und in den sogenannten Befreiungskriegen maßgeblichen Anteil an der Mobilisierung der öffentlichen Meinung und an der Nationalisierung der Vorstellungen von po-
1
Aurel Kolnai: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 104.
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litischer Feindschaft hatten, steht außer Frage und ist bereits untersucht worden.2 Welche Funktion dem Konzept des Volkshasses in diesem Meinungsbildungsprozess und bei der Schaffung eines deutschen Nationalbewusstseins zukommt, bedarf hingegen noch der Klärung. Es geht nicht nur darum, die nationalen Leidenschaften der Bevölkerung gegen die Besatzungsmacht aufzustacheln und das politische Klima anzuheizen, sondern auch um die Diskussion der Frage, welche Mittel im Kampf gegen die Besatzungsmacht erlaubt sind. Dies zeigt eine andere, im Jahr 1813 erschienene Schrift von Arndt. Im Text Was bedeutet Landsturm und Landwehr? geht es unter Verweis auf den spanischen Guerillakrieg gegen Napoleon um die Beförderung eines »Volkskriegs« in Preußen, für den die Einrichtung eines »Landsturms« wesentlich ist.3 Dieser Landsturm aus waffenfähigen Männern jeden Alters und Standes begegnet der Besatzungsmacht auf dem eigenen Territorium: Er [der Landsturm; JB] gebraucht alles, was Waffen heißt, und wodurch man Überzieher und Bedränger ausrotten kann: Büchsen, Flinten, Speere, Keulen, Sensen usw.; auch sind ihm alle Kriegskünste, Listen und Hinterlisten erlaubt, wodurch er mit der mindesten Gefahr bei Tag und Nacht den Feind vertilgen kann […].4
Arndts Schrift von Anfang 1813 weist auf das preußische Landsturm-Edikt vom April 1813 voraus. Dieses vom preußischen König signierte und später entschärfte Edikt gehört nach den Worten Carl Schmitts zu den »ungewöhnlichsten Seiten aller Gesetzesblätter der Welt«, weil es für einen kurzen historischen Moment den Aufruf zum irregulären Partisanenkrieg mit der Autorität des sou-
2
Vgl. Michael Jeismann: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918. Stuttgart: Klett-Cotta 1992; Ernst Weber: Lyrik der Befreiungskriege (1812–15). Gesellschaftspolitische Meinungs- und Willensbildung durch Literatur. Stuttgart: Metzler 1991; ders.: Für Freiheit, Recht und Vaterland. Zur Lyrik der Befreiungskriege als Medium politischer Meinungs- und Willensbildung. In: Dichter und ihre Nation. Hg. v. Helmut Scheuer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 237–256.
3
Ernst Moritz Arndt: Was bedeutet Landsturm und Landwehr? Nebst einer Mahnung an deutsche Männer und Jünglinge in Preussens rheinischen Landen. Köln: Rommerskirchen 1815, S. 12.
4
Ebd., S. 11 f.
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veränen Staates versieht.5 In Paragraf 7 des königlichen Edikts ist davon die Rede, dass der Landsturm ein Kampf der Notwehr ist, »die alle Mittel heiligt«.6 Im Volkskrieg, der mit den Mitteln des Partisanenkampfes geführt wird, ist alles erlaubt. Was für Schmitt der geistesgeschichtliche Ausgangspunkt seiner Theorie des Partisanen ist, bildet im Folgenden den Kontext für die Analyse der Kategorie des ›Volkhasses‹. Die systematische Einführung dieser Kategorie in die politische Diskussion des Jahres 1813 arbeitet, so meine These, analog zur Diskussion über ›Guerilla-Volkskrieg‹ und Landsturm an einer Verschiebung der Grenzen dessen, was im politischen Raum ›erlaubt‹ ist. Für die Beurteilung dieser Verschiebung ist sekundär, ob der Verfasser der Schrift von Hass erfüllt ist. Und auch die Frage, ob sich der Volkshass in der historischen Wirklichkeit Preußens niedergeschlagen hat, ist zweitrangig. Interessant ist vielmehr, auf welche Weise sich in Arndts Text die Verschiebung der Grenzen des Erlaubten vollzieht. Zur Diskussion steht damit die Struktur des Volkshasses, wie er in Arndts Text konzipiert wird. Zugleich geht es um die Struktur des Textes selbst. Lässt sich dieser, jenseits einer fruchtlosen Spekulation über die feindlichen Gefühle seines Verfassers, im strukturellen Sinn als Hassrede verstehen? Die folgenden Überlegungen gliedern sich in mehrere Schritte. Zunächst wird die Kommunikationssituation des Textes erörtert, die auch der Verfasser der Schrift selbst reflektiert. Danach wird die Einführung des Hasses als politische Kategorie betrachtet, die im Rahmen einer Reflexion über das Christliche erfolgt. Anschließend wird auf das in Arndts Text artikulierte Lob der »Verschiedenheit«7 eingegangen und dessen strategische Funktion beleuchtet. Im darauffolgenden Schritt geht es um die Analyse des Konzepts des »innerlichen Hasses« (EMA 14), das für die Argumentation von Arndt zentral ist, indem es die gesellschaftliche Dynamik des Hasses mit der rhetorischen Dynamik des Textes verbindet. Im letzten Schritt werden Schlussfolgerungen erörtert, die sich aus der Lektüre von Arndts Text ergeben. Ganz am Ende wird dem Text von Arndt eine Schrift aus dem Jahr 1815 gegenübergestellt, die sich als präziser analytischer Kommentar zu Arndt lesen lässt.
5
Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Berlin: Duncker & Humblot 1995, S. 47.
6
Zitiert nach Schmitt: Theorie des Partisanen, S. 48.
7
Ernst Moritz Arndt: Ueber Volkshass und über den Gebrauch einer fremden Sprache. Leipzig: Fleischer 1813, S. 13. Zitatnachweise im Folgenden nach dieser Ausgabe unter Angabe der Sigle EMA und der Seitenzahl im Text.
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II Arndt begreift seine »fliegende[n] Blätter« als »Worte zur Verständigung« über ein in der Bevölkerung diskutiertes Phänomen (EMA 3). In Zeiten von Krieg und Hader sei es natürlich, dass »oft geredet wird von dem, was man Volkshaß oder Nationalhaß nennt« (ebd.). Arndt geht also von der Verwendung des Begriffs »Volkshaß« aus und macht gleich zu Beginn den Widerstreit zweier Haltungen zu diesem Begriff aus. Während »die Einen« den Hass als etwas so Natürliches und Notwendiges wie das Leben selbst ansehen, sodass sie unter den Bedingungen von Knechtschaft und Tyrannei »Gefühle erlaubter Rache« fordern und Hass als »nicht allein erlaubt, sondern geboten« ansehen, erhebt die Gegenpartei der »Anderen« Einspruch (EMA 4). Solche Sichtweise sei mit den Ansprüchen eines dem Frieden und der Sanftmut verpflichteten Christentums nicht vereinbar, es handele sich um eine »verruchte Lehre von Haß und Rache« (ebd.). Ungeachtet des scheinbar dialogischen Charakters der einleitenden Passagen ist Arndts Text weit davon entfernt, beide Haltungen als gleichberechtigt auszuweisen. Vielmehr wirft er den Hass- und Rachekritikern eine Verkennung der realen Situation der Menschen auf Erden vor. Mehr noch, er spricht ihnen das Menschsein selbst ab: »Ihr kennet das Menschliche nicht, weil ihr keine Menschen mehr seyd, sondern in Faulheit und Abgestorbenheit der edlen und kühnen Triebe der menschlichen Natur unterginget.« (EMA 6) Arndt führt gegen die Hasskritik friedfertiger Christen zwei Aspekte ins Feld: erstens, dass der Hass im Kampf gegen das Böse notwendig ist, und zweitens, dass der Hass in enger Verbindung zur Liebe steht: »Ein Mensch, der die rechte Liebe hat, muß das Böse hassen, und hassen bis in den Tod.« (Ebd.) Der von Arndt beschworene Kampf und Krieg gegen das Böse ist eindeutig religiös fundiert. Ihm liegt die Vorstellung eines zornigen und strafenden Gottes zugrunde. Wie der Philosoph Kolnai ausführt, ist die enge Verbindung von Hassen und »Für-böse-Halten« insbesondere für den Religionshass prägend und lässt sich mit einem manichäischen Deutungsmuster in Verbindung bringen, worauf noch zurückzukommen sein wird.8 Und es ist ebenfalls Kolnai, der die enge Verbindung von Liebe und Hass ins Zentrum seiner Phänomenologie des Hasses stellt. Kolnai bezeichnet Liebe und Hass als »symmetrisch-gegensätzliche Urkräfte der Personseele«, wobei Liebe als positive und Hass als negative Haltung zu einem Gegenstand unter Einsetzung der ganzen Person verstanden werden kann.9 Die Vorstellung, dass Liebe
8
Kolnai: Ekel, Hochmut, Haß, S. 138.
9
Ebd., S. 115.
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und Hass komplementäre Kräfte sind, liegt auch Arndts Konzeption zugrunde. Dieser sieht das Leben der Menschen wie das Leben der ganzen Natur durch einen »ewige[n] Krieg und Kampf der Kräfte« (EMA 6) bestimmt. Johannes F. Lehmann hat zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Vorstellung Arndts im Horizont der zeitgenössischen Diskurse über Kraft und Energie zu sehen ist.10 Darüber hinaus sind zwei weitere Aspekte für die Einschätzung von Arndts Konzeption wichtig: erstens der Umstand, dass das von Liebe und Hass bestimmte Leben der Menschen, das Teil des Krieges und Kampfes der lebendigen Natur ist, an die Instanz Gottes rückgebunden bleibt. Die ganze Natur ist »Ausfluss und Bild des verborgenen und unsichtbaren Gottes« (EMA 10). Somit ist der Hass als lebendige Kraft des Menschen göttlichen Ursprungs: eine höhere Legitimation lässt sich kaum denken. Dabei ist nicht nur der Hass göttlichen Ursprungs, sondern auch die Verbindung, die zwischen Liebe und Hass besteht: »Weil er [»der rechte Gott«; JB] der Gott der Liebe ist, darum gefällt ihm Haß.« (EMA 9) Zweitens ist für Arndts Konzeption charakteristisch, dass der Hass stets in einem politischen Kontext zu verorten ist. Knechtschaft, Sklaverei und Tyrannei als negative, zu überwindende Zustände sowie Freiheit, Recht und Gerechtigkeit als positive Ziele von Kampf und Krieg bestimmen den Text von Anfang an. Die Einführung der Kategorie des Hasses steht unter der Vorherrschaft eines Politischen, das religiöse Aspekte miteinschließt. Die elliptische Wortfügung am Beginn des nachfolgend Zitierten und das gleich im Anschluss rhetorisch zum Einsatz kommende Polysyndeton sind dabei erste Hinweise auf die Erregtheit des Sprechers, ein Umstand, auf den später zurückzukommen ist: Haß und Rache gegen die Tyrannei und alle Tyrannen, weil sie die Freiheit und Freude und jedes edle Gefühl und jeden göttlichen Gedanken von der Erde vertilgen wollen! Diesen Haß den Enkeln und Urenkeln eingehaucht und überliefert, als ein Unterpfand der Tugend und der christlichen und menschlichen Liebe. Das ist das rechte Christentum und die rechte Menschlichkeit […]. (EMA 7) Wo um die höchsten menschlichen Dinge, wo um das Recht und die Freiheit der Kampf steht, da sind Haß und Rache also erlaubt, weil der irdische Mensch ohne lebendige Gefühle nichts Lebendiges und Kühnes thun und wagen kann. Gott will diesen Haß, ja er gebietet ihn. Er hat selbst einen Haß gesetzt und in die ganze Natur gelegt. (EMA 9)
10 Vgl. Johannes F. Lehmann: Zorn, Hass, Entscheidung: Modelle der Feindschaft in den Hermannsschlachten von Klopstock und Kleist. In: Historische Anthropologie 14 (2006), H. 1, S. 11–29.
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III Ausgehend von der hier sichtbar werdenden Aufwertung des Hasses – er ist von Gott bzw. von der Natur autorisiert, und er ist notwendige Gefühlsgrundlage des lebendigen Menschen im politischen Freiheitskampf – hebt Arndts Text zu einem Lob der »Verschiedenheit« (EMA 13) an, das zunächst überraschend erscheint. Unter dem Begriff der Verschiedenheit erfasst Arndt Phänomene der Lebenswelt des Menschen: »verschiedene Klimate«, »verschiedene Anlagen, Triebe, Neigungen« des Menschen, »verschiedene Sprachen« (EMA 10). Arndt führt diese Phänomene der Verschiedenheit an, weil er im Leben des Menschen und der Völker ein Prinzip der Verschiedenheit verankert sieht, das wiederum zu Gott zurückführt: Gott hat die Verschiedenheit gefallen, denn Gott gefällt das lebendige Leben und ein freier und lustiger Wettkampf der Kräfte. Gott hat diese Verschiedenheit auch unter den Menschen gewollt, und deswegen hat er sie gestiftet: darum die verschiedenen Völker, Länder, und Sprachen, und was sich daraus wieder für eine Unendlichkeit von Verschiedenheiten erzeugt. (EMA 13)
Das eine unendliche Vielzahl von Verschiedenheiten erzeugende Prinzip hat neben der ›lustigen‹ auch eine ernste Seite. Es stiftet »Abneigungen, ja Feindschaften zwischen den Völkern« (EMA 10). Der Begriff der Feindschaft wird also in Arndts Text differenztheoretisch gedacht.11 Auch der Begriff des Hasses gründet bei Arndt auf einer differenztheoretischen Überlegung. Dieser spricht an mehreren Stellen seines Textes davon, dass aus der Verschiedenheit und der Verschiedenartigkeit der Völker nicht nur Feindschaft, sondern auch Hass hervorgeht. Er nennt diesen Hass, der »aus angebornen Verschiedenheiten der Völker entspringt«, den »äußerlichen Haß« (EMA 14). Es ist notwendig, sich die strategische Funktion der differenzbasierten Konzeption von Feindschaft und Hass vor Augen zu führen. In Arndts Text können drei solcher strategischen Funktionen ausgemacht werden. Die erste betrifft den »äußerlichen Haß«. Das Lob der Verschiedenheit der Völker ist gegen Napoleon gerichtet. Arndts Text dämonisiert den französischen General und Kaiser als großen »Völkervereiniger« (EMA 11), durch dessen Expansions- und Herr-
11 Vgl. Lehmann: Zorn, Hass, Entscheidung. – Vgl. zum Begriff der Feindschaft, der sich ohne Carl Schmitts Begriff des Politischen nicht denken lässt, neben der in Anm. 2 genannten Studie von Jeismann: Jürgen Fohrmann: Feindschaft/Kultur. Bielefeld: Aisthesis 2017.
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schaftsansprüche ganz Europa zu einem »traurigen Einerlei« (ebd.) zu werden drohe. Arndts Argument für Verschiedenheit und Differenz und gegen Einheitlichkeit und Homogenität hat also diesbezüglich einen klar umrissenen politischen oder, wenn man so will, außenpolitischen Kern. Unter Verweis auf den »äußerlichen Haß« macht Arndt die Gefühle der »edlen« (EMA 14) Europäer im Kampf gegen Napoleon geltend. Das bedeutet nicht, dass sich Arndt vorbehaltlos für Verschiedenheit und Differenz ausspricht. Sein Eintreten für beides ist vielmehr mit zwei weiteren strategischen Funktionen verknüpft. Die These von der Verschiedenheit der Völker dient zweitens der Zuspitzung eines Arguments, das Überlegungen des sehr viel später entwickelten ›Ethnopluralismus‹ vorwegnimmt.12 Die Verschiedenheit anerkennende Abgrenzung nach außen geht mit einer auf Homogenität setzenden Identitätsbildung nach innen einher. Arndt bringt dies auf die Formel, dass jedes Volk in »seiner vollen Eigenthümlichkeit« (EMA 19) geschieden dastehen solle, oder rabiater: »Laß die Franzosen in Frankreich Franzosen seyn.« (EMA 18) Nur auf dieser Basis könne sich ein Volk »auf das volleste, würdigste und eigenthümlichste ausbilden« (EMA 19). Und drittens bietet die These von der Verschiedenheit der Völker Arndt die Möglichkeit einer polemischen Verschärfung. Durch die Einführung dualistischer Unterscheidungen von Gut und Böse, von höherwertig und minderwertig ist die Verschiedenheit dann nicht mehr auf einer horizontalen, sondern auf einer vertikalen Achse angeordnet. Sie ist nicht mehr symmetrisch, sondern asymmetrisch.
IV Arndts Text nutzt die Möglichkeit einer ethnopluralistischen und dualistischen Zuspitzung der These von der Verschiedenheit der Völker strategisch nach innen: für eine nationale Identitätsbildung, die den Hass nicht mehr als äußerlichen, sondern als »innerlichen« konzipiert. Diesem »innerlichen Hass« (EMA 14) widmet sich das letzte Drittel des Textes, das die eigentliche Stoßrichtung von Arndts Hasskonzeption deutlich macht. Die Entfaltung der Idee des »innerlichen Hasses« erfolgt stufenweise. Ihre Dynamik betrifft den gefühlsmäßigen Zusammenschluss aller Deutschen als den entscheidenden, in Gang zu setzenden Prozess. Mit dieser Dynamik verändert sich zugleich die Tonlage des Textes. Am Anfang steht die Angabe der Motiva-
12 Der Begriff ›Ethnopluralismus‹ wurde in den 1970er-Jahren im Kontext des Diskurses der Neuen Rechten vom Soziologen Henning Eichberg geprägt.
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tion, warum die Deutschen den Franzosen mit ›brennendem Haß‹ (EMA 15) begegnen sollen. In einem immer weiter zurückreichenden Bogen schildert der Text, dass die Herrschaftsansprüche der Franzosen nicht nur seit acht Jahren, seit der Niederlage von 1806, nicht nur seit zwanzig Jahren, seit der Französischen Revolution, sondern seit über drei Jahrhunderten den Deutschen zugesetzt haben. Die Vorstellung, von den Franzosen »hinterlistig belauert« (EMA 15) worden zu sein, die auf den Topos von ›deutscher Redlichkeit‹ und ›welscher Tücke‹ zurückgreift, steht dabei im Zentrum. In religiös gefärbter Sprache macht der Text in der Gegenwart eine grundlegende Zeitenwende aus: Gottlob, die Zeit ist erschienen, wo der Widerwille, den das brave teutsche Volk immer noch gegen die Wälschen und ihre Sitten empfunden hat, zu einem brennenden Haß werden kann, wo er in die Seelen der Kinder so eingepflanzt werden kann, daß er aus teutschen Brüsten künftig nicht mehr auszurotten ist; […]. (EMA 15)
Hier zeigt sich, dass es weniger um eine aktuelle, auf die Forderung des Tages bezogene Mobilisierung von Hass geht, als vielmehr um die dauerhafte Verankerung desselben in der nachwachsenden Generation. Dieser Erziehungsgedanke, der einige Jahre vor Arndts Schrift in Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation (1808) ausgearbeitet wurde, ist bei Arndt mit einer Überlegung verbunden, die quer zu der Vorstellung steht, dass Hass ein irrationaler, gleichsam blinder Affekt sei. Denn Arndt begreift den Hass als das entscheidende Mittel im Prozess nationaler Bewusstwerdung. Hass ist das Medium einer Identitätsfindung, die im Rahmen einer Reflexion erfolgt. Das Medium selbst ist durch Licht und Klarheit gekennzeichnet: Wenn der Haß gegen die bösen Nachbarn befestigt ist für lange Zeiten, dann erst wird uns recht klar werden, wie tief wir von den alten teutschen Ehren und Tugenden herabgesunken waren. Dieser Haß wird uns wie ein heller Spiegel seyn, worin wir unsere Herrlichkeit wie unser Verderben werden sehen können; […]. (EMA 16)
Arndts Reflexion auf den Hass als Medium nationaler Bewusstwerdung und Identitätsfindung korrespondiert mit Fichtes Ziel, durch »klare Einsicht« zu einem »nationalen Selbst« zu gelangen.13 Man kann darin ein retardierendes Mo-
13 Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation durch Johann Gottlieb Fichte. Schriften zur angewandten Philosophie. Hg. v. Hans Michael Baumgartner, Manfred Frank und Herbert Schnädelbach. Werke II. Hg. v. Peter Lothar Oesterreich. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, hier: S. 550 und 557 (erste Rede).
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ment sehen, das sich gleichsam dämpfend und verlangsamend auf die Dynamik von Arndts Text auswirkt. Der Text artikuliert nicht auf ungefilterte Weise Hass, er transportiert nicht einfach Hass mittels Sprache, sondern er erhebt, ganz im Sinne der sich selbst auferlegten Aufgabe einer »Verständigung« (EMA 3), Anspruch auf Einsicht in die Funktion und Funktionsweise von Hass als identitätsstiftende Größe. Insofern arbeitet der Text auf grundsätzliche Weise an einer Systematisierung der Hasskategorie und gehört in dieser Perspektive auch in eine Theoriegeschichte des Hasses und der Hassrede. Andererseits aber lässt das Phänomen, das besprochen wird – der in nationaler Gemeinschaft kollektiv zu befestigende Hass –, den Text selbst nicht unverändert. Das Besprochene wird im Akt des Sprechens selbst wirksam. Das zeigen jene Textpassagen, die auf die Angabe der Motivation des Hasses und die Reflexion seiner identitätsbildenden Funktion folgen. Eine Intensivierung der Rede wird zunächst darin spürbar, dass Arndt seine Zurückhaltung bei der allgemeinen Betrachtung der Verschiedenheit der Völker aufgibt und die deutsche Nation als »stärker«, »mächtiger« und bedeutsamer ansieht als die französische Nation (EMA 15). Nach Aufgabe dieser Zurückhaltung steigert sich Arndts Text zu einer affektiv aufgeladenen Hasstirade, zu einem Wortschwall, bei dem das Sprech- und Schreibtempo deutlich erhöht wird. Und auch die vergleichsweise neutralen, in der dritten Person gehaltenen Formulierungen, die dazu aufrufen, dass sie – die Deutschen – die Franzosen hassen sollen, erfahren eine Steigerung: durch Formulierungen, die nicht mehr ein ›Sollen‹, sondern ein ›Wollen‹ zum Ausdruck bringen. Es ist nun das Wollen eines »ich« sagenden Sprechers, der seinen Willen in Anaphern bekundet: Ich will den Haß, festen und bleibenden Haß der Teutschen gegen die Wälschen und gegen ihr Wesen, weil mir die jämmerliche Aefferei und Zwitterei mißfällt, wodurch unsere Herrlichkeit entartet und verstümpert und unsre Macht und Ehre den Fremden als Raub hingeworfen ward; ich will den Haß, brennenden und blutigen Haß, weil die Fremden laut ausrufen, sie seyen unsere Sieger und Herren von Rechtswegen, und weil wir das nicht leiden dürfen. […] Ich will den Haß gegen die Franzosen, nicht bloß für diesen Krieg, ich will ihn für lange Zeit, ich will ihn für immer. Dann werden Teutschlands Gränzen auch ohne künstliche Wehren sicher seyn, denn das Volk wird immer einen Vereinigungspunkt haben, sobald die unruhigen und räuberischen Nachbarn darüber laufen wollen. Dieser Haß glühe als die Religion des teutschen Volkes, als ein heiliger Wahn in allen Herzen, und erhalte uns immer in unserer Treue, Redlichkeit, und Tapferkeit; […] (EMA 18 f.)
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Es gehört zu den Ambivalenzen von Arndts Text, dass dieser auch die eigene Steigerung zur Hasstirade reflektiert. Unmittelbar nach dem Abebben des crescendohaft anhebenden Vortrags, der in der fünffachen Erklärung gipfelt, den Hass zu wollen, kommt der Text gleichsam wieder zur Besinnung und bezeichnet sich selbst als »wilde« Lehre (EMA 19). Das ist ein hochinteressanter Begriff, vor allem wegen des in ihm angelegten Spannungsverhältnisses von Wildheit und Lehre, hinter dem sich mehr verbirgt als der Gegensatz von Hasstheorie und praktizierter Hassrede. Es scheint, als bedürfe die in der eigenen Tirade und im generellen Plädoyer für den Hass aufscheinende Wildheit der Einhegung. Jedenfalls bildet der sich selbst reflektierende Anspruch von Arndts Schrift, ungeachtet ihrer rhetorischen Dynamik eine »Lehre« zu sein, einen disziplinierenden Rahmen für den im Text artikulierten Willen zum brennenden, blutigen und immerwährenden Hass. Das Wort »Lehre« wird am Schluss von Arndts Schrift gleich zweimal wiederholt.
V Dass es tatsächlich um Einhegung geht, die der Gefahr begegnen will, dass die Sache aus dem Ruder läuft und das Plädoyer für den Hass den Vorwurf des ›Unchristlichen‹ auf sich zieht, zeigt sich an zwei Stellen. Zum einen geht es bei der ›wilden Lehre‹ vom Hass nach Arndts eigenen Angaben nicht um die heidnische Ersetzung des Christentums durch die blutrünstige Vorstellung von ›Barbaren‹, sondern um die Lehre eines »gebildete[n] Europäer[s] des neunzehnten Jahrhunderts« (EMA 19), der die Wildheit auf der Basis von eben dieser Bildung integriert wissen will. Und zum anderen endet Arndts Text mit der Erörterung der Frage, wo denn der Volkshass aufhört. Arndt beantwortet diese Frage selbst mit dem Hinweis auf die »Gemeinschaft der Völker« (EMA 21), in der es an »Menschlichkeit und Liebe nimmer fehlen« (ebd.) werde. Den beiden Versuchen der Einhegung gelingt es nicht, die affektive Dynamik, die der eigenen Hasstirade und dem eigenen Plädoyer für den Hass innewohnt, in den Griff zu bekommen. Der Verweis auf das gebildete Europäertum nimmt der Integration der Wildheit in die Lehre vom Hass nichts von ihrer politischen Schärfe und Dramatik. Allenfalls handelt es sich, würde man der zwischen Edlen und Barbaren unterscheidenden Logik Arndts folgen, um eine Rückkehr zum Hass, die das geplante und zugleich reflektierte Herabsinken unter ein bereits erreichtes Kulturniveau (Stichwort ›Kosmopolitismus‹, Stichwort ›ewiger Frieden‹) zum Ziel hat. Was es mit Blick auf das 20. Jahrhundert heißt, damit zu kokettieren, dem Hass als vermeintlich gebildete Nation in Deutschland
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freien Lauf zu lassen, muss an dieser Stelle unerörtert bleiben. Kolnai schreibt in seiner Abhandlung von 1935, dass der Hass eine »Atmosphäre ›absoluter‹ Vernichtung« mit sich führt.14 Auch der abschließende Verweis auf die »Gemeinschaft der Völker«, in deren Sphäre der Hass aufhöre und nur noch »Menschlichkeit und Liebe« (EMA 21) bestimmend seien, überdeckt nur notdürftig die affektive Dynamik, die dem propagierten und praktizierten Hass innewohnt. Nicht von ungefähr speist sich die politische Semantik von Arndts Text aus dem Ideenreservoir einer zu schaffenden Gemeinschaft der entzündeten und ›entflammten‹ Herzen, und nicht von ungefähr wird der zwischen den Völkern entfachte Hass in Arndts Text ein »heißer Haß« genannt. Die mit Feuer und Flamme einhergehende Dynamik lässt sich, einmal entfacht, schwerlich eingrenzen. So gesehen, entpuppen sich die im Schlussteil unternommenen Domestizierungsversuche als Beruhigungsstrategie, die die vom Text selbst hervorgerufene Unruhe wieder einfangen und den Textausgang versöhnlich gestalten will. Was bleibt, ist eine politisch höchst prekäre Zwischenstellung von Arndts Text. Zwischen lehrhafter Unterweisung und agitierender Unruhe schwankend, konzipiert dieser Text die deutsche Nation wenige Monate vor der Völkerschlacht bei Leipzig als ein hassendes Gefühlskollektiv, als eine politische Affektgemeinschaft, die auf der zerstörenden und vernichtenden Kraft des Volkshasses basiert. Arndt scheint sich dabei der Bedeutung seines Tuns, den nationalen Bewusstwerdungs- und Identitätsbildungsprozess auf Hass zu gründen und damit die Grenzen des bis dahin Denkbaren und ›Erlaubten‹ zu erweitern, bewusst zu sein. Der Begründungsaufwand, der betrieben wird, um den Hass als veritable Größe in die politische Diskussion einzuführen, zeigt dies ebenso wie die Dynamik einer rhetorischen Steigerungslogik, die den Text auf der Basis seiner durchgängigen Reflektiertheit auf kalkulierte Weise in den Extrembereich einer ›wilden‹ Obsession führt. Es ist Arndt selbst, der den geforderten Hass der deutschen Nation an zwei Stellen seines Textes als »heilige[n] Wahn« (EMA 19) bezeichnet. Offenbar weiß er um die wahnhaften Züge des eigenen Konzepts und der eigenen Rede, und diese Verbindung von Wissen und Wahn, die nicht auf Irrationalität reduzierbar ist, macht den eigentümlichen Charakter von Arndts Text aus und bestimmt seine Stellung in der Diskursgeschichte des Hasses und der Hassrede. Aufmerksamen Beobachtern sind Struktur und Gehalt von Arndts Text nicht verborgen geblieben. Zu diesen Beobachtern zählt der Schriftsteller Saul Ascher, der in seiner 1815 erschienenen Schrift Die Germanomanie. Skizze zu einem
14 Kolnai: Ekel, Hochmut, Haß, S. 108.
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Zeitgemälde Texte wie den von Arndt einer hellsichtigen Analyse unterzieht. Bereits im titelgebenden Begriff der Manie ist das Wahnhafte berührt, das bei Arndt in positiver Absicht Erwähnung findet. Im Mittelpunkt von Aschers Schrift steht, was hier nur angedeutet werden kann, die »Idee der Deutschheit«,15 die in den Texten von Fichte, Arndt und Friedrich Ludwig Jahn (dem ›Turnvater‹) zu finden ist. Zwei Zitate sollen am Schluss dieser Überlegungen stehen, um den Blick für alternative zeitgenössische Positionen zu öffnen. Das erste Zitat identifiziert mit einer erstaunlichen Treffsicherheit das beabsichtigte Ziel der von Ascher kritisierten Germanomanen. Es wird gleich zweimal mit dem Begriff der Aufregung umschrieben: Die Hauptwirkung, die man sich von der aufgeregten Idee der Deutschheit versprach, war nun, daß die deutschsprechende Nation, welche der Lauf der Begebenheiten gleichsam aufgelöst hatte und die in einer wahren Entzweiung lebte, […] unter einen Hut gebracht und zum gemeinsamen Streben für ihre Freiheit und Selbstständigkeit aufgeregt werden sollte.16
Das zweite Zitat bringt Arndts Konzept von »Nationalhaß« ins Spiel. Ascher fragt: Was beabsichtigen endlich diese Fanatiker in dem Eifer ihrer Germanomanie? Wozu die Anregung zu einem Kreuzzuge gegen alles Undeutsche oder Ausländische? Soll Deutschland das Beispiel zur Zwietracht und zum Nationalhaß aufstellen? Gibt es denn für Deutschland kein anderes Mittel, seine Selbständigkeit und Eigenheit zu erhalten?17
Die Geschichte Deutschlands bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs liefert die Antworten auf Aschers Fragen.
15 Saul Ascher: Die Germanomanie. Skizze zu einem Zeitgemälde. Berlin: Aschenwall 1815, S. 10. 16 Ebd., S. 11 (meine Hervorhebung; JB). 17 Ebd., S. 31.
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LITERATUR Arndt, Ernst Moritz: Ueber Volkshass und über den Gebrauch einer fremden Sprache. Leipzig: Fleischer 1813. Arndt, Ernst Moritz: Was bedeutet Landsturm und Landwehr? Nebst einer Mahnung an deutsche Männer und Jünglinge in Preussens rheinischen Landen. Köln: Rommerskirchen 1815. Ascher, Saul: Die Germanomanie. Skizze zu einem Zeitgemälde. Berlin: Aschenwall 1815. Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation durch Johann Gottlieb Fichte. Schriften zur angewandten Philosophie. Hg. v. Hans Michael Baumgartner, Manfred Frank und Herbert Schnädelbach. Werke II. Hg. v. Peter Lothar Oesterreich. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997. Fohrmann, Jürgen: Feindschaft/Kultur. Bielefeld: Aisthesis 2017. Jeismann, Michael: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918. Stuttgart: Klett-Cotta 1992. Kolnai, Aurel: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. Lehmann, Johannes F.: Zorn, Hass, Entscheidung: Modelle der Feindschaft in den Hermannsschlachten von Klopstock und Kleist. In: Historische Anthropologie 14 (2006), H. 1, S. 11–29. Schmitt, Carl: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Berlin: Duncker & Humblot 1995. Weber, Ernst: Für Freiheit, Recht und Vaterland. Zur Lyrik der Befreiungskriege als Medium politischer Meinungs- und Willensbildung. In: Dichter und ihre Nation. Hg. v. Helmut Scheuer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 237– 256. Weber, Ernst: Lyrik der Befreiungskriege (1812–15). Gesellschaftspolitische Meinungs- und Willensbildung durch Literatur. Stuttgart: Metzler 1991.
»Gott segnet unser Hassen« Das Hassmotiv in nationalsozialistischer Propagandalyrik Anneleen Van Hertbruggen
Die nationalsozialistische ›Machtergreifung‹ im Jahre 1933 fiel nicht vom Himmel. Bereits am Anfang der 1930er-Jahre warnten verschiedene Zeitgenossen ihre Mitbürger vor der drohenden nationalsozialistischen ›Gefahr‹. Einer dieser frühen ›Warner‹, so Rudolf Morsey, war Fritz Gerlich. Seit dem 12. Juli 1931 bekämpfte Gerlich den Nationalsozialismus und Hitler bereits konsequent in seiner Wochenschrift Illustrierter Sonntag, die ab Januar 1932 unter dem Titel Der gerade Weg erschien.1 So schreibt er am 31. Juli 1932, der Nationalsozialismus sei »eine Pest« und heiße »Lüge, Haß, Brudermord und grenzenlose Not«.2 Seine Kritik blieb aber nicht ungestraft. Bereits am 9. März 1933 wurde Gerlich verhaftet, nach sechzehn Monaten in ›Schutzhaft‹ schließlich ins KZ Dachau verlegt und erschossen.3 Auch Thomas Mann und sein Bruder Heinrich sahen im Hass den Motor der nationalsozialistischen Bewegung und besonders ihres Führers. Laut Helmut Koopmann übertraf Heinrich Mann seinen Bruder in den frühen 1930er-Jahren entschieden an Deutlichkeit und Kompromisslosigkeit.4 Seine Beobachtungen und Erfahrungen schrieb er nieder und bereits im Jahre 1933 erschien sein Buch
1
Vgl. Rudolf Morsey: Fritz Gerlich (1883–1934): Ein früher Gegner Hitlers und des Nationalsozialismus. Paderborn: Schöningh 2017, S. 11.
2
Fritz Gerlich: Der Nationalsozialismus ist eine Pest. In: Der Gerade Weg 4 (1932), Nr. 31, S. 1.
3
Vgl. Morsey: Fritz Gerlich, S. 11.
4
Helmut Koopmann: Thomas Mann – Heinrich Mann: Die ungleichen Brüder. Müchen: C. H. Beck 2005, S. 380 f.
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mit dem Titel Der Haß: Deutsche Zeitgeschichte.5 Ein zentrales Kapitel darin ist das Kapitel »Der große Mann«, mit dem er sich offensichtlich auf die Person des Führers bezieht: Der Haß sogar, erster Antrieb der Persönlichkeit und ihrer ganzen Bewegung, war anfangs zögernd und kleinlich. Schwung bekam er erst, großartig und des großen Mannes würdig wurde er erst im Verlauf seiner Taten, die ausschließlich aus Reden bestanden.6
Thomas und Heinrich Mann verband die Überzeugung, dass nicht die Wirtschaftskrise für die Katastrophe Deutschlands entscheidend war, sondern dass der Zustand Deutschlands vor allem eine »seelische Tatsache« war, durch die der Hass einfach Fuß fassen konnte.7 Dass sich dieser Hass schließlich nicht nur in »Reden« ausdrückte, wurde in den nachfolgenden Jahren zu grausamer Wirklichkeit. Dieser Beitrag setzt sich zum Ziel, zu untersuchen, ob und inwiefern dieser ›nationalsozialistische Hass‹ als literarisches Motiv in die affirmative NS-Dichtung eingedrungen ist. Zu diesem Zweck wird die Verarbeitung des Hassmotivs in drei frühen Gedichtbänden der Autoren Heinrich Anacker (1901–1971), Gerhard Schumann (1911–1995) und Herybert Menzel (1906–1945) fokussiert.8 Anacker, Schumann und Menzel gehörten zu der sogenannten »Jungen Mannschaft«, einer Gruppe genuin nationalsozialistischer Autoren, die sich seit dem Ende der 1920erJahre bildete.9 Die Dichter verfassten parteikonforme Lyrik wie politische Kampflyrik und Marschlieder. Ihre Gedichte wurden auch in Zeitungen abgedruckt oder auf Dichterabenden rezitiert. Verschiedene Texte wurden außerdem vertont und als
5
Heinrich Mann: Der Haß: Deutsche Zeitgeschichte. Hg. v. Peter-Paul Schneider. Frankfurt a. M.: Fischer 1987 (Erstausgabe: 1933; im selben Jahr erschien auch die französische Fassung La Haine).
6
Ebd., S. 68.
7
Vgl. Koopmann: Thomas Mann – Heinrich Mann, S. 381.
8
Die drei untersuchten Gedichtbände entstammen der Anfangszeit des NS-Regimes: Heinrich Anacker: Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung. München: Eher 1936; Herybert Menzel: Gedichte der Kameradschaft. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1936; Gerhard Schumann: Die Lieder vom Reich. München: Albert Langen – Georg Müller 1935. Die in diese drei Gedichtbände aufgenommenen Gedichte wurden zwischen 1930 und 1935 verfasst und manchmal bereits früher an anderer Stelle publiziert.
9
Vgl. Uwe-K. Ketelsen: Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literatur in Deutschland 1890–1945. Stuttgart: Metzler 1976, S. 65.
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Marschlieder oder bei offiziellen Veranstaltungen gesungen.10 In einem close reading ausgewählter Gedichte von Anacker und Menzel wird zunächst gezeigt, dass das Hassmotiv in erster Linie zur Stilisierung des Feindbildes eingesetzt wird. Weil das Hassmotiv an mehreren Stellen zudem religiös aufgewertet wird, wird daraufhin kurz auf die theoretische Debatte über den Nationalsozialismus als eine politische Religion eingegangen. Schließlich werden anhand zweier Gedichte von Anacker und Schumann sowohl die religiöse Dimension als auch das in diesem Kontext benutzte Hassmotiv näher beleuchtet.
DAS HASSMOTIV IN DER PROPAGANDADICHTUNG – DIE STILISIERUNG DES FEINDES Obwohl die Brüder Mann den Hass als Motor des Nationalsozialismus beschrieben haben, erscheint das Hassmotiv in der nationalsozialistischen Propagandapoesie meistens nicht in Verbindung mit den eigenen ideologischen Überzeugungen. So benutzt Anacker das Motiv zum Beispiel in der ersten Strophe seines Gedichts Die Fahnen verboten zur negativen Stilisierung der Feinde: Die Fahnen verboten, Verboten das Kleid – Es herrscht der Haß der Roten, Es herrscht der Juden Neid.11
Das Gedicht Die Fahnen verboten ist das zweite Gedicht in Anackers Gedichtband Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung, dessen Erstauflage aus dem Jahr 1933 stammt. Nach einem Eröffnungsgedicht folgen 93 Gedichte, die in fünf thematischen Kompilationen gruppiert sind und mit denen Anacker eine Art Aufwärtsbewegung – eine »deutsche Erhebung« – anstrebt. Das Gedicht Die Fahnen verboten ist das erste Gedicht der ersten thematischen Kompilation, »Verfolgt und verboten«, in der Anacker die mühsame Anfangsperiode der NS-Bewegung in der Weimarer Republik schildert. So dichtet Anacker, dass in dieser Zeit »der Haß der Roten« und
10 So wurde beispielsweise Menzels Gedicht In unsern Fahnen lodert Gott als einleitende Kantate für die Totenfeier zum 9. November 1938 des NSDAP-Kreises Lünen benutzt. Vgl. Sarah Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult: Sakralisierte Politik und Christentum im Westfälischen Ruhrgebiet (1929–1939). Frankfurt a. M.: Campus 2017, S. 456. 11 Anacker: Die Fanfare, S. 14, V. 1–4.
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»der Juden Neid« herrschte. Anacker überträgt das Hassmotiv somit auf die Feinde, die außerdem die für die NS-Bewegung symbolhaften »Fahnen« verbieten. Während Fritz Gerlich und die Brüder Mann vor einer zukünftigen Zeit warnten, in der das Hassgefühl herrschen würde, beschreibt Anacker in verschiedenen Gedichten die Vergangenheit als eine Zeit, in der das deutsche Volk gehasst und unterdrückt wurde. Diese Vergangenheit – die Weimarer Republik – erscheint wiederholt als eine ›Kampfzeit‹, die zur Befreiung des deutschen Volkes und, dem Titel des Gedichtbandes zufolge, der ›Erhebung‹ eines neuen Reichs führen sollte, wie beispielsweise in Anackers Gedicht Gegen Versailles! Gegen Versailles! Wir haben vierzehn Jahre lang Gefront, mit der Knute geknechtet – Nun dröhnen die Trommeln die Straßen entlang: Steht auf, die der Erbfeind entrechtet! Es mästen sich lachend im Pfuhl zu Paris Die Schmarotzer von unserm Tribute, Und schwelgen in ihrem Goldparadies, Das erkauft ist mit unserem Blute. Es rührt die Not unsrer Mütter sie nicht, Noch der Kinder erschütternde Klage – Mit haßverzerrtem Shylockgesicht Bestehn sie auf ihrem Vertrage. Wir aber wollen und wollen nicht mehr – Zerreißt das Papier unsrer Schande! Lawinengleich wächst unser Widerstandsheer Vom Inn bis zum nordischen Strande. Wir trugen vierzehn Jahr lang das Joch – Nur Ketten noch sind zu verlieren … Die Fäuste geballt, und die Fahne hoch: Wir marschieren, marschieren, marschieren!12
12 Ebd., S. 18.
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Mit der Zeitangabe »vierzehn Jahre lang« deutet Anacker auf diese sogenannte ›Kampfzeit‹ von 1919 bis 1933 hin. Nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg kam zum ersten Mal in der deutschen Geschichte eine demokratisch gewählte Reichsregierung an die Macht. Trotzdem verflog die Hoffnung auf einen erträglichen Frieden bereits im Jahr 1919 mit der Unterfertigung des Versailler Vertrags – aus deutscher Perspektive auch das »Diktat von Versailles« genannt.13 Politische Instabilität, eine enttäuschende Außenpolitik und weiterbestehende wirtschaftliche Probleme kennzeichneten die Anfangsjahre der Republik und auch die 1920er-Jahre waren von wachsender Arbeitslosigkeit und einem permanenten Krisenbewusstsein gekennzeichnet.14 Der negative Diskurs im Gedicht Gegen Versailles! beschreibt diesen Krisenzustand, der mit der Weimarer Republik gleichgesetzt wird. Der ganze Text ist von negativ konnotierten und kämpferischen Vokabeln und Formeln gekennzeichnet, wie »mästen«, »schwelgen«, »Schmarotzer«, »haßverzerrt«, »zerreißt«, »Widerstandsheer«, »Die Fäuste geballt«. Auch Formeln wie »mit der Knute geknechtet«, »das Papier unsrer Schande« und »wir trugen […] das Joch« betonen den Krisenzustand. Außerdem wird der Ort »Versailles« im fünften Vers mit der despektierlichen Formel »Pfuhl zu Paris« umschrieben. Gerade der Ort »Versailles« umfasst für die Nationalsozialisten die einzelnen Elemente des gehassten Feindbildes. Allerdings sind es in diesem Gedicht die Feinde selber, die »mit hassverzerrten Gesichtern« auf ihre Verträge – und zwar den Versailler Vertrag – bestehen. In den 1920er-Jahren war die Sehnsucht nach politischer Stabilität, nach Harmonie und nach einem starken politischen Führer groß. So merkt Robert Musil in der Spätphase der Weimarer Republik an, dass die »Wortgruppe Erlösung« im Sprachgebrauch seiner Zeitgenossen immer beliebter wurde, womit das »Erlösungsbedürfnis« der verunsicherten deutschen Nation zum Ausdruck kam.15 Der negative Diskurs, den Anacker in Gedichten wie Die Fahnen verboten und Gegen Versailles! zur Beschreibung der unmittelbaren Gegenwart benutzt, kontrastiert
13 Hagen Schulze: Kleine Deutsche Geschichte. München: DTV 1996, S. 139. 14 Ebd., S. 159 f. 15 Klaus Schreiner referiert in diesem Zusammenhang auf Musils zwischen 1930 und 1932 entstandenen Roman Der Mann ohne Eigenschaften. In diesem Roman zitiert Musil Zeitgenossen, die sich »theologisch imprägnierter Begriffe« bedienen, »um ihren Krisenerfahrungen und ihrem Hoffen auf eine Gesundung von Staat und Gesellschaft eine Sprache zu geben«. Klaus Schreiner: Messianismus. Bedeutungs- und Funktionswandel eines heilsgeschichtlichen Denk- und Handlungsmusters. In: Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus. Hg. v. Klaus Hildebrand. München: Oldenbourg 2003, S. 1–44, hier: S. 1.
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dann auch stark mit der Weise, auf die er die heilsversprechende nationalsozialistische Bewegung darstellt. Denn obwohl das Gedicht Gegen Versailles! keinen konkreten Blick in eine bessere Zukunft bietet, kann man dennoch auf eine implizite Heilsbotschaft schließen: Mit der Zeitangabe verweist Anacker auf das Jahr 1933, in dem Hitler als neu gewählter Führer die Zeit der »Knechtschaft« beendet. Viel expliziter endet das Gedicht Die Fahnen verboten, denn in der letzten Strophe verspricht Anacker: »Nur Hitler wird uns retten! / Nur Hitler macht uns frei!« Obwohl Hitler in diesem Gedicht eindeutig als ›Retter‹ erscheint, erwartet die nationalsozialistische Ideologie auch vom Volk eine gewisse Bereitschaft, für die ›Erhebung‹ des deutschen Reiches zu kämpfen. So thematisiert Anacker in der dritten Gedichtgruppe (»Durchhalten, zum Endkampf bereit«) die Tapferkeit und die Ausdauer der Soldaten in ihrem Kampf um das Vaterland, wie beispielsweise im nächsten Gedicht: Empor die Fahne zur nächsten Schlacht! Heraus drum zum Kampfe! Uns winkt keine Rast Im erbittertsten aller Kriege. Je mehr man uns höhnt und je mehr man uns haßt, Wir halten die Fahne nur fester umfaßt Und führen sie stürmend zum Siege!16
Gerade der Hass der Feinde stärkt die eigene Überzeugung und stachelt die Kampfbereitschaft an, die zur »deutschen Erhebung« führen wird, die hier als »Sieg[ ]« vorhergesagt wird. In dieser Hinsicht wendet Anacker das Hassmotiv also nicht nur zur Stilisierung des Feindbildes an, sondern der feindliche ›Hass‹ wird auch als Legitimation für die eigene Kampfansage gedeutet. Denn, je mehr die Feinde ›hassen‹, umso »fester« umfasst das kollektivierende »wir« die »Fahne«, die als nationalsozialistisches Symbol par excellence gilt. Im Gedicht Kameraden, Tritt gefaßt scheint der Hass der Feinde sich besonders gegen dieses Fahnensymbol zu richten, auf das hier mit »Standarten« verwiesen wird: Kameraden, Tritt gefaßt! Weiter, ohne Ruh und Rast! Keiner darf am Wege warten – Leuchtend rufen die Standarten, Die der Feind des Volkes haßt.17
16 Anacker: Die Fanfare, S. 47, V. 11–15.
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Indem Anacker das Hassmotiv in diesen Gedichten auf die – nicht immer spezifizierten – Volksfeinde überträgt, erscheinen die Nationalsozialisten nicht als die ›Hassenden‹, wie die Aussage der Brüder Mann erwarten ließe, sondern als die ›Gehassten‹. Eine Ausnahme stellt Herybert Menzels Gedicht In unsern Fahnen lodert Gott dar. Gott will kein Dach, Gott will kein Haus, Wenn wir die Stuben lassen, Er zieht mit uns zum Kampfe aus Und segnet unser Hassen. Wir halten ihn im Sturmgebraus, Wenn wir die Fahne fassen.18
Erneut erscheint das »Hassen« im Kontext einer Kampfansage. In Kombination mit dem Verb »segnen« und dem Substantiv »Gott« wird das Hassmotiv sogar in seiner Bedeutung gesteigert und religiös aufgewertet. In diesem Gedicht ist aber nicht der feindliche – gegen die Nationalsozialisten gekehrte – Hass gemeint. Die religiöse Aufwertung des ›nationalsozialistischen Hasses‹ macht aus ihrem »Kampf« fast einen Kreuzzug, in dem die Fahne als heiliges Symbol mitgetragen wird. Der hier erwähnte Gott erscheint aber durchaus als ›unchristlich‹. So meint Heinz Schreckenberg, dass der ursprünglich christliche Gott hier zum ideologischen Helfer des Nationalsozialismus geworden sei.19 Außerdem scheint dieser Gott nicht nur mit dem Volk in den Kampf zu ziehen, er scheint den Beweggrund für diesen Kampf – nämlich das in der zweiten Strophe erwähnte »Hassen« – zu unterstützen. Indem Menzel Gott diesen Hass »segnen« lässt, erscheint dieser Gott nicht nur als ideologischer Helfer des Nationalsozialismus, sondern wird auch der zum Kampf erregende Hass als etwas Sakrales oder Pseudo-Religiöses aufgewertet.
17 Ebd., S. 39, V. 1–5. 18 Menzel: Gedichte der Kameradschaft, S. 15 f., V. 7–12. 19 Vgl. Heinz Schreckenberg: Ideologie und Alltag im Dritten Reich. Frankfurt a. M.: Lang 2003, S. 478.
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DER NATIONALSOZIALISMUS – EINE POLITISCHE RELIGION? Obwohl der in Menzels Gedicht erwähnte »Gott« durchaus als ›unchristlich‹ interpretiert werden kann, weist die nationalsozialistische Propagandalyrik oft Motive und einen Diskurs auf, die eindeutig der christlichen Tradition entstammen. Diese Präsenz religiöser Aspekte – nicht nur in der Propagandalyrik, sondern auf allen Ebenen des NS-Systems – hat schon früh Anlass dazu gegeben, den Nationalsozialismus als ein religiöses oder zumindest religionsähnliches System zu interpretieren. Bereits Ende der 1930er-Jahre beschrieben Erich Voegelin und Raymond Aron den Nationalsozialismus unabhängig voneinander als eine »politische Religion«.20 Die terminologische Verbindung der Begriffe ›Religion‹ und ›Politik‹ im Sinne einer ›politischen Religion‹ wurde in der späteren Forschung wiederholt als problematisch empfunden. Auch Voegelin hatte die begriffliche Problematik bereits angedeutet. Er meinte, dass man, um die politischen Religionen angemessen erfassen zu können, den Begriff des Religiösen so erweitern müsse, dass nicht nur die Erlösungsreligionen, sondern auch jene anderen Erscheinungen darunter fallen, die man in der Staatsentwicklung als religiöse zu erkennen glaube.21 Vor allem ab den 1990er-Jahren stand die politische Religion – und die Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen des Begriffes – im wissenschaftlichen Fokus, vorangetrieben insbesondere durch Hans Maier, den ehemaligen bayerischen Kultusminister und Inhaber des Münchner Lehrstuhls für Christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie.22 Zu einer Erweiterung des Religionsbegriffes kam es gleichwohl bisher nicht, zu alternativen Begriffsvorschlägen aber durchaus – wie etwa ›Anti-Religion‹, ›Pseudo-Religion‹, ›Religionsersatz‹, ›Ersatzreligion‹, ›säkulare Religion‹, ›politisch-soziale
20 Eric Voegelin arbeitete den Begriff ›politische Religion‹ zum ersten Mal in seinem Buch Die politischen Religionen (1938) heraus. Raymond Aron benutzte dieses Konzept zum ersten Mal 1939 in seinem Essay Élie Halévy et l’ère des tyrannies in deutlicher Verbindung mit der Definition von Voegelin. Vgl. dazu Brigitte Gess: The Conceptions of Totalitarianism of Raymond Aron and Hannah Arendt. In: Totalitarianism and Political Religion. Hg. v. Hans Maier. Oxon: Routledge 2004, S. 228–237, hier: S. 235, Fn. 4. 21 Erich Voegelin: Die politischen Religionen. Stockholm: Bermann-Fischer 1939, S. 12. 22 Zu denken ist hier insbesondere an die von Maier (mit-)herausgegebenen Bände zu ›Totalitarismus‹ und ›Politischen Religionen‹ (3 Bde., Paderborn: Schöningh 1996–2003).
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Religion‹ oder ›politische Säkularreligion‹.23 Auch Befürworter des Begriffes haben immer wieder auf diese Begriffsproblematik hingewiesen, trotzdem betrachten namhafte Faschismus-Forscher wie der Italiener Emilio Gentile den Nationalsozialismus – auch in schlichter Ermangelung eines besseren Begriffs – weiterhin als politische Religion. Inhaltlich führt der Begriff zu weiteren Definitionsproblemen, denn auch der konkrete Begriffsinhalt bleibt weiterhin diskutabel. Im Rahmen des vorliegenden Themas erweist sich die Umschreibung von Gentile als relevant: Political religion is a form of sacralisation of politics of an exclusive and integralist character. It rejects coexistence with other political ideologies and movements, denies the autonomy of the individual with respect to the collective, prescribes the obligatory observance of its commandments and participation in its political cult, and sanctifies violence as a legitimate arm of the struggle against enemies, and as an instrument of regeneration. It adopts a hostile attitude toward traditional institutionalised religions, seeking to eliminate them, or seeking to establish with them a relationship of symbiotic coexistence, in the sense that the political religion seeks to incorporate traditional religion within its own system of beliefs and myths, assigning it a subordinate and auxiliary role.24
Die Frage, ob diese Definition den Begriff ›politische Religion‹ komplett abdeckt, kann für diesen Beitrag dahingestellt bleiben.25 Es scheint aber durchaus
23 Vgl. in diesem Zusammenhang unter anderem Hans Maier: Politische Religionen – Möglichkeiten und Grenzen eines Begriffs. In: ›Totalitarismus‹ und ›Politische Religionen‹. Konzepte des Diktaturvergleichs. Bd. II. Hg. v. dems. und Michael Schäfer. Paderborn: Schöningh 1997, S. 299–310; Matthias Behrens: ›Politische Religion‹ – eine Religion? Bemerkungen zum Religionsbegriff. Ebd., S. 249–269; Hans Günter Hockerts: War der Nationalsozialismus eine politische Religion? Über Chancen und Grenzen eines Erklärungsmodells. In: Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus. Hg. v. Klaus Hildebrand. München: Oldenbourg 2003, S. 45–72. 24 Emilio Gentile: Political Religion: A Concept and Its Critics – a Critical Survey. In: Totalitarian Movements and Political Religions 6 (2005), H. 1, S. 19–32, hier: S. 30. 25 Obwohl der Begriff ›politische Religion‹ vermuten lässt, dass es um eine Art Religion geht, die vom Politischen weiter bestimmt wird, scheint in Gentiles Definition – rein begrifflich – eher das Umgekehrte der Fall zu sein: Gentile beschreibt eher eine gewisse (sakralisierte) Politik, die einen totalitären Charakter besitzt und sich anderen Religionen gegenüber feindlich verhält. Dieses politische System wird dann jedoch mit einigen religiösen Eigenschaften – z. B. einem (politischen) Kult und einem
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gerechtfertigt zu sein, den Nationalsozialismus auf Basis dieser Definition als eine politische Religion zu beschreiben. Mit den Aspekten des politischen Kults, der Gewalt und der Idee der Kollektivität nennt Gentile mehrere Gesichtspunkte, die sich auch für die Beschreibung des NS-Systems eignen. Politische Religionen seien von einem deutlichen Freund-Feind-Denken geprägt, was Gentile mit dem »exklusiven Charakter« der politischen Religion umschreibt. Auch Hannah Arendt sieht darin eine wichtige Charakteristik, indem sie das Wesen eines totalitären Systems wie des Nationalsozialismus mit dem Prinzip zusammenfasst, »daß ausgeschlossen ist, wer nicht ausdrücklich eingeschlossen ist«.26 Während der NS-Zeit wurde schon bald klar, wer nicht ins System eingeschlossen war. So war der Nationalsozialismus durch seine religionsfeindliche Haltung gekennzeichnet und dadurch, dass Gewalt als legitime Waffe im Kampf gegen die Feinde verherrlicht wurde. Auch diese beiden Aspekte lassen sich in Gentiles Definition wiederfinden. Dass der Nationalsozialismus als politische Religion auch über eine religiöse oder sakralisierte Ebene verfügt, sieht Gentile in der Anwesenheit eines politischen Kults, der Gestaltung eines eigenen »Glaubenssystems« und eigener »Mythen« verwirklicht. Gerade in der nationalsozialistischen Propaganda – und in der affirmativen Lyrik im Besonderen – verflechten sich die politische und religiöse Ebene der nationalsozialistischen Ideologie. Im Folgenden wird zunächst auf die religiöse Auswertung nationalsozialistischer Kernkonzepte in der affirmativen NS-Dichtung eingegangen. Schließlich wird das Hassmotiv im Kontext der religiösen Aufwertung der nationalsozialistischen Reichsidee näher beleuchtet.
eigenen Glaubens- und Mythensystem – ausgestattet. Man könnte die ›politische Religion‹ auch so definieren, dass der religiöse Aspekt zentral steht, etwa anhand des mehrdimensionalen Religionbegriffs des britischen Religionswissenschaftlers Ninian Smart. Sein Religionskonzept inkludiert gleich eine mögliche politische Dimension. Vgl. dazu Anneleen Van Hertbruggen: Glaube und Propagandadichtung: Religionsdimensionen im Nationalsozialismus. In: Kritische Ausgabe: Zeitschrift für Germanistik & Literatur 19 (2015), Nr. 28/29, S. 51–55; Ninian Smart: Dimensions of the Sacred: An Anatomy of the World’s Beliefs. London: HarperCollins 1996. 26 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1955, S. 599.
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AUS DEM HASSE ERHEBT SICH DAS REICH – DIE RELIGIÖSE EBENE DES HASSMOTIVS Indem Menzel in seinem Gedicht In unsern Fahnen lodert Gott! einen »Gott« – sei er christlich oder unchristlich – aufführt, der das »Hassen« und somit die nationalsozialistischen Überzeugungen oder Gründe zum Hassen »segnet«, scheint die NSIdeologie von einer höheren – göttlichen – Instanz anerkannt und sogar beglaubigt zu werden. Außerdem werden zentrale nationalsozialistische Symbole in dem Maße religiös aufgewertet, dass sie selber als sakrale Symbole erscheinen. So greift das lyrische Wir sowohl in Gegen Versailles! als auch in Empor die Fahne zur nächsten Schlacht! zur Fahne, die als Symbol des Nationalsozialismus von den Feinden tiefgründig gehasst wird, und marschiert in Richtung des Sieges. Außerdem wird die Bedeutung des Fahnensymbols dadurch gesteigert, dass es mit Attributen aus der christlich-religiösen Sphäre ausgestattet wird. So beschreibt Anacker die Fahne in seinem Gedicht Die Blutfahne27 als ein »heiliges Tuch« und auch Menzel bezeichnet die Fahne in der dritten Strophe seines Gedichtes In unsern Fahnen lodert Gott! als etwas Heiliges: »In unsern Fahnen lodert Gott, / Drum wir sie heilig nennen.«28 Auch weitere ideologische Kernkonzepte wurden in der nationalsozialistischen Propagandadichtung religiös aufgewertet. So werden die Soldaten, die im Ersten Weltkrieg für das Vaterland gefallen sind, zu wahren Märtyrern stilisiert29 und Adolf Hitler bekommt als »der gottgesandte Führer«30 messianische Attribute.31 Außerdem ist wiederholt von einem bestimmten »Glauben« an den Führer
27 Anacker: Die Fanfare, S. 87. 28 Menzel: Gedichte der Kameradschaft, S. 15, V. 13–14. 29 In seinem Gedicht Die schweigenden Mahner lobt Menzel die Soldaten, die im Ersten Weltkrieg bei Langemarck gefallen sind. Ihre Opferbereitschaft sollte als Vorbild für die nächsten Generationen dienen, die genauso wie sie kämpfen sollen, »für Deutschlands Unsterblichkeit«. Ebd., S. 33, V. 16. 30 In seiner Autobiografie erklärt Schumann, dass er – und sein Bekanntenkreis mit ihm – Adolf Hitler damals »als den Gott-gesandten Wieder-Erwecker und Retter des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, des kommenden europäischen Reiches« empfanden. Gerhard Schumann: Besinnung von Kunst und Leben. Bodman, Bodensee: Hohenstaufen Verlag 1974, S. 105. 31 Sowohl in seinem Gedicht Die erwachte Nation (Anacker: Die Fanfare, S. 79) als auch im Gedicht Nun schmückt die Fahne mit jungem Grün (ebd., S. 115) verbindet Anacker den Führer mit dem religiös konnotierten Verb »erlösen«. Außerdem wird Adolf Hitler an verschiedenen Stellen nach dem Vorbild Jesu Christi als ein quasi-
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und das Reich die Rede. Klaus Vondung sieht in diesem »Glauben« ein zentrales und viel verwendetes Konzept im nationalsozialistischen Diskurs. Hitler sprach immer wieder von seinem Glauben an Deutschland und das deutsche Volk, andere führende Nationalsozialisten bezogen sich dann wieder auf den Glauben Hitlers. Innerhalb der Debatte über den Nationalsozialismus als eine mögliche politische Religion versuchte Vondung das ›Credo‹ – die Glaubensinhalte – dieses nationalsozialistischen Glaubens zu beschreiben.32 Dabei identifizierte er schließlich sechs »articles of faith« – nationalsozialistische Glaubensartikel: Thus at the centre of Nazi symbolism and creed stood the ›Blood‹; then came the ›People‹ as the substantive bearer of the blood; the ›Soil‹, the land, which nourishes the people; the ›Reich‹, in which it finds its political realization; the ›Führer‹ as the representative of people and Reich; the ›Flag‹ as the most holy material symbol.33
Es geht Vondung nicht darum, ob diese nationalsozialistischen ›Glaubensartikel‹ – Reich, Führer, Volk, Blut, Boden und Fahne – originell oder intellektuell anspruchsvoll waren, sondern um ihre Glaubwürdigkeit: Einerseits waren sie aufgrund ihrer symbolischen Konsistenz glaubwürdig, andererseits wegen ihres rituellen Ausdrucks während NS-Feiern auch überzeugend.34 Diese sechs Leitbegriffe erweisen sich zudem als wichtige Topoi in der Propagandadichtung von Anacker, Schumann und Menzel. Sie erscheinen oft auch in Kombination, wie etwa in Anackers Gedicht Die Fahnen verboten. Die Fahnen verboten Die Fahnen verboten, Verboten das Kleid – Es herrscht der Haß der Roten, Es herrscht der Juden Neid.
messianischer Führer stilisiert. So verweist Anacker in seinem Eröffnungsgedicht Dem Führer implizit auf die Geschichte von Jesus Christus im Garten Gethsemane. Im zweiten Sonett des Zyklus Die Reinheit des Reiches scheint Schumann dann wieder auf die Tempelreinigung Jesu anzuspielen. 32 Vgl. Klaus Vondung: National Socialism as a Political Religion: Potentials and Limits of an Analytical Concept. In: Totalitarian Movements and Political Religions 6 (2005), H. 1, S. 87–95, hier: S. 89. 33 Ebd., S. 91. 34 Vgl. ebd.
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Doch tief in den Herzen, Da lodert die Glut. Aufbricht aus Not und Schmerzen Der Freiheit heil’ges Gut. Mag Zwang uns entrechten, Gewalt uns geschehn – Wir wollen tapfer fechten für Deutschlands Auferstehn. Die toten Kam’raden, Sie gingen voran Auf dornig-steilen Pfaden, Getreu der Hitler-Fahn’. Die Form mag verkümmern, Der Geist bleibt sich gleich – Aufsteigt aus Schmach und Trümmern Das heil’ge Dritte Reich. Zerbrechet die Ketten! Laßt gellen den Schrei: Nur Hitler wird uns retten! Nur Hitler macht uns frei!35
In sechs Strophen thematisiert Anacker die Sehnsucht nach Freiheit nach einer – aus nationalsozialistischer Perspektive – Zeit von Unterdrückung und Knechtschaft. In der ersten Strophe beschreiben negativ konnotierte Wörter – »verboten«, »Hass« und »Neid« – diese vergangene Kampfzeit. Dabei erscheint die Fahne – wie bereits angedeutet – als Symbol gegen den Hass der Feinde. Das adversative »doch« der zweiten Strophe kündigt gleich die Antithese an. Gegenüber der negativen Stimmung aus der ersten Strophe wird das vorsichtig aufflackernde Freiheitsgefühl gestellt. Die Sehnsucht nach Freiheit lodert nicht nur »tief in den Herzen«, die Freiheit selbst wird zudem religiös aufgewertet, indem sie als »heil’ges Gut« beschrieben wird. Die dritte Strophe beschreibt die Bereitschaft, für diese Freiheit zu kämpfen. Das Ziel des Kampfs gilt nicht einfach der Freiheit schlechthin, sondern der Freiheit »Deutschlands«. Diese Befreiung wird sogar als eine wahre Auferstehung aus der Zeit von Not und Schmerzen begrif-
35 Anacker: Die Fanfare, S. 14.
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fen. »Deutschlands Auferstehn« steht zentral und optisch in der Mitte des Gedichts. Auf dem Weg zur Freiheit, so erklärt die vierte Strophe, haben schon viele Kameraden den Tod gefunden. »Getreu der Hitler-Fahn’« sind sie dem deutschen Volke vorangegangen. Die fünfte Strophe greift die Thematik der zweiten wieder auf. Erneut wird mit der erhofften Freiheit die Auferstehung des »Dritten Reichs« angestrebt. Mittels des Adjektivs »heilig« wird auch dem »Dritten Reich« eine gewisse Sakralität zugeschrieben. Laut Walter Knoche weist der Gebrauch des Adjektivs »heilig« vor »Reich« auf eine subtile lokale Verschiebung. Der Westen habe als ›heiliges Land‹ immer nur dasjenige Land betrachtet, in dem Christus lebte und wirkte und wo infolgedessen das Christentum entstand: Palästina. Indem in diesem Gedicht das »Dritte Reich« als »heilig« bezeichnet wird, verschieben sich die Grenzen des Heiligen Landes hin zum kontinentalen Europa, sogar spezifisch zum damaligen Hitler-Deutschland. Hieraus folgt, dass alles, was sich außerhalb Deutschlands befindet, nicht heilig ist, während alles, was Deutschland betrifft, umgekehrt heilig sei.36 Schließlich kündigt die letzte Strophe mit einem Ausruf den endgültigen Höhepunkt an. Die vorsichtig aufflackernde »Glut«, die »tief in den Herzen« angefangen hat, zeigt sich jetzt als ein lauter »Schrei«. Die letzten beiden Verse drücken die tiefe Überzeugung – vielleicht den Glauben – aus, dass nur Hitler das Volk »retten« und »frei« machen kann. Neben der Fahne als Anti-Hass-Symbol erscheinen in diesem Gedicht also mehrere der sogenannten Glaubensartikel. Mit dem kollektivierenden »wir« und dem Verweis auf die gefallenen Soldaten thematisiert Anacker das deutsche ›Volk‹. In der letzten Strophe erscheint der Führer als ein wahrer Messias oder Erlöser, als sei es sein göttlicher Auftrag, das deutsche Volk zu erretten. Schließlich versieht Anacker auch den Glaubensartikel »Reich« mit einer deutlichen religiösen Aura. Ein neues Reich wird nicht einfach gegründet, das Volk (»wir«) will »tapfer fechten / für Deutschlands Auferstehn«, bis sich »das heil’ge Dritte Reich« aus Schmach und Trümmern der Weimarer Zeit erheben wird. Aus dem Hass der vergangenen Kampfzeit wird also ein neues Reich »auferstehen«. Gerhard Schumann hat die Gründung eines zukünftigen deutschen »Reichs« schon vor der Machtergreifung quasi als eine Auferstehung aus der dunklen Vergangenheit dargestellt. Bereits im Jahre 1930 verfasste Schumann seinen sieben Sonette umfassenden Sonettzyklus Die Lieder vom Reich, der zum ersten Mal im Bändchen Ein Weg führt ins Ganze (1932) erschien. Obwohl die Sonette also noch vor der nationalsozialistischen Machtübernahme geschrieben wurden,
36 Vgl. Walter Knoche: The Political Poetry of the Third Reich: Themes and Metaphors. Diss., Ohio State University 1969, S. 69 f.
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enthalten sie bereits grundlegende Elemente der faschistischen Ideologie. Der zeitgenössische Germanist Helmuth Langenbucher zählt Schumanns Reichsgedichte zum »Kern seines lyrischen Werkes«37 und Voegelin beschreibt Schumanns Lieder vom Reich als einen »der stärksten Ausdrücke politisch-religiöser Erregungen«38 seiner Zeit. Ein wichtiges Thema in diesem Sonettzyklus ist die Entindividualisierung des Einzelnen zugunsten der Eingliederung in die Volksgemeinschaft. Während die ersten vier Sonette im jeweils letzten Vers im Wort »Reich« gipfeln, sind die letzten drei Sonette auf den Führer ausgerichtet. Im zweiten Sonett dieses Zyklus greift auch Schumann das Hassmotiv auf, um die Neugeburt des Reiches zu thematisieren. Die Lieder vom Reich II Und neue Wölbung neuer Himmel flog In großen Bogen über der verjüngten, Der deutschen Erde. Und im Unbedingten Ausruhte schwebend, was einst Abgrund log, Geborgen im Gesetz, im Sternenall, Wo die Notwendigkeit die Kreise zog. – Und stumm aufwuchs aus stürmendem Gewog, Umbrüllt von der Empörung Gischt und Schall, Auftauchend aus dem Hasse hehr und schmal, In klarer Wucht, in rein getürmter Schichtung, Der Stufenbau des Seins, der neue Gral. Und hingebeugt zu schwörender Verpflichtung So knieten wir, blickhart und herzenweich. Und über uns im Licht der Dom, das Reich.
Viel weniger explizit als Anacker verweist auch Schumann auf die – aus nationalsozialistischer Perspektive – graue Vergangenheit. Die »Notwendigkeit«, mit der ein Neubeginn eines explizit ›deutschen‹ Reiches gemeint ist, wächst »stumm […] aus stürmendem Gewog, / umbrüllt von der Empörung Gischt und Schall«. Sie taucht sogar »aus dem Hasse hehr und schmal« auf. Nach der dunk-
37 Vgl. Helmuth Langenbucher: Die Deutsche Gegenwartsdichtung. Eine Einführung in das volkhafte Schrifttum unserer Zeit. Berlin: Junker und Dünnhaupt Verlag 1939, S. 225. 38 Voegelin: Die politischen Religionen, S. 59.
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len Kampfzeit, in der der Hass regierte, erscheint die Neugeburt des Reiches als die Auferstehung des neuen Grals, mit dem erneut ein religiös aufgeladenes Konzept angewendet wird. Das Kollektivsymbol des »Grals«, das Schumann auch in seinem Sonettzyklus Die Reinheit des Reiches39 aufnimmt, symbolisierte in der Überlieferung die heilige Schale mit Christi Blut. Laut Cornelia Jungrichter erschien der Gral zum ersten Mal in der deutschen Literatur in Wolframs von Eschenbach Parzivaldichtung. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts soll »ein abgewandelter Parzival- und Gralsgedanke in Deutschland seine Renaissance«40 erlebt haben. Dieser Parzival war ein Einzelner, der auf der Suche nach einem noch unbestimmten Gott war und am Ende seiner Queste ein ›neues Reich‹ gründete. Jungrichter erklärt, dass diese Parzivalfigur von der NS-Bewegung zu einem nordisch-germanischen Menschen gemacht wird und der Gral zum Symbol der »Erwähltheit« des deutschen Volkes, wobei der Gral nicht länger das Blut Christi, sondern das arische Blut beinhaltet.41 Dieser neue und deutsche »Gral« wird in der letzten Strophe zudem als »Dom« und schließlich als »Reich« identifiziert. Mit der hinknienden Bewegung des lyrischen »Wir« in der letzten Strophe erscheint das Reich quasi als ein Tempel oder Altar, vor dem man den Kopf senkt.
ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN Obwohl Zeitgenossen bereits im Voraus vor dem nationalsozialistischen Hass als ideologischer Triebfeder gewarnt haben und der heutige Forscher – rückblickend auf die Vergangenheit – nicht über die grausamen Folgen dieses Hasses hinwegsehen kann, gibt es eine Diskrepanz zwischen dem Hass als affektiver nationalsozialistischer Triebfeder und dem Hass als Motiv in der affirmativen NSDichtung. Propagandaautoren wie Heinrich Anacker, Gerhard Schumann und Herybert Menzel setzten das Hassmotiv zwar gezielt in der eigenen Lyrik ein, sie
39 Diese Sonette wurden 1934 verfasst und erstmals im Gedichtband Fahne und Stern veröffentlicht; 1935 schrieb Helmuth Langenbucher, diese Sonette gehörten »zum kraftvollsten und Erschütterndsten, was uns bisher an nationalsozialistischer Dichtung geschenkt worden ist. Es sind Lieder des Zorns gegen die, die nicht im Kampfe waren, aber jetzt am Siege um so lauter teilhaben wollen«. Helmuth Langenbucher: Dichtung der Jungen Mannschaft. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1935, S. 97. 40 Cornelia Jungrichter: Ideologie und Tradition. Studien zur nationalsozialistischen Sonettdichtung. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1979, S. 64. 41 Vgl. ebd.
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benutzen es aber nicht zur Charakterisierung des nationalsozialistischen Deutschen, sondern zur negativen Stilisierung der ›Feinde des Volkes‹. Dabei wird die ›graue Vergangenheit‹ der Weimarer Republik mit der heilsversprechenden Zukunftsbotschaft der nationalsozialistischen Ideologie kontrastiert. Als seltene Ausnahme kann das Gedicht In unsern Fahnen lodert Gott! gelten, in dem Menzel schon den nationalsozialistischen Hass, der zum Kampf gegen die Feinde anregt, meint. Auch in den Gedichten von Anacker und Schumann könnte man das Hassmotiv implizit als Grund zur Kampfansage interpretieren, die Kampfansage wäre in diesem Fall dann als Reaktion auf den ›Hass der Feinde‹ zu deuten. Indem sie die inhaltliche Funktion des Hassmotivs umdrehen, werden die Nationalsozialisten zu den ›Gehassten‹ und die Volksfeinde zu den ›Hassenden‹. Aus diesem Hass – sei es der eigene oder der fremde – kann sich schließlich das Reich erheben, was als quasireligiöses Geschehen, und zwar als ›Auferstehung‹ dargestellt wird. In diesem Zusammenhang wurde das Hassmotiv im Rahmen der Debatte über den Nationalsozialismus als politische Religion und besonders hinsichtlich der religiösen Ebene in der affirmativen NS-Propagandalyrik gedeutet. Abschließend soll hier noch bemerkt werden, dass sich der vorliegende Beitrag nur mit dem Hassmotiv in der affirmativen NS-Dichtung aus den Anfangsjahren des ›Dritten Reichs‹ befasst hat. Es wäre möglich, dass das Hassmotiv in späterer Dichtung – etwa im Vorfeld oder während des Zweiten Weltkriegs – dann öfter angewendet wurde, um den ›eigenen‹ Hass, der der nationalsozialistischen Ideologie quasi inhärent gewesen zu sein schien, erneut als legitimen Grund für die deutsche Kriegserklärung darzustellen.
LITERATUR Anacker, Heinrich: Die Fanfare. Gedichte der deutschen Erhebung. München: Eher 1936. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1955. Behrens, Matthias: ›Politische Religion‹ – eine Religion? Bemerkungen Zum Religionsbegriff. In: ›Totalitarismus‹ und ›Politische Religionen‹. Konzepte des Diktaturvergleichs. Bd. II. Hg. v. Hans Maier und Michael Schäfer. Paderborn: Schöningh 1997, S. 249–269. Gentile, Emilio: Political Religion: A Concept and Its Critics – a Critical Survey. In: Totalitarian Movements and Political Religions 6 (2005), H. 1, S. 19–32. Gess, Brigitte: The Conceptions of Totalitarianism of Raymond Aron and Hannah Arendt. In: Totalitarianism and Political Religion. Hg. v. Hans Maier.
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»Gott segnet unser Hassen« | 323
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»Ein furchtbarer Haß stieg in ihm auf.«1 Franz Innerhofers Schöne Tage – ein Hasstext Stefan Winterstein
Als 1974 im Salzburger Residenz Verlag der Roman Schöne Tage erschien, war dessen dreißigjähriger Autor ein völlig Unbekannter. Die Biografie des 1944 im Salzburger Ort Krimml geborenen Franz Innerhofer war zweifellos ungewöhnlich: Er war als Kind Hilfsknecht in der Landwirtschaft seines Vaters gewesen, hatte dann eine Lehre zum Schmied gemacht, als junger Erwachsener die Matura nachgeholt und danach an der Universität Salzburg einige Semester Germanistik und Anglistik studiert. 1973 hatte er das Österreichische Staatsstipendium für Literatur erhalten. Schöne Tage war sein Debütwerk, zugleich der Beginn einer autobiografisch geprägten Trilogie (Schattseite, 1975; Die großen Wörter, 1977) bzw. auch Tetralogie (zusammen mit Der Emporkömmling, 1982). Gemessen an der öffentlichen Aufmerksamkeit, die dem Romanerstling zuteilwurde, der Zahl der ihm gewidmeten literaturwissenschaftlichen Untersuchungen und auch der ihm im Allgemeinen zugesprochenen literarischen Qualität und Relevanz, gilt Schöne Tage bis heute ohne jeden Zweifel als Innerhofers Hauptwerk und steht zugleich auch im Rang eines zentralen Textes der österreichischen Nachkriegsliteratur.2 Der Erfolg des zunächst euphorisch gefeierten
1
Franz Innerhofer: Schöne Tage. Roman. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 5
1998, S. 120. Der Text wird im Folgenden unter der Sigle »ST« im Fließtext zitiert.
2
Vgl. etwa Cornelia Fischer: Schöne Tage. In: Hauptwerke der deutschen Literatur. Einzeldarstellungen und Interpretationen. Bd. 2: Vom Vormärz bis zur Gegenwartsliteratur. München: Kindler 1994, S. 657–659; Wendelin Schmidt-Dengler: Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990. Salzburg/Wien: Residenz Verlag 21996, S. 288–294; Klaus Kastberger: Franz Innerhofer: Schöne Tage. In: Grundbücher der österreichischen Gegenwartsliteratur seit 1945. Erste Lieferung. Hg.
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Schriftstellers versiegte in den auf die Veröffentlichung folgenden Jahrzehnten schleichend, die weiteren Werke – neben Romanen auch Erzählungen, ein Drama, ein Hörspiel – standen im Schatten des fulminanten, erratischen Opus primum, und als Innerhofer sich im Jänner 2002 in seiner Grazer Wohnung das Leben nahm, war es um den Autor längst sehr ruhig geworden. Literaturgeschichtlich wird der Roman Schöne Tage gemeinhin unter den Schlagwörtern Heimatliteratur bzw. »Anti-Heimatliteratur« verbucht – ein Begriff, den angeblich der einflussreiche Wiener Literaturkritiker Hans Weigel in einer Rezension des Romans prägte und der bald auch von der Literaturwissenschaft aufgegriffen wurde.3 Dieser Kategorie wurden, in mehreren vergleichenden Arbeiten, neben Innerhofer insbesondere auch Werke von Elfriede Jelinek, Michael Scharang, Peter Turrini, Thomas Bernhard oder Gernot Wolfgruber zugeordnet. Wurde die Heimatliteratur-Problematik an Schöne Tage breit abgehandelt,4 so fehlen Motiv-Untersuchungen abseits davon im Wesentlichen bis heute. Wovon handelt dieser Roman? Er handelt, kurz gesagt, vom tristen Leben im bäuerlichen Milieu Österreichs der 1950er-Jahre. Im Mittelpunkt der Handlung steht eine männliche Figur namens Holl, deren Kindheit und Jugend in personaler Erzählsituation berichtet werden. Holl ist sechs Jahre alt, uneheliches Kind einer Landarbeiterin, Bettnässer, als er im Mai 1950 von seiner Mutter und dem Stiefvater seinem leiblichen Vater, einem Großbauern in einem salzburgischen Ort namens Haudorf, überlassen wird. In Haudorf findet er sich, ohne dass er darauf vorbereitet worden wäre, in einer fremden Welt wieder, in der die Arbeit alles ist und der Mensch nichts, und ein uneheliches Kind noch weniger als nichts, einer Welt voll von Elend, Anstrengung, Ausbeutung, Erniedrigung, leeren religiösen Ritualen, körperlicher Brutalität, Züchtigung. Dem initialen Ortswechsel nach Haudorf – der Ortsname ist sprechend – korrespondiert am Ende des Romans ein ebenso ent-
v. Klaus Kastberger u. Kurt Neumann unter Mitarbeit v. Michael Hansel. Wien 2007 (Profile; 14), S. 47–54.
3
Vgl. dazu Johannes Birgfeld: Franz Innerhofer als Erzähler. Eine Studie zu seiner Poetik. Mit einer Forschungsübersicht und einer Werkbibliographie. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2002 (Beiträge zur deutschen Literatur; 28), S. 20, und Hans Weigel: Das Paradies als Inferno. Ein Antiheimatroman. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.10.1974.
4
Einen Überblick über den Forschungsstand zu Franz Innerhofer bis zum Jahr 2002 (worin die Beschreibung aller Arbeiten zur Heimatliteratur-Problematik etwa die Hälfte des Raums einnimmt) lieferte Johannes Birgfeld. Vgl. Birgfeld: Franz Innerhofer als Erzähler, S. 18–44. Die wenigen Arbeiten, die nach 2002 erschienen sind, setzen diese Tendenz grosso modo fort.
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scheidender Ortswechsel aus Haudorf hinaus, eine Absetzbewegung, ein Auf- und Ausbruch: 1959 gelingt es dem inzwischen zu einem kräftigen Burschen herangewachsenen Holl, allen Widrigkeiten und Schikanen zum Trotz, den Hof zu verlassen und eine Lehre zu beginnen. (Der hoffnungsvollen Entscheidung folgt eine schmerzvolle Desillusionierung im Nachfolgeroman Schattseite.) Die zwischen den beiden bestimmenden Ereignissen liegende Hauptmasse des Romantextes machen Schilderungen von bäuerlichen Alltagsszenen aus, zu denen sich der Romantitel Schöne Tage deutlich antithetisch verhält. Der Protagonist steht im Mittelpunkt der meisten der insgesamt 187 lose aneinandergereihten Episoden, zugunsten einer breiteren Perspektive werden passagenweise aber auch die Schicksale anderer Figuren des ausgesprochen figurenreichen Textes verfolgt. Dass der Protagonist Holl im Roman keinen Vornamen hat, mag übrigens als Widerspiegelung der beschriebenen sozialen Kälte, des Verlusts der Privatheit und der Kindheit verstanden werden. Der Nachname Holl leitet sich wohl von mhd. hol (Enge, Höhle, Erdloch) ab – auch er ist sprechend, insofern er den »engen Verständnishorizont des Protagonisten«5 reflektiert. Im vorliegenden Beitrag soll versucht werden, den Roman abseits der geläufigen und bereits mehrfach unternommenen Interpretation als eines Stücks AntiHeimatliteratur einer Lektüre zu unterziehen, die diesen Text vorderhand als ›Hasstext‹ versteht, die also den in ihm vielfach – wenn nicht überhaupt durchgehend – artikulierten Hass ins Zentrum rückt. Denn der Hass, so scheint mir, ist das diesen Roman tatsächlich bestimmende Moment. Er ist im eigentlichen Wortsinne ›be-stimmend‹, insofern der Text den Hass nicht bloß äußert, sondern in bemerkenswerter Weise das Finden einer Stimme thematisiert, das Finden einer Stimme, mit der einer für sich selber eintritt, in letzter Konsequenz auch das Finden der eigenen literarischen Stimme, die den zuvor stumm bleibenden und unter der Oberfläche schwelenden Hass zu artikulieren vermag, ja noch mehr: die sich überhaupt aus diesem Hass speist. Der Hass wäre mithin nicht nur Thema des Textes, sondern, so soll gezeigt werden, zugleich dessen Quelle und Motor. Insofern er Thema ist, lassen sich aus Beobachtungen am Text Rückschlüsse auf das außertextliche Phänomen Hass ziehen; insofern er Strukturprinzip ist, lässt sich an ihm das innertextliche Funktionieren des Romans untersuchen. Die Bezeichnung als Hasstext ist dabei eine vom Interpreten zugeschriebene und auch wieder nicht: Denn auch wenn er vom Autor selbst nicht so bezeichnet wird, legt der Roman doch, wie zu zeigen sein wird, seine eigene Konstruktion als Hasstext offen.
5
Fischer: Schöne Tage, S. 658.
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I.
HASS ALS THEMA
Im Folgenden soll anhand thematisch gewichtiger Textstellen, an denen der Hass als solcher benannt wird, das Phänomen konkretisiert und mit den romaninternen Einzelheiten ausgestattet werden. Wie sich zeigt, liefert der Text ein detailliert ausgearbeitetes Mikromodell des Hasses. Die an diesem Modell zu beobachtenden Mechanismen erhalten aus der grundsätzlich realistischen Ausgestaltung des Romans nicht nur literarische, sondern auch außerliterarische Plausibilität; diese wird durch die gleichzeitig zu beobachtende Tendenz zur Überzeichnung – insofern selbige die emotionale Dringlichkeit unterstreicht – offenbar weniger eingeschränkt als gestützt. (1) Die Hassfigur schlechthin, das heißt der Antipode des Protagonisten, ist im Text Holls Vater, der Bauer, das autokratische Machtzentrum der Welt auf dem Bauernhof (auf »48«, wie der Hof anhand seiner Hausnummer genannt wird). Am explizitesten wird das, wenn der Vater an einer Stelle vom Erzähler als Holls »vielgehaßte[r] Vater« deklariert wird (ST 50) – was gleichermaßen auf die Intensität, mit der Holl seinen Vater hasst, abzielt wie zugleich auch auf die vielen anderen Subjekte, die gegen den rücksichtslos agierenden Bauern aus verschiedenen Gründen Hass hegen. Äußerster Ausdruck von Holls Hass ist einerseits der Verlust des Begriffs der Elternschaft – »Die Mutter existierte nicht mehr. [/] Das Wort Mutter konnte er nicht mehr hören. [/] Das Wort Vater dachte er schon lange nicht mehr« (ST 168) –, andererseits die Erklärung zum »Unmenschen« (ST 136). Das tyrannische Verhalten des Vaters hat dieser vom Großvater übernommen. Die folgende Diagnose changiert zwischen dem psychologischen Befund von familiärer Verhaltensimitation und der Analyse mafiaartiger krimineller Machenschaften: Der Alte hatte als Knecht angefangen, hatte so lange Dienstboten mit allen erdenklichen Unterdrückungsschikanen geschunden, hatte in der Kirche Kühe gehandelt und war als Großbauer gestorben, und der Vater hatte den großen zusammengestohlenen Besitz geerbt und hatte auf dem zusammengestohlenen Diebsgut sofort angefangen, die selbst erlittenen Unterdrückungsschikanen ganz bewußt andere spüren zu lassen, um sich das Diebsgut zu erhalten und es zu vergrößern. (ST 162)
Einige Seiten vorher heißt es: »Wahrscheinlich dachte er [der Bauer] an seinen Vater, den alle bis zu seinem Tod gefürchtet und gehaßt hatten.« (ST 150) Gefürchtet und gehasst: Die damit anklingende Herrschaftsdevise Kaiser Caligulas
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»Oderint, dum metuant«6 ist offenbar auch noch im Bauernmilieu Salzburgs des 20. Jahrhunderts durchaus erfolgversprechend. Die zitierte Passage ist übrigens eine der ganz raren, an denen auch das Gegenstück zum Hass zur Geltung kommen darf: Holl entsinnt sich nämlich nicht nur seines Großvaters, sondern auch seines Onkels, der offenbar ein ähnliches Schicksal hatte wie Holl selbst: »Den Onkel, ein stummer Mensch, dem Alten wie aus dem Gesicht geschnitten, den Onkel liebte er bis in die Wiege zurück, aber den Alten, obwohl er ihn nie gesehen hatte, haßte er bis ins Totengebein.« (ST 161 f.) Der emotionale Kontrast könnte sicherlich kaum stärker sein. Die Einsicht in die Schicksalswiederholung von Generation zu Generation scheint hier eine wenigstens gedankliche Solidarität zwischen Neffen und Onkel hervorzubringen. (2) Der Hass ist in der Romanwelt aber weitaus verbreiteter, ja gleichsam von allgemeiner Natur: Er scheint auf »48«, in Haudorf und vielleicht in der bäuerlichen Welt der Zeit überhaupt – neben Angst und Wut – eine der drei Grundemotionen zu sein. Die Gerichtetheit des Hasses ist bisweilen uneindeutig und vor allem offenbar nicht selten ungerecht. So heißt es nach einer Schilderung davon, wie sich die Wut und Ungeduld der Knechte am ungeschickten Kind Holl entlädt, sodass dieses Ohrfeigen und böse Blicke kassiert: »Sie wußten nicht, wen sie hassen sollten, sie hatten keine Zeit, darüber nachzudenken.« (ST 16) Der Hass speist sich nicht zuletzt aus der ausbeuterischen Arbeitsüberlastung. Verdienen würde ihn demnach derjenige, der gerade durch die Arbeitsüberlastung perfiderweise zugleich auch dagegen immunisiert ist, weil die Unterdrückten sich in der pausenlosen Verzweiflung des Alltags aneinander abreagieren anstatt an ihrem rücksichtslosen Unterdrücker, den sie gar nicht im Blick haben. Die Dynamik in der breit und detailreich dargelegten sozialen Misere wird vom Text akkurat beschrieben. An anderer Stelle: »Auf Grund der vorgegebenen Herrschaftsstruktur war nur ein Kraftaufstieg möglich. Der Stärkere stieß den Schwächeren in den Dreck, weil er gegen seine wirklichen Feinde ohnmächtig war.« (ST 30) Unter den Knechten, Tagelöhnern und Dienstboten herrscht eine Art Hackordnung. Große zeitgeschichtliche Glaubwürdigkeit ist der vom Text evident gemachten Komplizenschaft der staatlichen Institutionen zuzusprechen: Der Arzt etwa stellt für eine dreiwöchige Abwesenheit von der Schule, weil Holl für die landwirtschaftliche Arbeit gebraucht wird, eine Krankenbestätigung aus, der Lehrer weiß offenbar davon, geht dem Missstand aber nicht nach. Den Schuldirektor hält man, um wegen der vielen Fehlstunden des Buben keinen Är-
6
Der Ausspruch geht auf den römischen Tragödiendichter Lucius Accius zurück und wurde durch Cicero überliefert. Caligula soll den Spruch gerne gebraucht haben.
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ger zu kriegen, mit Fleisch und Brennholz bei Laune. Auf die Behörden – die Gendarmerie oder die Fürsorgestelle – ist ebenso wenig zu zählen, über sie heißt es pauschal, sie »[denken] alle üblen Zustände einfach weg […]« (ST 59). »Wozu eigentlich die Gendarmerie da ist, fragte er sich oft.« (ST 167) Der staatlichen Fürsorgestelle ist einer der kürzesten Textabschnitte des Romans gewidmet. Er macht in lapidarer Prägnanz das institutionelle Versagen deutlich: »Einmal im Jahr kam jemand von der Fürsorge, um Holl und Moritz zu besichtigen. In Gegenwart des Bauern und der Bäuerin fragte die Fürsorgeperson die zwei ›Idioten‹, wie es ihnen gehe?« (ST 27) Machen sich die Exponenten staatlicher Macht mit der Privatmacht der bäuerlichen Patriarchen gemein, so gilt das für die katholische Kirche erst recht. Über den regelmäßig zu Besuch kommenden Dorfpfarrer heißt es: »Und Brunner sagte stets, was sie [die Stiefmutter] hören wollte, bestätigte ständig ihr Urteil über Menschen, gab ihr in allem recht, lobte sie, so daß sie nie einen Augenblick zu zweifeln brauchte, sie tue jemandem unrecht. Deswegen haßte ihn Holl.« (ST 135) Das bereits angesprochene System des gegenseitigen Hasses unter Opfern bringt der Text im Zusammenhang mit dem Knecht Moritz nochmals so auf den Punkt: »[J]eder Knecht, jede Magd, jedes Kind konnte ihm [Moritz] im Namen des Bauern Befehle erteilen, und es geschah auch, weil alles so eingerichtet war, daß einer für den andern mehr Haß als Mitgefühl aufbrachte.« (ST 58) Das christliche Gebot der Nächstenliebe, als das man das Mitgefühl vielleicht paraphrasieren darf, ist hier offenbar in sein Gegenteil umgeschlagen – der Hass ist universal geworden. (3) Wer Opfer ist, zugleich aber äußerlich wie ein Täter aussieht, hat doppelt zu leiden. In dieser Rolle findet sich Holl wieder: Dem [Huberleibeigenen] sah man ja die Leibeigenschaft schon von weitem an, während es sich bei Holl um eine versteckte Leibeigenschaft handelte. In seinen Kleidern konnte er sich sehen lassen. Das hatte aber den Nachteil, daß er auf dem Schulweg Gehässigkeiten begegnete, die in Wirklichkeit seinem Vater galten. Es waren Gehässigkeiten, die nicht von Gesicht zu Gesicht ausgetragen wurden, sondern über die Kinder. (ST 40)
Holl ist Hassender und zu Unrecht Gehasster zugleich – was, wie hinzuzufügen ist, seinen eigenen Hass noch verstärkt. (4) Der Hass wird nicht nur vom Unterdrücker auf die Unterdrückten und von schuldvollen Erwachsenen auf ihre unschuldigen Kinder abgeleitet, sondern überträgt sich auch von Personen auf Gegenstände. Man könnte dabei von einer Art
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negativer Fetischisierung sprechen: »Hier [in der Bauernkammer] haßte er ja schon jeden Gegenstand, weil in dieser Kammer niemand außer dem Vater und der Stiefmutter etwas berührte.« (ST 51) Auch aus dem Hass resultierende Vernichtungsphantasien übertragen sich dementsprechend auf die Objekte, wenn es im unmittelbaren Anschluss heißt: »Einen Augenblick dachte er daran, das ganze Haus in Brand zu stecken, aber dann erinnerte er sich, daß er daran bereits früher gedacht hatte, dabei aber immer an den Dienstboten und nicht zuletzt auch an den Nachbarn gescheitert war. Allein die kleine Habe eines einzigen Dienstboten hinderte ihn schon, sich an seinem Vater zu rächen.« (ST 51) Auch hier ist wiederum der rechtmäßige Hassempfänger gegen den Hass immunisiert, indem die Entladung des Hasses durch eine Art von Geiselschaft fremder Dinge gehemmt wird. (5) Der Hass überträgt sich außerdem auf ganze Landschaften: »Mit der Sonne stiegen auch die Bitterkeit und der Ekel. Er haßte dieses Tal und die Menschen rundherum so sehr, daß er auf einmal keine Angst mehr hatte.« (ST 52) »Das Tal kam ihm vor wie ein riesig großer Kerker mit einer eingebauten Foltermaschine […].« (ST 92) In Passagen wie diesen – die letztzitierte erinnert an Kafkas In der Strafkolonie – liegt übrigens ein wesentlicher Anknüpfungspunkt für die AntiHeimatliteratur-Untersuchungen. (6) Wo Hass ist, ist auch Selbsthass nicht weit, und er liegt besonders nah, wenn man selbst der leibliche Sohn des Hassobjekts ist: »Er wollte aus seinem Körper heraus und weg. Er haßte sich. Er haßte das Schlafen auf roten und blauen Gummimatten, das Schlafen in dieser Kammer, wo immer die Tür zur Kammer seines Erzeugers und dessen Frau offenstand.« (ST 38) Holls Selbsthass äußert sich unter anderem in Selbstmordgedanken, in selbstzerstörerischem Alkoholkonsum schon als Schulkind, erzählerisch vor allem aber in Flüchen auf die eigene Existenz. Einige Zitate: »Holl zu sein, war ihm wieder einmal das Schrecklichste.« (ST 25) »Holl starrte in die Finsternis und verfluchte wieder einmal seine Geburt.« (ST 37) »Warum muß ausgerechnet ich sein Sohn sein, wo ich doch viel lieber ein ganz anderer oder noch lieber gar keiner wäre?« (ST 73) »Diese stumme Quälerei war einfach entsetzlich, denn durch sie wurde ihm jedesmal seine ganze verdreckte, beschissene Existenz in ihrer gesamten Ausweglosigkeit von neuem vor Augen geführt.« (ST 85) »Holl liebte das tote Kind. Er wollte ja oft dieses tote Kind sein.« (ST 150) (7) So wie sich der Selbsthass im Text in Selbstvernichtungsgedanken äußert, so äußert sich der Hass auf andere wiederholt in Gedanken an deren körperliche Auslöschung oder, in schwächerer Form, an tätliche Handgreiflichkeiten. Als der
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Vater ihn wieder einmal mit dem Hosenriemen züchtigt, denkt Holl daran, ihm ein Messer in den Bauch zu rennen. Später erwägt er, ihn in die Schlucht zu stoßen, was ihm allerdings als »zu schnell[e]« Todesart vorkommt (ST 136). An anderer Stelle heißt es, dass Holl an der ihn durch Blicke quälenden Stiefmutter vorbeigeht, »ohne ihr ins Gesicht zu schlagen oder sie vom Stuhl zu reißen«, geschehe nur »aus einem dumpfen Überle[ben]sinstinkt heraus«, »aber der Gedanke an ein späteres Blutbad lag nahe« (ST 85); an wieder anderer Stelle, Holls Kopf sei »voller Mordgedanken, immer wieder, ich bring ihn um, eines Tages bring ich ihn um …« (ST 105). Auch der Kindergartenschwester, einer anderen Exponentin des im Dorf herrschenden Unterdrückungsregimes, die Holl in der Kirche öffentlich erniedrigt, würde er am liebsten »das bleiche Gesicht zerkratzen« (ST 47). Die dramatischsten Phantasien des Protagonisten sind vielleicht jene über einen späteren Amoklauf. Als sich Holls finaler Befreiungsversuch zu verzögern droht, kündigt er an: »Er verplempere doch nicht noch zwei Jahre. Eher besorge er sich ein Gewehr und verwandle 48 in eine Schießbude. In seinen Träumen spielten sich bereits Kämpfe ab.« (ST 209) Die Theodizeefrage hat sich für Holl bereits als Kind negativ beantwortet, Gott ist ihm »der Schreckliche«, »das Ungeheuer«, einer, »dem es Spaß macht, daß Menschen gequält werden« (ST 101). Nichtsdestotrotz wird zur Vernichtung des Pfarrers Brunner auf göttlichen Beistand gehofft: Holl wünscht sich während eines Kirchenumzugs ein Gewitter und ein Anschwellen des Baches mit einem »derartig günstige[n] Wegreißen der Brücke […], daß nur der Brunner mit seinem Himmel, keiner von den Trägern, in den Bach gerissen und mitsamt seinem Plunder in die Salzach geschwemmt würde« (ST 114 f.). Holls gerechte Hoffnung bleibt selbstredend unerfüllt.
II. HASS ALS STRUKTURPRINZIP Jede gute Geschichte braucht bekanntlich einen Helden, d. h. eine Lichtgestalt. Im Falle von Schöne Tage heißt diese Lichtgestalt Helga, eine Aushilfsköchin, die eines Tages – etwa zu Beginn des letzten Textdrittels – als »fremde[ ] Frau« (ST 146) auf »48« auftaucht und kraft ihrer sprachlichen Gewalt die Verhältnisse auf den Kopf zu stellen droht. Schon der erste Satz, mit dem Helga in direkter Rede zitiert wird, bedeutet einen Tabubruch. Er lautet, ausgesprochen gegenüber der Stiefmutter und mit Bezug auf Holl: »›Der Bub ist ja verwahrlost.‹« In der Nacht darauf kann Holl vor Aufregung kaum schlafen, hört »immer wieder diese Frau. Jeden Satz hörte er. Er wiegte die Sätze hin und her, als wären sie Findelkinder, und dazwischen dachte er immer wieder die Wörter endlich und doch
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[…].« (ST 147) Einer der nächsten Sätze Helgas lautet: »›Das mach’ ich nicht!‹ Nie hatte Holl jemanden so mit dem Bauern sprechen hören, ein ganz normaler Satz, aber hier scharf wie ein Rasiermesser, fast unheimlich, aber die Sympathie hatte sie.« (ST 148) Helga scheut sich als Erste und vorläufig Einzige nicht, dem Bauern zu widersprechen, sie scheut aber auch die offene Aktion nicht – etwa wenn sie in ihrer Wut die Frühstücksmilch ins Feuer gießt. Bald darauf nimmt eine Dienstbotin das aufsässige Verhalten zum Vorbild und wirft der Bäuerin »die Rührkübelkurbel vor die Füße«. Obwohl eher harmlos anmutend, werden diese beiden Aufstandshandlungen, in Kombination mit Helgas verbalen Angriffen, von der Bäuerin bereits als Vorboten einer mörderischen Revolte verstanden: »da müsse man ja Angst haben, aufgehängt zu werden« (ST 152). Auf einer Metaebene soll sie damit recht behalten. Der Auftritt der Aufklärerfigur Helga ist nicht nur deshalb von besonderer Bedeutung, weil er auf Handlungsebene ein Erweckungserlebnis speziell für den Protagonisten bringt, sondern weil er zugleich die Übertragung der aus dem Hass gespeisten Vernichtungsphantasien auf die sprachliche Ebene forciert. Helgas Sätze sind, wie zitiert, »scharf wie ein Rasiermesser«. An anderer Stelle: »Sie lachte nicht und fluchte nicht und hatte auch keine Launen, aber wenn der Bauer kam, stach sie zu« (ST 148). Wenn Helgas Sätze Messerstiche sind, legt das den Schluss nahe, dass der Roman im Ganzen die literarische Übersetzung eines Vatermords sein muss. Und zugleich mit ihren ins Verbale transformierten Auslöschungstendenzen übt sich auch Helga in dem, was offenbar eine selbstgestellte Aufgabe des Romantextes ist: Sie gibt den von ihr auf unzähligen Bauernhöfen beobachteten »stummen Tragödien« eine Stimme (ST 150). An diesem Punkt sind die Rolle der Sprache und die Verteilung des Sprachvermögens im Text näher zu betrachten. Das Vorführen der individuellen und kollektiven Sprachlosigkeit ist als eine der großen Stärken dieses Romans erkannt worden.7 Die Verteilung des Sprachvermögens unter den Romanfiguren entspricht der Verteilung von Macht: So heißt es über die Dienstboten, sie »wußten um ihr Elend, aber sie hatten keine Worte, keine Sprache, um es auszudrücken« (ST 22). Der ›Leibeigene‹ Moritz, dessen Schicksal seitenlang geschildert wird, ist »verständigungsunfähig« (ST 54), analphabetisch, »stumm[ ]« (ST 56). Der Stiefvater, seinerseits in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen, ist ein »wortkarger« Mensch (ST 44), die Mutter meist »stumm und verschlossen« (ST 45). Einzig der Bauer produziert sich vor seinen Untergebenen gerne im Geschichtenerzählen, wobei die Benennungen dieser Geschichten eine beklemmen-
7
Vgl. Schmidt-Dengler: Bruchlinien, S. 290.
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de Gedankenwelt erahnen lassen: »die Zitzenabtretgeschichte, die Sautreibgeschichte, die Füllenabstechgeschichte« (ST 102). Wenn der Patriarch »Sagen und Schwänke« (ST 124) erzählt, kann er sich der Dankbarkeit und offenen Ohren seiner stummen Untergebenenzuhörerschaft sicher sein. Überhaupt wird der Vater als »sprachgewaltig« beschrieben (ST 104), ja sogar eine »Vorliebe für gereimtes Sprechen« schreibt der Text ihm zu (ST 105). Eine pervertierte Art von Sprachgewalt ist es wohl, dass schon »die bloße Anwesenheit« des Bauern allen anderen die Sprache verschlägt (ST 138). Auch die überraschende Macht der Figur Helga gründet, wie gesagt, in ihrer Sprachmächtigkeit. Sie benennt Dinge, wie sie sind, lässt sich nicht den Mund verbieten und bringt durch ihren resoluten Auftritt diejenigen, die sonst als Einzige reden, zum Schweigen. Dass sie darüber hinaus Zeitungen liest, dass sie eingeschriebene Briefe erhält und selber Briefe schreibt, lässt sie geheimnisvoll, ja gefährlich erscheinen und flößt den Bauersleuten Respekt und Furcht ein. Und Holl? Seine »kümmerlichen Sprechversuche« als Kind sind »im engsten Familienkreis unerwünscht«, sodass er sich das Reden bald abgewöhnt (ST 61). Den anderen Kindern ist er »ein schweigender Spielgefährte« (ST 65), und einmal heißt es, zwischen ihm und den anderen Kindern hätten sich »Jahre von Stummheit aufgetürmt, und dahinter stand nichts als der Plan, aus ihm einen vollkommen willenlosen Menschen zu machen, wie ihn sich der Vater […] in den Kopf gesetzt hatte« (ST 120). Die Jahre der Knechtschaft stauen sich in ihm »zu einer sprachlosen Wut auf […]«, seine Zunge ist »ein Klumpen und oben ein heilloses Durcheinander« (ST 132). Schon vor der Ankunft Helgas wird Holl bewusst, dass er, um sich zu verteidigen oder etwas in Gang zu setzen, reden muss – eines Tages studiert er eine Parole ein, die er in der Schule herausschreien möchte, bringt sie, dort angekommen, aber nicht heraus. Das offensive Reden bleibt also vorerst noch Phantasie. An die Stelle der früheren körperlichen Vernichtungsphantasien tritt nun jedoch die Vorstellung von deren verbaler Sublimierung, nämlich: die fixe Vorstellung, es müsse doch einmal gelingen, den Vater an einen Baum zu binden, und er würde tagelang um ihn herumgehen, vor ihm stehen, vor ihm sitzen und ihm alles sagen, alles, was er ihm und den Menschen, die Holl gern mochte, im Laufe der Jahre zugefügt hatte, ihm immer wieder sagen, nicht auspeitschen, nur sagen, dann würde er ihn laufen lassen, ihn einfach laufen lassen. (ST 136 f.)
In einer daran anklingenden Textpassage wird die phantasierte direkte Hassrede bereits in eine indirekte, d. h. in die dritte Person, verschoben, nun fährt Holl in
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Gedanken zur Mutter und erhebt vor ihr detaillierte Anklage gegen den Vater und die Stiefmutter: Ich werde ihr alles sagen, alles, von vorne bis hinten und von hinten bis vorne […]. Alles werde ich sagen, diesmal sage ich alles, dann kann die Mutter nicht mehr sagen, bleib nur, bleib nur, halt nur durch, es wird schon besser, und später wird er dir dann vielleicht etwas geben. (ST 144 f.)
Der an dieser Stelle erfolgende mentale ›Dammbruch‹ und die sich über zwei Buchseiten ergießende, im Stakkato durchexerzierte gedankliche Tirade – eine Aneinanderreihung schwerer Vorwürfe, rhythmisiert durch die immer wiederkehrende inquit-Formel »[…], sage ich« – verlaufen sich freilich wiederum in Zweifel und Schweigen. Für das Textverständnis erhellend ist der von Helga ausgesprochene, im Textzusammenhang eher unmotivierte Satz: »Ganze Zeitungen voll könne sie aus ihrer Kindheit erzählen.« (ST 154) Mit diesem Satz ist ein doppelter Verweis auf den Romantext selbst gesetzt: zum einen auf dessen autobiografische Prägung, zum andern auf die Textfunktion der Anprangerung, die an eine mehr oder weniger latente therapeutische Aufgabe gekoppelt zu sein scheint.8 Innerhofer gab zehn Jahre nach Erscheinen des Buches immerhin zu Protokoll, damit »den Großbauern einen aufs Dach […] geben« haben zu wollen.9 Was die autobiografische Prägung betrifft, so sind der Aufmerksamkeit des Romanpublikums und der Literaturkritik die engen biografischen Parallelen zwischen dem Protagonisten und dem Schriftsteller naturgemäß nicht entgangen, stimmen doch selbst die im Text zu findenden Altersund Jahresangaben exakt mit der Biografie des Autors überein. Dass die Literaturwissenschaft Innerhofer bisweilen unterstellte, »einen schonungslos realistischen, nahezu volkskundlichen Dokumentarbericht […] vorgelegt« zu haben,10 verkennt jedoch die Literarizität des Werks und geht dem geschickten Spiel mit der Identität zwischen Protagonist und Autor auf den Leim.
8
In verschiedenen Interview-Äußerungen Innerhofers zu seiner Schreibmotivation ist u. a. von Aufarbeitung verdrängter Erfahrungen, Distanzgewinnung, Existenzkonsolidierung und Freiheitssuche die Rede. Vgl. Birgfeld: Franz Innerhofer als Erzähler, S. 57.
9
Donna L. Hoffmeister: Interview mit Franz Innerhofer am 18. November 1984. In: dies.: Vertrauter Alltag, gemischte Gefühle. Gespräche mit Schriftstellern über Arbeit in der Literatur. Bonn: Bouvier 1989 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft; 382), S. 59–70, hier: S. 69.
10 So z. B. lautet das durchaus fragwürdige Fazit im ansonsten soliden Artikel in Kindlers Literaturlexikon. Fischer: Schöne Tage, S. 658.
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Auch mehrere poetologische Aussagen, die der Roman auf Handlungsebene bereithält, implizieren eine hohe Selbstreferenzialität des Textes. So ist die von der Literaturkritik attestierte Opposition zu herkömmlichen Bauernromanen im Text bereits dadurch antizipiert, dass Holl zwei Bauernromane liest und sie »sofort zu Putzpapier« (ST 190), also Klopapier, verarbeitet. Später reißt er »die schönsten Geschichten aus dem Bauernbundkalender« und schreit: »Er könne diese Bilder nicht mehr sehen […]. Er wolle diese Geschichten nicht mehr hören. Sie sollten endlich aufhören, sich vorzumachen, das seien schöne Geschichten.« (ST 198) Auf einem Gemälde in der Kirche kann das Kind Holl zum eigenen Erstaunen nur einen säenden Bauern samt zum Himmel blickenden Kühen und Norikerpferden erkennen, aber »weit und breit keine Magd, kein[en] Knecht« – »im ganzen Gotteshaus war keine Abbildung von Dienstboten und Arbeitern« (ST 115). Auch hier spiegelt sich eine künstlerische Absicht Innerhofers wider, der wiederholt den realistischen Ansatz seiner Literatur betonte und in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau 1978 angab, ein Buch über »Mägde und Knechte« schreiben haben zu wollen, »über die sowieso nie gesprochen wird«.11 Noch ein weiterer versteckter poetologischer Hinweis ist interessant: Gegen Ende des Buches schildert Holl dem Bauern in der dramatischsten und übertriebensten Weise eine winterliche Ausfahrt auf die Alm. Er hat sich hier sprachlich und existenziell bereits einigermaßen emanzipiert. Im Text heißt es: Ob er einen futtersuchenden Hirsch einbauen sollte, fragte er sich. Soll ich einen Hirsch vor mir durch den Schnee über den Weg waten lassen? Oder eine Hirschkuh? Auch Hirschfamilie, dachte er, beschränkte sich aber darauf, die Schneeverwehung durchschnittlich »hirschkuhhoch bis hirschhoch« zu bezeichnen und gebrauchte diese Bezeichnung mehrmals, weil er wußte, daß der Bauer ein Hirschenhasser war und Wild überhaupt haßte. (ST 196)
Diese Stelle, die keineswegs frei von Komik ist, zeigt, dass Holl sich die Sprache nicht zuletzt als Medium des Triezens aneignet. Zudem wird Holl hier beim Finden sprachlicher Mittel vorgeführt, die zum rhetorischen Repertoire des Romantextes selbst gehören: Gemeint ist zum einen das Schaffen auffälliger Neologismen (»hirschkuhhoch«, »hirschhoch«), insbesondere mit Bezug zu Lebewesen bzw. Personennamen.12 Auf diese Weise wird die für den Leser ohnedies nahe-
11 Gisela Ullrich: Gelebte Sätze statt großer Wörter. In: Frankfurter Rundschau, 29.03.1978.
12 Etwa: »Bauknecht-Hinunterschmeißen« (ST 33), »Holl-Zustand«, »Maria-Zustand«, »Moritz-Holl-Huber-Lechnerleibeigenen-Zustand« (ST 59), »Pfarrköchinaustausch[ ]«
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liegende Annahme der Identifikation von Protagonist und Autor zusätzlich genährt. Zum anderen und noch hintergründiger zeigt die Romanstelle Holl beim Abwägen einer eskalierenden Übertreibung – ein Mittel, das dem Text und seinem Autor ebenfalls nicht fremd ist, im Anschluss aber raffinierterweise gleich wieder kassiert wird: »Holl brauchte nichts zu erfinden, er schilderte nur, was er oft erlebt hatte […]« (ST 197). Der Text kokettiert auf diese Art geschickt mit einem hohen Anspruch auf Authentizität, ohne sie freilich wortwörtlich zu reklamieren. In epitextuellen Aussagen hat der Autor den Authentizitätsanspruch des Textes unterschiedlich bewertet. Einerseits hat er Schöne Tage wiederholt als stark autobiografisch geprägt beschrieben, andererseits aber – wohl mit Recht – auf nicht autobiografische Inhalte und auch die Kunstfigurhaftigkeit etwa der Hauptperson Holl hingewiesen.13 Die paradoxe Inszenierung von Identität – Holl ist Innerhofer, und Holl ist natürlich nicht Innerhofer – scheint mir mit Blick auf das Romanende, wie überhaupt auf die intendierte öffentliche Wirkung notwendig und ganz bewusst gesetzt. Helga, die ebenso schnell wieder fort ist, wie sie gekommen war, hat in Holl das Bewusstsein hinterlassen, dass seine Feinde »ja nur Menschen« sind (vor denen er sich dementsprechend nicht zu fürchten braucht), aber auch den Vorsatz: »irgendwann werde ich den Spieß umdrehen« (ST 163). Durch ihr Beispiel ermutigt und nicht zuletzt durch seine jugendliche Körperstärke zu Selbstbewusstsein gekommen, kopiert er bald Helgas Angewohnheit, dem Bauern ins Wort zu fallen, verweigert missliebige Arbeiten, diktiert eigene Bedingungen und gibt der Stiefmutter »Antworten nach seinem Geschmack, daß sie jedesmal empört zum Bauern lief« (ST 193). Holl reißt nach und nach die Sprache auf seine Seite. In dem Maße, wie ihm dies gelingt, holt er seine menschliche Würde ein und kann Schritte der Selbstermächtigung setzen, wird vom leidenden Objekt zum tätigen Subjekt, das sich selbst verteidigt, aber auch die Solidarität mit anderen sucht: Er wirft dem Bauern den Melkstuhl vor die Füße, dieser zieht sich »wortlos zurück« (ST 200); er verweigert Arbeiten und presst dem Bauern und der Bäuerin unter scharfen Drohungen ab, was ihm zusteht; er »verschafft[ ] sich immer mehr Redefreiheit« (ST 205). Eine Grundvoraussetzung dieser Selbsterrettung Holls ist offensichtlich, dass er – im Gegensatz zu anderen – für seinen Hass eine Zielscheibe gefunden
(ST 106), »Viehhütertänze[ ]« (ST 124), »Bauernidiotie« (ST 149); auch nichtsubstantivische Neologismen sind dem Text nicht fremd: »autoscheu[ ]« (ST 139), »almauf, almab« (ST 171), und auch für Tiere als Maßstab gibt es zumindest ein anderes Beispiel im Roman: »eine halbe Kuh lang« (ST 172), hier als Maß für die Zeit (nämlich die Hälfte der Zeit, die es braucht, um eine Kuh zu melken).
13 Vgl. Birgfeld: Franz Innerhofer als Erzähler, S. 51 u. 59.
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hat. Nur indem der Hass, der sich ja durchaus aus allgemeinen gesellschaftlichen Missständen speist, an den Vater ad personam adressiert wird, kann er letztlich für die eigene Existenz produktiv gemacht werden. Der Vernichtungswunsch gegenüber dem Vater ist durch die Sprachfindung nicht erloschen – mitten im Reden kann das Bedürfnis nach physischer Vernichtung augenblicklich wieder zutage treten: Daraufhin ging Holl zum Bauern und sagte ihm, er lege für heute die Arbeit nieder […]. Dann sagte er noch, sie sollten ihn doch nicht für so blöd halten. Sie sollten es sich endlich aus dem Kopf schlagen, aus ihm einen Knechtidioten machen zu können. Er wollte noch weiterreden, konnte aber nicht mehr, weil er wieder das Gefühl hatte, den Bauern erschlagen zu müssen. (ST 206)
Und indem der Roman in die Zukunft auf sich selbst referenziert, findet die Vernichtung statt: Es ist naheliegend, den Roman selbst als jenes zitierte, im Text ersehnte ›Spießumdrehen‹ (»irgendwann werde ich den Spieß umdrehen«) zu lesen, als in die Literatur umgelenkten Vernichtungswunsch. Aus dem leserseitigen Eindruck, das Produkt des im Roman verhandelten Hasses selbst in Händen zu halten, bezieht dessen Ende einen Gutteil seiner Wirkung – zumal ja die vorgeführte Selbsterrettung des Protagonisten durch die Biografie des Schriftstellers beglaubigt scheint. Die Hassrede wird, wie gezeigt, vom Protagonisten zweimal imaginiert und skizziert, aber nicht realisiert. Der Romantext lässt sich als Durchführung dieser Hassrede, als ihre Transformation in einen literarischen Text verstehen. Im letzten Absatz des Romans heißt es: »Jetzt liegt es an mir. Ich will alles nachholen, und irgendwann werde ich diesen Bestien zeigen, daß niemand das Recht hat, andere Menschen zu besitzen.« (ST 215) Es ließen sich gewiss verschiedene Arten denken, wie man dies den Bestien »zeigen« könnte – die öffentliche Bannung der Bestien in einen Romantext wäre wahrscheinlich die stärkste davon. Insofern es wenig plausibel scheint, einen Text mit einer leeren Ansage enden zu lassen, liegt es nahe, auch den zitierten Satz als Selbstreferenz zu verstehen: Der Satz kündigt nichts anderes als jenen Roman an, dessen Teil er ist. In diesem Roman wird endlich tatsächlich, ohne Einschränkung und ohne Gegenrede, ›alles gesagt‹, und zwar nicht bloß unter vier Augen, sondern in aller Öffentlichkeit, »alles, was er« – die Hassfigur schlechthin, der Vater – »ihm und den Menschen, die Holl gern mochte, im Laufe der Jahre zugefügt hatte« (ST 136). Ob die machtvolle Verbalisierung des Hasses auch dessen Stillung einbringt, ist aus dem Text naturgemäß nicht herauszulesen.
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LITERATUR Birgfeld, Johannes: Franz Innerhofer als Erzähler. Eine Studie zu seiner Poetik. Mit einer Forschungsübersicht und einer Werkbibliographie. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2002 (Beiträge zur deutschen Literatur; 28). Fischer, Cornelia: Schöne Tage. In: Hauptwerke der deutschen Literatur. Einzeldarstellungen und Interpretationen. Bd. 2: Vom Vormärz bis zur Gegenwartsliteratur. München: Kindler 1994, S. 657–659. Hoffmeister, Donna L.: Interview mit Franz Innerhofer am 18. November 1984. In: dies.: Vertrauter Alltag, gemischte Gefühle. Gespräche mit Schriftstellern über Arbeit in der Literatur. Bonn: Bouvier 1989 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft; 382), S. 59–70. Innerhofer, Franz: Schöne Tage. Roman. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 51998 (im Text abgekürzt mit der Sigle »ST«). Kastberger, Klaus: Franz Innerhofer: Schöne Tage. In: Grundbücher der österreichischen Gegenwartsliteratur seit 1945. Erste Lieferung. Hg. v. Klaus Kastberger u. Kurt Neumann unter Mitarbeit v. Michael Hansel. Wien 2007 (Profile; 14), S. 47–54. Schmidt-Dengler, Wendelin: Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990. Salzburg/Wien: Residenz Verlag 21996. Ullrich, Gisela: Gelebte Sätze statt großer Wörter. In: Frankfurter Rundschau, 29.03.1978. Weigel, Hans: Das Paradies als Inferno. Ein Antiheimatroman. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.10.1974.
Hass als Thema und Gegenstand der Gegenwartsliteratur
Blind vor Hass Elfriede Jelineks Ödipus-Fortschreibung Am Königsweg Silke Felber
EINLEITUNG 1 Elfriede Jelinek ist eine der zentralen AffektanalytikerInnen unserer Zeit. Bereits Jahre vor der Zuerkennung des Literaturnobelpreises im Jahre 2004 begeisterte und irritierte die Autorin mit Romanen, die Titel wie Lust, Gier oder Neid tragen und die sich dadurch auszeichnen, menschliche Empfindungen auf ihr zerstörerisches Potenzial hin zu befragen. Gehen wir von Aristoteles aus, der humane Affekte unter dem Begriff des pathos subsumiert und darunter »Regungen des Gemüts« versteht, »durch die Menschen sich […] hinsichtlich der Urteile unterscheiden und die von Lust/Unlust begleitet sind«,2 so verwundert es nicht, dass Elfriede Jelinek sich in den letzten Jahren intensiv am Genre der antiken Tragödie abarbeitet. An einem Genre mithin, in dem »Regungen des Gemüts« eine ganz besondere Rolle spielen und oftmals als eigentliche Täter in Erscheinung treten. Im Rekurs auf Tragödien des Aischylos, Sophokles und des Euripides fokussieren Jelineks Theatertexte virulente Thematiken unserer Zeit und untersuchen vor diesem Hintergrund die Entstehung sowie die Auswirkungen von bestimmten Humanaffekten auf Individuum und Gemeinschaft. Der folgende Beitrag befasst sich mit einer ganz aktuellen Tragödienfortschreibung Jelineks, die von der Forschung bislang noch kaum beachtet, vom Theater jedoch bereits äußerst intensiv rezipiert worden ist, nämlich mit dem
1
Dieser Beitrag erscheint außerdem in Pia Janke/Susanne Teutsch (Hg.): Was zu fürch-
2
Aristoteles: Rhetorik. München: Fink 1980, S. 84.
ten vorgegeben wird. Alterität und Xenophobie. Wien: Praesens 2019 (im Druck).
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Theatertext Am Königsweg.3 Der Text entstand 2016 anlässlich von Donald Trumps Wahlsieg und erlebte seine Urlesung – wenig überraschend – in den Vereinigten Staaten, und zwar in der Übersetzung von Gitta Honegger. Die deutschsprachige Erstaufführung fand unter der Regie von Falk Richter im Oktober 2017 am Schauspielhaus Hamburg statt, für die Bühne zeichnete Katrin Hoffmann verantwortlich, für das Kostüm Andy Besuch. Waren es zuletzt Tragödien wie Die Schutzflehenden des Aischylos oder Euripides’ Herakles, die Jelinek inspirierten, so bildet den Ausgangstext für Am Königsweg Sophokles’ König Ödipus. Die Tragödie rund um den wissend unwissenden Staatsmann fungiert hier als Folie, vor der die Autorin ›Affective Societies‹ im Kontext des globalen Finanzkapitalismus in den Blick nimmt und den Erfolg von rechtspopulistischen Führerpersönlichkeiten wie Trump kritisch hinterfragt. Im intertextuellen Rückgriff auf den antiken Prätext entlarvt Am Königsweg, wie ich im Folgenden zeigen möchte, ein gegenwärtig auszumachendes Klima, in dem Phänomene wie Angst, Wut oder Hass weniger auf »innere Gefühle« verweisen, denn auf von außen aufoktroyierte, politisch und medial geschürte »Stimmungen« im Sinne von Heinz Bude.4
MISS PIGGY VS. ÖDIPUS, CLASH DER KULTUR(EN) ODER ABER: WER SPRICHT DENN DIESMAL? Wenden wir uns also dem Text Am Königsweg zu, der mit folgendem regieanweisungsähnlichen Nebentext beginnt: Miss Piggy, als blinde Seherin hergerichtet, die Augen bluten, wie es die Tradition will. Überhaupt hätte ich in der Folge gern Figuren aus der Muppet Show. Da das aber nicht geht, vielleicht nur Anklänge an die Wesen dort, vielleicht eine Psychose, nein, eine Plüschhose, die an jemandem hängt, ein abnehmbarer Kopf, ein netter Frosch etc. Phantasie, bitte einschalten! Sie sind alle blind. Die einen sind blinde Seher, die treten mit ihrem Blindenstock auf, die andren sind blinde Könige, die treten mit ihren Kronen auf. (AK 2)
Der Wunsch nach popkulturellen Artefakten oder Plüschtieren, der aus dieser Passage spricht, findet sich in unterschiedlichen Theatertexten Jelineks und wird
3
Vgl. Elfriede Jelinek: Am Königsweg. Reinbek: Rowohlt 2016 (= unveröffentlichtes
4
Vgl. Heinz Bude: Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen. München:
Bühnenmanuskript), im Folgenden zitiert mit der Sigle AK und der Seitenangabe. Hanser 2016.
Blind vor Hass: Elfriede Jelineks Am Königsweg | 345
als Spielangebot bekanntlich von vielen RegisseurInnen dankbar angenommen. Hier jedoch ist mit den Muppets eine Fernsehshow aufgerufen, die sich in eine langjährige anglo-amerikanische Tradition des Nonsense einreiht und als solche auf ein ihr inhärentes subversives Potenzial verweist.5 Nonsense widersagt logischen und linearen Strukturen und evoziert stattdessen unkonventionelle künstlerische Formen, innovative ästhetische Praktiken und scharfsinnige, oftmals als pietätlos aufgefasste, politische Kommentare. Die Muppets partizipieren an diesem Phänomen: die Sendung wurde erstmals zwischen 1976 und 1981 ausgestrahlt, d. h. in einem Zeitraum, der von massiven sozialen, ökonomischen und politischen Veränderungen geprägt war. Die USA wurden damals nicht nur von Ölkrise und Rezession, sondern auch von feministischen, queeren und BlackCivil-Rights-Bewegungen nachhaltig irritiert. Viele der scheinbar harmlosen Aussagen der Muppets stellen herkömmliche Überzeugungen in Bezug auf die Kategorien gender, sex und race infrage und entziehen sich der hegemonialen Autorität.6 Wenn Jelinek diesen Figuren in ihrem Theatertext in Am Königsweg einen potenziellen Auftritt ermöglicht, dann zitiert sie mithin eine Spielart des Nonsense, die im kollektiven US-amerikanischen Gedächtnis mit Signalen des Umbruchs verknüpft ist. Doch treten hier ja nicht schlicht die Muppets auf, sondern vielmehr Figurationen, die zudem mit Attributen der Hegemonialkultur ausgestattet sind. Vor unserem Auge erscheinen Zwitterwesen, die zwischen Miss Piggy und antiker Seherin, zwischen Kermit und König Ödipus changieren. Die sogenannte Hochkultur durchdringt hier die Populärkultur und erzeugt dadurch ein Produkt des Chimärischen, das als »Quintessenz des Grotesken« im Sinne Michail Bachtins die Grenzen der Kulturordnung auslotet und eine Liquidation kategorialer Strukturen bewirkt.7 Der intertextuelle Rekurs auf Sophokles’ König Ödipus erlaubt hochinteressante Rückschlüsse. Zum einen rüttelt Jelinek dadurch kräftig an einem über Jahrtausende herrschenden Theaterparadigma: Für Aristoteles galt König Ödipus schließlich als ideale Tragödie schlechthin. Wenn Jelinek nun ausgerechnet diese
5
Nonsense entsteht im 18. Jahrhundert als Reaktion auf die rationalen und fortschrittsoptimistischen Bestrebungen der Aufklärungen – als Beispiele seien hier etwa der Nursery Rhyme Hey Diddle Diddle und Lewis Carrolls Jabberwocky genannt. Vgl. Michelle Ann Abate: Taking Silliness Seriously: Jim Henson’s ›The Muppet Show‹, the Anglo-American Tradition of Nonsense, and Cultural Critique. In: The Journal of Popular Culture 42 (2009), H. 4, S. 589–613.
6
Vgl. ebd., S. 591.
7
Vgl. Peter Fuß: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels. Köln: Böhlau 2001, S. 358–360.
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Tragödie als Folie für ihr altbewährtes Verfahren der Bricolage verwendet, dann wird den Einheiten der Handlung und der Zeit eine klare Absage erteilt und das dramenpoetische Prinzip der Ständeklausel wird ad absurdum geführt. Zum anderen arbeitet sich die Autorin damit aber auch an einer Tragödie ab, an der René Girard den Mechanismus reziproker Gewalt exemplifiziert. Girard hebt hervor, dass die scheinbaren Unterschiede zwischen den Protagonisten von König Ödipus durch einen bestimmten Affekt getilgt werden, der sie alle eint, nämlich durch jenen des Zorns: »Weit davon entfernt, sich deutlich als eigenständige Wesen zu profilieren, indem sie sich von einander abheben, lassen sich die Protagonisten auf die Identität ein und derselben Gewalt reduzieren; der Sog, in den sie geraten, macht sie alle gleich.«8 Vor diesem Hintergrund erscheint die anfänglich zitierte Textstelle noch einmal in einem anderen Licht: »Sie sind alle blind. Die einen sind blinde Seher, die treten mit ihrem Blindenstock auf, die andren sind blinde Könige, die treten mit ihren Kronen auf.« (AK 2) Die Blindheit eint alle, von denen die Rede ist. Doch von wem ist hier die Rede? In Am Königsweg treten – und das ist für Jelineks jüngere Theatertexte paradigmatisch – keine Figuren auf, sondern vielmehr Schablonen, Produkte einer Affektkultur, die jeder Individualität entsagen. Was sie eint, ist die Schuld, die daraus resultiert, dass sie alle an einer »Zerstörung der kulturellen Ordnung«9 beteiligt sind.
KRISE DES OPFERKULTS Die gegenwärtigen rechtspopulistischen Entwicklungen zum Anlass nehmend, entlarvt Jelineks Theatertext im Rekurs auf König Ödipus das, was René Girard als Krise des Opferkults bezeichnet – eine Krise, die sich in der Pest, die die Stadt Theben heimsucht, manifestiert, und die darauf abzielt, die alles und alle einende Gewalt auf ein einziges Individuum zu übertragen und einen Sündenbock zu installieren. So heißt es in Am Königsweg: Das Opfer hat nicht stattgefunden, es wurde nicht angenommen, das Opfer hat die Krise, die Krise will das Opfer, nein, sie will lieber ein anderes Opfer, nein, das dort auch nicht, doch da kommen schon Millionen leckere Opfer, hereinspaziert! […] Kommen die alle, kommt ihr Opfer alle denn, damit die Einheit dieser schwer verletzten Gemeinschaft wieder hergestellt werden kann? (AK 90 f.)
8
René Girard: Das Heilige und die Gewalt. Ostfildern: Patmos 2012, S. 107.
9
Ebd., S. 109. Vgl. hierzu auch Jelinek: Am Königsweg, S. 76.
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Sämtliche individuellen Konflikte und Bruderzwiste weichen einem kollektiven Groll, der sich gegen eine einzelne Gruppierung, gegen das »versöhnende Opfer«, wie es bei Girard heißt, wendet.10 Die Gemeinschaft findet sich im Hass geeint wieder, alle Unterschiede scheinen getilgt. »Überall das gleiche Streben, das gleiche Sterben, der gleiche Haß«, heißt es weiter unten im Theatertext (AK 91). Jelinek gräbt also im Anspielen auf den Wahlsieg Donald Trumps ein genuin soziales Phänomen aus, das darin besteht, auf tiefgreifende politische und ökonomische Veränderungen mit »gewalttätiger Einmütigkeit«11 zu reagieren. Vor diesem Hintergrund lassen sich sowohl die Bezüge zum Ku-Klux-Clan und zur sogenannten Identitären Bewegung Österreichs als auch die Verweise auf Gewalttaten monotheistischer Religionen bündeln, von denen Am Königsweg durchzogen ist. Die Inszenierung Falk Richters verbildlicht dies auf eindrückliche Weise, indem sie eine Assemblage produziert, die der Vielschichtigkeit des Jelinek’schen Textes entspricht und sie um zusätzliche Bilder und Gesten bereichert. Abbildung 1: Szene aus »Am Königsweg«, Inszenierung Falk Richter, Schauspielhaus Hamburg 2017
Copyright: Andy Besuch
10 Vgl. Girard: Das Heilige und die Gewalt, S. 121. 11 Ebd., S. 123.
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Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang eine Szene, in der auf der Hinterwand des Theaters eine Abfolge von Exponaten projiziert wird, die im kulturellen Bildergedächtnis des sogenannten Abendlandes fix montiert sind, die aber auch Assoziationen zum religiös motivierten Ikonoklasmus erlauben. Die Darstellungen fungieren als Folie, vor der ein Sprecher performt, der unterschiedliche Attribute der Gewalt trägt: den Spitzhut des Ku-Klux-Klans, Insignien der weltlichen und religiösen Macht (d. h. das Christuskreuz und die königliche Robe) sowie einen Schulterschutz, der im Eishockey üblich ist und damit eine der seltenen Sportarten aufruft, in denen Gewalttaten legitim sind. Wenn wir den Blick nun auf die vier Gestalten lenken, die hinter bzw. unter der höher positionierten Sprechinstanz figurieren und die einander in ihrer physischen Erscheinung beinahe wie ein Ei dem anderen gleichen, dann drängt sich ein weiterer Verweis auf Girard auf, der im Zusammenhang mit der Krise des Opferkults von einer Art Zwillingsphänomen spricht: Wenngleich sich die Gegenspieler in dieser Krise von einem absoluten Unterschied getrennt meinen, so würden sie Hass und Gewalt zu Doppelgängern ihres jeweiligen Feindbildes machen.12 Abbildung 2: Szene aus »Am Königsweg«, Inszenierung Falk Richter, Schauspielhaus Hamburg 2017
Copyright: Andy Besuch
12 Ebd., S. 120.
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Die Krise des Opferkults manifestiert sich in der sogenannten Abrahamitischen Revolution, d. h. in der Absage an das Menschenopfer Isaaks, das durch etwas anderes – nämlich durch ein Tier – ersetzt wird. Dieses Narrativ findet sich sowohl im Buch Genesis des Alten Testaments als auch im Koran in Sure 37 und kann somit als wesentliches Bindeglied zwischen den drei großen monotheistischen Weltreligionen betrachtet werden. Jelinek wiederum, die sich bereits in ihrem Theatertext Wut an dieser Erzählung abgearbeitet hat,13 schreibt sie in Am Königsweg radikal um und führt Isaak letztlich als stellvertretenden Sündenbock vor: Abraham antwortete, was soll er schon sagen: Mein Sohn, Gott wird sich ersehnen einen Schlaf, nein, ein Schaf zum Brandopfer. […] Hier bittesehr, hier ist das Schaf ja schon, […] es muß nur noch geschoren werden, dann können wir es in Ruhe töten. Und es gingen beide miteinander, Vater und Sohn, welcher das Schaf darstellen darf in dieser Laientheater-Vorstellung, die ich mir hier mache. Das muss Abraham aber dann doch nicht tun, so weit würde er nicht gehen, für Zigaretten muß niemand mehr so weit gehen, für Arbeit schon noch. Niemand muß was tun, niemand darf was tun, es gibt nichts zu tun, es gibt keine Arbeit, es gibt nichts zu arbeiten, wie?, jetzt noch nicht, aber bald?, das schau ich mir an! (AK 86 f.)
Die im Judentum, Christentum und Islam genuin eingeschriebene Absage an das Menschenopfer, die »allmählich zu jenem modernen Menschenbild [geführt hat], das jedes menschliche Leben für grundsätzlich heilig hält«,14 wird hier revidiert. Das Schaf, das ersatzweise geschoren und getötet wird, entpuppt sich im Endeffekt als der Mensch selbst. Und lenkt den Blick auf eine finanzkapitalistisch bedingte Pest, die den Menschen auszurotten trachtet und seine Arbeitskraft zu Mangelware und Zankapfel werden lässt. Im Andocken an das abrahamitische Narrativ beackert Am Königsweg den Nährboden für ein gesellschaftspolitisches Klima, in dem das sogenannte ›Andere‹ oder ›Fremde‹ hauptsächlich mit Raub, allem voran mit Arbeitsplatzraub, assoziiert wird. Der Theatertext lässt ein Gewirr von hasserfüllten Stimmen laut werden, das sich auf der fieberhaften Suche nach einem Sündenbock befindet. Bei Sophokles richtet sich dieser Hass auf
13 Vgl. Silke Felber: Im Namen des Vaters. Herakles’ Erbe und Elfriede Jelineks ›Wut‹. In: JELINEK[JAHR]BUCH. Elfriede Jelinek Forschungszentrum 2017. Hg. v. Konstanze Fladischer und Pia Janke. Wien: Praesens 2017, S. 63–71. 14 Wolfgang Palaver: Im Zeichen des Opfers. Die apokalyptische Verschärfung der Weltlage als Folge des Monotheismus. In: Westliche Moderne, Christentum und Islam. Gewalt als Anfrage an monotheistische Religionen. Hg. v. Wolfgang Palaver u. a. Innsbruck: University Press 2008, S. 151–177, hier: S. 157.
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Ödipus, den »Verantwortliche[n] par excellence«.15 Doch wie verhält sich dieser Mechanismus in Zeiten, die Führerpersönlichkeiten wie Donald Trump hervorbringen? […] der König ist nun mal er, und jetzt müßte er eigentlich der sein, in den alles mündet, die Hoffnungen als erstes, die werden schon bald abgehakt sein, aber die Haßgefühle, der Groll, wie wärs mit denen? Richten sich auf ihn, auf den König, auf den Einzigen, auf das versöhnende Opfer. (AK 91)
Die Sündenbockfunktion des Königs figuriert hier nur im Konjunktiv und verweist dadurch auf die Blindheit eines Volkes, das selbst nach augenscheinlich leeren Wahlversprechen und dreister Korruption nicht gewillt ist, die Schuld für die eigene Verschuldung dort zu suchen, wo sie zu finden wäre: nämlich in den Händen von Königen, die sich seit Jahrtausenden als Hüter einer menschlichen Urschuld gerieren, wie der Anthropologe und Anarchist David Graeber ausführt.16
… WIE AUCH WIR VERGEBEN UNSEREN SCHULDIGERN In seinem Weltbestseller Schulden. Die ersten 5000 Jahre, den Jelinek ebenfalls in Am Königsweg zitiert, greift Graeber eine äußerst radikale These des französischen Ökonomen Bruno Théret auf: Geld wurde dessen Annahme nach ursprünglich von souveränen Mächten als Mittel erfunden, um die vermeintliche Schuld, die wir alle der Gesellschaft gegenüber tragen, zu regeln. Ein Mittel, das es erlaubt, das Paradox der Opferung zu lösen. Durch die Institution des Opfers, so Théret, »wird der Glaube in eine Währung überführt, die mit dem Bild des Herrschers geprägt ist – Geld, das in Umlauf kommt, aber dessen Rücklauf über diese andere Institution stattfindet, die Steuer oder die Begleichung der Lebensschuld. So nimmt das Geld die Funktion eines Zahlungsmittels an.«17 Am Königsweg dekonstruiert diesen Mythos der Urschuld und demaskiert den König als Doppelwesen aus Gläubiger und Schuldner: Der König kann sich alles leisten, auch null Einnahmen, sagen wir, […] und seine geringste Sorge dabei sind seine Schulden. Die Vermehrung von Geld wird von ihm nicht als unnatürlich betrachtet, von keinem von uns, der gern mehr davon hätte. Damals hat es be-
15 Girard: Das Heilige und die Gewalt, S. 118. 16 Vgl. David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Leipzig: Goldmann 2013, S. 77. 17 Ebd., S. 76.
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gonnen, wann bitte?, damals, wann auch immer, hat es begonnen, daß Geld nie dort war, wo es sein sollte, sondern herumgewandert ist und sich nach neuen Herrchen umgeschaut hat. Der König hat das Geld, gut so, das macht ihn unabhängig, ein großer Vorteil, nun, deshalb haben wir ihn gewählt, und Gott hat ihn auch dafür gewählt. (AK 26)
Über die Demaskierung des Verhältnisses von Gläubiger und Schuldner hinausgehend, führt diese Passage zudem König Trump mit dem lang ersehnten König Jesus parallel, der durch seine Opferung zum Erlöser der Menschheit mutiert. Das Interessante an diesem ästhetischen Verfahren ist, dass Jelinek dadurch ein christliches Schlüsselnarrativ aufruft, das vollends in die Sprache einer geschäftlichen Transaktion gekleidet ist. Die ursprüngliche Bedeutung des Terminus ›redemptio‹ nämlich impliziert die Rückzahlung einer Schuld. Wenn sich für Friedrich Nietzsche die gesamte Geschichte der Moral als eine darstellt, die genuin auf Kauf und Verkauf basiert, so weist Adam Smith noch vor Lévi-Strauss darauf hin, dass auch die Sprache dem Prinzip des Tauschs unterliegt.18 Jelineks Theatertexte spielen grundsätzlich mit der Verstrickung von Moral, Sprache und Markt und enthüllen die genuine Verbindung von Religion und Kapitalismus. So macht sich die Autorin immer wieder das Phänomen zunutze, dass die Bezeichnungen für ›Schulden‹ in allen indoeuropäischen Sprachen synonym mit ›Sünde‹ und ›Schuld‹ sind. Die daraus resultierenden Sprachspiele und Kalauer sind aus Winterreise, aus der Wirtschaftskomödie Die Kontrakte des Kaufmanns oder aus der Nathan-Fortschreibung Abraumhalde nicht wegzudenken und hinterlassen auch in Am Königsweg deutliche Spuren, wenn es etwa heißt: Das Schicksal nimmt kein Bargeld, das will drahtlose Bezahlung, also ist es bloß Schein? Wo sind denn die ganzen Scheine hingekommen? Ja, das ist ein Geldschein, doch er geldet jetzt nicht mehr. Nein, die vielen Münzen meine ich, die zumindest nach viel aussahen, die gelten aber auch nichts, die schon gar nicht. (AK 16)
Der Text arbeitet hier mit der Homonymie des Scheins, aber auch mit der Genealogie des Wortes Geld, das sich aus dem althochdeutschen gelt ableitet, was so viel heißt wie Lohn und Vergeltung und dadurch einmal mehr die auf dem Prinzip der Reziprozität fußende Verknüpfung von Schuld und Schulden aufruft. Eine Verknüpfung, die uns wiederum auf die Blindheit des Ödipus zurückführt, die im Theatertext Am Königsweg als Leitmotiv fungiert. So konstatiert Moshe
18 Vgl. ebd., S. 103.
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Barasch in seiner Kulturgeschichte der Blindheit: »For many ages blindness was too closely linked with guilt […].«19
DAS WELTANSEHNLICHE Dieser Blindheit, die in Am Königsweg alle Sprechinstanzen eint, stellt Jelinek das Begriffsfeld Sehen/Schauen an die Seite. Über mehrere Seiten spielt die Autorin mit diesen Termini und bildet mit ihnen die Neokomposita des »Weltanschaulichen« und des »Weltansehnlichen«. Ex negativo aufgerufen wird dadurch der konnotative Wandel, den der Begriff der Weltanschauung seit seiner erstmaligen Verwendung durch Immanuel Kant in der Kritik der Urteilskraft durchlaufen hat. Wenngleich an dieser Stelle selbstverständlich keine lückenlose Begriffsgeschichte geliefert werden kann, so sei doch daran erinnert, dass der Terminus bei Kant noch im Kontext der Analytik des Erhabenen fällt, während er in den 1920er- und 1930er-Jahren aufgrund seiner Aneignung durch Nationalisten eine starke Politisierung erfährt, die der als Vordenker der Neuen Rechten geltende Publizist Armin Mohler treffend auf den Punkt bringt. Im Unterschied zur Philosophie, so Mohler, können in der Weltanschauung »Denken, Fühlen, Wollen nicht mehr reichlich geschieden werden […]. Das Denken nimmt werkzeughafte Züge an: es scheint nur noch der Ausgestaltung von vornherein feststehender Leitbilder zu dienen«.20 Eine Beobachtung, die in Am Königsweg widerhallt, wo es heißt: Da greift jetzt etwas, jetzt greift es noch daneben, leider, aber es greift unverdrossen, es umgreift das ganze Fühlen, denn mehr als fühlen ist es ja nicht, mehr als fühlen können die nicht, die Sie gewollt und erwählt haben. Das Weltanschauliche wird jetzt für die, welche die Welt nicht kennen, weil sie sie sich noch nie angeschaut haben, das Weltanschauliche wird, na, was wird es? (AK 4; Hervorhebung: SF)
Das Weltanschauliche verweist hier offenkundig auf den Nationalsozialismus, der sich selbst als Weltanschauung, und nicht als Ideologie, bezeichnet hat und der vor allem in unteren Einkommensschichten wieder salonfähig zu werden scheint:
19 Moshe Barasch: Blindness. The History of a Mental Image in Western Thought. London: Routledge 2001, S. 133. 20 Armin Mohler: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972, S. 17.
Blind vor Hass: Elfriede Jelineks Am Königsweg | 353
[…] was bleibt den ärmeren Schichten übrig, wenn sie auch was sehen wollen, das sie nicht verstehen? […] Sie können das Weltansehnliche, nein, das haben Sie zwar auch, doch das Weltanschauliche soll es jetzt sein, das soeben zur Weltanschauung geworden ist, das können Sie sich an den Hut stecken, und so zeigen Sie sich jetzt der Welt, damit Sie vorgereiht und deutlich erblickt werden können von der Aussichtsplattform. (AK 8)
Ohne politische Phänomene wie die AfD oder die Identitäre Bewegung namentlich zu nennen, dokumentiert Jelineks Theatertext in kalauernder Manier mithin eine Gegenwart, in der gewisse Dinge wieder schicklich und sagbar werden, die in den letzten 60 Jahren als verpönt und unsagbar gegolten hatten. Wie ich zu zeigen versucht habe, verwebt Am Königsweg den antiken sophokleischen Tragödientext mit philosophischen Versatzstücken und Bibelzitaten und legt dadurch Spuren, die es erlauben, die Konzepte ›Religion‹ und ›Kapitalismus‹ als eng miteinander verknüpfte Systeme zu erkennen. Als Systeme, die darauf abzielen, die Schuld eines souveränen ›Königs‹ auf vermeintliche Schuldner abzuwälzen. Ohne eindeutige Opfer-Täter-Skizzierungen vorzunehmen, porträtiert der Theatertext dadurch ein gegenwärtig auszumachendes, von Hass gesteuertes Klima, in dem das ›Andere‹ durchaus eine elementare Funktion hat: nämlich die des Sündenbocks.
LITERATUR Abate, Michelle Ann: Taking Silliness Seriously: Jim Henson’s ›The Muppet Show‹, the Anglo-American Tradition of Nonsense, and Cultural Critique. In: The Journal of Popular Culture 42 (2009), H. 4, S. 589–613. Aristoteles: Rhetorik. München: Fink 1980. Barasch, Moshe: Blindness. The History of a Mental Image in Western Thought. London: Routledge 2001. Bude, Heinz: Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen. München: Hanser 2016. Felber, Silke: Im Namen des Vaters. Herakles’ Erbe und Elfriede Jelineks ›Wut‹. In: JELINEK[JAHR]BUCH. Elfriede Jelinek Forschungszentrum 2017. Hg. v. Konstanze Fladischer und Pia Janke. Wien: Praesens 2017, S. 63–71. Fuß, Peter: Das Groteske. Ein Medium des kulturellen Wandels. Köln: Böhlau 2001. Girard, René: Das Heilige und die Gewalt. Ostfildern: Patmos 2012. Graeber, David: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Leipzig: Goldmann 2013.
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Jelinek, Elfriede: Am Königsweg. Reinbek: Rowohlt 2016 (= unveröffentlichtes Bühnenmanuskript). Mohler, Armin: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972. Palaver, Wolfgang: Im Zeichen des Opfers. Die apokalyptische Verschärfung der Weltlage als Folge des Monotheismus. In: Westliche Moderne, Christentum und Islam. Gewalt als Anfrage an monotheistische Religionen. Hg. v. Wolfgang Palaver u. a. Innsbruck: University Press 2008, S. 151–177.
Konstruktionen des Terrors Zur Hassrede in den Romanen Jenseits von Deutschland von George Tenner und Das dunkle Schiff von Sherko Fatah Stephanie Willeke
1
ÜBERLEGUNGEN ZUM VERHÄLTNIS VON TERRORISMUS UND HASS
Das Wesensmerkmal der Terroristen ist Hass: Sie hassen Demokratie und Toleranz und die freie Meinungsäußerung und Frauen und Juden und Christen und jeden Moslem, der ihre Meinung nicht teilt. […] Diese Feinde morden im Namen einer falschen religiösen Reinheit und pervertieren damit den Glauben, den sie vorgeblich bekennen. In diesem Krieg verteidigen wir nicht bloß Amerika oder Europa: Wir verteidigen die Zivilisation als solche.1
Diese Sätze stammen aus der Rede des damaligen US-amerikanischen Präsidenten George W. Bush, die er im Mai 2002 vor dem Deutschen Bundestag gehalten hat. Das intendierte Ziel ist klar ersichtlich, es geht um die Mobilisierung der Staatengemeinschaft zum sogenannten ›Krieg gegen den Terror‹, der im Nach-
1
Rede von US-Präsident George W. Bush vor dem Deutschen Bundestag Berlin, 23.05.2002.
http://webarchiv.bundestag.de/cgi/show.php?fileToLoad=838&id=1074
(30.07.2018). Noam Chomsky macht darauf aufmerksam, dass auch die Stimmen im medialen Diskurs, hier am Beispiel der New York Times, vornehmlich auf den Hass auf die ›westlichen‹ Werte abzielten. »Die Politik der USA ist unwichtig und muß daher gar nicht erwähnt werden. Das ist ein beruhigendes Bild und eher die Norm als die Ausnahme. Es steht quer zu allem, was wir wissen, dient aber der Selbstbeweihräucherung und der kritiklosen Unterstützung der Macht.« Noam Chomsky: The Attack. Hintergründe und Folgen. Hamburg/Wien: Europa 2002, S. 20.
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klang der am 11. September 2001 verübten Terroranschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington, D.C. ausgerufen wurde. Als Mittel für diese Mobilisierung wird auf semantischer Ebene eine Zuordnung in zwei Kategorien deutlich: die als ›Feind‹ Bezeichneten werden mit den Wörtern ›Hass‹, ›morden‹, ›falsch‹ und ›pervertieren‹ belegt, die andere Kategorie umfasst das Hassobjekt des Feindes: ›Demokratie‹, ›Toleranz‹, ›freie Meinungsäußerung‹, ›die Zivilisation‹. Diese dichotomen Kategorien bilden die strukturelle Grundlage für einen spezifischen Deutungsrahmen, in dem das Binäre bis ins Extrem gesteigert wird: »Die Akteure des ›Global War on Terror‹ […] sind in ihrem eigenen Narrativ nicht nur die Guten, die für die Werte der Freiheit und der Gerechtigkeit eintreten; sie sind auch Helfer und Retter der Frauen und anderer tatsächlich oder vermeintlich unterdrückter Gruppen […]. Umgekehrt sind die Bösen mehr als nur böse: sie sind wahrhafte Monster.«2 In diesem Kontext steht auch die Deutung der Anschläge als Kriegserklärung und, der Logik des Krieges folgend, der Ausruf des ›War on Terrorism‹. Damit hängt eng zusammen, was Carl Schmitt in seiner Theorie des Partisanen konstatiert, nämlich, dass eine Kriegserklärung immer auch eine »Feind-Erklärung«3 ist. Die Anschläge vom 11. September zeichnen sich gerade durch die Gleichzeitigkeit dieser beiden Erklärungen aus: Sie werden als kriegerischer Angriff gedeutet4 und zugleich ist ›der Feind‹ und sein Vernichtungswille durch die Anschläge in vorher unbekanntem Ausmaß in Erscheinung getreten, weshalb der ausgerufene ›Krieg gegen den Terror‹ als die beantwortende Kriegserklärung gelesen werden kann.5 Die damit einhergehende Feinderklärung indes bezieht sich zunächst allgemein auf den Terrorismus, also auf ein Abstraktum, was dazu führt, dass der Feind erst näher bestimmt und definiert werden muss, um ihn
2
Volker M. Heins: Der »War on Terror« als Schauergeschichte. In: Großerzählungen des Extremen. Neue Rechte, Populismus, Islamismus, War on Terror. Hg. v. Jennifer Schellhöh, Jo Reichertz, Volker M. Heins und Armin Flender. Bielefeld: transcript 2018, S. 171–175, hier: S. 172.
3
Carl Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Berlin: Duncker und Humblot 21975, S. 87.
4
Dies gilt nicht nur für den damaligen amerikanischen Präsidenten Bush, der einen Tag nach den Anschlägen von einem kriegerischen Akt sprach, sondern bezieht sich auch auf die formaljuristische Ebene, indem Artikel 51 der UN-Charta, ursprünglich ausschließlich auf Staaten bezogen, in Kraft trat.
5
Vgl. dazu auch Judith Butler: Erklärungen und Entlastung oder: Was wir hören können. In: dies.: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 18–35, hier: S. 20 f.
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durch Kriegsführung bekämpfen zu können. In diesem Sinne gehört zu den strukturierenden Deutungsmustern im politischen Diskurs auch die Konkretisierung des Feindes, zum Beispiel durch die Etablierung der wertend-exkludierenden Rede von ›Schurkenstaaten‹ (›Rogue States‹) und der ›Achse des Bösen‹ (›Axis of Evil‹) oder durch die Identifizierung von Anführern terroristischer Organisationen wie Osama bin Laden. Bushs Rede zeugt von diesem eingrenzenden Definitionsversuch, denn ihr ist ein zweifacher Homogenisierungsmechanismus eingeschrieben, der einerseits die Konstruktion des Eigenen determiniert, indem durch das Heraufbeschwören eines gemeinsamen Feindes nationale Unterschiede eingeebnet werden. Derartige »kulturalisierende[ ] Deutungen«6 der Anschläge kommen auch in Formulierungen wie in dem programmatischen Satz: »Heute sind wir alle Amerikaner«,7 den der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende und spätere Verteidigungsminister Peter Struck einen Tag nach dem 11. September im Bundestag äußerte, zum Ausdruck. Andererseits wirkt dieser Mechanismus in Bezug auf den zum Feind Deklarierten, wobei als konstitutives Merkmal zur Bestimmung ›der‹ Terroristen der Hass gesetzt wird, der auf die Vernichtung der sogenannten ›westlichen‹ Welt und vor allem deren Werte abzielt. Damit wird keine Begründung für diesen Affekt gegeben, sondern vielmehr eine klare Ordnung wiederhergestellt, in der »das Fremde nicht mehr fremd [erscheint], sondern der eigenen Logik einverleibt«8 wird. Das darin zugeschriebene Charakteristikum ist ein Topos, der sich aus einer jahrhundertelangen Traditionslinie speist, die ihren Ausgang im Mittelalter nimmt und dem Islam eine grundlegend gewalttätige, auf Vernichtung anderer Religionen ausgelegte Komponente zuweist.9 Die Verwendung die-
6
Christian Berndt/Robert Pütz: Kulturelle Geographien nach dem Cultural Turn. In: Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn. Hg. v. dens. Bielefeld: transcript 2007, S. 7–29, hier: S. 20.
7
Vgl. die Erklärung des Vorsitzenden der SPD-Fraktion Dr. Peter Struck zu den Anschlägen in den Vereinigten Staaten von Amerika (12.09.2001) http://www.document Archiv.de/brd/2001/rede_struck_terror-usa.html (30.07.2018).
8
Jo Reichertz: Umbau, Renovierung oder neuer Anstrich? Der 11. September und die (neue) deutsche Sicherheitsarchitektur. In: Irritierte Ordnung. Die gesellschaftliche Verarbeitung von Terror. Hg. v. Ronald Hitzler und Jo Reichertz. Konstanz: UVK 2003, S. 215–240, hier: S. 217. Vgl. dazu auch Anil K. Jain: »Terror« oder die Normalität des Schreckens. Ebd., S. 31–49, hier: S. 41: »Alles Uneindeutige, das die etablierte Ordnung gefährdet, muss ›zwanghaft‹ in Eindeutigkeit überführt werden – um ihm so den Schrecken (der Ambivalenz) zu nehmen.«
9
Vgl. Werner Ruf: Der Islam – Schrecken des Abendlandes. Wie sich der Westen sein Feindbild konstruiert. Köln: PapyRossa 2012, S. 61 ff. Ruf macht anhand von Bei-
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ses Topos zeugt davon, dass der sogenannte ›Orient‹, verstanden als ein auf hegemonialen Macht- und Herrschaftsverhältnissen basierendes Konstrukt, wie es Edward Said ausgearbeitet hat,10 als Projektionsfläche verschiedener Akteure und Anschauungen galt und gilt, der unterschiedliche Eigenschaften im Sinne einer Wesensbestimmung zugeschrieben werden. Derartige negative Codierungen werden im Zusammenhang der gegenwärtigen Terroranschläge reaktiviert, mit neuen Bedeutungsebenen versehen und als Erklärungsmodelle herangezogen mit dem Ziel, die Geschehnisse in eine historische Fluchtlinie zu stellen und somit die Kontingenzerfahrung sinnstiftend zu integrieren. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als durch den Zusammenbruch der Sowjetunion die duale Konzeption von Kommunismus vs. Kapitalismus ihre antithetische und damit zugleich jeweils selbstlegitimierende Funktion verlor.11 Diese Lücke, so analysiert Reinhard Schulze, wurde alsbald gefüllt, indem der »Islam […] nun nicht nur als ideologische Antithese begriffen [wurde], sondern als gesamtkulturelle Antithese zum Westen und seiner universalistischen Identität. Der Islam gerät so zur Begründung des Gegen-Westens, zur Gegen-Moderne, ja zur Gegen-Zivilisation.«12 Eine daraus folgende Konsequenz, die ein zentrales Charakteristikum des Hasses in diesem Kontext darstellt, ist die evozierte Gegenseitigkeit dieses Affekts: Sie hassen uns, deswegen hassen wir sie. Das Abstecken der dichotomen Parameter des Nine-Eleven-Diskurses ist damit an schematisierte Emotionen gebunden, wie beispielsweise Christer Petersen betont: »Von nun an galt es bloß noch, sich mit den Guten zu identifizieren und gegen die Bösen abzugrenzen: Die Opfer konnten betrauert, die Helden bewundert und die Täter gehasst werden.«13 Auf die Konzeption starrer Dualismenbildung in Kriegszeiten hat ebenfalls Judith Butler hingewiesen, wobei sie die damit verbundenen Affekte fokus-
spielen wie dem Ersten Kreuzzug von 1099 sowie dem Krieg zwischen dem Reich der Habsburger und dem der Osmanen (1683) das konstruierte Feindbild ›die Türken‹ aus. Literarische Texte wie Ludwig Uhlands Der wackere Schwabe (1814) zeugen davon und tradierten derartige Konstrukte zugleich. 10 Vgl. Edward W. Said: Orientalismus. Frankfurt a. M.: Fischer 2009. 11 Reinhard Schulze: Vom Anti-Kommunismus zum Anti-Islamismus. Der KuwaitKrieg als Fortschreibung des Ost-West-Konflikts. In: Peripherie 41 (1991), S. 5–12, hier: S. 7. 12 Ebd. 13 Christer Petersen: Tod als Spektakel. Skizze einer Mediengeschichte des 11. Septembers. In: Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001. Hg. v. Ingo Irsigler und Christoph Jürgensen. Heidelberg: Winter 2008, S. 195–218, hier: S. 207.
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siert, die »von bestimmten Interpretationsrahmen reguliert«14 werden und eine Einteilung in betrauerbares und nicht betrauerbares Leben etablieren. Sie führt in diesem Kontext aus: Wenn mir eine Bevölkerung als eine direkte Bedrohung meines Lebens erscheint, nehme ich ihre Mitglieder nicht als ›Leben‹, sondern als Lebensgefahr wahr. Man muss bedenken, wie sich diese Einstellung verhärtet, wenn der Islam als barbarisch oder vormodern gilt, so als habe er sich noch nicht ganz jenen Normen angepasst, die das Menschliche erkennbar machen.15
Hierdurch nimmt Butler einen komplementären Blickwinkel zu Bush auf die Affekte ein, denn während dieser terroristischen Gruppierungen den Hass pauschal als definierendes Wesensmerkmal zuschreibt, woraus eine Feinderklärung resultiert, nimmt Butler die darauf basierende Wahrnehmung u. a. dieser Gruppierungen in den Blick. Mit der Differenzierung in betrauerbares und nicht betrauerbares Leben benennt sie als eine Folge des Hasses, dass bestimmten Gruppen in der affektregulierten Wahrnehmung das vollwertige Leben abgesprochen werde.16 Kleinsteuber argumentiert sogar dahin gehend, dass das Freund-FeindSchema in der militärischen Logik Auswirkungen auf die Behandlung des zu hassenden oder zumindest zu bekämpfenden Feindes hat: die Tötungshemmung werde herabgesetzt.17 Bemerkenswert ist nicht nur, dass sich Feindbilder, die durch »Hasspropaganda aktiviert werden«,18 gerade dadurch auszeichnen, dass durch sie einer bestimmten Gruppe Merkmale zugeschrieben werden, die aus dem Selbstbild verbannt werden sollen – und damit das Feindbild immer auch direkt auf das
14 Judith Butler: Über Lebensbedingungen. In: dies: Krieg und Affekt. Hg. und übers. v. Judith Mohrmann, Juliane Rebentisch und Eva von Redecker. Zürich: Diaphanes 2009, S. 11–52, hier: S. 22. 15 Ebd., S. 23. 16 Ebd., S. 24. 17 Vgl. Hans J. Kleinsteuber: Terrorismus und Feindbilder. Zur visuellen Konstruktion von Feinden am Beispiel von Osama bin Laden und Saddam Hussein. In: Bilder des Terrors – Terror der Bilder? Krisenberichterstattung am und nach dem 11. September. Hg. v. Michael Beuthner, Joachim Buttler, Sandra Fröhlich u. a. Köln: Herbert von Halem 2003, S. 206–237, hier: S. 208. 18 Ebd., S. 210.
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Selbstbild verweist19 –, sondern auch, dass sich diese häufig pauschalisierenden Vorstellungen auf Kollektive beziehen und dadurch ein »Wesensgegensatz[ ]«20 von Gruppenidentitäten postuliert wird. Der damit verbundene relationale Vernichtungswille bringt zum Ausdruck, dass Hass eine Beziehungsform ist, die nicht auf Veränderung ausgelegt ist.21 Davon zeugen zum einen die von unterschiedlichen Akteuren des politischen Diskurses geäußerte Aussage »Wir verhandeln nicht mit Terroristen« und zum anderen die Metapher des ›absolut Bösen‹; beides verweist auf den eine Diskussionsbasis negierenden Ausschluss der zum Feind erklärten Gruppe und darauf, dass es sich bei Feindschaft um eine Beziehung handelt, die sich in einer asymmetrischen Form manifestiert.22 Diese zeichnet sich dadurch aus, »daß die Bezeichnenden sich selbst nicht als etwas Meßbares und als etwas Relatives – wie die Bezeichneten – in die Rede einbringen, sondern als Maßstab selbst, der dann selbst nichts zu Messendes ist«.23 Das bedeutet, dass eine imaginierte Gemeinschaft,24 die sich als »neutral, normal und normativ«25 begreift, zumindest implizit den Anspruch erhebt, das Andere durch konstruierte Differenzen markieren zu können. Eine Unterscheidung in einem ähnlichen Kontext liegt auch dann vor, wenn die Bezeichnung ›Terroristen‹ zum politischen Schlagwort wird, um Kampfhandlungen zu legitimieren, woraus häufig ein reziprokes Verhältnis resultiert, in dem sich beide Seiten terroristischer Absichten beschuldigen.26
19 Vgl. Rolf Haubl: Feindbilder. In: Was ist Hass? Phänomenologische, philosophische und sozialwissenschaftliche Studien. Hg. v. Stephan Uhlig. Berlin: Parodos 2008, S. 29–34, hier: S. 30. 20 Marta Wimmer: »Hass ist ein schönes, klares Gefühl.« Versuch einer Begriffsbestimmung. In: Diese Lust an der Kultur-Theorie. Transdisziplinäre Interventionen. Hg. v. Anna Babka, Daniela Finzi und Clemens Ruthner. Wien: Turia + Kant 2013, S. 232–242, hier: S. 240. 21 Vgl. ebd., S. 235. 22 Vgl. Haubl: Feindbilder, S. 31. 23 Mona Singer: Fremd. Bestimmung. Zur kulturellen Verortung von Identität. Tübingen: Edition diskord 1997, S. 49. 24 Vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt a. M.: Campus 21996. 25 Singer: Fremd. Bestimmung, S. 50. 26 So formuliert Hoffman zugespitzt: »Der Terrorist wird stets behaupten, die Gesellschaft oder die Regierung oder das sozioökonomische ›System‹ und seine Gesetze seien die wirklichen ›Terroristen‹, und darüber hinaus wird er sagen, gäbe es diese Unterdrückung nicht, dann würde er nicht die Notwendigkeit gespürt haben, sich
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Für die Krieg und Terrorismus thematisierenden literarischen Texte gilt in besonderem Maße die Forderung, dem gegenwärtigen Geschehen eine Deutung, eine Vorstellung oder Erklärung für das Unbegreifliche zu verleihen und diesem mit Sinnstiftung und Kohärenzbildung zu begegnen. Denn zu kaum einem anderen Zeitpunkt sind die RezipientInnen der Romane so gut durch andere mediale Darstellungen über die Kriege und terroristischen Anschläge informiert, aber zugleich auch derartig verunsichert: Umfragen zeigen, dass die Angst vor Terroranschlägen in Deutschland nie zuvor so hoch war wie 2017.27 Einerseits lässt sich dafür ein Grund in der Art der Informationen ausmachen, die oftmals in den Nachrichten offeriert werden und den Fokus im Sinne des Informationswertes vor allem auf die Ausmaße der Zerstörung, auf Opferzahlen usw. legen, wohingegen Erklärungen und Hintergrundinformationen insbesondere aus ökonomischen Abwägungen heraus seltener den Schwerpunkt bilden.28 Andererseits steht dies natürlich auch mit dem Wesen des Terrorismus in unmittelbarem Zusammenhang, das sich durch sein plötzliches Hereinbrechen in die soziale Ordnung und seine darauf basierende Undurchschaubarkeit auszeichnet. Die so hervorgerufene Angst bezieht sich also auf einen unberechenbaren Feind, der potenziell jederzeit die Ordnung aus den Fugen heben kann. In diese Richtung weist auch Lars Koch: »Bezeichnend für die Angst nach der Jahrtausendwende ist also, dass sie räumlich und zeitlich einer Zone der Unsichtbarkeit und der Latenz ent-
selbst oder die Bevölkerung, die er zu vertreten in Anspruch nimmt, zu verteidigen.« Bruce Hoffman: Terrorismus – Der unerklärte Krieg. Neue Gefahren politischer Gewalt. Frankfurt a. M.: Fischer 22007, S. 53 f. 27 Vgl. R+V Versicherung: Die Ängste der Deutschen 2017. https://www.ruv.de/presse/ aengste-der-deutschen/grafiken-die-aengste-der-deutschen (30.07.2018). So konstatiert auch Anne Winkel: »Der 11. September löste eine Fülle von neuen Ängsten aus, die zum Teil auf alten Ängsten aufbauten, diese verstärkten bzw. latente Ängste manifestierten. Potenziert wurden die Ängste im öffentlichen Diskurs durch die Berichterstattung, durch das Zeigen und Erörtern möglicher Terrorszenarien in den Medien sowie durch das Heraufbeschwören einer diffusen Gefahr.« Anne Winkel: Der 11. September und die Angst. Perspektiven in Medien, Literatur und Film. Marburg: Tectum 2010, S. 45. 28 Vgl. dazu Martin Löffelholz: Beschleunigung, Fiktionalisierung, Entertainisierung. Krisen (in) der »Informationsgesellschaft«. In: Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation. Hg. v. dems. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 49–64; Jürgen Wilke: Krieg als Medienereignis – Konstanten und Wandel eines endlosen Themas. In: Medien und Krieg – Krieg in den Medien. Hg. v. Kurt Imhof und Peter Schulz. Zürich: Seismo 1995, S. 21–35.
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springt.«29 Die Katastrophe wird »als ein vorausliegendes Ereignis imaginiert, das aber schon die Gegenwart betrifft«, woraus »die Proliferation der Angst [resultiert], die den Alltag mit einem Hintergrundrauschen der Bedrohlichkeit auffüllt.«30 Ein wertendes und deutendes Bild der außertextuellen Welt scheint daher als Aufgabe besonders den narrativen Medien und hier besonders der Literatur zuzufallen. Die Relation zwischen außerliterarischer und innerliterarischer Welt ist in diesen Romanen durch ein enges Wechselverhältnis geprägt, das zum Beispiel dann zum Ausdruck kommt, wenn durch zahlreiche direkte Bezüge – die Nennung von Personen, Staaten etc. – Referenzpunkte hergestellt werden. Damit soll in keiner Weise der fiktionale Charakter der Romane in Zweifel gezogen werden, ganz im Gegenteil: Im Gegensatz zu den Romanen, die im Echo der beiden Weltkriege publiziert wurden und oftmals explizit den Versuch darstellen, eine ungeschönte, ›authentische‹ Wirklichkeitsdarstellung zu artikulieren, bedienen sich die Romane über die gegenwärtigen Geschehen eines breiten Feldes fiktionaler Konfigurationen. Dies hängt auch damit zusammen, dass die RezipientInnen der deutschsprachigen Romane in erster Linie keine direkt Involvierten des Krieges oder Opfer von terroristischen Attentaten sind. Eine Deutung dieses als einerseits medial dominant vertretenen und andererseits vornehmlich als fremd empfundenen Phänomens des Terrorismus erscheint daher umso vordringlicher. So schreiben sich die literarischen Texte in einen spannungsvollen Diskurs ein, der sich durch bestimmte mediale und kulturelle Codes auszeichnet. Dabei greifen die Texte häufig auf Muster der außerliterarischen Kommunikationsprozesse zurück.31 Ein Roman, für den zahlreiche Referenzpunkte festgestellt werden können, ist Jenseits von Deutschland von George Tenner.32 Die Frage, wie dieser Text
29 Lars Koch: Angst und Gewalt in der Literatur: Historizität, Semantik und Ausdruck. In: Handbuch Sprache in der Literatur. Hg. v. Anne Betten, Ulla Fix und Berbeli Wanning. Berlin/Boston: De Gruyter 2017, S. 18–54, hier: S. 48. 30 Ebd. 31 Vgl. Thomas Anz: Freunde und Feinde. Kulturtechniken der Sympathielenkung und ihre emotionalen Effekte in literarischen Kriegsdarstellungen. In: Repräsentationen des Krieges. Emotionalisierungsstrategien in der Literatur und in den audiovisuellen Medien vom 18. Jahrhundert bis zum 20. Jahrhundert. Hg. v. Søren R. Fauth, Kasper Green Krejberg und Jan Süselbeck. Göttingen: Wallstein 2012, S. 335–354, hier: S. 335. 32 George Tenner: Jenseits von Deutschland. Oldenburg: Schardt 2011. Diese Ausgabe wird unter Verwendung der Sigle JD und der entsprechenden Seitenzahl im Fließtext zitiert.
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und der Roman Das dunkle Schiff von Sherko Fatah33 durch ästhetische Verfahren und Darstellungsweisen das Phänomen Terrorismus ordnend strukturieren und konstruieren, leitet die folgenden Überlegungen.34 Zu bedenken ist dabei, dass das inszenierte Fremd- und Feindbild auch direkt auf den eigenen gesellschaftlichen Diskurs verweist, was nicht nur verdeutlicht, wie die konstruierten Gruppierungen gesehen und gedeutet werden, sondern zuallererst die weltdeutenden Mechanismen zur Bestimmung dieser Kategorie offenbart. Gezeigt werden soll, wie durch den sinnstiftenden Akt des Konstruierens von terroristischen Figuren spezifische Bilder dieser Gruppen entworfen werden, wobei besonders der Hass eine konstitutive Komponente des Fremdbildes darstellt. Gerade durch das Benennen und Bebildern wird die Beziehung zum Feind enger, wie Herfried Münkler aus politologischer Sicht deutlich macht: »Namen und Bilder verwandeln den unbestimmten Artikel ins Possessivpronomen: aus ein Feind wird mein Feind.«35 Indem also die Romane Terroristen beschreiben, arbeiten sie zugleich an der Konstruktion und dem Deutungsmuster dieser Bilder mit. Die These, die entfaltet werden soll, zielt auf die unterschiedlichen Darstellungsweisen des hassbesetzen Feindbildes: Obwohl beide Romane in Bezug auf die außerliterarische Referenz auf die gleiche Ausgangsbasis rekurrieren, bilden sie doch zwei gegensätzliche Pole bezüglich der Funktion, die der Hass in den Texten einnimmt, und des darauf basierenden Deutungsrahmens des ›War on Terror‹. Nach einer kursorischen Analyse der Romane sollen diese beiden Pole als substantialistisch und als konstruktivistisch charakterisiert werden.
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DER HASS DER ANDEREN – GEORGE TENNERS JENSEITS VON DEUTSCHLAND
Der 2011 erschienene Roman Jenseits von Deutschland thematisiert vor allem Bundeswehrsoldaten, die im Afghanistankrieg agieren. Ein Blick auf die Paratexte, die mit Genette als eine Schwelle des literarischen Textes fungieren mit
33 Sherko Fatah: Das dunkle Schiff. München: btb 2008. Diese Ausgabe wird mit der Sigle DS und der entsprechenden Seitenzahl im Fließtext zitiert. 34 Vgl. zu diesen und weiteren Romanen, die die neuen Kriege und islamistischen Terrorismus thematisieren: Stephanie Willeke: Grenzfall Krieg. Zur Darstellung der neuen Kriege nach 9/11 in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bielefeld: transcript 2018. 35 Herfried Münkler: Politische Bilder, Politik der Metaphern. Frankfurt a. M.: Fischer 1994, S. 22.
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dem Ziel, den Rezeptionsakt zu lenken,36 lässt erste Anhaltspunkte für das ästhetische Verfahren der Darstellung von Krieg und Terrorismus des Romans erkennen. Die drei Paratexte Literaturliste, Danksagung und das mit dem Wort »Anhang« (JD 237) betitelte Glossar bilden einen Text-Raum, der zum einen wirklichkeitssuggerierend ist und zum anderen ein gewisses Maß an Wissenschaftlichkeit ausstellt. Hier werden zahlreiche dem Roman als Grundlage dienende Texte erwähnt, die zu Recherchezwecken studiert sowie Gespräche, die mit Bundeswehrsoldaten geführt worden seien. Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass Paratexte wie vor allem Glossare im Kontext der Romane, die die neuen Kriege und Terrorismus thematisieren, keine Seltenheit darstellen, um bestimmte Begrifflichkeiten und militärisches Fachvokabular zu erklären und zumeist arabische Wörter zu übersetzen. Neben der suggerierten Authentizität zeugt auch der Umschlagtext von Jenseits von Deutschland deutlich von einer Absicht der Leserlenkung und macht bereits hier die intertextuellen Relationen sichtbar, die den Roman insgesamt stark auszeichnen. »Dieser Anti-Kriegsroman gewährt im Stile von Erich Maria Remarques ›Im Westen nichts Neues‹ einen Einblick in das Seelenleben von Soldaten, die an einem bewaffneten Auslandseinsatz teilnehmen«, lautet dort der erste Satz. Damit ist nicht nur der Impetus des literarischen Textes durch den Marker ›Anti-Kriegsroman‹ deutlich vorgegeben, sondern er wird zudem in einer bestimmten literarischen Traditionslinie verortet, denn mit Im Westen nichts Neues wird sowohl ein ausgesprochen bedeutendes und erfolgreiches Werk aufgerufen als auch eine bestimmte Schreibweise, mit der der Erste Weltkrieg literarisiert wird, und darüber hinaus wird eine Verbindung zum Nationalsozialismus hergestellt, da zahlreiche Exemplare dieses Romans bereits 1933 bei der Bücherverbrennung aufgrund seiner kritischen Positionierung zum Krieg vernichtet wurden. Daneben ist die historische Fluchtlinie des Krieges, die durch die intertextuelle Relation den Afghanistankrieg mit dem Ersten Weltkrieg in einen Zusammenhang bringt, bedeutend, denn im Gegensatz zu dem Klappentext, der von einem ›bewaffneten Auslandseinsatz‹ spricht, werden in dem Roman immer wieder gegen die zum Entstehungszeitpunkt im politischen Diskurs vorherrschende Sprechweise Argumente ins Feld geführt, dass es sich um ein Kriegsgeschehen handelt. Durch die hergestellte Verbindung mit der literarischen Tradition des Anti-Kriegsromans wird dieses inhaltliche Moment auch auf formaler Ebene eingeführt. Damit kann für die verschiedenen Paratexte festgehalten wer-
36 Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M./New York: Campus 1992.
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den, dass sie einen bestimmten Referenzraum abstecken, der das Bild eines wissenschaftlich fundierten Anti-Kriegstextes entwirft. Der Titel des Romans Jenseits von Deutschland birgt zumindest zwei Lesarten: Zum einen wird hier auf die geografische Verortung des Geschehens – des Afghanistankrieges – verwiesen und damit die räumliche Distanz zwischen den RezipientInnen und dem thematisierten Krieg ausgestellt. Gerade die Überwindung dieser Distanz im Zuge der Narrativierung ist ein wesentlicher Aspekt, der mit dem literarischen Schreiben über den Krieg in Zusammenhang gebracht wird. Zum anderen beinhaltet der Titel jedoch auch eine spezifische Relation: etwas befindet sich jenseits von Deutschland. Damit kann der Titel auch als asymmetrische Bezeichnungspraxis gewertet werden, indem das konstruierte ›Eigene‹ – hier also Deutschland – als normsetzend inszeniert und so zur Bezugsgröße erhoben wird, zu dem ›das Andere‹ nur in Relation – jenseits – existiert. In dieser Lesart wird mit dem Titel eine mit Wertigkeiten verbundene Sprache etabliert, die die Welt in Kategorien einteilt, ein Verfahren, das sich auch im Inhalt manifestiert, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Die Darstellung zeichnet sich besonders durch die hohe Quantität der Figuren aus, deren Großteil von verschiedenen Soldaten eingenommen wird, wodurch eine Emotionalisierung, die auf eine Einfühlung in einen einzigen Protagonisten abzielt, verhindert wird. Dabei fällt besonders auf, dass die vermeintliche Polyphonie der Stimmen eine einzige homogene Meinung des Soldatenkollektivs zum Ausdruck bringt, die darauf abzielt, den Krieg als nicht gewinnbar, sinnlos und als völlige Fehlkalkulation der Politiker, die darüber hinaus das Geschehen nicht als Krieg bezeichnen wollen, zu markieren. Zudem wird der Afghanistankrieg immer wieder als ›ungerechter‹ Krieg bezeichnet, womit offenbar nicht das philosophische Konstrukt gemeint ist, das mit dem ius in bellum, ius ad bellum und ius post bellum festlegt, ob ein Krieg gerechtfertigt erscheint oder nicht,37 sondern was vielmehr auf eine moralische Verurteilung des Krieges durch die dargestellten Soldaten abzielt. Die Aussagen der zahlreichen Figuren lassen eine starke Emotionalisierung erkennen, wie sie sich beispielsweise in folgenden Sätzen eines Bundeswehrsoldaten manifestiert:
37 Vgl. Anne Peters/Simone Peter: Lehren vom »gerechten Krieg« aus völkerrechtlicher Sicht. In: Der »gerechte Krieg«. Zur Geschichte einer aktuellen Denkfigur. Hg. v. Georg Kreis. Basel: Schwabe 2006, S. 43–96; Otto Kimmich: Der gerechte Krieg im Spiegel des Völkerrechts. In: Der gerechte Krieg: Christentum, Islam, Marxismus. Redaktion Reiner Steinweg. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 206–223.
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»Keiner kann sich vorstellen, der noch niemals in solchen Gegenden gewesen ist, was es bedeutet, Tag für Tag an so einem verfluchten Platz, dem Arsch der Welt, zu vegetieren«, sagte Wolfgang leise. »Schuld daran sind alle Politiker, die unsere Jungs nicht in ein Land, sondern in eine Hölle geschickt haben. […] Und wofür? Dafür, dass die Islamisten uns irgendwann Bomben in unsere Städte tragen, so wie in Madrid oder in London. Vorerst begnügen sie sich aber damit, unsere Jungs vor Ort totzuschießen.« Wolfgang war so aufgeregt, dass sein Gesicht konvulsiv zuckte und rote Flecken bekam. (JD 19)
Diese Aussage ist exemplarisch sowohl für das verwendete, oftmals derbe Sprachregister als auch für die artikulierte Meinung der verschiedenen Soldaten und die hohe Emotionalität, die im Falle des Soldaten Wolfgang ihre Realisierungsform nicht nur durch den Inhalt findet, sondern auch durch die Beschreibung seiner körperlichen Reaktionen durch den Erzähler. Bis auf sehr wenige Ausnahmen werden alle Soldaten als mit dem Krieg hadernd dargestellt, was sogar mehrfach zum Suizid führt: um dem Kriegseinsatz zu entgehen oder aufgrund der Posttraumatischen Belastungsstörung nach dem Kriegseinsatz. Ein weiteres Merkmal des Soldatenbildes liegt in der heroischen Überhöhung – auch in ausweglosen Situationen, an denen sowohl die Politiker Schuld tragen, weil sie die Soldaten nicht genügend ausstatten, als auch die Terroristen, die sie in unwegsamem Gelände überfallen, kämpfen sie bis zum Schluss. Das Bild der Bundeswehrsoldaten, das sich aus zahlreichen Episoden zusammensetzt, dient als Kontrastfolie für die Darstellung der dem Soldatenkollektiv antithetisch gegenüberstehenden Terroristen. Ein erstes Beispiel dafür wird bereits in der kategorienbildenden Aussage der Figur Wolfgang deutlich: Die Terroristen verfolgen vermeintlich wahllos und ohne Skrupel ihr Ziel der Zerstörung, was mit real-historischem Wissen über die Anschläge in Madrid 2004 und London 2005 untermauert wird, das Pate steht für eine vermeintlich faktenbasierte Erzählstrategie, die den gesamten Roman determiniert und durch die spezifische Form der Paratexte unterstützt wird. Dies wird nochmals potenziert durch ein intertextuelles Geflecht, das zum einen aus einer Vielzahl von Anspielungen auf außerliterarische Personen und zum anderen aus verschiedenen Hypotexten besteht. So wird zum Beispiel Osama bin Laden, »die ins Negative gewendete Version der auf Medienwirksamkeit ausgerichteten, populistischen Politik in den westlichen Demokratien«,38 mit seiner Ansprache im unmittelbaren Anschluss an die Anschläge vom 11. September
38 Omar Saghi: Einführung: Osama Bin Laden, Volkstribun im Medienzeitalter. In: AlQaida. Texte des Terrors. Hg. v. Gilles Kepel und Jean-Pierre Milelli. München/Zürich: Piper 2006, S. 25–54, hier: S. 52.
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2001 zitiert. Seine Rede, deren Quelle in den Paratexten nicht erwähnt wird, ist nicht nur durch Anführungszeichen, sondern auch durch eine kursive Schriftart deutlich von der anderen Textfläche abgesetzt und verweist somit direkt auf ihre intertextuelle Beschaffenheit. Bin Laden lobt hierin die Attentäter, die im Namen Gottes Amerika bekämpfen. Seine rechtfertigende Argumentation basiert auf dem Unrecht, das Muslimen seit achtzig Jahren zugefügt werde, womit die Anschläge als Verteidigungsmaßnahme gewertet werden. Damit wird eine asymmetrische Situation aufgespannt und die Argumentation erfolgt aus der Sicht der unterlegenen Seite, was auch zu der soziologischen Beobachtung von Peter Waldmann passt, dass terroristische Attentate die bevorzugte Kampfstrategie vor allem von relativ kleinen und ›schwachen‹ Gewaltverbänden darstelle.39 In Bezug auf die Amerikaner führt bin Laden aus: Wenn das Schwert niedergeht, nach achtzig Jahren, richtet die Heuchelei ihr hässliches Haupt auf. Sie trauern und sie klagen um diese Mörder, die das Blut, die Ehre und die Heiligtümer der Moslems missbraucht haben. Das Geringste, was man über diese Leute sagen kann, ist, dass sie verderbt sind. […] Möge Gott ihnen seinen Zorn zeigen und ihnen geben, was sie verdienen. (JD 60)
Das dichotome Schema, das bereits für Bushs außerliterarische Rede analysiert wurde, wird auch hier deutlich benannt: »Diese Ereignisse haben die ganze Welt in zwei Lager geteilt: das Lager der Gläubigen und das Lager der Ungläubigen, möge Gott euch von ihnen fernhalten.« (JD 61) Mit bin Ladens zitierten Ausführungen wird in dem Roman nicht nur auf den wohl bekanntesten Terroristen referiert,40 sondern aus seiner komplett abgedruckten Rede geht deutlich die Drohgebärde hervor, dass der Kampf gegen die sogenannten Ungläubigen noch lange nicht beendet ist. Eingebettet ist diese Rede in ein Kapitel, das eine terroristische Gruppe fokussiert, der Erzähler fasst deren Reaktion zusammen: »Aufgeputscht von der Rede Osama bin Ladens und durch das gemeinsame Bekenntnis zum Islam, waren sie allesamt bereit, für die Vernichtung des Feindes ihr Leben zu opfern.« (JD 61) Der Hass, der hier unmittelbar mit dem Islam verbunden wird, hat eine sozialintegrative Funktion41 und fungiert als Motor, er macht das dargestellte Figurenkollektiv handlungsfähig.
39 Vgl. Peter Waldmann: Terrorismus. Provokation der Macht. Hamburg: Murmann 2005, S. 13. 40 Vgl. zu bin Ladens Funktion als Organisator der Anschläge: Bernd Greiner: 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen. München: Beck 2011. 41 Vgl. Anz: Freund und Feinde, S. 340.
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Die zugeschriebene Verbindung zwischen dem Islam und Hass bzw. seinem vermeintlichen Vernichtungswillen findet sich auch in einer Episode, die in Deutschland spielt und eine weitere kulturalisierende Deutungsebene offenbart. Im Mittelpunkt steht hier der Hauptkommissar Rudolf Franz, der in der Abteilung der Terrorismusbekämpfung beim Verfassungsschutz tätig ist und in diesem Zusammenhang mit einem jungen Konvertiten spricht, der ein Attentat in Hamburg plant. Das Gespräch, in dem der Moslem nur in Plattitüden auf die Fragen von Rudolf Franz antwortet, zeichnet sich besonders durch eine antiislamische Haltung des Hauptkommissars aus, der nach einem Referat über das Verhältnis zwischen Christen und Moslems zu dem Schluss kommt: Die Differenz zwischen Orient und Okzident ist zu groß, als dass es jemals zu einem gleichgeschalteten Wertecodex zwischen den Parteien kommen würde. […] Heute kommen die Türken, und nicht nur sie, ganz legal ins Land. Fast zwei Millionen von ihnen sind schon nach Deutschland übergesiedelt, haben Bürgerrechte erhalten, können wählen. Wenn das so weitergeht, dann werden die Deutschen nur noch Gäste im eigenen Land sein. Die Moscheen werden irgendwann die christlichen Kirchen zurückdrängen und wir werden uns unter die Knute der Islamisten ducken müssen. (JD 116 f.)
Die hier aufgezeigte Grenze zwischen Deutschen und Türken, die scheinbar als Pars pro Toto für das Figurenkollektiv der Moslems stehen, wird einerseits als historisch begründete ausgewiesen und andererseits werden Moslems mit Islamisten gleichgesetzt. Ziel aller Moslems, auch derjenigen, die in Deutschland leben, so wird hier offenkundig, sei die Unterwerfung der deutschen Christen, was durch das Wort ›Knute‹ überaus deutlich wird. Während die Bundeswehrsoldaten in diesem Roman also mit dem Krieg hadern und eine hohe Emotionalisierung aufweisen, leiten die narrativierten Terroristen von ihrem Hass aktiv Handlungsoptionen ab, die sie mit Kalkül und Rationalität verfolgen. Der Hass wirkt damit in dem Roman nicht nur als Distinktionsmarker zwischen den Figurenkollektiven, sondern bildet die Grundlage für ein homogenisierendes Bild, das zeigt, dass mit diesem ›Feind‹ aufgrund seines Vernichtungswillens nicht zu verhandeln ist. Die dargelegte klare Frontenlinie konstruiert eine »Schwarz-Weiß-Grammatik«,42 die keinerlei Entwicklung zulässt. Dabei fallen in einer generalisierenden Haltung Islam und Terrorismus ineinander und spä-
42 Albrecht Koschorke: Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaft. In: Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Hg. v. Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer u. a. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 9–31, hier: S. 25.
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testens dadurch wird das kriegerische Geschehen auch zur Signatur der zivilen Welt.
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RASTER DES HASSES – SHERKO FATAHS DAS DUNKLE SCHIFF
Eine antithetische Grundkonstellation kann auch für den 2008 veröffentlichten Roman Das dunkle Schiff von Sherko Fatah konstatiert werden, der den von Gotteskriegern entführten jungen Iraker Kerim in den Mittelpunkt der Handlung stellt. Während dieser sich bei den Terroristen aufhält, wird er stufenweise radikalisiert und lernt den Hass auf den sogenannten ›Westen‹ kennen, der auch in diesem Roman die Basis für die als zentrale Gegensätze formierten Konstrukte des Eigenen und des Anderen bildet. Dabei wird von der Figur ›der Lehrer‹, dem religiösen Anführer der dargestellten terroristischen Gruppierung, der eigene Hass als Resultat und Reaktion auf den Hass der Anderen etabliert: Wie lange wollt ihr das ertragen? Wie lange sollen wir im Dreck kriechen, den die Zionisten über uns ausschütten? Sie hassen uns. Sie sind Rassisten. Sie verachten uns, weil wir keine modernen Flugzeuge und Panzer haben. […] Wie oft müssen sie uns bombardieren, wie oft werden sie unsere korrupte Regierung kaufen, wie viele unserer Brüder werden sie noch töten, bis endlich jeder Gläubige begreift, dass in jedem von ihnen er selbst stirbt? Wie lange wollt ihr euch vertrösten lassen mit den leeren Versprechungen des Westens? Ihr werdet niemals, niemals glücklich sein ohne Gott! (DS 148)
Ähnlich wie in Osama bin Ladens Rede wird hier aus der Position des Unterlegenen bzw. Unterdrückten gesprochen, der vermeintlich einzige Ausweg ist der Krieg. Dabei werden auch hier Religion und Politik zusammengedacht, aber im Gegensatz zu Tenners Roman wird in diesem Zusammenhang dem Islam kein grundsätzlicher Vernichtungswille zugeschrieben, sondern es werden als Ursache für die kritisierte Situation verschiedene Faktoren einbezogen, so zum Beispiel die Praktiken der irakischen Regierung.43 Dass diese Staatsterrorismus aus-
43 Vgl. dazu auch Heinrich Kaulens Ausführung: »Sherko Fatahs Entwicklungsroman überzeugt gerade deshalb, weil er nicht mit dem simplifizierenden Konstrukt stabiler Gegnerschaften und Weltbilder in antithetischen, eindeutig voneinander abzugrenzenden Kulturräumen operiert. […] Brüche und Paradoxien verlaufen quer zu allen kulturellen Orientierungsmustern durch das Innere sämtlicher Figuren.« Heinrich Kaulen: Heilige Krieger. Fundamentalisierte Gewalt im Spiegel der Gegenwartsliteratur. In:
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übt, der die Bevölkerung unterdrückt und einschüchtert, wird an vielen Stellen des Romans außerhalb der dargestellten Reden und Handlungen der Terroristen inszeniert, was die Position des Lehrers verifiziert. Dies wird zum Beispiel in der Passage verdeutlicht, in der Kerims Vater willkürlich und ohne Folgen von Geheimdienstlern Saddam Husseins umgebracht wird.44 Das Wissen um genau diesen Aspekt wird von der Figur ›der Lehrer‹ auch verwendet, um Kerim von den Zielen der terroristischen Organisation zu überzeugen. Bedenke, dein Vater ist umgebracht worden von den Handlangern des Regimes, das die Amerikaner lange Zeit unterstützt haben. Erinnere dich daran. Aus Respekt vor ihm solltest du über die Konsequenzen dieser Tatsache nachdenken. – Wenn das der Frieden der Herrscher ist, der, den sie besitzen und uns geben, dann wollen wir ihn nicht. Dann wollen wir Krieg. (DS 124)
Markant wird hier das persönliche Schicksal Kerims an den politischen Diskurs rückgebunden und als den Hass kanalisierende Erklärung, die deutlich Verantwortliche zu benennen weiß, herangezogen. Damit treten hier multiple Aspekte in Erscheinung, die überhaupt zur Radikalisierung führen können. Die Taten der Islamisten werden in dem Roman weder verschwiegen noch beschönigt, aber im Gegensatz zu Jenseits von Deutschland wird hier nicht ein unabänderlicher IstZustand anthropologischer Entitäten vorgeführt, sondern vielmehr auf die prozessuale Entwicklung aufmerksam gemacht. Trotzdem wird auch hier ein Konstrukt entworfen, das Wesensmerkmale der homogenisierten Gruppenidentitäten gegenüberstellt. Das so entworfene Fremd- bzw. Feindbild wird hier wiederum von dem religiösen Anführer der narrativierten Terroristen dargelegt: Sie reden uns ein, es sei Freiheit, wenn jeder nur seinen eigenen Interessen folgt, nur tut, was ihm nützt. Und wieder sind es die Dinge, deren Sklaven sie werden, weil sie mehr und mehr davon haben wollen. […] Es geht immer um das Geld, glaube mir, sie sind davon
Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Hg. v. Carsten Gansel und dems. Göttingen: V&R unipress 2011, S. 263–274, hier: S. 273. 44 Neben der Textpassage, die von den Geheimdienstlern in dem Restaurant von Kerims Familie handelt und damit endet, dass Kerims Vater umgebracht wird, gibt es noch weitere Stellen, die auf die diktatorischen Handlungen im Irak hinweisen, wie zum Beispiel der von der Regierung angeordnete Giftgasangriff auf die Stadt Halabja (DS 34 ff.) oder auch eine Szene, in der ein Gefangenentransporter stundenlang ungeschützt auf einem Platz vor der KP-Zentrale in der Sonne steht (DS 56 ff.).
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besessen. Es macht sie kalt und hart, und doch ist es das einzige, woran sie wirklich glauben. […] Sie sagen, sie lieben die Freiheit, doch ihre Freiheit ist Einsamkeit. (DS 383)
Durch das zugrunde gelegte binäre Denkschema ›wir|sie‹ wird das Streben nach Freiheit, das die konstruierte westliche Kultur als das ›Andere‹ verkörpert, als Abhängigkeit von Materiellem scheinbar entlarvt. Ebenso sei die geforderte ›Befreiung‹ der muslimischen Frauen von den Zwängen des Islam keine Befreiung, »in Wahrheit machen sie sie zu Huren, ja, nichts anderes wollen sie! Weil ihre eigenen Frauen Huren sind« (DS 151). Die vermeintlich hohen Ziele und Werte des ›Westens‹, für die er sogar Krieg führt, werden aus der Fremdperspektive als illusionär enttarnt, da sich diese Gesellschaften ebenso unterwerfen, jedoch nicht Gott, so wie es die Glaubenskrieger fordern, sondern weltlichen Dingen. Hier wird besonders die Trennung zwischen Säkularem und Transzendentem deutlich und der Stellenwert, der den jeweiligen Sphären eingeräumt wird. Die Grenze liegt also nicht zwischen Westen und Osten, zwischen Freiheit und Unterwerfung, sondern die Grenze manifestiert sich darin, wem oder was sich die Figurenkollektive unterordnen. Zudem wird gerade an diesem Zitat deutlich, dass die dargestellten Islamisten den Sinn der Handlungen der Amerikaner dahin gehend deuten, dass ihre Kultur ersetzt werden soll durch die ›amerikanischen‹ (als falsch entlarvten) Werte und Normen. Es findet so keine Annäherung zwischen Eigenem und Fremdem statt, sondern das eine soll durch das andere getilgt werden. Pointiert wird so genau das Bild gezeichnet, das spiegelverkehrt in dem außerliterarischen politischen und medialen Diskurs über die Terroristen postuliert wird, wie es auch in der anfangs zitierten Rede von Bush deutlich wird: Sie würden versuchen, ihre Weltanschauung und ihre religiösen Praktiken global auszuweiten. Hier wird also einerseits literarisch vorgeführt, dass Bewertungsmechanismen eben von der Perspektive auf das Geschehen abhängig sind, die man einnimmt. Andererseits, und das ist hier der wesentliche Punkt, werden aus der Sicht der narrativierten Terroristen die grundlegenden Mechanismen von Konstrukten des Hasses aufgezeigt. Es wird verdeutlicht, dass hier die gleichen Prinzipien wirksam sind, die überall die Produktion, Etablierung und Tradierung von Feindbildern hervorrufen, und zudem, dass die Prinzipien hinter diesen Denkformationen in ihrem pauschalisierenden Gestus identisch sind. Prototypisch ist dafür die Reziprozität, die wechselseitige Beschuldigung, die falsche Ansicht zu vertreten sowie der gegenseitig zugeschriebene Vernichtungswille und Hass. Damit wird offenkundig, dass die Wirkmechanismen des Feindbildes die gleichen sind: Die hier dargelegte Kritik an der ›westlichen‹ Kultur basiert auf den gleichen stereotypisierenden Mustern wie die Konstruktion ›der Terroristen‹, sodass die Vorurteile, die auf Hass basieren bzw. Hass auslösen, als austauschbar
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erscheinen. So wird insbesondere verdeutlicht, dass der »Hass nicht nur vom Gegenstand abhängig [ist], sondern auch in gleichem Maße vom Subjekt des Hasses«.45 Dies wird auch durch die Anlage des Protagonisten Kerim unterstrichen, der nicht nur unfreiwillig in die Gruppe der Islamisten gelangt ist und dort sukzessive deren Weltsicht übernimmt, sondern auch nach der Flucht nach Deutschland diese Denkmuster wieder ablegt. Auf diese Weise werden in Das dunkle Schiff sowohl die dargestellte ›westliche‹ als auch die islamistische Position dekonstruiert.
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SUBSTANTIALISTISCHE VS. KONSTRUKTIVISTISCHE BETRACHTUNGEN – SCHLUSSBEMERKUNGEN
An dieser Stelle soll noch einmal an den Ausgangspunkt der dargelegten Überlegungen zurückgekehrt werden: Die literarischen Texte arbeiten durch die Beschreibung und Konstruktion von Terroristen an dem Deutungsrahmen des ›War on Terror‹ mit. Für die Darstellung der Islamisten stellt in beiden Romanen der Hass ein konstitutives Charakteristikum dar, das eine klare dichotome Weltordnung evoziert. In beiden Romanen kommen die Terroristen selbst zu Wort, um den Hass auf die andere Seite darzulegen. Trotz dieser Gemeinsamkeiten präsentieren die Romane zwei unterschiedliche Arten der Weltsicht: Sie können an den Polen einer substantialistischen und einer konstruktivistischen Position verortet werden. George Tenners Roman charakterisiert sich durch eine Reihe ontologischer Annahmen, die eine ahistorische, objektive Geltung beanspruchen und darüber hinaus in einem unversöhnlichen Ist-Zustand formiert sind.46 Dadurch wird in Jenseits von Deutschland unter vermeintlicher Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse, wie sie in den Paratexten und dem intertextuellen Geflecht vorgeführt werden, ein dichotomes Gefüge tradiert. Dabei ist zentral, dass das binäre Denkschema auf Wesensmerkmalen wie dem Hass gründet, die unmittelbar mit der Gruppe verbunden und dieser als vermeintlich naturgegeben zugeschrieben werden.
45 Íngrid Vendrell Ferran: Die Emotionen. Gefühle in der realistischen Phänomenologie. Berlin: Akademie 2008, S. 260. 46 Vgl. zu substantialistischen Werttheorien: Simone Winko: Wertungen und Werte in Texten. Axiologische Grundlagen und literaturwissenschaftliches Rekonstruktionsverfahren. Braunschweig: Vieweg 1991, S. 28.
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Sherko Fatahs Roman hingegen betont eine Beobachterrelativität, eine zentrale Prämisse der konstruktivistischen Theoriebildung, die besagt, dass »[a]lles Erkennen […] notwendig als voraussetzungsvoll«47 gilt. So werden in Das dunkle Schiff in distanzierter Haltung zu islamistischem Gedankengut die hinter diesen Feindbildern wirkenden Mechanismen und damit nicht zuletzt der Konstruktionscharakter derartiger Gebilde – auch derjenigen, die aus dem eigenen Kulturraum stammen – aufgezeigt.48 Zugespitzt formuliert: Es handelt sich um zwei Seiten derselben Medaille. Diese beiden unterschiedlichen Zugänge haben auch Auswirkungen auf die Konzeption von Machtmanifestationen, wenn man davon ausgeht, dass die entworfenen Feindbilder einen wirklichkeitsstrukturierenden Charakter haben. Substantialistische Theorien fokussieren das »statisch-sichtbare Moment«49 von Macht. In Tenners Roman wird das durch das fixe binäre Denkschema zum Ausdruck gebracht sowie durch die zugeschriebene Konnotation von Hass in Bezug auf bestimmte Personen. Dies wird zum einen durch die zahlreichen Anspielungen auf Terroristen mit außerliterarischer Referenz realisiert, zum anderen durch die dargestellten fiktiven Terroristen, die als Pars pro Toto für eine Gruppe mit spezifischen Wesensmerkmalen stehen. Die Sichtbarkeit im Sinne einer Benennbarkeit wird hier deutlich hervorgehoben, wodurch eine Machtmanifestation mit klar hierarchischen Strukturen in »Über- und Unterordnungsverhältnissen«50 dargelegt wird. So kann in diesem Zusammenhang konstatiert werden, was Hartmut Rosa für substantialistische Bestimmungsversuche des Menschen allgemein festhält: Sie scheinen strategische Züge im sozialen Machtkampf zu sein und stehen unter Ideologieverdacht.51 Hierdurch arbeitet der Roman an dem Deutungsrahmen der Feindbilder mit, indem ein Blockantagonismus tradiert wird.
47 Ebd., S. 37. 48 Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy hat diesen Zusammenhang analysiert, indem sie George W. Bush und Osama bin Laden als ›Zwillinge‹ und ›Doppelgänger‹ bezeichnet, deren Rhetorik immer ähnlicher werde. »Jeder bezeichnet den anderen als ›Kopf der Schlange‹. Beide berufen sich auf Gott und greifen gern auf die Erlösungsrhetorik von Gut und Böse zurück.« Arundhati Roy: Wut ist der Schlüssel. Ein Kontinent brennt – Warum der Terrorismus nur ein Symptom ist. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 226, 28.09.2001, S. 49 und 51, hier: S. 51. 49 Falk Bornmüller/Katrin Felgenhauer: Macht_Denken? In: Macht:Denken. Substantialistische und relationalistische Theorien – eine Kontroverse. Bielefeld: transcript 2018, S. 9–26, hier: S. 19. 50 Ebd., S. 14. 51 Vgl. Hartmut Rosa: Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor. Frankfurt a. M./New York: Campus 1996, S. 59.
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Im Gegensatz zu den substantialistischen Machttheorien betonen relationalistische Ansätze gerade das »prozesshaft-dynamische Moment«52 von Macht, indem sie soziale Ordnungen als Resultat interdependenter Beziehungen konturieren.53 Zentral für diese Ansätze ist daher, dass sie Macht nicht in Form einer bestimmten Gestalt, sondern als dezentral und mit einer »kommunikative[n] Infrastruktur«54 bestimmen. Mit diesen Merkmalen sind auch grundlegende Aspekte in Fatahs Roman angesprochen: Das Feindbild entfaltet seine Macht unabhängig von einzelnen Personen und ist auf die Anerkennung dieser Feinddefinition angewiesen. Andreas Hetzel führt aus, dass Macht nicht nur notwendigerweise unbestimmt bleibt, sondern vor allem deshalb gilt, »weil sie auch nicht gelten könnte, weil wir ihren Anspruch immer auch verwerfen könnten«.55 Diese prozesshafte Variabilität wird besonders durch den Protagonisten Kerim in Fatahs Roman hervorgehoben: Das Feindbild entfaltet nur Wirkung, solange es in seiner konstruierten Gestalt tradierend aufrechterhalten wird. So könnte man positiv formulieren: Ändert sich das relationale Gefüge, das zum Beispiel auf der gegenseitigen Zuschreibung von Hass gründet, ändern sich auch die mit derartigen Feindbildern verbundenen Machteffekte.
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52 Bornmüller/Felgenhauer: Macht_Denken?, S. 19. 53 Vgl. ebd., S. 16. 54 Andreas Hetzel: Figuren der Selbstantizipation. Zur Performativität der Macht. In: Macht. Begriff und Wirkung in der politischen Philosophie der Gegenwart. Hg. v. Ralf Krause und Marc Rölli. Bielefeld: transcript 2008, S. 135–152, hier: S. 135. 55 Ebd., S. 141.
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Hass als kritische Haltung? Maxim Billers Kolumnen Martina Wagner-Egelhaaf
Das Stichwort ›Hass‹ ist in den öffentlichen Debatten der Gegenwart außergewöhnlich präsent. In der gegenwärtigen angespannten gesellschaftlichpolitischen Situation, die gekennzeichnet ist durch kontroverse Auseinandersetzungen über Zuwanderung und Migration, neue Populismen, eine zunehmend auseinanderklaffende Armutsschere und den drohenden Verlust demokratischer Werte, steht die Vokabel ›Hass‹ gleichsam als Signum für eine gespaltene Gesellschaft. Der Umgangston ist rauer geworden; aufgestauter Hass entlädt sich zunehmend in Gewaltakten. Hass ist nicht einfach Hass im Sinne eines Affekts (das sicherlich auch), Hass steht vielmehr immer auch in diskursiven Zusammenhängen. Wenn die Medien den Begriff heute frequenter gebrauchen,1 um gegenwärtige Spannungslagen zu charakterisieren, als dies vielleicht noch vor zehn Jahren der Fall war, erhält der aktuelle Hass eine spezifische Färbung: Es ist der aufgestaute Volkszorn, der sich in Hass entlädt. Und der Hass richtet sich gleichermaßen gegen Menschen, die in der Sicht der Hassenden nicht ›hierher‹ gehören, aber auch gegen eine unfähige Politik, die nicht in der Lage ist, ›Migrantenströme‹ aufzuhalten oder einzudämmen. Dieser populistische Hass des beginnenden 21. Jahrhunderts hat sein Medium zum einen auf der Straße gefunden, in ›Aufmärschen‹ und Demonstrationen, aber auch im Internet, das voll ist von sogenannten ›Hasskommentaren‹, ein Wort, das der Duden noch nicht kennt, von dem aber alle wissen, was gemeint ist. Der ›Hassprediger‹ indessen hat Eingang gefunden in die neueste Ausgabe des Duden. Auch ›Judenhass‹ arti-
1
Symptomatisch in diesem Zusammenhang Jens Jessen: Den Hass normalisieren. Soll man mit einem wie Steve Bannon überhaupt sprechen? In: Die Zeit 37/2018. www.zeit. de/2018/37/steve-bannon-einladung-new-yorker-auseinandersetzung (10.09.2018).
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kuliert sich wieder offener. Wenn in der Öffentlichkeit von ›Hass‹ die Rede ist, scheint immer schon klar zu sein, was gemeint ist. In der Beschäftigung mit dem Thema fällt rasch auf, dass ›Hass‹ eine Kategorie ist, die im kritischen Diskurs zugeschrieben wird, und zwar den anderen, und dass Hass in aufgeklärten und am Humanitätsideal orientierten Gesellschaften – natürlich – abgelehnt wird und abzulehnen ist. Gegen den Hass, so lautet etwa das 2016 erschienene Buch der Publizistin und Philosophin Carolin Emcke, die im selben Jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt. Meinen Hass bekommt ihr nicht – diesen Titel gab Antoine Leiris, der seine Frau 2015 bei den Anschlägen im Pariser Bataclan verloren hatte, seinem ebenfalls 2016 erschienenen, sehr persönlichen Buch. Und auch Renate Künast hat 2017 ein Buch mit dem Titel Hass ist keine Meinung. Was die Wut in unserem Land anrichtet veröffentlicht. Die Engführung von Hass und Wut in diesem Titel ist sicher zu hinterfragen; Wut führt nicht automatisch zu Hass. Die Zuschreibung des Hasses an andere macht ihn zu einer reflexiven, diskursregulativen Größe. Gerade Leiris’ Buch, das den unermesslichen Schmerz eines Mannes und eines Kindes schildert, die ihre Frau und Mutter verloren haben, spielt mit dem Gedanken, dass es naheliegt, auf den tragisch erfahrenen Hass mit Gegenhass zu antworten: Freitag Abend habt ihr das Leben eines außerordentlichen Menschen geraubt, das der Liebe meines Lebens, der Mutter meines Sohnes, aber meinen Hass bekommt ihr nicht. Ich weiß nicht, wer ihr seid, und ich will es nicht wissen, ihr seid tote Seelen. Wenn der Gott, für den ihr blind tötet, uns nach seinem Ebenbild geschaffen hat, dann muss jede Kugel, die den Körper meiner Frau getroffen hat, eine Wunde in sein Herz gerissen haben. Nein, ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen. Auch wenn ihr es darauf angelegt habt; auf den Hass mit Wut zu antworten würde bedeuten, derselben Ignoranz nachzugeben, die euch zu dem gemacht hat, was ihr seid. Ihr wollt, dass ich Angst habe, dass ich meine Mitbürger misstrauisch beobachte, dass ich meine Freiheit der Sicherheit opfere.2
In solchen Formulierungen tritt auch ein Überlegenheitsgefühl hervor. Es wird kommuniziert, dass der zivilisierte Franzose mit seinen Gefühlen umgehen kann, dass er seine Hassgefühle beherrscht – im Gegensatz zu den Attentätern. Die Konzeptualisierung von Hass als Zuschreibungskategorie impliziert, den Begriff als Relationsbegriff zu betrachten, d. h. als eine reflexive Kategorie, die nicht nur über denjenigen etwas aussagt, dem Hass zugeschrieben wird, sondern auch über diejenige, die zuschreibt.
2
Antoine Leiris: Meinen Hass bekommt ihr nicht. Deutsch von Doris Heinemann. München: Blanvalet 2016, S. 59 f.
Hass als kritische Haltung? Maxim Billers Kolumnen | 381
Eine solche reflexive Kategorie, die von einer performativen Relationalität gekennzeichnet ist, stellt der Hass dar, den der Schriftsteller Maxim Biller literarisch ausagiert. Tatsächlich hat Biller im Jahr 2017 ebenfalls ein Buch veröffentlicht, das den Hass im Titel trägt. Dieser lautet: Hundert Zeilen Hass. Das Erscheinen des Buchs fällt damit zwar in eine Hochkonjunktur der Publikationen zum Thema ›Hass‹, hat aber in der Tat ältere Wurzeln. Bei Hundert Zeilen Hass handelt es sich um die Zusammenstellung der Texte, die Biller in seiner gleichnamigen Kolumne in der Zeitschrift TEMPO veröffentlicht hatte. TEMPO war ein Lifestyle-Magazin, manche sagen auch Stadtgeist-Magazin, das zwischen 1986 und 1996 am Markt war. Billers erste Tempo-Kolumne erschien im November 1987 und in der Folge veröffentlichte er seine Hundert Zeilen Hass, die zwischendurch auch einmal Maxim Biller-Kolumne hießen, bis die Zeitschrift eingestellt wurde. Der Band enthält allerdings noch eine Reihe weiterer Kolumnen, datiert bis Oktober 2010, die andernorts erschienen sind, in der taz, im ZeitMagazin, in der TEMPO-Jubiläumsausgabe, die im November 2006 herauskam, oder im Rolling Stone. Billers ›Hass‹ ist also schon um einiges älter als die aktuellen, durch Migration und Zuwanderung, durch Islamismus und Hartz IV ausgelösten Hass-Debatten. Allerdings lesen sich viele der Texte aus den 1980er- und 90er-Jahren im Rückblick so, als wären sie erst kürzlich entstanden. Sie muten so aktuell an, dass man Biller ein prognostisches Sensorium nicht absprechen kann. Ganz offensichtlich hat er mit seinen Hass-Kolumnen Themen angesprochen, die ins Mark der bundesdeutschen Gesellschaft zielen, und zwar so grundsätzlich, dass dabei Konstellationen aufgerufen werden, die ihre Prägnanz im politischen und gesellschaftlichen Wandel der Jahre nicht eingebüßt haben, ja, zum Teil sogar heute verschärft zutage treten.3 Das Themenspektrum von Billers Kolumnentexten ist ausgesprochen breit: Von dem amerikanischen Schauspieler Mickey Rourke, Marion Gräfin Dönhoff, dem Jahreswechsel 1988 über den österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim, die Bilderflut, Woody Allen, Schwabinger Tweedjackets, den deutschen Sommer, den Philosemitismus, den deutschen Touristen, die SPD, Ulrich Tukur, Egon Krenz, Lea Rosh, Gregor Gysi, die multikulturelle Gesellschaft, Marcel Reich-Ranicki, den Tofu-Konsum, das Magazin Focus, Martin Walser, Wolf Biermann, Harald Schmidt, die deutsche Komödie bis hin zu Spiegel TV, Frank Schirrmacher oder Friedrich Kittler – sie alle werden unter Billers spitzer Feder zu Hass-Objekten. Auch wenn sich, wie die Aufzählung zeigt, unter die
3
Über das Verhältnis von Autorschaft und Zukunftsschau vgl. Christel Meier/Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Prophetie und Autorschaft. Charisma, Heilsversprechen und Gefährdung. Berlin: De Gruyter 2014.
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Themen auch Sachverhalte mischen, also nichtpersonale Zustände und Phänomene, so überwiegen doch Personen, die direkt adressiert werden. Hass ist offensichtlich gegen konkrete Ziele gerichtet: man hasst etwas oder jemanden. Dies ist vielleicht ein Unterschied zur Wut: Man kann wütend sein, aber Wut richtet sich nicht zwangsläufig gegen andere Menschen; und wo man doch ›auf‹ jemanden wütend ist, impliziert dies nicht, dass sich auf Verletzung oder gar Vernichtung abzielende affektive Energien auf den oder die andere richten. Und: Wut verrauscht, sie ist kein Dauerzustand, während Hass grundsätzlich ist. Wo Hass in unserer spannungsgeladenen Gegenwart auf die Vertreibung und Vernichtung der Gehassten aus ist, stellt sich die Frage, was den Biller’schen Hass als literarische und kritische Haltung auszeichnet. Im Unterschied zu den eingangs genannten Büchern, in denen der Hass anderen zugeschrieben wird, inszeniert sich Biller selbst als Hassenden. In seinem Nachwort zu dem Band Hundert Zeilen Hass unter der Überschrift Warum Maxim Biller keine Stimme hat, glücklicherweise ordnet der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht Billers Texte unter dem Stichwort der ›Parrhesia‹ ein, »das anscheinend aufrichtige, unkontrollierte und auch unvermeidlich verletzende Reden«4, dessen sich, so Gumbrecht, die Zyniker bedienten. Zyniker seien schrill, was aber nicht bedeute, »dass sie sich von moralischen Werten distanzieren.«5 Mit Luhmann erklärt Gumbrecht die Parrhesia als Effekt der »rekursiven Negation«,6 weil sie alle Negationen noch einmal negiert. Dass Biller keine Stimme habe, findet Gumbrecht deswegen ›gut‹, weil ›eine Stimme haben‹ bedeute, dass diese möglicherweise »sonore Stimme« auf die ideologisch einengende Kategorie einer »Identität« zurückführbar wäre, in der Gumbrecht »einen seit Jahrzehnten nicht auszurottenden Lieblingsbegriff bestenfalls mittel-
4
Hans Ulrich Gumbrecht: Warum Maxim Biller keine Stimme hat, glücklicherweise. In: Maxim Biller: Hundert Zeilen Hass. Mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht. Hamburg: Hoffmann und Campe 2017, S. 375–382, hier: S. 376.
5 6
Ebd., S. 377. Ebd., S. 378. Michel Foucault hat den antiken Begriff der ›parrhesia‹ (›Redefreiheit‹, ›Freiheit‹, ›alles sagen‹) aufgegriffen und sie als »eine Technik, ein Verfahren« bestimmt: »[…] die parrhesia ist eine Tugend, eine Aufgabe und eine Technik, die man bei demjenigen findet, der das Gewissen der anderen leitet und ihnen hilft, eine Beziehung zu sich selbst herzustellen«. Michel Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83. Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 65.
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mäßiger Intellektueller«7 wahrnimmt, gegen die er die schrille Kakophonie von Billers Texten stellt. Einige Beispiele mögen einen ersten Eindruck von Stil und Ton der Biller’schen Hass-Kolumnen vermitteln: Die Kolumne Stürzt die Gräfin! vom Dezember 1987 beginnt folgendermaßen: Was hat das Hamburger Wochenblatt Die Zeit mit der Republik Tunesien gemeinsam? Inzwischen wohl nichts mehr. Denn der altersschwache Präsident Burgiba ist von den eigenen Leuten abgesetzt worden. Die 78-jährige Marion Gräfin Dönhoff dagegen – ZeitHerausgeberin, graue Eminenz und personifiziertes Redaktionsgewissen – darf nach wie vor die Spalten ihres Blattes füllen. Frau Dönhoff appelliert seit über vierzig Jahren auf dieselbe gönnerhafte Weise an unsere Vernunft und Freiheitsliebe. Ihre Leitartikel sind moralische Tagesbefehle, Belehrungen und Bekehrungen – immer von oben herab, aber nie aus geistiger Höhe […]. Frau Dönhoff gilt als nahezu unmenschlich integer und liberal. Kunststück. Sie fasst nichts an, womit sie sich die Hände schmutzig machen könnte. […] Ihre Artikel kreisen ausschließlich um Themen, zu denen sich vorfabrizierte Allgemeinplätze aus der ethischen Schwarz-Weiß-Schublade verbreiten lassen. […] Frau Dönhoff sollte endlich ihren ehrwürdigen Hintern aus unserer Presselandschaft wegbewegen.8
Das ist schon ein sehr scharfer, sehr persönlicher Angriff, den man keineswegs als ›politisch korrekt‹ bezeichnen kann. Ein anderes Beispiel, das keine Person, sondern einen sozialen Typus ins Visier nimmt, ist die Kolumne Sklaverei macht frei vom Juni 1990: Früher, als das Leben noch hart und ungerecht und nur marxistisch zu packen war, erkannte man einen echten Proletarier daran, dass er immer Ringe unter den Augen hatte, einen gebeugten Gang und absolut keine Kraft, seine ehelichen Pflichten zu vollziehen. Früher, da hat ein Proletarier noch von früh bis spät gearbeitet. Heute, im Zeichen der beschlossenen 35-Stunden-Ferienwoche und vor allem der epochalen, stündlich 6,3 Minuten dauernden Postler-Pinkelpause, haben Plebejer unendlich viel Zeit. In der Regel tragen sie deshalb kanariengelbe Jogginganzüge oder helle Bundfalten-
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Vgl. ebd. 375. Wie deutlich wird, versucht Gumbrecht, es Biller an zynischer Schärfe gleichzutun, fürchtet aber, dass sich Maxim Biller über seinen akademischen Text » – hoch parrhesisch sozusagen – lustig machen könnte« (ebd., S. 377).
8
Biller: Hundert Zeilen Hass, S. 9 (Zitate aus Hundert Zeilen Hass werden im Folgenden im fortlaufenden Text unter der Sigle H angegeben).
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hosen, 82er-Panto-Sonnenbrillen, Slipper und zwei brasilianische Wunschbänder an jedem Handgelenk. Sie sind immer ausgeruht und freizeitbereit. […] Mittags begegne ich ihnen während meines Verdauungsspaziergangs im Park, wo sie rotzfrech in der Sonne liegen oder Fußball spielen. Abends sehe ich sie, zum Beispiel, im Fernsehen, wo sie beim Glücksrad, nach ihren Hobbys befragt, zum immer gleichen furchtbaren Doppelschlag ausholen: »Ausgehen und verreisen!« (H 77)
Hier wird gewissermaßen eine soziale Errungenschaft und ein sozialer Konsens infrage gestellt, die 35-Stunden-Woche. Während zunächst die »echten Proletarier« noch mit der alten Marx’schen Kampfbezeichnung sozusagen geadelt werden, bezeichnet Biller die ›neuen Proletarier‹ als »Plebejer«. ›Plebs‹ ist der lateinische Ausdruck für das ›Volk‹, die ›Menge‹, die einfache Bevölkerung sozusagen, denen mit dem Bezeichnungswechsel das Klassenkampfpotenzial abgesprochen wird. Und in der Tat erscheinen sie als eine Klientel, die sich in der Freizeitgesellschaft eingerichtet hat, ja, die gleichsam zu Sklaven der Freizeitgesellschaft geworden ist. Der zugrunde liegende Tenor der Kolumne lautet, dass die Betroffenen eigentlich zu wenig arbeiten und mit ihrer Freizeit im Grunde auch nichts Vernünftiges anzufangen wissen. Da spricht ein ziemlich arroganter Intellektueller, der sich jedoch, indem er seinen »Verdauungsspaziergang im Park« erwähnt und zu erkennen gibt, auf welchen Fernsehkanälen er sich nach getaner Arbeit umtut, dann vielleicht doch ein wenig zu den attackierten Biedermännern und -frauen herablässt … Ein weiteres Beispiel vom November 2006 mit der Überschrift Schwarzer Sommer greift die Fußballnation an – und mit ihr einen aufkommenden Nationalismus, der, wie eingangs dargelegt, den Kontext der aktuellen Hass-Debatten und ihren fremdenfeindlichen und islamophoben Hintergrund darstellt: Bevor es Winter wird in Deutschland, sollten wir noch mal über den Sommer reden. Er war lang und heiß, und eine Revolution gab es auch. Nicht alle haben diese Revolution mitbekommen, vor allem die nicht, gegen die sie gerichtet war – ich meine die guten Deutschen. Die schlechten Deutschen wissen aber genau, was sie getan haben. Es fing mit Fußball an. Ende Juni gab es in Deutschland plötzlich mehr deutsche Fahnen als in Pakistan Koranschulen. Angeblich wurden sie gebraucht, um die Schönheit von Podolskis Schusstechnik und Klinsmanns Gerissenheit zu feiern. Aber während die Fahnenschwinger ihre Fahnen schwangen, redeten sie meist darüber, wie großartig es sei, ein entspannter Deutscher zu sein. Das, kurz gesagt, ist jemand, dem Hitler als Großvater nicht mehr peinlich ist. (H 364)
Hier zeigt sich bereits, wie Billers Hass-Texte funktionieren: Sie beginnen manchmal eher beiläufig, in einem harmlos daherkommenden Plauderton (»Be-
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vor es Winter wird in Deutschland, sollten wir noch mal über den Sommer reden.«), aber dann geht es sehr schnell ins Grundsätzliche und Biller holt die Nazi-Keule heraus. Dass auch Billers Plauderton keinesfalls harmlos ist, sondern mit allen Wassern kalkulierter Intertextualität gewaschen, zeigt das Spiel mit ›Winter‹ und ›Sommer‹: Aufgerufen werden sowohl Heinrich Heines Epos Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) und damit ein durchaus ambivalentes Deutschlandbild als auch Sönke Wortmanns Fußball-Film Deutschland. Ein Sommermärchen aus dem Jahr 2006, der die deutsche Nationalmannschaft vor und während der Fußballweltmeisterschaft 2006 pseudo-dokumentarisch begleitet und wohl in kritischer Absetzung von Heines Text ein anderes, ein positives Deutschland-Bild vermitteln möchte.9 Und genau auf diesen zum Ausdruck gebrachten Wunsch, ein entkrampftes, entspanntes Deutschland darstellen zu wollen, zielt Billers Kritik. Wie der Titel Hundert Zeilen Hass verrät, sind die Texte von Billers Kolumne auf hundert Zeilen begrenzt, und eben diese vorgegebene Begrenzung des Umfangs ist das Formprinzip der Texte, das dem Biller’schen Hass seinen wirksamen Rahmen gibt. Dieser Rahmen wird ausgefüllt durch virtuosen Einsatz aller zur Verfügung stehenden rhetorischen Stilmittel, durch variierende Wiederholungen, Wiederaufnahmen und Überbietungen von am Anfang eingeführten Gedanken am Ende, Anspielungen, Wortspiele, überraschende Positionswechsel, die Gumbrecht mit ›rekursiver Negation‹ beschreibt. Parrhesia sind sie in ihrer Abweisung von politischer Korrektheit, aber keinesfalls im Sinn ›unkontrollierter‹ Rede. Vielmehr handelt es sich, wie die vorgeführten Beispiele vor Augen gestellt haben, um raffiniert durchkomponierte Texte, die dem Hass nicht freien Lauf lassen, sondern ihn als Sprechposition und Haltung gezielt aufbauen und auf ihr Objekt richten. Wie wichtig dabei das Medium der Sprache in ihrer konkreten Materialität ist, belegt eine emphatische Hommage an die Schrift, die sich in Billers Kolumne Optischer Brechreiz vom April 1988 findet. Da heißt es: Ohne Schrift hätten die zerstreuten Juden als Religions- und Geistesgemeinschaft keine 5000 Jahre überstanden. Statt der Bibel ein Comicstrip – und sie wären heute genauso vergessen wie Tauriner und Hethiter. Schrift hat Kraft. Und Schrift bedeutet ungezügelte Phantasie, kreativen Irrsinn, philosophische Genialität. Aristoteles, Grimmelshausen, Joyce, Kafka und Malamud – sie waren, die sie waren, weil sie schrieben. Es lebe das Alphabet. (H 19)
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Zu Wortmanns Film vgl. das Kapitel Wir sind wieder wer in: Katharina Grabbe: Deutschland – Image und Imaginäres. Zur Dynamik der nationalen Identifizierung nach 1990. Berlin: De Gruyter 2014, S. 53–88.
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Spracharbeit ist freilich auch ohne Schrift möglich, aber es ist die Schrift, die sie vor Augen führt und dokumentiert. Insofern liegt in der zitierten Passage ein autoreferenzieller Bezug vor: Auch Billers Kolumnentexte leben von der Schrift, von der genauen Arbeit am Wort und an der Sequenz, den präzise platzierten und zugespitzten Anspielungen und Bezügen, die im 100-Zeilen-Korsett sichtbar auf ihre konkrete Materialität der Schriftzeichen zurückgeworfen sind. Eben das Zeilenlimit ist es, das die Texte auf sich selbst zurückwirft und ihre Selbstbezüglichkeit inszeniert. Wenn es ein Merkmal der Parrhesia ist, dass sie unvermeidlich verletzt, so versetzt Biller gezielte Hiebe und Stiche, wenn beispielsweise in der Kolumne Opas Enkel vom Oktober 2010 durch die Nebeneinanderstellung des Satzes von Kommissar Lohmann in Fritz Langs Film M aus dem Jahr 1931 »Ich erkenne meine Schweine am Gang.« und der Formulierung »[Ferdinand von] Schirachs bleiches, weiches Gesicht« (H 370) dieses als Schweinegesicht erscheint oder wenn Martin Walser in der Kolumne Wer glättet Martin Walsers Falten? vom Februar 1996 folgendermaßen beschrieben wird: Wie ein Schriftsteller sieht der neue deutsche Dichterfürst ja nicht gerade aus – in seinem schiefen, bösen Spießbürgergesicht hängt eine große, tropfenförmige Lehrerbrille, mit seinen gestreiften Leinenhemden und bauchigen Knitterjacketts könnte er unerkannt an jeder deutschen Stadtratssitzung teilnehmen […]. (H 269)
Einmal mehr zeigt sich, dass es nicht um politische Korrektheit geht – eher im Gegenteil: Die vermeintlichen Normen und Tabus eben dieses Prinzips ›political correctness‹ werden gezielt verletzt. Gerade das letzte Beispiel zeigt aber auch, dass der applizierte ›Hass‹ selten in seinem Opfer aufgeht, d. h., dass nicht nur einer verletzt und beleidigt wird, in diesem Fall der Schriftsteller Martin Walser, sondern gleichermaßen die Personengruppe, mit der er verglichen wird, die Angehörigen eines deutschen Stadtrats. Attackiert werden meist mehrere Seiten, eine Gruppe, die zunächst im Fokus steht, aber dann ebenso die gegnerische Partei. In der Kolumne Kauft nicht bei Goethe!, die im Januar 1997 erschien, macht sich Biller über die Kulturarbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Goethe-Institute lustig, wenn er schreibt: Ich kenne jemanden, der kennt jemanden, der jemanden kennt, der letztes Jahr mit dem Goethe-Institut in Nigeria war. Oder in Sydney. Oder vielleicht auch in Ulan Bator. Was er dort gemacht hat, weiß ich nicht genau, möglich, dass er den Afrikanern etwas über Rapper in Berlin erzählt hat, vielleicht hat er aber mit den Aborigines ein Rote-GrützeStück inszeniert, und sollte er in Usbekistan mit seiner Tanzkompanie eine Art WGBallett aufgeführt haben, würde es mich auch nicht wundern. (H 287)
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Dass sich der Erzähler nicht genau erinnern kann, ob der »jemand«, von dem er erzählt, in Nigeria, Sydney, Ulan Bator oder Usbekistan war, und er auch dessen ›Kunstprojekt‹ nicht mehr präsent hat, wirft alle genannten Aktionen als unerheblich und wenig prägnant in einen Topf. Wenn im Folgenden dann von den »netten Goethe-Institut-Leuten« berichtet wird, die ja immerhin besagtes Kunstprojekt organisiert und begleitet haben, dass sie sich, ohne freilich zu widersprechen, über den Beschluss der Leitung des Goethe-Instituts, zur Hochkultur zurückzukehren, aufregen, wird auch der öffentlich-politische Kulturauftrag des Goethe-Instituts infrage gestellt. Ein Zitat von Franz Josef Strauß macht dabei klar, worum es geht: »Wer Deutsch lernt, kauft auch deutsch.« (H 288) – Kulturarbeit folgt einem ökonomischen Interesse. In der Nummer 5/2018 der Zeit ist – nach dem Ende der TEMPO-Kolumnen – nochmals eine recht scharfe Hass-Kolumne von Maxim Biller erschienen. Sie trägt die Überschrift Wer ist hier das Arschloch? Kein großes Denken ohne große Beleidigung: Über den Wert der Polemik angesichts von Pegida, Yoga und Heiko Maas und sie beschimpft uns alle, die Intellektuellen bzw. die, die sich dafür halten, in ihrer bildungs- und spießbürgerlichen Trägheit. »Sie wollen«, wirft er uns an den Kopf, jeden Abend Ihre beruhigende Luhmann-, Lilla-, Eribon- oder Heidegger-Pille nehmen und dann die Nacht und vielleicht sogar noch den halben Tag ungestört durchschlafen. Und dann wollen Sie eine temperamentlose, geistlos abwägende Buchkritik lesen, dort eine Sozialreportage oder einen Flüchtlingsbericht, deren Hauptmerkmale billiges Moralisieren und zeitgenössische Journalistenschulen-»Beschreibungsimpotenz« sind, und wenn Sie einen Leitartikel lesen, dann gefällt er Ihnen nur, wenn Sie hinterher genauso denken wie davor.10
Aufhänger dieser Kolumne ist die Ankündigung von Bundesaußenminister Heiko Maas, das Internet gezielt per Algorithmus nach Hass-Kommentaren zu durchsuchen und diese zu löschen. Damit setzt Biller seine eigene Hass-Poetik ins Verhältnis zu den aktuellen Hass-Diskursen, aber nur um klarzumachen, dass beide nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun haben. Indem er nochmals eine überkodierte Hass-Kolumne schreibt und sich dabei die Frage stellt, ob Heiko Maas’ Algorithmus die wohl findet, legt er auch seine Poetik offen:
10 Maxim Biller: Wer ist hier das Arschloch? Kein großes Denken ohne große Beleidigung: Über den Wert der Polemik angesichts von Pegida, Yoga und Heiko Maas. In: Die Zeit 5, 2018. www.zeit.de/2018/05/polemik-literatur-hate-speech-internet-ueber treibungen (11.09.2018).
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Ja, ich glaube fest an die Kraft der polemischen, intellektuellen Übertreibung, obwohl es […] im Moment gar nicht so aussieht, dass sie funktioniert; […] vor allem glaube ich deshalb so fest an den rhetorischen Totalangriff, weil ich immer öfter den Verdacht habe, dass alle, die Hass-Aufklärern und Radikalpolemikern wie mir erzählen, Hass sei irgendwie vorbei – wegen Trump, wegen Bushido, wegen Pegida, wegen Yoga, wegen RevengePorn, wegen des Internets oder was weiß ich –, eigentlich nur den absolut berechtigten Hass gegen sie selbst meinen und fürchten.11
Auch dieser Text ist selbstreferenziell. Seine konstitutive Selbstbezüglichkeit betrifft gerade auch die Hass-Attribuierung. Das Wort ›Hass‹ kommt allein in diesem vergleichsweise kurzen Text elfmal vor. Tatsächlich hat Maxim Biller in den Kolumnen den Hass zu seinem Markenzeichen gemacht. Und damit man das ja nicht nicht merkt, baut er das Wort ›Hass‹ in verschiedenen Verbindungen und Spielarten leitmotivisch in seine Texte ein: »Aber unser Hass gebührt zuallererst jenem Mann, der diese hübsche Hohlheit verkörpert: Mickey Arschfisch eben.« (H 8) Oder: »Diese Leute hasse ich, denn sie sind Rassisten in der Maske des liberalen, aufgeklärten Humanisten.« (H 28) Und: »Dann sollten Sie den Ledermann erst recht hassen.« (H 48) Da ist die Rede von ›Selbsthassern‹ (vgl. H 33, 38, 83), »systemkritische[m] Hass« (H 43), von »Fremdenhass« (H 124), von ›Fernsehhassern‹ (vgl. H 178). Er spricht auch wiederholt vom »Hass-Biller« (H 54, 137, 139) oder davon, dass etwas »hassbillermäßig« (H 181, 202) sei, und beginnt eine Kolumne schon mal mit »Heute, liebe Hass-Freunde, führen wir einen Indizienprozess.« (H 57)12 Hass wird also in allen seinen sprachlichen Varianten spielerisch gedreht und gewendet. Dabei erweist er sich als überaus flexibel und dehnbar. Und: Der Biller’sche Hass ist in dem Sinn performativ, in dem die Worte zugespitzt werden und sich im Akt des Lesens, vor den Augen des Lesers bzw. der Leserin, auf der Bühne der Hundert-Zeilen-Kolumne ereignen.13 Gelegentlich, nicht allzu häufig, aber doch, schließt der Kolumnist sich selbst in das eben Attackierte ein, etwa, wenn er die zitierte Kolumne über die plebejische
11 Ebd. 12 Vgl. auch H 59: »Schreiben Sie uns, liebe Geschworene und Hass-Freunde. Nutzen Sie die Gelegenheit, einmal selbst auszuteilen.« Eine andere Kolumne adressiert ihre Leserinnen und Leser mit »liebe Freunde und Feinde des Hasses« (H 92; vgl. H 145). 13 Die Wirkung mag ungleich höher sein, wenn man die einzelne Kolumne im Kontext der Zeitschrift liest. Die Lektüre des Buchs mit Billers gesammelten Hass-Kolumnen zeitigt eher den Effekt eines etwas seriell abbrennenden Feuerwerks, bei dem manche Raketen höher steigen und greller leuchten als andere – die Gesamtwirkung ist gleichwohl eindrücklich.
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Freizeitkultur mit den Worten beschließt: »Und damit diese verdammten hundert Zeilen endlich voll sind. / Geschafft. Wieder einen Monat frei.« (H 78) Hier driftet der Hass ins Humoristische. Man könnte nun einwenden, dass, indem alles und jenes durch die rhetorische Hass-Mühle gedreht wird, die Kritik letztlich an Spezifik und Schlagkraft verliert. Das wäre freilich keinesfalls in Billers Sinn. Seinen polemischen Hass verbindet er mit einem unbedingten Wahrheitsanspruch, der sich in der Tat mit dem Prinzip der Parrhesia trifft. So wendet er sich etwa an »die Freunde des wahrheitsspendenden Hasses« (H 130) und schreibt, einmal mehr die Leserinnen und Leser inkludierend, »wir, die Anhänger der Wahrheit und des Hasses« (H 134). Hass und Wahrheit werden hier aufeinander bezogen. Diese Engführung insinuiert, dass wer die Wahrheit kennt notwendig hassen muss. Damit erhält der Hass, so wie ihn Biller versteht und praktiziert, eine ethische Motivierung. An anderer Stelle heißt es: »Hass beflügelt nämlich. Hass gibt einem die Kraft, immer das zu sagen, was man denkt […].« (H 169) Hinter dieser Aussage steckt die Vorstellung, dass, wenn man Hass als Affekt fasst und nicht ausschließlich als rhetorisches Verfahren, die sich der Kontrolle entziehende affektive Dimension der Wahrheit zum Ausdruck verhilft. Dabei sind Verletzungen unvermeidlich und müssen in Kauf genommen werden.14 Ironischerweise sind auch die Verfasser von Hasskommentaren im Netz von der Wahrheit ihrer Äußerungen überzeugt und auch sie sagen, was sie denken. Allerdings unterscheidet sich ihr Denken und Schreiben diametral von Billers gedanklichem und sprachli-
14 Martin Hielscher verweist in einem klugen Artikel, der sich mit der Poetik von Billers zensiertem Roman Esra auseinandersetzt, auf Thomas Manns Äußerung, dass, wenn aus einer Sache ein Satz gemacht wurde, die Sache nichts mehr mit dem Satz zu tun habe (vgl. Thomas Mann: Bilse und ich. München: E. W. Bonsels 31906, S. 22). Hielscher hält fest, dass die beiden Frauen, die gegen Esra klagten, sich zu dem Roman so verhielten, »als wäre er ein Stück Realität«, und damit eben die Realität erzeugten, »über die dieser Roman in der Fiktion spricht« (Martin Hielscher: Bilse, Biller und das Ich. Der radikale Roman und das Persönlichkeitsrecht. In: Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Hg. v. Stefan Neuhaus und Johann Holzner. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 686–694, hier: S. 690). Liest man Billers Kolumnen als literarische Texte, könnte man argumentieren, dass Hass als Affekt und rhetorische Form sowie die reale Person, auf die referiert wird, und ihre Figuration in der Hassrede in einem dynamisch-performativen Wechselverhältnis stehen, sodass die Realität immer schon in der Fiktion aufgeht und umgekehrt. Ob die Hassrede deshalb weniger verletzend wirkt, bleibe dahingestellt. Bei den Klägerinnen gegen Esra hat es nicht funktioniert.
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chem Tief- und Scharfsinn und – um nochmals mit Gumbrecht zu sprechen – seiner Rekursivität. Auch geht es ihnen nicht um Aufklärung und Bewusstmachung, sondern um die Vernichtung bzw. Vertreibung des Gegners. Bei aller Omnidirektionalität seines Hasses, die dann vielleicht doch hin und wieder Relativierungen zulässt – eine Sache ist für Biller nicht verhandelbar: der Holocaust und die Opfer-Täter-Beziehung zwischen Juden und Deutschen. Diese Konstellation durchzieht – das wurde auch in den bisherigen Zitaten schon deutlich – mehr oder weniger alle Kolumnen, selbst solche, in denen es vordergründig um anderes geht. Die Kolumne Philosemitismus und kein Ende vom August 1988 entlarvt den deutschen Philosemitismus als verkappten Antisemitismus. Da heißt es: Es gibt in Deutschland Menschen, die haben Angst, einen Juden zu beleidigen. Fürchten sie die Beleidigungsklage eines Juden, ihren gesellschaftlichen Tod oder die Attacke eines dieser so schrecklich präzise arbeitenden israelischen Vergeltungskommandos? Nein, diese Leute haben Angst vor sich selbst: vor einem unkontrollierten Moment, in dem ihnen, den »Judenfreunden«, eine antisemitische Bemerkung herausrutschen könnte. (H 28)
Billers Hass gilt dem, wie er es sarkastisch nennt, »bequemen Es-war-soschlimm-aber-passiert-nicht-wieder-Gesang« (H 29) der Deutschen, ihrer Verklemmtheit im Umgang mit Juden, einer heuchlerischen Gedenk- und Erinnerungskultur.15 Und Biller lässt seine Kolumne treffsicher in den hyperbolischen Satz münden: »Wollt ihr die totale Vergangenheitsbewältigung?« (H 30) Die umstrittene Rede des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger, die dieser am 10. November 1988 zum 50. Jahrestag der Judenpogrome hielt, liest Biller im der Kritik an Jenninger gegenläufigen Sinn, nämlich dahin gehend, dass Jenninger ganz klar Mitläufertum und Mitwissen der Deutschen offengelegt habe. Die Kritik an der Jenninger-Rede hatte sich hingegen an dem in der Rede vermeintlich zum Ausdruck kommenden Verständnis für die Haltung der Deutschen gegenüber dem Nationalsozialismus entzündet. Biller schreibt, der Bundestagspräsident habe mit seiner Rede nicht die Juden beleidigt, sondern die Deutschen, und der »Heuchel- und Betroffenheits-Orgie, die bei uns seit über
15 Zum jüdisch-deutschen Verhältnis bei Biller vgl. auch Yannick Müllender: Schreiben gegen eine deutsch-jüdische Symbiose. Subversive Erzählverfahren bei Maxim Biller. In: Skandalautoren. Zu repräsentativen Mustern literarischer Provokation und Aufsehen erregender Autorinszenierung. Hg. v. Andrea Bartl u. Martin Kraus. 2 Bde. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, Bd. 2, S. 279–296 sowie Jan Strümpel: Maxim Biller. In: Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. www.munzinger.de/document/16000000052 (14.09.2018).
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dreißig Jahren um die sechs Millionen Holocaust-Opfer veranstaltet wird, endlich ein würdiges Ende bereitet« (H 37). Der Kolumnist richtet seinen Hass gegen das deutsche Bild vom ›guten Juden‹, mit dem die Deutschen, so Biller, nur ihren Antisemitismus bemänteln. Permanent konfrontiert Maxim Biller in seinen Kolumnen Deutsche und Juden und ruft Nationalsozialismus und Holocaust auf. Einerseits geht es ihm darum, das Schuldverhältnis zwischen Deutschen und Juden offen und wach zu halten, andererseits kollabieren die Zuschreibungen immer wieder in dem Sinn, dass Biller im unterstellten Hass der Deutschen auf die Juden einen fundamentalen deutschen Selbsthass diagnostiziert. Man kann wohl so weit gehen zu sagen, dass sich Billers Hass-Poetik insgesamt als Haltung von der Konfiguration des deutsch-jüdischen Verhältnisses herschreibt, dessen Signatur der Holocaust ist. Und diese von einer konfrontativen ›Wir/ihr‹-Rhetorik16 durchzogene Signatur ist allen seinen Texten eingeschrieben. Und es ist ganz klar, auf wessen Seite er steht: Er ist Jude – in Deutschland. Biller betont beständig seine kritische Distanz gegenüber beiden Seiten, mit denen er sich indessen zugleich identifiziert. In der Werbung des Verlags Hoffmann und Campe für Hundert Zeilen Hass hieß es: »Niemand in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur hasst virtuoser, fundierter und zugleich liebevoller als der Schriftsteller Maxim Biller.« Natürlich: Wo von Hass die Rede ist, stellt sich häufig der diskursive Gegenbegriff ›Liebe‹ ein. Es gibt im Deutschen ja auch die Prägung der ›Hassliebe‹. Man sollte sie indessen für Biller nicht vorschnell in Anschlag bringen, weil sie etwas Verharmlosendes, Harmonisierendes impliziert. Billers Hass mit seiner Liebe zu den attackierten Objekten wegzuerklären, käme zweifellos einer psychologischen Verkürzung gleich. Die Differenz zwischen Juden und Deutschen ist Biller zufolge unter allen Umständen offenzuhalten, auch wenn er sich gegen eine Instrumentalisierung des Holocaust durch beide Seiten wendet. Im Hinblick auf das Opfer-TäterVerhältnis zwischen Juden und Deutschen ist Maxim Biller gänzlich kompromisslos – wie er auch ansonsten in seinen Polemiken keine Kompromisse kennt. Aus dieser fundamentalen Spannung des jüdisch-deutschen Verhältnisses bezieht der Biller’sche Hass seine sich immer erneuernde Energie. Biller bearbeitet rhetorisch und offensiv und tatsächlich mit höchster Virtuosität die Seite des Hasses; was daran Liebe sein könnte – man sollte vielleicht besser von ›Bindung‹ sprechen –, wird bestenfalls ex negativo zur Darstellung gebracht. Hoffmann und Campe war im Übrigen auch der Verlag von Heinrich Heine, der in Billers Texten wiederholt als positive Referenz auftaucht. Auf Heines
16 Vgl. H 259: »Denn ab und zu merken auch wir Juden, dass das Leben hier unten absolut sinnlos und idiotisch ist […]«.
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Deutschland. Ein Wintermärchen als Intertext der Kolumne Schwarzer Sommer, die mit dem Fußballsommermärchen des Jahres 2006 abrechnet, wurde bereits hingewiesen. Heine ist bei Biller durchweg eine positive Referenz. Biller subsumiert ihn unter die »Utopie einer freien, gerechten, sozialistischen Gesellschaft«, der zu verdanken seien: »Heines Gedichte, Brechts Theaterstücke, die Münchner Räterepublik, 1968 und 1989,17 die Romane von Böll, Hemingway und Goetz, Live-Aid,18 die Internationale Brigade im Spanischen Bürgerkrieg, Ulrike Meinhofs Essays, die taz, Spex, Bob Dylan und alle Filme von Fassbinder.« Und er schiebt den erstaunlichen Satz nach: »Man wird doch wohl mal schwärmen dürfen. Es muss ja nicht immer Hass sein. Nicht in Tagen wie diesen.« (H 64) Sollte der Biller’sche Hass hier tatsächlich – angesichts der deutschen Wiedervereinigung – eine Moderation erfahren oder ist auch diese, immer schon, ironisch gemeint? So ironisch wie der Schlusssatz der Kolumne Geisterstadt, in der im Juli 1992 die Mittelmäßigkeit Hamburgs aufs Korn genommen wird: »Verdammt gut, die Kolumne diesmal, oder? Nicht einmal Heine hätte das besser hingekriegt.« (H 147)19 Besonderes Interesse in Bezug auf Heine verdient Billers Kolumne Herzog, ein Lügenmärchen, die im Februar 1998 publiziert wurde. Die Kolumne, die schon im Titel auf Heines Epos Deutschland, ein Wintermärchen anspielt, setzt sich kritisch mit Roman Herzog auseinander, der von 1994 bis 1999 Bundespräsident war und den Biller in seiner Kolumne mehrfach »Roman the German« (H 320 f.) nennt. Herzog hatte am 27. Dezember 1997 in Düsseldorf anlässlich des 200. Geburtstags von Heinrich Heine eine Rede gehalten, in der er das kritische Engagement von Schriftstellern und Intellektuellen würdigend hervorhob.20 Biller nimmt diese Rede Herzogs zum Anlass, um dem Bundespräsidenten Heuchelei im Umgang mit der deutschen Schuld und Vergangenheit vorzuwerfen. Er zitiert Herzogs auf Heine gemünzten Satz »Sein
17 Die ›Wende‹ des Jahres 1989 liest Biller in seiner Kolumne Es muss nicht immer Galle sein vom Dezember 1989 nicht als Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus, sondern als Sieg einer Utopie des Sozialismus über den realen Staatskapitalismus der DDR; vgl. H 62–64. 18 Live Aid war ein seinerzeit viel diskutiertes Benefizkonzert, das am 13. Juli 1965 in London und Philadelphia zugunsten der Hungerhilfe in Afrika stattfand. 19 In der Kolumne selbst heißt es: »Kommt mir jetzt bloß nicht mit Heine, der hier einmal angeblich eine Tasse Tee getrunken hat. Das war doch wohl eher in Düsseldorf« (H 146). 20 Zum 200. Geburtstag von Heinrich Heine – Rede des Bundespräsidenten in Düsseldorf. www.bundesregierung.de/Content/DE/Bulletin/1990-1999/1997/103-97_Herzog_1.html (13.09.2018).
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Spott konnte messerscharf und sein Hass grenzenlos sein. Er hat also viele, nicht nur sympathische Gesichter.« (H 320) und wirft dem Bundespräsidenten vor, jeden formulierten kritischen Gedanken immer gleich wieder zurückzunehmen. Bei dem Stichwort ›Hass‹ fühlt er sich freilich persönlich angesprochen: »Darf ich einmal kurz ganz ehrlich sein? Ich glaube, mich, den Heine 2000, kennt Roman Herzog noch nicht.« (H 321) Und die Kolumne endet mit den Worten: »Was? Nein, Herr Bundespräsident, ich finde nicht, dass ich übertreibe. Ich bin nur der Geist, den Sie riefen. Ich bin Heine. Ich bin Ihre Zumutung, Ihr Streit, Ihr Widerspruch.« (H 322) Nun hatte Herzog in seiner Rede auch davor gewarnt, sich Heine aneignen zu wollen (»Aber auch heute können wir ihn nicht vereinnahmen.«) – gerade das tut aber Biller in seiner Kolumne. Nur tut er es so offensichtlich und kalkuliert, dass diese Aneignung zur rhetorischen Figur wird, die sich zugleich selbst ironisiert. So sehr Heine für Biller eine positive Identifikationsfigur darstellt, so schlecht kommen die die meisten seiner zeitgenössischen Schriftstellerkolleginnen und -kollegen – erwartungsgemäß – bei ihm weg. Grass, Böll und Handke verehre er, ist zu lesen; das seien »die einzigen echten Schriftsteller, die diese Republik hervorgebracht« (H 55)21 habe – obwohl er in der erwähnten neueren Zeit-Kolumne Handke als »Wort-Onanist[en]«22 bezeichnet, der wie Botho Strauß nur mehr ›sinnentleert raunt‹ (vgl. H 138). Umberto Eco und Botho Strauß, den er ganz besonders hasst, wird der Schriftsteller-Status gleich ganz abgesprochen: Vor allem aber erklären wir, dass wir seit dem 1. Januar 1990 Kino nicht mehr für Leben halten, Umberto Eco und Botho Strauß für Schriftsteller, Prince für heterosexuell, Madonna für eine Sängerin, die deutsche Frage für gelöst, die SPD für professionell, Stalin für ein Kraftsynonym, Ronald Reagan für einen Schauspieler, Klatschkolumnisten für Dichter, David Byrne, Robert Wilson, Heiner Müller, Bruce Weber, Bernard-Marie Koltès, Philip Glass und Joseph Beuys für Genies, Gaultier für einen prima Modemacher, aufgeblasene Silikontitten für schön, Julie Burchill für eine Intellektuelle … (H 65)23
21 Zu Böll vgl. auch H 196: »[…] denn unsere Demokratie ist, Böll sei Dank, endlich erwachsen geworden.« 22 Biller: Wer ist hier das Arschloch? 23 Die Attribuierungen sind hier im klassischen rhetorischen Sinn ironisch. Bei Quintilian heißt es bekanntlich: »[In der Form der Ironie] ist es statthaft, indem man zu loben vorgibt, eine Herabsetzung und, indem man zu tadeln vorgibt, ein Lob auszudrücken.« (Vgl. Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. u.
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Selbstredend ist es hier auch die Aneinanderreihung des Heterogenen, die nicht nur einen komischen, sondern auch einen herabsetzenden Effekt erzeugt. In Anspielung auf die von Peter Handke der Gruppe 47 in seiner legendären Intervention in Princeton attestierte »Beschreibungsimpotenz«24 spricht Biller im Hinblick auf eben die Autoren der Gruppe 47 von »Literatur-Schlappschwänzen«.25 Von den im Jahr 1990 jungen Autoren Hubert Winkels oder Thomas Hettche vernehme man »keine neuen, literarischen, intellektuellen Visionen« (H 93 f.), mäkelt der Kolumnist, und Rainald Goetz’ Texte würden »immer unverständlicher und weltentrückter« (H 158). Heiner Müller sei »der erste Wendehals der DDR-Geschichte« (H 121), gehasst wird Biermanns »eklige, pathetische, pseudopolemische Sprache« (H 126). Bodo Kirchhoff »ist vielleicht ein Idiot« (H 185) und Kriegsfetischist. Seiner ganzen Generation attestiert Biller »literarische Bedeutungslosigkeit« (H 254). Stefan Willeke bezeichnet Biller in einem Porträt, das im März 2017 unter der Überschrift Der Unzumutbare im ZeitMagazin erschien, als einen »Scharfrichter« der Literatur, dessen Urteil in der Regel auf »schuldig« laute.26 Der Verleger Siegfried Unseld wird von Biller als der »größte[n] deutsche[n] Literaturvernichter der Gegenwart« (H 187) bezeichnet, und im Blick auf Michael Krüger kommt Biller zu dem Urteil: Die deutschen Verleger haben die Literatur »längst aufgegeben« und »wickeln sie nur noch treuhandmäßig ab« (H 219). Natürlich muss ein Maxim Biller zu diesem Literaturbetrieb auf Distanz gehen. Die Frankfurter Buchmesse besucht er, wie er im Gespräch mit Willeke bekundet, nicht mehr und seine Mitwirkung im Literarischen Quartett war bekanntlich von kurzer Dauer.
übers. v. Helmut Rahn. Zweiter Teil, Buch VII–XII. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 31995, S. 241.) 24 Vgl. dazu etwa Malte Herwig: Meister der Dämmerung. Peter Handke. Eine Biographie. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2011, S. 142. 25 Biller: Wer ist hier das Arschloch? 26 Stefan Willeke: Der Unzumutbare. In: Zeit-Magazin 10 (17.03.2017). www.zeit.de/ zeit-magazin/2017/10/maxim-biller-biografie-kritik-schriftsteller-literarisches-quartett /komplettansicht (13.09.2018). Bemerkenswerterweise hat Biller in der ZEIT Nr. 33 vom 9. August 2018 einen für ihn ungewöhnlich moderaten, ja geradezu liebevollen Text über Robert Menasse veröffentlicht. Vgl. Maxim Biller: Robert Menasse. Ein Sommermorgen im Savoy. Keiner raucht und erzählt so schön wie der Schriftsteller Robert
Menasse.
(14.09.2018).
www.zeit.de/2018/33/robert-menasse-schriftsteller-maxim-biller
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»Maxim Biller macht es allen schwer: Seinen Lesern, den Fernsehzuschauern, seinem Verleger, seinen Freunden – und vor allem sich selbst«, schreibt Stefan Willeke in seinem Porträt des Autors.27 Biller pflege sein Image als »unerträglich eitler und zugleich zutiefst verunsicherter Intellektueller […] nach Kräften«28, heißt es in Richard Volkmanns Besprechung von Hundert Zeilen Hass in der Jüdischen Allgemeinen. Und Volkmann berichtet von Billers Teilnahme an der großen jüdischen Kulturtagung Tarbut, die vor einigen Jahren stattgefunden habe. Maxim Biller habe vor Beginn einer Podiumsdiskussion demonstrativ einen Randplatz eingenommen und vor den Augen des Publikums seinen Tisch im 45-Grad-Winkel zu den anderen Podiumstischen gestellt, um schon allein durch die Sitzordnung seine Haltung ›Ich gegen euch‹ zum Ausdruck zu bringen. Hass in einem unkritischen, von Vernichtungswillen getriebenen Sinn, wie er im öffentlichen Diskurs der Gegenwart erscheint, ist das nicht, solange jemand sich am Gespräch beteiligt. Das demonstrative Verrücken des Tischs bringt indes – noch bevor überhaupt ein Wort gesprochen wurde – eine prinzipielle Haltung des Nichteinverstandenseins, das Bemühen um das Einnehmen eines abweichenden Blickwinkels zum Ausdruck. Auch wenn Billers ›Hass‹ mittels einer tatsächlich an Heine erinnernden Sprachgewalt, die ihre eigene Virtuosität merklich genießt, verletzt, so handelt es sich dabei doch letztlich um eine moralischästhetische Haltung, die oft genug, freilich nicht immer, die eigene Position in den Hassangriff einschließt.
LITERATUR Biller, Maxim: Hundert Zeilen Hass. Mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht. Hamburg: Hoffmann und Campe 2017. Biller, Maxim: Wer ist hier das Arschloch? Kein großes Denken ohne große Beleidigung: Über den Wert der Polemik angesichts von Pegida, Yoga und Heiko Maas. In: Die Zeit 5, 2018. www.zeit.de/2018/05/polemik-literaturhate-speech-internet-uebertreibungen (11.09.2018). Foucault, Michel: Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83. Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009.
27 Willeke: Der Unzumutbare. 28 Richard Volkmann: Ruhestörer. Literatur: In seinen ›Tempo‹-Kolumnen kämpft Maxim Biller gegen den Rest der Welt. In: Jüdische Allgemeine, 21.04.2017.
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Grabbe, Katharina: Deutschland – Image und Imaginäres. Zur Dynamik der nationalen Identifizierung nach 1990. Berlin: De Gruyter 2014. Herzog, Roman: Zum 200. Geburtstag von Heinrich Heine – Rede des Bundespräsidenten in Düsseldorf. www.bundesregierung.de/Content/DE/Bulletin/19901999/1997/103-97_Herzog_1.html (13.09.2018). Herwig, Malte: Meister der Dämmerung. Peter Handke. Eine Biographie. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2011. Hielscher, Martin: Bilse, Biller und das Ich. Der radikale Roman und das Persönlichkeitsrecht. In: Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Hg. v. Stefan Neuhaus und Johann Holzner. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 686–694. Jessen, Jens: Den Hass normalisieren. Soll man mit einem wie Steve Bannon überhaupt sprechen? In: Die Zeit 37, 2018. www.zeit.de/2018/37/stevebannon-einladung-new-yorker-auseinandersetzung (10.09.2018). Leiris, Antoine: Meinen Hass bekommt ihr nicht. Deutsch von Doris Heinemann. München: Blanvalet 2016. Mann, Thomas: Bilse und ich. München: E. W. Bonsels 31906. Meier, Christel und Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Prophetie und Autorschaft. Charisma, Heilsversprechen und Gefährdung. Berlin: De Gruyter 2014. Müllender, Yannick: Schreiben gegen eine deutsch-jüdische Symbiose. Subversive Erzählverfahren bei Maxim Biller. In: Skandalautoren. Zu repräsentativen Mustern literarischer Provokation und Aufsehen erregender Autorinszenierung. Hg. v. Andrea Bartl und Martin Kraus. 2 Bde. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, Bd. 2, S. 279–296. Quintilianus, Marcus Fabius: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher hg. u. übers. v. Helmut Rahn. Zweiter Teil, Buch VII–XII. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 31995. Strümpel, Jan: Maxim Biller. In: Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. www.munzinger.de/document/ 16000000052 (14.09.2018). Volkmann, Richard: Ruhestörer. Literatur: In seinen ›Tempo‹-Kolumnen kämpft Maxim Biller gegen den Rest der Welt. In: Jüdische Allgemeine, 21.04.2017. Willeke, Stefan: Der Unzumutbare. In: Zeit-Magazin 10 (17.03.2017). www.zeit.de/zeit-magazin/2017/10/maxim-biller-biografie-kritik-schriftstellerliterarisches-quartett/komplettansicht (13.09.2018).
Recht auf Satire – Recht auf Beleidigung? Recht, Sprache und Affekt im ›Fall Böhmermann‹ N. Yasemin Ural
EINLEITUNG Es ist allgemein üblich geworden, über den Schutz der Würde und der Gefühle von Individuen durch gesetzliche Maßnahmen zu sprechen, um gegen religiöse und/oder moralische Verletzungen zu kämpfen, die durch verbale und symbolische Angriffe auf nicht nur eine Minderheit, sondern auch eine Mehrheitsgruppe entstehen können. In diesen Diskussionen stehen vielfach die Würde und Gefühle von Muslimen im Vordergrund, besonders in Bezug auf die Antidiskriminierungs- und Blasphemiegesetze, die in verschiedenen europäischen Ländern, einschließlich Deutschland, existieren. Die Gesetze gegen Rassismus oder Blasphemie enthalten aber oftmals Widersprüche, deren Kraft häufig durch affektive Deutungen deutlich wird. Eines der Beispiele, die diese Widersprüchlichkeiten am deutlichsten sichtbar gemacht haben, ergab sich aus den europaweiten öffentlichen Debatten nach dem Attentat auf Charlie Hebdo in Paris. Bei diesem Attentat wurden mehrere Redaktionsmitglieder der Zeitschrift von zwei Brüdern, die französische Muslime waren, erschossen, nachdem in Charlie Hebdo Karikaturen des Propheten Mohammed veröffentlich worden waren. Nach dem Attentat auf Charlie Hebdo drehte sich die Debatte vor allem um die Frage, ob Charlie Hebdo das Recht habe, den Islam zu kritisieren, wenn sich dadurch Muslime, darunter auch die muslimische Minderheit in Europa, beleidigt fühlten, oder ob es absolut inakzeptabel wäre, eine ethnische oder religiöse Minderheit zu beleidigen. In diesem Rahmen argumentierten einige Wissenschaftler auch, dass es in der säkularisierten westlichen Welt nicht mehr zu rechtfertigen sei, Blasphemiegesetze in Kraft zu halten, die den religiösen Charakter einer Verletzung anerkennen und privilegieren. Stattdessen sollten Blasphemiegesetze in umfassenderen weltlichen Gesetzen über Hassrede und Hassverbrechen aufgehen, die gegen
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jede derartige Verletzung gerichtet sein sollten, unabhängig von der Religionszugehörigkeit der verletzten Person.1 Also: Gesetze gegen Rassismus ja, aber gegen Blasphemie nein! Einige Stimmen in der Debatte gingen sogar noch über diesen Aufruf zur Abschaffung der Blasphemiegesetze hinaus und erklärten ihr ›Recht auf Blasphemie‹ und ›Recht auf Beleidigung‹ zum Teil ihrer Freiheiten des Gewissens und des Ausdrucks. Die Veröffentlichung der Bilder des Propheten Mohammed wurde gleichzeitig als Verletzung und als gewöhnliche Ausübung persönlicher Rechte bezeichnet, die durch die Artikel 9 (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) und 10 (Meinungsfreiheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geschützt seien. Die verschiedenen Rechtsdokumente, die sich mit den privaten Persönlichkeitsrechten des Einzelnen befassen, enthalten zugleich Beschränkungen für deren eventuelle Unterwerfung unter »gesetzlich vorgeschriebene und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der öffentlichen Sicherheit […] notwendige Schutzmaßnahmen zum Schutz von öffentlicher Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten Anderer« (Artikel 9/2 der EMRK). So kann die Beschränkung von Rechten, die Individuen zugeschrieben werden, nur dann gerechtfertigt werden, wenn die unpersönliche öffentliche Sphäre gefährdet ist, die über den Gefühlen und künstlerischen Bedürfnissen des Individuums steht. Die Grenzen dessen, welche Taten und Äußerungen in der Öffentlichkeit als akzeptabel angesehen werden, werden in letzter Instanz durch die Art und Weise gezogen, wie dieser Bereich der ›öffentlichen Ordnung‹ von den Instanzen der Strafverfolgung konzipiert und reguliert wird. Diese Instanzen sind dabei natürlich nicht unabhängig von den öffentlichen Debatten, die sich insofern in ihrem Verständnis ›öffentlicher Ordnung‹ niederschlagen. Die öffentlichen Kontroversen über Charlie Hebdo nicht nur in Frankreich, sondern in der ganzen Welt haben gezeigt, wie schwer es ist, zu entscheiden, was genau der Begriff der religiösen (und/oder moralischen) Verletzung bedeutet, und wie man festlegen kann, welche Personen oder Gruppen Anerkennung oder Schutz verdienen und in welchen Fällen sie auf diesen Schutz verzichten können oder müssen. Auf der einen Seite wird deutlich, dass das, was als schützenswert gilt, auf der Abwägung verschiedener ›Normen‹ basiert – eine ihrerseits sehr ungenaue Vorstellung, die durch »öffentliche Ordnung, Gesundheit und Moral« in den Artikeln der EMRK nur vage beschrieben ist. Auf der anderen Seite besteht eine deutliche Spannung zwischen bestimmten Artikeln in den internationalen Verträgen über die Meinungsfreiheit, insbesondere zwischen den
1
Vgl. Burkhard J. Berkmann: Von der Blasphemie zur »hate speech«? Die Wiederkehr der Religionsdelikte in einer religiös pluralen Welt. Berlin: Frank & Timme 2009.
Recht auf Satire – Recht auf Beleidigung? | 399
Artikeln 19 und 20 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) sowie Artikel 4 der UN-Rassendiskriminierungskonvention (ICERD). Während Artikel 19 ICCPR eine Einschränkung der Meinungsäußerung im Interesse der »Achtung der Rechte oder des Ansehens anderer Personen« vorsieht, schreibt Artikel 20 vor, dass jede Rede, die ein Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Hass darstellt, eingeschränkt wird, solange sie zur »Diskriminierung« führt. Artikel 4 der UN-Rassendiskriminierungskonvention geht weiter als Artikel 20 ICCPR, indem er die Kriminalisierung bestimmter »Hassreden« rassistischer Natur fordert. Während der Artikel 20 der ICCPR fordert, dass Kern der Hassrede eine Anstiftung zu Gewalt, Feindseligkeit und Diskriminierung sein muss, ist unter der UN-Rassendiskriminierungskonvention kein solcher Effekt der Aufhetzung zu nachgelagerten Straftaten erforderlich – die Äußerung jeglicher rassistischen »Ideen« muss danach einem Verbot unterliegen.2 Obwohl die gewalttätigen Ereignisse des Charlie Hebdo-Attentats und die internationalen Solidaritätsaktionen danach die Debatte emotional zugunsten des Rechtes auf Gotteslästerung (oder, wie andere in Frankreich es ausdrückten, ›die Pflicht zu lästern‹) dominierten und immer noch dominieren,3 bleibt die Frage nach den Grenzen der Kunst- und Meinungsfreiheit innerhalb und außerhalb Frankreichs bisher unbeantwortet. Ich möchte in diesem Artikel diese Frage in Bezug auf Sprache und Recht aus Sicht der Affect Studies aufgreifen. Ich habe den sogenannten ›Fall Böhmermann‹ für meine Untersuchung gewählt, nicht nur, weil er ein perfektes Beispiel für die Schwierigkeit der Grenzziehung zwischen privat und öffentlich, Beleidigung und Satire, dem Persönlichen und dem Politischen, Sakralem und Profanem darstellt, sondern auch, weil die sich überlagernden Schichten der Kritik es in diesem Fall noch schwerer machen, die beleidigenden und beleidigten (menschlichen und/oder diskursiven) Körper aufzuspüren und zu erfassen, wenn es überhaupt welche gibt. In Anlehnung an Judith Butler erscheint es mir sinnvoll, mit Fällen zu beginnen, die ›ein Problem für das Gesetz‹ verursachen, wie es bei der Böhmermann-Affäre der Fall ist. Denn:
2
Vgl. Amal Clooney/Philippa Webb: The Right to Insult in International Law. In: Columbia Human Rights Law Review 48 (2017), H. 2, S. 1–55. Vgl. zu den Fragen der juristischen Würdigung von Hassrededelikten auch den Beitrag von Jonas Bens im vorliegenden Band.
3
Vgl. Emmanuel Todd: Qui est Charlie? Sociologie d’une crise religieuse. Paris: Seuil 2015.
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In such cases, it becomes possible to ask why one constitutional principle takes precedence over another, or to ask whether there are some rather abiding dilemmas in the law that demand a certain kind of judgment.4
Das säkulare liberale Recht, das als individuelles Recht im Besitz eines jeden Bürgers in einem Nationalstaat dienen soll, wird also immer wieder mit Urteilen konfrontiert, während es fortgesetzt die Konturen der Normen, also der ›öffentlichen Ordnung‹ definiert, zusammen mit dem, was als sagbar/ausführbar oder als nicht sagbar/nicht ausführbar gilt. Ich gehe davon aus, dass Urteile, die feststellen, was als ›Straftat‹ oder ›nationaler, rassistischer oder religiöser Hass‹, also als ›inakzeptabel‹ auf der einen Seite, und was als ›Meinungsfreiheit‹, ›Satire‹, also ›akzeptabel‹ auf der anderen Seite gilt, eine affektive Dimension haben. Diese Affektivität bezieht sich einerseits auf den Kontext, die Geschichte und das kollektive Gedächtnis, andererseits auf die Kraft des Sprechaktes, die beleidigende Äußerung oder das ›böse Wort‹, das zu einem unpersönlichen und kontingenten Objekt wird, das unabhängig von den Intentionen des/der Sprechenden oder der Bedeutung des sozialen Kontextes verletzen kann.5 Es geht hier nicht in erster Linie darum, zu erklären, ob die Satire von Böhmermann tatsächlich lustig oder nicht lustig ist, oder ob der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, und vielleicht generell die türkischstämmige Minderheit in Deutschland, sich beleidigt gefühlt hat oder nicht. Noch weniger geht es darum, der sozialen Funktion von Humor und Kritik nachzugehen. Mein grundlegendes Interesse besteht darin, verstehen zu wollen, welche Rolle Emotionen und Affekte in der öffentlichen Beurteilung zweier unantastbarer Rechte einer liberalen Demokratie spielen: Gewissensfreiheit (Kunstfreiheit) und Recht auf persönliche Unversehrtheit (Persönlichkeitsrechte). In diesem Beitrag wird wie folgt vorgegangen: Zunächst werde ich die theoretischen und methodologischen Rahmenbedingungen, die die Affect Theory mit sich bringt, mit auf das Individuum zentrierten gängigen Emotionstheorien in den Sozialwissenschaften, sowohl in der Soziologie als auch in der Anthropologie, vergleichen. Zweitens werde ich den ›Fall Böhmermann‹ und die Kontroversen, die durch den Fall ausgelöst wurden, thematisieren. In diesem Teil werden die sprachlichen und materiellen Strategien der Kritik zusammen mit den gesetzlichen Folgen des Falles gründlich diskutiert. Darüber hinaus werde ich drittens meine alternative methodologische Perspektive, die ich reenacted dis-
4
Judith Butler: Limits on Free Speech? In: Academe Blog, 07.12.2017. https://academe blog.org/2017/12/07/free-expression-or-harassment/ (20.12.2018).
5
Vgl. Denise Riley: Bad Words. In: Diacritics 31 (2001), H. 4, S. 41–53.
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course nenne, präsentieren, die dazu genutzt werden kann, die Materialität und Öffentlichkeit der Gefühle sichtbar zu machen. In diesem Teil werde ich eine Studie, die ich mithilfe dieser innovativen Methodologie durchgeführt habe, vorstellen. Ich versuche hierbei nicht nur die körperlichen und sprachlichen Reaktionen zu skizzieren, die bei den Teilnehmenden in diesem gruppenbasierten Erhebungssetting zu beobachten waren, sondern auch die Rolle der Sprache (oder des Schweigens) für das affektive Urteilen zu demonstrieren. Hieraus ergibt sich ein Fazit im Hinblick auf die allgemeine Affektivität des Falls.
AFFEKTE ALS THEORETISCHE UND METHODOLOGISCHE HERANGEHENSWEISE Die Frage der Emotionen und Affekte ist in den letzten Jahren ins Zentrum der Sozialwissenschaften gerückt. Auch in der breiteren Öffentlichkeit ist oft die Rede von Ressentiments, Emotionen und Gefühlen, insbesondere im Hinblick auf die aktuellen Debatten über Populismus und Demokratie. Es besteht kein Zweifel, dass die neueste Wissenschaft Emotionen als kulturelle und soziale Konstrukte theoretisiert hat. Sozialwissenschaftler kritisieren seit den 1970erJahren das ›psychologische Modell‹, das Emotionen als bloßen Ausdruck eines menschlichen inneren Zustands auffasst. In den letzten vier Jahrzehnten der Emotionssoziologie haben Wissenschaftler die Sichtweisen darauf verfeinert und differenziert, wie eine solche Konstruktion aussehen könnte und was sie für das Soziale bedeutet.6 Ebenso wie die Soziologie der Emotionen hat auch die Anthropologie der Emotionen sich bereits seit langer Zeit damit beschäftigt zu zeigen, dass Emotionen nicht ›natürlich‹ sind.7 Im interkulturellen Vergleich entwickelten Theoretiker_innen und Wissenschaftler_innen neue Wege, um Emotionen zu
6
Vgl. z. B. Norman Denzin: On Understanding Emotion. San Francisco: Jossey-Bass 1984; Theodore D. Kemper: A Social Interactional Theory of Emotions. New York: Wiley 1978; Arlie Hochschild: The Managed Heart: Commercialization of Human Feeling. Berkeley: University of California Press 1983; Deborah Lupton: The Emotional Self: A Sociocultural Exploration. London/Thousand Oaks: Sage 1998; Jack Katz: How Emotions Work. Chicago: University of Chicago Press 1999.
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Vgl. Michelle Z. Rosaldo: Knowledge and Passion: Ilongot Notions of Self and Social Life. Cambridge: Cambridge University Press 1980; Catherine Lutz: Unnatural Emotions: Everyday Sentiments on a Micronesian Atoll and their Challenge to Western Theory. Chicago: University of Chicago Press 1988.
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theoretisieren, beispielsweise als diskursive Praxis.8 Derartige wissenschaftliche Strömungen haben erfolgreich die westliche Dominanz in der Interpretation und der Erforschung von Emotionen demonstriert und kritisiert. Solche Ansätze konzentrierten sich jedoch immer noch auf das Individuum als primäre Analyseeinheit, obwohl die Subjektivität als kulturell geprägt verstanden wurde. Der sogenannte »Affective Turn«,9 der zunächst von den Cultural Studies und den Geisteswissenschaften ausging, steht vor allem für eine konstruktive Kritik an der poststrukturalistischen, an Foucault anschließenden starken Betonung einer Vorstellung von der Macht des Diskurses und der Sprache im Rahmen der Entstehung von Subjektivität. Darüber hinaus versucht die Affect Theory körperliche und materielle Dimensionen (also biologische, physiologische, sinnliche oder auch hormonelle Aspekte etc.) gegenüber Elementen wie Sprache, Bedeutung oder Interpretation in der sozialen Theorie in den Vordergrund zu stellen. Die Affekttheorie konstruiert ein neues Verständnis von »Sensing«, das den Poststrukturalismus kritisiert, und betont stark, dass ein Text stets überdeterminiert ist und die körperlichen Komponenten des »Werdens« eines Subjekts bei einer zu starken Konzentration auf textuelle Dimensionen vernachlässigt werden.10 Studien innerhalb des Affective Turn betonen stattdessen den Körper (menschlich und nicht-menschlich, materiell und immateriell, real und virtuell) in seiner Beziehung zu anderen Körpern, ohne jedoch das Konzept der Macht zu vernachlässigen. Im Gegenteil sind Affekte und Emotionen, einschließlich menschlichen Empfindens, nicht privat, sondern öffentlich bestimmt und bleiben ein Bestandteil der Machtverhältnisse in einer Gesellschaft. In dieser Hinsicht nimmt die Affekttheorie die poststrukturalistische Kritik des liberalen, transzendentalen und autonomen Individuums ernst, doch geht sie von einem anderen Standpunkt aus: der Relationalität zwischen den Körpern.11 In diesem Zusammenhang werden die Körper durch ihre Macht zu affizieren und affiziert zu werden definiert, weshalb der Körper-Begriff nicht auf menschliche Körper reduziert werden kann. Affekt ist in diesem Sinne eine dynamische Begegnung zwischen Entitäten, die sich nur durch diese Begegnung überhaupt als Körper kon-
8
Vgl. Catherine Lutz/Lila Abu-Lughod: Language and the Politics of Emotion. Cambridge: Cambridge University Press 1990.
9
Patricia T. Clough/Jean Halley: The Affective Turn: Theorizing the Social. Durham: Duke University Press 2007.
10 Vgl. Clare Hemmings: Invoking Affect: Cultural theory and the Ontological Turn. In: Cultural Studies 19 (2005), H. 5, S. 548–567. 11 Vgl. Lisa Blackman, John Cromby, Derek Hook, Dimitris Papadopoulos und Valerie Walkerdine: Creating Subjectivities. In: Subjectivities 22 (2008), H. 1, S. 1–27.
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stituieren.12 Dies legt eine theoretische Alternative nahe, in der Gefühle und Emotionen nicht als ein Prozess gedacht werden müssen, der sich unkontrolliert im Inneren eines Individuums abspielt, sondern vielmehr als Produkte davon konzipiert werden können, wie Dinge, Menschen und Diskurse von sowohl der kulturellen Geschichte als auch individuellen Erinnerungen geprägt und auch teilweise kontingent miteinander verbunden werden.13 Affektbasierte Herangehensweisen hinterfragen die Vorstellung von unabhängigen, in sich selbst geschlossenen und souveränen Subjekten der klassischen liberalen Theoriebildung und stellen sie heraus als Kern von Machtsystemen wie Kultur, Politik, Religion, Vernunft oder Wissen.14 Die Subjekte und ihre Erfahrungen selbst sind durch die Auswirkungen von historisch-materiell bestimmten Affekten formiert und werden durch sie transformiert, obwohl Affekte sehr unterschiedliche Effekte auf einzelne Körper in einer bestimmten Zeit- und Räumlichkeit haben können. Affekte zirkulieren, verändern sich oder verschwinden ständig. Zur Übertragung der Affekte erklärt Brennan, dass the origin of transmitted affects is social in that these affects do not only arise within a particular person but also come from without. They come via an interaction with other people and an environment. But they have a physiological impact. By the transmission of affect, I mean simply that the emotions and affects of one person, and the enhancing or depressing energies these affects entail, can enter into another.15
In der Übertragung von öffentlichen und nicht persönlichen Affekten, davon gehe ich aus, spielt die Sprache, also das Wort, eine privilegierte Rolle. Das Wort repräsentiert eine besondere Einheit, die nicht nur Affekte zwischen sehr unterschiedlichen Zeiten und Orten transportieren und in Zirkulation bringen kann, sondern auch einen semi-autonomen Charakter hat, der, von den sprechenden souveränen Subjekten befreit, seine eigene Macht und Agency akquiriert.16 Im
12 Vgl. Jan Slaby: More than a Feeling: Affect as Radical Situatedness. In: Midwest Studies in Philosophy 41 (2017), H. 1, S. 7–26. 13 Vgl. Sara Ahmed: The Cultural Politics of Emotions. Edinburgh: Edinburgh University Press 2004. 14 Donovan Schaefer: Religious Affects: Animality, Evolution and Power. Durham: Duke University Press 2015, S. 23. 15 Teresa Brennan: The Transmission of Affect. Ithaca/London: Cornell University Press 2004, S. 3. 16 Vgl. Judith Butler: Excitable Speech: A Politics of the Performative. New York: Routledge 1997.
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nicht persönlichen Verständnis der affizierenden Sprache liegt eine tiefgehende Herausforderung für die Verantwortung und allgemein das Gesetz begründet, das sich in der Regel mit souveränen Individuen beschäftigt. Die Agency einer Sprache, die selbst Affekte hervorruft, transportiert und zirkulieren lässt, kann vom Gesetz hingegen nicht anerkannt werden. Diese Art, Affektivität zu verstehen, stellt gleichzeitig eine grundlegende Herausforderung für die Methoden der Sozialwissenschaften dar, die immer noch großenteils auf das phänomenologische Paradigma des gegenwärtigen Verständnisses von Gefühlen als Teil der Erfahrung eines einzelnen menschlichen Selbst basieren. Wenn es mehr gibt als die artikulierte Sprache, Signifikanz und Kognition, wie zum Beispiel Impulse, Atmosphären, Stimmungen, Leidenschaften, Affekte und Emotionen, die eine entscheidende Rolle in der sozialen Welt spielen, wie kann man dann diese unpersönlichen Phänomene, die über die Sprache zum Teil nicht greifbar sind, untersuchen? Das anhaltende Beharren auf der individuellen Subjektivität wird durch die aktuelle Sozialwissenschaft infrage gestellt.17 Neue Generationen von Anthropolog_innen und Soziolog_innen argumentieren, dass, wenn man tatsächlich die Vorstellung ernst nimmt, dass der Fokus auf der menschlichen Innerlichkeit und dem inneren Leben eine Besonderheit der westlichen Tradition ist – wie es viele Theoretiker_innen betonten –, dann die konzeptuelle Analyse von Emotionen über das Individuum hinausgehen muss.18 Während etwa Yael Navaro-Yashin das Konzept der Innerlichkeit nicht als bloße Auswirkung des Diskurses abtun will, schlägt sie doch zumindest vor, relationale und objektorientierte Ansätze in die Untersuchung von Emotionen zu integrieren und darüber nachzudenken, wie Emotionalität auf Subjekte und Objekte verteilt werden kann. Eine solche Dezentrierung ist auch ein Ziel der Affekttheorie, auf die ich mich nun als Grundlage für meine konzeptionelle Herangehensweise beziehe.
17 Vgl. Ann L. Stoler: Along the Archival Grain: Epistemic Anxieties and Colonial Common Sense. Princeton: Princeton University Press 2009; Yael Navaro-Yashin: The Make-Believe Space: Affective Geography in a Postwar Polity. Durham: Duke University Press 2012; William Mazzarella: The Mana of Mass Society. Chicago: University of Chicago Press 2017. 18 Navaro-Yashin: The Make-Believe Space, S. 21.
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ENACTING JAN BÖHMERMANN Jan Böhmermann, einer der prominentesten zeitgenössischen deutschen Satiriker, führte am 30. März 2016 einen Sketch in seiner Late-Night-Show Neo Magazin Royale auf. Er las sein »Schmähgedicht«, in dem er den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan beleidigte. Dies wurde als Reaktion auf Erdoğans als ungemessen aufgefasstes Verhalten präsentiert, in Ankara den deutschen Botschafter zu einzubestellen, nachdem in dem Musikvideo »Erdowie, Erdowo, Erdoğan« der NDR-Sendung extra 3 seine Menschenrechtsverletzungen verschiedenen Gruppen gegenüber – etwa Frauen, Kurden und LGBTQ – sowie seine repressiven staatlichen Maßnahmen im Rahmen des in der Türkei verhängten Ausnahmezustands kritisiert wurden. Böhmermanns Gedicht sollte, der Einbettung des Textes in die Sendung zufolge, dem pädagogischen Zweck dienen, dem Präsidenten die Grenzen zwischen Redefreiheit und Schmähkritik (also diffamierender Rede) zu demonstrieren, die in Europa gesetzlich verboten ist. Ich gebe hier die Transkription von einem Teil des Sketches wieder: JAN BÖHMERMANN: Herr Erdoğan, es gibt Fälle, wo man auch in Deutschland, in Mitteleuropa Sachen macht, die nicht erlaubt sind. Also: Es gibt Kunstfreiheit – Satire und Kunst und Spaß – das ist erlaubt. Und auf der anderen Seite, ich glaube es heißt – wie heißt es? RALF KABELKA: Schmähkritik. BÖHMERMANN: Schmähkritik. Das ist ein juristischer Ausdruck, also: Was ist Schmähkritik? KABELKA: Wenn du Leute diffamierst. Wenn du einfach nur so untenrum argumentierst, ne? Wenn du die beschimpfst und wirklich nur bei privaten Sachen, die die ausmachen, herabsetzt. BÖHMERMANN: Herabwürdigen, das ist Schmähkritik. Und das ist in Deutschland auch nicht erlaubt? KABELKA: Das ist Schmähkritik, ja. BÖHMERMANN: Haben Sie das verstanden, Herr Erdoğan? […] KABELKA: Das kann bestraft werden. BÖHMERMANN: Das kann bestraft werden? Und dann können auch Sachen gelöscht werden – aber erst hinterher, nicht vorher? KABELKA: Erst hinterher. BÖHMERMANN: Das ist vielleicht ein bisschen kompliziert – vielleicht erklären wir es an einem praktischen Beispiel mal ganz kurz. Ich hab ein Gedicht, das heißt »Schmähkritik«. Können wir vielleicht dazu eine türkisch angehauchte Version von einem NenaSong haben? Und können wir vielleicht ganz kurz nur die türkische Flagge im Hintergrund bei mir? Sehr gut.
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Also, das Gedicht. Das, was jetzt kommt, das darf man nicht machen? KABELKA: Darf man NICHT machen. BÖHMERMANN: Wenn das öffentlich aufgeführt wird, das würde in Deutschland verboten. KABELKA: Bin der Auffassung: Das nicht, genau. BÖHMERMANN: Okay. Das Gedicht heißt »Schmähkritik«. Sackdoof, feige und verklemmt, / ist Erdoğan, der Präsident. / Sein Gelöt stinkt schlimm nach Döner, / selbst ein Schweinefurz riecht schöner. / Er ist der Mann, der Mädchen schlägt / und dabei Gummimasken trägt. / Am liebsten mag er Ziegen ficken / und Minderheiten unterdrücken, BÖHMERMANN: Das wäre jetzt quasi ’ne Sache, die … KABELKA: Nee! BÖHMERMANN: Kurden treten, Christen hauen / und dabei Kinderpornos schauen. / Und selbst abends heißt’s statt schlafen, / Fellatio mit hundert Schafen. / Ja, Erdoğan ist voll und ganz, / ein Präsident mit kleinem Schwanz. BÖHMERMANN: (lacht über eine Keyboard-Arabeske der Band) Wie gesagt, das ist ’ne Sache, da muss man … KABELKA: Das darf man NICHT machen. BÖHMERMANN: Das darf man nicht machen. KABELKA: Nicht »Präsident« sagen. BÖHMERMANN: Jeden Türken hört man flöten, / die dumme Sau hat Schrumpelklöten. / Von Ankara bis Istanbul / weiß jeder, dieser Mann ist schwul, / pervers, verlaust und zoophil – / Recep Fritzl Priklopil. / Sein Kopf so leer wie seine Eier, / der Star auf jeder Gangbang-Feier. / Bis der Schwanz beim Pinkeln brennt, / das ist Recep Erdoğan, der türkische Präsident. BÖHMERMANN: Also, das dürfte man in Deutschland … KABELKA: Unter aller Kajüte! Publikum applaudiert. BÖHMERMANN: Ganz kurz. Hey! Hey! Hey! KABELKA (wütend): Nicht klatschen! BÖHMERMANN: Danke schön. Also, das ist jetzt ’ne Geschichte, was könnte da jetzt passieren? KABELKA: Unter Umständen nimmt man es aus der Mediathek! Das kann jetzt rausgeschnitten werden. BÖHMERMANN: Also, wenn die Türkei oder ihr Präsident was dagegen hat, müsste er sich in Deutschland erst mal ’nen Anwalt suchen. KABELKA: Ja, genau.19
19 Zitiert nach Ansgar Siemens/Felix Bayer: Umstrittenes Schmähgedicht: Böhmermann und Erdogan streiten erneut vor Gericht. In: Spiegel Online, 27.02.2018. http://www.spie
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Nachdem die Sendung auf ZDFneo ausgestrahlt worden war, wurde die Aufführung zur Staatsaffäre, als die türkische Regierung forderte, dass die deutsche Regierung Jan Böhmermann strafrechtlich verfolgen solle. In einem Telefonat zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem damaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu entschuldigte Merkel sich für Böhmermann mit den Worten, es handle sich um ein »bewusst verletzendes« Gedicht, so der Regierungssprecher. Am 15. April 2016 gab Merkel in einer Pressekonferenz bekannt, dass die Bundesregierung Böhmermanns Strafverfolgung zugestimmt habe, aber den entsprechenden Paragrafen 103 des deutschen Strafgesetzbuches abschaffen wolle, der eine höhere Bestrafung bei Beleidigung eines ausländischen Staatspräsidenten verlangt. Auf die Entscheidung der Bundeskanzlerin folgte heftige Kritik und es wurde spekuliert, sie habe beschlossen, der Anklage zuzustimmen, um Deutschlands Flüchtlingsabkommen mit der Türkei zu schützen. Der Fall wurde im Oktober 2016 strafrechtlich fallen gelassen und der einschlägige Paragraf 103 wurde 2017 vom Bundestag abgeschafft und trat 2018 außer Kraft. Was diesen Fall für die Debatte über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland von großer Bedeutung macht, beruht nicht auf seinem skandalösen Charakter, der aus einer beispiellosen internationalen Sichtbarkeit unter Beteiligung hoher Staatsbeamter zweier Staaten resultierte, sondern auf der diskursiven Strategie der Performance von ›berichteter Rede‹ oder ›Zitaten‹. Böhmermann beginnt seine Performance damit, dem Team von extra 3 zu seinem satirischen Video zu gratulieren und sich solidarisch zu zeigen, indem er gleichzeitig die heuchlerische Haltung und die Doppelmoral der deutschen Öffentlichkeit und insbesondere einiger rechtsextremer Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens (etwa der AfD-Politikerin Beatrix von Storch) über die Meinungsfreiheit kritisiert. Er formuliert das pointiert mit der Devise »Je suis extra 3«, was sich auf das berühmte Motto der Charlie Hebdo-Solidaritätsbewegung bezieht. Auf der einen Seite stellt Böhmermann es beim Lesen des Gedichtes so dar, dass er selbst nicht mit den in diesem Gedicht geäußerten Ansichten übereinstimmt, sondern sie mit einem Zitat einer anderen Quelle zuordnet. Weil die Quelle auf der anderen Seite jedoch nicht bekannt sind, spielt er sich selbst im Grunde genommen als ein anderes Selbst (self-enactment). Durch diese Strategie wird das Publikum aufgefordert, gleichzeitig zwei Ebenen oder Arten von Botschaften zu hören, zu sehen und zu begreifen – eine formale und geradlinige, die als beleidigend gilt, und eine nicht-formale, latente, die eine didaktische Funktion erfüllen soll. In der Ausstrahlung verwendet Böhmermann nicht nur gesprochene Worte,
gel.de/kultur/tv/jan-boehmermann-gegen-recep-tayyip-erdogan-neuer-streit-vor-gerichta-1195421.html (20.12.2018).
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sondern auch visuelle Symbole, wie zum Beispiel ein Bild des Präsidenten, Hauptadressat des Gedichtes, oder den Verweis auf ›die Türken‹ [»liebe Türken«, »Jeden Türken hört man flöten«]. Bei der Begrüßung der Türken spricht er Kauderwelsch, angelehnt an die ›vokale Harmonie‹ der türkischen Sprache. Als er anfängt, das Gedicht zu ›zitieren‹, um ein Beispiel einer in Deutschland und Europa gesetzlich verbotenen Schmähkritik zu geben, erscheint im Hintergrund eine wehende türkische Flagge und eine gleichzeitige türkische Übersetzung seiner Worte, die in Untertiteln eingeblendet wird. Böhmermann distanziert sich von der formalen Ebene der Botschaft mit seinen ständigen Pausen während der Zitation des Gedichtes, um die Bestätigung seines Co-Gastgebers zu erhalten, dass das, was er tut, rechtlich nicht erlaubt ist. Diese diskursive Strategie des Pendelns zwischen den beiden Kommunikationsebenen soll das Publikum an die ›wahre‹ Ursache des Vortrags der verletzenden und beleidigenden Äußerungen, die zweite, nicht-formale Botschaft, erinnern. Ähnlich den widersprüchlichen Artikeln im internationalen und nationalen Recht wird das Publikum interpoliert, um ein Urteil zwischen den beiden Ebenen zu fällen. Es wird also vom Publikum erwartet, den Humor wahrzunehmen und zu schätzen, sich aber gleichzeitig vollständig davon zu befreien, den Text wörtlich zu nehmen. Der Witz dieser Darbietung liegt gerade im Verständnis dieser zweiten Ebene, also der nicht-formalen, latenten Lektüre. In diesen Erwartungen an das Publikum, den Humor zu verstehen, schwingt die westliche Arroganz mit, »that ›we‹ can comfortably live with satire but ›they‹ – non-West, particularly Islamic, societies – cannot«.20 Der öffentlich-rechtliche Fernsehsender ZDF entfernte die Folge der Sendung aus seiner Mediathek, die normalerweise im Internet frei zugänglich ist, und zwar schon bevor eine gerichtliche Entscheidung getroffen wurde. Erdoğan verklagte mit seinen Anwälten Böhmermann persönlich. Die Anklage wurde nicht nur unter Bezug auf das Persönlichkeitsrecht Erdoğans eingereicht, sondern auch unter Verweis auf die rassistische Natur des Vortrags. Das Landgericht Hamburg zitiert den Kläger folgendermaßen: »Das Gedicht sei schlicht rassistisch. Mit einem Großteil der Beschimpfungen würden Türken seit Jahrzehnten beleidigt.«21 Das Gericht entschied, dass es Böhmermann verboten würde,
20 Peter R. De Souza: Satire and policing the boundary of free expression. In: The Immanent Frame, 25.04.2016. https://tif.ssrc.org/2016/04/25/satire-and-policing-the-bounda ry-of-free-expression/ (20.12.2018). 21 Hanseatisches Oberlandesgericht, Pressestelle: Hauptsacheentscheidung im Verfahren Erdoğan ./. Böhmermann, 10.02.2017. http://justiz.hamburg.de/pressemitteilungen/81 38326/pressemitteilung-2017-02-10-olg-01/ (20.12.2018).
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einen Teil seines Gedichtes zu wiederholen, weil es mit persönlichen Rechten kollidierte – eine deutliche Einschränkung der Meinungsfreiheit.22 Interessanterweise ist es vor allem Jan Böhmermann verboten, Teile ›seines‹ Textes wiederzugeben, allerdings keinem anderen. Das Gericht erkennt den »unakzeptablen« und »wiederholbaren« Charakter manchen Aussagen oder Wörter an, nichtsdestotrotz ist das Zitieren und Wiedergeben des Gedichtes allgemein nicht beschränkt. Da das Wort an sich keine Agency für das Gesetz haben kann, wurde nur die rechtliche Person Böhmermann als Schöpfer, d. h. als Urheber der potenziellen Beleidigung wahrgenommen. Obwohl die Pressemitteilung des Gerichts den Böhmermann’schen Text selbst nicht vollständig wiederholte und die inkriminierte Sprache ausließ, wiederholte sie gleichwohl in Anführungszeichen bestimmte Teile des Gedichts, die das Gericht als für Türken oder Muslime besonders beleidigend ansah und die auf bereits bestehenden Stereotypen beruhen, etwa der Missbrauch von Kindern, Verweise auf Schweine usw. Die öffentliche Kontroverse um den Fall Böhmermann zeigt die Labilität der rechtlichen Verfahren und die Notwendigkeit einer affektiven Bevorzugung bestimmter Rechte gegenüber anderen, nämlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung gegenüber dem persönlichen Recht auf Würde. Die Frage ist jedoch: Welche emotionale und affektive Dynamik beeinflusst die Art, wie solche Urteile gefällt werden? Der Affektbegriff bietet eine mögliche theoretische Öffnung hin auf die Perspektive eines nicht-subjektiven oder intersubjektiven Bereichs des relationalen Gefühls.23
REENACTING JAN BÖHMERMANN Ich nehme die Prämissen der Affekttheorie ernst und möchte das Video von Böhmermann als einen Körper behandeln, der in einer bestimmten Zeitspanne auf menschliche Körper einwirkt und sie in Beziehung setzt, um die körperlichen, materiellen und unpersönlichen Aspekte bestimmter affektiver Arrangements zu verstehen.24 Wie wirken das Zuhören und das Ansehen des Videos auf die einzelnen und kollektiven Körper? Muss man Übereinstimmungen mit den
22 Vgl. ebd. 23 Vgl. Melissa Gregg/Gregory J. Seigworth: The Affect Theory Reader. Durham: Duke University Press 2009. 24 Vgl. Jan Slaby/Rainer Mühlhoff/Philipp Wüschner: Affective Arrangements. In: Emotion Review 2017. https://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/1754073917722214 (20.12.2018).
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Beleidigten haben oder sich mit ihnen auf eine bestimmte Art und Weise identifizieren, um von dem Gedicht affiziert zu werden? Oder besitzen beleidigende Worte ihre eigene Kraft, die unabhängig von dem sozialen Kontext und der Subjektivität oder der Identität der Anwesenden ist? Wie wurden die ›inakzeptablen‹ und ›akzeptablen‹ Äußerungen verhandelt und was für eine Rolle spielen Affekte in der Grenzziehung zwischen den beiden Bereichen? Um zu versuchen, diese Fragen zu beantworten, habe ich auf experimentelle Weise Gruppeninterviews in Berlin mit Probanden geführt, die auf eine Anzeige in der Berliner Woche, Zitty, tip und auf Ebay Kleinanzeigen geantwortet haben. Die künstliche Gruppenkonstitution hatte den Zweck, die Affekttransmission in situ zu erfahren. Brennan geht davon aus, dass die Affekte in einer Gruppe sowohl mit der Gruppendynamik als auch den einzelnen Personen zu tun haben. Wie das Treffen entsteht, ist unmittelbar von den energetischen Affekten abhängig, die mehr oder weniger als individuelle Emotionen einzelner Mitglieder der Gruppe sein können.25 Die Gruppendiskussionen erlauben also die Möglichkeit einer temporären affektiven Gruppenbildung auf der einen Seite durch den verbalen Austausch mit Zustimmungen, Abweichungen und Konfrontationen, auf der anderen Seite durch die Nähe von Körpern und das gemeinsame Erleben. Manche Theoretiker_innen, die über Affekte und Emotionen arbeiten, argumentieren, dass physiologische und chemische Änderungen beobachtet werden können, weil Affekte auf die Körper wirken.26 Die Reaktionen oder Änderungen in den Gesichtsausdrücken, den Hormonen und Pheromonen, Körpertemperatur, Blutdruck usw. gehören zu den Elementen im menschlichen Körper, durch die Affekte sich zeigen. Diese Studie hat weder die Intention noch die Kapazitäten, solch eine Untersuchung durchzuführen. Obwohl die empirisch orientierte Literatur (besonderes zu den Emotionen) sehr reich und informativ ist, besonders in der Psychologie und den Neurowissenschaften, bleibt hier der Zweck der Studie nicht, ein ›objektives‹, ›wiederholbares‹, ›empirisches‹ Wissen zu produzieren, sondern eine ›Atmosphäre‹ herzustellen, in der nicht nur die Teilnehmenden sich aktiv und affektiv engagieren können, sondern auch ich als Wissensproduzierende ein Teil davon werden kann. Zu diesem Zweck habe ich sechs Fokusgruppeninterviews mit 4–7 Teilnehmer_innen in deutscher Sprache durchgeführt. Ziel war es, mit diesen zufällig gesammelten Menschen, die sich vorher nicht kannten, die kontroversen Diskussionen in einem kleineren Maßstab zu wiederholen und die Fragen der Blasphemie, der Verletzung und der Redefreiheit, die wäh-
25 Vgl. Brennan: Transmission of Affect, S. 51. 26 Vgl. ebd.; Katz: How Emotions Work; Kathleen Stern und Martha McClintock: Regulation of ovulation by human pheromones. In: Nature 392 (1998), S. 177–179.
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rend der öffentlichen Debatten zu beobachten waren, neu zu beleben. Ich nenne diese Intervention »nachgespielten Diskurs« (reenacted discourse), weil sie die bereits vorhandenen diskursiven und affektiven Elemente wiederholt, die in den Medien und in der Öffentlichkeit zirkulieren. Die Subjekte erhalten in dieser Situation des nachgestellten Diskurses die Möglichkeit oder werden sogar ermutigt, sofort auf die künstlich präsentierten Objekte zu reagieren, was kaum möglich ist, wenn man die Zeitung liest, fernsieht oder eine Konferenz verfolgt, um aus erster Hand die affektiven Reaktionen und Urteile der Teilnehmenden zu erfahren. Ich beobachtete die Dynamik der Diskussion und ließ die Teilnehmenden frei miteinander interagieren. Die Diskussionen wurden in den Räumlichkeiten der Freien Universität Berlin organisiert, dauerten zwischen 1 und 1,5 Stunden und wurden aufgezeichnet. Eines der Diskussionsthemen war unter anderem der Fall Böhmermann. Ich habe den Teilnehmenden einen Text vorgelesen, der den Kontext des Gedichtes ausführlich erklärte, und es wurden die Videoclips von extra 3 und die Auszüge aus Böhmermanns Sendung gezeigt, in denen er ›seinen‹ Sketch performt und das umstrittene Gedicht vorliest. Die Teilnehmenden wurden gebeten, darauf zu reagieren, ihre emotionalen Reaktionen zu beurteilen und ihre eigenen Positionen miteinander zu diskutieren. Ich behandle diese Erlebnisse als Texte und folge einem Reading for Affect,27 das heißt ich untersuche konkret in der Beurteilung des Falles gezeigte, angedeutete oder benannte Emotionen. Der Raum war klein mit einem großen Tisch in der Mitte, die Interviewten saßen im Halbkreis zueinander vor der Wand, auf die die Videos projiziert wurden. Alle konnten die Gesichter und Körperreaktionen aller anderen Teilnehmenden bei den Diskussionen gut sehen. Als ich die Videos gezeigt habe, saß ich hinter der Gruppe, während der Diskussionen war ich auch ein Teil des Kreises. Während das Video gezeigt wurde, gab es unterschiedliche Reaktionen auf das Screening. Typische gemeinsame körperliche Reaktionen waren Rotwerden, Augenrollen, Lachen, Lächeln oder Seufzen, auch erhöhter Ton der Stimme. Auch Gesichtsausdrücke des Ekels während der umstrittensten Teile des Gedichts waren zu beobachten. Die Konstellation der Diskussionen hat oft dazu geführt, dass wenn ein oder eine Teilnehmende_r während des Videos eine offenbare Reaktion gezeigt hatte, wie herablassendes Zungenschnalzen, abfälliges Schnauben, lautes Lachen oder nervöses Lächeln, andere Teilnehmende fast
27 Vgl. Anna L. Berg, Christian von Scheve, N. Yasemin Ural und Robert WalterJochum: Reading for Affect – a Methodological Proposal for Analyzing Affective Dynamics in Discourse. In: Analyzing Affective Societies – Methods and Methodologies. Hg. v. Antje Kahl. London: Routledge 2019, S. 45–62 (im Druck).
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immer zustimmend oder ablehnend darauf reagiert haben. Wie Rebecca Schneider argumentiert,28 zirkulieren Affekte nicht nur durch Objekte oder Rituale, wie etwa einen Satz oder ein Lied, sondern auch durch Gesten von Körpern in ihrer Begegnung. Während der Gruppendiskussionen war deutlich, dass die Anwesenheit und die Reaktionen anderer Teilnehmender einen genauso großen Einfluss wie das Video selbst hatten, wenn nicht einen noch größeren. Ekel war eine der prominentesten affektiven Reaktionen, die während der Diskussionen verbalisiert wurden. Einer der Befragten sagte mit einem sehr angewiderten Gesichtsausdruck: »Also für mich ist das aber Schmutz. Es ist für mich Gosse, also das ist vollkommen niveaulos und abartig, also neee […] Ich bin auch eben für Satire, aber das ist einfach ganz, das ist unter meinem Niveau«. Eine andere Interviewpartnerin verlieh ihrem Unbehagen mit folgenden Worten Ausdruck: »Was er sagt, das ist nicht nur eklig, aus meiner Sicht, […] das ist auch außer Kritik, unter allem Niveau«. In der anderen Gruppe reagierte eine Person auf einen anderen Teilnehmer, der die Satire lustig und politisch akzeptabel fand: »Genauso steht es in der Verfassung: ›Die Würde des Menschen ist unantastbar.‹ Und er ist Präsident von einem anderen Staat. In so einer Art und Weise, das ist einfach beschämend, das ist eklig.« Amüsement und manchmal ›unfreiwilliges‹ Lachen war eine weitere Reaktion auf das Video. Meine Präsenz als Beobachterin hat dazu geführt, dass viele Teilnehmende zunächst mich angeguckt haben, um sicherzustellen, dass Lachen unproblematisch ist, oder vielleicht um zu sehen, ob ich auch mitlache. Einige haben sofort aufgehört zu lächeln, als sie feststellten, dass ich das nicht tat. Einer der Interviewpartner verwies während der Diskussion auf sein Vergnügen: »Also, ich muss sagen, wenn das nicht so lustig gewesen wäre eben, also ich musste wirklich lachen darüber.« Als er über seinen Zustand sprach, schien er sein Verhalten eher entschuldigend zu beurteilen, dass er eben einfach ›lachen musste‹. Es scheint einerseits ein latentes Verständnis von Darstellungen von Pädophilie, Zoophilie und exzessiver Sexualität zu geben. Auf der anderen Seite waren für diejenigen, die meinten, das Video sei wirklich intelligent und politische Satire, die wirklich witzig sei, die Metaebene und die Texte des Gedichtes an sich völlig irrelevant. Eine andere affektive Reaktion auf das Video war Empathie mit dem Präsidenten. Selbst diejenigen, die es für satirisch und humorvoll hielten, erwähnten, dass sie eine solche Darstellung nicht gerne selbst erfahren würden. Diese empathische Reaktion wurde von verschiedenen Teilnehmenden verschiedener Grup-
28 Vgl. Rebecca Schneider: Performing Remains: Art and War in Times of Theatrical Reenactment. London/New York: Routledge 2011, S. 36.
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pen verbalisiert, obwohl die Frage danach von meiner Seite nie gestellt wurde. Eine der Teilnehmenden zeigte ihr Verständnis für Erdoğans Reaktion, nach dem Sketch vor Gericht zu ziehen: »Aber wenn ich Erdoğan wäre, wär ich genauso beleidigt, muss ich sagen.« Auf derselben Linie formulierten zwei andere Teilnehmer in verschiedenen Gruppen ihre Gedanken zu dem Gedicht: »Ich würde dennoch nie so weit gehen, denn ich möchte nicht, dass man so mit mir umgeht« bzw. »So eine Sache, überlege ich – würde ich wollen, dass man so mit mir umgeht?« Während der Diskussionen waren die Teilnehmenden nicht nur von dem Videomaterial, das gezeigt wurde, affektiv betroffen, sie waren auch von den Äußerungen und körperlichen Reaktionen der anderen Personen beeinflusst. Die Emotionalität war manchmal auch von Nicht-Gesagtem bestimmt. Zum Beispiel deutete eine Person, die Böhmermann für seine Beleidigungen stark kritisierte, an, dass sie viel über muslimische Kultur wisse, und sagte: »Ich habe da so ein paar Informationen, weil meine Tochter an ganz bestimmter Stelle arbeitet, wo ich immer diese Informationen bekomme. Lassen wir das mal so stehen. Ich würde dennoch nie so weit gehen wollen. Das muss nicht sein, bin ich der Meinung.« Mit ihrem Schweigen oder ›stehen lassen‹ reproduzierte sie selbst die Vorwürfe und rassistischen Stereotype über Muslime, auf die im Video verwiesen wurde, und gab sie weiter.
FAZIT Ich habe versucht, in diesem Artikel die Frage der Grenzen der Hassrede und der Kunstfreiheit am Beispiel des ›Falls Böhmermann‹ zu reflektieren. Weil die Mehrdeutigkeit nationaler und internationaler Gesetze es fast unmöglich macht, darüber zu entscheiden, wann und von wem die Grenzen überschritten werden, schien es sinnvoll, den Emotionen und Affekten, die in entsprechenden Entscheidungs- und Beurteilungsmechanismen zum Tragen kommen, nachzugehen. Die klassischen Theorien zu Emotionen in der Soziologie und Anthropologie nehmen das autonome und souveräne Individuum als zentrale Analyseeinheit wahr und gehen davon aus, dass Gefühle im Inneren des Individuums entstehen. Diese Art des Fühlens erklärt aber weder, wie körperliche, materielle und relationale Dynamiken von Emotionen funktionieren, noch wie Affekte zirkulieren. Mit einer theoretischen und methodologischen Herangehensweise, die von der Affect Theory inspiriert ist, habe ich sprachliche und textuelle Elemente des Falls Böhmermann präsentiert. Die durchgeführte Studie mit den Gruppeninterviews
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hatte den Zweck, die Macht des Wortes unabhängig vom Kontext und vom Sprechenden zu beobachten und verstehen. Die affektbezogene Analyse der Diskussionen hat deutlich gezeigt, dass es keine eindeutigen Antworten auf die Frage des affektiven Urteils der singulären oder kollektiven Körper zu den kontroversen Fragen gibt, ebenso wenig wie auf die Frage, wie die Grenzen der Meinungsfreiheit und der persönlichen Würderechte gezogen werden können oder sollen. Es ist jedoch klar, dass das Video eine gewisse Wirkung auf diejenigen hat, die auf die eine oder andere Weise damit konfrontiert sind. Obwohl der persönliche nationale Hintergrund einen Einfluss darauf haben könnte, wie die Menschen die Zulässigkeit von Beleidigung und/oder Satire wahrnehmen und beurteilen, scheint es, dass das öffentliche Hören beleidigender Wörter im Video einen unmittelbaren körperlichen und damit materiellen Einfluss hat – und das unabhängig von der Person, die beleidigt wurde. Obwohl die Zuhörerin aufgefordert ist, das Gedicht auf einer Metaebene zu verstehen, fällt es doch schwer, sich der affektiven Kraft der schmähenden Worte zu entziehen.
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Autorinnen und Autoren
Jonas Bens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie und am Sonderforschungsbereich Affective Societies. Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten der Freien Universität Berlin. Studium der Ethnologie, Systematischen Theologie und der Rechtswissenschaften an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Promotion ebenda 2015. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Politik- und Rechtsanthropologie, Historische und Linguistische Anthropologie. Neuere Publikationen (u. a.): Gerechtigkeitsgefühle: Zur affektiven und emotionalen Legitimität von Normen (Bielefeld: transcript 2017, hg. mit Olaf Zenker); Who is Afraid of Official Law? Reconnecting Anthropological and Sociological Traditions in Ethnographic Legal Studies (Sonderheft des Journal of Legal Pluralism and Unoffical Law 50 (2019), H. 3, hg. mit Larissa Vetters). Jürgen Brokoff ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin und Projektleiter im Sonderforschungsbereich Affective Societies. Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten. Nach Promotion und Habilitation an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn war er Vertretungsprofessor ebenda sowie Fellow der Alexander-von-Humboldt-Stiftung an den Universitäten UC Davis, Yale und Cornell (USA). Forschungsschwerpunkte: Konzepte von Gegenwartsliteratur, Literatur und öffentliche Meinung, Literatur und Kriegsverbrechen, Geschichte der Poesiesprache vom 18. Jh. bis zur Gegenwart. Neuere Publikationen (u. a.): Engagement. Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur (Göttingen: V+R unipress 2016, hg. mit Ursula Geitner und Kerstin Stüssel); Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne (Göttingen: Wallstein 2014, hg. mit Joachim Jacob und Marcel Lepper); Tribunale. Literarische Darstellung und juridische Aufarbeitung von Kriegsverbrechen im globalen Kontext (Frankfurt a. M.: Klostermann 2014, hg. mit Werner Gephart, Andrea Schütte und Jan Christoph Suntrup).
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Aletta Diefenbach ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich Affective Societies. Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten an der Freien Universität Berlin. Sie studierte Kultur- und Sozialwissenschaften in Passau, Lissabon und Berlin. Sie war u. a. Stipendiatin am Exzellenzcluster Herausbildungen normativer Ordnungen an der Goethe-Universität in Frankfurt a. M. und Gastwissenschaftlerin am Soziologie-Department der New School for Social Research in New York City. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Religion in der Öffentlichkeit mit einem regionalen Schwerpunkt auf den USA und Deutschland. Neuere Publikationen: The Politics of Affective Societies: An Interdisciplinary Essay (Bielefeld: transcript 2019, mit Jonas Bens u. a.); ›Islamisierung des Abendlandes‹. Zur Struktur der Angst vor dem Islam als mobilisierende Emotion im Rechtspopulismus. (In: Politik mit Gefühl – Vom Umgang mit Gefühlen und anderen Kleinigkeiten im Feld von Politik und politischer Bildung. Hg. v. Anja Besand, Bernd Overwien und Peter Zorn. Berlin: Bundeszentrale für politische Bildung 2019, mit Christian von Scheve). Silke Felber ist seit 2016 Hertha-Firnberg-Stelleninhaberin des österreichischen Wissenschaftsfonds FWF mit dem Habilitationsprojekt »Dramaturgien des (Dis-) Kontinuitiven«. Sie studierte Theaterwissenschaft und Romanistik an den Universitäten Wien und Bologna, es folgte eine mehrjährige Tätigkeit als Dramaturgin und Produktionsleiterin am Theater, 2013 die Promotion. Von 2013–2016 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsplattform Elfriede Jelinek. Lehr- und Forschungsaufenthalte an der Universität Bern, der Università degli Studi di Catania sowie an der Ghent University. Forschungsschwerpunkte: deutschsprachiges und italienisches Gegenwartstheater, performative Praktiken der Ver(un)eindeutigung, Geste als Travelling Concept, Tragödie und Gegenwartstheater. Zuletzt erschienen: Das Meer im Blick. Betrachtungen der performativen Künste und der Literatur (Rom: Artemide Edizioni 2018, hg. mit Gabriele C. Pfeiffer). Peter Glasner wurde promoviert mit der Dissertation Die Lesbarkeit der Stadt. Kulturgeschichte und Lexikon der mittelalterlichen Straßennamen Kölns (Köln: DuMont 2002). Seit 2006 forscht, lehrt und publiziert er in der Germanistischen Mediävistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn zu mittelalterlicher Sprache, Literatur und Manuskriptkultur sowie zur Rezeptionsgeschichte mittelalterlicher Stoffe auf der Stelle eines Studienrates im Hochschuldienst. Seine Habilitationsschrift Narrheit und Ästhetik. Erzählen von intriganten Narren im Mittelalter (Kölner Germanistische Studien) erscheint 2019 im Böhlau-Verlag. Nach Gastprofessuren in der Kulturwissenschaft der HumboldtUniversität Berlin nimmt er im Wintersemester 2018/19 eine Vertretungsprofes-
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sur in der Germanistischen Mediävistik an der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn wahr. Für seine Forschung und Lehre wurde Glasner ausgezeichnet mit dem Köln-Preis 96, dem Offermann-Hergarten-Preis (2004), dem Henning-Kaufmann-Preis (2006), dem Initiativpreis 2010 sowie dem Lehrpreis der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn (2015). Jörg Kreienbrock ist Associate Professor am Department of German and Critical Thought der Northwestern University (Evanston, USA). Er wurde 2005 mit einer Arbeit über Robert Walser an der New York University promoviert und lehrte danach an der Emory University. Daneben war er Alexander-vonHumboldt-Fellow an der Ruhr-Universität Bochum, Senior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaft (Wien) und Research Fellow am Institute of Advanced Study der Durham University (UK). Er ist der Autor von Kleiner. Feiner. Leichter. Nuancierungen zum Werk Robert Walsers (Berlin/Zürich: Diaphanes 2010), Malicious Objects, Anger Management and the Question of Modern Literature (New York: Fordham UP 2013) und Das Medium der Prosa. Studien zur Theorie der Lyrik (Berlin 2019). Johannes F. Lehmann ist Professor für neuere deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und derzeit Sprecher des Graduiertenkollegs Gegenwart/Literatur. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, kulturwissenschaftliche Fragen zur Genealogie der Moderne: Theater, Anthropologie, Recht, Zorn, Rettung, Gegenwart. Neuere Publikationen (u. a.): Im Abgrund der Wut. Zur Kultur- und Literaturgeschichte des Zorns (Freiburg i. Br.: Rombach 2012); Einführung in das Werk Heinrich von Kleists (Darmstadt: WBG 2013); Rettung und Erlösung. Politisches Heil in der Moderne (Paderborn: Fink 2015, hg. mit Hubert Thüring); Schwerpunkt: Gegenwart im 17. Jahrhundert? (in: IASL 42 (2017), H. 1, hg. mit Stefan Geyer); Aktualität. Zur Geschichte literarischer Gegenwartsbezüge vom 17. bis zum 21. Jahrhundert (Hannover: Wehrhahn 2018, hg. mit Stefan Geyer). Jörg Metelmann ist seit 2015 Ständiger Dozent und Titularprofessor für Kulturund Medienwissenschaft an der Universität St. Gallen. Seine aktuellen Forschungsinteressen liegen im Bereich Transformationsdesign und Managementausbildung. Zuletzt erschienen: Ressentimentalität: Die melodramatische Versuchung (Marburg: Schüren 2016); Deutschlandbilder: Filmische Landeskunde von »Almanya« bis »Wolfsburg« (Berlin: Bertz + Fischer 2016); Nach der Revolution: Ein Brevier digitaler Kulturen (Hamburg: Edition Speersort 2017, hg. mit Timon Beyes und Claus Pias); Der Kreativitätskomplex: Ein Vademecum der
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Gegenwartsgesellschaft (Bielefeld: transcript 2018, hg. mit Timon Beyes); Screening Economies: Money Matters and the Ethics of Representation (Bielefeld: transcript 2018, hg. mit Daniel Cuonz und Scott Loren); Transformative Management Education: The Role of the Humanities and Social Sciences (New York/London: Routledge 2019, mit Ulrike Landfester). Jakob Norberg ist seit 2017 Associate Professor of Germanic Languages an der Duke University (Durham, USA). Nach Studium der Literaturwissenschaft und Germanistik in Uppsala, Boston und Innsbruck 2008 Promotion an der Princeton University. 2008–2017 Assistant Professor an der Duke University. Publikationen: Sociability and Its Enemies: German Political Theory After 1945 (Evanston: Northwestern UP 2014) sowie Aufsätze über Literatur und politische Theorie in Zeitschriften wie Cultural Critique, German Quarterly, PMLA, Textual Practice. Sein zweites Buch, Der Philologenkönig: Die Brüder Grimm und die Nation, ist in Vorbereitung. N. Yasemin Ural ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich Affective Societies. Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten an der Freien Universität Berlin. Nach ihrem Studium in Istanbul, Winnipeg, Berlin und Paris wurde sie 2016 an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris mit einer Arbeit zu muslimischen Begräbnispraktiken in Deutschland und Frankreich promoviert. Fellowships am Centre Marc Bloch, am Institut für Islamwissenschaft der FU Berlin sowie am DFG-Sonderforschungsbereich Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten der Universität Bielefeld. Zuletzt erschienen: From Religious Emotions to Affects. Historical and Theoretical Reflections on Injury to Feeling, Self and Religion (In: Culture and Religion 20 (2019, im Druck), mit Anna L. Berg). Anneleen Van Hertbruggen ist seit 2013 Assistentin für Forschung des Fonds für Wissenschaftliche Forschung – Flandern (FWO) an der Universität Antwerpen (Belgien). Sie promoviert zum Thema des religiösen Diskurses in der Lyrik der Propagandadichter Heinrich Anacker, Herybert Menzel und Gerhard Schumann. Im Jahre 2010 beendete sie ihr Germanistikstudium mit einer Masterarbeit zu religiöser Metaphorik und ritueller Symbolik in affirmativer NS-Dichtung an der Universität Antwerpen (Belgien). Zwei Jahre später absolvierte sie den Master Interreligiöse Studien: Judentum – Christentum – Islam an der OttoFriedrich-Universität Bamberg mit einer Arbeit zu »Maria im Christentum und Islam«. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören politische Religion, Kollektivsymbolik und nationalsozialistische Propagandadichtung.
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Martina Wagner-Egelhaaf ist seit 1998 Professorin für Neuere deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Literatur der Moderne und der Gegenwart an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Nach dem Studium der Germanistik und Geschichte in Tübingen sowie der Anglistik und Germanistik in London 1987 Promotion an der Universität Tübingen; Habilitation 1994 an der Universität Konstanz; 1995–1998 Professorin für Neugermanistik unter besonderer Berücksichtigung der Rhetorik und der Literaturtheorie an der Ruhr-Universität Bochum. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Autobiografie/Autofiktion, Autorschaft, das Verhältnis von Literatur, Politik und Religion, literarische Figurationen des Entscheidens, Literatur und Recht. Neuere Publikationen (u. a.): Europa gibt es doch… Krisendiskurse im Blick der Literatur (München: Fink 2016, hg. mit Florian Kläger); Aufsätze zum Themenfeld »Literatur und Skandal«; 2019 erschien das von ihr herausgegebene dreibändige internationale und interdisziplinäre Handbook Autobiography/Autofiction (Boston/Berlin: De Gruyter). Robert Walter-Jochum ist seit 2009 Mitarbeiter am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie an der Freien Universität Berlin, von 2016 bis 2018 am SFB Affective Societies. Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten. Promotion 2015 mit der Arbeit Autobiografietheorie in der Postmoderne. Subjektivität in Texten von Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Bernhard, Josef Winkler, Thomas Glavinic und Paul Auster (Bielefeld: transcript 2016). Forschungsschwerpunkte: deutsche und österreichischen Literatur des 20./21. Jh., Erzähl-, Intertextualitäts- und Autobiografietheorie, »Literatur und Religion« sowie »Literatur – Emotion – Affekt«. Neuere Publikationen (u. a.): The Politics of Affective Societies: An Interdisciplinary Essay (Bielefeld: transcript 2019, mit Jonas Bens u. a.); Performance zwischen den Zeiten: Reenactments und Preenactments in Kunst und Wissenschaft (Bielefeld: transcript 2019, hg. mit Adam Czirak u. a.); Religion und Literatur im 20./21. Jahrhundert. Motive – Sprechweisen – Medien (Göttingen: V+R unipress 2015, hg. mit Tim Lörke). Kirk Wetters ist Professor of German an der Yale University (New Haven, USA). Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Ideengeschichte. Ausgewählte Publikationen: Demonic History from Goethe to the Present (Evanston: Northwestern UP 2014); »Das Dämonische«. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit (München: Fink 2014, hg. mit Lars Friedrich und Eva Geulen); Hans Blumenberg (Telos 158 (2012), hg. mit Rüdiger Campe und Paul Fleming); The Opinion System: Impasses of the Public Sphere from Hobbes to Habermas (New York: Fordham UP 2008).
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Roman Widder ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere Deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Studium der russischen und deutschen Literatur in Berlin und Krasnojarsk. 2015–2018 assoziiertes Mitglied des phd-net Wissen der Literatur. Neuere Publikationen (u. a.): Pöbel, Poet und Publikum. Figuren arbeitender Armut 1620–1750 (Dissertation, erscheint voraussichtlich 2020 bei Konstanz University Press); Andrej Platonov: Frühe Schriften (Wien: Turia & Kant 2019, hg. mit Konstantin Kaminskij). Stephanie Willeke ist seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn und Redakteurin der Zeitschrift für deutsche Philologie. Zuvor studierte sie Germanistik und Geschichtswissenschaft an der Universität Paderborn, 2016 Promotion. Forschungsschwerpunkte: Fragen der Literatur- und Kulturtheorie, besonders im Kontext von Diskursanalyse und Praxeologie; Darstellungen von Krieg und Terrorismus in der Gegenwartsliteratur; Shoah- und Gulagliteratur. Neuere Publikationen (u. a.): Das Radikale. Gesellschaftspolitische und formal-ästhetische Aspekte in der Gegenwartsliteratur (Münster: Lit 2017, hg. mit Carsten Roth und Ludmila Peters); Grenzfall Krieg. Zur Darstellung der neuen Kriege nach 9/11 in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Bielefeld: transcript 2018); Der eingehegte Terrorist? Dorothea Dieckmanns »Guantánamo« (In: Das Politische in der Gegenwartsliteratur. Hg. v. Stefan Neuhaus und Immanuel Nover. Boston/Berlin: De Gruyter 2019); Terrorismus und Folter – Reflexionen der Gegenwartsliteratur (In: Menschenrechte im Konflikt. Kulturkampf, Meinungsfreiheit, Terrorismus. Hg. v. Daniela Ringkamp und Christoph Sebastian Widdau. Berlin: Logos 2018). Stefan Winterstein arbeitet nach dem Studium der Germanistik und Philosophie in Wien, Marburg und Granada als Redakteur (Österreichische Akademie der Wissenschaften) und Literaturwissenschaftler in Wien. Promotion 2011 an der Universität Wien. Veröffentlichungen v. a. zur österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Zuletzt erschienen: Keime fundamentaler Irrtümer. Beiträge zu einer Wirkungsgeschichte Heimito von Doderers (Würzburg: Königshausen & Neumann 2018, hg. mit Roland Innerhofer und Matthias Meyer). Simon Zeisberg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. 2014 Promotion mit einer Arbeit zum pikarischen Roman der Frühen Neuzeit. Seit 2014 Post-DocProjekt zum Verhältnis von Avantgarde und Dokumentarismus in der Literatur. Forschungsschwerpunkte: Poetiken subversiven Erzählens in der Frühen Neuzeit; Literatur und Ökonomie; Theorien des Sinnreichen im 17. und 18. Jahrhundert; Avantgarde-Literatur und Dokumentarismus. Ausgewählte Publikationen:
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Das Handeln des Anderen. Pikarischer Roman und Ökonomie im 17. Jahrhundert (Berlin/New York: De Gruyter 2019); Das Haus schreiben. Bewegungen ökonomischen Wissens in der Literatur der Frühen Neuzeit (Wiesbaden: Harrassowitz 2019, hg. mit Christina Schaefer); Paradoxe Perspektiven. Zur Funktion des Wunderbaren in Grimmelshausens »Wunderbarlichem Vogel-Nest« (1672/75) (In: Magia demoniaca, Magia naturalis, zouber. Schreibweisen von Magie und Alchemie in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Peter-André Alt u. a. Wiesbaden: Harrassowitz 2015); Sentenz in der Literatur. Perspektiven auf das 18. Jahrhundert (Göttingen: Wallstein 2014, hg. mit Alice Stašková).
Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke
Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur März 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1
Götz Großklaus
Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9
Elisabeth Bronfen
Hollywood und das Projekt Amerika Essays zum kulturellen Imaginären einer Nation Januar 2018, 300 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4025-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4025-4
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Literaturwissenschaft Yves Bizeul, Stephanie Wodianka (Hg.)
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Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)
Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4
Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3
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