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German Pages 400 Year 2017
Magdalena Marszałek, Werner Nell, Marc Weiland (Hg.) Über Land
Rurale Topografien | Band 3
Editorial Rurale Topografien erleben nicht nur gegenwärtig in den medialen, literarischen und künstlerischen Bilderwelten eine neue Konjunktur – sie sind schon seit jeher in verschiedensten Funktionen ganz grundsätzlich am Konstituierungsprozess sowohl kultureller als auch individueller Selbst- und Fremdbilder beteiligt. Imaginäre ländliche und dörfliche Lebenswelten beeinflussen die personale und kollektive Orientierung und Positionierung in bestimmten Räumen und zu bestimmten Räumen. Dabei entwerfen sie Modelle, mit denen individuelle und gesamtgesellschaftliche Frage- und Problemstellungen durchgespielt, reflektiert und analysiert werden können. Auch in ihren literarischen Verdichtungsformen und historischen Entwicklungslinien können sie als narrative und diskursive Reaktions-, Gestaltungs- und Experimentierfelder verstanden werden, die auf zentrale zeitgenössische Transformationsprozesse der Koordinaten Raum, Zeit, Mensch, Natur und Technik antworten. Damit wird auch die Frage berührt, wie eine Gesellschaft ist, war, sein kann und (nicht) sein soll. Die Reihe Rurale Topografien fragt aus verschiedenen disziplinären Perspektiven nach dem Ineinandergreifen von künstlerischer Imagination bzw. Sinnorientierung und konkreter regionaler und überregionaler Raumordnung und -planung, aber auch nach Möglichkeiten der Erfahrung und Gestaltung. Indem sie die Verflechtungen kultureller Imaginations- und Sozialräume fokussiert, leistet sie einen Beitrag zur Analyse der lebensweltlichen Funktionen literarisch-künstlerischer Gestaltungsformen. Ziel der Reihe ist die interdisziplinäre und global-vergleichende Bestandsaufnahme, Ausdifferenzierung und Analyse zeitgenössischer und historischer Raumbilder, Denkformen und Lebenspraktiken, die mit den verschiedenen symbolischen Repräsentationsformen imaginärer und auch erfahrener Ländlichkeit verbunden sind.
Magdalena Marszałek, Werner Nell, Marc Weiland (Hg.)
Über Land Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Volkswagenstiftung
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Inhalt
Über Land – lesen, erzählen, verhandeln
Magdalena Marszałek, Werner Nell, Marc Weiland | 9 ၄၄၄ »Was erzählte uns ein Fuchs über uns, über die Stadt und das Dorf?«
Saša Stanišiü im Gespräch mit Alexander Gumz und Katrin Schumacher | 27 Dorf in Serie? Von der Gartenlaube zum Tatort
Claudia Stockinger | 37 Männer vom Lande. Freiheit und Religion in Kafkas Dorfgeschichten
Marcel Krings | 63 Schöne neue Dörfer? Themen und Tendenzen neuer Dorfgeschichten
Marc Weiland | 81 ၄၄၄ »Das Land ist immer etwas Artifizielles«
Katharina Hacker im Gespräch mit Wiebke Loeper und Werner Nell | 121 Dorfroman oder urban legend? Zur Funktion der Stadt-Dorf-Differenz in Juli Zehs Unterleuten
Natalie Moser | 127 Energien erzählen. Zum Aufeinandertreffen von Kunst, Literatur und Energiewende
Ingo Uhlig | 141 Gelingendes Leben auf dem Land. Marcus H. Rosenmüllers Heimatfilme
Alexandra Ludewig | 159
၄၄၄ »Es geht mir nicht darum, Idyllen zu erzählen«
Annika Scheffel im Gespräch mit Julia Rössel und Marc Weiland | 175 »Countryside – Soul of the Nation«. Ideals and Realities in Contemporary Hungary
Chris Hann | 187 »Einanderersein«. Verwahrloste ländliche Gemeinschaften als Thema ungarischer Gegenwartsliteratur: Ferenc Barnásތ Der Neunte und Szilárd Borbélys Die Mittellosen
Éva Bányai | 201 Dörfliches Coming-out. Autobiographische Stimmen aus dem Dorf in der polnischen Gegenwartsliteratur
Magdalena Marszałek | 211 ၄၄၄ »Das Dorf hat etwas Episches«
Jan Brandt im Gespräch mit Christoph Schröder und Marc Weiland | 227 Begeisterung und Abscheu. Die Bauernschaft und das bäuerliche Leben im ukrainischen Intellektuellendiskurs vom 19. Jahrhundert bis Anfang des 21. Jahrhunderts
Tetiana Portnova | 235 Die Kollektivierung als Gründungstrauma. Über die Identitätserzählung der belarussischen Kolchosbauern aus Sicht ethnographischer Feldforschung
Anna Engelking | 259 Herrschaft, Utopie und Ökonomie. Russlands ländliche Räume im 20. Jahrhundert
Katja Bruisch | 285
၄၄၄ »Man könnte es vielleicht als Autopoesie des ländlichen Raumes bezeichnen«
Andreas Maier im Gespräch mit Kenneth Anders und Werner Nell | 309 Das Heimatbuch als Gedächtnisort
Ernst Langthaler | 321 Lokale Agenten des Ruralen in der Späten Moderne. Überlegungen zur sozialen Konstruktion ländlicher Räume
Marcus Heinz | 331 Heimat ohne Baldachin – Zumutungen der Moderne
Werner Nell | 357 ၄၄၄ Autorinnen und Autoren | 391
Über Land – lesen, erzählen, verhandeln M AGDALENA M ARSZAŁEK , W ERNER N ELL , M ARC W EILAND
›Über Land‹ lässt sich reisen, sprechen, lesen, nachdenken – aber auch verhandeln? Ohne Bewegung in ihr oder in den Betrachtern lässt sich wohl keine Landschaft und keine Lebenswelt vorstellen, geschweige denn erfahren. Sowohl die Aneignung als auch Beobachtung konkreter Räume findet immer in Bewegung statt. Auch das Land befindet sich aktuell in Bewegung. Daher wird auch gegenwärtig wieder in den verschiedenen medialen Formen – von den allgegenwärtigen Landmagazinen über die journalistische Berichterstattung bis hin zu literarischen und filmischen Darstellungen, wissenschaftlichen Studien und politischen Diskussionen – ›über Land‹ nachgedacht, gesprochen und verhandelt. Fragen und Problemstellungen des Klimawandels und der erneuerbaren Energien, des Landwirtschaftens, Ernährens und der Tierhaltung, der Daseinsvorsorge und der Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen, nicht zuletzt auch Überlegungen und Vorschläge zur Unterbringung und Integration von Geflüchteten sind nur einige der brisanten Themen, die mit dem ländlichen Raum und den Bildern des Ländlichen verbunden und auch im Kontext von Prozessen der Urbanisierung, Suburbanisierung und Postsuburbanisierung einerseits, der Landflucht und der Entleerung bzw. Verödung ländlicher Räume andererseits zu sehen sind. Sie führen zu veränderten Raumnutzungen, -vorstellungen und -ordnungen, über die gegenwärtig wie auch zukünftig gesellschaftlich auszuhandeln ist. Da ist zum einen das Land selbst (im Sinne des physischen und von Menschen bewohnten Raums), das in jeweils unterschiedlichen regionalen und lokalen Kontexten und Ausprägungen heterogene Transformationsprozesse durchmacht. Zum anderen sind es die verschiedenen Formen und Vorstellungen des Ländlichen und der Ländlichkeit (im Sinne der symbolischen Bezugnahmen auf das Land), die gegenwärtig wieder aufleben und sich angesichts der soziokulturellen, ökonomischen und politischen Entwicklungen und Rahmenbedingungen spätmoderner Gesellschaften sowohl angleichen als auch ausdifferenzieren und trotz einer gewissen Beständigkeit der nach wie vor wirkmächtigen klassischen Bilderwelten
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des Ländlichen als Idylle oder Dystopie zunehmend aufs Neue (und sei es im Rückgriff auf ältere Formen oder Vorstellungen) gestaltet werden. Weite Flächen, geringe Bewohnerzahlen, ineinander verwobene Muster traditioneller und moderner Lebensführung, nicht zuletzt verlorene Bindungsmuster und gefährdete Infrastrukturen gehören inzwischen europaweit zu den Merkmalen ländlicher Räume und führen dazu, dass soziale, politische, technische und kulturelle Entwicklungen und Umbrüche sich im und am ländlichen Raum besonders deutlich auswirken. Daraus schöpfen mediale Darstellungen und soziale Diskurse ebenso wie die Literatur im Besonderen und das Erzählen im Allgemeinen ihre Stoffe, Themen und Geschichten, in und mit denen sie ländliche Lebenserfahrungen auch für ein breiteres Publikum ansprechen, reflektieren und gestalten.1 Die Bezugnahmen, Bilder und Geschichten ›vom Land‹ und ›über Land‹ rücken dabei auch gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und Handlungsfelder in den Blick. Ein Buch ›über Land‹ wendet sich daher auch an solche Leserinnen und Leser, die über eigene Vorstellungen und Erfahrungen im Umgang mit ländlichen Räumen verfügen und ihr Interesse an diesen im Lesen, Schreiben, Nachdenken und Reden
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Dass dies einen breiten gesellschaftlichen Anklang findet, lässt sich genreübergreifend feststellen. Gerhard Henkel spricht im Vorwort zur dritten Auflage seines Buches DAS DORF. LANDLEBEN IN DEUTSCHLAND – GESTERN UND HEUTE von weit über zweihundert Rezensionen, die den ersten beiden Auflagen seit 2011 gewidmet wurden (Henkel 32015: 10); ebenfalls große Aufmerksamkeit erhält sein zuletzt erschienenes Werk RETTET DAS DORF! WAS JETZT ZU TUN IST (Henkel 2016). Auch auf der Spiegel-Bestsellerliste der letzten Jahre fanden sich immer wieder, auch für längere Zeit ganz oben, literarische Dorfgeschichten, etwa Robert Seethalers EIN GANZES LEBEN (2014), Dörte Hansens ALTES LAND (2015) oder Juli Zehs UNTERLEUTEN (2016). Dieser Erfolg in den Segmenten Sachbuch und Belletristik steht auch im Kontext eines nach wie vor zunehmenden medialen Interesses am gegenwärtigen Zustand und Status ländlicher Räume. So widmeten sich etwa DIE ZEIT und ZEIT ONLINE in einer Serie von Reportagen im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 unter dem Titel ÜBERLAND auch der Berichterstattung aus ländlichen Räumen, die mitunter von einem ethnologischen Interesse und durchaus auch exotisierenden Darstellungsweisen geprägt war. Darunter fand sich beispiels- und auch bezeichnenderweise eine Serie von Berichten aus dem Dorf Werpeloh, angefertigt von 16 Journalist/innen der Henri-Nannen-Schule und einsehbar unter www.eindeutschesdorf.de (07.09.2017), im Resort Z – ZEIT ZUM ENTDECKEN (Die Zeit 36/2017) wieder. Dabei wird, so die generelle Tonlage, auf eine dem Dörflichen möglicherweise eigenartige Ambivalenz zurückgegriffen: einerseits erscheint es den Lesern als unvertraut und fremd (denn warum sollte es sonst zu entdecken sein?), andererseits wird, das gilt auch für viele andere Berichte, immer wieder seine Relevanz und Zentralität für Deutschland betont (denn »an Orten wie diesem wird die Bundestagswahl entschieden«, ebd.: 52).
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über sie weiter verfolgen wollen – und dabei vielleicht auch nicht nur eine Perspektive in der alltäglichen Auseinandersetzung mit Land und Ländlichkeit einnehmen. Wie, so ist zunächst zu fragen, stellt sich das Land aktuell denn in Bildern und Vorstellungen dar? Was ist überhaupt zu sehen, wenn über Land geschaut wird: Heimat und Natur, Idylle und Utopie, oder doch eher Stillstand und Verfall, Beengung und Gefängnis? Ist es die vordringende Stadt mit Autobahnzubringer und ICE-Trasse (in der das Urban Gardening und Farming gedeiht)2, das verlassene Dorf mit verfallenen Höfen und Ställen (vermarktet von global agierenden Tourismusunternehmen für den Urlaub im Ursprünglichen)3, die Weite der Landschaft mit blühenden Bäumen, Wiesen und Feldern (auf denen Traktoren sich autonom bewegen und über denen Drohnen kreisen)4 – oder gar alles zusammen? Handelt es sich hierbei um Räume, in denen der Mensch sich womöglich selbst bestimmen und seine Lebensvorstellungen umsetzen, in denen er seine Spuren hinterlassen kann? Oder um Orte, die ihre Spuren an und in ihm hinterlassen, ihn beengen und einsperren? Oder aber um bereits verschwundene Ortschaften und Landschaften, deren Spuren heute kaum noch in Raum und Zeit zu finden sind? Natürlich ist dabei die jeweilige Erscheinung immer an die Modi der Wahrnehmungen der Beobachterinnen und Beobachter gekoppelt: Wie erscheint das Land, wenn Betrachter auf es schauen und es als etwas Bestimmtes sehen (wollen)? Diese Wie-Frage führt den Blick schließlich zu den Subjekten in ihren jeweiligen Kontexten und mit ihren jeweiligen Mitteln zurück: Von wo aus, in welcher Weise und mit welchen ›Sehhilfen‹ blicken sie überhaupt auf das Land, das doch ebenso viele Ländlichkeiten in sich trägt wie es möglicherweise Menschen, Geschichte(n), Pläne und Vorstellungen getragen und ertragen hat? Imaginationen, Erfahrungen und Wahrnehmungen, Forschungsergebnisse und Thesen ›über Land‹ sind wohl ebenso unterschiedlich und mitunter gegensätzlich wie auch die verschiedenen Weisen der Aneignung und
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Gerade die verschiedenen Initiativen städtischer Gemeinschaftsgärten haben vielfache mediale und auch wissenschaftliche (siehe z.B. Rosol 2006, Müller 2011) Aufmerksamkeit bekommen. In ihnen und mit ihnen verbinden sich städtische und ländliche Lebensformen. Landwirtschaft und Naturnähe ebenso wie überschaubare und nachbarschaftliche Sozialstrukturen – allesamt Elemente, die klassischerweise eher dem Landleben zugeschrieben werden – finden anhand von Gemeinschaftsgärten, aber natürlich nicht nur durch diese, ihren Weg in die urbanen Zentren.
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So kaufte beispielsweise das Reiseunternehmen TUI das verlassene italienische Dorf Castelfalfi, um es zu restaurieren und für Touristen zugänglich zu machen, was nicht zuletzt auch ein breites mediales Echo hervorrief.
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Dabei widerspricht vor allem die hochtechnisierte sowie effizient und arbeitsteilig verfahrende Landwirtschaft, eingebunden in globale Produktions- und Wertschöpfungsketten, den klassischen romantisierten Bildern ländlicher Lebenswelten (Oswalt 2017).
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Nutzung des ländlichen Raums als Ort zum Handeln und Leben, zum Arbeiten und Verweilen, Erinnern und Vorausdenken. Dabei ist eine Pluralität der Erscheinungsformen zu konstatieren, die sowohl die ländlichen Räume als auch die vorgestellten Ländlichkeiten selbst betrifft. Dies lässt sich unter anderem mit Blick auf aktuelle Forschungen zur Transformation von Landschaften nachverfolgen (Hokema 2013, Kühne/GawroĔski/Hernik 2015). Die zunehmende Ausdifferenzierung der physischen Grundlagen und Funktionen von ländlichen Räumen5 und Landschaften – bedingt etwa durch ökonomische Logiken, soziale Differenzierungen und auch ästhetisierende Praktiken – geht einher mit einem immer größer werdenden ›semantischen Hof‹ von gesellschaftlichen Landschaftsvorstellungen (Kühne/Bruns 2015: 29f.). Gerade diese Pluralität und Multifunktionalität auf der Ebene des konkreten Raums wie auch auf der Ebene der symbolischen Bezugnahmen führt unterschiedliche Akteure (z.B. Bewohner, Landwirte, Unternehmer, Landschaftsgestalter, Politiker, Touristen, Wissenschaftler) mit jeweils unterschiedlichen Zugängen, Erfahrungen und Interessenlagen zusammen. Land und Ländlichkeit werden nicht zuletzt dadurch zu gesellschaftlichen Aushandlungsorten. Dabei wird gegenwärtig in einem doppelten Sinne sowohl ›über‹ als auch ›mit‹ Land verhandelt. Einerseits erscheint das Land in diesen Aushandlungsprozessen als Objekt, über das gesprochen, verhandelt und entschieden wird. Andererseits erscheint das Ländliche hier aber auch als Mittel, das mehr oder minder bewusst eingesetzt wird und mit dem etwas getan wird. Wenn wir – gegenwärtig wie auch historisch – über Land sprechen, dann machen wir das immer mit spezifischen Bildern einer imaginären Ländlichkeit. Dabei wird ›das‹ Land jedoch auch gegenwärtig noch allzu häufig als starre und passive Gegebenheit imaginiert, die mit bestimmten Problemen behaftet ist und quasi mechanistisch auf bestimmte Lösungsansätze reagieren soll. Dieses Vorgehen ist Ausdruck einer asymmetrischen Kommunikation zwischen ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹, zwischen Stadt und Land: Im ›Zentrum‹ werden vielfach noch immer Richtungsentscheidungen gefällt, die den Zustand und die Entwicklung der ›Peripherien‹ betreffen und das Leben in ihnen beeinflussen. Ihre Grundlage finden diese asymmetrische Kommunikation und das damit verbundene
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Nienaber (2013: 406) verweist hierbei auf vier historische Phasen der Entstehung multifunktionaler ländlicher Räume, die a) mit der Industrialisierung ländlicher Räume durch Manufakturen, b) der Abschaffung grundherrlicher Abhängigkeiten und der daraus resultierenden Landflucht, c) den einsetzenden Pendlerbewegungen zwischen dem Land als Wohnort und der Stadt als Arbeitsort, und d) dem seit den 1970er Jahren feststellbaren Rückgang der Infrastrukturen verbunden sind. Kühne (2012: 149) spricht von »polyvalenten Landschaften« (ebd.), die »mehreren gesellschaftlichen Nutzungen« (ebd.) unterliegen und deren Ausbildung sich im Übergang von Moderne zu Postmoderne – und dem damit verbundenen »gewandelten Anspruch an Raum« (ebd.) – beobachten lässt.
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asymmetrische Verhältnis auch in der Wertung und Gewichtung der Konzepte der Urbanität und der Ruralität (Helbrecht 2014: 168).6 Denn allzu häufig wird das Ländliche und/oder Dörfliche durch Negation des Städtischen bzw. Urbanen bestimmt; und zwar trotz der nicht erst gegenwärtig zu verzeichnenden vielfachen Überschneidung und Verschränkung ruraler und urbaner Lebensstile und Raumstrukturen sowie der damit auch einhergehenden Tendenzen der wissenschaftlichen Nivellierung der Gegensätzlichkeit von Stadt und Land.7 Beispiele finden sich kultur- und genreübergreifend sowohl gegenwärtig als auch historisch: in der Literatur- und Kulturgeschichte von Landschaft als unbearbeiteter Natur, Arkadien oder Idylle (u.a. auch als Abwesenheit gesellschaftlicher Zwänge),8 schließlich auch in den massenmedialen Imaginationen des Dörflichen (u.a. als Abwesenheit gesellschaftlicher Schnelllebigkeit) in Form von TV-Serien oder Kinofilmen. Sie belegen vor allem eine Persistenz der Bilder, Lebensformen und Praktiken, die mit der Differenzierung von Stadt und Land verbunden sind (Williams 1973) und diese in kontinuierlichen konjunkturellen Schüben auch aufnehmen und bearbeiten. Immer wieder erscheint das Land als das Andere der Stadt. Dieser Antagonismus scheint »fest im Quellcode der Moderne eingeschrieben« (Höhne 2015: 39). Er bildet, das hat u.a. der Geograph Marc Redepenning (2010) herausgearbeitet, eine historisch wiederholt erzeugte, aufgenommene und verwendete Konstante der Selbstbeobachtung vergangener und gegenwärtiger Gesellschaften. Auf der einen Seite gilt die Großstadt als prototypischer Ort moderner, komplexer und beschleunigter Lebensverhältnisse, auf der anderen Seite gilt das Dorf- und Landleben als prototypischer Ort einfacher Lebensverhältnisse und ›langer Dauer‹. Damit korrespondieren zwei einander gegenläufige Perspektiven. In den idealisierten Sichtweisen vormoderner
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Helbrecht zufolge findet sich diese Asymmetrie in drei Dimensionen: »Erstens sind es das Tempo, die Schnelllebigkeit und die Innovationskraft von Urbanitätsdiskursen, die diesen oft hegemonialen Status gegenüber dem Bedeutungssystem Ruralität verleihen. Zweitens scheint es seit der Antike zumindest im europäischen Kontext eine ethische und politische Überlegenheit von Urbanität als Wert gegenüber der Ländlichkeit zu geben. Dem Bedeutungssystem Urbanität werden emanzipatorische Kräfte zugeschrieben. Drittens verweist die Verwendung des Begriffes Urbanität in der populären Kultur darauf, dass das Verständnis, eine durch und durch verstädterte Räumlichkeit erreicht zu haben, tief in den Selbstbeschreibungen der Gesellschaft verankert ist.« (Helbrecht 2014: 178)
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Siehe dazu die differenzierte Auseinandersetzung mit Theorien und Untersuchungen, die für und gegen die Nivellierungsthese sprechen, bei Kersting/Zimmermann (2015)
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Beginnend in der bukolischen und dem Lob des Landbaus gewidmeten römischen Literatur über die Schäferromane des 17. Jahrhunderts bis zu den Heimat-und Dorfgeschichten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt in populären und zum Teil dann auch trivialen bis kitschigen Ausführungen.
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Lebenswelten erscheint das Landleben als Raum authentischer Mensch-NaturVerhältnisse und Selbsterfahrungen, die Großstadt hingegen als anonymisierend und entfremdend. In den idealisierten Sichtweisen moderner Lebenswelten erscheint die Großstadt als Ort des Fortschritts und nahezu unbegrenzter Möglichkeiten, das Landleben hingegen als überholt und rückständig.9 Der seit dem Zeitalter der Industrialisierung, Urbanisierung und Digitalisierung bestehende Modernisierungsdruck sorgt dabei dafür, dass ländliche und dörfliche Lebenswelten zunehmend im Selbstverständnis ihrer Bewohner ebenso wie in öffentlichen Diskursen als ›defizitäre‹ und ›abgehängte‹ Räume betrachtet werden. Demzufolge ist der öffentliche Blick vor allem von »Defizitnarrationen« (Fenske/Hemme 2015: 14) geprägt. Ländliche und dörfliche Lebensräume sind in dieser Sicht, nicht nur aufgrund des demografischen und industriegesellschaftlichen Wandels und der weiterhin zunehmenden Ausdifferenzierung und Beschleunigung moderner Lebensverhältnisse, mit einer Vielzahl an Problemen konfrontiert: Bevölkerungsrückgang, Überalterung und Abwanderung, zunehmender Leerstand in den Dörfern und überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit, Gebietsreformen und der Rückbau von Infrastruktur und Versorgung ebenso wie der Ausbau von intensiver Tierhaltung und monokultureller Landwirtschaft bezeichnen jeweils individuell drückende und die Gesellschaft im Ganzen betreffende Problemlagen, mit denen mitunter der Verlust individueller Partizipationsbereitschaft wie auch die Entkoppelung von Erfahrungsräumen und Lebenswelten einhergehen. Das Dorf wird so zur vermeintlich »verkannten Lebensform« (Schmidt 1999); sein fehlendes wirtschaftliches, soziales und kulturelles Kapital bildet das zentrale Thema einer Vielzahl von Darstellungen und Narrationen. Dies ist jedoch keine neue, nur die Gegenwart charakterisierende Situation. Nahezu beständig wurden ländliche Räume in einer durch Gefährdung, Verlust oder Entzug gekennzeichneten Umbruchssituation wahrgenommen, die – je nach politischer Lage, historischem Kontext und/oder kultureller Sinnorientierung – als Krise oder Gegenentwurf zur Moderne verstanden und erzählt, erfahren und erlebt wird. Wurde der ländliche Raum unter dem Eindruck eines die historischen wie auch aktuellen Entwicklungen moderner Gesellschaften ausmachenden Urbanisierungsprozesses, zumindest innerhalb dieser Gesellschaften, zunehmend als Resi-
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Freilich bleibt diese Gegenüberstellung, wie alle Erscheinungsformen dessen, was sich mit Moderne verbindet – und so auch die darauf bezogenen theoretischen Zugriffe –, zumindest ambivalent (Bauman 1990); zumal sich in kultur- und diskursgeschichtlicher Hinsicht nicht nur immer auch gegenläufige Bilder finden lassen, sondern vor allem ein insbesondere durch kulturelle und literarische Formen aufgefächertes, pluralistisches Verständnis des Ländlichen und seiner Erscheinungsformen, die gerade im Licht der kulturellen Codierung innerhalb einer bürgerlich literarischen Welt dann auch eine Aufwertung erfahren (Donovan 2010).
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dualkategorie, Kompensationsraum und damit zugleich als Bezugsfeld ästhetischer Projektionen und Entwürfe gesehen, so sind zum Ende des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts deutlicher wieder auch die wirtschaftlichen, sozialen und nicht zuletzt kulturanthropologischen, auch politischen Interessen an der Gestaltung des ländlichen Raumes hervorgetreten. Den negativen Imaginationen stehen dabei immer auch eine ganze Reihe positiv denotierter und konnotierter Bilder ländlicher Lebenswelten gegenüber. Die Orientierung an und Bezugnahme auf ländliche und dörfliche Räume und Gesellschaftsformen bildet vor dem Hintergrund fortgeschrittener und auch weiterhin fortschreitender moderner Gesellschaften ein Imaginations- und Aktionsfeld, auf das sich politische, gesellschaftliche und kulturelle Akteure in unterschiedlichen Kontexten und mit jeweils spezifisch ideologischen Ausrichtungen und Zielsetzungen bis in die Gegenwart hinein – historisch gesehen in verschiedenen konjunkturellen Phasen – immer wieder bezogen haben und wohl auch weiterhin beziehen werden: Sei es als Gegenentwurf und Kritikansatz zu einer durch Abstraktion, Entmündigung und Bürokratisierung gekennzeichneten bzw. wahrgenommenen Politik- und Verwaltungspraxis nationaler und transnationaler Organisationsformen oder aber als konkreter Einsatzpunkt für ein alternatives zivilgesellschaftliches oder privates Handeln und Gestalten im lokalen Kontext und ›von unten‹. Es geht dabei um Erfahrungen und Möglichkeiten sowie Projektionen und Erwartungen einer auf Handhabbarkeit, Überschaubarkeit, Kommunikation und Zugehörigkeit hin angelegten sozialen Ordnung, die im Rahmen lokaler und regionaler Nahverhältnisse Unterstützungsleistungen, Tauschbeziehungen und Reziprozität bietet und dadurch kooperative Lebens-, Wirtschafts- und Beteiligungsformen ermöglicht. Dabei treten neben Fragen der Bebauung, der Infrastruktur, des Wohnens und Arbeitens in ländlichen Räumen auch die Fragen kultureller Praxis, nach den Leistungen und Grenzen der Selbstverortung, Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion des Subjekts in den Vordergrund. Ländliche Räume erscheinen aus dieser Perspektive nicht bloß als unterstützungsbedürftige Peripherien, sondern als modellhafte und modellbildende Experimentierfelder innovativer Kräfte, auf denen sich neue Formen sozialer Bindung sowie alternative und nachhaltige Lebens-, Wirtschafts- und Beteiligungsformen herausbilden können. Die Produktion bzw. Rezeption von und Orientierung an Imaginationen vermeintlich ›vormoderner‹ – ländlicher und dörflicher – Lebensweisen und Gestaltungsformen stellt so in öffentlichen und medialen Diskursen einen Grundvorrat an Vorstellungen und Empfindungen, Organisationsmustern und Ausdrucksformen zur Verfügung, die insbesondere in den ambivalenten Situationen eines wahrgenommenen und/oder erlebten gesellschaftlichen Umbruchs – sei es im lokalen, regionalen oder auch globalen Ausmaß – und der damit verbundenen Verlusterfahrung und Unsicherheit immer wieder zum Einsatz kommen. Die Imaginationen des Ländlichen und Dörflichen werden dabei zu Projektionsflächen gesellschaftlicher Erfah-
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rungen und Wahrnehmungen, Ängste und Wünsche, die in Abgrenzung zu vorhergehenden und in Antizipation zukünftiger Entwicklungen sowohl kompensatorische als auch reflexive und handlungsleitende Funktionen ausüben können und auch Orientierungsmarken eines ›guten‹ bzw. ›gelingenden‹ Lebens bieten – sei es im Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen oder zur Natur.10 Auch wenn das Land als das vermeintlich Andere der Stadt verstanden wird (sei es als negatives oder positives Gegenbild wie auch in den verschiedensten sich dazwischen bewegenden Schattierungen und Mischformen), so steht es doch immer auch in Beziehung zu ihr. Das Dorf etwa bildet schon seit jeher einen Knotenpunkt in einem translokalen Netzwerk, das durch materielle, soziale und symbolische Austauschbeziehungen gebildet wird (Langthaler 2014: 64f.). Dieser Austausch vollzieht sich auch im Imaginären in beide Richtungen. Zum einen werden Ideen und Erzählungen aus übergeordneten und ›machtvollen‹ Diskursen (u.a. der Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und Kultur) ins Dorf übersetzt, wo sie auch
10 Dies trägt auch aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektivierung dem Umstand Rechnung, dass das Land – gerade auch unter den Bedingungen einer sozialtheoretischen und wirtschaftsgeschichtlichen Bestimmung von Moderne (vgl. dazu Wagner 1995) – nicht nur ein Erfahrungs- und Kompensationsraum der Subjektivität in Abkehr und zum Teil Abwehr von Erfahrungen der Moderne ist, sondern immer auch noch einen Handlungs-, Wohn-, Arbeits- und Erlebnisraum darstellt. In Folge der wirkmächtigen Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion von Landschaft im bürgerlichen Zeitalter durch Joachim Ritter (1975) – und in Verkürzung des Ländlichen auf eben jene vermeintlich nur dort in Erscheinung tretende Natur als Landschaft – haben literaturwissenschaftliche Studien zentrale und vor allem lebensweltlich relevante Aspekte außer Acht gelassen. Gerade ein weiter, ethnologisch grundierter Kulturbegriff, der also die ältere noch aus der landwirtschaftlichen Bebauung des Bodens gewonnene Bedeutungsschicht (vgl. Böhme 1996) mit den Ansatzpunkten einer neueren durch die Cultural Studies angestoßenen sozialtheoretischen und handlungsorientierten Vorstellung von Kultur verbindet (vgl. Baecker 1999) und so auch die im Rahmen der industriegesellschaftlichen Entwicklungen sich formierenden materiellen Verhältnisse des ländlichen Raums in den Blick nimmt, sieht das Land demgegenüber jedoch auch als weiterhin bearbeiteten und ggf. auch im Sinne von Gesellschaft, Politik und Bildung gestalteten Raum an, in dem Menschen leben und arbeiten, und auf den sich andere Menschen, auch wenn sie nicht dort leben, in ihren Referenzen und Diskursen beziehen. Freilich heißt das nicht, dass das Ländliche als Landschaft nicht auch heute noch im Anschluss an eben jene folgenreiche Bestimmung der kompensatorischen Funktion der Landschaft durch Ritter eine Rolle spielt. Gerade unter den Bedingungen einer Erlebnis-, Freizeit- und Tourismusgesellschaft hat sie einen Bedeutungszuwachs erfahren, der sich auch in der Konjunktur des ländlichen Raums als medial erzeugtes und entsprechend inszeniertes und genutztes Kulturobjekt wiederfindet.
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handlungsleitend wirken und das Leben vor Ort (mit) prägen (vgl. ebd.). Zum anderen ist aber auch das Dorf, so schreiben die Herausgeber der ZEITSCHRIFT FÜR IDEENGESCHICHTE (!), als »eine Brutstätte von Ideen und von Praktiken […], mit Ideen umzugehen« (Ajouri/von Rahden/Sommer 2015: 4) zu verstehen; Ideen und Praktiken, die eben aus dem ländlichen Raum stammen und in den urbanen Zentren wirksam werden. Es sind dabei immer wieder Figuren (u.a. Priester, Politiker, Lehrer, Schriftsteller, Künstler) und Medien (u.a. Zeitschriften und Bücher, Film und Fernsehen) der Vermittlung, die den Ideenaustausch zwischen den urbanen Zentren und ruralen Peripherien erzeugen (Langthaler 2014: 65) und dabei auch, in unterschiedlicher Gewichtung, dafür sorgen, dass sich beide strukturell aneinander angleichen (Kersting/Zimmermann 2015: 19).11 Die (auch global nachvollziehbare) Entwicklung der literarischen Dorfgeschichte bspw. zeugt von der Vorstellung und Existenz solcher Mittlerfiguren, die aus dem Dorf hervorgehen oder im Dorf auftauchen und zwischen den beiden Lebenswelten des Ruralen und Urbanen, zwischen den Kräften der Tradition und Beharrung einerseits und den Zwängen der Modernisierung und des Fortschritts andererseits, vermitteln (vgl. Neumann/ Twellmann 2014). Diese Mittler erzeugen dann auch spezifische Bilder des Ländlichen, die das Land zu einem »epistemischen Ort« (Fenske/Hemme 2015: 13) machen, über und mit dem diskursiv verhandelt wird.12 Sowohl das Land als auch
11 Siehe ausführlich zu den Vermittlerfiguren unter anderem Neumann/Twellmann (2014), Twellmann (2015); zu Medien in ländlichen Räumen siehe unter anderem Muntschick (1998) sowie Thissen/Zimmermann (2016). 12 Der inzwischen vielfach kulturwissenschaftlich genutzte Begriff der ›Verhandlung‹ lässt sich auch in der aktuellen Diskussion auf Stephen Greenblatts SHAKESPEAREAN NEGOTIATIONS
(1988) beziehen. Er bietet Anschlussmöglichkeiten an Prozesse politischer und
sozialer Partizipation, wie sie in der Gestaltung und Nutzung von Landschaften unabdingbar sind und wie sie zugleich wiederum zum Gegenstand und Produkt kultureller Diskurse und entsprechender literarischer und anderer künstlerischer Bearbeitungen werden – und dabei gewissermaßen ›soziale Energie‹ (Greenblatt 1988: 6) freisetzen und zirkulieren lassen. Hier – an den verschiedenen mit dem ländlichen Raum verbundenen Fragen und Problemstellungen – setzt nicht nur das Lesen und Schreiben ›über Land‹ an, sondern hier finden sich dann auch die Anstöße und Themen, Interessenfelder und konflikte, die unter den Bedingungen einer modernen partizipatorischen Gesellschaft Anlasspunkte und Zielvorgaben für Verhandlungen ausmachen. Diese sind dann auch nicht nur im Sinne kultureller Energien oder eines »kulturellen Kapitals« Elemente und Bestände symbolischer Codierung und Ordnung, sondern ebenso als Gegenstände, Bestandteile und zum Teil Objekte des Begehrens in ökonomischer, sozialer, politischer Hinsicht bedeutsam; erst recht insoweit sie als Ressourcen im Alltag auch die Möglichkeiten individueller Selbstbestimmung ausmachen.
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das Ländliche fungieren dabei als Orte und Medien der Wissensproduktion, in und mit denen Wissen hergestellt wird; wobei die verschiedenen Formen und Inhalte des Wissens selbst wiederum auch die spezifischen Erscheinungsformen des Ländlichen beeinflussen und mitunter auch erzeugen. Insofern sind die Imaginationen und Erzählungen, die den aktuellen Zustand ›des Landes‹ ergründen und erklären wollen und mit denen die gesellschaftlichen Diskurse und Verhandlungen ›über Land‹ geführt werden, zugleich auch Motoren der Herstellung dieser Ländlichkeit, die sie doch zugleich auch untersuchen. Dies trifft sowohl auf die jüngst zu beobachtende Wiederkehr des literarischen und filmischen Erzählens vom Dorf (siehe dazu Nell/Weiland 2014, Nell/Weiland 2015) wie auch auf die verschiedenen sozial- und kulturwissenschaftlichen Studien über ländliche Räume (siehe dazu Langthaler/Sieder 2000, Langthaler 2014, Beetz 2015) zu. Sie verfahren gewissermaßen, insofern man den Begriff systematisch nutzen möchte, auch ›geopoetisch‹ (vgl. Marszałek/Sasse 2010); mit den Mitteln der erzählerischen Imagination und Fiktion arbeiten sie an der Ergründung, Beschreibung und Interpretation – mitunter auch: Veränderung und/oder (Mit-)Erzeugung – eines spezifischen geographischen Raums. In verschiedenen historischen Phasen und soziokulturellen Kontexten finden sich in den literarischen und wissenschaftlichen Bildern und Erzählungen des Dörflichen und Ländlichen immer auch spezifische Wahrnehmungsweisen und (Wert-)Vorstellungen, die Ausdruck kultureller wie auch individueller Selbstverständnisse sind und das Leben in den jeweiligen gesellschaftlichen Räumen nicht nur abbilden, sondern auch ordnen, erhalten oder verändern sollen bzw. können. Sie sind niemals nur Spiegelungen in einem Objektbezug, sondern zugleich immer auch Projektions-, Gestaltungs- und Verhandlungsraum; und damit auch Anlass und Impulsgeber für Sozialität in ihren mitunter durchaus ambivalenten Ausformungen. Die imaginär hergestellten Ländlichkeiten sind Teil eines umfassenden Prozesses der Aneignung von konkreten ländlichen Räumen und Landschaften. Dieser Prozess kann mit praktischen (durch Nutzung), theoretischen (durch Forschung) und ästhetischen (durch Kunst) Mitteln vollzogen werden (Anders/Fischer 2012a: 12), die jeweils unterschiedliche Perspektivierungen erzeugen und sich doch gegenseitig beeinflussen (Anders/Fischer 2012b: 28). Er umfasst gleichermaßen eine Aneignung und Transformation von Natur und Kultur. Das Land, das uns bildlich vor Augen steht und über das wir lesen, sprechen und nachdenken, ist immer schon ein Land von und für Menschen; und zwar auch in dem Sinne, wie Natur immer schon Kultur gewesen ist (vgl. Groh/Groh 1991) und sein musste, wenn sie zum Gegenstand menschlicher Praxis und entsprechender epistemischer Anstrengungen werden sollte.13 Geschichten ›über Land‹, also Erfahrungen der Landbewohner ebenso
13 Zur wechselseitigen Konstitution von Natur und Kultur, Aufwertung und Abwertung der Natur durch das Subjekt und dessen Selbstsetzung durch die und gegenüber der Natur,
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wie die Kultur- und Literaturgeschichte ländlicher Räume, berichten von den Wegen, in denen sich der Mensch in Auseinandersetzung mit der Natur Lebensgrundlagen und ein Lebensumfeld zu schaffen sucht und geschaffen hat – und dabei zugleich immer auch sich selbst in seiner Existenz und in seinen Existenzbedingungen thematisiert und reflektiert.14 Das Land, auf das sich die verschiedenen Ländlichkeiten beziehen, umfasst eben jene ländlichen Räume, die als Ergebnis verschiedener Arbeits- und Kultivierungsprozesse zu sehen sind, mit denen Menschen sich Natur aneignen und sich selbst zu finden suchen.15 Je nach historischem und kulturellem Kontext wird Land in gleicher (insofern sich bestimmte Deutungsmuster und Aneignungspraktiken ausgebildet haben und immer wieder aufgenommen werden) und doch immer auch verschiedener (insofern deren Anwendung immer individuell in spezifischen Situationen vollzogen wird) Weise gesehen und erzählt, wahrgenommen und erfahren, angeeignet und ausgehandelt. Dass die symbolischen (theoretischen wie ästhetischen) und praktischen Aneignungen von ländlichen Räumen dabei Hand in Hand gehen und zusammengedacht werden können, zeigen jüngst sowohl theoretische Ansätze als auch empirische Untersuchungen (Rössel 2014). Sie verweisen darauf, dass mit der Herstellung von Wissen und Bedeutung auch unterschiedliche Erscheinungsweisen und Ergebnisse materieller Produktionen und Transformationen verbunden sind. Daher geht es bei einer Analyse der Diskurse über Land auch darum, die medialen Bilder des Dörflichen und Ländlichen als Reaktionsbildungen auf spezifische Erfahrungen und zugleich als Ausdruck und Gestaltungsform individueller und kollektiver Vorstellungen, Ansprüche und Wünsche lesbar, verstehbar und schließlich auch produktiv nutzbar zu machen.
sowie die damit verbundenen Ambivalenzen und Konjunkturen vgl. Böhme (1997: 92116). 14 »Natur ist also«, so schreibt Böhme (1997: 115), »der tragende Grund, von dem menschliches Selbstverständnis seinen Ausgang nimmt.« 15 Der historische Weg ›über Land‹ ist hier also ein recht langer: Er geht von Jägern und Sammlern über bäuerliche Aneignung, Raumbewirtschaftung (vgl. Reinhard 2008) und die damit verbundenen Konflikte, soziale Ausdifferenzierungen (die nicht zuletzt auch mit dem Weiterbestehen von Migration und Landlosigkeit größerer Bevölkerungsgruppen verbunden sind) bis hin zu der mit den Übergängen zur Markt-, Industrie- und schließlich Dienstleistungsgesellschaft (Polanyi 1978; Wallerstein 1984) sich ausbreitenden Strukturierung der europäischen und globalen Gesellschaften nach den Mustern von Zentren und Peripherien. Wobei diese Kategorisierungen natürlich ebenso umstritten sind wie die Differenzierung verschiedener Regionen. Ihnen kommt allerdings im Blick auf die kulturellen Codierungen ländlicher Räume nach wie vor eine gewisse Relevanz zu; vgl. z.B. Wallerstein (1986), Reinhard (2008: 395-425) und Nolte (2013) für Osteuropa, Romano u.a. (1980) für Italien sowie Gotthard (2007: 72-157) für die deutschsprachigen Lande.
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Die Vielfalt der Interessen an ländlichen Räumen und die heterogenen Zugänge zum Dorf spiegeln sich so auch in unserem Band wider, der nicht nur wissenschaftliche Analysen und Essays, sondern auch Interviews mit Autorinnen und Autoren der neuen Dorfgeschichten zu unterschiedlichen Themenfeldern und Perspektiven versammelt, die jeweils in den Gesprächen auf Akteurinnen und Akteure treffen, die sich im ländlichen Raum engagieren und/oder diesen in unterschiedlichen medialen Herangehensweisen – u.a. fotografisch, literarisch, wissenschaftlich – erforschen und vermitteln. Denn die Geschichten ›über Land‹ stehen im Mittelpunkt des Bands: Dorfgeschichten, die in Romanen, Filmen und Fernsehserien, aber auch in Heimatbüchern oder ethnographischen Interviews erzählt werden; Dorfgeschichten – aus historischer und ethnologischer Perspektive rekonstruiert, literaturwissenschaftlich und diskurshistorisch befragt, von den Schreibenden selbst kommentiert. Geographisch gesehen beschäftigt sich der Band mit dem Erzählen und Verhandeln über das Dorf in Mittel- und Osteuropa. Mitunter sind es ganz unterschiedliche Themen- und Problemstellungen, die in den gesellschaftlichen Diskursen sowohl gegenwärtig als auch historisch auf Dorf und Land projiziert und anhand der Imaginationen des Dörflichen und Ländlichen reflektiert wurden und nach wie vor werden: Historischer und politischer Wandel, Bildung von und Erziehung zu Nationalität, Heimatverlust und Heimataneignung, Energiewende und Klimawandel, Gerechtigkeit und gutes Leben, wechselseitige Konstruktionen von Stadt und Land, und schließlich – nicht zuletzt – auch persönliches und kollektives Erinnern ebenso wie religiöses Wissen und freiheitliches Handeln in seinen Grenzen und Möglichkeiten sind hierfür nur einige Beispiele. Auch aufgrund dieser übergreifenden Diskussionen ließe sich, mit einer Wendung von Claudia Stockinger, sagen: Dorfimaginationen gingen in Serie – und werden nach wie vor weitergeschrieben. Die hier zusammengestellten literatur-, kunst- und filmwissenschaftlichen Zugänge erkunden diese Imaginationen aus verschiedenen Blickwinkeln. Der Beitrag von Claudia Stockinger zeigt ganz erstaunliche strukturelle und funktionale Kontinuitätslinien im seriellen Erzählen über das Dorf auf. Am Beispiel der Zeitschrift DIE GARTENLAUBE und der Fernsehserie TATORT erörtert sie dabei auch, was das Erzählen von Dorfgeschichten – trotz der jeweils sehr unterschiedlichen historischen und soziokulturellen Kontexte – über die Jahrhunderte hinweg so interessant macht, dass entsprechende Formate und Produkte in serieller Form für ein Massenpublikum hergestellt und von diesem auch kontinuierlich rezipiert wurden und werden. Demgegenüber setzt Marcel Krings am anderen Ende des Spektrums an: Am Beispiel der Dorfgeschichten Kafkas zeigt er, dass das Erzählen über das Dorf der Erörterung ganz individueller und persönlicher Fragestellungen der Autoren dienen kann. Dabei verweist er auch darauf, dass die Schreibweisen der literarischen Moderne, zu der Kafka als einer ihrer schillernden Vertreter mittlerweile zweifellos als Klassiker gehört, von ihren Gegenstandbereichen her eben nicht nur in der Großstadt, die gemeinhin als Paradigma des modernen Erzählens gilt,
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sondern auch auf dem Land zu verorten sind. Dass gerade gegenwärtig wieder in umfangreicher Weise von dörflichen Lebenswelten erzählt wird, zeigt der Beitrag von Marc Weiland, der die verschiedenen Themen- und Problemstellungen neuer Dorfgeschichten ebenso wie die sich in ihnen bündelnden literarischen Verfahren in einem breit angelegten Überblick thematisiert und die Gattung der Dorfgeschichte als eine spezifische Form gesellschaftlicher Selbstbeschreibung fasst. Dieser umfassenden Selbstbeschreibung liegen jedoch ganz heterogene Wahrnehmungen und Erfahrungen dörflichen Lebens zugrunde, die Natalie Moser in ihrer Analyse von Juli Zehs UNTERLEUTEN, einem der zentralen und vieldiskutierten Romane der letzten Jahre, in ihren perspektivischen Gebundenheiten, insbesondere an die Großstadt, erkundet. Denn in den gegenwärtigen Aufnahmen und Fortschreibungen des kulturellen Deutungsmusters der Stadt-Land-Differenz bildet das Urbane nicht etwa nur das konstituierende Gegenstück des Ruralen, auch Dorfromane und Dorfgeschichten können mitunter als konstitutive Bestandteile gegenwärtiger Großstadtnarrative fungieren. Imaginäre Dörflichkeiten und Ländlichkeiten vermitteln damit nicht nur Gegenbilder, sondern bieten auch Vermittlungsangebote zwischen Stadt und Land, Globalität und Lokalität, Popkultur und Tradition. Dies zeigt Alexandra Ludewig am Beispiel des Genres des neuen Heimatfilms. Insbesondere der Regisseur Marcus H. Rosenmüller nimmt hier eine Vorreiterrolle ein. Filme wie bspw. WER FRÜHER STIRBT, IST LÄNGER TOT (2006) erzählen individuelle Entwicklungsgeschichten und bringen dabei Konzeptionen gelingender ländlicher Lebenswelten zum Ausdruck. Das Land bildet dabei einen zentralen Verhandlungsort individueller und kollektiver Lebensweisen. So auch im Beitrag von Ingo Uhlig: Aus der Geschichte der künstlerischen Darstellungen ländlicher Lebensweisen lässt sich auch eine Geschichte der Energien und Energiewenden herauslesen. Denn die Künste erzeugen ein immer wieder in Anschlag gebrachtes Wissen, das auch die unterschiedlichen technischen, sozialen und politischen Entwicklungen aufnimmt – und doch weit über sie hinausgeht. Ein verbindendes Element der Beiträge ist dabei gewissermaßen auch die Frage, wie sowohl historisch als auch gegenwärtig im Medium von Literatur, Film und Kunst individuelle und gesellschaftliche Problemstellungen im Kontext des Dörflichen und Ländlichen anschaulich gemacht und verhandelt werden. Dies trifft freilich nicht nur auf den deutschsprachigen Raum zu. So ist es bspw. auch die auffallende Hybridität osteuropäischer ländlicher Gebiete, die zu Erkundungen einlädt und die Imagination antreibt: Der polnische Autor Andrzej Stasiuk beschreibt unermüdlich seit mehr als einem Jahrzehnt die ›verschwindenden‹ Landschaften in seinen Reise-Essays. In unserem Band wird Stasiuk als einer der wenigen polnischen Gegenwartsautoren erwähnt, die autobiographisch über das Dorf und die post-bäuerliche Gesellschaft schreiben: In der polnischen Kultur gleicht nämlich das Bekenntnis zur dörflichen Herkunft noch immer einem sozialen Coming-out. Den Schwierigkeiten der Artikulation einer Ich-Stimme aus dem Dorf
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– trotz der langen Tradition einer von der Sozialforschung initiierten bäuerlichen Autobiographik – geht Magdalena Marszałek in ihrem Beitrag nach. Er steht im Kontext einiger weiterer Beiträge, die Diskurse über das postsozialistische Dorf (und seine Geschichte) außerhalb des deutschsprachigen Raums untersuchen: in Ungarn, Polen, Russland, Belarus und der Ukraine. Die Spezifik der ländlichen Gebiete im östlichen Europa liegt nicht nur in ihrer langen Geschichte der feudalen Gutsherrschaft, sondern auch im sozialistischen Modernisierungsexperiment, das – wenn auch regional im unterschiedlichen Maße – das Dorf nachhaltig verändert hat. Zwar verschwinden seine Spuren heute überall in Folge marktwirtschaftlicher Transformationsprozesse; diese verlaufen aber keineswegs einheitlich und hinterlassen in unterschiedlicher Weise nicht nur Überreste, sondern auch durchaus merkwürdig heterogene Neubildungen. Osteuropäische ländliche Provinzen stellen deshalb heutzutage meist hybride Landschaften dar, die Gegensätzliches verbinden: die alte und neue Armut mit dem neuen Kapital, Entvölkerung mit Tourismus, Zerfall von Infrastrukturen und sozialen Zusammenhängen mit insularen ökologischen Initiativen, Reste dörflicher Gemeinden mit elektronisch vermittelten und räumlich zerstückelten Netzwerkbildungen etc. Literarische und ethnologische Erzählungen beleuchten diese Prozesse nicht nur komplementär, sondern sie bewegen sich oft in der Art ihrer Beobachtung und Reflexion aufeinander zu. Verwahrloste Dorfgemeinschaften in Ungarn sind nicht nur Gegenstand literarischer Beschreibung, sondern auch ethnologischer Forschung. Die Literaturwissenschaftlerin Éva Bányai analysiert zwei Romane, die sich aus der Innenperspektive kindlicher Erzählfiguren mit der Wahrnehmung zunehmend zerfallender dörflicher Lebenswelten im Staatssozialismus beschäftigen und dabei in literarischer Verdichtung deren Auswirkungen auf das Individuum aufzeigen. Der Ethnologe Chris Hann nähert sich den nach der Wende verarmten ungarischen Dorfkollektiven in teilnehmender Beobachtung und mit essayistischer Feinfühligkeit an, um zugleich ganz nüchtern die direkten politischen Folgen jener Degradierung aufzuzeigen. Aus den in jahrzehntelanger Feldforschung gesammelten Erzählungen ehemaliger Kolchose-Bauern (Kolchosniks) in Weißrussland webt wiederum Anna Engelking ihr Narrativ über das traumatische historische Gedächtnis der belarussischen Bauern, für die die Kolchose bis heute einen geradezu schicksalhaften identitätsbezogenen Referenzpunkt bildet. Das beinahe unerschöpfliche Potenzial des Dorfs als Verhandlungsort identitätsbezogener gesellschaftlicher bzw. nationaler Konzepte und Ideologien wird in historischer Perspektive sichtbar. Tetiana Portnova zeigt dies am Beispiel der langen Geschichte durchaus widersprüchlicher Aneignungen und Projektionen des bäuerlichen Dorfs im ukrainischen nationalen Diskurs bis heute. Ausgehend von einer gegenwärtig in Russland spürbaren Sehnsucht nach einem traditionellen Landleben zeichnet Katja Bruisch wiederum die turbulente Geschichte der realpolitischen sowie symbolischen Verhandlungen des Dörflichen zwischen Herrschaftsan-
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spruch, utopischer Besetzung und ökonomischem Zwang in der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland. Eine solche Sehnsucht prägt gewissermaßen auch die Produzenten von Heimatbüchern; allerdings mitunter aus anderen Gründen. Hier sind es häufig, das zeigt der Beitrag von Ernst Langthaler, Erfahrungen und Verarbeitungen eines Verlusts – hervorgerufen etwa durch den seit Mitte des 19. Jahrhunderts stattfindenden Übergang von der Agrar- zur Industrie- und schließlich Dienstleistungsgesellschaft oder auch durch diverse Grenzverschiebungen und Migrationsbewegungen im Kontext der beiden Weltkriege –, die wiederum dafür sorgten, dass das Heimatbuch zu einem geschichtskulturellen Massenmedium avancieren konnte, das im 20. Jahrhundert in verschiedenen konjunkturellen Phasen produziert wurde und noch immer eine ergiebige Quelle für historische Untersuchungen bietet. Dabei sind Heimatbücher allerdings nicht bloß als Abbildungen einer wie auch immer vorgegebenen Heimat zu verstehen, sondern auch als Medien eines aktiven Heimat-Machens. Die Konstruktion von ländlichen Räumen fokussieren schließlich auch die soziologisch orientierten Beiträge. Marcus Heinz erkundet sowohl in theoretischer als auch empirischer Perspektivierung die Pluralität und Heterogenität ländlicher Räume – insbesondere mit Blick auf diejenigen Akteure, die in Auseinandersetzung mit verschiedenen imaginären Ländlichkeiten aktiv an der Entwicklung und Vermittlung des Landes arbeiten. Den Einfluss der Moderne auf die Konzeption von (ländlicher) Heimat und deren Rückkoppelung an die Entwicklungen und Belastungen der Moderne untersucht schließlich auch der Beitrag von Werner Nell. Die in verschiedenen historischen Kontexten erzeugten und auch gegenwärtig wirksamen Heimatbilder und -begriffe können in seiner Lesart als Reaktionsmuster auf die Zumutungen der Moderne und zugleich als Versuche ihrer Bearbeitung verstanden werden. Die Zukunft ländlicher Räume ist dabei, trotz aller Versuche einer politischen oder kulturellen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Fest-Stellung, nach wie vor offen. Herzlich danken möchten wir der Kulturstiftung des Bundes, insbesondere Antonia Lahmé, Karoline Weber und Tinatin Eppmann, für die gemeinsame Konzeption, Planung und Durchführung der Lesereihe ÜBER LAND. DIE PROVINZ IM ZENTRUM ZEITGENÖSSISCHER LITERATUR, die im Jahr 2016 in Halle stattfand. Im Zuge dieser Reihe konnten Schriftsteller/innen, Künstler/innen, Wissenschaftler/innen und Akteure des ländlichen Raums miteinander wie auch mit dem Publikum ins Gespräch kommen. Gerahmt wurden diese literarischen und praktischen Auseinandersetzungen mit dem aktuellen Zustand ländlicher Räume von zwei wissenschaftlichen Vortragsreihen in Potsdam und Halle. Für ihre Mithilfe am Entstehen dieses Buches danken wir Franziska Koch und Julia Broy für die Einrichtung der Texte sowie Anne-Lena Fuchs für die Verschriftlichung der Gespräche und Einrichtung der Texte. Der Volkswagenstiftung danken wir für den großzügigen Druckkostenzuschuss.
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»Was erzählte uns ein Fuchs über uns, über die Stadt und das Dorf?« Saša Stanišiü im Gespräch mit Alexander Gumz und Katrin Schumacher
Schumacher: Saša Stanišiü, in VOR DEM FEST beschreiben Sie, verdichtet in die Geschehnisse einer einzigen Nacht, das Leben im Dorf Fürstenfelde. Mit FALLENSTELLER kehren Sie nun wieder in den Ort zurück. Aber wie sind Sie dort überhaupt erst hingekommen? Oder wie ist dieses Dorf auf Sie zugekommen? Stanišiü: Das war letztendlich ein Zufall. Ich wollte eigentlich eine Geschichte über ein Dorf in Bosnien schreiben. Das liegt hoch oben in den Bergen, wo mich meine Großmutter einmal hingeführt hat, da meine Familie väterlicherseits über viele Generationen dort gelebt hat. Das Schreiben darüber hat jedoch aus mehreren Gründen nicht geklappt. Dadurch, dass ich während der Recherche dort viele Gespräche geführt und Material gesammelt hatte, habe ich jedoch große Lust bekommen, so ein Dorf selbst zu erschaffen. Dieses sollte so ähnlich sein wie das bosnische, nur eben in Deutschland. Mit ähnlich meine ich: mit bestimmten strukturellen Problemen behaftet und zugleich mit einer reichhaltigen Geschichte versehen; und vielleicht auch mit Menschen, die bereit sind, ihre Gegenwart zu erzählen. Es waren dann einhundert Seiten, die noch keine Verwortung und Verortung hatten, weder die Sprache noch einen richtigen Ort dafür. Einer Freundin erzählte ich davon: Ich habe mir eine Landschaft erschaffen. Darin gibt es zwei Seen und zwischen den beiden Seen liegt das Dorf; und außerdem gibt es auch noch einen unheimlichen Wald dort in der Gegend. Die Freundin meinte dazu: Dieses Dorf gibt es schon. Und daraufhin nahm sie mich mit nach Fürstenwerder. Das war mein erster Besuch dort. Durch die Gespräche vor Ort habe ich sehr schnell festgestellt, dass dort sehr viel lauert und darauf wartet, erzählt zu werden; und dass auch meine eigene Erfindungsmaschinerie sehr stark anlief. Diese beiden Komponenten führten zu der Ent-
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scheidung, das Ganze in der Uckermark anzusiedeln. Dies führte aber auch dazu, dass ich anderthalb Jahre gar nicht geschrieben, sondern nur recherchiert habe. Schumacher: Dabei recherchieren Sie aber auch nach Sprache, oder? Die Figur Lada in FALLENSTELLER spricht etwa ganz anders als Georg Horvath. Ist das auch ein Recherchieren nach einem bestimmten Sound? Stanišiü: Auf der einen Seite möchte ich, dass die Geschichten so authentisch wie möglich klingen, je nachdem in welchem Milieu wir uns bewegen. Wenn wir im Buch unter jungen Menschen sind, dann soll der Erzähler anders klingen als bei Ferdinand Klingenreiter, der ein 67 Jahre alter Mann ist. Auf der anderen Seite möchte ich aber auch gerne zeigen, was Sprache alles kann, welche Welten sie allein durch Ausdruck, Bilder, Vergleiche schaffen kann; was für eine Welt wir – Autoren – dem Leser, unabhängig von den Personen, die in der Geschichte vorkommen, geben können. Deswegen hat jede Geschichte auch einen ganz eigenen Sound, klanglich, aber auch ›sozial‹. Schumacher: In und um Fürstenwerder hat sich ja mittlerweile so etwas wie ein Kult entwickelt. Waren Sie davon selbst überrascht? Stanišiü: Beim Schreiben kann man nicht wissen, wie das Schreiben sich auf die reale Welt auswirken wird, über die man schreibt. Kult würde ich es auch nicht unbedingt nennen, aber es gibt z.B. sehr viele Leute, die in das Dorf gereist sind, das meinem Fürstenfelde in Wirklichkeit als Vorbild gedient hatte. Einige wollten dann z.B. Ditzsche kennenlernen, der jedoch eine ausgedachte Figur ist, ein Hühnerzüchter mit einer Eierbox, die die ganze Zeit draußen steht. Irgendwann dachte ich, ich muss auch das, also auch die Auswirkungen des Buchs auf das Dorf, hineinschreiben in eine Fortsetzung des Romantextes. Auch wollte ich die Biografien meiner Figuren weiterspinnen und mich selbst als Figur ein bisschen auf die Schippe nehmen. Schumacher: Sie sagten einmal, dass VOR DEM FEST zunächst knapp siebenhundert Seiten hatte und Sie ganz viel streichen mussten. Was ist denn da rausgefallen? Stanišiü: Ich arbeite so, dass ich erst einmal alles sammle und dann ein Best-of mache. Rausgeflogen sind einzelne Figuren, die dramaturgisch nicht reingepasst oder mir nicht ausreichend gefallen haben. Das Buch ist ohnehin mosaikartig gebaut, und ich hatte beim Lektorieren das Gefühl, dass es manchmal sogar zu sehr zerfasert. Deshalb habe ich einige Stränge rausgenommen – der Übersichtlichkeit wegen. Ich glaube, das ist auch für den Leser gut gewesen. Es sind ja ca. zwölf
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ERZÄHLTE UNS EIN
FUCHS ÜBER
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Hauptfiguren. Wenn da noch drei oder vier dazugekommen wären mit jeweils fünfzig Seiten Text, damit hätte ich niemandem einen Gefallen getan. Schumacher: In beiden Büchern über Fürstenfelde geht es immer wieder um Grenzverwischungen zwischen Fantasie und Realität. Es gibt zum Beispiel denkende Füchse, nächtliche Wolfsbesuche oder Hirsche, die Xbox spielen. Sind diese fantastischen Elemente etwas, das sie bewusst nutzen und brauchen in Ihrem Schreiben und vielleicht auch gar nicht hergeben würden? Stanišiü: Ja, ich glaube, ich brauche das wirklich. Ich lese gerne Geschichten, die sich am Rande des Wahrscheinlichen bewegen, bei denen ich als Leser also nicht weiß: Nimmt mich der Autor jetzt in eine vollkommene Märchenwelt mit oder sind wir noch in unserer Wirklichkeit? Geschichten, bei denen man sich immer noch fragt: Kann das denn jetzt sein? Ich finde, dass Literatur sich dadurch auch gut unterscheidet von anderen Disziplinen des Schreibens, indem sie sich eben erlauben darf, für kleine Sequenzen ins Fantastische zu gehen. Ich rede jetzt nicht von Orks und Elfen, sondern vor allem von alten Mythen und mythischen Figuren, von Geschichten, die wir uns vor Hunderten von Jahren schon einmal erzählt haben und die jetzt wieder lebendig werden durch heutige Figuren. Auch der Fallensteller, den wir uns so gar nicht mehr vorstellen können, ist ein Charakter, der mit einem Bein in der Vergangenheit steht. Das finde ich spannend. Was können solche wie er über uns heute erzählen? Was erzählte uns ein Fuchs, wenn er sprechen könnte, über uns, über die Stadt und das Dorf und deren Nutzung, über Abfälle und den Umgang mit der Natur? Dabei geht es jedoch nicht um die Belebung des Tieres durch den Menschen, denn dann würde ja wiederum auch bloß nur ich durch das Tier sprechen. Es geht darum, eine Sprache für das Tier zu finden. Deswegen sprechen die Füchse wie auch die mythischen Figuren immer sehr eckig. Die fassen das Deutsche nicht so ganz gut an. Die kriegen das nicht so hin, aus der Vergangenheit zu kommen und sich hier jetzt so ganz normal zu unterhalten. Die rappen, denen fehlen Vokabeln und sie haben einen sehr spezifischen Wissensstand, weil sie eben Tiere sind. Ich mag dieses Schreiben um den heißen Brei herum, das auch einiges über die Sprache an sich entlarvt. Als ich sehr jung war, waren meine Lieblingsbücher solche, die selbstverständlich fantastische Elemente nutzten und die mich entscheiden ließen, wo und wie die Geschichte weitergeht. ›Wenn sie über die Brücke gehen wollen, dann lesen sie weiter auf S. 112.‹ Das kennen Sie vielleicht auch. Deshalb sind meine Bücher so, dass man da nicht unbedingt linear durchgeführt wird, sondern sich die Geschichten Stück für Stück selbst zusammensetzen darf. Und die Verbindungsstücke reichen dann eben oft ins Fantastische.
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Schumacher: Alexander Gumz, von Ihnen kam die Initiative für das Wortgarten Festival, das einige namhafte Autorinnen und Autoren nach Fürstenwerder gebracht hat. Wie sind Sie in dem Dorf gelandet? Gumz: Meine Mutter ist vor zwanzig Jahren aus Berlin in die Uckermark gezogen; und zwar drei Dörfer weiter. Deshalb bin ich oft schon dort in der Gegend gewesen. Ich kenne Nils Graf, einen großartigen Buchhändler, der in Fürstenwerder ein Antiquariat betreibt. Vor Jahren dachte ich schon, man müsste da gemeinsam mit KOOK einmal Lesungen unterm Birnbaum veranstalten. Als diese Idee schon fast im Sand verlaufen hatte, kam plötzlich Saša mit seinem Buch. Mehr und mehr Freunde auch aus Berlin haben sich von dieser Gegend, dieser Idee begeistern lassen, und so ist das Wortgarten-Festival nicht am Reißbrett entstanden, sondern das schoss alles zusammen. Schumacher: Wie sind Sie dabei ideell und konkret mit dem Ort umgegangen? Wurde auch etwas für oder mit den Menschen vor Ort gemacht oder lediglich ein bisschen Literatur in eine schöne Landschaft verfrachtet? Gumz: Uns war klar: die Gefahr besteht, man kommt als Städter an, nimmt sich diese hübsche Kulisse und interessiert sich nicht für das, was dort wirklich passiert. Deshalb haben wir in einer Scheune, dem Atelier einer Bildhauerin, einen ersten Abend veranstaltet, bei dem Jan Wagner, Tilman Rammstedt und Pauline de Bok gelesen haben. Wir haben also versucht, nicht nur Leute aus dem Literaturbetrieb zu importieren, die man kennt, sondern auch Leute von dort dazu zu nehmen. So haben wir auch Cathrin Pfeifer gefunden, eine bekannte Akkordeonistin, die in der Region lebt und bei uns gespielt hat. Dazu kam Dirk Laucke, der unbedingt etwas mit Leuten vor Ort machen wollte. Er hat sich zwei Wochen vorher im Dorf eingenistet und in diese Scheune eine Art Talk-Show-Performance gebracht mit einem lokalen Blechbläserensemble und den Einheimischen, die Lust hatten, ihre Geschichten zu erzählen. Das war sehr lustig und hat auch viel Publikum angezogen, das vermutlich nicht gekommen wäre, wenn nicht auch Leute von ihnen auf der Bühne gestanden hätten. Schumacher: Ist dies vielleicht auch dem Gedanken geschuldet: Wenn ein Dorf stirbt, dann stirbt mit dem Dorfchronisten auch ein Stück Literatur? Gumz: Die Gefahr, dass das Land nur noch als Kulisse für Städter oder aber als Kornkammer der Monokultur dient, ist sehr groß. Damit gehen Geschichten und Vergangenheit, aber auch ganz handfestes Wissen verloren. Schon die Menschen, die jetzt mit großen Landmaschinen auf den Äckern immer mehr bis an die jahrhundertealten Feldwege heranfahren und dabei gewachsene Strukturen vernichten,
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scheinen nicht mehr das detaillierte Wissen über Landwirtschaft zu haben, das eine Generation vorher noch hatte. Stanišiü: Wobei es unter den Hinzugezogenen auch welche gibt, denen das auffällt und die sich engagieren. Ich war ein Mal bei einer Gemeinderatssitzung, deren Mitglieder zur Hälfte Alteingesessene und zur anderen Hälfte Ankömmlinge waren, die sich tatsächlich engagieren und etwas erledigen wollen. Es ging etwa darum, die Homepage vom Tourismusverband Uckermark neu zu gestalten. Das war super. Die Wortführer waren die Berliner. Die wollten, dass das besser gemacht wird, und damit besser für alle ist. Auch im Heimatverband helfen Leute mit, die hinzugezogen sind und die versuchen, etwas aufrechtzuerhalten, zu dem sie überhaupt erst spät gefunden haben. Schumacher: Wie war denn, was das Festival betrifft, der Anklang bei den Bewohnern? Gab es ein Interesse mitzumachen oder eher ein Abwarten und Zuschauen? Gumz: Beides. Wir sind da auch ein bisschen blind in das Ganze hineingerannt, weil wir viele Querelen und Hintergrundgeschichten gar nicht kannten. Wer kann mit wem und wer mit wem nicht, und warum. Wir haben Wortgarten ja bewusst an zwei verschiedenen Orten veranstaltet: in Fürstenwerder selbst und auf dem Gut Bülowssiege, einem sehr schön restaurierten Gutshof fünf Kilometer außerhalb des Orts, zwischen den Feldern. Das geht dann schon in Richtung Postkartenidylle, aber das wollten wir ja auch dabei haben. Zusammengenommen kamen viele verschiedene Bewohner, auch Nachbarn aus dem Umkreis, ganz unterschiedliche Schichten. Es gab die Urbevölkerung und die, die schon zwanzig oder dreißig Jahre da sind und dort tolle Sachen machen, denen es vor allem um die Region geht. Und dann gab es auch die Sommergäste, die in weiten Sommergewändern und Strohhüten aufschlugen und fontanehaft über die Wiesen flanierten. Am Ende ist aber tatsächlich aufgegangen, was wir gehofft hatten: Die verschiedenen Veranstaltungen an verschiedenen Orten haben unterschiedliche Menschen, die im Sommer vor Ort sind, angesprochen. Schumacher: Sie haben während des Festivals selbst einen literarischen Spaziergang gemacht und angeboten, Saša Stanišiü. Wie wurde der angenommen? Stanišiü: Das ist schwer zu sagen. Ich bin einfach zu einigen Orten gegangen, von denen man erwarten würde, dass sie im Buch eine wichtige Rolle spielen. Dort habe ich aus verschiedenen Stellen gelesen, die dort passiert sein könnten, z.B. mitten im Schilf. Aber ich bin auch zu Orten gegangen, die tatsächlich Vorbild waren. Eine alte Schmiede wurde schon vor Jahren von einer Zugezogenen wiederbelebt und dient heute als Keramikwerkstatt. Dort habe ich mich auf diesen großen Hof gestellt
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und die Stellen gelesen, die tatsächlich in diesem großen alten Hof spielen. Ich finde das Interesse an der Fiktion als Realität dennoch immer ein wenig befremdlich. Dem wollte ich entgegenwirken, indem ich sowohl ein wenig diese Ader bespiele, aber auch gleichzeitig zeige, dass trotz eines quasi identischen Ortes die Geschichte, die dort spielt, ausgedacht ist. Ich hatte zuvor zweimal schon im Dorf gelesen, in diesem wunderschönen Antiquariat. Beide Male haben sich die Berliner und Hinzugezogenen gleich um die Karten gekümmert und waren schneller als die alte Dorfbevölkerung, die den Austausch eher im Privaten sucht. Schön am Festival war dann, dass die Veranstaltungsstätten größer waren und die Dorfbevölkerung sich in der Anonymität mehr getraut hat. Die sind kulturelle Veranstaltungen einfach nicht mehr so gewohnt, denn um etwas derartiges zu erleben müssen sie ja nach Prenzlau oder Schöneberg fahren. Deshalb ist es vielleicht auch ein größerer Schritt für sie, auch dann hinzugehen, wenn etwas angeboten wird, das ungewohnt ist. Gumz: Und zugleich müssen sie sich unter Beobachtung fühlen, weil sie aus ihrer Sicht ja in deinem Buch vorkommen. Ich erinnere mich daran, dass du bei einer Lesung mal spontan meintest: ›Jetzt gehen wir herum und schauen uns die Spielorte des Romans an.‹ Da sind wir dann vor der Garage gelandet und du bist fast im Boden versunken vor Scham, weil einige Leute mit dem Fotoapparat dort hinein gestolpert sind, als sei es eine Szenekneipe, oder ein Museum. Schumacher: Es ist ja gar nicht einfach, solch einem Kosmos wie dem Dorf so nahe zu kommen. Wie haben sie angefangen? Stanišiü: Ich bin kein guter Journalist, das hätte man vielleicht eher sein müssen, um an die Themen besser heran zu kommen. Ich hatte eher das Gefühl, dass die Leute mehr erzählen, wenn ich mehr von mir preisgebe. Als ich also das Aufnahmegerät weggelegt habe und meiner Wirtin erzählt habe, wer ich bin und was mich wirklich interessiert – dass ich ernsthaft wissen möchte, wie die Leute hier leben und schon Jahrhunderte hier gelebt haben und auch noch gar nicht weiß, ob daraus überhaupt ein Text wird –, da hat sie im Hintergrund wahrscheinlich ein paar Fäden gezogen. Plötzlich waren die Leute offener zu mir. Sie hat ein erstes Treffen mit der Nachbarin für mich vereinbart. Sie meinte, deren Mann sei an Krebs gestorben und sie fühle sich so alleine. Fast drei Stunden lang saßen wir dann da im Garten und am Ende waren wir beide zu Tränen gerührt. Ich habe ihr von Bosnien erzählt und sie mir von ihrem Mann. Auch wenn ich nichts davon für den Text gebrauchen konnte, war es doch einfach grandios, sich jemandem Unbekannten so anzuvertrauen. Sie hat die Begegnung natürlich ihren Nachbarn weitererzählt und so ging das herum und mit der Zeit haben die Leute dann aufgemacht. Als das Buch dann erschienen war, kam eine Frau zu mir und fragte: Sie haben sich mit mir doch so oft unterhalten, warum komme ich denn nicht vor?
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Schumacher: FALLENSTELLER ist dann ja, sozusagen, die Fiktion über die Fiktion. Sie geht eine Ebene weiter, Lada beginnt nun zu schreiben. Hatten sie so ein Erlebnis, dass jemand angefangen hat, sich selbst literarisch zu betätigen? Stanišiü: Nein, aber schon während der Recherche haben mir Dorfbewohner Texte gezeigt. Klar, die Leute schreiben und führen Tagebücher, sie malen auch und machen Musik. Der Gedanke, dass es dort Texte gibt, sehr gute sogar, die aber nie das Licht der Öffentlichkeit sehen werden, brachte mich auf die Idee mit Lada. Ich dachte, es wäre doch wunderbar, wenn ich mir eine Figur ausdenke, bei der es am unwahrscheinlichsten ist, dass sie anfängt zu schreiben und zu einem Autor wird. Ich glaube nicht, dass wegen des Buches dort jemand mit dem Schreiben angefangen hat. Der Austausch während der Recherche war aber sehr wichtig für mich, weil diese Texte der Dorfbewohner auch wieder fiktionale Ausarbeitungen ihrer Lebensgeschichte waren. Es sind auch aufgeschriebene Geschichten von ihren Großeltern und der Zeit des Zweiten Weltkrieges, die dort sehr gut dokumentiert sind. Inzwischen ist dazu auch ein Buch erschienen. Das waren auch wertvolle Einsichten für mich in eine mir völlig unbekannte Zeit. Schumacher: Wie war das nach dem Wortgarten Festival? Ist danach ein Loch entstanden, so als wäre das Ufo gelandet und wieder abgeflogen? Gumz: Ein Ufo zwischenzulanden war tatsächlich, was wir nicht wollten. Wenn wir nur ein Berliner Ufo landen lassen, dann hat das mit den Menschen vor Ort wenig zu tun und ist schnell wieder weg. Stattdessen erreichen uns immer noch E-Mails über die Wortgarten-Website von Leuten, die dabei waren und sich wünschen, dass wir wieder kommen. Es hat natürlich die Uckermark nicht umgekrempelt. Es war ja ein kleines Festival, deshalb hat das sicherlich kein Depressionsloch in den Köpfen der Kulturinteressierten hinterlassen. Leider haben wir bislang keine Förderung bekommen für einen zweiten Wortgarten, der schon 2017 stattfinden sollte. Für den Sommer 2018 wollen wir es jetzt noch einmal versuchen. Schumacher: Mit welchen Themen hat sich denn das Festival beschäftigt? Ging es auch um gesellschaftliche Strömungen und Problemlagen und wie die Literatur mit dem Raum des Dorfes umgeht? Gumz: Ein Metafestival haben wir nicht gemacht. Wir haben überhaupt erst einmal versucht, an dem anzudocken, was an Geschichten, Menschen und Charakteren in der Region vorhanden ist, wer da lebt. Und dann saßen eben auch mal Leute auf der Bühne und riefen: ›Peter, weißt du noch, wie das damals '52 war?‹ Und Peter erzählt dann von hinten quer durch den Raum, wie er die Geschichte erlebt hat, um die es eben auf der Bühne ging. Viel mehr konnte man bei einem ersten Mal nicht
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leisten. Außerdem habe ich das Gefühl, dass die Gentrifizierung in Fürstenwerder selbst nicht so stark ist wie in anderen Gebieten. Es geht da – von außen betrachtet – noch vergleichsweise homogen zu. Stanišiü: Die Leute ziehen eher in die kleineren Orte drum herum, Fürstenwerder ist nicht so attraktiv. Es gibt weniger Wochenendler. Wenn, dann lässt man sich dort nieder, weil es günstig ist. Schumacher: Zum Abschluss würde ich gerne noch einmal auf das Verhältnis von Natur, Idylle und realem Dorf kommen. In einer Geschichte in FALLENSTELLER schreiben Sie vom Ferienlager. Der Ich-Erzähler will nicht in die Natur, er hasst die Natur. Stanišiü: Ich lehne Natur ab! Ich finde Bäume nur als Schränke schön. (lacht) Schumacher: Ist diese Geschichte ein bisschen deckungsgleich mit ihrem Verhältnis zur Natur? Stanišiü: Nein, eigentlich nicht. Diese Geschichte ist aus Gesprächen mit Schülern entstanden. Immer wieder kam von ihrer Seite eine gewisse Abneigung gegenüber der Natur zum Ausdruck. Das fand ich als einen interessanten Anlass und als eine interessante literarische Perspektive für eine Geschichte, dass also jemand gezwungen wird, in ein Ferienlager mitten in den Wald zu gehen, und der aber absolut keinen Bock drauf hat und alles ausspricht, was in vielen Schülern wohl tatsächlich vorgeht. Die machen solche Exkursionen halt, weil sie es müssen. Wenn ich den Text jetzt an Schulen lese, dann gibt es Jubelstürme. Da zücken alle die Handys und machen Fotos. Mein Lieblingstext für Schullesungen. Aber auch bei Erwachsenen funktioniert er erstaunlich gut. Die glauben, das sei Ironie. Schumacher: Vielleicht kommt da dann zukünftig wieder eine neue Generation von Stadtliteraten auf uns zu, nachdem jetzt die Naturliteraten so en vogue sind. Aktuell stellt sich jedoch die Frage: Ergrünen wir gerade wieder in der Literatur; und wenn ja, warum? Gumz: Der Erfolg von LANDLUST und ähnlichen Zeitschriften muss ja etwas bedeuten. Die Faszination für die Landschaft als ästhetisches Phänomen in der Tradition Petrarcas kennt man ja. Doch etwas ist mir über zwanzig Jahre immer wieder in der Uckermark aufgegangen: Dieser idyllisierende Blick, von dem vielleicht auch die Literatur infiziert ist, ist immer ein urbaner, städtischer Blick. Ein Blick, der auf der Suche ist nach seinem Gegenteil. Vermutlich muss man sich als Autor immer wieder bewusst machen, dass man als außenstehender Beobachter da hineingeht.
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Dass man nicht aus Versehen netten Biedermeier produziert. Der Mensch, der auf dem Land lebt und arbeitet, der sieht wohin er guckt: Arbeit. Das markiert vielleicht auch einen Punkt, über den die Literatur und die Kunst einmal hinwegkommen müssten – und wir als Veranstalter natürlich auch: Dass man Natur nicht nur als schöne Fototapete nimmt, sondern reingeht und die ganze Grausamkeit bemerkt, die sie auch hat, die sie auszeichnet. Die Natur kennt schließlich keine und ist keine Idylle. Was immer wir als Landschaft sehen, alles ist bearbeitet; jeder Weg, jedes Feld, jede Allee. Das ist keine Natur-, sondern eine Kulturlandschaft. Andererseits glaube ich, dass es zurzeit eine Art Gelangweiltsein vom ewigen Ruf nach dem Großstadtroman gibt. Die meisten Städte zumindest der westlichen Welt brauchen keinen weiteren Roman. Stanišiü: Zumal ich mir nie überlege, was gerade en vogue ist, um darüber zu schreiben. Ich folge meiner Neugier. Mir ist aber natürlich aufgefallen, dass es sehr viel Suchen nach Idylle in der deutschsprachigen Literatur gibt. In Juli Zehs UNTERLEUTEN wird das sogar gegen den Leser ausgespielt, indem es idyllisch beginnt, sich dann komplett umkehrt und letztendlich grausam wird. Ich finde es gut, dass man die Natur nicht nur als Kulisse benutzt, sondern auch den Nutzen und die Arbeit darin und daran sieht und sie als Teil dieser unseren komischen Welt betrachtet, der sehr vielseitig erzählbar ist. Schumacher: Ich habe den grundlegenden Verdacht, dass die Natur uns nicht braucht und unerwiderte Liebe schon immer Motor von Literatur war und ist. Stanišiü: Wir wandern auch nicht wie Petrarca zum ersten Mal auf den nächsten Berg hoch oder wie Fontane zu Fuß zum nächsten Bahnhof; und wenn wir doch einmal zu Fuß unterwegs sind, dann wissen wir die ganze Zeit, wo wir sind. Demgegenüber steht eine Art Mythisierung der Natur in vielen Texten, ja auch in meinen. Man muss sich aber schon auch noch verlaufen können, um den Mythos Natur nicht nur als Literatur zu erleben.
Dorf in Serie? Von der Gartenlaube zum Tatort C LAUDIA S TOCKINGER
1. Z WISCHEN 1853
UND
2016
Was haben so unterschiedliche Medien wie das 1853 erstmals erschienene Familienblatt DIE GARTENLAUBE und die seit 1970 ausgestrahlte ARD-FernsehReihe TATORT gemeinsam? Erstens gehören sie jeweils zu den erfolgreichsten Produktionen der Populärkultur ihrer Zeit: Die Massenzeitschrift DIE GARTENLAUBE markiert den Beginn der Populärkultur in Deutschland,1 und die Erfolgsgeschichte des TATORTS seit 1970 ist legendär.2 Zweitens produzieren sie jeweils in Serie, also in fortlaufenden Nummern bzw. Folgen, zwischen denen eine Auslieferungslücke besteht, wobei die Nummern bzw. Folgen episodische ebenso wie horizontal erzählte Serien enthalten. Und drittens interessieren sie sich beide gleichermaßen auch für den Gegenstandsbereich ›Dörflichkeit‹, die sie im Rahmen von Dorfgeschichten ausgestalten, nachschreiben und erzeugen. Kurz: In beiden Medien geht ›das Dorf in Serie‹, situiert an den Polen des Betrachtungszeitraums zum Genre der Dorfgeschichte, nämlich ›um 1850‹ und ›bis 2016‹. Dabei stellt sich für die Dorfgeschichten beider Formate gleichermaßen die Frage, was das Dorf als Darstellungsmedium leistet bzw. leisten soll. Was lässt sich mit Mitteln des Dorfs in gesellschaftlicher, politischer, religiöser, räumlicher,
1
Dies wird auch von Hügel (2007) hervorgehoben. Ihm zufolge gebe das »Erscheinen« der GARTENLAUBE »am 1.1.1853 […] ein alle wichtigen sozialen, technischen, wirtschaftlichen und politischen Fakten berücksichtigtes [!] Datum ab, hinter das für die Datierung der Entstehung Populärer Kultur in Deutschland zurückzugehen […] nicht ratsam ist« (ebd.: 68).
2
Zur Begründung vgl. Hißnauer/Scherer/Stockinger (2014).
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kultureller u.a. Hinsicht zeigen, was mit anderen Mitteln nicht oder weniger gut gezeigt werden kann? Warum also ist die Dorfgeschichte für die epochal, medial und darstellerisch so unterschiedlich organisierten Reihenformate DIE GARTENLAUBE und TATORT interessant, über die Jahrhunderte hinweg? Worin bestehen ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede? Was bedeutet es, dass ›das Dorf in Serie‹ geht?
2. D IE G ARTENLAUBE
ALS
D ORFGESCHICHTE
Zur Annäherung an ›das Dorf in der GARTENLAUBE‹ bietet sich die Auseinandersetzung mit zwei grundlegenden Forschungspositionen an. Die erste Position besagt, die Dorfgeschichte der GARTENLAUBE gehöre der »zweite[n] Phase der DGnEntwicklung« an und sei »durch den sich stärker ausbildenden Unterhaltungstypus der DG gekennzeichnet« (Hein 1976: 92). Die zweite Position geht davon aus, dass die Dorfgeschichte des 19. Jahrhunderts (und damit auch diejenige der GARTENLAUBE) auf die Zumutungen der Moderne »[r]eagiert« (Nell/Weiland 2014: 36), etwa auf die Urbanisierung der Lebenswelt – sei diese nun real erlebt oder/und aus vorhandenen Stadtbildern abgeleitet und ausgestaltet. Zur ersten Position: Sie stellt in zweierlei Hinsicht eine unzureichende Verkürzung dar. Zum einen ist das Interesse an »Unterhaltung« für die GARTENLAUBE von Beginn an programmatisch. In den ersten Jahrzehnten ihres Erscheinens ging es der Zeitschrift dabei aber eher um die ›unterhaltsame Belehrung‹ des Publikums als um eine lehrreiche ›Unterhaltung‹.3 Das unterhaltsame Moment wurde erst später, seit den 1880er Jahren, immer weiter in den Vordergrund gestellt.4 Die Dorfgeschichte im engeren Sinne einer literarischen Gattung spielte aber nicht erst – mit Ludwig Ganghofer – seit Mitte der 1880er Jahre in der GARTENLAUBE eine Rolle, sondern dominierte – mit Herman Schmid – das fiktionale Seriengeschehen schon der 1860er Jahre. Davon ausgehend lautet meine These: Die Dorfgeschichten der ersten
3
»[…] so dürfen wir doch sicher annehmen, daß ein großer Theil derselben, gewiß sogar der größere, die Blätter mehr der Belehrung als der Unterhaltung wegen liest. Für Manche mag die Lektüre der Gartenlaube die einzige Quelle der unterhaltenden Belehrung sein, die Meisten jedoch werden sich auch nach andern Quellen umsehen, wobei wir vorauszusetzen wagen, daß dazu die Gartenlaube selbst dann und wann Anregung gegeben hat« ([Hermann] Burmeister: »Vom Büchermarkte«, in: Die Gartenlaube 1856/23: 310-312, hier 310).
4
Dessen zunehmende »Eigenwertigkeit« führte schließlich dazu, dass sich das »gebildeter[e] bzw. literarisch interessierter[e]« Publikum »alternativen Blättern, vorwiegend des Rundschau- bzw. Revuetyps, zuwandte« (Graf/Pellatz 2003: 424).
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GARTENLAUBEN-Jahrzehnte fokussierten nicht auf Unterhaltung. Sie stellten sich in den Dienst der Volksaufklärung.5 Zum anderen geht das Organ selbst – und zwar ebenfalls von Beginn an – als eine besondere Form der Dorfgeschichte in Serie. Abbildung: Das Dorf in der ›Gartenlaube‹
Titelvignette der ersten Auflage von 1853/1 (aus: Klüter 1963: 29)
Das Gartenlauben-Modell, das Herausgeber Keil ab dem ersten Heft 1853/1 sowohl im Titel aufrief als auch in der Titelillustration ins Bild setzte (siehe Abb.), lässt sich mit Blick auf die Geschichte des Lesens auf eine ganz interessante Weise erklären: Zwar nahm im 19. Jahrhundert die Alphabetisierung kontinuierlich zu – von 10% um 1800 über 25% um 1850 (Wittmann 1999: 253) bis auf 98% um 1900 (Schneider 2004: 167). »[B]estehende soziale Hierarchien und geistige Autoritäten« »änderten« sich dadurch aber nicht etwa »automatisch« (Troßbach/Zimmermann
5
Aufschlussreich dafür ist etwa Friedrich Hofmanns Gedicht EI, HEUT’ IST KEINE SCHULE! (Die Gartenlaube 1867/31: 492) – zugleich ein Beispiel für das Themenfeld ›Die Dorfgeschichte in der Lyrik‹, das eigens zu behandeln wäre.
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2006: 175).6 Die ›stille‹ und ›individuelle‹ Lektürepraxis spielte keineswegs schon eine übergeordnete Rolle. Gelesen wurde nach wie vor auch »in dörflicher oder familiärer Gesellschaft« (ebd.). Eben diese Lektürehaltung ›imitierte‹ die GARTENLAUBE und machte sie zum Programm. Das – bezeichnenderweise als »Beiblatt zum Illustrirten Dorfbarbier«7 gegründete – bürgerliche Organ inszenierte sich so von vornherein als dörflich inspiriertes Medium. Durch die GARTENLAUBE wurden dörfliche Geselligkeitsformen, die tatsächlich praktiziert oder als Idealvorstellungen formuliert wurden, zum Vorbild für einen nationalen und die Nation kulturell einenden Habitus, in den eben die Lektüre des Familienblatts einzuüben antrat und versprach.8 Indem sie als »Zeitschrift für alle« (Barth 1974) nicht nur die deutschsprachigen Länder und Regionen adressierte, sondern auch die Auslandsdeutschen überall auf der Welt zu erreichen suchte, weitete sie diesen dörflichen Habitus ins Internationale. Die global-village-Idee der GARTENLAUBE zielte also weniger darauf ab, dass »[d]ie Welt […] im Ganzen zu einem Dorf zusammen[wächst]« (Nell 2014: 176). Vielmehr wurde ›das Deutsche in der Welt‹ als Transposition vertrauter, dörflichfamiliärer Gemeinschaften in eben diese als ›fremd‹ wahrgenommene und empfundene Welt inszeniert – mit Blick auf die Erfolgsgeschichte der GARTENLAUBE ein recht effektiver Versuch, das Unbekannte, Neue, ggf. Bedrohliche und Überfordernde handhabbar zu machen; und zwar unabhängig davon, dass realiter die in der GARTENLAUBE vielfach behandelte Auswanderung »in ihren Rückwirkungen auf die Dorfentwicklung häufig negativ gesehen« wurde (Troßbach/Zimmermann 2006: 201, 208). Dieses spezifische global-village-Konzept der GARTENLAUBE entsteht dabei in der Interaktion mit Leser-Autorschaften. Weil die GARTENLAUBE Leserbeiträge aus allen Teilen der Welt erhielt und publizierte, konnte sie überhaupt erst das verwirklichen, was schon im Vorgängerkonzept des DORFBARBIERs angelegt war: ein Blatt für die gesamte deutschsprachige Welt zu sein. Zur zweiten Position: Die These von der Dorfgeschichte als einer Modernisierungserzählung ist Konsens und leuchtet – gerade vor dem Hintergrund ihres spezifischen global-village-Konzepts – auch für die GARTENLAUBE ein. Die Funktionsbeschreibung für die Dorfgeschichte, Aushandlungsfläche zur Verarbeitung oder/
6
Dementsprechend ist die zunehmende Alphabetisierung nicht notwendigerweise nur als »›Emanzipationsgeschichte‹« zu verstehen (Troßbach/Zimmermann 2006: 175). Vielmehr wird in neueren agrargeschichtlichen Forschungen auch auf die ambivalente Funktion der Schriftkultur im bäuerlichen Kontext verwiesen: Einerseits konnte sie subversiv wirken, andererseits bestehende Herrschaftsverhältnisse manifestieren (ebd.).
7
Die Gartenlaube. Beiblatt zum Illustrirten Dorfbarbier. No. 1. 1853: [1].
8
Zur Rolle der GARTENLAUBE im Nationenbildungsprozess des 19. Jahrhunderts vgl. Belgum (1998).
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und Kompensation von Moderneerfahrungen zu sein, leitet sich daraus ab. Allerdings führt sie zu weiteren Fragen: Wem wird dabei eigentlich etwas zugemutet? Dem Dorf, das sich selbst imaginiert und projiziert, oder der Stadt, die Imaginationen und Projektionen des Dorfs entwirft? Zum einen gilt es als gesichert, dass der »dörfliche[ ] Alltag« im 19. Jahrhundert einem »enormen Veränderungsprozess[ ]« unterworfen war: »Bürgerlich-urbane und industrielle Lebensformen brachen [...] unmittelbar in den ländlich-dörflichen Lebensraum ein« (Jacobeit 1988: 329, 328). Zum anderen lässt sich daraus, folgt man der Forschungsliteratur, nicht notwendig ›das Problem‹ der Dorfgeschichte in der GARTENLAUBE ableiten. Für die GARTENLAUBE behauptet Uwe Baur: »Die Sache der Bauern war in der Literatur eine Sache der Bürger« (Baur 1997: 391). Das »Bild ›des‹ Bauern« gilt demnach als eine »städtische Erfindung« bzw. »Projektionsfläche« (Troßbach/Zimmermann 2006: 237f., 239). Das für die Dorfgeschichte beanspruchte Konzept der doppelten Adressierung von Literatur (mit Blick auf Gebildete wie Ungebildete; vgl. Reiling 2015) ginge in diesem Fall also nur bedingt auf. Stimmt das? Meine These dazu lautet: Tatsächlich sorgte das Organ – etwa durch eine entsprechende Preispolitik – dafür, dass nicht nur die bürgerlichen Schichten, sondern auch die Arbeiterklasse bzw. die »Aermsten [s]einer Leser«9 bedient werden konnten und wurden. Die bäuerliche Bevölkerung gehörte zu den Zielgruppen der GARTENLAUBEN-Werbung. Diese erfüllte aber nur dann ihren Zweck, wenn sie unter den Lesern des Organs auch tatsächlich auf Bauern traf.10 Außerdem bestätigen externe Zeugnisse, dass die GARTENLAUBE auf dem Land sogar abonniert wurde (vgl. Troßbach/Zimmermann 2006: 215). Und schließlich kam die dörfliche Perspektive in der GARTENLAUBE selbst zu Wort, indem das Organ ›bäuerlicher Autorschaft‹ (von Dorfgeschichten!) ein Forum bot. Diese wurde so zum Gegenstand weiterer Aushandlungen zum Thema.11 Wie also geht die GARTENLAUBE, wie gehen die Dorfgeschichten der GARTENLAUBE mit den genannten Zumutungen um? Spielt ›die Moderne‹ dezidiert, implizit oder ex negativo in den Texten eine Rolle? Befördern die Texte der GARTENLAUBE das Unbehagen an der Moderne oder stellen sie deren Vorzüge heraus? Sind sie
9
Ernst Keil: »An die Freunde der Gartenlaube!«, in: Die Gartenlaube 1863/1: 16.
10 Die ebenfalls im Keil-Verlag erscheinende ILLUSTRIRTE LANDWIRTHSCHAFTLICHE DORFZEITUNG wurde den Lesern der GARTENLAUBE als eine Zeitschrift empfohlen, »die sich selbst der weniger bemittelte Landwirth halten kann« (Die Gartenlaube 1857/4: 56). – Dabei ist allerdings zu beachten: Viel Zeit zu lesen hatte ›der Bauer‹ nicht – im Unterschied zum ›Arbeiter‹, der »›seine Zeitung von vorne bis hinten‹« liest (zit. nach Troßbach/Zimmermann 2006: 227). 11 Vgl. dazu Rud. Hildebrand: »Ein Bauer als Dichter«, in: Die Gartenlaube 1867/15: 234238.
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eher vergangenheits- oder zukunftsgerichtet? Steht das Dorf für ›die gute alte Zeit‹, das die entstehende Nation revidieren, sich also wieder aneignen soll; steht es für etwas Rückwärtsgewandtes, das es zu überwinden gilt; oder steht es für ein im Durchgang durch die Moderne sich selbst erneuerndes und veränderndes Gut, dem zukunftsweisendes Potential zukommt? Wie verhält sich dazu das Organ selbst, die GARTENLAUBE als Familienblatt, periodisch erzeugt und in regelmäßigen Abständen unter die Leute gebracht? Zu beachten ist dabei, dass die Texte nicht isoliert betrachtet werden dürfen. Vielmehr sind sie auf die Bedingungen ihres Produziertseins hin zu lesen, an dem viele Akteure beteiligt sind; sie sind auf die »Gesamtvorstellung« (Hickethier 1991: 10) und die Programmatik des Periodikums hin zu lesen, in dem sie (ent)stehen und für das sie geschrieben werden; und sie sind auf ihren spezifischen Publikationsort hin zu lesen, der den Text einer Dorfgeschichte auf einer Seite, in einer Nummer, im Verlauf der Hefte und über die Jahrgangsgrenzen hinweg zu Texten anderer Dorfgeschichten ebenso ins Verhältnis setzt wie zu einer paratextuellen Umgebung, die auf den ersten Blick nicht notwendig zum Themen- und Motivreservoir Dorf/Dörflichkeit beiträgt – wenngleich auch dies der Fall sein kann12. Ist dies aber nicht der Fall, dann handeln diese (paratextuell situierten) Texte stattdessen etwa von Industrie, Wirtschaft, Technik, Politik, Architektur oder Verwaltung. Mit anderen Worten: Auf die Zumutungen der Moderne reagiert die Dorfgeschichte der GARTENLAUBE auch dadurch, dass sie mit anderen GARTENLAUBENArtikeln interferiert, die sich ausführlich mit den Lebenswelten der Moderne befassen.13 Die Reaktionen erfolgen dann in erster Linie im Leseprozess. Sie entstehen
12 Ein Beispiel: Das zweite Segment von Herman Schmids Erzählung DER DORFCAPLAN mündet auf der Plot-Ebene in ein »(Fortsetzung folgt.)«, das im dritten Segment weitere Aufschlüsse über die gegen die Protagonistin Franzi laufende Intrige verspricht (Die Gartenlaube 1865/46: 724). Was im Seitenaufbau des Blatts dann aber tatsächlich folgt, ist – der Natur einer Fortsetzungsserie in einem Periodikum gemäß – nicht dieses dritte Segment, sondern ein anderer Text, der allerdings in diesem Fall das Setting einer Dorfgeschichte nahtlos fortführt: Otto Bauck, ALPENBILDER. 1. HOLZFÄLLER UND FLÖSSER IM ISARTHAL (ebd.).
13 Ludwig Reims fiktionale Serie über eine Papierfabrik, BLÄTTER AUS DER KRISIS. NR. 1. FABRIKANTENBROD (Die Gartenlaube 1858/14-16), wird in unmittelbarer paratextueller Umgebung in eine faktuale Serie hinein verlängert, die sich mit dem Buchdruck, genauer mit der »Herstellung der Schriftstücke von der rohen Schriftmasse bis zu ihrer Vollendung als fertige Bücher in allen Stadien« beschäftigt (Albert Rottner: »Ein Besuch der Officin von Brockhaus in Leipzig«, in: Die Gartenlaube 1858/15-17, zit. 1858/15: 212). Durch den Buchhandel – und nicht mehr durch die Landwirtschaft – wird das Leben im
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im Kopf des/r (exhaustiven) Lesers/in der GARTENLAUBE, der/die Dorfgeschichte und paratextuelle Lektüren miteinander verkoppelt.14 Im folgenden Beispiel sollen zentrale Formen und Funktionen des ›Dorfs in Serie‹ in der GARTENLAUBE deshalb zugleich mit Blick sowohl auf den Text als auch auf dessen paratextuelle Umgebung hin erläutert werden. Das Dorf als Experimentierfeld der Moderne Der 14-teilige Fortsetzungsroman DER HABERMEISTER von Herman Schmid15 gehört zu den »primitivistischen« (Twellmann 2014) ›Dorf-Imaginationen‹ des 19. Jahrhunderts. Wie im ›Oberhof-Teil‹ von Immermanns wirkmächtigem VorgängerRoman MÜNCHHAUSEN (1838/39) wird auch in Schmids ›Dorfgeschichte in Serie‹ die Tradition des Femegerichts zunächst aufrechterhalten: Sie bestimmt den Plot des Textes. Am Ende geben die Dorfbewohner das Femegericht dann aber als nicht mehr zeitgemäße, illegitime Form der Selbstjustiz auf, ohne dass dadurch diese Tradition oder der bis in die Gegenwart hineinreichende Umgang damit ins Lächerliche gezogen würden. Ein zentraler Ort bestimmt von Beginn an das Dorfhandeln – so das einleitende Setting, das mit den üblichen Requisiten des Dörflichen ausgestattet ist bzw. mit den Versatzstücken des dafür üblichen ›Skripts‹ erzeugt wird: »Das Gasthaus« bildet die soziale Ordnung des Dorfes ab, die dem Leser als eigentlicher Motor des Dorfgeschehens vor Augen geführt wird. Versammelt sind hier der reiche Bauer, zugleich Metzger und Viehhändler, der Lehrer, der Outlaw, ein Lumpensammler (die Rede ist vom »Abgesonderten«, »Ausgestoßenen«; 37: 577) sowie die beiden Hauptfiguren der Geschichte, deren Weg aufeinander zu den Gang der Handlung ausmacht. Die beiden Protagonisten markieren zugleich die zwei diametralen Pole
Dorf dann auch in Reims Serie rhythmisiert und strukturiert (vgl. Die Gartenlaube 1858/14: 185; 1858/16: 227). 14 Zum ›Paratext‹ in Periodika vgl. Kaminski/Ramtke/Zelle (2014: 35 – ein paratextueller Bezug bezeichnet demnach das Verhältnis von gleichrangigen Segmenten zueinander, also von »prinzipiell ahierarchisch nebeneinandergestellten« Texten, die »parallel um die Aufmerksamkeit des Lesers« ›konkurrieren‹). – Zum Konzept der exhaustiven Lektüre (die ein vorliegendes Zeitschriften-Heft im Ganzen konsumiert, im Idealfall von der ersten bis zur letzten Seite, und die sich so – bewusst oder unbewusst – dem Text gerade in seinen paratextuellen Beziehungsverhältnissen aussetzt) vgl. Stockinger (2016) und Stockinger (2018). 15 Herman Schmid: »Der Habermeister. Ein Volksbild aus den bairischen Bergen«, in: Die Gartenlaube 1867/37-50 (Belege im Folgenden in Klammern mit Angabe der Heft- und Seitenzahl).
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in der Dorfhierarchie: Die Gasthaus-Bedienung Franzi steht ganz unten auf der Leiter (sie muss es sogar ertragen, vom Lumpensammler genötigt und beleidigt zu werden; 38: 594f.); »der junge Aichbauer« Sixt ist an deren Spitze positioniert (»Keiner im Dorf thut was Wichtig’s, wo er nit zuerst den Sixt um die Meinung fragt«, so der Lehrer; 37: 580). Dass Sixt als einziger der anwesenden Männer Franzi vor den Zudringlichkeiten des Lumpensammlers schützt, ja »so recht wie ein Engel vom Himmel dazwischen« (38: 595) tritt, verweist bereits darauf, dass er nicht nur in der Dorfhierarchie, sondern auch in moralischer Hinsicht als unangefochten zu gelten hat. Und dass Franzi Sixts ›ritterliches‹ Verhalten »ganz natürlich« (ebd.) findet, wird eine/n Leser/in, der/die mit dem Genre Dorfgeschichte vertraut ist, ebenfalls nicht irritieren. In Konsequenz dieser hohen Wertschätzung wird Sixt zum Vorsitzenden des ortseigenen Femegerichts bestellt. Seine moralische Überlegenheit wird demnach dadurch herausgefordert, dass er nun als »Habermeister« für eine überholte Form des Gewohnheitsrechts einzustehen hat (»das Recht ist so alt wie unsere Berg’«; 39: 609), die der gültigen staatlichen Rechtsordnung zuwider läuft. Eben dieses ›Habergericht‹ hatte den Lumpensammler erst zu jenem Outlaw gemacht, der in der Anfangsszene im Wirtshaus von allen gemieden wird und sich auch deshalb völlig daneben benimmt. Dass er von staatlichen Gerichten von allen Anschuldigungen freigesprochen worden war, beeindruckt im Dorf, mit Ausnahme Franzis, niemanden. Die in ihrem Urteil völlig unbestechliche Franzi tritt für den Ausgestoßenen ein, der sie doch sogar selbst bedrängt hatte. Sie erkennt als einzige den Zusammenhang von sozialer Exklusion und psychischer Deformation, indem sie das Dorfhandeln – genauer »das Haberfeldtreiben«, das sie als »eine Schand’« und eine »Sünd’« brandmarkt (ebd.) – als Ursache für das Unglück und schlechte Betragen des DorfAußenseiters identifiziert. Zugleich geht Franzis ›natürlich‹ wie ›religiös‹ begründetes Gerechtigkeitsempfinden mit den gültigen Gesetzen konform. Sie wird so zur eigentlichen Heldin des Dorfgeschehens: »›Und ich sag’,‹ rief Franzi mit leuchtenden Augen, ›wenn das Gericht, das eingesetzt ist über Leben und Tod, Einen freigesprochen hat, der in bösem Argwohn gestanden ist, das ist auch eine Stimm’ von Gott […]‹« (ebd.). Der Text erzeugt ein Bild der Frau als einer Heiligen und Märtyrerin, denn auch Franzi gehört bald zu den unschuldigen Opfern des Habergerichts. Sie wird als klug, menschlich, mutig, redlich, redegewandt, schön, bescheiden, frei, selbstbewusst, liebesfähig, rechtgläubig (bezogen auf die staatliche Ordnung), kurz als jemand geschildert, der in jeder Hinsicht der männlich bestimmten DorfHierarchie überlegen ist. Wie der Leser das Habergericht zu beurteilen und welche Position er in den Aushandlungen zwischen ›Recht‹ und ›Gesetz‹ einzunehmen hat, verdeutlicht nicht nur die laufende Dorfgeschichte. In volksaufklärerischer Absicht verlängert das Familienblatt dieses eigentliche Thema von DER HABERMEISTER in die paratextuel-
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le Umgebung eines GARTENLAUBEN-Hefts, wenn an passender Stelle das »(Fortsetzung folgt.)« des fiktionalen Segments in einen faktualen Bericht mündet, der das Dorfgeschehen implizit kommentiert und Fehlurteile zurechtrückt: Im siebten Segment wird Franzi vom Habergericht verurteilt (43: 673-676). Sie ist, typisch für die Kommunikationsverhältnisse im Dorf einer Dorfgeschichte, via »Gerücht«16 zur Mutter eines Findelkinds erklärt worden. Der – wie der Leser ja von Beginn an weiß – in jeder Hinsicht integre Habermeister Sixt spricht das Urteil aus; von Franzis Schuld (an der er zugleich verzweifelt) ist er jetzt überzeugt: »›Also ist’s doch wahr gewesen!‹ murmelte er vor sich hin, ›sie ist so schlecht – so grundschlecht und hat sich doch so zu verstellen gewußt! […]‹« (43: 676) Ob Sixt mit dieser Einschätzung Recht hat oder ob er sich irrt, wird der Leser im achten Segment der Serie erfahren; er muss auf deren Fortsetzung im nächsten Heft also noch eine Woche warten. Die Publikationslogik des Familienblatts ermöglicht es aber, leserlenkende Paratexte so in die Heftabfolge einzumontieren, dass über die Beurteilung der Situation und den weiteren Verlauf der fiktionalen Serie keinerlei Zweifel mehr bestehen dürfte. Unmittelbar im Anschluss an die zitierte Rechtfertigungsrede des Habermeisters Sixt folgt in der GARTENLAUBE ein faktualer Beitrag über Eugen Alexander Megerle, Edler von Mühlfeld, einen Abgeordneten des österreichischen Reichsrats, der als ein »›Rechtsfreund‹ und ein Freund des Rechts« ausführlich vorgestellt wird:17 Mühlfelds ›Gerechtigkeitsliebe‹ ist ebenso mit den herrschenden Rechtsgrundlagen vereinbar wie diejenige Franzis. Das Femegericht aber hat in einem solchen (modernen) Weltbild keinen Ort mehr. Im letzten Segment der Dorfgeschichte wird dieses Gericht dann auch folgerichtig aufgelöst, und Sixt will den Haberstab – als Zeichen einer obsolet gewordenen, überkommenen Macht – zurückgeben. Dabei entgleitet ihm der Stab und fällt ins Feuer: »›Das kann uns ein Zeichen sein,‹ sagte Sixt ernst, ›es ist vorbei mit der alten Zeit und ihren Bräuchen; der Gerichtsstab des Kaisers ist untergegangen, mit ihm der letzte Habermeister!‹« (50: 799) Darüber hinaus erschließen sich einer ›exhaustiven Lektüre‹ dieses Beispiels die formatspezifischen Mechanismen der Erzeugung von Dörflichkeit und Dorfgeschichten. Zum einen wird nicht nur das Thema des Textes (wie mit Blick auf die Frage nach Recht und Gerechtigkeit bereits angedeutet) ins Faktuale eines Hefts hinein verlängert. Vielmehr wird die Dorfgeschichte an einer Stelle in paratextueller Umgebung regelrecht fortgesetzt. ›Das Dorf‹ geht dabei in Form einer seriellen Verknüpfung ›in Serie‹, die ich als ›intergenerische Serialität‹ bezeichnen möchte
16 »[…] kam das einmal laut gewordene Gerücht doch nicht wieder zur Ruhe: es pflanzte sich fort, wie ein giftiger Wurm […]« (42: 660). 17 Franz Wallner: »Ein ›Rechtsfreund‹ und ein Freund des Rechts«, in: Die Gartenlaube 1867/43: 676-679.
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(Stockinger 2018): Das zweite Segment des HABERMEISTERS wird in derselben Heftnummer mit einem Sachbeitrag DIE FISCHER-LISEL. EIN ORIGINAL AUS DEN ALPEN thematisch flankiert.18 Der faktuale Text authentifiziert den fiktionalen, der so eine glaubwürdig-realistische Note erhält. Dieser Mechanismus einer ›intergenerischen Serialität‹ kommt indirekt zum Einsatz, wird dem ›exhaustiven Leser‹ aber nicht entgehen, dem wie in der Erzählung Schmids erneut die Figur eines dörflichen »Sonderling[s]« (38: 601) und das Szenario einer Gastwirtschaft geboten wird. Zum anderen rhythmisiert die Publikationsordnung eines intermittierend veröffentlichten Mediums die Segmente der Dorfgeschichte. Die Dorfgeschichte wird nicht nur periodisch erzeugt, sondern als periodisches Produkt selbst ausgestellt, indem die Logik des unterbrochenen Publizierens und Rezipierens in den Handlungsverlauf eingetragen wird: Franzi gerät im Dorf zunehmend in Bedrängnis. Am Ende des vierten Segments kündigt sie deshalb an, ihre Stellung im Gasthaus aufgeben zu wollen – allerdings noch nicht sofort: »in vierzehn Tag’ hat der Wirth eine bessere Kellnerin und ich geh’ meiner Weg’‹« (40: 628). Wenn er diese Andeutung auf den üblichen Lektürerhythmus bezieht, weiß der Leser, dass sich in zwei Wochen bzw. im übernächsten Segment klären wird, welches »Geheimniß« (38: 595) Franzi verbirgt. Es bezieht sich, wie das sechste Segment dann tatsächlich offen legt, auf ein Findelkind, als dessen Mutter Franzi fälschlicherweise im siebten Segment vom Habergericht verurteilt wird. (Wie sich schließlich herausstellt, schützt Franzi mit diesem Verhalten ihre Ziehschwester Susi, die zugleich Sixt’ leibliche Schwester ist.) Mit der finalen Versöhnung der beiden Pole der Dorfhierarchie, genauer der Verehelichung von Großbauer und (ehemaliger) Wirtshausbedienung, setzt sich schließlich etwas durch, was ich als ›das bessere Dorf‹ bezeichnen möchte. Im Sinne des GARTENLAUBEN-Konzepts fungiert es als Modell und Vorbild für alle Gemeinschaften der Leser/innen-Community des Organs. Wie zahlreiche weitere Dorfgeschichten des Organs wird auch Schmids Roman DER HABERMEISTER dabei zu einem Experimentierfeld für die Errungenschaften der Moderne, und zwar in spezifischer Weise. Setzen sich andere Texte etwa mit neuen Bildungskonzepten, mit den Problemen der beginnenden Umweltverschmutzung und einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung oder mit volksaufklärerischen Erziehungsidealen auseinander,19 so gestaltet DER HABERMEISTER die Überforderung des sozialen Zusam-
18 S.v.M.: »Die Fischer-Lisel. Ein Original aus den Alpen«, in: Die Gartenlaube 1867/38: 601-603. 19 In der Reihenfolge der genannten Themenbereiche: Die Illustration SCHULLEHRERS GEBURTSTAG (in: Die Gartenlaube 1867/31, S. 493) in Korrespondenz zu Friedrich Hofmanns Gedicht EI, HEUT’ IST KEINE SCHULE! (in: Die Gartenlaube 1867/31: 492); Ludwig Rein: »Blätter aus der Krisis. Nr. 1. Fabrikantenbrod«, in: Die Gartenlaube
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menlebens durch eine Moderne, die gewohnheitsrechtlich etablierte Traditionen befragt – und erschüttert. Diesen Herausforderungen begegnet der Roman mit der moralischen Überlegenheit seiner Heldin, die sich gegen die Zumutungen ihrer Umwelt erfolgreich durchsetzt und zugleich den ›guten‹ Charaktereigenschaften Dritter (hier ihres zukünftigen Ehemanns Sixt) zum Durchbruch verhilft. Solche Repräsentationen des ›besseren Dorfs‹ lassen sich auch in Dorfgeschichten der ARD-Reihe TATORT beobachten.
3. R EGIONALPRINZIP
UND
D ÖRFLICHKEIT
IM
T ATORT
Das Regionalprinzip hat für die ARD-Krimireihe TATORT eine zentrale konzeptionelle Bedeutung. Seit Beginn des Sendeformats im Jahr 1970 gehört es zu dessen Alleinstellungsmerkmalen (nach der Wiedervereinigung adaptiert von der Reihe POLIZEIRUF). Als »›Länderspiegel mit Leichen‹« (Eisenhauer 1998: 65) oder »Landeskunde« im »Thriller«-Format (Vogt 2005: 117, 111) setzt die Reihe stets auf regionale Vielfalt. Diese entsteht in der Konkurrenz der ARD-Sendeanstalten, die den TATORT gemeinsam und in je eigenen Serien verantworten. Die Regionalität der Reihe zielt demnach zugleich darauf, ein überregionales Stammpublikum zu gewinnen. Einerseits spielen deshalb regionale ›landmarks‹ oder Dialekte im TATORT eine wichtige Rolle – und zwar selbst dann, wenn wie in der Revision der in Stuttgart spielenden Serie ›nach Kommissar Bienzle‹ Regionalbezüge programmatisch zurückgedrängt und Serien entwickelt werden, die prinzipiell »überall spielen« (Dörries 2008) können. Andererseits setzten sich ebenfalls aus diesem Grund Projekte nicht durch, die wie der in Plattdeutsch gedrehte Tatort WAT RECHT IS, MUTT RECHT BLIEBEN (NDR, 2. Mai 1982, R: Volker Vogeler) einem überregionalen Publikum unverständlich bleiben mussten. Regionalität im TATORT bedeutet demnach nicht von vornherein ›Provinzialität‹ – in den Serien wird sie zumeist in Städten ausagiert. Seit den 1970er Jahren spielen TATORT-Folgen aber regelmäßig auch in ländlichen Räumen. Der »Realismus des Ländlichen« gehört so von Beginn an zu den Merkmalen der Krimireihe (Scherer/ Stockinger 2010: Abschnitte 4, 37, 65-73; Scherer 2014: 180-191). Ebenfalls von Beginn an wurde die Ermittlungsarbeit dabei immer wieder auch konkret in dörfliche Mikrokosmen verlagert. Die entsprechenden Filme lassen sich als Dorfgeschichten im engeren Sinn klassifizieren. Mit den filmischen Aushandlungen des Dörflichen in den 1950er Jahren haben diese Filme aber allesamt nichts mehr zu tun: Der ›idyllisierende‹ Zugriff, den Bettina Korsch (1997) für die Produktionen
1858/14-16; sowie Herman Schmid: »Der Dorfcaplan. Erzählung aus Oberbaiern nach einer wahren Begebenheit«, in: Die Gartenlaube 1865/45-49.
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der unmittelbaren Nachkriegszeit beobachtet, ließ sich nicht mehr aufrechterhalten. Eine neue Generation von Filmemachern, so Korsch weiter, näherte sich dem Dorf nun in sozialkritischer Absicht und schilderte es als einen »Ort psychischer und sozialer Enge«. Seit den 1980er Jahren habe sich (etwa mit Edgar Reitz’ HEIMATEpos, 1984/1992, oder Detlev Bucks KARNIGGELS, 1991) das Verhältnis zum Dörflichen demgegenüber vergleichsweise ›entspannt‹ (Korsch 1997: 73, 81). Für die Reihe TATORT trifft diese Diagnose – auch wenn sie Mitte der 1990er endet – grundsätzlich zu. Allerdings müssten sich Korschs Thesen an einer ausführlicheren, das gesamte Material vergleichend betrachtenden Studie bewähren. Insgesamt ist festzuhalten, dass Dörfliches in den eher auf die Provinz ausgerichteten TATORT-Folgen bestimmte Konjunkturen aufweist, die nicht zuletzt auf die Programmatiken der Sender hin ausgerichtet sind: So ermittelte Kommissar Finke zwischen 1971 und 1978 bevorzugt im ländlichen Raum SchleswigHolsteins, und auch die Kommissare Lindholm oder Borowski bewegen sich seit 2002 bzw. 2003 vor allem auf dem Land – jeweils für den NDR. Zugleich kann man feststellen, dass die Ausweitung der Ermittlungsstandorte seit der Jahrtausendwende das TATORT-Konzept insgesamt auf einen Realismus ländlicher Regionen ausweitete. Neben der bereits erwähnten Lindholm-Serie aus Hannover gilt dies etwa auch für das Konstanzer Modell (Klara Blum, 2002-2016, SWR) oder die Folgen aus Münster (Thiel und Boerne, ebenfalls seit 2002, WDR). In diesem Sinne lässt sich von einer Tendenz zur »Provinzialisierung« der Reihe TATORT seit ›um 2000‹ sprechen (Stockinger/Scherer 2010: 185) – ein Prozess, der, denkt man etwa an die neuen Serien im Freiburger Raum (seit 2016, SWR) oder in Nürnberg (seit 2015, BR), an die (neben der »Nick Tschiller«-Serie) zweite Hamburger Serie (mit Ermittler Thorsten Falke, seit 2013, NDR) oder an den in Weimar spielenden TATORT (seit 2013, MDR), noch längst nicht beendet ist. Darüber hinaus ist in den ins Ländliche verlagerten TATORT-Folgen bereits der 1970er Jahre die Provinz »längst Teil der modernen Welt« (Struck 2000: 113) geworden. Sie bietet also nicht etwa ein in sich geschlossenes, ›vormodernes‹ Alternativmodell zur Stadt, die ihrerseits für die Neuerungen der Moderne herzuhalten hätte. Vielmehr geht das Reihen-Interesse dabei, gerade in der Finke-Serie, eher ins ›Ethnographische‹: Die Provinz wird zum »Gegenstand einer Beobachtung, die aus der Ferne kommt, so dass die vermeintliche Heimat […] selbst als fremd erscheinen kann und muss« (ebd.). In den TATORT-Folgen der 1970er Jahre hat dieser verfremdete Blick auf das Eigene grundlegend (volks-)aufklärerische Interessen; darin gleichen diese Dorfgeschichten denjenigen der GARTENLAUBE in den 1860er Jahren. Der verfremdete Blick auf das Eigene kann aber auch ironische Züge annehmen (TOD IM HÄCKSLER,
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SWF, 13. Oktober 1991, R: Nico Hofmann)20, mit stereotypen Klischees des Dorferzählens spielen (LASTRUMER MISCHUNG, NDR, 7. April 2002, R: Thomas Jauch)21 oder das Genre in einer Art metareferentiellen Parekbase vollständig auflösen (DAS DORF, HR, 4. Dezember 2011, R: Justus von Dohnányi)22. Aktuelle Diffusionsprozesse wie die Tendenzen einer ›Urbanisierung‹ des Ländlichen oder einer ›Verdörflichung‹ des Städtischen lassen sich in der ARDReihe ebenfalls von Beginn an beobachten:23 Für Ersteres stehen etwa FinkeFolgen, die ›das Dorf‹ in der Regel als Kulisse oder Handlungsträger einsetzen, als Sozialraum aber völlig ausblenden (die verhandelten Probleme sind keine intrinsisch dörflichen, sondern allgemein menschliche); für Letzteres stehen Folgen, die den ›Großstadt-Indianer‹ in seinem Kiez zeigen (SCHICKI-MICKI, BR, 29. Dezember 1985, R: Hans-Reinhard Müller) oder in denen sich die Eigenheiten eines als geschlossen inszenierten Stadtviertels mit der Krimihandlung verweben (DAS GLOCKENBACHGEHEIMNIS, BR, 3. Oktober 1999, R: Martin Enlen; ALLE MEINE JUNGS, NDR, 18. Mai 2014, R: Florian Baxmeyer).24 Dass Dorfgeschichten im TATORT darüber hinaus schon früh die Funktion übernahmen, Metakommentare zur Darstellung zu bringen, möchte ich im Folgenden am Beispiel der BR-Produktion DAS ZWEITE GESTÄNDNIS (11. Mai 1975, R: Wilm ten Haaf) zeigen.25 Der Film reflektiert zum einen auf den laufenden Strukturwandel in ländlichen Regionen der 1970er Jahre, zum anderen auf das Genre der Dorfgeschichte.
20 Regisseur Nico Hofmann und Drehbuch-Autor Stefan Dähnert bezeichnen den Film als ein »ironisches Märchen« (zit. nach Thomas Thieringer, in: Frankfurter Rundschau, 15. Oktober 1991). 21 Vgl. dazu Stockinger (2014b: 430f.). 22 In diesem Sinne verstehe ich die Tukur-Folge DAS DORF als metareferentielles Potpourri der Filmgeschichte, das neben anderen Genres auch ›die Dorfgeschichte‹ zitiert (etwa wenn die Bemühungen des Kommissars um eine Übernachtungsmöglichkeit im Dorfgasthof an der Fremdenfeindlichkeit der Dorfbewohner scheitern) – aber keine ist (zu den Anspielungen vgl. Stockinger 2014a: 214f.). 23 Zum Prozess der Urbanisierung als ein »Diffusionsprozess von habitueller Urbanität, d. h. der habitusimmanenten Kontingenzverarbeitung der Akteure« vgl. Dirksmeier (2009: 265); zur »Stadt als Dorf« vgl. Nell (2014). 24 Vgl. dazu Scherer/Stockinger (2010: Abschnitte 155-199). 25 Film-Belegstellen werden im Folgenden in Klammern notiert, unter Angabe der zeitlichen Situierung im Film (hh:mm:ss), inklusive Vorspann von 24 Sekunden.
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Die Dorfgeschichte im Film als Metakommentar In der TATORT-Dorfgeschichte DAS ZWEITE GESTÄNDNIS blitzt das Dorf als Lokal immer nur in wenigen Einstellungen auf, wie nebenbei. (In den Dorfdarstellungen der TATORT-Reihe der 1970er Jahre dürfte dies die Regel sein.) Die Anfangssequenzen der Folge mit den beiden Kommissaren Veigl und Lenz spielen in Innenräumen, die eine institutionelle, im städtischen Raum angesiedelte Öffentlichkeit zeigen: eine Gefängniszelle, einen Gerichtssaal, das Büro der Staatsanwaltschaft. Die Stadt rückt dabei als die Außenseite zu diesen Räumen – konkret: durchs Fenster – ins Bild. Das Dorf wird nur in wenigen Momenten (und selbst dann auch lediglich implizit) angespielt, etwa wenn einer Hauptfigur, Leo Koczyk, ein gebratenes Hühnchen abhandenkommt, das Koczyks Frau ins Untersuchungsgefängnis gebracht hat; oder wenn sich Koczyk vor den Vollzugsbeamten, also in der Öffentlichkeit der Staatsgewalt, als ›hinterwäldlerischer‹, ›komischer Heiliger‹ geriert, der seine Religiosität ausstellt.26 Indem er sich dann aber vor einem Mithäftling, also in der Privatheit des Zellenraums, über die besorgte Reaktion des Wachbeamten auf seinen Geisteszustand lustig macht (00:04:02-00:04:16), gibt er sich – wenigstens im Nachhinein – als Vertreter des Rollenfachs ›listiger Bauer‹ zu erkennen, der mit den Vorurteilen der Städter rechnet und mit diesen spielt. Explizit verweist der Film auf die bäuerliche Sphäre erst (allerdings ebenfalls noch in seinen Anfangssequenzen) mit der Figur der Bäuerin: Adelheid Koczyk begründet ihr nur kurzes Aufscheinen vor Gericht mit den Arbeiten am Hof. Da der Bauer in Untersuchungshaft sitze, sei jetzt eben sehr viel los zu Hause (00:08:36-00:08:42). Die folgenden Szenen konturieren das Dorf dann selbst – wieder in der Doppelung von Personal und Lokal –, und zwar in Rückblenden auf die Verwicklungen im Figurenhandeln und auf die unterschiedlichen Tathergänge (zum einen handelt es sich um einen Brandanschlag, zum anderen um einen Mord). Als gleichsam alte Bekannte aus dem Dorfgeschichtenarsenal treten u.a. auf: ein Außenseiter – hier in der Rolle des Hauptverdächtigen Koczyk (»Der kommt aus der DDR. Hot do reig’heirat«; 00:14:29-00:14:32); der Gastwirt (des »Waldcafés«) und die Bedienung Thea, zugleich Adelheid Koczyks Schwester (als »lebenslustig« geschildert, jetzt aber tot, 00:54:16f.); ein Dorfgrande im Mercedes: Ziegeleibesitzer Mergentheimer, der seinerzeit die Tochter des ortsansässigen Bauunternehmers und nicht seine eigentliche Liebe, Adelheid, geheiratet hatte. Bauernstuben mit Kruzifix und Herrgottswinkel bezeichnen das ›Innenleben‹ des Dorfs; die Dorfkirche im Hintergrund dessen kartographisches und tradiertes Zentrum; eine ländliche Natur (Bach, Felder) dessen Umgebung. Der Strukturwandel ist ebenfalls bereits unübersehbar: Nicht nur die Kirche taucht im Hintergrund auf,
26 »Ich beruhige mich lieber im Gebet« (00:03:29-00:03:41).
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sondern auch die Silhouette einer Fabrik (00:20:25-00:20:27). (Dass eine solche Konstellation nicht neu ist, sondern den Einbruch der Moderne ins Dorf seit dem 19. Jahrhundert markiert, belegen bereits Dorfgeschichten in der GARTENLAUBE.)27 Die Problemkonstellationen der TATORT-Dorfgeschichte sind ebenso typisch wie die Motive der Handelnden: Private und soziale Konflikte, die in der Bevorzugung der Geld- vor der Liebesheirat ihren Ausgang nehmen, führen zu einer Affekttat aus enttäuschtem beruflichem Ehrgeiz und Abstiegsangst. Das Dorf wird dabei als geschlossenes Sozialgeflecht vorgeführt und in der Rede erzeugt: »Wir kennen uns ja alle sehr gut« (so Bauingenieur Tamm, der Koczyk belastet, um von sich selbst abzulenken; 00:36:04f.). Wie gehabt spielt dafür das Gerücht eine entscheidende Rolle: »’s werd fui g’redt«.28 Die Rolle des Voyeurs übernimmt in diesem Fall – wie in den meisten Fällen der TATORT-Dorfgeschichten – der Kommissar selbst; etwa belauscht Veigl ein Gespräch zwischen Mergentheimer und Adelheid auf dem Hof (01:10:53-01:11:48). Interessant ist nun, dass der Film damit gattungstypische Konstellationen nicht nur einsetzt, sondern regelrecht ausstellt. Eine Bemerkung Veigls zur Presse, »Der Fall is doch klar; der Fall war von Anfang an klar« (00:17:33-00:17:36), lässt sich deshalb zugleich als Metakommentar zum Genre der Dorfgeschichte lesen. Der Kriminalfall scheint sich eben perfekt in ein typisches Dorfgeschichten-Szenario einzufügen. Die folgenden Ermittlungen aber strafen Veigls generisch fundierte Ersteinschätzung Lügen: Sie laufen quer zu den bekannten Genre-Logiken: Der auf den ersten Blick »eindeutige Fall« – mit dem ursprünglich vermuteten Mordmotiv ›Erpressung‹ (die Schwägerin wusste um Koczyks versuchten Versicherungsbetrug) – nimmt eine andere, unvorhergesehene Wendung. Mit Veigl gesagt: »An dem Geständnis stimmt wos ned. […] Es gibt Fälle, da is alles klar, von Anfang an. Und trotzdem…« (00:49:25-00:49:34). Tatsächlich nämlich platziert die Handlungsdramaturgie den Mörder außerhalb des engeren Dorfgeschichten-Kosmos: Bauingenieur Tamm versuchte mit seiner Tat den Niedergang der Ziegelei zu verhindern und den eigenen Arbeitsplatz zu retten, allerdings vergeblich. Die Umstrukturierung der Fabrik ist bereits erfolgt. Tamm hatte jedoch seine Pläne für eine Neuaufstellung der Produktion mit dem Erwerb eines Ackers der Familie Koczyk verknüpft. Als er sich damit nicht durchsetzen konnte, erwürgte er Koczyks Schwägerin im Affekt; diese hatte sich gewei-
27 Siehe Anm. 13 (die in einem ›Fabrikdorf‹ situierte Serie FABRIKANTENBROD). Dabei wird die angesprochene Konstellation auch weiterhin aufgenommen und – unter lediglich anderen Vorzeichen (an die Stelle einer veraltenden Industrie treten nun bspw. Windpark und Ökodorf) – forterzählt, so z.B. in der im Jahr 2017 veröffentlichten Fernsehserie HINDAFING (BR, R: Boris Kunz). 28 So – genretypisch – der Gastwirt zum Kommissar (00:56:08f.).
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gert, Tamms Forderungen zu unterstützen. Machtkämpfe im Dorf sind immer zugleich auch Besitzkämpfe. Wie bereits im Hinweis auf die ›landmark‹ ›Fabrik‹ angedeutet, steht der Strukturwandel auf dem Land, das Bauernsterben, im thematischen Fokus dieser Dorfgeschichte. Im Verhör nach dem Tagesablauf befragt, bieten die Antworten des verdächtigten Bauern immer mehr als nur Hinweise auf ein mögliches Alibi: »Ja, also, ich hab’ bis um sieben aufm Felde gearbeitet, […] hab’ mich gewaschen« (00:23:24-00:23:30) etc.; abends schließlich habe er Schreibarbeiten erledigt, so Koczyk, denn: »Landwirtschaft – des is heute a Rechenexempel« (00:26:5400:26:56). Um den Hof noch eine Weile zu halten, schreckt Koczyk auch vor Versicherungsbetrug nicht zurück, er benötigt das Geld (00:38:30-00:40:54). Die Verteidigerin des Bauern liefert ebenfalls Kommentare in diese Richtung und agiert damit in einer Doppelrolle – zum einen als Figur im Film, zum anderen als Sprachrohr für dessen aufklärerischen Auftrag: »Eigentlich ein ganz schönes Anwesen. Kaum zu glauben, dass ein Hof heutzutage nichts mehr abwirft« (00:56:2800:56:33). Der Hof sei leider nur dann zu halten, so Koczyk gegen Ende, wenn er »konsequent rationalisiere, modernisiere« (01:24:43-01:24:47). Ist also Umschulung eine Lösung für Landwirte? Mit dieser Frage schickte der TATORT die bundesdeutsche Fernsehöffentlichkeit am 11. Mai 1975 in die neue Woche.29 Bemerkenswert ist an dieser filmisch erzählten Dorfgeschichte, dass ›das Dorf‹ als Terminus an keiner Stelle explizit auftaucht (selbst der ›Dorfkrug‹ heißt hier, wie erwähnt, »Waldcafé«). Gerade dadurch betont der Film die anthropologische Verallgemeinerbarkeit dessen, was auf zwischenmenschlicher Ebene verhandelt wird. Die Konstellationen von Macht und Geld, Liebe und Eifersucht, Neid und Existenzangst werden im dörflichen Raum verhandelt, weil dieser (gerade in dramaturgischer Hinsicht) Überschaubarkeit gewährleistet – bei allem Unwägbaren, bei allen Neuerungen, bei allem aktuellen Wandel, der auch diesen Raum längst erfasst hat und ebenfalls thematisiert wird. Als Garanten einer dennoch – also trotz aller Unwägbarkeiten der Moderne – verlässlichen Wert- und stabilen Weltordnung stehen in der ARD-Reihe TATORT die Kommissare ein. Im Unterschied zu den Dorfgeschichten der GARTENLAUBE kommen diese Figuren allerdings von außen, um – wie im vorliegenden Fall Oberinspektor Melchior Veigl – ›das bessere Dorf‹ zu repräsentieren. Mit dieser Figur verbindet sich das Versprechen, die menschlichen Abgründe zu erhellen, dadurch so etwas wie Wahrheit ans Licht der bundesdeutschen Fernsehrealität zu bringen und sowohl über anthropologisch-universelle als auch raumzeitlich-konkrete
29 Aufschlussreich für den hier filmisch verhandelten Strukturwandel ist die Schilderung der Entwicklung eines friesischen Dorfs von der Nachkriegszeit bis 1995, vgl. dazu Mak (1999).
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Problemlagen aufzuklären. In jeder seiner Rollen – als Chef, als Experte seines Fachs, als moralisch integre und erfahrene Persönlichkeit – wird Veigl als ein ebenso unangefochtener wie unanfechtbarer Ermittler inszeniert. Indem der Kommissar mit unermüdlicher Hartnäckigkeit selbst einem scheinbar ›klaren‹ Fall weiter akribisch, bis in kleinste Verästelungen und Nebenwege hinein nachgeht, soll er auch die Erwartungen des TATORT-Publikums an das der Kommissar-Figur zugeordnete Rollenmuster zuverlässig erfüllen: Der strukturell mindestens gefährdeten, wenn nicht gar in Auflösung begriffenen Ordnung wird so ein auf allen Ebenen legitimierter ›Ordnungshüter‹ entgegengestellt. Dem Zuschauer-Bedürfnis nach ausgleichender Gerechtigkeit wird auf diesem Weg zudem Genüge getan.30
4. K ONTINUITÄTEN
UND
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Die Merkmale des Dörflichen in der Dorfgeschichte finden sich – bezogen auf die handlungsbestimmenden Bestandteile ›Lokal‹, ›Personal‹ und ›soziale Konflikte‹ sowie auf deren jeweilige Funktionen – an beiden Polen des Untersuchungszeitraums. Was im 19. Jahrhundert u.a. in periodischer Literatur (dort jedenfalls auf nachgewiesen massenwirksame Weise) in serieller Variation und Wiederholung als ›Imaginationsraum Dorf‹ ausgeprägt wurde, strahlt bis in eine (ebenfalls massenwirksame) Darbietungsform unserer Tage aus. Demnach unterscheiden den ›Imaginationsraum Dorf‹ an diesen Polen nicht strukturelle oder funktionale Aspekte der Dorfgeschichte, sondern die soziopolitischen und kulturellen Kontexte, die Publikationsbedingungen oder die medial je unterschiedliche Weise der Aufbereitung. Es ist eben ein Unterschied, ob ein Dorf zum Handlungsraum im Periodikum oder in der Fernsehserie wird und ob dies in den 1860er Jahren oder seit 1970 geschieht. Einzelheiten müssten Feinanalysen zeigen, die dann auch die je unterschiedlichen Adressatenkreise mit ins Kalkül zu ziehen hätten. Auffällig ist: Die deutsche Dorfgeschichte seit ihrer Erfindung in der Moderne des 19. Jahrhunderts31 weist bemerkenswerte Kontinuitäten in Formen und Funktionen auf. Entwicklungstendenzen zwischen ›um 1850‹ und ›um 2000‹ lassen sich nur schwer ausmachen, entsprechende Thesen kaum aufrechterhalten, lauteten sie etwa: ›von der Idylle des dargestellten Lokals zu dessen klaustrophobischbedrückender Enge‹ oder ›von der moralischen Überlegenheit des im Wortsinn bodenständigen Personals zur Übermacht des Bösen im sozialen Umgang‹. Die in den Folgen der ARD-Reihe TATORT verteidigte und am Ende zumeist wiederherge-
30 Zur ARD-Reihe TATORT als ›moralischer Anstalt‹ vgl. Stockinger (2008). 31 »Die D. ist vielmehr eine moderne literar. Spezialgattung der erzählenden Prosa des 19. Jh.s« (Greiner 1958: 274).
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stellte Wertordnung ist nicht fragiler als diejenige in den Dorfgeschichten der GARTENLAUBE; die Herausforderungen der Moderne auf allen Ebenen sind in den Texten des 19. Jahrhunderts nicht geringer als in den Filmen seit 1970. Ein zentraler Unterschied besteht sicherlich in der programmatischen Bedeutung des Genres für die beiden Formate: Anders als die ARD-Reihe TATORT, in der das Dorf ein Gegenstandsinteresse unter vielen darstellt, die auf den Aspekt der Regionalität im Krimi-Konzepts des TATORT zielen, wurde die GARTENLAUBE in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens von Dörflichkeit und Dorfgeschichten nachgerade bestimmt. Das Familienblatt erzeugte in Konzept, Anlage und Ausgestaltung selbst eine Art imaginären Dorfraum, der die sich bildende deutsche Nation Woche für Woche versammelte, um sie ihrer nationalen Identität zu versichern – nicht zuletzt über Dorfgeschichten, in denen alle Landesteile sowohl fiktional als auch faktual (etwa in der Langzeit-Serie LAND UND LEUTE)32 vorgeführt und dem kollektiven Imaginationsraum ›Dorf‹ hinzugefügt wurden. Die sich auf diese Weise konstituierende »imaginäre Gemeinschaft« (Anderson 1983) machte vor den Landesgrenzen nicht halt, sondern adressierte ›das Deutsche‹ bzw. ›die Deutschen‹ überall auf der Welt. Bedenkt man die Erfolgsgeschichte der GARTENLAUBE im 19. Jahrhundert oder den Siegeszug der Dorfgeschichte in Konjunkturen bis heute, ging das Konzept erstaunlich gut auf. Festzuhalten ist, dass das den Imaginationsraum ›Dorf‹ bestimmende Material in sozialer, politischer, kultureller und mentaler Hinsicht so heterogen war (und ist), dass nur radikale Vereinfachungen und die Reduktion auf grundlegende Muster nationale bzw. anthropologische Verallgemeinerbarkeit ermöglichten (und ermöglichen). Zwar ist man sich in der Dorf(-geschichten)-Forschung einig, dass »das Dorf einen Begriff, eine Abstraktion darstellt, der eine vielgestaltige Realität zugrunde liegt« (Troßbach/Zimmermann 2006: 15), betrachtet man aber den langen Zeitraum der imaginierten Dörflichkeit von 1850 bis 2016 von dessen Rändern her, dann lässt sich feststellen: Wie auch immer diese »Realität« jeweils aussieht und warum auch immer das Dorf jeweils zum darstellungswürdigen Gegenstand wird – die Merkmale des textuell erzeugten, imaginären Dorfes sind unabhängig vom jeweiligen Sozialsystem und den jeweiligen Funktionen im Symbolsystem doch vergleichsweise stabil. Dass ›das Dorf‹ also eine regionale, konfessionelle, siedlerische, politische und wirtschaftlich zu diversifizierende Größe darstellt, fällt (so der Eindruck bei Sichtung des Materials) demnach gar nicht so sehr ins Gewicht.33
32 Die GARTENLAUBEN-Reihe LAND UND LEUTE lief unter diesem Titel von 1855 (1855/33) bis 1882 (1882/49) und erschien in 52 Folgen (die teils eigene Miniserien bilden). 33 Zu den Dorftypen nach 1880, typisiert etwa nach Besitz oder nach Berufen, vgl. Troßbach/Zimmermann (2006: 205), die vielfältige »Ungleichzeitigkeiten« beobachten – »zwischen Dörfern in Stadtnähe und -ferne, zwischen sozialen Klassen, zwischen jung
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Wenn dagegen der heute immer noch lesenswerte REALLEXIKON-Artikel von 1958 die »Überzeugungskraft« der Dorfgeschichte »im Singulären« verortet, also »in der regionalen Bestimmtheit, im Lokalkolorit, im realistischen Detail«,34 dann war hier ›der Wunsch‹ nach einer generischen Differenzierung in einer Überblicksdarstellung, die aber gerade in diesem Format nicht nachweisbar ist, eher ›Vater des Gedankens‹ als die konkreten Dorfgeschichten. Diese nämlich halten einem Blick auf das Gemeinsame im (literarischen) Umgang mit dem Dorf von den Anfängen der Subgattung bis in die Gegenwart, bezogen auf Raumordnung, Personal, Handlungsmuster und Funktion, durchaus stand. Um nicht der Gefahr zu erliegen, ›das Dorf‹ in allem zu entdecken, beziehe ich mich dabei auf Merkmale der Dörflichkeit im engeren Sinn, wie diese die gesichteten GARTENLAUBEN-Beiträge und TATORT-Folgen (von denen ich hier je nur ein Beispiel vorführen konnte) allesamt aufweisen: die relative Nähe aller Institutionen der dörflichen Infrastruktur zueinander, die den Ort mit wenigen Leitwörtern aufrufen (Kirche, Schule, Denkmal, Platz, Brunnen u.a.); eine überschaubare Anzahl an Sozialbeziehungen, reglementiert durch »soziale[n] Status« (Dietrich 2004: 7f.) sowie durch »Alter und Geschlecht« (ebd.); wechselseitige Kontrolle; Stabilisierung der Gemeinschaft etwa durch Exklusion des Fremden über »Sprache oder Brauchtum« (ebd.); Aushandlung »soziale[r] Konflikte[ ]« (Troßbach/Zimmermann 2006: 10);35 sprachliche Erzeugung gewaltförmiger Situationen in Gerede und Gerücht;36 u.a.
und alt und den Geschlechtern. Viele Millionen Familien in den Dörfern repräsentierten so gleichzeitig verschiedene soziale Zeiten« (ebd.: 242f.). 34 »Es gibt keine D.n schlechthin, sondern Schwarzwälder, Böhmische, Erzgebirgische, Thüringische, Tiroler usw.« (Greiner 1958: 277). 35 Im Anschluss an Georg Simmels »Modell des Dorfes als kleinem Ort« fokussieren Troßbach/Zimmermann (2006: 10) nicht nur das »Kriterium der Begegnungshäufigkeit« (ebd.) – also etwa den für den kleinen und überschaubaren Ort typischerweise häufigen, direkten, bewussten und mitunter unausweichlichen Kontakt mit Anderen –, sondern auch die Frage nach den jeweils spezifischen Machtverhältnissen, die sich im Prozess der Über- und Unterordnung von Personen und Institutionen im lokalen Kontext realisieren. 36 Vgl. dazu Troßbach/Zimmermann (2006: 185): »Die öffentliche Meinung ›reguliert … stark das dörfliche Leben‹. Dies also war die Kehrseite von gegenseitiger Hilfe und Nachbarschaft. […] Nach Brüggemann/Riehle basiert dörfliche Sozialkontrolle auf alltäglicher, permanenter Beobachtung all dessen, was woanders geschieht. Man fragt aber nicht direkt nach den Veränderungen, sondern muss sich ständig auf indirekte Weise Informationen beschaffen«. Diese Überlegungen Brüggemann/Riehles werden von Troßbach/Zimmermann in Frage gestellt und modifiziert: »Ein ›totalitäres‹ System war das alte Dorf […] in der Regel nicht« (ebd.: 186), auch wenn zugleich konzediert wird:
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Anders gesagt und auf diesen Merkmalskatalog bezogen: Die Dorfgeschichte stellt bis heute wirkmächtige ›Dorf‹-Schemata bereit, an denen die Dorferzähler der GARTENLAUBE mitarbeiteten und an denen auch die Dorferzähler des TATORTs nicht vorbeikönnen. Dass »das Dörfliche als imaginäre Vorstellungswelt« nicht zuletzt durch die Dorfgeschichten des 19. Jahrhunderts »präfiguriert« (Nell/Weiland 2014: 23) ist und bis heute beim Leser bzw. Zuschauer als aktivierbares Skript abgerufen werden kann – wie dies die Kognitionstheorie nachgewiesen hat –,37 kann ich mit Blick auf mein Material demnach nur bestätigen. Nicht konstitutiv für das Genre ›Dorfgeschichte‹ in den gesichteten Formaten ist die explizite gleichnamige Gattungsbezeichnung im Haupt- oder (v.a.) Untertitel einer Erzählung bzw. eines Romans oder eines Films. Das lässt sich gerade an den Dorfgeschichten der GARTENLAUBE im engeren Sinn sehen; i.e. an Texten, die die genannten Elemente und Merkmale des Dörflichen in Form fiktionaler Texte verarbeiten. Zuordnungen wie (im Haupttitel) EINE ITALIENISCHE DORFGESCHICHTE (1856)38 oder (im Untertitel) KIND UND KINDESKIND. AUCH EINE DORFGESCHICHTE (1858)39 finden sich hier selten, auch wenn der dorfgeschichtliche Charakter vieler Texte, prominent etwa von Herman Schmid in den 1860er Jahren oder von Ludwig Ganghofer ab 1884, mit oder ohne peritextuelle Nennung offensichtlich ist.40 (Darüber hinaus findet ›Dorfgeschichte im weiteren Sinn‹ in der GARTENLAUBE im faktualen Bereich ebenso statt wie auf der programmatischen Ebene des Organs.) Die Dorfgeschichten sowohl der GARTENLAUBE als auch des TATORTs bieten »Dörfer des Realen«,41 d.h. sie arbeiten mit Realismus-Effekten, die, in enger Abstimmung mit den jeweiligen Programmatiken, auf größtmögliche Lebensnähe des
»Zweifelsohne folgt starke soziale Kontrolle dem Prinzip sozialer Nähe auf dem Fuß« (ebd.). 37 Vgl. dazu Nell/Weiland (2014: 23-26). 38 [Anonym:] »Eine italienische Dorfgeschichte«, in: Die Gartenlaube 1856/19f., hier in Personalunion mit der ebenfalls Dörflichkeit konstituierenden Figur des Pfarrers. 39 H. Nordheim [i.e. Henriette von Schorn]: »Kind und Kindeskind. Auch eine Dorfgeschichte«, in: Die Gartenlaube 1858/47f. 40 Beispiele: Herman Schmid: »Süden und Norden. Eine bairische Dorfgeschichte von 1866«, in: Die Gartenlaube 1868/37-44; oder Ludwig Ganghofer: »Dschapei. Eine Hochlandsgeschichte«, in: Die Gartenlaube 1884/3-13. 41 Zu den Funktionsbeschreibungen »Dörfer des Realen«, »Dörfer des Allegorischen« und »Dörfer des Fiktiven« vgl. Nell/Weiland (2014: 37f., nach Andreas Mahlers Überlegungen von 1999). – Die Bezeichnung »des Fiktiven« würde ich nicht übernehmen, denn lediglich ›erfunden‹ sind diese Dorfräume ja gerade nicht; auch wenn ich der Sache nach mit dieser Dreiteilung einverstanden bin. Alternativ ließe sich »Dörfer des Fiktiven« durch »Dörfer der Metareferenz« ersetzen (schön ist diese Bezeichnung allerdings nicht).
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Dargestellten, auf Wiedererkennbarkeit und Identifikation zielen. Kurz: Sowohl die GARTENLAUBE als auch der TATORT haben sich einem ›gestalteten Realismus‹ verpflichtet. In beiden Formaten erhalten diese ›imaginären Dörfer‹ »allegorische« Funktionen, weisen also über sich hinaus, indem sie etwa, wie in der GARTENLAUBE, die weltweiten Leser als ›deutsche Nation‹ adressieren oder, wie im TATORT, den Handlungsraum als Experimentierfeld für politische, sozialkritische, allgemein menschliche oder metareferentielle Aushandlungsprozesse nutzen. Dass Dorfgeschichten den genannten Realismus-Effekt damit auch ironisieren, indem sie etwa »ihre eigene zeichenhafte Strukturiertheit aus[stellen]« (Nell/Weiland 2014: 38), ist für die Reihe TATORT schon seit den 1970er Jahren in unterschiedlichen Ausprägungen bezeichnend; es gilt aber bereits für die Dorfgeschichten der GARTENLAUBE – allerdings auf andere Weise. Wenn Dorfgeschichten in der GARTENLAUBE metareflexive Komponenten enthalten, dann wird das Genre der Dorfgeschichte dadurch nicht subvertiert, im Gegenteil. Beim TATORT ist das aber durchaus der Fall (wie in der oben bereits erwähnten Folge DAS DORF, 2011).42 Gemeinsam sind beiden Formaten weitere Funktionen, etwa, ganz allgemein, die Funktion der Unterhaltung. Eng verbunden damit ist die Funktion der Aufklärung mit der Tendenz zum Anti-Exotischen. Sie stellt sich etwa dann ein, wenn der Dorfraum – als das auf den ersten Blick ›Andere‹ zur eigenen Lebenswelt – dem bürgerlichen Publikum überhaupt erst einmal als ein zentraler Bestandteil derselben Nation nahegebracht werden muss.43 Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Funktion des Exemplarischen zu, indem die Dorfgeschichte ein größeres Ganzes (›die Welt‹) im Kleinen abbildet, zeitgenössische »Transformationserfahrungen« einfängt44 und probehalber durchspielt. Dorfgeschichten in GARTENLAUBE und TATORT treten dabei, wie angedeutet, regelmäßig als ›Zwei-Dorf-Erzählungen‹ an. Soziale Konflikte, räumliche Enge, zwischenmenschliche Abgründe oder existenzielle Notlagen werden nicht um ihrer selbst willen gestaltet oder um ›das Dorf‹ als längst überlebten Sozialraum auf den sprichwörtlichen Misthaufen der Geschichte zu werfen (Dorf 1). Vielmehr haben
42 Eine vergleichende Studie zu beiden Formaten könnte bevorzugt an dieser Stelle ansetzen. 43 Vgl. dagegen Baur (1997: 391), der von »Binnenexotik« spricht, also auf die nationale Orientierung der Gattung anspielt, in der das Bürgertum mit der »Unterschicht« über die Gattung Dorfgeschichte in Kontakt trete. – Demgegenüber gehe ich davon aus, dass die Dorfgeschichten exotistischen Tendenzen entgegenarbeiten, diese also nicht befördern oder bedienen, sondern vielmehr in ein übergeordnetes Ganzes integrieren und daher auch in ihrer vermeintlichen Exotik auflösen. 44 Vgl. dazu Neumann/Twellmann (2014: 45); außerdem Willems (2008: 392, am Beispiel des neueren Heimatromans); sowie Nell/Weiland (2014: 20).
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Dorfgeschichten nicht selten den Zweck, ein positives Gegengewicht zu den Modernisierungsüberforderungen zu schaffen. Das ›gute‹ Dorf erzählt dann ›die bessere Moderne‹ (Dorf 2 – das ›bessere Dorf‹) und installiert genau dafür regelmäßig Vorbildfiguren in Vermittlerfunktion. In Prozessen langfristiger Transformationen oder abrupter Umbrüche treten sie jeweils als »Agenten des Wandels« (Neumann/Twellmann 2014: 42) auf und übersetzen zwischen lokalen/regionalen und überregionalen/globalen Traditionen, Ansprüchen und Ordnungsentwürfen. Sie vereinen dabei die positiven Eigenschaften beider Welten und stehen für einen Fortschritt mit menschlichem Angesicht, der die Errungenschaften des Neuen nicht gegen, sondern in Aushandlung mit den tradierten Wertordnungen zu befördern sucht. Im 19. Jahrhundert erzeugen diese Figuren das Idealbild einer ›vereinten Nation‹45. In den einschlägigen Folgen der Reihe TATORT übernimmt der Kommissar bzw. die Kommissarin die Rolle einer positiven Vorbildfigur, die in den Rechten des Einzelnen die politische Ordnung des Staates schützt. Die TATORTDorfgeschichten gehören nun einmal in erster Linie dem Krimigenre an; der Status als Dorfgeschichte bleibt dem immer nachgeordnet. Gerade das unterscheidet sie, wie gesagt, von der Ausrichtung der GARTENLAUBEN-Texte. Beide Formate gleichen sich schließlich darin, genuin nationale Produkte zu sein. Weder zielte die GARTENLAUBE auf ein internationales Publikum (sondern auf ein nationales, und zwar selbst im Internationalen) noch lässt sich die Reihe TATORT als solche exportieren. Beide arbeiten gleichermaßen, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten und mit je anderen Mitteln, an einem emergenten Gebilde ›Deutschland der Regionen‹. In diesem Sinne könnte man die ARD-Reihe TATORT als DIE GARTENLAUBE des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts bezeichnen.
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Männer vom Lande Freiheit und Religion in Kafkas Dorfgeschichten M ARCEL K RINGS
I. Man weiß: Der Gegensatz zwischen Stadt und Land ist seit der Antike literarisch prominent. Vergil pries die ländlich-poetische Idyllik in den GEORGICA und BUCOLICA oder ließ Aeneas sich mit Dido in der Höhleneinsamkeit vergnügen, Longos sang in DAPHNIS UND CHLOE von der erotischen Hirtenromanze, und neben solchen Träumereien taugte die polis nur zum Schauplatz der großen Tragödien. Auch die höfische Epik des Mittelalters verlegte die minne am liebsten in Wald und Grotte und ließ den Hof zum Ort von Ranküne und Intrige werden. Die Renaissance erinnerte sich an die Vorbilder und feierte in ihren romanhaften erotischen Schäfereien die Wiederkunft jener natürlichen Liebe, die an den Fürstenhöfen der Staatsräson oder der Berechnung zum Opfer gefallen war. Seit Rousseau, wie es schien, die Natur über die verderblichen zivilisatorischen Einflüsse gestellt hatte, war die Sehnsucht nach dem vermeintlich Unverbrauchten und Ländlich-Einfachen in Mode. Wohl spottete Fausts Wort »Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein« solchem Regress ins bloß Kreatürliche. Goldsmiths VICAR OF WAKEFIELD beschwor dennoch die Unschuld vom Lande und die Romantiker träumten sich in Waldeinsamkeit und Mondnacht. In Auerbachs Dorfgeschichten wurde bereits die heimatliche Idylle mit der großen weiten Welt und den sich entwickelnden Großstädte konfrontiert. Kellers Dorfzyklen ebenso wie die Texte Raabes verarbeiteten schließlich den unaufhaltsamen Einbruch der neuen Zeit in die ländlichen Strukturen. Demgegenüber wollte die literarische Moderne jedoch von Land und Dorf nichts mehr wissen. Dos Passos, Rilke, Broch, Joyce, Musil und Döblin schrieben Großstadtromane, deren Totalitätsanspruch auf die nunmehr obsolet gewordene kritische Folie von natürlicher Lebensweise verzichten konnte.
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Nur zu gut scheint auch Franz Kafka diesem modernen mainstream zu entsprechen. DER VERSCHOLLENE, das erste, zwischen 1912 und 1914 entstandene Romanfragment, ließ den Protagonisten Karl Roßmann von Prag aus nach Amerika gelangen, in dessen Metropolen mit ihrer riesenhaften Architektur er sich am Ende verliert (vgl. dazu Krings 2016). Und bekanntlich spielt der PROCEß (1914/15) ebenfalls in einer Großstadt mit Dom, Banken und vor allem einem scheinbar unabsehbaren Rechtswesen, das mit seinen langen Fluren, dunklen Advokatenstuben und Hinterzimmern den leidigen Begriff ›kafkaesk‹ prägen half. Indessen ist Kafka längst kein reiner Großstadtautor. Der letzte Roman, DAS SCHLOß (1922), verlegt seine Handlung ganz in ein Dorf; und besonders die um die drei Großtexte herum entstandenen Erzählungen berufen immer wieder jene Gattung, die seit Auerbach ausgestorben schien: die Dorfgeschichte. In den schtetl-Erzählungen der Ostjuden, die Kafka kannte, bei Mendele Mojcher Sforim, Scholem Alejchem und Jizchak Peretz hatte sie überlebt, und durch Karl Emil Franzos’ Novellensammlung DIE JUDEN VON BARNOW (1877) drängte sie wieder ins literarische Bewusstsein zurück. So lässt also auch Kafkas KINDER AUF DER LANDSTRAßE aus dem frühen Band BETRACHTUNG (1913) den Stadt-Land-Gegensatz wiederaufleben, das unveröffentlichte DORFSCHULLEHRER-Fragment (1915) erzählt von der rätselhaften Erscheinung eines Riesenmaulwurfs und im LANDARZT-Zyklus (1920) künden Texte wie DAS NÄCHSTE DORF oder VOR DEM GESETZ, in dem ein »Mann vom Lande« (KKAD, 267)1 zum Türhüter kommt, von der thematischen Kontinuität des Ländlichen. Nun wusste Kafka, dass ›Mann vom Land‹ die deutsche Übersetzung von hebr. am ha’aretz ist, der Bezeichnung für einen ungebildeten einfachen Menschen. Angesichts von Texten, die zur Rechtfertigung vor Gesetzen oder zur Vermessung eines Schlosses aufrufen, scheint freilich kaum vorstellbar, dass ländliche Unbildung oder gar Irreflexivität zum neuen Maß aller Dinge erhoben werden sollten. Anhand von drei einschlägigen Beispielen will ich zeigen, welchen Gebrauch Kafka vom Topos des Ländlichen machte und wie sich die Welt des (Ost-)Judentums zunehmend in sein Werk einschrieb: HOCHZEITSVORBEREITUNGEN AUF DEM LANDE, EIN LANDARZT und DAS SCHLOß.
1
Franz Kafkas Werke werden zitiert nach der kritischen Ausgabe seiner Werke, hg. v. Jürgen Born et. al., Frankfurt/Main 1982ff. Verwendet werden die üblichen Siglen mit Seitenangaben: KKAP [DER PROCEß], KKAS [DAS SCHLOß], KKAT [TAGEBÜCHER], KKAN I bzw. II [NACHGELASSENE SCHRIFTEN UND FRAGMENTE I bzw. II], KKAD [DRUCKE ZU LEBZEITEN].
M ÄNNER
VOM L ANDE
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II. Kafkas Verbindung zur Religion ist gut belegt. In einem assimilierten Haushalt aufgewachsen, konnte er weder dem indifferenten Judentum seines Vaters noch dem Zionismus oder dem Christentum viel abgewinnen: »Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetsmantels noch gefangen wie die Zionisten« (KKAN II, 98).
Im BRIEF AN DEN VATER berichtete er, wie der seltene Besuch in der Synagoge leeres Ritual wurde und der Sederabend gar zur »Komödie mit Lachkrämpfen« (ebd.: 187). An Religionen habe er, Kafka, also »keinen ererbten Anteil« (ebd.: 98), und überhaupt sei zu bemerken: »Die Religionen verlieren sich wie die Menschen« (ebd.: 112). Mit dem Argument, einer, der nicht glaube, interessiere sich nicht für Religiöses, bestritt man, dass es Kafka um Jüdisches zu tun war.2 Doch einer, der keinen ›ererbten‹ Anteil an der Tradition hat, kann wohl einen anderen haben. »[E]twas zähes Judentum ist noch in mir« (KKAT, 727), notierte Kafka Anfang 1915 in sein Tagebuch – und, bemühte sich, wenngleich nie orthodox, jüdische Tradition und Geschichte aufzunehmen. Ab 1912 beschäftigte er sich intensiv mit dem Chassidismus und ging gelegentlich in die Synagoge. Sein Interesse galt Tora, Talmud (vgl. Kurz 1987), Kabbala (vgl. Grözinger 1992) und Gnosis (vgl. Sokel 1985) ebenso wie den SAGEN POLNISCHER JUDEN3, dem BORN JUDAS4, einer Sammlung jüdischer Legenden und Märchen, sowie der VOLKSTÜMLICHEN GESCHICHTE DER JUDEN von Heinrich Graetz (vgl. KKAT, 215). Dass er im Folgenden Religiöses in Parabeln, Romanen und Aphorismen reflektierte, ist zweifellos. Die vitale Gläubigkeit des Ostjudentums und die Welt des jüdischen Theaters ließen sich gegen des Vaters religiöses Desinteresse ins Feld führen. Vor allem aber bezog Kafka für seine Texte aus der reichen chassidischen Tradition sowie überhaupt aus der toristisch-biblischen Überlieferung lange gesuchte Elemente für Stoff und Handlung. Zusätzlich schwebte ihm ein »neue[s] Judentum[...]« (KKAN II, 191) vor, das sich seiner Inhalte neu und anders versichern sollte und von dem er im BRIEF AN DEN VATER berichtete. Denn aufgefallen war Kafka, dass die jüdische Tradition ein
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Frank Möbus (1994: 151) etwa meint, nur »in konjunktivischer Form« lasse sich Religiöses bei Kafka finden.
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Das gleichnamige Werk von Alexander Eliasberg (München 1916) befand sich in Kafkas
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Micha Josef bin Gorions dreibändiges Werk (1913-1919) stand ebenfalls in Kafkas Bibli-
Bibliothek (vgl. Born 1990: 81). othek (vgl. Born 1990: 84).
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Sprach- und Erkenntnisproblem enthielt. Kafkas Sprachaphorismus, den er 1917, während der Zürauer Zeit, formulierte, lautet: »Die Sprache kann für alles außerhalb der sinnlichen Welt nur andeutungsweise, aber niemals auch nur annähernd vergleichsweise gebraucht werden, da sie entsprechend der sinnlichen Welt nur vom Besitz und seinen Beziehungen handelt« (KKAN II, 126).
Der Text trennt das Sag- und Bestimmbare von einem nicht mitteilbaren Bereich des ›Außerhalb‹ – des Geistes, der Freiheit oder des Allerhöchsten, den Juden als den Herrn vorstellen. Wer also nicht nur von der Niedrigkeit des Natürlichen erzählen, sondern auf Meta-Physisches zielen will, muss beklagen, dass der Sprache und dem Denken durch Physis, Logik, Grammatik und Begrifflichkeit enge Grenzen gesetzt sind (vgl. dazu Rübner 1997): Niemals kann das Inkommensurable mit einer aufs Sinnliche eingeschränkten Begrifflichkeit erfasst werden. Schon die Tora trug daher der Unermesslichkeit Gottes Rechnung, indem sie verfügte, dass von Gott, dem Herrn, weder Bild noch Gleichnis gemacht werden dürfe. Das mosaische Gebot hatte Kant kritisch fundiert.5 Kafkas Aphorismus über die Sprache, die nur von Irdischem handele, erinnert es. Doch so wie der Mensch, dieser »Vollgesogene der Erde«, selbst im Intelligiblen immer nur »Erde« (KKAN II, 32) sehe, verstößt auch die Tora gegen das Bilderverbot, wenn sie dem Herrn nach königlichem – d.h. menschlichem – Muster Attribute und Befindlichkeiten zuspricht. Sprachlich rein und daher erkenntniskritisch konsequenter als das alte sollte deshalb das ›neue Judentum‹ sein, an das Kafka dachte. Seine Literatur setzt eine Bilderkritik ins Werk, die den Schein der Begriffe überwinden will. Um das ›Außerhalb‹ zu bedeuten, müsse der Bezug der Sprache auf Sinnliches getilgt werden. Also enthalten Kafkas Texte ein Moment der Negativität (vgl. dazu Kienlechner 1981), das Bilder und Begriffe zu zerstören und eine freie Sprache herzustellen sucht. Übrig bliebe freilich ein Paradox: ein Begriff ohne Begriff oder ein Bild ohne Bild, das auf das Absolute hin transparent wäre. In einer solchen Literatur könnte nichts mehr mitgeteilt werden. Der Sprachaphorismus beharrt also darauf, dass »nur andeutungsweise« (KKAN, 126) vom Unvordenklichen berichtet werden könne. Durch Andeutungen konnte die Auslöschung der Empirie bis an die Grenze der Sprache vorangetrieben werden, ohne auf Verständlichkeit zu verzichten. Denn Andeutungen und
5
Wahrscheinlich ist, dass Kafka den Versuch des Neukantianers und jüdischen Religionsphilosophen Hermann Cohen kannte, in der Abhandlung RELIGION DER VERNUNFT AUS DEN
QUELLEN DES JUDENTUMS (1919) Transzendentalkritik und Judentum parallel zu
führen (vgl. dazu Mieting 1997). Auch der Rabbiner und Religionsphilosoph Julius Guttmann hatte in seiner Schrift KANT UND DAS JUDENTUM (Leipzig 1908) deren Nähe erörtert.
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Anspielungen – zu denen auch die parabolischen Techniken indirekter Sinnerschließung gehören – können gedeutet werden, insofern sie wie die Sprache Bestandteil der gegenständlich-begrifflichen Welt und also gemäß Kafkas Sprachaphorismus begreifbar sind. Also kann man die Texte nach den Regeln der hermeneutischen Kunst auslegen.6 Das Freiheitsthema betraf freilich auch die Lebenspraxis. Kafkas bekannter Zürauer Kettenaphorimus berichtet, dass der Mensch mit einer »Kette« (KKAN II, 127) erstens an die Erde, zweitens an den Himmel gefesselt sei, ein Mischwesen aus Körper und Geist. Die »Erdenschwere« (ebd.: 121) des Physischen halte auf der Erde fest, der Geist hingegen strebe in Richtung des freien Himmels. Die Last der Empirie verhindert dabei aber den Aufschwung. Unter dem Gesichtspunkt der Freiheit wurde bei »der ersten Fesselung« (ebd.) – also der Fesselung an die Erde – ein »Fehler« (ebd.: 127) gemacht. Er müsste korrigiert, die Erdenkette durchtrennt werden. Wer ins Freiheitsreich gelangen will, hat von der Welt Abschied zu nehmen. Jeder, der sich reflektiert, müsse sich im Licht des freien Geistes als beschränkt und verächtlich erkennen – und begreifen, dass seine empirische Existenz »unerträglich« (KKAD, 33) und nicht zu »verteidigen« (ebd.: 27) ist. Um ein »Bürger des Himmels« (KKAN II, 128) zu werden, muss der Leib, jener buchstäbliche »Käfig« (ebd.: 117), vernichtet werden. Als »Thanatologie« (Kurz 1980: 36) hat man daher Kafkas Literatur bezeichnet, die mit Messern und anderen Mordwerkzeugen den Selbstmord als radikal-gerechten Akt inszeniert. Nun bleibt zu zeigen, wie sich die Themen werkgenetisch und im Kontext des Land-Motivs entfalten.
III. Die HOCHZEITSVORBEREITUNGEN AUF DEM LANDE, die Kafka im Frühjahr 1912 unvollendet abbrach, sind ein frühes Zeugnis des Freiheitsthemas (vgl. Pfaff 2017). Erzählt wird die Geschichte einer Brautfahrt. Raban, mittlerer Beamter in der Stadt, soll mit dem Zug zu seiner Verlobten Betty aufs Land fahren. So sehr freut er sich auf das Wiedersehen, dass er nur an Bettys schöne Augen denkt (vgl. KKAN I, 22), viel zu früh zum Bahnhof hastet und Freund Lement versetzt, mit dem er am Abend noch hatte ausgehen und erst am folgenden Tag gemeinsam hatte aufbrechen wollen. Wer »lieb[t]« (ebd.: 40), den hält nichts auf. Doch in die bis hierher banale Ge-
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Das zu betonen ist angesichts einer Kafka-Forschung nicht unwichtig, die in großen Teilen – wie auch eingangs ausgeführt – an die Unbestimmtheit der Kafkaschen Texte und Begriffe glaubt und die Anhäufung polyphoner Diskursbündel nicht nur für die einzig mögliche Lesemethode, sondern bereits für eine Deutung hält.
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schichte mischt sich Sonderbares. Unbehaglich fühlt sich Raban mit seinem Verliebtsein. Unangenehm ist ihm, dass Lement ihm den »Bräutigam« (ebd.: 23) ansieht; auf einem Foto, das er bei sich trägt, kommt ihm Betty auf einmal »gebückt« (ebd.: 21) und schlecht gekleidet vor und die »vierzehn Tage«, die er mit ihr verbringen soll, scheinen ihm plötzlich eine »schlimme Zeit« (ebd.: 17). Zu gern würde er das »natürlich[e]« (ebd.: 28) Glück auf dem Lande vermeiden. Am liebsten würde er tun, was er sich »immer als Kind bei gefährlichen Geschäften« vorstellte: »Ich brauche nicht einmal selbst aufs Land zu fahren, das ist nicht nötig. Ich schicke meinen angekleideten Körper nur. Also ich schicke diesen angekleideten Körper. Wankt er zur Thür meines Zimmers hinaus, so zeigt das Wanken nicht Furcht, sondern seine Nichtigkeit. Es ist auch nicht Aufregung, wenn er über die Treppen stolpert, wenn er schluchzend aufs Land fährt und weinend dort sein Nachtmahl ißt. Denn ich, ich liege inzwischen in meinem Bett, glatt zugedeckt mit gelbbrauner Decke […]. Ich habe wie ich im Bett liege die Gestalt eines großen Käfers, eines Hirschkäfers oder eines Maikäfers glaube ich« (ebd.: 18f.).
Sein Ich will Raban im harten Käferpanzer gegen die Zumutungen des Lebens schützen. Auf seine »Anordnungen« (ebd.) hin täte der Körper alles, was er wollte, während er selbst im Bett in einer Art »Winterschlaf […] ruhe[n]« (ebd.) könne. Doch der Körper weint: Die Trennung von Körper und Geist bedeutet gemeinhin Tod und ›Decke‹ des Grabes. Kafkas Selbstmordthema wird im Käferphantasma erinnert. Freiheit von der Empirie gäbe es nur, wenn Raban Beruf, Liebe und Betty, kurz: alles Natürliche zurückließe. Rabans Unbehagen ist dem freien Geist geschuldet, der angesichts des nahenden Liebesglücks dazu aufruft, nicht nur natürlich zu leben – oder am besten gar nicht. Raban weiß es selbst: »Und solange Du ›man‹ sagst an Stelle von ›ich‹, ist es nichts […], sobald Du aber Dir eingestehst daß Du selbst es bist, dann wirst Du förmlich durchbohrt und bist entsetzt« (ebd.: 14). Das ›Man‹ ist konventionell-empirisch. Nichts findet es dabei, sich mit Beruf und Braut an die Übereinkünfte des Lebens zu halten. Das ›Ich-selbst‹ hingegen durchschaut krude Natürlichkeit. Sein Aufruf zur Freiheit »durchbohrt« Körper und ›Man‹ wie mit einem Messer. Schon will Raban zusammensacken: Er »beugte […] die Knie ein« (ebd.), und das um ihn herum auf die Fahrbahn fließende »Regenwasser« (ebd.) scheint das Blut des Selbstopfers anzudeuten. Niemand freilich schafft sich gern aus der Welt. Der Lebenswille ist die Kette, die den Menschen im Diesseits festhält. Also verdrängt auch Raban den Todeswunsch, rechtfertigt das ›Man‹ (vgl. ebd.) und fährt aufs Land zur Verlobten. Sein schlechtes Gewissen verlässt ihn allerdings nicht. Er, der sich nicht selbst richtet, hofft nun darauf, dass ihn die Zeit schon richten werde. »[K]rank« (ebd.) werde ihn die Reise machen, »erkälten« (ebd.: 15) werde er sich auf dem Land und durch Grippe oder Lungenentzündung das Zeitliche segnen: »Und ich kann, wie es sich als natürlich ergeben wird, schwach und still sein und alles mit mir ausführen lassen und doch muß alles gut
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werden nur durch die verfließenden Tage« (ebd.: 17). Am Ende der verrinnenden Lebenszeit steht der natürliche Tod, und sub specie aeternitatis ist die Last des Daseins weniger schwer. Raban, der neue Mann vom Lande, wird sein Glück im »Dorf« (ebd.: 37), dem Reich des Physischen, dennoch nicht genießen können. Den Verlockungen von eros und Land hätte er nicht nachgeben dürfen. Anfang 1912 sah Kafka nicht weiter. Wie der Konflikt zwischen Freiheit und Welt aufzulösen wäre, wusste er nicht zu gestalten, und das Manuskript brach ab. Auch beim Religionsthema beschränkt sich der Text – noch – auf wenige Andeutungen. Die Zugfahrt, Metapher der Lebensreise, ruft die Fahrt in den Tod auf: »Der Zug fuhr an, verschwand wie eine lange Schiebethür und hinter den Pappeln jenseits der Geleise war die Masse der Gegend daß es den Athem störte. War es ein dunkler Durchblick oder war es ein Wald, war es ein Teich oder ein Haus […], war es ein Kirchthurm oder eine Schlucht zwischen den Hügeln; niemand durfte sich dorthin wagen, wer aber konnte sich zurückhalten« (ebd.).
Niemand fährt gern in die Regionen des ›Jenseits‹, selbst wenn er eigentlich dazu aufgerufen ist. Auch Raban steigt am Landbahnhof aus. Religiös signifikant ist, dass auch der Kirchturm den Reisenden abzuweisen scheint. Bibel und Tora verbieten den Selbstmord. Ans Lebensende vertagen sie die Gerechtigkeit. Den Gläubigen aber verheißen sie dann, aus dem Tod zu neuem Leben zu erwachen. Raban träumt also, »[k]ühle Luft«, der Atem des Todes, streife ihn, und »glaubte, er erwache und deshalb seien seine Wangen so erfrischt oder man öffne die Thür und ziehe ihn ins Zimmer« (ebd.: 35). Es bleibt beim Traum von der Erlösung. Sonderlich religiös ist Raban nicht, und was mit der eröffneten Lesart weiter anzufangen wäre, konnte Kafka nicht ausführen.
IV. Anders im LANDARZT. Die Titelgeschichte des gleichnamigen Zyklus inszeniert zunächst den charakteristischen Gegensatz der zwei Reiche von Natur und Geist. »[B]lühende[r]« (KKAD, 261) Hof, »schöne« (ebd.: 257) Rosa und zudringlicher Knecht verweisen als warmes Zuhause, erotische Attraktion und Gewalt des sexus zunächst auf Elemente des empirischen Lebens. Verächtlich sind sie allesamt. Dass der Arzt nur noch ungern zu Kranken fährt, der Knecht »ekl[ig]« (ebd.: 261) und Rosa »willig[]« (ebd.: 254) ist, markiert das nur Natürliche als jenen sprichwörtlichen »Schweinestall[]« (ebd.: 253), in dessen Dreck man sich, unbekümmert um Weiteres, gern suhlt. Doch nach dem Willen des freien Geistes sollen niedere Neigungen nicht das letzte Wort haben. Das gilt auch für den Landarzt. Die Instanz,
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die gegen die Dominanz der Triebe redet, ist die »Pflicht« (ebd.: 256) des Mediziners. Er weiß, dass er vom »Bezirk« (ebd.: 257) angestellt ist, sich jederzeit um Notfälle und Patienten zu kümmern. Die dreimal variierte Frage des Doktors, »Was soll ich tun?« (vgl. ebd.: 256, 257, 260), – die Grundfrage der KRITIK DER PRAKTISCHEN VERNUNFT – gemahnt denn auch daran, dass Kant autonome Praxis als »Pflicht« (Kant 1986b: 143) definiert hatte, dem subjektiven Wollen einen »Widerstand[] der praktischen Vernunft« (ebd.) entgegenzusetzen und gemäß solcher Bestimmung zu handeln. Doch alle Reflexion verhindert nicht, dass sich der Doktor nur widerwillig auf die »Fahrt« (KKAD, 254) zum Kranken macht. Um dorthin zu gelangen, muss er ein »Opfer« (ebd.: 257) bringen: Alles Physische – Rosa und Knecht – muss auf dem Hof zurückbleiben. Das Motiv der Fahrt über Empirisches hinaus, also in den Tod oder die Freiheit, ist wiederzuerkennen, und als eine von Kafkas (selbst)mörderischen Stichwaffen liegt schon die »Pinzette« (ebd.: 255) des Doktors bereit. »[L]aß mich sterben« (ebd.), wünscht sich also der Kranke, und schon »will« auch der Doktor »sterben« (ebd.: 257). Doch daraus wird nichts. Anstatt Sterbehilfe zu leisten, lässt er den Jungen seines natürlichen Todes sterben und will auch selbst nichts mit Tod oder Freiheit zu tun haben. Er weiß freilich, dass dies »eine Schmach« (ebd.: 260) ist. Vor dem radikalen Akt der Selbstgerechtigkeit schreckt er zurück. Seine »Pflicht« will er nur »bis zum Rand« tun, eben »bis dorthin, wo es fast zu viel wird« (ebd.: 256f.). Er lebt zu gern, als dass er aus bloßem Freiheitsethos aus dem Leben schiede. Also denkt er an die eigene »Rettung« (ebd.: 260), an Rosa und den Hof, mit einem Wort: an die Rückkehr ins Natürliche und auf jenes Land, dem er schon von seiner Berufsbezeichnung her zugehört. Wie Raban ist auch der Landarzt ein Mann vom Lande, der lieber im Verächtlichen bleibt. Wer aber dem »Fehlläuten der Nachtglocke [einmal] gefolgt« (ebd.: 261) ist, gelangt nicht mehr zurück in die Irreflexivität des Physischen. Im Lichte der Pflicht betrachtet ist eine bloß empirische Existenz unmöglich fortzusetzen. So irrt der Landarzt ortlos im »Froste dieses unglückseligsten Zeitalters« (ebd.) – demjenigen der Reflexion – herum. Wie der Mensch in Kafkas Kettenaphorismus ist er unwiderruflich zwischen den Reichen der Erde und der Freiheit gefangen.7 Sie stellen sich ihm als Alternative von Knecht und Krankem dar, als die zwei Seiten seines Daseins oder als alter egos, zwischen denen er versäumt, sich zu entscheiden.
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Ein analoges Bild fand Kafka in Platons PHAIDROS, wo der sterbliche und unsterbliche Teil des Menschen als unzähmbares Pferdegespann figurieren (vgl. Platon 1998: 58). Kafka besaß das Werk in seiner Bibliothek (vgl. Born 1990: 120). Im LANDARZT erinnern die beiden »unbeherrschbare[n] Pferde« (KKAD, 256) daran, die den Wagen des Arztes ziehen. Vgl. ausführlich Krings (2017).
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Dem Freiheitsthema stellte Kafka nun allerdings eine ausgefeilte religiöse Lesart zur Seite, die er sich seit Herbst 1912 und den drei glückhaft gelungenen Texten DER HEIZER, DIE VERWANDLUNG und DAS URTEIL erarbeitet hatte. Die Bibel und die Welt der ostjüdischen Dorfsagen werden hierbei für eine Reflexion auf den Zustand des Judentums in der Moderne genutzt. Schon das ländliche setting mit Hof, Pferdegespann, Dorf, Kärglichkeit und bitterem Winter erinnert an die Welt des schtetl. Hinzu kommt: Kafkas Mediziner trägt wie gläubige Ostjuden einen »Bart« (ebd.: 256), sein Wort vom »Gesindel der Patienten« (ebd.: 261) weist auf das jiddische mischpoche8 und der auftretende »Schulchor« (ebd.: 259) erinnert an jiddisch schul, also eine Synagoge (vgl. De Vries 2003: 15). Vor allem aber ist der Arzt ein »Doktor« (KKAD, 255), wörtlich ein ›Lehrer‹ (Kluge 1999: 187), und so spielt der Text auf das hebräische ›Rabbi‹, zu Deutsch ›mein Lehrer‹ (ebd.: 662), an, also auf die chassidischen Wunderrabbis, deren heilendes Wirken die SAGEN POLNISCHER JUDEN rühmen und als Abglanz jenes allerhöchsten Therapeuten begreifen, der seinem Volk bekanntlich verkündete: »[I]ch bin der Herr, dein Arzt« (1. Mose 15,26). An ihn solle man sich wenden: »Mein Sohn, bei Krankheit säume nicht, bete zu Gott, denn er macht gesund« (Sir 38,9). Die Evangelien übertragen die alttestamentliche Metaphorik von Arzt, Gesundheit und Krankheit auf den Juden Jesus, der Rabbi9 war, als Arzt und Wunderheiler Aufsehen erregte und seitdem als Christus medicus berufen wird.10 Eine seiner Taten liegt dem LANDARZT zugrunde: die Lazarus-Geschichte des Johannes-Evangeliums (Joh 11,1-45). Jesus, den man hilfesuchend zum Todkranken ruft, verzögert sein Kommen: »Diese Krankheit ist nicht zum Tode« (ebd.: 11,4). Will er wie der Landarzt das Leiden des Patienten nicht erkennen? Doch, aber er meint: Niemand, der glaube, müsse um sein Leben fürchten. Lazarus aber verstirbt unterdes. Doch der Rabbi, der die Krankheit durchaus bemerkte, war der Meinung, sie tauge zur »Verherrlichung Gottes, damit der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werde« (ebd.: 11,4). Zur Präfiguration von Passion und Auferstehung dient ihm der Tote, den er nun wieder zum Leben erweckt (vgl. ebd.: 11., 43f.). Was aber der Familie zur Festigung des Glaubens dient, bedeutet dann eigentlich: Der Erlöser wird einst den Opfertod sterben müssen. Das Lazarus-Motiv fand Kafka auch in einer der SAGEN POLNISCHER JUDEN. Ein Arzt wird zu einem Kranken gerufen. Als er den Zustand des Patienten sieht,
8
Vgl. Kluge (1999: 562). Der Begriff wird mit ›Familie‹, ›Gesellschaft‹, ›Bande‹ über-
9
Von seinen Jüngern wird er auch so (oder Lehrer, Meister) angeredet, vgl. etwa Mk 9,5,
setzt. 10,51. 10 Bluma Goldstein führt den Krankenbesuch im LANDARZT auf chassidische Rabbilegenden zurück, die von Wunderheilungen berichten. In Wahrheit sind sie aber bereits nach jesuanischem Vorbild gestaltet (vgl. Goldstein 1968).
72 | M ARCEL K RINGS »wurde er böse, daß man ihn gerufen hatte. ›Bin ich denn ein Gott‹, sagte er, ›daß ich einen Toten lebendig machen soll?‹ Und er wollte das Krankenzimmer verlassen, konnte es aber nicht, denn die Leute, die mit ihm zugleich gekommen waren, standen so dicht gedrängt, daß er nicht einmal zur Türe gelangen konnte. Also blieb er noch eine Weile im Zimmer. Und wie er noch einmal nach dem Kranken sah, merkte er, daß sein Zustand sich ein wenig gebessert hatte, so daß er es nicht mehr für unmöglich hielt, daß eine Arznei helfen könnte.«11
Neben dem biblischen Bericht ist offenkundig auch die MACHT DES ARZTES – so der Titel der polnischen Geschichte – in die LANDARZT-Erzählung eingeflossen. Unschwer lassen sich dort neben dem Thema der Heilung die unwillige Eile des Mediziners, die zweimalige Musterung des Kranken und die vorwurfsvolle Enttäuschung der Familie wiedererkennen. Ist aber der Landarzt der Erlöser? Zunächst folgt er seiner Pflicht. Als parabolische Anspielung auf das Passionsgeschehen lässt sich der Text verstehen. Die Familie, die »Dorfältesten« sowie der »Schulchor mit dem Lehrer« (ebd.: 259) – Schriftgelehrte und Mitglieder einer Synagoge – treiben es voran, also Juden, die Jesu gemäß der Bibel Pilatus überantwortet hatten (vgl. Mk 15,1). Man zieht den Doktor zunächst aus und reinszeniert so das Evangeliengeschehen (vgl. Mk 15,24). Das Lied des Chors: »Entkleidet ihn, dann wird er heilen, / Und heilt er nicht, so tötet ihn! / ’Sist nur ein Arzt, ’sist nur ein Arzt« (KKAD, 259), ruft dann die Verspottung des Gekreuzigten durch die jüdischen Hohepriester auf. »Ist er der Christus, der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz, damit wir sehen und glauben« (Mk 15,32), hatten sie Jesus geschmäht. Und schon Judas hatte den Rabbi wohl nur deshalb verraten, um ihn als Messias auf die Probe zu stellen und endlich jene verheißene Endzeit herbeizuführen, die Jesus mit seinem Tod verbunden hatte. Wer sich am Kreuz »selber nicht helfen« (Mk 15,31) könne, wer also nicht ›heile‹, sei dann wohl doch »nur ein Arzt« (KKAD, 259), also ein Rabbi, der sich allerhöchste Abkunft schlicht angemaßt habe. Der angedeutete Verlauf der Kreuzigung im LANDARZT scheint solcher Skepsis recht zu geben. Nichts Erhöhendes haftet ihr an. Der »geneigte[] Kopf« (ebd.) des Doktors erinnert vielmehr an die Leiden des Gestorbenen, wie sie Kruzifixe bis heute vor Augen führen. Und auch die Grablegung, auf die der Text im Folgenden anspielt, ist nichts als physisches Geschehen. Man nimmt den Doktor »beim Kopf und bei den Füßen« und trägt ihn »ins Bett« (ebd.). Dass alle »aus der Stube [gehen]; die Tür [...] zugemacht [wird]; [...] Wolken [...] vor den Mond [treten]« (ebd.), deutet auf das Felsengrab, in dem Jesus am Abend nach der Kreuzigung bestattet wurde (vgl. Mk
11 SAGEN POLNISCHER JUDEN, ausgewählt und übertragen von Alexander Eliasberg, München 1916, 110. In dieser Ausgabe gehörte das Buch zu Kafkas Bibliothek (vgl. Born 1990: 81).
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15,42-46), das »Bettzeug« (KKAD, 259) des Landarztes auf das »Leinentuch« (Mk 15,46), in das Jesu Leichnam gewickelt wurde. Natürlich starb auch Jesus eines irdischen Todes. Im Grab vollzog sich dann aber die Auferstehung, ein Wunder, dem niemand beiwohnte. Kafkas Text erlaubt sich demgegenüber, in die black box der Grabstätte zu blicken. Schnell zeigt sich dort: Der Doktor bringt nicht die Rettung. An die »Seite der Wunde« (KKAD, 259) des Kranken hatte man ihn gelegt und frohlockt schon: »Freuet Euch, Ihr Patienten, / Der Arzt ist Euch ins Bett gelegt!« (ebd.: 261) Juden waren sich zunächst sicher, dass der Messias sie durch seinen Tod erlöste. Kafkas Arzt indessen dämpft übergroße Hoffnungen: »So sind die Leute in meiner Gegend. Immer das Unmögliche vom Arzt verlangen« (ebd.: 259). Auch der Patient muss schließlich feststellen, dass der Retter keiner ist. Sein »Vertrauen« zum Doktor sei »sehr gering«, sagt ihm der Junge, »[s]tatt zu helfen, engst du mir mein Sterbebett ein. Am liebsten kratzte ich dir die Augen aus« (ebd.: 259f.). Zwar gibt der Doktor sich alle Mühe, den Kranken zu beruhigen. Dessen Wunde, auf der »rechten« Seite »in der Hüftengegend«, sei »so übel nicht« (ebd.: 258). Auf Jakobs Hüftwunde ist angespielt, die er sich laut dem biblischen Bericht beim nächtlichen Kampf am Jabbok zuzog (vgl. 1. Mos 32,29). ›So übel‹ ist die Blessur also deshalb nicht, weil sie das Zeichen des Gottesbundes ist, der sichtbare Beweis dafür, dass der Allerhöchste sein Volk vor allen anderen auszeichnete und seine Gnade über ihm walten lassen wollte. Insgeheim aber weiß der Doktor: »Armer Junge«, an der Verletzung »in deiner Seite gehst du zugrunde« (KKAD, 258). In der Moderne wird Lazarus nicht wieder lebendig. Denn der jüdische Patient stirbt am Ende einen bloß natürlichen Tod ohne Erlösung, weil sich der Landarzt dem Opfertod verweigert. Dass der Mediziner nur an die eigene »Rettung« (ebd.: 260) denkt und sich unbemerkt aus seiner Ruhestätte fortstiehlt, als sich kaum alle Zuschauer entfernt haben, will sagen: Der Messias ist weder gestorben noch auferstanden, sondern aus Furcht vor dem Tod weggelaufen. Nur »bis zum Rand« (ebd.: 256) des Lebens wollte er seine Pflicht tun. Nun hadert er mit der vermaledeiten Pflicht, mit Gemeinde und Patienten – und verdrängt, dass nur seine Feigheit der allgemeinen Freude im Wege stand. Kafkas imaginäres Dorf ist nicht mehr nur der Bereich der verächtlichen Empirie, sondern nun auch der Ort des Abfalls vom Gesetz. Um das Judentum der Moderne, das »den alten Glauben« bereits nahezu »verloren« (ebd.: 259) hat und sich nun wiederum in seiner Erlösungshoffnung betrogen sieht, steht es nicht gut.
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V. Im SCHLOß-Roman, dem Spätwerk zugehörig, lässt sich ein verstärkter Drang zum Ausloten der Grenzen zwischen Empirie und Intelligiblem feststellen. So soll nun Landvermesser K. das Schloss vermessen und die »Grenzstreitigkeiten« (KKAS, 95) zwischen Herrschaft und Dorf beilegen helfen. Von Anfang an stößt er auf Schwierigkeiten. Graf Westwest, der Schlossherr, ist unauffindbar, kaum jemand im Dorf will sich mit K. abgeben und das Schloss selbst ist weder zu erreichen noch überhaupt genau zu lokalisieren. Nichts als eine »scheinbare Leere« (ebd.: 7) kann K. auf dem Schlossberg erblicken. Scheint es nur so oder ist das Schloss selbst nichts als Schein? Gibt es das Schloss wirklich oder existiert es gar nicht? Aus dem Dorf heraus ist das nicht zu entscheiden. Das Schloss ist der Bereich des reinen Außerhalb oder des Metaphysischen. Hoch über den Niederungen des Dorfes gelegen, spielt es zunächst auf das absolut freie Ich an, jenen »höchste[n] Punkt« (Kant 1986a: 137) des Selbstbewusstseins, von dem Kant berichtet hatte: »Zum Grunde [unseres denkenden Wesens] können wir aber nichts anderes legen, als die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich, von der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket, wird nun nichts weiter, als ein transcendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgendetwas von ihm zu urteilen« (ebd.: 344).
Weder Schloss noch Ich sind begrifflich fixierbar. Erkenntnisurteile und Begrifflichkeit sind auf sinnliche Wahrnehmung angewiesen, auf die sie angewendet werden müssen. Urteile über Intelligibles sind also deshalb nicht möglich, weil Absoluta sich der Perzeption entziehen und niemals zum Gegenstand einer rationalen Erkenntnis gemacht werden können (vgl. ebd.: 270). So bewegt sich das Denken in einem unausgesetzten Kreis so um sein eigenes Fundament herum wie der Landvermesser ums Schloss. Kartographieren kann K. immer nur das Funktionieren seines Geistes. Immerhin kann er sich bei dieser transzendentalen Methodik auf einen anderen K. berufen, der zu Beginn des dritten Hauptstücks der KRITIK DER REINEN VERNUNFT verkündet hatte: »Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreiset, und jeden Teil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen [!], und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel, und durch die
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Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins« (ebd.: 267).
Doch weil die empirische Wahrnehmung des Schlosses scheitert, bleibt K., dem strengen transzendentalen Wissenschaftler, übrig, Zeichen zu deuten, Schlossbeamte zu befragen und die Meinungen und Berichte der Dörfler auszuwerten. Dass – mit anderen Worten – Nachrichten vom Absoluten immer nur in endlicher Form vor Auge und Ohr gelangen und daher im Grunde keinen Wahrheitsgehalt besitzen, hatte Kafka in Schopenhauers WELT ALS WILLE UND VORSTELLUNG gelesen – und zugleich auch eine passende bildliche Analogie gefunden: »Wir sehen schon hier, daß von außen dem Wesen der Dinge nimmermehr beizukommen ist: wie immer man auch forschen mag, so gewinnt man nichts, als Bilder und Namen. Man gleicht Einem, der um ein Schloß herumgeht, vergeblich einen Eingang suchend und einstweilen die Fassaden skitzirend« (Schopenhauer 1988: 150).
Nichts als Mythologie sind alle Verbildlichungen des Absoluten, wenn alle vermessende Begrifflichkeit ganz im Sinne von Kafkas Zürauer Sprachaphorismus die aufs Sinnlich-Empirische limitierten Grenzen des Verstandes respektieren muss. K., der immer »frei« (KKAS, 14) sein will, gerät durch sie in immer größere Unfreiheit. Indessen gäbe es einen Weg, dem Dilemma zu entkommen: »Das Schloß dort oben, merkwürdig dunkel schon, das K. heute noch zu erreichen gehofft hatte, entfernte sich wieder. Als sollte ihm aber noch zum vorläufigen Abschied ein Zeichen gegeben werden, erklang dort ein Glockenton, fröhlich beschwingt, eine Glocke, die wenigstens einen Augenblick lang das Herz erbeben ließ, so als drohe ihm – denn auch schmerzlich war der Klang – die Erfüllung dessen, wonach es sich unsicher sehnte. Aber bald verstummte diese große Glocke und wurde von einem schwachen eintönigen Glöckchen abgelöst, vielleicht noch oben, vielleicht aber schon im Dorfe. Dieses Geklingel paßte freilich besser zu der langsamen Fahrt und dem jämmerlichen aber unerbittlichen Fuhrmann« (ebd.: 29f.).
Das bereits bekannte Motiv der Reise ins Jenseits zeigt an: Zwar ist das Schloss der Bezugspunkt aller transzendentalen Sehnsucht. Jeder Denkende, zumal ein Philosoph, träumt davon, ins Absolute einzutreten. »[S]chmerzlich« wäre jedoch dieser Schritt. Nur um den Preis des Lebens wäre er zu haben. K. aber bleibt lieber im Schlitten sitzen und fährt zurück ins Dorf. Doch ›jämmerlich‹ ist seine Lebensreise, die vor dem radikalsten aller Entschlüsse zurückschreckt und sich der ›unerbittlich‹ verrinnenden Lebenszeit überantwortet: Der natürliche Tod, der die Glocke des Schlosses zum irdischen Totenglöckchen modifiziert, ist im Lichte des freien Geistes immer verächtlich. Nichts spricht dafür, dass K. sich eines Besseren besinnen
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sollte. Sicher ist der Roman Fragment geblieben. K.s gegen Ende zunehmende Schwäche deutet aber wohl an, dass er sich in den Tiefen der Empirie am unerreichbaren Absoluten abarbeiten sollte, bis ihn die Erschöpfung dahinraffen würde. Neben dem Freiheitsthema speist sich die fabula aus einer Darstellung der Religionsgeschichte, die ich wenigstens kurz streifen will.12 Schon dass K. einmal meint, das Schloss als »ausgedehnte Anlage« eines »Städtchen[s]« (ebd.: 17) zu erkennen, weist auf jene christlich-jüdische Vision von Zeitenende und Gegenwart des Absoluten, die als Himmlisches Jerusalem oder Zion das erlösende Eschaton darstellt. Doch auch im Bereich der Religion sieht nicht weiter, wer sich ein Bild vom Absoluten machen will. Es herrscht ein strenges Bilderverbot, und Berichte und Überlieferung sind eine Frage des Glaubens, die ebenso wenig wie Angaben über das absolute Ich empirisch überprüfbar sind. Dass man im Schloss den Landvermesser dann überhaupt berief, ist mit einem Fraktionsstreit unter den hohen Beamten zu erklären. Seit Graf Westwest unauffindbar ist – sicher eine Anspielung auf Nietzsches Wort vom Tode Gottes, also auf das nachmetaphysische Zeitalter –, ist man sich uneins über Auslegung und weitere Ausrichtung. Das Glaubensgebäude droht zu zerbrechen. Orthodoxe wie Klamm, Nihilisten wie Bürgel und Christen wie Lasemann und Brunswick beanspruchen jeweils die Führung. Letzterer setzte K.s Anstellung durch (vgl. ebd.: 109): Zu den Christen kann, anders als zu den Juden, jedermann kommen, und Brunswick meinte wohl, K.s Freiheitswillen als Variante jener christlichen Aufhebung des alten Gesetzes verstehen zu können, von der Paulus berichtet. Doch K. strebt nicht nach christlicher Ethik. Keinem Gott, auch nicht dem christlichen, will er sich unterordnen und beharrt darauf, nur in völliger Freiheit – also religiös vorurteilslos – seine Vermessung durchführen zu können. Das hat Brunswick nicht erwartet. Dem überraschten K. teilt er daher mit, »hier«, unter seinem Dach, könne er »nicht bleiben« (ebd.: 24). Mit einem transzendentalkritischen Geist will nichts zu tun haben, wer sich nach wie vor an die religiöse »Regel« (ebd.: 25) hält. Mit derselben religiösen Empfindlichkeit sind alle Vorbehalte zu erklären, die K. im Dorf das Leben schwer machen. Gläubige gleich welcher Konfession haben es nicht gern, wenn ihre Überzeugungen auf Plausibilität überprüft werden. Auch hat Wirtin Gardena recht: K. ist »hinsichtlich der hiesigen Verhältnisse entsetzlich unwissend« (ebd.: 90). Wie soll der ahnungslose, völlig säkulare Wissenschaftler erkennen, dass er es auch im Dorf mit religiösen Parteiungen und Gebräuchen zu tun hat – und mit welchen? Klar sind freilich allen Bereich und Funktion zugewiesen. Der Gemeindevorsteher mit seinem Schrank voller Papier- und Textrollen ist Schriftgelehrter und Rabbiner, seine Wohnung mit Sessel
12 Zur religiösen Lesart, der ich freilich einiges hinzufüge, vgl. bereits Göhler (1982) und Greß (1994). Das Religionsthema hat es in der Germanistik schwer gehabt, die lieber mit dem ratlosen K. durchs Dorf läuft anstatt ihm in seiner Ahnungslosigkeit weiterzuhelfen.
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(Rabbinersitz), Mizzis Kerze (Menora) und Schrank (Toraschrein) als Synagoge kenntlich. K.s Berufung sucht der Vorsteher auf einen »unten« unter allen Papieren im Schrank liegenden »Erlaß« (ebd.: 97) zurückzuführen. Auf das Buch GENESIS ist verwiesen, das der Tora zugrunde liegt und im Sündenfall den Moment freier Erkenntnis beschreibt, mit Adam als Ur-K. Doch der Erlaß ist nicht auffindbar. So bleibt unentschieden, ob sich das Denken Gottes Gesetzen zu beugen hätte oder die legitime Selbstsetzung des autonomen Subjekts ist, mit dem der Vorsteher nichts zu tun haben will. Das heillose Durcheinander in der Synagoge, der Verfall der Überlieferung und die Krankheit des Vorstehers zeigen in jedem Fall an, dass es um das Judentum in der Moderne nicht zum Besten steht. Und das Christentum? Lasemanns Haus liegt am Dorfrand, vom jüdischen Zentrum weit entfernt – ein Hinweis auf die Religionsgeschichte. Holzbottich, Lehnstuhl und Truhe, die sich im Inneren finden (vgl. ebd.: 22f.), deuten auf Mikwe, Gnadenthron und Bundeslade, also auf den alten jüdischen Kult. Dass man »allgemeine[n] Waschtag« (ebd.: 22) hält – Lasemann und Brunswick baden, als K. eintritt – und auch K. gleich ausgiebig bespritzt, zeigt freilich an, dass man den Ritus transformierte. Christen taufen noch den, der wie K. »auf den Gassen herumschleicht« (ebd.: 21), wenn er nur in ihr Haus kommt, und vollends christlich ist das Mädchen mit dem Säugling an der Brust und dem nach oben gerichteten Blick nach dem Vorbild Marias gezeichnet (vgl. ebd.: 23f.). Im »Gemeinderat[]« (ebd.: 109) freilich ist Brunswick isoliert. Der Vorsteher hält ihn für dumm (vgl. ebd.) und intrigant, im Dorf gilt er als »schreierisch[]« (ebd.: 24): Die jüdischen Vorwürfe beziehen sich wohl auf die paulinisch-christliche Umdeutung des Judentums sowie auf die laute missionarische oder verkünderische Praxis der neuen Religion. Viele haben sich ihr freilich angeschlossen. Am Tag des Feuerwehrfests hatte Sortini dem Dorf den Neuen Bund angeboten. Die neue Feuerwehrspritze, die er den Dorfbewohnern verehrte, muss man als Hinweis auf Jesus Christus lesen, der von sich als »Wasser des Lebens« (Offb 22,17) gesprochen hatte, das alles apokalyptische »Feuer« (ebd.: 8,5) löschen werde. Zur Feier des Tages wollte Sortini Amalia heiraten. Entrüstet hatte sie das Angebot aber zurückgewiesen: Als orthodoxe Jüdin blieb sie dem Alten Bund treu, auch wenn sie hinfort ihre Privilegien verliert und aus der Dorfgemeinschaft ausgestoßen wird, die es mit den jüdischen Gesetzen und der Glaubenstreue nicht mehr genau nimmt. Andere, etwa Amalias Schwester Olga, haben sich bereits ganz von Religionen abgewendet. Aus finanzieller Not prostituiert sie sich »zumindest zweimal die Woche« (ebd.: 349) an fremde Christen. Ökonomische Raison zwingt sie zur Assimilation – und die Hoffnung, es sich mit den Mitgliedern des Neuen Bundes nicht zu verderben. Die Polyphonie der Überzeugungen, Auslegungen und Überlieferungen überfordert K. Seinem Ziel der Vermessung des Schlosses kommt er nicht näher. Und da er Bürgels Vorschlag verschläft, das Schloss samt seinem ganzen Personal nihilistisch kurzerhand zu leugnen und also zu zerstören, zeigt sich: Immer mehr ver-
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strickt er sich in den unentwirrbaren Schichten der Tradition und der Meinungen. Je mehr er zum Schloss strebt, desto mehr verirrt er sich im Dorf. Der Landvermesser bleibt damit ein Mann vom Lande, befangen innerhalb der Grenzen der Vernunft und nach wie vor ahnungslos in religiösen Dingen. Ob Kafka vorhatte, ihm ein Bewusstsein für Jüdisches zu verschaffen – K.s Gespräch mit Amalia blieb unausgeführt –, kann nur vermutet werden.
VI. Der Unvordenklichkeit des Allerhöchsten, der historischen Verwaltungsstruktur von Judentum und Kirche sowie dem strengen Bilderverbot ist dabei geschuldet, dass Kafka Religion und ihre Macht als abstrakte Behörde abbildet. Niemand, lernt der Landvermesser, kann den Weg zur Burg Gottes begreifen, geschweige denn einschlagen. So bleibt, sich mit den Stellvertretern und Beauftragten des Herrn auseinanderzusetzen. Denn weder die Vermessung des freien Geistes, noch die reine Sprache sind mit den zur Verfügung stehenden Mitteln – Logik, Grammatik, Semantik – möglich. Dennoch ist Literatur den Wissenschaften voraus. Im Unterschied zu Philosophie und Religion vermag sie alle Referenz durch Parabel und Allegorie bis an die Grenzen des Nachvollziehbaren aufzulösen und eine Bilderkritik vorzutragen, der Kafkas Projekt eines neuen, transzendental reflektierten Judentums entsprach. Freilich muss ein Minimum an Signifikanz nicht nur im Interesse der Verständlichkeit bestehen bleiben, sondern auch aus dem Grund, dass Sprache gemäß des Kafkaschen Sprachaphorismus nur vor dem Metaphysischen versagt, nicht aber vor den Verhältnissen des Hiesigen. Über sie lässt sich sinnvoll sprechen, ihre literarische Gestaltung lässt sich begreifen. So behält Kafka den traditionellen Gegensatz von Stadt und Land zwar bei, bewertet aber seine literarischen Dörfer völlig negativ. Sie figurieren als Bereich der Empirie, der sich als schmachvolles Andere des Geistes präsentiert. Raban, der dem Ruf der Natur folgt und zur Verlobten fährt, ist eine Bukolik des schlechten Gewissens sicher. Auch der Landarzt, der schon in die Freiheit aufgebrochen war, möchte lieber zurück zu Rosa und Hof. Der Landvermesser mutet sich zwar zu, die Grenze zum Schloss zu passieren, verlässt den Bereich des Dorfes aber ebenfalls nie. Lassen die drei Texte damit eine stetige Annäherung an den Bereich der Freiheit erkennen, suchen die Figuren also ihre Textdörfer immer verzweifelter zu verlassen, müssen sie ebenso feststellen, dass sie trotz allen »Ansturm[s] gegen die letzte irdische Grenze« (KKAT, 878) an der »Erdenschwere« (KKAN II, 121) scheitern. Ob eros, Lebenswille oder transzendentale Beschränktheit sie im Hiesigen festhalten, bleibt sich dabei gleich. Auch das Religionsthema ändert daran nichts. Analog zur Freiheitssuche ließ es sich gestalten und bis zur Reflexion auf Religionsgeschichte ausarbeiten. Doch wenn selbst der
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Typus des Erlösers aus Todesangst den Opfertod verweigert und sich die Überlieferung gleich welcher Konfession vor Schloss und Herrn schiebt, gilt auch hier, dass Religionen gegen den Lebenswillen nichts vermögen und im Hiesigen festhalten. Der Weg nach drüben, der Weg aus dem Dorf, bleibt im Leben verstellt.
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Schöne neue Dörfer? Themen und Tendenzen neuer Dorfgeschichten M ARC W EILAND
Dorfgeschichten boomen. Die Produktion und Rezeption von literarischen Dorfgeschichten hat in der jüngsten Vergangenheit einen exponentiellen Anstieg zu verzeichnen. Allein in den letzten Jahren ist eine Vielzahl an neuen Dorfgeschichten erschienen, die nicht nur eine hohe literarische Qualität aufweisen (und daher auch vielfach mit diversen Preisen ausgezeichnet wurden), sondern auch zahlreiche Leser finden (und daher mitunter auch über längere Zeiträume hinweg die oberen Plätze der Bestsellerlisten eingenommen haben). Dennoch wird dies allzu häufig als unzeitgemäßes Phänomen betrachtet und bewertet. Aus den Perspektiven fortschreitender Modernisierung und Urbanisierung und der damit einhergehenden Nivellierung der Gegensätzlichkeit von Stadt und Land erscheint die literarische Dorfgeschichte als ein vermeintlich überholtes und antiquiertes Genre. Es ist der Großstadtroman, der als ›die‹ Gattung der literarischen Moderne gilt und, so der generelle Tenor, die auch gegenwärtigen Lebenswelten in ihrer nach wie vor zunehmenden Ausdifferenzierung, Beschleunigung und Ambivalenz in adäquater Weise vor Augen stellt und in ihrer jeweils subjektiven Wahrnehmung reflektiert. Angesichts der Entwicklungen des 20. Jahrhunderts werden die dörflichen und ländlichen Lebenswelten der Dorfgeschichte, als einer Erfindung des 19. Jahrhunderts, häufig lediglich als Kontrastfolien oder Residualräume betrachtet. »Von dem Verdikt der Unzeitgemäßheit hat sich die Dorfgeschichte bis heute nicht mehr erholt«, so Reiling (2015: 38), der dafür ideologische und ästhetische Gründe ins Feld führt. Aus dieser Perspektive erscheint die Dorfgeschichte als gleichermaßen anti-urbane und naive Gattung, die auf einem Denken und Erzählen in Dichotomien und Kontradiktionen beruht und in unreflektierter
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Weise an einer Überhöhung des Ländlichen arbeitet, die letztlich auch zur Radikalisierung des Gesellschaftlichen beigetragen hat.1 Dabei kann die Dorfgeschichte als flexible und funktionale Gattung verstanden werden, die sich den jeweiligen Zeitumständen immer wieder anpasst und diese Umstände auch zum Ausdruck bringt. Sie bietet dadurch eine Form gesellschaftlicher Selbstbeschreibung, mit der sowohl Prozesse des Wandels registriert als auch mögliche Entwicklungen, befürchtete wie erwünschte, entworfen werden. Gegenwärtig gilt dies nicht nur für die jeweiligen sozialen, sondern auch literarischen Entwicklungen. Im imaginären Dorf verschränken sich vormoderne, moderne und postmoderne Lebenswelten und Schreibweisen. In diesem überblicksartig angelegten Beitrag soll es daher um die Frage gehen, in welcher Weise anhand von Dorfgeschichten auf die Zeitumstände in ihren sozialen und historischen Dimensionen Bezug genommen wird und wie diese gedeutet werden. Scheint das Dorf doch aktuell ein bevorzugter Ort literarischer Feldforschung zu sein. Eine der ersten breit rezipierten neueren Dorfgeschichten nach der historischen Zäsur der deutschen Wiedervereinigung ist F.C. Delius’ DIE BIRNEN VON RIBBECK (1991), die eben jene Nachwendezeit thematisiert. Dabei hatte, so Delius, das Recherchieren im Dorf und das Schreiben über es eine ganz praktisch orientierte kognitive Funktion: Es zielte ab auf ein besseres Verständnis der gegenwärtigen Situationen des historisch einmaligen Umbruchs. So äußerte sich Delius in einem Interview über die Umstände der Entstehung des Textes folgendermaßen: »Es war die Zeit, in der sich die Situation in Deutschland und Europa von Tag zu Tag änderte – man lebte staunend im Rausch der Geschichte, die DDR löste sich auf, die Vereinigung wurde vorbereitet, und es wurde pausenlos über all das geredet, immer abstrakter und geschwätziger. Ich wollte, ich mußte selber in diesem Rausch einen Halt, einen Maßstab finden, vielleicht auch meine Vorbehalte gegenüber der Vereinigung, Vorurteile abschütteln – und ich ahnte plötzlich, daß in Ribbeck der Fokus für alles lag. Auf dem Dorf, in Ribbeck, dachte ich, ist die Sache anschaulich, also geh ich nach Ribbeck!« (Bullivant 1997: 231)
1
Reiling (2015: 38) verweist hier auf die historischen Bezüge der Dorfgeschichten zur Heimatkunstbewegung und völkischen Literatur, denen es – anders etwa als die Dorfgeschichten im Gefolge Berthold Auerbachs – nicht mehr um »eine Synthese von gebildeter und ungebildeter Bevölkerung, um den ideellen Zusammenschluss von Stadt und Land« ginge, »sondern um die Verabsolutierung des Ländlichen, das zum Inbegriff des einzig Wahren, Guten und Gesunden stilisiert wurde.« Auch Hein (1997: 26) konstatiert eine grundlegende ideologische Beeinflussung der Gattung: »Mit der Entdeckung der dörflichen Welt geht deren Instrumentalisierung und Funktionalisierung einher.«
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G ANZHEITEN
UND
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Ü BERSCHAUBARKEITEN
Sowohl im alltagsweltlichen und literarischen als auch im wissenschaftlichen Erzählen wird das Dörfliche immer wieder als eine geschlossene Ganzheit imaginiert2 – und zwar in sozialer, räumlicher, ethischer und ästhetischer Hinsicht. Diese geschlossene Form bildet, in ihrer positiven (als vermeintliche Idylle) wie auch negativen (als vermeintliche Dystopie) Variante, das klassische Interpretations- und Erzählmuster. Grundlage dessen ist eine trennscharfe Abgrenzung zur Stadt: Räumliche Begrenzung, zeitliche Entschleunigung sowie eine kohärente und stabile Sozialordnung (Langthaler/Sieder 2000: 24) – basierend auf dem Konzept der ›Gemeinschaft‹ – bilden die vier Eckpfeiler der klassischen begrifflichen Konzeption des Dorfes. An dieser arbeiten sich auch die gegenwärtigen literarischen Imaginationen ab, indem sie die tradierten Muster aufnehmen und häufig auch im Fortgang der Handlung kritisch betrachten und durchbrechen. Dabei ist mit dieser Ganzheitsimagination ein weiteres zentrales Element der literarischen Bezugnahmen und Perspektivierungen verbunden: der Topos der Überschaubarkeit. Sowohl in den älteren als auch jüngeren Dorfgeschichten finden sich häufig Szenen, in
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So lassen sich Ganzheitsimagination nicht nur in den popkulturellen Bezugnahmen auf das Dörfliche, sondern auch in wissenschaftlichen Diskursen finden. Mit Blick auf die sozial- und kulturwissenschaftliche Dorf-Forschung des 20. Jahrhunderts unterscheidet der Historiker Ernst Langthaler (2014) vier verschiedene Phasen und Konzeptualisierungen – man könnte auch sagen: vier ›große Erzählungen‹ bzw. Metanarrative. Denn Langthaler legt Wert darauf, dass die damit verbundenen Interpretationen und Perspektivierungen des Dörflichen immer auch chronologische und mitunter teleologische Strukturen aufweisen, und gerade dadurch auch ihre Geltung erlangten und mitunter nach wie vor erlangen. Darunter finden sich Entwürfe idealer Sittengemeinschaft, Proletarisierung, Modernisierung und schließlich auch Eigensinnigkeit der Dörfer. Sie alle erzählen die Geschichte des Dorfes als Geschichte bestimmter Konfliktlinien, die wiederum eingebunden sind in übergeordnete diskursive Strukturen; ja, mit denen gewissermaßen auch ein Machtkampf um die Deutung des Dörflichen verbunden war und ist. Das Dorf erscheint aus dieser Perspektive dann nicht etwa als ein vorhandener und zu ergründender Raum; er wird vielmehr durch materielle, soziale und symbolische Praktiken erzeugt – angesichts derer Langthaler pointiert resümiert: »um das Dorf zu finden, muss man es erfinden« (ebd.: 73). Dadurch ist auch das Wissen vom Dorf als eine »hybride Wissensform« anzusehen, in der »›objektive‹ und ›subjektive‹ Momente verschmelzen« (ebd.). Es kann hierbei als eine Funktion der literarischen Dorfgeschichte verstanden werden, diese objektiven und subjektiven Elemente zusammenzuführen und miteinander zu vermitteln; sie stellt Erzählmuster bereit, die die jeweiligen individuellen Wahrnehmungen und Erfahrungen in eine Form bringen und verständlich machen (vgl. Nell/Weiland 2014).
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denen Protagonisten und Leser einen vermeintlich alles erfassenden Überblick über das Dorf erhalten. So heißt es etwa mit Blick auf einen Berg in Robert Seethalers EIN GANZES LEBEN (2014), dass man von dort oben »das Dorf in seiner Gesamtheit überschauen« (Seethaler 2014: 128) könne. Dies gilt dann nicht nur für die Erfassung der räumlichen Strukturen, sondern auch für die Erzählbarkeit der in ihnen verorteten individuellen Leben; denn der Roman Seethalers bildet auch formal eine Ganzheit, indem er die verschiedenen Erzählfäden und Motive immer wieder aufnimmt und zu einem Abschluss führt. Dadurch wird auch das Leben des Protagonisten Andreas Egger als eine abgeschlossene Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende erzählt. Der Roman berichtet von Zeiten zunehmender Modernisierung auch weit abgelegener ländlicher Lebenswelten. Mit der Lebensgeschichte Eggers markiert er den Übergangsbereich von einer noch erhaltenen und doch bereits im Verschwinden begriffenen vormodernen Situierung des Menschen in Raum, Zeit und Gesellschaft, die der modernen Entbettung und Flexibilisierung des Individuums Platz macht und sich dabei schließlich auch auf die Erzählbarkeit des individuellen Lebens auswirkt; Eggers Leben lässt sich (noch!) überschauen und als ein Ganzes erzählen.3 In Jan Brandts GEGEN DIE WELT (2011) hingegen ermöglicht schon allein eine Dachluke den »Überblick über das ganze Dorf« (Brandt 2012: 44) – und zwar in einer perfekten Konstellation: »Man könnte alles sehen und wäre selbst unsichtbar« (ebd.: 45). Der Beobachter bleibt selbst unbeobachtet und kann sich dadurch, so könnte man meinen, unbeeinflusst einen Überblick über die Anlage und die Geschehnisse im Dorf verschaffen. Dementsprechend finden sich im Roman Brandts häufig sehr detaillierte Beschreibungen der Gegebenheiten und mitunter auch ganze Listen mit Dingen (ebd.: 71, 540) und Personen (ebd.: 534, 679). Diese sind auch Ausdruck einer materiellen Überfülle, die das Leben der Menschen im mittlerweile modernisierten und globalisierten Dorf prägt. Allerdings zeigt sich am Ende des Romans, dass die vermeintlich neutrale und alles registrierende Aufzeichnung selbst von einem mehr oder minder in die Geschehnisse involvierten intradiegetischen Erzähler mit eigenen Interessen angefertigt wurde. Der in den aktuellen Dorfgeschichten inszenierte objektive Blick aus der Ferne täuscht über die tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort hinweg. Auch in Regina Scheers MACHANDEL (2014) schaut der Leser mit den Protagonisten aus erhöhter Position auf das Dorf: »Als wir uns auf dem Tabacksberg umwandten, sahen wir das winzige Dorf Machandel in seiner Senke liegen, die Häuser hockten geduckt wie die reglosen Winterhasen am Rande der
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Angesichts der zunehmenden Veränderung und Beschleunigung der ihn umgebenden Lebenswelt erscheint dies dem Protagonisten auch in seinem Selbstbezug der Fall zu sein: »als wäre er ein Überbleibsel aus einer längst verschütteten Zeit« (Seethaler 2014: 60).
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Straße zum unbewohnten Schloss. Von hier oben sah man nicht die Löcher im Dach, man sah die riesigen Eichen im Park und die Bäume, die das Dorf umstanden wie Wächter. Wie ein uraltes Bild sah das aus, so friedlich, so idyllisch, als wäre in diesen Häusern nie etwas Böses geschehen.« (Scheer 2014: 265)
Der Verfall – der sich hier natürlich nicht nur auf die Bausubstanz bezieht, sondern auch eine moralische wie soziale Dimension beinhaltet – bleibt aus der panoramaartigen Perspektive unsichtbar; und doch weiß man um ihn. Die kulturellen Deutungsmuster, die »uralten« idyllisierenden und romantisierenden Bilder, überlagern die tatsächliche Beschaffenheit des Orts. Der alles überschauende und objektivierende Blick entpuppt sich letztlich als abhängig von den aktuellen Konstitutionen (ihren Bedürfnissen und Wünschen, Erfahrungen und Wahrnehmungen) und symbolischen Vorprägungen (ihren kulturell vermittelten Begrifflichkeiten, Metaphoriken und Narrativen) der Protagonisten wie auch der Erzähler. Hier wird von außen etwas als eine Ganzheit zusammengeschaut, das nicht als Ganzheit existiert. Dies trifft jedoch nicht nur auf die Außenperspektive zu. Auch aus der Innenperspektive wird der Topos der Überschaubarkeit und Ergründbarkeit des Dorfes aufgenommen und häufig mit einem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse gepaart. So spricht bspw. Vea Kaisers BLASMUSIKPOP ODER WIE DIE WISSENSCHAFT IN DIE BERGE KAM (2012) explizit eine ethnologische und Juli Zehs UNTERLEUTEN (2016) explizit eine soziologische Beobachtung und Erforschung des Dorfes an.4
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Dass anthropologische Forschung und literarisches Erzählen vom Dorf schon immer im Verhältnis zueinander stehen und sich nicht nur auf einen gemeinsamen Gegenstandsbereich beziehen, sondern auch gemeinsame Entwicklungslinien haben, zeigen Neumann/ Twellmann (2014a u. 2014b). Ihnen zufolge lässt sich zwischen literarischen, historischen und anthropologischen Dorfstudien ein »genetische[r] Zusammenhang« (Neumann/ Twellmann 2014b: 480) feststellen. Die Wahl des Untersuchungsgegenstandes ist dabei, das führen die Autoren mit Blick auf die historisch-anthropologische Forschung an, mitunter auch pragmatischen Gründen geschuldet; schließlich sollte der Gegenstand nicht ins Unermessliche und Unhandhabbare anwachsen: »Neben einzelnen Personen, Familien, Clans, Häusern und Höfen kam das Dorf als größtmögliche Untersuchungseinheit in Betracht, wenn die Maßgabe lautete, kulturelle, soziale und anthropologische Strukturen und Funktionen aus einer Binnenperspektive heraus in ihrer Totalität zu erfassen.« (Ebd.: 481) Dieser Totalitätsanspruch findet sich auch in jüngsten Publikationen wieder, die im Zwischenraum von ethnologischem und literarischem Schreiben angesiedelt sind. So versteht sich bspw. die von Esther Dischereit herausgegebene Anthologie HAVEL, HUNDE, KATZEN, TULPEN. GARZ ERZÄHLT (2017) explizit als »Beitrag zu einer Ethnografie der Gegenwart« (Dischereit 2017: 17). Gemeinsam mit Studierenden der Universität für angewandte Kunst Wien hat die Autorin – in »einem literarischen Feldversuch« (ebd.: 7) –
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Dorf und Provinz werden dabei zu Weltmodellen (Rölcke 2013: 121). In Kaisers Roman, der in ironischer Weise das Leben in einem fiktiven Bergdorf in den Alpen schildert, verfolgt der wissenshungrige Protagonist Johannes A. Irrwein das Ziel, einen »Beitrag zum Weltwissen unserer Zeit zu leisten« (Kaiser 2012: 292). In seinen ethnografischen Studien geht es ihm, angeleitet von seinem Vorbild Herodot, dabei nicht um eine bloße Sammlung und Archivierung von Daten, sondern um die restlose und auch das Essenzielle freilegende Ergründung des Dörflichen – um »Wahrheiten über das Wesen der Bergbarbaren« (ebd.: 324). Dafür wählt er, nachdem der Blick aus der Ferne (»jene naturwissenschaftlich distanzierte Art«, ebd.: 292) keine Erkenntnisse erzeugte, die Methode der teilnehmenden Beobachtung. Er erfasst dabei das Dorf als ein in sich selbst geschlossenes und historisch verfestigtes5 autonomes System, in dem sich die verschiedenen Handlungen als Zeichen lesen lassen, die die grundlegenden Antriebe eben jenes sozialen Systems offenbaren. Dementsprechend geht es ihm darum, zu erforschen »wer bei wem saß, wer mit wem sprach, wer wem geheime Zeichen sandte« (ebd. 343); wodurch sich ihm schließlich »nach und nach […] ein aufschlussreiches Netz der Kommunikationswege« (ebd.) offenbart.6 Eine ganz ähnlich ansetzende Erforschung des Kommuni-
die alltäglichen Geschichten der Bewohner des Dorfes Garz in Sachsen-Anhalt aufgezeichnet; wobei hier von 145 Einwohnern letztlich 50 an dem Projekt teilnahmen. Dabei zeigen sich in dem Projekt zum einen, auf der Seite der Bewohner, immer wiederkehrende Erzählmuster und sprachliche Codierungen, die kollektiv geteilt werden und sich mittlerweile verfestigt haben; mit ihnen werden bestimmte historische Ereignisse eingeschlossen (andere ausgeschlossen) und in einem besonderen Lichte interpretiert. Zum anderen zeigen sich aber auch die Ansprüche und Vorstellungen der Besucher, die die Erzählungen registrieren und in eine bestimmte Form übersetzen; sie sind ebenso von bestimmten Erzählmustern geleitet und gehen dabei nicht zuletzt davon aus, dass es (zumindest annähernd) möglich sein kann, mit der Beschreibung des Dorfes die Beschreibung einer sozialen Ganzheit – verstanden als ein »pulsierender Organismus« (ebd.: 7) – zu erzeugen. Daher geht es hierbei nicht nur um die Frage, was erzählt wird und weitererzählenswert ist, sondern vor allem um die Frage, wie erzählt und zwischen den unterschiedlichen Erzählformen und -codes übersetzt wird. 5
Weshalb es ihm auch sinnvoll erscheint, sich »ein Bild über die genealogische Struktur
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Freilich weiß der junge Forscher, schließlich stammt er selbst aus dem zu erforschenden
des Dorfes [zu] verschaffen« (Kaiser 2012: 322). Dorf, bereits vor der eigentlichen Forschungstätigkeit um ihr Ergebnis: »Ich werde aufdecken, daß diese Bergbarbaren einen Krieg gegen die Zivilisierten führen, um ihre Eigenheiten zu beschützen« (Kaiser 2012: 292). Wobei er schließlich, auch das gehört zum Standartrepertoire des Forschers, gegen Romanende alles zuvor Gesagte wieder in Klammern setzt (ebd.: 478) und so in seiner Vorläufigkeit, ja auch generellen Unange-
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kations- und Abhängigkeitssystems Dorf findet sich im Roman von Juli Zeh, der das konfliktreiche Aufeinandertreffen verschiedener Akteure im ländlichen Raum aus deren Perspektiven erzählt.7 Dort ist es die aus der Stadt auf das Dorf (und schließlich wieder zurück) gezogene Protagonistin Jule Fließ-Weiland, die auf Basis ihrer Erlebnisse »eine moderne Soziologie des Ruralen« (Zeh 2016: 631) erarbeiten will. Das Dorf bildet dafür von Anfang an das bevorzugte Untersuchungsfeld. Erscheint es doch als »ein Lebensraum, den sie überblickte und verstand« (ebd.: 217). Es wird hier aus der Perspektive der Protagonisten zu einem, wie Jörg Schönert bereits im Blick auf die älteren Dorfgeschichten festhält, »Reduktionsmodell« (Schönert 2002: 339), das Erfahrungen gesellschaftlichen Wandels in komprimierter Weise – in überschaubaren Handlungs- und Geschehenszusammenhängen – darzustellen vermag. Es sind daher, so ließe sich festhalten, nicht allein die eigentlichen Geschehnisse im Dorf, die dafür sorgen, dass vom Dorf erzählt wird – etwa deshalb, weil sie besonders erzählenswert wären. Es kann vielmehr auch umgekehrt behauptet werden: Von den Geschehnissen wird berichtet, weil sie im Rahmen des Dorfes stattfinden und daher als besonders verständlich und übersichtlich erscheinen – also eben deshalb, weil sie besonders gut erzählbar sind. Die Imagination des Dorfes als überschaubares Ganzes ist verbunden mit der Vorstellung einer besonderen Erzähl- und Verstehbarkeit des Dörflichen. So muss auch der aus Ingolstadt anreisende Investor in Unterleuten feststellen, dass hier eine besondere Anschaulichkeit herrscht und Undurchsichtigkeiten übersichtlich werden: »Er stand inmitten eines Netzes von Zusammenhängen, welche die Welt zu einem kleinen, begreiflichen Ort machten.« (Zeh 2016: 63) Die Unordnung und Unübersichtlichkeit moderner Lebensverhältnisse wird somit in eine imaginäre
messenheit kennzeichnet. Denn eigentlich hat er, mit Blick auf das methodische Vorgehen, zwei kardinale Fehler begangen. Einerseits hätte er – »wie es sich für einen guten Geschichtsschreiber gehörte« (ebd.) – die Geschichte von ihrem Ausgangs- bis zu ihrem Endpunkt (und nicht, wie geschehen, umgekehrt) erzählen sollen, andererseits hätte er – »als ehrlicher Beobachter der Dinge, wie sie waren« (ebd.) – die Geschehnisse »ohne vorgefertigte Meinung« (ebd.) zu dokumentieren gehabt. 7
Hier finden sich auch ähnliche Beschreibungen der zu erforschenden – und für den Laien zunächst vollkommen undurchsichtigen – Zusammenhänge und Verstrickungen der Bewohner, die sich schließlich auf bestimmte Grundregeln und Abhängigkeiten zurückführen ließen: »Hätte man die Beziehungsfäden sichtbar machen können, welche zwischen den Anwesenden hin und her liefen, wäre für den Uneingeweihten ein undurchschaubares Knäuel zum Vorschein gekommen. Ein Experte wie Kron hingegen sah ein logisches System, klar strukturiert wie ein Spinnennetz. Verwandtschaft, Bekanntschaft, Nachbarschaft, Freundschaft, Feindschaft. Liebe, Hass, Schuld, Neid, Abhängigkeit.« (Zeh 2016: 104)
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Ordnung überführt. Beide Romane, BLASMUSIKPOP wie auch UNTERLEUTEN, stellen damit – das kann auch stellvertretend für einige weitere neue Dorfgeschichten gelten – die Blickweisen der teilnehmenden Beobachter in ihren jeweiligen Vorprägungen und Abhängigkeiten aus. Dabei geraten sowohl die jeweils zur Verfügung stehenden symbolischen Deutungsmuster, seien sie alltagsweltlicher oder wissenschaftlicher Natur, als auch die eigenen Vorgeschichten und Erfahrungen in den Blick; und zwar als diejenigen Elemente, die unter anderem die Wahrnehmung und Deutung des Dorfes beeinflussen.
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Eines der zentralen Deutungsmuster, das das Wahrnehmen, Denken und Handeln der Figuren anleitet, ist die Stadt-Land-Dichotomie. In den neueren Dorfgeschichten ist die Referenzgröße ›Stadt‹ sowohl implizit (bspw. als Deutungsmuster) als auch explizit (bspw. als Handlungsort) enthalten. In einem Großteil der gegenwärtigen Dorfgeschichten finden sich Protagonisten, die zwischen Stadt und Land unterwegs sind und dabei das Dörfliche und Ländliche in Abgrenzung zum Städtischen imaginieren und erfahren. Dies trifft auch auf die quasi-wissenschaftlichen Bezugnahmen zu, die in den Romanen von Kaiser und Zeh inszeniert werden. Für den Ethnografen Johannes A. Irrwein ergibt sich die Abgeschlossenheit und Eigenheit des Bergdorfs nicht etwa aus einer räumlich bedingten Abgeschiedenheit – denn die Moderne ist längst schon im Berg angekommen –, sondern aus einer willentlichen Entscheidung der Gemeinde, sich von der staatlichen Verwaltung zu lösen. Im Vorfeld des sich abzeichnenden Zweiten Weltkriegs fälschen die Bewohner, so die Rekonstruktion Irrweins, das Melderegister und entziehen sich so aus Gründen des Selbstschutzes der staatlichen Verfügungsgewalt. Dieser Entzug führte zur Ausprägung einer eigenen Geschichte, die wiederum die Eigenheit des Dorfes bedingt und vermittelt: »Ich nämlich meine, daß sich die Bergbarbaren mit diesem eigenverursachten Messerschnitt vom Rest der Welt abgetrennt und zu einem eigenen Volk gemacht haben, mit eigener Geschichte, eigenen Vorstellungen, Erinnerungen und Werten, die sich dadurch definieren, nicht zum Rest der Alpenrepublik zu gehören.« (Kaiser 2012: 444)
Eine solche »Parallelkultur« (ebd. 292) mit eigenen Regeln8 und einer eigenen Sprache entdeckt auch der soziologisch geschulte Blick in Unterleuten. Aus der
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Diese Eigensinnigkeit des Dorfes wird auch von einigen anderen Texten hervorgehoben. Jenny Erpenbecks Roman HEIMSUCHUNG (2008) etwa führt in ausführlicher Schilderung
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Perspektive des Ehemanns der bereits erwähnten Jule Fließ, einem Privatdozenten der Soziologie, erscheint das Dorf folgendermaßen: »Obwohl Unterleuten keine hundert Kilometer von Berlin entfernt lag, hätte es sich in sozialanthropologischer Hinsicht genauso gut auf der anderen Seite des Planeten befinden können. Unbemerkt von Politik, Presse und Wissenschaft existierte hier eine halb-anarchische, fast komplett auf sich gestellte Lebensform, eine Art vorstaatliche Tauschgesellschaft, unfreiwillig, subversiv, fernab vom Zugriff des Staates, vergessen, missachtet und deshalb auf seltsame Weise frei. Ein gesellschaftstheoretisches, nein, gesellschaftspraktisches Paralleluniversum.« (Zeh 2016: 29)
In beiden Texten werden die Deutungsweisen ›akademischer Interpretationsgemeinschaften‹ (vgl. Langthaler 2014: 59ff.) in ihren jeweiligen Bedingtheiten9 ausgestellt und im konfligierenden Aushandlungsprozess mit alternativen Interpretationen gezeigt. Die Protagonisten projizieren, dies zeigt auch die multiperspektivi-
am Beispiel einer Hochzeit auf dem Lande in ein umfassendes Regelsystem ein (Erpenbeck 2010: 14-16). In introspektiver Erkundung verweist auch die Erzählerin in Katharina Hackers EINE DORFGESCHICHTE darauf, dass auf dem Land andere Regeln herrschen bzw. bisher geltende Regeln außer Kraft gesetzt werden: »Auf irgend eine Weise waren wir im Dorf ernster als in der Stadt, obwohl wir tobten, obwohl wir freier waren, denn meine Mutter ließ uns, ließ uns verdreckt und abwesend, duldete unsere Gewohnheiten und Geheimnisse.« (Hacker 2011: 48) Motiviert wird diese Eigenheit häufig auch dadurch, dass das Dorf selbst mitsamt seiner Umgebung als besonders geheimnisvoll und unheimlich wahrgenommen wird. Dies trifft sowohl auf den Text Hackers zu, in dem die kindliche Wahrnehmung mit undurchsichtigen Geschehnissen und verdrängten Vergangenheiten ebenso konfrontiert wird mit den eher gruseligen Namen (bspw. einem »Teufelsgrab«, ebd.: 23) der Ortschaft, als auch auf den Roman Scheers, in dem konstatiert wird, dass einer der Nachbarn »etwas Unheimliches […] in den Räumen zurückgelassen« (Scheer 2014: 19) habe. Dementsprechend finden sich auch immer wieder Metaphern und Vergleiche des Märchenhaften, die auf »das wie verwunschen daliegende Dorf« (ebd.: 16) abzielen oder von »der wie verzauberten Landschaft« (ebd.: 42) berichten. 9
Zu diesen Bedingtheiten gehört natürlich auch die Art und Weise der Beschreibung. Dabei kann die Imagination der Abgeschlossenheit mitunter auch der ausführlichen Beschreibung der dörflichen Lebenswelt geschuldet sein: »Je ausführlicher ein kulturelles System wie das eines Dorfes beschrieben wird, umso geschlossener erscheint es. Selbst wenn alle historischen und gegenwärtigen Außenbeziehungen benannt werden, scheint das Dorf eine geheime Sprache auszubilden, die es von seiner Umgebung trennt.« (Köstlin 2011: 20)
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sche Erzählweise Zehs, einerseits ihre persönlichen Ansprüche und Wünsche und andererseits ihre, mitunter mit eben jenen Ansprüchen und Wünschen verbundenen oder sich daraus ergebenden, symbolisch-narrativen Weltzugänge auf das Dorf und erzeugen so ihr spezielles Bild des – ideologisch, weltanschaulich, persönlich gefärbten – Dörflichen, das wiederum ihr Denken und Handeln leitet und, insofern es mit anderen Dörflichkeiten konkurriert, die Konflikte im Dorf miterzeugt. So heißt es etwa über den mittlerweile zum Naturschützer gewordenen Privatdozenten: »Er lobte das Landleben und ließ einen langen Monolog gegen Wachstumswahn und Veränderungssucht folgen. Eine Mischung aus Kapitalismuskritik, Entschleunigungsromantik und Infrastrukturfeindlichkeit.« (Zeh 2016: 263) Es ist nicht notwendigerweise die scheinbar naturnahe, übersichtliche und gemeinschaftliche Welt des Dorfes, die auf die urban geprägten Betrachter einen Reiz ausübt, dem sie sich nur schwer entziehen können; vielmehr sind sie vom Städtischen und den Erscheinungen moderner Lebenswelten abgestoßen, die sie damit verbinden und deren Negation sie im Dörflichen zu finden glauben.10 Die beiden Soziologen in Unterleuten bilden hierfür nur Stellvertreterfiguren für all diejenigen, denen die Stadt als Inkarnation der »uneigentlichen Welt« (Zeh 2016: 217) erscheint, der es zu entkommen gilt. Folglich ist die Abgeschlossenheit des Dörflichen mehr Wunschbild als den Tatsachen entsprechend; und dies vor allem auch vor dem Hintergrund einer vermeintlich paradoxen Situation: Die Protagonisten imaginieren das Dorf als abgeschlossen und ›anders‹, bewegen sich aber selbst immer wieder zwischen Stadt und Land und stellen so doch eine der vielen Verbindungen zwischen ihnen her. Sie tragen damit selbst zur Unterminierung der Imagination der Abgeschlossenheit bei. In satirischer Weise nimmt sich Dörte Hansens Roman ALTES LAND (2015) dieser reziproken Pendelbeziehung zwischen Stadt und Land an, insbesondere auch indem er sich dem Phänomen der Neuen Ländlichkeit widmet. Es sind die »ÖkoMissionare« (Hansen 2015: 94) und »Sinnsucher aus der Stadt« (ebd.: 89), die, ausgestattet mit Liegerad und Multifunktionskleidung, von den allseits beliebten Landmagazinen angelockt werden und im Dörflichen eine alternative und vor allem
10 Ein Gegenentwurf dazu findet sich etwa in Katharina Hackers EINE DORFGESCHICHTE. Auch hier findet sich die Imagination einer strikten Trennung zwischen Stadt und Land, die von der Erzählerin in ihren konkreten Bewegungen doch zugleich auch überwunden wird: »Stadt und Land sind streng geteilt. Aus dem Dorf fährt man nicht in die Stadt, wenn es sich vermeiden lässt. Die Dorfbewohner wissen von der Stadt so wenig wie wir Stadtbewohner vom Dorf.« (Hacker 2011: 41) Allerdings dient die Abgeschiedenheit des Ländlichen, das unterscheidet den Text von den hier angesprochenen, eher der narrativen Erkundung der eigenen Vergangenheit, die sich so nicht im Städtischen finden lässt und dementsprechend anders motiviert ist.
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auch authentische Lebenswelt suchen, um deren Bilder an eine gutsituierte urbane Schicht zu verkaufen. So berichtet der Roman u.a. von einem Aussteigertypen, der nunmehr »Bücher über das Landleben und Kolumnen für ein Slow-Food-Magazin« (ebd. 90) schreibt. Der Text verweist damit auf den Ursprungs- und auch Zielpunkt der idyllischen Bilder vom Land; denn nach wie vor gilt wohl: »Landsehnsucht ist ein städtisches Phänomen.« (Köstlin 2011: 13)11 Natürlich erzeugt diese Konstellation auch hier ein konfliktreiches Aufeinandertreffen der klischeehaften urbanen Vorstellungen vom Land mit den wirklichen Bewohnern vor Ort und den konkreten Lebensbedingungen.12 Der Landwirt entspricht eben nicht dem Bild der »wunderbar authentischen« (Hansen 2015: 90) und »herrlich unverkopften Menschen« (ebd., Hervorhebung im Original), sondern entpuppt sich als »diplomierter Agrarwissenschaftler« (ebd.: 92), der sowohl mit modernster Technik als auch mit Pflanzenschutzmitteln pragmatisch und unter den Gesichtspunkten einer Kosten-NutzenKalkulation hantiert. Land und Ländlichkeit passen nicht zusammen. Literarisch vorweggenommen wurde das Phänomen der Neuen Ländlichkeit bereits in Robert Menasses Roman SCHUBUMKEHR (1995). In diesem soll das mittlerweile marode Dorf Komprechts zur »Umweltmustergemeinde« (Menasse 1995: 73, Hervorhebung im Original) entwickelt und mit romantisierenden Mitteln zugleich auch touristisch erschlossen werden. Das abgeschiedene Landleben lockt dabei auch allerhand Großstädter an, die sich nunmehr niederlassen und als BioBauern versuchen. Sie deuten dies in quasi-ideologischer Weise als Rückkehr zu
11 Dabei handelt es sich bei der Landsehnsucht um ein kontinuierlich zunehmendes Phänomen. Claudia Neu (2016: 6) verweist hier auf empirische Untersuchungen: »1956 antworteten auf die Frage ›Wo haben die Menschen Ihrer Ansicht nach ganz allgemein mehr vom Leben: auf dem Land oder in der Stadt?‹ 54 Prozent der Befragten, dies sei in der Stadt der Fall, wohingegen lediglich 19 Prozent dem Land eine höhere Attraktivität bescheinigten. Bereits 1977 hatte sich die Einschätzung zugunsten des Landes geändert: 43 Prozent entschieden sich für das Landleben, nur noch 39 Prozent für die Stadt. Heute erscheint das Stadtleben den Befragten nur noch halb so attraktiv wie das Landleben: 2014 stimmten 41 Prozent für das Land, 21 Prozent für die Stadt.« 12 Dass die Dorfbewohner den Neuankömmlingen gegenüber skeptisch bis ablehnend reagieren, gehört nahezu zum guten Ton der Auseinandersetzung zwischen Stadt und Land. Aus der Perspektive eines Landwirts hört sich das im Roman recht bissig an: »Es kamen immer nur die Ausgemusterten, die es in der Stadt nicht geschafft hatten. Akademiker und Kreative der Güteklasse B, zu angeschlagen für das Großstadtsortiment. Gesellschaftliche Ladenhüter, die auf dem Bauernmarkt noch einmal durchstarten wollten.« (Hansen 2015: 91f.)
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den eigenen anthropologischen Wurzeln und kosmischen Abläufen.13 Der Roman verweist dabei beständig auf den Charakter der Inszenierung und Künstlichkeit des Natürlichen. Ein Gespräch zwischen dem Bürgermeister und einem Marketingexperten über eine Werbebroschüre offenbart dies:14 »Das Seeufer neu zu gestalten war eine gute Entscheidung, sagte Herr Tobisch. Sieht jetzt viel gepflegter aus, und doch naturbelassen. Die Menschen wollen Natur, aber sie wollen keine Wildnis. Sie wollen Abgeschiedenheit, aber sie wollen doch auch Annehmlichkeiten wie Imbisse, saubere Toiletten und Duschen. Sie wollen, wenn ich so sagen darf, einen gestrafften Busen der Natur. Und das Idyllische dieses Fotos wird noch verstärkt durch den Hochsitz da im Hintergrund. Das würde ich Ihnen überhaupt empfehlen: da und dort noch solche Hochsitze aufzustellen. Denn der Tourist weiß, wo ein Hochsitz ist, da kann man jederzeit mit Tieren rechnen. Er sieht diesen Hochsitz auf dem Foto und stellt sich vor: ein Rudel Rehe bricht aus dem Wald und beginnt auf dieser Wiese zu äsen. Ich glaube sie verstehen jetzt das Gestaltungskonzept dieses Prospekts. Die Unique Selling Proposition, wie wir sagen, von Komprechts ist nicht der Ort selbst, sondern das, was ihn umgibt: Der Waldgürtel und der See. Natur, Natur, Natur. Sie werden sehen, das Konzept wirkt. Bald werden die Touristen in Rudeln kommen.« (Ebd.: 139f.)
Die Touristen kommen allerdings dann doch nicht; das Vorhaben scheitert. Es steht jedoch stellvertretend für die intensive Auseinandersetzung der neueren Dorfge-
13 So schreibt etwa die Mutter des Protagonisten: »ich bin eine Heimkehrende, weil ich zurückkehre zu den Grundlagen allen menschlichen Daseins – zu einem sinnvollen und gesunden Leben in Übereinstimmung mit dem natürlichen Kreislauf der Natur.« (Menasse 1995: 40, Hervorhebung im Original) Angelockt wird sie vor allem von bunten Bildern und Slogans, die ihr eine spezifische Deutung des vorgefundenen Raums vermitteln: »Aber der heruntergekommene, in der Substanz leidlich gut erhaltene Dreikanthof sah in ihren Augen so heimelig aus wie die Illustrationen in dem Buch DAS GROßE BUCH VOM LEBEN AUF DEM LANDE, in dem sie jeden Tag blätterte.« (Ebd.: 43) Dabei kann das angesprochene Buch von John Seymour – im Untertitel: EIN PRAKTISCHES HANDBUCH FÜR REALISTEN UND TRÄUMER – auch als das Evergreen unter den Landratgebern gelten. Erstmals 1976 unter dem durchaus anders lautenden Originaltitel THE COMPLETE BOOK OF
SELF-SUFFICIENCY (dt. 1978) erschienen, wurde es in seiner deutschen Übersetzung
bereits nach einem Jahr in seiner siebten Auflage vertrieben; aktuell hat es (inklusive Lizenzausgaben) bereits über zwanzig Auflagen erreicht. 14 Dabei steht diese Broschüre im Kontext einer ganzen Kampagne, mit der das Dorf auf Tourismusmessen und via »Direct-Mailing« (Menasse 1995: 140) ebenso beworben werden soll wie durch die Teilnahme an der »Wahl des europäischen Umweltdorfs des Jahres« (ebd.).
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schichten mit den Bildern des Ländlichen, die insbesondere ›von außen‹ an es herangetragen werden.15 Während der Touristenboom im Roman Menasses ausbleibt, wird er in EIN GANZES LEBEN von Robert Seethaler zum treibenden Element der Modernisierung des ländlich-alpinen Raums.16 Durch den Bau einer Seilbahn verändert sich hier, die erzählte Zeit des Romans umspannt fast das gesamte 20. Jahrhundert, das Leben im Tal ganz grundsätzlich. Diese steht, neben dem Zweiten Weltkrieg, sinnbildlich für den Einbruch der Moderne und der mit ihr einhergehenden Umwälzung der Lebensverhältnisse:
15 So spielt bspw. Klaus Modicks in Worpswede angesiedelter Künstlerroman KONZERT OHNE
DICHTER (2015) genau zu jener Zeit um die Jahrhundertwende, als sich die
Landsehnsucht im Gefolge der verschiedenen Lebensreformbewegungen gesellschaftlich immer stärker ausweitet – und verweist dabei im Modus der rhetorischen Frage zugleich auf die Bedingungen, unter denen eben jene kompensatorischen Bilder produziert und rezipiert werden: »Wann entpuppt sich die Romantik ländlicher Künstlerkolonien wie Barbizon oder Worpswede als arrangierte Künstlichkeit, als lukrativer Mummenschanz fürs zahlungskräftige Publikum, das sich nach Natürlichkeit und Wahrheit des Landlebens sehnt, aber in Städten wohnt?« (Modick 2015: 82) Gerade auch das satirisch angelegte Portrait Rainer Maria Rilkes – der immer wieder auch »über das Land an sich« (ebd.) spricht und »den Glauben an das einfache Leben« (ebd.: 125) inszeniert – verstärkt den Charakter der Künstlichkeit des Ländlichen, das nicht zuletzt auch aus Distinktionsgründen von Künstlern zelebriert wird. 16 Bemerkenswerterweise finden sich in den neueren Dorfgeschichten häufig Auseinandersetzungen mit den Auswirkungen touristischer Nutzung auf den ländlichen Raum; neben den Texten Menasses und Seethalers ist hier u.a. auch Dörte Hansens bereits erwähnter Roman ALTES LAND und Saša Stanišiüs Erzählung FALLENSTELLER (2016) zu nennen, die sich dem Phänomen mit (selbst-)ironischen und satirischen Mitteln nähern. F.C. Delius’ DIE BIRNEN VON RIBBECK (1991) bringt eine umfassende Kritik zum Ausdruck und kann auch als eine Art Abrechnung mit dem (nach der Wende wieder neu einsetzenden) Kult um die durch Fontanes Ballade bekannt und berühmt gewordene Sage vom Ribbeckschen Birnbaum gelesen werden: »die Brennerei neu eröffnet, Gaststätten rund um die Uhr und für jeden Geschmack bis zum Ribbecker Bauernfrühstück, Birnbaummuseum, Filzpantoffeln im Schloß, Erholungspark, ganz Ribbeck lebt von der Birne, Touristen kaufen Birnen zum Mitnahmepreis, Exportschlager Ribbecker Birnengeist mit und ohne Birne in der Flasche, Aschenbecher, Hemden, Birnenmotiv überall« (Delius 1991: 41). In Jan Brandts GEGEN DIE WELT kommt es, insofern das Dorf aufgrund außergewöhnlicher Ereignisse (der vermeintlichen Landung von Außerirdischen einerseits und dem Auftauchen von Hakenkreuzen andererseits) immer wieder mal medial in die Schlagzeilen gerät, zu touristischen Schüben, die kurzzeitig Ausnahmezustände erzeugen.
94 | M ARC W EILAND »Der Bürgermeister war nun kein Nazi mehr, statt Hakenkreuzfähnchen hingen wieder Geranien vor den Fenstern und auch sonst hatte sich viel verändert im Dorf. Die Straße war breiter geworden. Mehrmals täglich und oft sogar in kurzen Abständen knatterten Motoren heran, und immer seltener waren es die stinkenden und rauchenden Dieselungetüme der alten Lastwagen. In allen Farben glänzende Automobile kamen durch den Taleingang herangesaust und spuckten auf dem Dorfplatz Ausflügler, Wanderer und Skifahrer aus. Viele der Bauern vermieteten Fremdenzimmer und aus den meisten Ställen waren die Hühner und Schweine verschwunden.« (Seethaler 2014: 97)
Mit den rapide steigenden Bewohner- und Besucherzahlen ändern sich sowohl die räumlichen Strukturen von Dorf (es entstehen u.a. Ferienzentrum, Hallenbad und Kurgarten) und Landschaft (die sich ändernde Geräuschkulisse zeugt davon) als auch die individuellen und familiären Lebensentwürfe (aus Bauern werden Unternehmer). Gerade die Vorstellungen vom guten, naturnahen und mit sich selbst identischen Leben abseits des Städtischen sind es, die – das zeigen u.a. auch die Romane von Menasse und Hansen – die Prozesse der Urbanisierung und Modernisierung des ländlichen Raumes gnadenlos vorantreiben. Der Ausbau von Verkehrs- und Kommunikationsnetzen erschließt und entwickelt den ländlich-alpinen Raum und lässt im Zuge dieser raumgreifenden Modernisierungsmaßnahmen »asymmetrische Kontaktszenen« (Neumann/Twellmann 2014b: 483) zwischen expandierenden und zurückgedrängten Ordnungen entstehen.17 Die Beschreibung und Reflexion dieser
17 Der Roman Seethalers erzählt hier, das ist (wie auch bei Kaiser) dem Topos der Abgeschiedenheit des Dorfes in den Bergen geschuldet, die Modernisierung im Vergleich zu den klassischen Dorfgeschichten in quasi zeitversetzter Weise. Während die klassischen Dorfgeschichten seit Mitte des 19. Jahrhunderts von Industrialisierung und Beschleunigung, Nationalstaatsbildung und Bürokratisierung, Urbanisierung und Zentralisierung sowie politischen und kulturellen Neuordnungen berichten (Hein 1976, Baur 1978, Wild 2011), setzen die damit einhergehenden Prozesse im alpinen Dorf erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Es entsteht so auch auf der literarischen Landkarte der Dorfgeschichten ein Europa der Ungleichzeitigkeiten. Mit Blick auf die klassischen Dorfgeschichten sprechen Neumann/Twellmann (2014b: 490) daher auch davon, dass diese »ein alternatives Archiv der Modernisierungsgeschichte des 19. Jahrhunderts« bilden; was schließlich auch für das daran anschließende Jahrhundert mitsamt seinen verschiedenartigen Transformationsprozessen gelten kann. Denn: »Wie keine andere Gattung gibt die Dorfgeschichte«, so Neumann/Twellmann (2014a: 41f.) »Auskunft über die historische Wahrnehmung dieser Prozesse aus lokaler Perspektive«. Im Roman Seethalers wird die Modernisierung dabei aus der subjektiven Perspektive, wiewohl vom Protagonisten selbst mitgetragen, zur anonymen und unaufhaltsamen – nahezu erhabenen (siehe Seethaler
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asymmetrischen Kontaktszenen, zu denen auch das Aufeinandertreffen von Stadtund Landbewohnern gehört, kennzeichnet die literarischen Dorfgeschichten seit ihrer europaweiten Entstehung im 19. Jahrhundert. Sie können als Reaktionen auf kontinuierlich verlaufende oder abrupt einsetzende Transformationsprozesse verstanden werden.
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Diese Transformationsprozesse sowie die mit ihnen einhergehenden asymmetrischen Kontaktszenen werden auch von den neueren Dorfgeschichten aufgenommen und bearbeitet. So schildern die literarischen Dorfbestseller der Gegenwart (z.B. die Romane von Dörte Hansen, Saša Stanišiü und Juli Zeh) allesamt Krisenerfahrungen. Sie lassen sich, wie auch ihre literaturhistorischen Vorgänger, als Geschichten individueller und kollektiver Umbruchssituationen und Bewältigungsversuche vor dem Hintergrund sozialer, ökonomischer, technischer, kultureller und politischer Transformationen verstehen. Dabei sprechen sie, etwas holzschnittartig unterschieden, drei verschiedene Formen von Transformationen und Krisen in ihren lokalen Auswirkungen an. Zum Ersten sind es plötzlich über das Dorf hereinbrechende Umbrüche und Veränderungen, in denen sich zumeist überregionale/globale und regionale/lokale Geschehenszusammenhänge ineinander verschränken. In F.C. Delius’ DIE BIRNEN VON RIBBECK ist es die politische Wende, die den Erzählanlass bildet und zu einer aus lokaler Perspektive gehaltenen Schilderung der veränderten Situation des ländlichen Raums im Osten Deutschlands nach der Wiedervereinigung führt.18 In Robert Menasses SCHUBUMKEHR findet der Umbruch in dem an der österreichischtschechoslowakischen Grenze gelegenen Dorf bereits im Vorfeld der Grenzöffnung
2014: 58) und zugleich Gewalt, Schmerz und Tod verursachenden (siehe ebd. 57) – Macht, »die sich unaufhaltsam ihren Weg durch Wälder und Berge bahnte« (ebd.: 61). 18 Wobei diese Schilderung, im Zustand einer zunehmenden Erregung des Erzählers gehalten, in den zeitgenössischen Rezensionen häufig auch als deutlich zu negativ gehaltene Anklage verstanden wurde (Durzak 1997: 189); beschreibt sie doch die Wiedervereinigung als rücksichtslose Inbesitznahme des ländlichen Raumes durch den westlichen Kapitalismus. Dabei äußerte Delius in einem Interview, dass die Erzählung auf einem persönlichen Erlebnis, einem zufälligen Treffen mit einem erzählfreudigen Bauern in Ribbeck, basiere, das ihm Motiv, Schauplatz und Perspektive vermittelt habe (Bullivant 1997: 231).
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statt;19 denn die Gemeinde steht deswegen kurz vor dem Bankrott, weil die beiden Hauptarbeitgeber, eine Glasfabrik und ein Steinbruch, abgewickelt werden. »Diese Gemeinde, in der alles, so wie es war, wie für die Ewigkeit gemacht schien, so wie der Granit, von dem sie hier gelebt hatten, hieß auf einmal strukturschwach.« (Menasse 1995: 58, Hervorhebung im Original) In Annika Scheffels Roman BEVOR ALLES VERSCHWINDET (2013) ist es der Bau eines Staudamms und die damit verbundene Entstehung eines Naherholungsgebiets, die das Dorf schließlich in radikalster Weise verändern: Es wird devastiert. Das Dörfliche ist dabei, nimmt man die verschiedenen Texte zusammen, von zwei Seiten mit der Gefahr des eigenen Verschwindens konfrontiert. Wiewohl sie häufig auch im Kontext längerfristiger Veränderungsprozesse steht, bricht sie doch, insofern diese Prozesse ausgeblendet oder gar nicht wahrgenommen werden (können), plötzlich über die Protagonisten und Erzähler herein.20 Einerseits sind es unter anderem die infrastrukturellen und demografischen Entwicklungen, die die Imagination der Entleerung erzeugen. »Schwer zu glauben, wie dünn besiedelt die Gegend war. Die Anzeichen menschlicher Zivilisation waren so selten, dass jeder Strommast auffiel«, heißt es etwa in UNTERLEUTEN (Zeh 2016: 54). Dementsprechend wird vor allem der Mangel fokussiert und dasjenige hervorgehoben, was das Dorf aus einer bestimmten (urban geprägten) Perspektive nicht hat: »Im Dorf gab es keine Geschäfte, keinen Arzt, keinen Pfarrer, keine Post, keine Apotheke, keine Schule, keinen Bahnhof – es gab nicht einmal Kanalisation« (ebd.: 217). Andererseits ist es aber auch die zunehmende Modernisierung ländlicher Lebenswelten, die traditionelle Lebensweisen überformt und dabei mit einer Verlusterfahrung belegt wird. Beispielhaft hierfür sind unter anderem die Beschreibungen der zunehmenden Technisierung der Landwirtschaft. EINE DORFGESCHICHTE etwa berichtet nahezu nebenbei von einem Modernisierungszwang, dem die Bauern ausgeliefert waren, so sie überleben und nicht etwa in einer Fabrik arbeiten wollten (Hacker 2011: 41).21 Nach wie vor, so
19 Es sei nur am Rande erwähnt, dass dieser politische Umbruch von der Dorffeuerwehr Komprechts vorweggenommen wird, durchbricht diese doch bereits im Februar 1989 in einer irregeleiteten Rettungsaktion unbemerkt und aus Versehen die Grenze. Dabei nimmt der Roman eine nahezu klassische Funktionalisierung des Dörflichen auf: Im Mikrokosmos Dorf zeichnen sich die makrokosmischen Entwicklungen ab. Der Eiserne Vorhang ist hier bereits löchrig. 20 Zu den Imaginationen verschwindender und verschwundener Dörfer und Landschaften in ihren geschichtlichen Hintergründen und ästhetischen Gestaltungen siehe ausführlich Ehrler/Weiland (2018). 21 »Andere haben große Stallungen, die kaum ein Mensch betreten muss, die Kühe tragen Sensoren, sie gehen alleine zu den Melkmaschinen, Computer messen ihnen ihr Futter zu und wie viel Kraftfutter dabei sein muss. Während früher jeder Hof Tiere hatte, gibt es
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zeigt sich hier, prägt das Spannungsverhältnis zwischen Beständigkeitswillen und Veränderungszwang die Gattung der Dorfgeschichte; wobei immer wieder vermeintlich statische Ausgangssituationen aufgebrochen werden.22 Zum Zweiten thematisieren die neueren Dorfgeschichten kontinuierliche Transformationen. Für diese entwicklungsgeschichtliche Perspektivierung finden sich in der neueren Literatur einige Beispiele. So schildern der bereits angesprochene Roman von Seethaler ebenso wie auch F.C. Delius’ DIE BIRNEN VON RIBBECK, Jenny Erpenbecks HEIMSUCHUNG oder Regina Scheers MACHANDEL die strukturellen Veränderungen ländlicher Lebenswelten, die mit den verschiedenen historischen Entwicklungen des gesamten 20. Jahrhunderts einhergehen. Insbesondere der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts widmen sich die auf mehrere Bände angelegten autobiografischen Großprojekte ORTSUMGEHUNG von Andreas Maier und DAS ALTE JAHRHUNDERT von Peter Kurzeck. Eine der wohl ausführlichsten und detailliertesten Beschreibung des kontinuierlichen Wandels, der sowohl die räumlichen als auch sozialen Strukturen betrifft, hat Jan Brandt mit seinem Adoleszenzroman GEGEN DIE WELT vorgelegt. Dieser erzählt vom Heranwachsen einer Gruppe Jugendlicher im ländlichen Ostfriesland in den 1980er und 1990er Jahren und berichtet dabei auch vom Niedergang der Drogistenfamilie Kuper im Kampf gegen eine Schlecker-Filiale. Die Globalisierung23 dringt im Roman bis in die hintersten
jetzt nur noch sechs oder sieben Bauern im Dorf, ein paar Hasen, ein paar Hühner, ein paar Pferde, aber keine Schweine, keine Schafe. Ziegen gab es nie. An vielen Häusern wird gebaut.« (Hacker 2011: 119) 22 Wild (2011: 209ff.) spricht hierbei mit Blick auf die Dorfgeschichten des 19. Jahrhunderts von drei Formen des Traditionsbruchs, die in den Erzählungen gestaltet werden: einem Traditionsbruch von innen (hervorgerufen von einer Außenseiterfigur, die die dörfliche Ordnung jedoch letztlich nicht verändert, sondern vielmehr das Dorf verlässt, wodurch die anfängliche Statik wiederhergestellt wird); einem Traditionsbruch von außen (hervorgerufen durch fremden Zuzug ins Dorf, der bestenfalls zur gegenseitige ›Erziehung‹ und damit zur Fortentwicklung der dörflichen Gemeinschaft wie auch des städtisch geprägten Fremden führt – oder aber zur Konfrontation dörflicher Ordnung und städtischer Einflussnahme); und schließlich der Darstellung innerfamiliärer Konflikte bei Ausblendung der Dorfgemeinschaft (wobei sich die Erzählung auf ein einziges Haus im Dorf konzentriert und dabei den Konflikt zwischen individueller Freiheit und Unterordnung in der Gemeinschaft thematisiert). Die handlungstragenden Konflikte werden dabei, so Wild, aus dem »Zusammenprall von Tradition und Fortschritt entwickelt« (ebd.: 210). 23 Dass das Geschehen und die Besitzverhältnisse im Dorf eingebunden sind in globale Wirtschaftskreisläufe, wird ebenfalls von mehreren neuen Dorfgeschichten konstatiert. In UNTERLEUTEN ist es ein Unternehmensberater aus Ingolstadt, der größere Flächen Land gekauft hat; schließlich koste »ein Quadratmeter Land im Umkreis von Berlin nicht mehr
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Ecken der schon modernisierten Provinz. Bereits zu Beginn des Romans wurden umfassende Modernisierungsmaßnahmen vollzogen, die das Dorf in eine »Epoche des Lichts« (Brandt 2012: 24) eintreten ließen und auch aktuell die Baubranche boomen lassen: Die Dorfstraßen sind asphaltiert und mit Zierahorn bepflanzt, aus der Dorfkneipe an der Bundesstraße wurde der Club 69, die Bauern haben ihren Betrieb aufgegeben und vermieten Ferienwohnungen, und auch die Drogerie hat angebaut. Dabei können die Dorfbewohner zwar einerseits dem Konsum vorbehaltlos frönen und ein mehr oder minder ereignisloses Leben führen, doch werden andererseits im Verlauf der Handlung die mittelständischen Betriebe von Großbetrieben und Handelsketten verdrängt. Das traditionelle Dorfleben löst sich zunehmend und unbemerkt auf. Die Drogerie wird dabei nicht zufällig zum Ort des Geschehens; sie symbolisiert einerseits die dem Dörflichen auch klassischerweise zugeschriebenen Eigenschaften der Kontrolle und Überwachung24 und fungiert andererseits als eine Art Sonde, mit der sich das Sozialleben innerhalb des fiktiven Dorfes Jericho beschreiben lässt. Ihr Verschwinden steht dabei stellvertretend für das Verschwinden auch anderer dörflicher Institutionen25 und Verhaltensmuster im mittlerweile suburbanisierten Dorf: »Dort, wo vor zwanzig Jahren noch Kühe weideten, stehen jetzt Einfamilienhäuser. Kinder hüpfen auf umnetzten Trampolinen auf und ab, […] Männer stutzen mit lauten Maschinen Rasen und Hecken, um die Nachbarn dazu zu animieren, es ihnen gleich zu tun, und Frauen pflanzen, die Arme bis zu den Ellbogen in Plastikhandschuhen geschoben, Samen und Knol-
[…] als ein Vitalbrötchen beim Bäcker.« (Zeh 2016: 52) Ebensolche Verhältnisse finden sich auch in Saša Stanišiüs Fürstenfelde: »Gebäude und Grundstück hat jemand aus Dortmund oder Darmstadt für Kleingeld ersteigert.« (Stanišiü 2014: 88) 24 So sagt Brandt in einem Interview: »Die Drogerie war bis in die 90er-Jahre hinein eine Art protestantischer Beichtstuhl. Nirgendwo sonst kam das Wesen eines Dorfes – die soziale Kontrolle – besser zum Ausdruck als dort. Die Leute kauften beim Drogisten die intimsten Dinge und gaben so nebenbei viel von ihrem Privatleben preis. Der Drogist wusste nicht nur, was die Bewohner im Urlaub gemacht hatten (schließlich entwickelte er ihre Fotos), sondern auch, wer Sex hatte (wenn sie bei ihm Kondome kauften) und wer schwanger war (Folsäure, Kräuterblut etc.). Deshalb handelt ›Gegen die Welt‹ auch von der Drogistenfamilie Kuper, von ihrem Aufstieg und Fall und ihrem verzweifelten Kampf gegen die Invasion von Schlecker.« (Herrmann 2011) 25 »Das Friesenhuus – abgerissen, Schulz’ Schmiede – abgerissen, die Molkerei – abgerissen, Schuh Schröder – abgerissen, Polsterei Tinnemeyer – abgerissen, Fahrrad Oltmanns – abgerissen, abgerissen, abgerissen. An ihre Stelle sind uniforme Zweckbauten getreten, die ALDI, LIDL, KIK und EDEKA (inklusive einer Filiale der Deutschen Post) beherbergen.« (Brandt 2012: 869)
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len ein. Ein Garten grenzt an den anderen, eine Spielstraße geht in die andere über […]. Wie ein Geschwür wachsen sie von allen Seiten auf den alten Ortskern zu und schneiden ihm die Luft ab.« (Brandt 2012: 868)
Jericho erscheint als ein Hybrid aus städtischen und ländlichen Lebensstilen und Raumstrukturen. An ihm lässt sich die zunehmend quantitative wie auch qualitative Nivellierung des Stadt-Land-Gegensatzes ablesen,26 die in den raumbezogenen Wissenschaften mit Begriffen wie ›Stadt-Land-Kontinuum‹, ›Zwischenstadt‹, ›Stadtland‹ oder ›urbane Landschaft‹ gefasst wird (vgl. Langner 2014). Demzufolge finden sich sowohl ›urbane‹ Lebensweisen auf dem Land als auch ›rurale‹ Lebensweisen in der Stadt. Insofern die Protagonisten der neueren Dorfgeschichten zumeist Figuren sind, die sich zwischen Stadt und Land bewegen27 und in ihren Bewegungen beschrieben werden, lässt sich diese Verschränkung auch an beiden Orten, in der Stadt wie auf dem Land, nachvollziehen. Im Roman Brandts etwa erscheint das Dorf als internalisiertes Zwangssystem, das auch außerhalb der sich ohnehin auflösenden Grenzen des Dörflichen wirkt und dem nicht zu entkommen ist. Ganz folgerichtig muss der Protagonist Daniel Kuper konstatieren: »Das Dorf war überall« (ebd. 37). Als stellvertretendes Motto kann daher auch ein Satz aus Katharina Hackers EINE DORFGESCHICHTE gelten. In dieser wird die Erzählerin von einer Nachbarin darauf angesprochen, dass sie hier auf dem Dorf doch sicherlich gut schreiben könne, insbesondere vielleicht auch, so die Nachbarin, »Dorfge-
26 Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit Theorien und Untersuchungen, die für und gegen diese Nivellierung sprechen, siehe Kersting/Zimmermann (2015). 27 Auch hier finden sich wieder Anknüpfungspunkte zu den klassischen Dorfgeschichten, die immer wieder von Vermittlerfiguren berichten, die als »broker« zwischen lokalen und translokalen, alten und neuen Ordnungen und Entwicklungen übersetzen und dabei in spezifisch
verschränkter
Weise
einerseits
als
»Agenten
des
Wandels«
(Neumann/Twellmann 2014a: 42) und andererseits als Fürsprecher der lokalen Verhältnisse (Neumann/Twellmann 2014b: 480) in Erscheinung treten. Dabei gilt dies nicht nur für die literarischen Figuren und Erzähler, sondern mitunter auch für die Autoren (Twellmann 2015: 81f.). Die Existenz solcher Vermittlerfiguren, sowohl hinsichtlich der literarischen Figuren als auch der Autoren, ist auch bei den neueren Dorfgeschichten zu beobachten; häufig haben deren Autor/innen auch eine biografische Vergangenheit oder Gegenwart im ländlichen Raum (u.a. Jan Brandt, F.C. Delius, Katharina Hacker, Dörte Hansen, Moritz Rinke, Juli Zeh). Allerdings ist hier, das wäre weiter zu konkretisieren, im jeweiligen Verhältnis der literarischen Subjekte zu den sie umgebenden sozialen Räumen auch zu bemerken, dass sie sich zwar zwischen verschiedenen Ordnungen bewegen, hierbei jedoch größtenteils den Wandel nicht mehr selbst mit anschieben, sondern ihm allzu häufig erliegen oder aber passiv bleiben.
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schichten« (Hacker 2011: 55). Die Erzählerin erwidert: »Dorfgeschichten gibt es auch in Berlin« (ebd.). So finden sich dann auch in den Texten immer wieder Beschreibungen eines dörflich strukturierten Lebens in der Stadt, bspw. in den Romanen von Brandt oder Hansen. Bei letzterer ist es der Hamburger Stadtteil Blankenese, der als hippes urbanes Dorf dargestellt wird, in dem jeder jeden kennt und alle denselben ökologisch bewussten Lebensstil pflegen. Das Konzept der dörflichen Gemeinschaft expandiert in die Stadt. Zum Dritten schließlich wird das Dorf immer wieder auch als Ort beschrieben, der sich nahezu beständig durch die Zeiten hindurch mit Umbrüchen jedweder Art auseinanderzusetzen hat und zu dessen Existenz die Krise in konstitutiver Weise dazugehört. Damit verbunden ist auch eine Stilisierung des dörflichen Kosmos zu einer universellen Lebensform. Die aktuellen demografischen und soziostrukturellen Entwicklungen stehen dabei in einer langen Reihe immer wieder hereinbrechender Umbrüche und Transformationen, gegen die sich das Dorf, sei es durch Anpassung oder Widerstand, zu behaupten hatte und mitunter auch behaupten konnte. So werden etwa in VOR DEM FEST (2014) von Saša Stanišiü bereits zu Beginn der Handlung die gegenwärtigen Problemlagen (Abwanderung, Überalterung, Perspektivlosigkeit, Rückbau von Infrastruktur) angesprochen und ins Verhältnis zu den großen historischen (Krankheiten, Kriege, Hungersnöte) und immerwährenden (Leben und Sterben) Krisen gesetzt: »Es gehen mehr tot, als geboren werden. Wir hören die Alten vereinsamen. Sehen den Jungen beim Schmieden zu von keinem Plan. Oder vom Plan, wegzugehen. Im Frühling haben wir den Stundentakt vom 419er eingebüßt. Die Leute sagen, ein paar Generationen noch, länger geht das hier nicht. Wir glauben: es wird gehen. Es ist immer irgendwie gegangen. Pest und Krieg, Seuche und Hungersnot, Leben und Sterben haben wir überlebt. Irgendwie wird es gehen.« (Stanišiü 2014: 12)
Die Darstellungen plötzlich stattfindender Umbrüche, kontinuierlich verlaufender Transformationen oder aber immerwährender Krisenhaftigkeit verwenden dabei allesamt das Dörfliche als narratives Reduktionsmodell, das alle drei Formen anschaulich macht. Das Dorf wird daher häufig auch zum bevorzugten Ort einer literarischen Mikrogeschichtsschreibung.28 In ihm spiegeln sich die jeweiligen historischen Zäsuren und Veränderungen. Auf einer horizontalen Ebene bringt es
28 So fungiert etwa auch das Dorf Ribbeck in Delius’ Erzählung als Chronotopos, an dem, erzählerisch verdichtet, zentrale Epochen der deutschen Geschichte zusammengeführt (Dudzak 1997: 187) und dabei durch die Zeit hindurch wiederkehrende Konfliktfelder – »Herrschaft und Knechtschaft, Ausbeutung und Unterdrückung, Anpassung und Widerstand« (Fischer 1997: 62) – sichtbar gemacht werden können.
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dabei verschiedene gesellschaftliche Perspektivierungen und Stimmungslagen zum Ausdruck; so fällt in den neueren Dorfgeschichten insbesondere das umfangreiche Figurenensemble und die Vielzahl der Protagonisten auf, z.B. in den Texten von Brandt, Kaiser, Stanišiü und Zeh. Verbunden damit ist eine Vielzahl von Deutungen und Gestaltungen der Geschehnisse. Im Dorf treffen unterschiedliche Lebensentwürfe und Lebenswelten aufeinander, die in ihrer Diversität zur Anschauung gebracht werden. Es ist dadurch als vielstimmiges und heterogenes Gebilde gekennzeichnet, das gerade durch diese Heterogenität zum Ort von Auseinandersetzungen wird und beständig Konflikte und Krisen erzeugt; wie nicht zuletzt Juli Zehs UNTERLEUTEN in der Darstellung der Kontinuitätslinien zwischen den alten Konflikten im Umfeld der sozialistischen Bodenreform hin zu den neuen Konflikten um den Bau von Windkrafträdern zeigt. Das Dorf erscheint dadurch – anders als es die jeweils auf Ganzheiten abzielenden Perspektivierungen von außen oder von innen suggerieren – nicht etwa als einheitliches Gebilde, sondern als »Zweckgemeinschaft von Einzelkämpfern« (Zeh 2016: 108), in der sozialer Frieden immer wieder ausgehandelt werden muss und jederzeit kippen kann. Auf einer vertikalen Ebene setzt das Reduktionsmodell Dorf die aktuellen Geschehnisse ins Verhältnis zu den historischen Entwicklungen und macht somit geschichtliche Kontinuitäten und Veränderungen anschaulich. So heißt es etwa angesichts der anstehenden Devastierung des Dorfs in BEVOR ALLES VERSCHWINDET: »hier wird Geschichte geschrieben, hier gibt es einen Umbruch im übersichtlichen Kleinformat« (Scheffel 2013: 327).
K ONZEPTIONEN
LANGER D AUER UND EIGENGESETZLICHER R ÄUME Kontrastiert werden diese Szenarien des Umbruchs, der Transformation und der Krise mit Konzeptionen einer langen Dauer. Das Dorf erscheint in der älteren wie auch neueren Literatur als Ort der Beständigkeit: »Hier ist immer alles gleich oder ändert sich langsam.« (Stanišiü 2014: 132) Häufig sind es dabei einzelne materielle Objekte und Rudimente innerhalb des dörflichen Raums, die überdauern und an denen sich die Spuren der Zeit ablesen lassen.29 Zu den Imaginationen langer Dauer
29 So spielt bspw. das Haus der Protagonisten in den Romanen von Erpenbeck, Hansen und Scheer eine zentrale Rolle. Einerseits wird es in allen drei Romanen zur Chiffre der Beständigkeit; zu einem, wie es bei Hansen heißt, »Koloss, der seit fast dreihundert Jahren breitbeinig auf seinem Marschboden stand« (Hansen 2015: 48). Andererseits bieten die Häuser, alle drei Romane schildern auch Flüchtlingsgeschichten, den Anschein einer Zuflucht vor privaten (Hansen) oder politischen Krisen: »dieses Haus, das spürten wir,
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gehören darüber hinaus aber auch verschiedene mystische und metaphysische Elemente, die sich in den neueren Dorfgeschichten finden lassen. Dies betrifft einerseits Stoffe und Motive, anhand derer die gegenwärtigen Geschehnisse in der erzählten Welt gedeutet werden, und andererseits märchenhafte und der Zeit enthobene Figuren, die trotz aller äußeren Veränderungen die Zeit überdauern und mitunter aktiv in das Geschehen eingreifen.30 Sagen, Legenden und Mythen spielen in den neueren Dorfgeschichten eine wichtige Rolle und werden als konstitutiver Teil der ländlichen Lebenswelten dargestellt. Mit ihnen wird eine Kontinuitätslinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt; so z.B. in den Texten von Menasse, Scheer und Stanišiü. Dabei dienen sie nicht nur den Lesern, sondern auch den literarischen Figuren als Deutungs- und Orientierungsmuster, die universelle und überzeitliche Geltung beanspruchen: »Das Märchen vom Machandelboom ist älter als alle Losungen und wird sie überdauern«, äußert eine der Figuren im Roman von Regina Scheer (2014: 86) und stellt es damit in Gegensatz zur politischen Situation in der DDR. Daher fungiert das Märchen in der erzählten Wirklichkeit nicht etwa nur als Fluchtpunkt, der einen kurzzeitigen Ausbruch oder Ausgleich ermöglicht. Es leitet vielmehr das Wahrnehmen, Denken und Handeln der Figuren an: »Inmitten der absurden und widersprüchlichen Ereignisse um uns herum vertiefte ich mich in die mythologische und linguistische Vieldeutigkeit des Märchens, in der ich jedoch die Beschreibung eben jener Ereignisse fand, denen ich für Stunden zu entkommen versucht hatte, und ich fand die Motive des Märchens in der Realität, wenn ich aus meiner Arbeit wieder auftauchte.« (Scheer 2014: 261)
Dabei greifen die Mythen immer wieder auch metaleptisch in die erzählte Wirklichkeit ein und sorgen dafür, dass der mitunter (trotz aller tatsächlich vorhandenen Verbindungen mit dem Städtischen) als abgeschlossen imaginierte Raum des Dörflichen als eigenartige Form der Realität erscheint. In ihm finden sich immer wieder magische Elemente als realistisch erzählte alltägliche Phänomene. »Was auch immer du über uns gehört hast, das nicht von uns selbst kommt, stimmt so nicht. Hier geht es anders zu als in den Touristenführern, in den Büchern, in den demografischen
würde unser Zufluchtsort werden, hier würde es das nicht geben, was uns in Berlin oft so wütend und ratlos machte.« (Scheer 2014: 17) 30 Die imaginäre Topografie des Dörflichen und Ländlichen, das stellte bereits Norbert Mecklenburg (1982: 170) in seiner Studie zur erzählten Provinz fest, integriert kosmische Räume und Abläufe ebenso wie archetypische Figuren und Handlungen in ein realistisches Alltagsgeschehen.
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Studien. Wenn bei uns irgendwo ein Fenster eingeschlagen wird und offen steht, dann haben wir mehr Angst vor dem, was entkommen sein könnte, als vor dem, der vielleicht eingestiegen ist.« (Stanišiü 2014: 163)
Das Zitat spielt dabei auf ein zerbrochenes Fenster im Heimatmuseum des Orts an, in dem auch die mit allerlei Legenden und Hinzudichtungen versehene (und in einem Tresorraum geschützte) Dorfchronik verwahrt wird. Es sind diese Geschichten, die im Laufe der Handlung entkommen und in personifizierter Gestalt auftreten. Fürstenfelde wird so zu einem magisch-realistischen Ort mit magischrealistischen Figuren. In VOR DEM FEST sind es die Figuren Q und Hendrik, die als gegenwärtige Versionen der beiden in der Dorfchronik immer wieder erwähnten gerechten Halunken Kuno und Hinnerk erscheinen; in FALLENSTELLER (2016), der Fortsetzung des Romans, ist es eben die Figur des Fallenstellers, die als überdauernde Gestalt ein magisches Element bildet und als solches auch die Naturgesetze außer Kraft zu setzen vermag: »Auf dem höchsten Punkt verharrte der Fallensteller in der Luft, länger als es für das Selbstbewusstsein der Gravitation gut gewesen wäre.« (Stanišiü 2016: 185)31 Solche mystischen und metaphysischen Figuren finden sich in einer Vielzahl der neueren Dorfgeschichten wieder.32 In Nis-Momme Stockmanns DER FUCHS (2016) wird das Dorf Thule, ebenfalls mythischer Ort, zum Schauplatz eines epischen und mehrere Jahrtausende gehenden endzeitlichen Kampfes zwischen den Göttern Tiamat, Abzu und Marduk, der die Existenz der gesamten Welt bestimmt. Das Dorf folgt, so zeigen es die neueren Dorfgeschichten, seiner eigenen Logik.
31 Überhaupt erscheint Fürstenfelde als Ort, an dem die alltäglichen Grenzziehungen – bspw. zwischen Mensch und Tier – aufgehoben werden. Damit werden den Lesern auch allerhand Skurrilitäten geboten. In FALLENSTELLER ist es etwa ein Keiler, der als karnevaleskes Element die alltägliche Ordnung dadurch zerrüttet, dass er plötzlich »in den Intershop reinspaziert« und sich »an einer Sechser-Packung neuseeländischer Äpfel« bedient (Stanišiü 2016: 216). Das nunmehr als »Intershop-Keiler« (ebd.: 218) bekannte Tier sorgt im Fortlauf der Handlung vor allem bei denjenigen für Unheil, die – zusammengerottet als »Taskforce ›Intershop-Keiler‹« (ebd.: 217) – Jagd auf es machen und wirkt dabei auch an der (Selbst-)Auflösung einer rigiden und in sich erstarrten Sozialstruktur mit, indem es deren Grundlagen des Zusammenhalts in ihrer Unzeitgemäßheit und ethischen Fragwürdigkeit entblöst und zugleich der Lächerlichkeit preisgibt. 32 In HEIMSUCHUNG ist es bspw. die Figur des Gärtners; in BEVOR ALLES VERSCHWINDET sind es geisterhafte Gestalten und ein blauer Fuchs. Wobei gegenwärtig insbesondere die Figur des Fuchses recht beliebt zu sein scheint, findet sie sich doch nicht nur in den Texten von Scheffel und Stanišiü, sondern verleiht auch dem Roman von Nis-Momme Stockmann (2016) seinen Titel.
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Mit dieser Eigenlogik ist der Topos einer eigenen und vor allem auch eigensinnigen Zeitlichkeit verbunden, die im Ländlichen herrscht und sich von den üblichen Abläufen abhebt. Auch hierfür finden sich mehrere Beispiele, die sowohl die jeweiligen Zeitdarstellungen als auch die Wahrnehmung der Zeit durch die Figuren betreffen. Stockmanns Roman etwa entwirft einen Ursprungsmythos und eine Apokalypse, thematisiert also sowohl den Anfang als auch das Ende der Zeit, und greift dabei auf Imagination des Dörflichen als eines Ortes zurück, der von einer vermeintlich eigensinnigen Zeit geprägt ist: »Es läuft hier in Thule nach eigenen Zyklen.« (Stockmann 2016: 641) Auch Stanišiüs Roman, der in der Rahmenhandlung von den Geschehnissen eines einzigen Tages berichtet, gestaltet dabei »eine eigenartige Zeit« (Stanišiü 2014: 31), in der die Zeitebenen miteinander verschwimmen.33 In EINE DORFGESCHICHTE erscheinen der Erzählerin in der erinnernden Rückschau die Sommer ihrer Kindheit auf dem Land als eine in sich zusammengezogene Einheit, die unabhängig von den üblichen Zeitläuften existiert: »Die Sommer gehörten allesamt zusammen, sie waren eine eigene Zeit, in denen der Ablauf der Jahre minder wichtig war« (Hacker 2011: 48). Diese ihm eigene Zeitlichkeit macht das Dörfliche nicht zuletzt auch für Erinnerungsdiskurse interessant.
E RINNERUNGEN
UND
V ERGANGENHEITEN
Es sind wohl vor allem drei Aspekte, die das Dörfliche gegenwärtig zu einem bevorzugten Ort der Vergangenheitserkundung werden lassen und die sich sowohl aus den aktuellen Zeitumständen als auch aus den narrativen Logiken der Dorfgeschichten ergeben. Zum Ersten ist es die Ästhetisierung des Dörflichen als eines eigensinnigen Ortes mit einer eigenartigen Zeit. Dazu gehört auch, dass die Spuren der Vergangenheit in ihm vermeintlich besser als im immer wieder als schnelllebig gekennzeichneten urbanen Raum konserviert werden und dementsprechend überhaupt erst wahrgenommen werden können. Im Dörflichen und Ländlichen lassen sich, so die Erzählerin in EINE DORFGESCHICHTE, »Erinnerungsbilder einer längst
33 Das Dorf Fürstenfelde erscheint hier als Chronotopos, der einerseits als »Speicher von Zeit« (Huber 2017: 158) fungiert und in dem andererseits, personifiziert durch die Erzählinstanz, verschiedene Zeitwahrnehmungen und -konzeptionen aufeinandertreffen, wodurch sich schließlich auch zeittheoretische Fragestellungen bearbeiten lassen (Detmers/Ostheimer 2016: 64-72). Dabei ist der Rahmen des festlichen Ereignisses nicht von ungefähr gewählt. Schließlich dient das Fest einerseits der »Vergegenwärtigung fundierender Vergangenheit« (Assmann 1997: 53) und bietet andererseits doch immer auch einen »Anlaß zur Erzählung von Mythen, Legenden, Genealogien und Abenteuern der Vorzeit« (Luhmann 1998: 644).
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verschwundenen Physis« (Hacker 2011: 108) finden. Denn es ist, zum Zweiten, auch die Deutung und Kennzeichnung des Dörflichen als durch verschiedene Transformationen und Umbrüche veränderter und von der Gefahr des Verschwindens bedrohter (mitunter auch schon verschwundener)34 Ort, der ein Erinnerungsbedürfnis erzeugt und damit zugleich die Möglichkeiten individueller wie sozialer Imagination anspricht. Aus diesem Grund sucht auch Hackers Erzählerin das Dorf ihrer Kindheit wieder auf.35 Dabei ist es, zum Dritten, schließlich die zunehmende Fokussierung auf Mittlerfiguren als Protagonisten, aus deren Perspektive erzählt wird bzw. die selber erzählen. Eine typische Konstellation in einer Vielzahl neuerer Dorfgeschichten ist die Rückkehr der Protagonisten und/oder Erzähler in das Heimatdorf nach einer mehr oder minder langen Zeit der Abwesenheit. Diese Wiederkehr evoziert eine Erkundung der eigenen Kindheit und fordert die Frage nach demjenigen, was sich verändert hat oder aber gleichgeblieben ist, nahezu heraus. Dadurch findet in den neueren Dorfgeschichten eine Verschiebung statt: Es geht in ihnen, so stellt auch Gansel (2014: 218f.) fest, nicht mehr primär um eine tätige Aneignung der Umwelt (bspw. durch Arbeit) oder aber die Konstituierung einer Gemeinschaft, sondern um die kognitive Aneignung eines einstmals verlassenen Raums im Akt des Erinnerns, der ein Wechselspiel zwischen Vergangenheit und Gegenwart hervorruft. Doch beschränken sich die Erinnerungen nicht einfach auf einen Bericht dessen, wie es (vermeintlich) einstmals gewesen sei. Es gelangen vielmehr immer wieder verdrängte Konflikte zum Vorschein, die in der Gegenwart einer Verarbeitung bedürfen; so z.B. in Moritz Rinkes DER MANN, DER DURCH DAS JAHRHUNDERT FIEL (2010), der durch die Rückkehr des Protagonisten in das Dorf Worpswede eine Auseinandersetzung mit der verdrängten Vergangenheit der eigenen Familie wie auch der bundesdeutschen Geschichte, mit Fokus auf die NSVergangenheit, initiiert (vgl. Canaris 2014). Die Vergangenheit ist im Dorf immer in spezifischer Weise präsent.36 Es wird dadurch zu einem paradigmatischen Erinnerungsort.
34 So fokussiert bspw. die erste und die letzte Szene in BEVOR ALLES VERSCHWINDET die Rückkehr der Protagonistin Jula an den See, dem ihr Heimatort weichen musste und in dem sie ihren Zwillingsbruder verloren hat. 35 »Meine Kinder haben ihre Urgroßeltern und Großeltern nicht mehr kennengelernt. Ich fuhr aber ins Dorf, als könnte ich sie dort antreffen, nach langer Zeit, ich fuhr, damit meine Töchter den Ort kennenlernen, an dem ich ein Kind gewesen war.« (Hacker 2011: 113) 36 So heißt es etwa auch in MACHANDEL: »die Vergangenheit, sie war da und jeder spürte sie« (Scheer 2014: 290). Über die älteren Dorfbewohnerinnen wird bereits zu Beginn des Romans konstatiert, dass sie mit Menschen lebten, »die nicht mehr da waren« (ebd.: 11); weshalb auch, das gelte gleichermaßen für die Protagonistin Clara, »das längst Vergan-
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Dabei geht es den neuen Dorfgeschichten nicht bloß um die Sichtbarmachung der (verlassenen oder verdrängten) Vergangenheit – also darum, zu konstatieren, dass ein zunächst noch Unbemerktes existiere –, sondern um zwei damit verbundene Prozesse: Einerseits um die Frage nach der Art und Weise, wie diese Vergangenheiten sichtbar werden und andererseits um eine eher universell angelegte Reflexion der Bedingungen und Probleme des Erinnerns und seiner Bedeutung für die Gegenwart. Katharina Hackers Erzählung verdeutlicht dies in anschaulicher Weise; die Spuren des Vergangenen finden sich hier sprichwörtlich hinter dem Idyllischen37: »Unter den Buschwindröschen oder zwischen Zweigen, Blättern, Steinen konnte man Helme und Patronenhülsen aus dem Krieg finden, weil in dem Waldstück Soldaten gekämpft hatten, gegen die anrückenden Amerikaner, die dann doch ersehnt waren, weil es im Dorf Flüchtlinge gab, Fahnenflüchtlinge, Deserteure, später dann andere Flüchtlinge« (Hacker 2011: 27).
Dabei ist jedoch auch die sprachliche Vorprägung des Gefundenen interessant, schließlich finden die Kinder das, was sie bisher »nur aus dem Gerede der Erwachsenen kannten, die letzten Spuren des Krieges« (ebd.: 98) – also dasjenige, was bisher latent unter der Oberfläche alltäglicher Kommunikation und ohne materielle Gestalt anwesend war. Die Aneignung der Vergangenheit durch die Kinder findet, so die Erinnerung der erwachsenen Erzählerin, in nahezu naiver Weise im Alltag statt; und zwar, auch dies macht einen Aspekt des Unheimlichen in dem Werk aus, im nachahmenden und nacherlebenden Spiel: »Wir spielten, dass wir hungern würden. Frederik hungerte manchmal tatsächlich, er aß nicht, zwei Tage lang oder länger, er zog die Backen ein, nahm den Leiterwagen aus dem Schuppen und spielte Flüchtlingszug, kleidete sich in Lumpen, er suchte die anderen Kinder aus dem Dorf, fand sie und nahm sie mit. Sie holten einen zweiten Wagen, zogen die Straße entlang aus dem Dorf und zwischen den Feldern, an den Wegstöcken verbeugten sie sich, schlugen das Kreuz oder sich selber mit einer Rute, sie zogen bis in den Wald und kamen nicht wieder.« (Ebd.: 23)
gene […] zu ihrer Gegenwart [gehörte]« (ebd.). In DIE BIRNEN VON RIBBECK spricht es der Erzähler ganz direkt an: »die Rätsel des Dorfs bleiben die schreienden Toten« (Delius 1991: 19) 37 Dabei handelt es sich um eine Konstellation, die immer wieder literarisch gestaltet wird; so z.B. auch in Maja Haderlaps ENGEL DES VERGESSENS (2011).
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Die immer wieder einsetzenden Reflexionen auf den Akt des Erinnerns38 verweisen dabei schließlich, formal auch angezeigt durch die fragmentarisierende und collageartige Erzählweise, auf die konstitutive Unschärfe und »Unzuverlässigkeit« (ebd.: 109) der Erinnerungsbilder. Sie verdeutlichen zudem die Unsicherheit, von der das Erinnern gekennzeichnet ist und die es zugleich im Gegenwartsbezug hervorruft. Das Erinnern ebenso wie das Erinnerte ist hierbei ambivalent; die Beziehung zum erinnerten dörflichen Raum wird gleichermaßen mit der Erfahrung von Freiheit und Unfreiheit verbunden. Der kindliche Aufenthalt auf dem Land ist immer geprägt von »eine[r] Art Angst« (ebd.: 82).
F REMDHEITEN Es sind immer wieder Außenseiterfiguren, seien sie nun von außen in das Dorf eingebrochen (ALTES LAND, MACHANDEL) oder selbst aus ihm hervorgegangen (GEGEN DIE WELT, BLASMUSIKPOP, WÄLDCHESTAG), deren Perspektiven in den neueren Dorfgeschichten verfolgt und erzählt werden; wobei diese Außenseiter wiederum aus der Perspektive der dörflichen Gemeinschaft häufig als ›fremd‹ markiert und wahrgenommen werden. Verhandelt wird dabei eine für die Gattung der Dorfgeschichte klassische Konfliktlage, die sich aus der Opposition von individuellen Bedürfnissen, Ansprüchen und Erfahrungen einerseits und den überkommenden Normen und Gewohnheiten der dörflichen Gemeinschaft andererseits ergibt; sie gehört zur »Basisstruktur der neuzeitlich-modernen Dorfliteratur« (Köhn 2013: 26).39
38 Hier finden sich u.a. diskursive Auseinandersetzungen mit der Materialität der Überlieferung des Vergangenen sowie seiner subjektiven Deutbarkeit und Deutungsabhängigkeit (ebd.: 83), der Nicht-Sprachlichkeit von Erinnerung und Wissen als einer Art Körperlichkeit (ebd.: 19), der erzählerischen Ordnungsherstellung (ebd.: 121-123) und mitunter der Erfindung von Phänomenen (ebd.: 112) sowie dem dazu gehörenden Nicht-Wissen, mit dem der Gegenwarts- wie auch Vergangenheitsbezug durchzogen ist (ebd.: 124f.). Ähnliche Reflexionen finden sich auch in weiteren neuen Dorfgeschichten; sie führen immer wieder zur Verwirrung und Destabilisierung der Bezugnahmen auf Vergangenheit und Gegenwart (z.B. Seethaler 2014: 98f., 145f.; Scheer 2014: 251, 283). Der vermeintlich begrenzte und überschaubare Raum des erinnerten Dorfes wird dadurch – durch den Einbruch des Verdrängten ebenso wie durch die Unsicherheit der Bezugnahmen – im Prozess seiner Auflösung gezeigt. 39 Dass die Gattung der Dorfgeschichte sich aus einer Erfahrung eigener Fremdheit speist, zeigen Neumann/Twellmann (2014b: 489) u.a. mit Blick auf Berthold Auerbach, der aus einer Position »mehrfache[r] Marginalität« (ebd.: 490) geschrieben habe.
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Anhand dieser Konstellation verhandeln die neueren Dorfgeschichten dann auch den Zustand gegenwärtiger Gesellschaften. Auffällig ist dabei eine deutlich pessimistische Grundhaltung.40 Immer wieder treten Figuren auf, die von Versehrungen und Verformungen gekennzeichnet sind. Die Geschichte des Dorfes wird dabei auch als eine Geschichte der Gewalt erzählt.41 Der dörfliche Sozialraum wird als ein Hort alltäglicher Gewalterfahrungen42 imaginiert, die sich auch aus einer Radikalisierung der Idee der Gemeinschaft ergeben. Das Dorf wird zu einem Ort, der seine Spuren am und im Individuum hinterlässt und dessen Leben sowohl kennzeichnet als auch beschränkt und verletzt. Die Umgebung, die naturräumliche wie auch die soziale, wirkt hier verstärkt auf den Einzelnen ein. Beide Seiten zeigen sich z.B. in Seethalers EIN GANZES LEBEN. Einerseits ist insbesondere die Kindheit des Protagonisten Andreas Egger von familiärer Gewalt geprägt, die sich, Egger kommt als Waisenkind in eine Großbauernfamilie, gegen ein fremdes Element richtet: »Während seiner ganzen Zeit auf dem Hof blieb er der Auswärtige, der gerade noch so Geduldete […]. Im Grunde genommen wurde er nicht als Kind betrachtet. Er war ein Geschöpf, das zu arbeiten, zu beten und seinen Hintern der Haselnussgerte entgegenzustrecken hatte.« (Seethaler 2014: 24) Andererseits zeigen sich an seinem Körper, er ist einer derjenigen, die den Bau der Seilbahn vorantreiben, insbesondere im höheren Alter die Auswirkungen harter Arbeit: »Das Leben und die Arbeit am Berg hatten ihre Spuren hinterlassen. Alles an ihm war krumm und schief.« (Ebd.: 137)
40 Wiewohl es auch hier einige Ausnahmen gibt. So kommt es in Hansens wie auch in Kaisers Romanen, es handelt sich bei beiden im weitesten Sinne um Komödien, schließlich zur (Re-)Integration der ›fremden‹ Protagonisten in eine letztlich doch liebenswürdige dörfliche Gemeinschaft. Differenzierter ist die Lage in Hackers EINE DORFGESCHICHTE;
hier gehört die Erzeugung von Fremdheiten und das Leben in und mit ihnen konstitu-
tiv zur dörflichen Daseinsform. Fremdheiten und Eigenheiten werden so aufeinander bezogen und ineinander verschränkt: »Zum Dorf gehörten wir dazu, auch wo wir fremd blieben.« (Hacker 2011: 48) 41 So zum Beispiel in den collageartig den Roman durchziehenden (Quasi-)Dokumenten der Ortschronik in VOR DEM FEST (siehe Stanišiü 2014: 104, 141, 164, 181). Ebenso konstatiert der Erzähler in DIE BIRNEN VON RIBBECK in rückblickender Weise: »was für ein Schlachtfeld das Dorf war, wo Knochen geschunden und gut möbliert und jede Generation die Bisse ins Fleisch gespürt und nur die Schärfe die Abwechslung war alle paar Jahrzehnte« (Delius 1991: 16). 42 So z.B. in Svenja Leiberts BÜCHSENLICHT (2005), Annika Scheffels BEVOR ALLES VERSCHWINDET
oder Jan Brandts GEGEN DIE WELT.
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Die Auswirkungen einer Radikalisierung der Gemeinschaft zeigen sich auch in Terezia Moras Erzählsammlung SELTSAME MATERIE (1999).43 Die insgesamt zehn Erzählungen schildern das zeitlos-statische und in sich geschlossene Leben in einem Dorf an der österreichisch-ungarischen Grenze aus der Perspektive derjenigen, die in eben jenem Dorf als ›fremd‹ gelten und diese Zuschreibung in ihr Selbstbild übernehmen. Es wird für sie zu einer geschlossenen Gesellschaft, die weder etwas von außen herein noch von innen heraus lässt – und den Erzählerinnen ein striktes Schweigegebot auferlegt: »Erzähl ja niemandem, wie es passiert ist. Und erzähl auch sonst nichts von hier«, lauten die ersten, in Figurenrede geäußerten Sätze der titelgebenden Erzählung (Mora 2005: 9).44 Ausbruchsversuche scheitern beständig. Die Gemeinschaft agiert hier, ganz wie schon von Tönnies (1991 [1887]: 4) angedacht, als ein lebendiger Organismus, dessen einzelne Teile in unmittelbarem Kontakt zueinander stehen. Dadurch unterliegen sie allerdings einer ständigen Verfügbarkeit (Weiland 2014). Die Protagonistinnen sind permanenter physischer und psychischer, aus der Perspektive der kindlichen Erzählerfiguren auch durchweg irrational erscheinender Gewalt ausgesetzt: »Um mich herum war alles Gewalt.«45 Das Dorf bildet dabei, so Mora, das kondensierte Bild eines «komplexen Geflecht[s] mehrerer durchweg autoritärer Systeme« (Mora 2007: 335, Hervorhebung
43 Verweisen ließe sich u.a. auch auf das Werk Herta Müllers, Robert Schneiders SCHLAFES BRUDER (1992) oder Patrick Findeis’ KEIN SCHÖNER LAND (2009), die allesamt antiidyllische dörfliche Lebenswelten beschreiben. 44 Ebenso wird, in die gleiche Richtung einer Abschottung tendierend, der von außen kommenden Erzählerin in EINE DORFGESCHICHTE mehrmals von einer Dorfbewohnerin gesagt: »Im Dorf gibt es keine Geschichten, hier findest du nichts« (Hacker 2011: 104, vgl. ebd.: 111). Und ebenso wird auch in MACHANDEL konstatiert: »Das Schweigen über diesem Dorf war so alt, so alt wie die Sagen von der Mahrte, so alt wie das Märchen vom Machandelboom, wohl ewe dusend Johr.« (Scheer 2014: 120, Hervorhebung im Original) 45 Die Figuren sind daher immer wieder von Narben, Wunden, Blasen, Deformationen und Versehrungen gekennzeichnet: »Manchmal brennen sie uns mit den Lockenstäben rote Blasen an den Hals.« (Mora 2005: 15) Eine andere Erzählerin berichtet über den sexuellen Akt mit ihrem Liebhaber: »Dabei tat er gerne so, als würde er mich vergewaltigen. Nichts kannst du tun, nichts, sagte er. Du bist wehrlos. Immer wieder.« (Ebd.: 234f.) Eine als Kellnerin in einem Buffet arbeitende Protagonistin erzählt: »Was ist das denn für eine Blume, fragt der eine und sie lachen. […] Ich starre ihn nur an, und wir stehen da, sein Finger sticht eine Beule in das geblümte, zu enge Kleid, in die Schoßfalten, in die Mitte, in die Falte hinein, der Finger, genau auf dem Punkt, dem Kitzler, ich stehe nur da. […] Die Männer lachen nicht mehr, der eine dreht das Fleisch im Mund, hustet, der andere wartet mit seinem Bier vor den Lippen, sachte zittert es im Pappbecher, und einer hat einen Zeigefinger in meiner Scham.« (Ebd.: 161).
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im Original), die im Verfall begriffen oder bereits verfallen sind und doch weiterhin wirken. Dazu schreibt die Autorin in einem Essay: »Zusammengefasst, vereinfacht und verkürzt: bäuerliche Lebensweise, katholische Religionsausübung sowie, als unterscheidende Besonderheit, die Zugehörigkeit zu einer ethnischen (genauer: sprachlichen) Minderheit. Jedes dieser Systeme befand sich zu meiner Zeit bereits in der Auflösung bzw. war mitten in dieser erstarrt. Von der traditionellen Lebensweise katholischer Bauern ist der Gemüsegarten geblieben, der Kirchgang zu besonderen Anlässen sowie die Generaltugend Arbeitsasketismus mit den dazugehörigen Sünden: Vernachlässigung des körperlichen Wohlergehens, Misstrauen gegenüber jeder Form von Intellektualität, sexuelle Frustration, gelebte Vorurteile, weitreichende seelische Verwahrlosung, Alkoholismus, Härte des Herzens, und Gewalttätigkeit.« (Ebd.)
Die Dorfgeschichte wird hier zur Verfallsgeschichte, die gleichermaßen den Untergang des Dörflichen wie auch des Individuellen beschreibt.
V ERMITTELTHEITEN Das reflexive Potenzial neuerer Dorfgeschichten bezieht sich jedoch nicht nur auf die Fragen nach den Auswirkungen von Krisen, Umbrüchen und Transformationen, dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie, dem individuellen und kollektiven Erinnern oder den spezifischen Konstruktionen von und Umgangsweisen mit Fremdheiten. Sie reflektieren immer wieder vorhandene symbolische Ordnungen und Entwürfe des Dörflichen und Ländlichen, die die verschiedenen Perspektiven auf und Diskurse über das Land prägen. Andreas Maiers Debütroman WÄLDCHESTAG (2000) etwa ist durchweg im Konjunktiv der indirekten Rede geschrieben; und zwar gänzlich ohne Absätze. Das Dorf mitsamt all seinen Figuren und Handlungen erscheint hier »primär als Ort von unentwegtem Gerede« (Köhn 2013: 33). Mehr noch: Es bildet das Produkt eben jenes kontinuierlich anschwellenden Geredes, bei dem man nicht weiß, in welchem Verhältnis es zu seinen Referenzobjekten steht. Als »flächendeckendes Gespinst zwangsläufig polyperspektivischer Meinungen« (ebd.) erscheint es immer abhängig von den jeweiligen diskursiven Bezugnahmen;46 was sich nicht zuletzt auch in den verschiedenen Vari-
46 VOR DEM FEST wird größtenteils von einem Kollektivnarrator aus der Perspektive der ersten Person Plural erzählt. Aus dessen Perspektive erscheint das Dorf dann mitunter auch als Kollektiv-Subjekt: »Das Dorf kocht, das Dorf sprüht Glasreiniger, das Dorf schmückt die Laternen.« (Stanišiü 2014: 28) Detmers/Ostheimer (2016) deuten dieses »Stimmenkollektiv« (ebd.: 72) als »Personifikation der Dorfzeit« (ebd.: 66).
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anten multiperspektivischen Erzählens, bspw. bei Zeh und Scheer, zeigt. So konstatiert etwa in UNTERLEUTEN eine der Figuren, es ist der Soziologe, nahezu folgerichtig (und doch ist auch dies natürlich perspektivisch gebunden): »Ständig glaubten alle, alles zu wissen, während in Wahrheit niemand im Bilde war. Statt miteinander zu reden, erfanden die Leute Geschichten, die sich weitererzählen ließen.« (Zeh 2016: 606f.) Das hat dann schließlich zur Folge, dass sich nur noch schlecht trennen lässt zwischen Realität und Fiktion, zwischen dem vermeintlich authentischen und dem diskursiv vermittelten, ja diskursiv und medial hergestellten Dorf. Die Grenzen verschwimmen. Dorf und Land existieren, das zeigen z.B. die Texte von Hansen, Kaiser, Menasse, Stanišiü und Zeh, auch auf der Handlungsebene nur in vermittelter Weise; und zwar als symbolische Konstrukte, die durch Geschichten, Sagen und Legenden ebenso wie durch Zeitschriften, Werbebroschüren, literarische und wissenschaftliche Texte Kontur gewinnen und den Figuren zugänglich werden, und schließlich auch deren Handeln anleiten. Bereits der sich zunehmend erregende Erzähler in Delius’ DIE BIRNEN VON RIBBECK verweist darauf, dass das gegenwärtige Geschehen – »der Trubel um Ribbeck« (Delius 1991: 56) – nicht zuletzt auf der »Wirkung der Dichtung bis heute« (ebd.) basiere; dabei sei letztlich doch nur »alles erfunden, von Dichtern ausgedacht« (ebd.). Dennoch: Es sind gerade diese Erfindungen, die die Erwartungen der Figuren an das Land prägen. Werden sie doch immer wieder als Rezipienten verschiedener imaginären Ordnungen des Dörflichen und Ländlichen gezeigt. SCHUBUMKEHR und ALTES LAND bspw. karikieren die Erwartungen, mit denen die Produzenten und Rezipienten von Landmagazinen und Ratgeberliteratur an das Land herantreten; wobei sich in beiden Fällen die Realität inkongruent zu den Imaginationen erweist.47 UNTERLEUTEN und BLASMUSIKPOP zeigen unter anderem literarische und wissenschaftliche Beschreibungs- und Verstehensversuche.48 Die medialen Erscheinungen im Allgemeinen49 und des Dörflichen im Besonderen sind hier konstitutiver Teil der Dorfwelt.
47 Wodurch die Texte immer wieder auch mit Pointen arbeiten. So müssen etwa die aufs Land gezogenen Städter feststellen, dass sich auch der Maulwurf im Garten »nicht an die Grundstücksgrenzen« hält (Hansen 2015: 64). 48 Dabei kann BLASMUSIKPOP auch als Parodie auf die Gattung der Dorfgeschichte gelesen werden (Kopf 2014). 49 Das zeigt u.a. auch Klein (2013) mit Blick auf GEGEN DIE WELT. »Das Dorf wird hier geschildert als Mikrokosmos, in den die Medienwelt (in Form der Berichtserstattung über ferne Ereignisse und der verzerrenden, verfälschenden oder überspitzenden Thematisierung der Geschehnisse im Dorf) einbricht, wobei die Medienrealität als eine Variante der Wirklichkeitswahrnehmung gleichberechtigt präsentiert wird« (Klein 2013: 60).
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Immer wieder thematisieren die neueren Dorfgeschichten also, häufig auch in ironischer und satirischer Weise, die Rolle von Bildern und Medien für das Verständnis vom und die Haltung zum Leben auf dem Land. So auch in VOR DEM FEST. Hier werden am Beispiel der Dorf-Malerin Frau Kranz gleich zwei Klischees und Erwartungen, die üblicherweise an das Land herangetragen werden, vorgeführt. Auf der einen Seite sind es die verschiedenen Verwerfungen des Landlebens. So schildert der Roman etwa den Besuch eines Lokalreporters bei der Malerin im Dorf; von ihm wird während eines Interviews so »manch […] spannende Frage abgeworfen« (Stanišiü 2014: 54): »eine H-Bombe nach der anderen: Herkunft, Heimat, Hobbys, Hitler, Hoffnung, Hartz IV, in keiner spezifischen Reihenfolge« (ebd.). Aufgenommen und reproduziert werden von ihm, neben den üblichen Heimatklischees, die in öffentlichen und politischen Diskursen vielfach vorgenommenen Reduktionen ländlicher Räume auf bestimmte Negativkategorien und die damit einhergehende Konstruktion des Landes als problematischer Raum.50 Auf der anderen Seite konterkariert der Roman klassische Romantisierungen. Für den Reporter ist Frau Kranz51 ganz selbstverständlich eine ›Heimatmalerin‹. Die Bilder der Malerin jedoch irritieren bereits durch ihre Titel; sind diese doch nicht, wie zu erwarten wäre, aus dem sprachlichen Register der Landschaftsmalerei entnommen. Sie heißen u.a. folgendermaßen: »Sparkasse im Sonnenuntergang« (ebd.: 85), »Der Neonazi schläft« (ebd.), »Der Rumäne vor dem Container für rumänische Erntehelfer an der Landstraße draussen bei Kraatz« (ebd.: 290) und »Dreschmaschine mit Transmissionsantrieb auf freiem Feld« (ebd.: 91) Die Malerin verweist allein schon durch diese Titelgebungen auf so manche Ambivalenzen des Orts zwischen Technisierung und Verwerfung, Infrastruktur und Romantik – und unterläuft damit eben die üblichen Erwartungshaltungen. Dies stößt nicht zuletzt eine Reflexion auf die symbolischen Bezugnahmen an, mit denen sich Rezipienten dem Ländlichen nähern. Dabei steht der Roman im Kontext einer Vielzahl neuerer literarischer Dorfgeschichten, die auch auf sich selbst in ihrer spezifischen Beobachterrolle verweisen52 und sich selbst als Dorfgeschichten ausstellen und vorführen.53
50 In eben diese Richtung zielt auch die Aussage der Figur Johann, eines Teenagers, der konstatiert, dass seine Hobbys – »[d]emografisch gesehen« – eigentlich »Ego-Shooter und rechtes Gedankengut sein« (Stanišiü 2014: 130) sollten. 51 Reales Vorbild dürfte der Maler Andreas Kranzpiller sein, über den anlässlich seines 90. Geburtstags, ebenso wie bei Frau Kranz, ein Artikel im NORDKURIER erschien. 52 In UNTERLEUTEN etwa werden mehrere Versionen der Geschehnisse angefertigt: z.B. ein Theaterstück, eine Reportage und nicht zuletzt (durch den im letzten Kapitel vorgenommenen plötzlichen Einschub einer Rahmenhandlung mitsamt einer fiktiven Autorin) der Roman selbst.
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Damit verbunden ist dann häufig auch ein literarisches Spiel mit dem eigenen Schreiben über das Dorf.54 Es zielt ab auf einer Überschreitung der Grenze zwischen innerliterarischer und außerliterarischer Welt; und zwar als Übergang der Literatur in die Realität. Der kündigt sich bereits intradiegetisch an. Gegen Romanende findet sich die ausführliche Beschreibung eines weiteren Bildes der Malerin Frau Kranz, das von ihr anlässlich der alljährlich während des Festes stattfindenden Versteigerung gemalt wurde und, es handelt sich um ein Wimmelbild, das gesamte Figurenensemble des Dorfes zeigt. Die Schilderung des Bildes endet, darauf haben Detmers/Ostheimer (2016: 71) hingewiesen, mit einer Metalepse: Das Geschehen des Bildes geht über in das Geschehen der im Roman erzählten Welt. Imagination und Fiktion brechen, wie auch schon bei den entkommenen Geschichten aus den Heimatmuseum, in die Wirklichkeit ein. Dies kann auch leitmotivisch für das Vorgehen von Autoren wie Jan Brandt oder Juli Zeh stehen, die Elemente ihrer literarischen Texte in der außerliterarischen Wirklichkeit platzieren.55 Schließlich sind es
53 Sie ließen sich als ›Dörfer des Fiktiven‹ verstehen, die in selbstreferenzieller Weise auf ihre eigene literarische Gemachtheit verweisen (vgl. Nell/Weiland 2014: 38f.). 54 Thematisiert wird dabei auch die Referentialisierbarkeit der erzählten Dörfer. Jan Brandt etwa veröffentlichte auf der Website zum Roman eine Karte des Schauplatzes, die erstaunliche Ähnlichkeit mit der Karte seines Heimatdorfs Ihrhove aufweist – und schreibt dazu: »Jericho liegt in Ostfriesland. Koordinaten: 53° 6ƍ 49Ǝ N, 7° 17ƍ 44Ǝ O. Nicht zu verwechseln mit dem an gleicher Stelle gelegenen Ort Ihrhove.« (Siehe: www.gegendiewelt.de/jericho; 26.09.2017) 55 Beide Autoren nutzen dafür insbesondere das Internet. Von Zeh wird das erzählte Geschehen und die erzählte Welt als Teil der realen Welt präsentiert: Akteure und Schauplätze haben eigene Webseiten, Figuren agieren mit Facebookprofilen und in anderen Diskussionsforen. So findet sich etwa auf der Website des Magazins REITERREVUE eine seitenlange Diskussion, die von der Romanfigur Frederik Wachs angestoßen und mit ›echten‹ Menschen geführt wurde; die Handlung des Romans wird so außerliterarisch weitererzählt (worüber die Diskussionsteilnehmer letztlich, nach der Aufklärung dieses Falls, jedoch nicht sonderlich amüsiert waren). Darüber hinaus hat im Kontext der Veröffentlichung des Romans ein weiteres Buch, publiziert im Goldmann-Verlag, auf sich aufmerksam gemacht: Der Ratgeber DEIN ERFOLG, der in UNTERLEUTEN als Prätext fungiert und die Figurenhandlung beeinflusst. Der vermeintliche Autor des Werks, Manfred Gortz, bewarb sein Buch via Youtube und Twitter, ist jedoch auch nur eine von einem Schauspieler dargestellte erfundene Figur. Bei Brandt ist der Internetauftritt auch Teil einer auktorialen Selbstinszenierung, die mit dem Buchinhalt korrespondiert (siehe Tuschling 2014), und unterstützt den programmatischen Anspruch des Romans, der sich unter anderem aus den von Brandt aufgestellten zehn Regeln des ›Manischen Realismus‹ ergibt (Klein 2013: 57).
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auch die Romane, die Teil der Wirklichkeit sind und auf diese einwirken, wie sich nicht zuletzt anhand der Wirkung von VOR DEM FEST zeigt, der dem Ort Fürstenwerder, dem Vorbild Fürstenfeldes, unerwarteten Zulauf bescherte.56 Verarbeitet wurde dieser Zulauf schließlich wieder in der Erzählung FALLENSTELLER, in der die Figur Lada durch den Einfluss des im Dorf gewesenen Schriftstellers57 selbst zum Autor wird und in satirischer Weise von den Geschehnissen im Dorf berichtet,58 die sich nach dem Erfolg des Romans ereignet haben.59 Die gegenwärtigen Dorfgeschichten zeigen sich selbst als Dorfgeschichten – und damit auch als Teil der symbolischen Herstellung von Wirklichkeit, die sie selbst wiederum einfangen und reflektieren.
56 Der Tourismusverein Fürstenwerder Seenlandschaft e.V. wirbt auf der ersten Seite seiner Website mit dem Roman für den Ort. Mittlerweile wurde auch das vom Mecklenburgischen Staatstheater inszenierte und auf dem Roman basierende Theaterstück am 22.09.2017 in Fürstenwerder uraufgeführt. 57 Die hierbei vorgenommene Selbstreferenz Stanišiüs ist eindeutig: »So einer war Lada geworden. Nachdem der Schriftsteller hier gewesen ist, der mit dem Buch über uns. Lada hat ihm ja damals alles gezeigt, so und so läuft es hier und so läuft es dort. Alleine hat der Typ sich höchstens mal zum Bäcker getraut, um nicht zu verhungern. Ein Jugo war das. Aber ein verweichlichter Jugo, ganz ungewöhnlich, Jugo-Schriftsteller halt.« (Stanišiü 2016: 173, Hervorhebung im Original) Wobei auch die Figur Lada, man beachte den Gleichklang der Vornamen, als Alter-Ego des Autors angesehen werden kann. 58 Dabei wird erst gegen Ende der Erzählung aufgelöst, dass es sich bei dem ebenfalls als Kollektivnarrator angelegten Erzähler der Geschichte um Lada handelt. In der dann einsetzenden Rahmenhandlung (Lada liest auf einer öffentlichen Veranstaltung in Hamburg, dem Wohnort von Saša Stanišiü, aus seiner mit einem Preis versehenen Geschichte) wird die Binnenerzählung, in der von den Geschehnissen in Fürstenfelde berichtet wird, in ihren ersten Absätzen als Teil der Geschichte Ladas wiederholt. 59 »Später sind dann ›Literatur-Touristen‹ hergeradelt, ›auf den Spuren des Buchs‹. Kamen bei Ulli vorbei, wollten Fotos machen. Musst du dir mal vorstellen! Pichelst schön in aller Ruhe deine Molle, plötzlich latscht ein Lesezirkel aus Lübeck in die Garage.« (Stanišiü 2016: 173f.) Und weiter heißt es: »Mann, Mann, Mann, Fürstenfelde, Literaturmetropole. Mehr Literaten als Nazis, und das jetzt, wo wegen den Flüchtlingen jeder ein bisschen besorgt ist« (ebd.: 175).
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E XPERIMENTIERFELDER Die neue Dorfgeschichte ist in Stoff und Form modern. Als ein »hermetischer Experimentalraum« (Mecklenburg 1982: 48) ermöglicht das erzählte Dorf eine unter Laborbedingungen60 durchgeführte Analyse historischer wie gegenwärtiger Themen und Stoffe. In ihm können dabei die verschiedensten persönlichen, historischen und regionalen Erfahrungen mit philosophischen, anthropologischen und politischen Theorien und Theorieversatzstücken kombiniert und in einem vermeintlich überschaubaren und handhabbaren Kontext experimentell durchgespielt und reflektiert werden. Aus dieser Perspektive erscheint das erzählte Dorf auch als eine Art Vergrößerungsglas, das verschiedenste Gegenstände fokussiert und scharf stellt: sei es nun die allgemeine menschliche Natur oder konkrete historische, soziale, kulturelle, technische und wirtschaftliche Umstände in ihren Auswirkungen auf Individuen und Kollektive. Die literarischen Dorfgeschichten fungieren so als Seismografen gesellschaftlicher Entwicklungen. Doch in ihnen bündeln sich auch aktuelle Tendenzen und Entwicklungen des literarischen Schreibens. Denn das moderne und postmoderne Erzählen ist längst im Dorf angekommen. Delius’ DIE BIRNEN VON RIBBECK besteht aus einem einzigen rhythmisch gegliederten, immer wieder abbrechenden und neu ansetzenden Satz. In Hackers EINE DORFGESCHICHTE sind Erinnerungen, Assoziationen und Kommentare auch im Layout vom Fließtext abgesetzt und durchbrechen so den Erzählfluss. In Menasses SCHUBUMKEHR brechen die Sätze mitunter mitten in der Figurenrede ab. Es gibt keine chronologisch fortschreitende Erzählordnung, immer wieder macht der Text ganz unvermittelt und ungekennzeichnet Sprünge nach vorn oder hinten. Ähnliche Verfahren finden sich unter anderem in den Texten von Mora und Stanišiü. Auch typografisch experimentell erzählen bspw. Stanišiü, Stockmann und Brandt. In GEGEN DIE WELT finden sich z.B. Zettel, Poster, Anzeigen und verblassende Schrifttypen (die inhaltlich mit einem Verblassen von Wahrnehmung und Erinnerung korrespondieren). In der Buchmitte unterteilen zwei Linienstränge den Text und erzählen so zwei Geschichten nebeneinanderher; andere Abschnitte kommen komplett ohne Satzzeichen aus und werden als Bewusstseinsstrom wiedergegeben. Nicht zuletzt durch diese offenen und experimentierenden Erzählweisen werden in den neuen Dorfgeschichten auch auf formaler Ebene die Topoi der Ganzheit, Überschaubarkeit und Abgeschlossenheit des Dörflichen aufgelöst. Dabei verfahren sie zumeist selbstreferenziell und verweisen auf ihre eigene symbolische Konstruiertheit ebenso wie auf die verschiedenartigen Verschränkungen von Imagination, Fiktion und Lebenswelt. Dorfgeschichten erscheinen somit gegenwärtig nicht nur
60 So verweist Rölcke (2013: 120) etwa auf einen idealen Bauplan des Provinzromans.
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als zentrale Aushandlungsorte gesamtgesellschaftlicher Fragestellungen und Problemlagen; in ihnen bündeln sich auch aktuelle Tendenzen und Entwicklungen des literarischen Erzählens. Dadurch werden sie zu Experimentierfeldern eines modernen und postmodernen Schreibens. Gerade dies führte in der jüngeren Vergangenheit zu einer so zunächst nicht zu erwartenden Hybridität und Heterogenität des Genres. Dabei beziehen sich die neuen Dorfgeschichten einerseits in reflektierter (mitunter ironisierender und distanzierender) Weise auf die klassischen Bilder und Erzählweisen des Dörflichen, arbeiten aber andererseits an einer Neuverortung der Gattung – und damit schließlich auch an einer Neubeschreibung des Dörflichen in der Gegenwart.
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»Das Land ist immer etwas Artifizielles« Katharina Hacker im Gespräch mit Wiebke Loeper und Werner Nell
Nell: Wir wollen heute über das Porträtieren ländlicher Regionen sprechen. Wiebke Loeper, Sie haben ein Fotoprojekt von zehn Studierenden betreut und begleitet, die jeweils Porträts ländlicher Räume in fünf ganz unterschiedlichen Regionen – dem Oderbruch, Südniedersachsen, Idar-Oberstein sowie der Saarpfalz und der Schwäbischen Alb – angefertigt haben. Diese zeigen gewissermaßen auch, dass das Dörfliche und das Ländliche einen Raum bilden, in dem in einer besonderen Weise das Individuelle und Konkrete, ebenso auch Rätsel und Geheimnisse, zum Vorschein kommen und sichtbar gemacht werden können; und wir sehen dabei auch eine gewisse Verletzbarkeit. Das Verletzliche und das Schadhafte – und eben nicht das Idyllische, Vollendete oder gar Perfekte – stehen hier gewissermaßen im Zentrum. Das führt mich zunächst einmal zu einer sehr grundsätzlichen Frage: Wie lässt sich denn überhaupt Dörfliches und Ländliches im Bild fassen? Gibt es das überhaupt: ›das Ländliche‹ im Bild? Denn das ist ja etwas sehr Abstraktes. Was wir aber sehen, das ist immer vergleichsweise sehr konkret. Loeper: Wir haben uns natürlich auch gefragt: Wie kann man eine Region porträtieren? Das war tatsächlich ein individuelles Erkunden und ein forschender, sehr offener Prozess. Dabei drückt sich auch eine andere Art des Erkundens einer Region aus. Denn es ist ja ein Unterschied, ob man da jetzt zum Beispiel hinfährt und sich mit Vertretern von Kultureinrichtungen trifft, die bestimmte Vorstellungen haben, oder ob man sich eine Ferienwohnung mietet und morgens losläuft und guckt, wo hier eigentlich das Zentrum dieses Orts ist, wen man trifft, was die Leute einem erzählen und so weiter. Tatsächlich haben alle Fotografen versucht, die ländlichen oder kleinstädtischen Räume zu erfassen und mit Porträts zu mischen. Das nennt sich dann beobachtende Fotografie, die vor allem das fokussiert, was Menschen, und zwar gar nicht unbedingt bewusst, gestalten. Also: Wenn zum Beispiel jemand
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sein Auto mit Zebrastreifen beklebt, dann steckt da ja ein bestimmter Wille oder eine bestimmte Sehnsucht dahinter, die zum Ausdruck bringt, was mit diesem Auto gemacht werden soll und welches Lebensgefühl mit ihm verbunden ist. Wenn dieses Auto dann vor einem Fachwerkhaus parkt, dann passiert jedoch nochmal etwas ganz anderes; und da dieses Haus beispielsweise inzwischen auch neue Fenster bekommen hat, ergibt sich dann eine Überlagerung von verschiedenen geschichtlichen Ebenen – und all das drückt ja menschliche Handlung aus. Wir haben versucht, in unserer Auswahl von Bildern ein Puzzle aus unterschiedlichen Beobachtungen zusammenzusetzen. Dabei war uns auch wichtig zu fragen: Wie kann man bestimmte Phänomene beschreiben; und wie ist man dabei nicht etwa verletzend und trotzdem genau? Das war eine große Herausforderung. Ich erinnere mich an ein Beispiel aus der Schwäbischen Alb. Nachdem die ersten Fotos entstanden sind, haben wir Ajona, die Künstler in der Region fotografiert hat, gefragt: Ja, sind denn in dieser Region alle Künstler männlich und über fünfzig? Denn auf diesen Bildern war das tatsächlich so. Ajona hat dann vor der zweiten Reise gesagt: Jetzt frag ich mal nach; gibt es hier keine weiblichen Künstlerinnen? Ist das nun ein Phänomen, das nur mir passiert ist, weil ich eben zufällig auf diese Künstler gestoßen bin, oder erzählt das wirklich etwas Typisches über diese Region? Es war dabei auch unsere Aufgabe, uns immer wieder solche Fragen zu stellen und zu überprüfen, wenn sich eine Erzählung in eine bestimmte Richtung entwickelt hat. Aber wir haben nicht festgelegt, dass jede Arbeit aus Porträts, Innenräumen, Stadträumen bestehen und soundso viel Prozent Landschaft beinhalten muss. Das wäre ja auch eine Möglichkeit gewesen. Tatsächlich mussten wir für die Hefte sehr viele Porträts entfernen, für die es keine Freigabeerklärung gegeben hat oder geben konnte. Auch das ist eine ganz wichtige Frage unserer Zeit, das Persönlichkeitsrecht. Dadurch, dass unsere Persönlichkeit einerseits als immer wichtiger erachtet und andererseits gleichgesetzt wird mit dem Bild von der Person, können wir als Fotografen bestimmte Dinge gar nicht mehr darstellen und erzählen; Jugendliche zum Beispiel. Es ist ganz schwierig, da auf der rechtlich sicheren Seite zu sein oder auch jemanden im städtischen Raum zu fotografieren, was er tut, wie er sich verhält. Uns sind da immer engere Grenzen gesetzt und das hat auch Auswirkungen für die fotografische Erzählung. Demgegenüber hat die Literatur einen großen Vorteil. Hacker: Das Problem hatte ich mit EINE DORFGESCHICHTE und anderen Büchern auch. Ich musste mich sofort juristisch absichern bezüglich der Frage: Wer ist wem ähnlich und wer sind überhaupt die Ichs, die da rumlaufen und von mir in einer bestimmten Weise benamst wurden. Loeper: Was mir an dem Buch auffiel, ist diese Verletzlichkeit, dieses Erstaunen der Familie, von der die Geschichte handelt und die zeigt, wie sensibel dieses Thema ist. Wenn man also sagt: Wir machen ein Heft über Südniedersachsen, dann
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ist das natürlich eine Behauptung. Selbst wenn da ›Franz Grünewald: Südniedersachsen‹ draufsteht oder ›Charlotte Jadke‹ – was ja andeutet, dass es jeweils der Blick einer bestimmten Person auf eine Region ist oder auf bestimmte Phänomene in dieser Region. Dieser erwächst aus der Beobachtung heraus, die immer geprägt ist von Zufällen: Wem begegne ich? Und er ergibt sich auch aus den eigenen Erfahrungen, das heißt: Was geht in Resonanz mit mir, wenn ich mich in so einem Raum aufhalte? In dem Moment, in dem wir einen Raum betreten, sei es ein ländlicher Raum oder ein städtischer Raum, verändern wir diesen Raum auch schon und erzeugen auch diejenigen Dinge mit, die dann passieren. So wie Ihnen Geschichten erzählt oder nicht erzählt werden, so ist es natürlich für uns als Fotografinnen und Fotografen auch so, dass sich uns Leute öffnen, sich zum Beispiel fotografieren lassen oder sich nicht fotografieren lassen, uns Dinge zeigen oder sie auch nicht zeigen. Dabei ist es mir noch einmal ganz wichtig zu sagen – auch wenn wir das zwar alle wissen, aber dann doch oft vergessen, wenn wir Bilder betrachten –, dass Fotografie nicht in dem Sinne etwas mit Wahrheit zu tun hat, dass sie Realität abbildet, obwohl wir das dem Bild immer zuschreiben, weil ja vor der Kamera etwas gewesen sein muss, sonst hätten wir ja das Bild nicht machen können. Und trotzdem entsteht die Behauptung, die Geschichte, die Wahrheit, erst indem wir Bilder kombinieren, indem wir sie zueinander stellen und indem wir damit einen Denkraum eröffnen. Daher war es mir, als wir an die Porträts dieser Regionen gegangen sind, ganz wichtig, dass es immer mindestens zwei Leute machen – um aufzuzeigen, wie unterschiedlich der Blick auf eine Region sein kann. Wenn alle zehn Studierenden dieselbe Region fotografiert hätten, wären mit Sicherheit zehn ganz unterschiedliche Blicke entstanden; und durch den Betrachter oder die Betrachterin der Bilder wird das wieder auf die nächste Ebene transportiert: Es entstehen bestimmte Vorstellungen im Kopf. Nell: Daran schließt gewissermaßen auch EINE DORFGESCHICHTE an, die auch typografisch sehr interessant und aufwendig gemacht ist und eine gewisse Mehrstimmigkeit zum Ausdruck bringt. Die Mehrzahl Ihrer Texte spielt in global cities, SKIP in Tel Aviv, DIE HABENICHTSE in Berlin und London. Worin besteht denn die Besonderheit, sich dem Dorf zuzuwenden? Einerseits, das sagten Sie bereits in anderen Zusammenhängen, ginge es darum, eine Wunschlandschaft zu beschreiben. Andererseits hat das Buch aber auch sehr bedrückende und geheimnisvolle Szenen. Der Wald erscheint als ein vergleichsweise dunkles Gebilde, die Tiere sind in einer bestimmten Weise ebenso fremd wie die Erinnerungen, die mit einem bestimmten Hügel oder mit Häusern verbunden sind. Dabei ist ein Raum entstanden, in dem wir sehr unterschiedliche Stimmen zu hören bekommen, und mit diesen Stimmen sind auch sehr unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven verbunden. War das Teil ihrer Wahrnehmung des Ländlichen, dass eben dort ein Raum der vielen Stimmen zu fassen ist?
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Hacker: Ich frage mich immer mehr: Dieser Unterschied zwischen Stadt und Land, der erscheint ja einerseits als so offenkundig. Die Stadt ist halt Straßenbahn und viel Verkehr und mehr Einwohner und was man banalerweise nicht alles noch aufzählen kann. Das Land ist kleiner, ganz andere Geräusche, ganz andere Maschinen auf der Straße. Doch andererseits finde ich den Unterschied oft gar nicht so groß. Denn das Land ist immer etwas Artifizielles. Es ist ja nichts natürlich in der Landschaft, die uns umgibt; und das, was wir als natürlich empfinden, ist eben immer auch etwas künstlich Hergestelltes. Das meine ich jetzt nicht im negativen Sinne von Pestiziden oder so. Wenn ich eine Landschaft sehe, dann sehe ich ja tatsächlich immer ihre Geschichtlichkeit. Wenn ich jetzt auf dem Land bin, ist dabei eines für mich das Alleroffensichtlichste: Ich rede mit Leuten, mit denen ich in der Stadt nie rede; einfach soziologisch komplett andere Leute, die ich in der Stadt überhaupt nicht treffe, weil ich dort in meinem sozial relativ homogenen Raum lebe. Dieser wird sofort durchbrochen, wenn ich aufs Land gehe und nicht ganz blind und taub bin. Denn diejenigen, die dort an mir vorbeigehen, sind für mich dann immer sehr prominent; denn es sind halt insgesamt viel weniger. Gerade dadurch aber nehme ich jeden Einzelnen wahr und bin auch viel eher geneigt, mit ihm oder ihr zu reden; wodurch ich wiederum Geschichten von Pflegekindern, von familiären Verhältnissen mitbekomme, die es so natürlich auch in der Stadt gibt, die ich dort aber einfach nicht mitbekomme und erfahre. Das ist, glaube ich, ein ganz großer Teil unseres Blickes auf Dorf und Stadt. Im Dorf sagen dann immer alle: Aber in der Stadt lassen sie kleine Kinder ja nicht so alleine rumlaufen. Ich muss da immer lachen, weil bei uns in Berlin-Schöneberg kenne ich inzwischen nach vielen Jahren jeden vierten auf der Straße. Das heißt, da lasse ich meine Kinder umso mehr alleine laufen, denn es sind ja unzählige Leute, die die Kinder im Auge haben und die auch genau wissen, wo diese Kinder hingehören, eben wie in einem großen Dorf. Daher ist mir der Stadt-Land-Unterschied wirklich ein bisschen rätselhaft, auch wenn man eine lange Liste machen und verschiedenste Unterschiede aufzählen könnte. Nell: Die Gegenüberstellung von Stadt und Land ist gewissermaßen auch eine Falle, in die wir immer wieder hineintappen. Beide bedingen einander; und in einer bestimmten Weise wird es auch ohne diese Opposition gar nicht gehen können. Die persönliche Erfahrung liegt jedoch eher im Dazwischen. Loeper: Ich glaube, dass die Abhängigkeit der Leute voneinander auf dem Dorf oder im Dörflichen eine ganz andere ist. Man ist aufeinander angewiesen, weil man sich in einem viel kleineren Kreis von Leuten befindet. Ich denke dabei zum Beispiel an die beiden, die in Südniedersachsen fotografiert haben, Charlotte und Franz; sie sind durch die Region gefahren und gefahren und es war wahnsinnig schwer war, einen Zugang zu den Leuten zu finden und mit ihnen zu sprechen. Das war in anderen Regionen auch wieder anders, zum Beispiel in Idar-Oberstein. Dort
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waren die Jugendlichen erst ganz offen und fanden es wahnsinnig spannend, dass da Fotografinnen aus Potsdam und aus Berlin kommen; beim nächsten Mal wurde aus dieser Offenheit jedoch eine große Verschlossenheit und sie haben die Fotografen gar nicht mehr reingelassen. Das ist etwas, das ein Phänomen von Kleinstädten oder Dörfern sein kann; dass zum Beispiel alle Jugendlichen eines Dorfes beschließen können: Nein, wir wollen diese Fotografen aus Berlin nicht und wir machen jetzt dicht. Man hat dann einen anderen Gruppenzwang innerhalb des Ortes. In der großen Stadt kann man sagen: Na gut, wenn ich zu der Gruppe nicht mehr passe, dann passe ich zu einer anderen Gruppe. Man hat dann andere Wahlmöglichkeiten. Dementsprechend sind in kleineren Räumen die Abhängigkeiten wesentlich direkter und auch die sich daraus ergebenden Folgen, dass ich keine großen Handlungsspielräume mehr habe, sind markanter. Das macht auch die Vorsicht aus, die in diesen Geschichten zu spüren ist: Darf ich diese Schwelle übertreten? Denn ich bin ja nur am Wochenende, die anderen aber sind die ganze Woche da. Es ergeben sich daraus, sozusagen, unsichtbare Regeln. Hacker: Die Bilder sind starrer. In der Stadt hätte ich vermutlich das Gefühl, dass sich das zunehmend abschleift. Auf dem Dorf bleiben die Bilder jedoch länger haften, es addiert sich alles zueinander und nichts geht weg – es bleibt alles da. Loeper: Das würde aber heißen, dass sich die Zeitlichkeit im Dörflichen und Ländlichen konstant zusammensetzt; und zwar als etwas, das konstant wächst. Hacker: Naja, nur erinnert sich eben keiner an die Gesamtsumme. Nell: Wollte man es etwas abstrakter fassen, dann könnte man sagen: Das Dorf basiert Tag für Tag, Sekunde für Sekunde auf einer Syntheseleistung, deren Herstellung zu leisten ist und die mitunter misslingt oder nur ansatzweise gelingt; und die immer wieder anders ist als zunächst vermutet. In der Stadt ist es auch nicht anders; aber die Stadt als Bauform oder als Modell pocht darauf, dass diese Synthese stattgefunden habe oder sich in ihrer Form selbst darstelle. Das heißt: die Stadt ist sozusagen verlebendigte Synthese, während im Dorf oder in kleineren Zusammenhängen die Handwerklichkeit der Syntheseleistung und damit auch die Unabgeschlossenheit in Erscheinung tritt. Das führt mich zur Frage nach der Zukunftsfähigkeit des Dörflichen und Ländlichen. Häufig wird es ja als ein Raum aus der Vergangenheit erzählt, mitunter auch als eine Art Überbleibsel. Wie sieht jedoch seine Gegenwart aus; und wie könnte gegebenenfalls auch seine Zukunft aussehen? Hacker: Das Dorf in Brandenburg, wo ich jetzt immer bin, das hat zumindest physisch eine Zukunft, weil es da ganz viele kleine Kinder gibt. Das ist ein großes Dorf und wird nicht schrumpfen, auch weil man dort sehr kluge und zukunftswei-
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sende Entscheidung getroffen hat. Aber es gibt neben diesen quasi objektiven Tatsachen ja immer auch ein subjektives Empfinden. Ich merke an mir selber, wenn ich in meinem Haus auf dem Land bin, dann beziehe ich mich sehr stark auf eine akkumulierte Zeit. Ich sehe dieses Haus, das ist nichts besonders Tolles und dem geht es auch nicht sonderlich gut, und doch schaue ich es mit einer gewissen Sympathie an wie einen Organismus und denke: Na hoffentlich hältst du jetzt noch lang genug. Ich sehe alles, was an dem Haus ist, in einer Weise, wie ich das bei dem Stadthaus, in dem ich mit zehn anderen Parteien wohne, nicht tue. Diese darin zum Ausdruck gebrachte Suche nach einer akkumulierten Zeit, da denke ich immer: Was ist denn das jetzt für eine blöde Nostalgie? Oder ist es, dass ich einfach alt werde und dieses Älterwerden gespiegelt sehen möchte, dieses Zerbrechliche und das Kaputtgehen? Das ist für mich schon eine Frage, ob man mit der Stadt eher Zukünftiges und Neues verbindet und mit dem Land eher Akkumulierendes – etwas, das man auch mit sich schleppt, weil es beglückt und weil man sich vielleicht geborgen fühlt. Aber man schleppt es eben doch immer mit sich rum. Nell: Das bietet dann aber vielleicht auch die Möglichkeit, die Zeit im Prozess zu beobachten? Hacker: Ja, sie einerseits im Prozess zu beobachten und andererseits auch das zu finden, was übriggeblieben ist – vielleicht auch zum Unguten. Loeper: Dabei lässt sich auf dem Land aber auch ein Aufeinandertreffen von alten und neuen Akteuren beobachten; zum Beispiel in der Uckermark, die natürlich auch ein sehr spezielles Feld ist. Hier treffen unterschiedliche Erfahrungen, Hintergründe und Intentionen aufeinander; Leute, die aus verschiedenen Gründen gewählt haben oder auch nicht wählen konnten, an diesem bestimmten Ort zu leben und die dann bestimmte Themen miteinander auszuhandeln und auch gemeinsam etwas zu entwerfen haben, weil sie durch die dünne Besiedlung, die historischen Umbrüche der letzten Jahrzehnte und auch die Flüchtlingsströme nach dem zweiten Weltkrieg eine ganz spezielle Voraussetzung vorfinden. Das ergibt dann eine ganz spezifische Geschichte; und ich finde es hochinteressant zu sehen, was da passiert. Dort zeigen sich Modelle für Kultur im Wandel. Und natürlich gibt es hierbei eine weitere Besonderheit, die für Fotografen interessant ist: das Untersuchungsfeld, das Forschungsfeld, ja das Experimentierfeld ist viel besser überschaubar. Insofern ist es manchmal auch einfach spannender, diese Prozesse des Wandels und der Bewegung im Kontext des Dörflichen und Ländlichen zu betrachten als in der Stadt.
Dorfroman oder urban legend? Zur Funktion der Stadt-Dorf-Differenz in Juli Zehs Unterleuten N ATALIE M OSER
Zu Beginn von Juli Zehs Roman UNTERLEUTEN plant die Soziologin Jule Fließ, »eine Promotion über die destruktiven Auswirkungen des kapitalistischen Glückversprechens zu schreiben.« (Zeh 2016: 17) Am Ende desselben Romans erfahren wir, dass sie nun eine Doktorarbeit vorbereitet, »in der sie eine moderne Soziologie des Ruralen entwickeln will.« (Ebd.: 631) Zwischen dem ersten und dem zweiten Plan liegen mehr als sechshundert Seiten Text, wobei sich lediglich der Fokus der geplanten Forschungsarbeit verändert zu haben scheint. Denn das Rurale hängt unmittelbar mit dem Glücksversprechen des kapitalistischen ›Immer Mehr‹ zusammen. Nicht nur semi-urbane Dörfer, sondern auch die Sehnsucht nach dem Ländlichen sind Bestandteil eines übergreifenden (spät)kapitalistischen Wirtschaftssystems, das vermeintlich Außenstehendes gewinnbringend integrieren und Gegenkulturen adaptieren kann. Während in Zehs UNTERLEUTEN das kapitalistische Glücksversprechen aus der Perspektive einer Dorfbewohnerin untersucht worden wäre, die sich dann allerdings ausschließlich der Gartenarbeit und insbesondere der Kinderbetreuung widmet, wird die Soziologie des Ruralen aus der Perspektive einer Stadtbewohnerin geplant, da die künftige Doktorandin wieder zur Stadt-, genauer zur Berlinbewohnerin geworden ist. Die beiden Promotionsvorhaben zeigen exemplarisch die beiden Pole auf, zwischen denen sich Zehs Dorf- und Kriminalroman UNTERLEUTEN entfaltet. Die Gegenüberstellung von Stadt und Land prägt jedoch nicht nur die Lebensläufe und das Selbstverständnis der Figuren des Romans, sondern auch seine Erzählstruktur. UNTERLEUTEN kann aufgrund des inhaltlichen Fokus zwar zweifelsohne in die ins 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition der deutschsprachigen Dorfgeschichte gestellt werden. Allerdings rückt der Roman insbesondere anhand einer Vielzahl expliziter Hinweise auf die Fiktivität der erzählten Welt, die auf den ersten Blick einer Zuordnung des Romans zur Gattung der Dorfgeschichte zu widersprechen scheinen, die Perspektivengebundenheit der Dorfbilder und -narrationen in den Vordergrund und verweist damit zugleich auf
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das Urbane als konstitutives und mitunter auch konstituierendes Gegenstück des Dörflichen und Ländlichen. Daher wird Zehs Roman im Folgenden in einem ersten Schritt mit Blick auf die Erzählperspektive als Dorfroman interpretiert, der unterschiedliche Wahrnehmungen des Dorfalltags und Perspektiven auf das Dorf Unterleuten präsentiert. Um die literarische Repräsentation von Dorfbildern im Rahmen eines zeitgenössischen Dorfromans in einem größeren Kontext verorten zu können, wird in einem zweiten Schritt die Funktion der Fiktionalitäts- und Faktualitätssignale untersucht. In einem dritten Schritt wird schließlich gezeigt, dass das Zusammenspiel widerstreitender Signale und die Schematizität des Erzählens die Aufmerksamkeit der Leserschaft auf das Dorf-Narrativ lenkt, das wiederum als potenzieller Bestandteil des gegenwärtigen (Groß-)Stadt-Narrativs interpretiert werden kann.
J ULI Z EHS ADAPTION
DER KLASSISCHEN
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Im REALLEXIKON DER DEUTSCHEN LITERATURWISSENSCHAFT wird die Dorfgeschichte beschrieben als »[k]leinere Erzählung über das Leben im Dorf« und als »[e]pische Prosagattung mittlerer Länge […], deren erzählter Raum eine (reale) überschaubare, abgegrenzte Einheit in der Provinz (im Gegensatz zur Stadt) ist« (Baur 2010: 390). Sie ist gekennzeichnet durch eine »einfache, überschaubare Erzählstruktur und eine dem jeweiligen regionalen Soziolekt angenäherte Sprache« (ebd.).1 Juli Zehs über sechshundert Seiten langer Text kann zwar weder als kleinere Erzählung noch als ein Text mittlerer Länge beschrieben werden, sein Gegenstand und seine Struktur entsprechen jedoch den oben genannten Kriterien. Im Zentrum von Zehs Roman steht das titelgebende Dorf Unterleuten und seine Bewohner/innen, aus deren Sicht der Dorfalltag präsentiert wird. Die Überschriften der Kapitel, die jeweils aus einem Familiennamen bestehen, verweisen auf die Figurenperspektive, die das jeweilige Kapitel bestimmt, weswegen die Erzählstruktur des Romans trotz der auf das Romanende aufgesparten Enthüllung der Rahmenerzählungsstruktur überschaubar bleibt. Zur Überschaubarkeit der Erzählstruktur trägt des Weiteren bei, dass im ersten Teil des Romans bereits alle Figuren – mit Ausnahme der erst im letzten, als Epilog betitelten Kapitel in Erscheinung tretenden fiktiven Autorin Lucy Finkbeiner – über ein eigenes Kapitel verfügen und Namen mit Bindestrich-Konstruktionen sowie Zusatzinformationen zu Geburtsnamen in den Überschriften Hinweise zu den Verknüpfungen der Figuren liefern. Der Verzicht auf eine den Soziolekt der Figuren widerspiegelnde Sprache ist der Rah-
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Weitere zentrale Aspekte wie die europaweit synchron stattfindende Entstehung der Dorfgeschichte als Textsorte und das Bürgertum als Urheber und Adressat der Textsorte werden in Baurs Lexikonartikel ebenfalls aufgeführt.
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menerzählungsstruktur geschuldet, d.h. die Sprache und das Vokabular lassen bereits zu Beginn der Handlung Rückschlüsse auf eine großstädtische Journalistin als Rahmenerzählerin zu. Auf der Ebene der Sprache wird auf diese Weise ex negativo die Differenz zwischen Stadt und Land/Dorf markiert. Uwe Baurs Kurzcharakteristik der Dorfgeschichte im Reallexikon weist, wenn auch in Parenthese, auf diese konstitutive Differenz hin. Die Differenz zwischen Stadt und Land/Dorf ist für die Konzeption des Schauplatzes entscheidend, da das Dörfliche traditionellerweise relativ zur Stadt beziehungsweise zum Städtischen bestimmt wird. Die Leitdifferenz von Stadt und Land/Dorf ist in Zehs Roman auf unterschiedlichen Textebenen präsent, vom Schauplatz über die Auffaltung der Erzählerstimme bis hin zum sprachlichen Stil des Textes. In den Rezensionen zu UNTERLEUTEN wird dieser Differenz durch die Charakteristik des Romans sowohl als Dorfroman, und damit als die zeitgenössische Form einer Dorfgeschichte, als auch als Gesellschaftsroman des frühen 21. Jahrhunderts Rechnung getragen.2 Während die Kategorisierung von Zehs Roman als Dorfroman die inhaltliche Ausrichtung des Textes auf ein kleines Dorf im Berliner Umland unterstreicht, weist die Kategorisierung als gegenwärtiger Gesellschaftsroman nicht nur auf eine inhaltliche, sondern auch auf eine strukturelle und formale Spezifik hin. Die Hinweise auf Mikro- und Makrokosmos deuten ein Spiegelverhältnis zwischen Dorf und Welt beziehungsweise Stadt an. Da die Sozialform Dorf entweder von derjenigen der Stadt oder stadtnaher Gebiete durchdrungen oder abgelöst worden ist, handelt es sich bei dieser Differenz um ein heuristisches Prinzip, das in Zehs Roman allerdings ebenfalls thematisiert wird (wie im dritten Teil der Studie gezeigt werden soll). Marcus Twellmanns ausführliche Rezension zu Zehs Roman in der Zeitschrift MERKUR betont dessen Zugehörigkeit zur Tradition der Dorfgeschichte und führt an ihm beispielhaft vor, warum der Schauplatz des Dorfes seit den späten 1990er Jahren trotz der realweltlichen Einebnung des Stadt-Land-Gegensatzes wieder eine prominente Rolle in der deutschsprachigen Literatur spielt (vgl. Twellmann 2016: 71). In ihrer grundlegenden Studie zur Gattung der Dorfgeschichte haben Neumann/Twellmann (2014: 22-45) gezeigt, dass diese aufgrund ihrer zeitgleichen Konjunktur in den Literaturen Europas eine Gattung ist, die paradoxerweise gerade
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Ursula März charakterisiert Zehs Roman als »Gesellschaftsroman im Breitwandformat«, der »das Genre des Dorfromans auf das Zeit- und Fortschrittsniveau der unmittelbaren Gegenwart« gehoben habe (März 2016). Zeh habe einen Roman verfasst, der zugleich Dorf- und Gesellschaftsroman sei, weil sich im Mikrokosmos die Probleme des Makrokosmos in konzentrierter Form widerspiegeln würden. Jörg Magenau sieht in Zehs Roman ein Musterstück eines modernen Gesellschaftsromans und weist mit der Überschrift eines Absatzes – »Brandenburg als Erweiterung Berlins« – auf die, wenn auch einseitig dargestellte, Relation zwischen Stadt und Land hin (Magenau 2016).
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für die Frage, welchen Gegenstand die Bezeichnung Weltliteratur denotiert, von Interesse ist. Die in der Epoche des Realismus aufblühende Dorfgeschichte erscheint dabei per se als moderne Textsorte, da sie anhand des Transformationsraums ›Dorf‹ Modernisierungs- und Globalisierungsprozesse veranschaulicht und befragt (vgl. ebd.: 37). Die Dorfgeschichte kann deshalb als »eine erzählerische Wissensform« verstanden werden (ebd.: 29).3 Auch Michael Rölckes Studie untersucht, inwiefern die Provinz im deutschsprachigen Gegenwartsroman zum Modell der Welt wird und Gattungen wie beispielsweise die Dorfgeschichte für das Verständnis von Gegenwartsliteratur relevant sind. Rölcke zählt eine große Anzahl sogenannter Provinzromane auf und präsentiert einen Fragenkatalog, der auf Norbert Mecklenburgs Poetik der erzählten Provinz (Mecklenburg 1982) aufbaut und eine vertiefende Analyse von Provinzromanen anleiten könnte (vgl. Rölcke 2013: 119). Ein idealtypischer Provinzroman zeichne sich nach Rölcke durch einen kleinen Ort als Schauplatz und eine begrenzte Anzahl von Figuren aus, infolgedessen der erzählte Raum auch als ein »Raum der Ordnung« (ebd.: 120) zu verstehen sei. Das prototypische Basisnarrativ eines Provinzromans basiere demzufolge auf einer »Infizierung« dieses geschützten Raums, die wiederum, um im Bild zu bleiben, eine allergische Reaktion auslöst und eine Neusortierung der Verhältnisse zur Folge hat (vgl. ebd.). Diese spezifische Raumordnung des Basisnarrativs ergibt sich auch daraus, dass der Provinzroman vor allem von oppositionell und dialektisch angelegten Strukturen gekennzeichnet ist (vgl. ebd.: 119). Zehs Roman entspricht dem von Rölcke skizzierten Idealbild eines Provinzromans, da ein kleines Dorf mitsamt dorfspezifischer Institutionen (wie bspw. das Wirtshaus als Versammlungsort) und dorfspezifischer Figuren (wie bspw. der Bürgermeister) im Mittelpunkt des Romans stehen. Die Anzahl der Hauptfiguren beschränkt sich auf zwölf Figuren, deren Relationen und Konflikte im Laufe des Romans schrittweise aufgedeckt werden. Die Ordnung des Dorfes, insbesondere die Aufteilung in Freunde und Feinde, wird durch einzelne Vorfälle wie beispielsweise das Verschwinden eines Kindes, Nachbarschaftsfehden und Racheaktionen oder Werbeveranstaltungen eines Windenergie-Vertreters nicht gestört, sondern vielmehr bestätigt. Die binäre Ordnung der erzählten Welt garantiert insbesondere die Frontstellung zweier Figuren, Rudolf Gombrowski und Kron, ersterer der Prototyp eines Wendegewinners, letzterer der Prototyp eines Wendeverlierers, und deren
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Da die Dorfgeschichte gemäß Neumann und Twellmann eine globale Gattung und aufgrund ihres Reflexionspotenzials von Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen eine erzählerische Wissensform ist, ist sie für komparatistische Untersuchungen von besonderem Interesse.
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Weltsichten.4 Am Ende des Romans wird diese Ordnung noch einmal bekräftigt, da beide Widersacher im Abstand von nur sechs Monaten sterben und Gombrowskis Freitod die Binnenerzählung beschließt, während im Epilog der krankheitsbedingte Tod von Kron nacherzählt wird. Die von Rölcke konstatierte Infizierung oder Ansteckung eines vermeintlich geschützten Raums besteht in Zehs Roman aus der Aussicht auf den Bau eines Windparks nahe des Siedlungsgebietes, der sowohl bei neuzugezogenen und alteingesessenen Dorfbewohner/innen als auch bei einem dorffremden Spekulanten Begehrlichkeiten weckt. Als allergische Reaktionen können der offen zutagetretende Krieg zwischen Gombrowski und Kron und die im Hinblick auf den Windpark getätigten Interaktionen zwischen Figuren wie beispielsweise Linda Franzen, die über strategisch gut gelegenes Bauland verfügt und als Meisterstrategin beschrieben wird, und Konrad Meier, der als global player ohne Bezug zum Dorf auf steigende Bodenpreise spekuliert und mit Linda Franzen handelseinig zu werden versucht, interpretiert werden. Als weitere Reaktionen auf die geplanten Windräder können der Streik in Gombrowskis Landwirtschaftsbetrieb und insbesondere die um sich greifenden Verdächtigungen und Verleumdungen von Einzelpersonen und Gruppen genannt werden. Der Verkauf der für den Windpark benötigten Parzelle sowie die sich verschärfenden Feindschaften im Dorf führen zu einer Neusortierung des Raums, die als Entleerung desselben erscheint. Mehrere, insbesondere weibliche Figuren verlassen das Dorf; und die letzte Einstellung auf das Dorf lässt erkennen, dass das vormalige Dorfleben und mit ihm das dominante System zum Erliegen gekommen ist. Dass dies nicht nur bedauert werden muss, deutete im letzten Kapitel zum einen der Hinweis auf die Amtsübergabe des Bürgermeisters Arne Seidel an Krons Tochter Kathrin an und zum anderen die Tatsache, dass die verschwindende Sozialform Dorf wiederum einen Reiz auf Besucher/innen aus Berlin ausübt, die wie die fiktive Autorin vor Ort Zeugnisse einer aussterbenden Lebensform einzusammeln und zu konservieren versuchen.
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Die binäre Logik verweist auch auf das geteilte Deutschland vor 1989/90 und auf die beiden widerstreitenden Haltungen der DDR-Bürger/innen ihrem Staat gegenüber, welche der zukunftsorientierte Gombrowski und der systemtreue Kron verkörpern. Die Auseinandersetzung mit der DDR und ihrem Erbe erfolgt nicht nur im Rahmen der Darstellung des Konflikts der beiden Figuren, sondern auch hinsichtlich der Vita weiterer Figuren wie beispielsweise dem Bürgermeister, der von seiner Frau bespitzelt wurde (vgl. Zeh 2016: 156).
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F IKTIONALITÄTS - UND F AKTUALITÄTSSIGNALE Trotz – oder vielleicht auch: wegen – der idealtypischen Form von Zehs Dorfroman ist der Text voller Hinweise auf die Konstruiertheit beziehungsweise Fiktivität der Komponenten der erzählten Welt. Mit Blick auf die Figuren kann in diesem Zusammenhang von einer klischeebasierten Charakterisierung derselben gesprochen werden. Auf der Seite der alteingesessenen Bevölkerung macht die Leserschaft beispielsweise die Bekanntschaft von Schaller, der durch das Verbrennen von Autoreifen seinen Anrainern das Leben erschwert und den Inbegriff eines ungebildeten, gewaltbereiten und wenig kommunikativen Landbewohners darstellt. Auf der Seite der Neuzugezogenen lernen wir beispielsweise einen Nerd kennen, der außerhalb der virtuellen Welt anspruchs- sowie antriebslos ist, oder ein Paar, das aus einem ehemaligen Abhängigkeitsverhältnis zwischen Professor und Studentin hervorgegangen ist und das aufgrund des großen Altersunterschieds einen zeitgenössischen Paar-Stereotyp repräsentiert. Die typenhaften Figuren können aufgrund ihrer Haltungen und Handlungen in das durch die beiden Pole Gombrowski und Kron aufgespannte Feld einsortiert werden. Da eine Entwicklung der Figuren ausbleibt und durch die fortschreitende Handlung, die durch das Szenario Windpark bestimmt ist, lediglich Zustands- und keine Charakterveränderungen erfolgen, fehlt es den Figuren an Welthaftigkeit und Glaubwürdigkeit, d.h. sie sind in ihrer Überzeichnung während der Lektüre stets als fiktive Figuren präsent. Die Namen können ebenfalls als Signale, die auf die Fiktivität der erzählten Welt hinweisen, interpretiert werden. Die Nachbardörfer von Unterleuten – »Wassersuppe, Regenmantel, Seelenheil« (Zeh 2016: 55) und »Beutel, Groß Väter« (ebd.: 149) – tragen alle sprechende Namen. Dasselbe gilt für Figurennamen wie Lucy Finkbeiner, deren Gang aufgrund von Schuhen mit hohen Absätzen auf unebenem Gelände beschrieben wird, oder Linda Franzen, deren Familiennamen eine Referenz an den amerikanischen Schriftsteller Jonathan Franzen darstellt, dessen Erzählstil und insbesondere die Kopplung von Reflexivität und Unterhaltung als Referenzpunkt des Romans kenntlich gemacht wird. Sowohl die Ortschafts- als auch die Figurennamen sind Bestandteil einer Überzeichnung, die sich auch auf der Ebene der Beschreibung der Figuren und insbesondere des Dorfes Unterleuten widerspiegelt. Eine weitere Brechung des realistischen Impetus der Dorfgeschichte bilden die intradiegetischen Dorfdarstellungen, die von der bereits erwähnten Promotion über den von Finkbeiner geplanten journalistischen Beitrag über ein Theaterstück bis hin zu einem Computerspiel reichen. Der bereits erwähnte Nerd, Frederik Wachs, entwirft nach dem Vorbild von Unterleuten und dem angrenzenden Naturschutzgebiet – der Bau des Windparks bedroht eine unter Naturschutz stehende Vogelart – ein Tool, das eine Erweiterung des in der Landwirtschaftszone lokalisierten Com-
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puterspiels ›Traktoria‹, vertrieben von der wiederum einen sprechenden Namen tragenden Firma Weirdo GmbH5, werden soll. In ›Traktoria nature‹ können nicht nur Nutztiere, sondern auch Wildtiere gekauft und durch geschicktes Abwägen der Nutzen auf Seiten der Landwirtschaft und derjenigen auf Seiten des Naturschutzes höhere Spiellevels erreicht werden (vgl. ebd.: 535-536/567). Der Schauplatz von Unterleuten wird intradiegetisch kopiert, womit zum einen auf die Möglichkeit multimedialer Verwertung des Dorfstoffes und zum anderen – aufgrund der Parallelerzählungsstruktur – auf die Fiktivität der erzählten Welt hingewiesen wird. Eines der offensichtlichsten Signale, dass es sich bei der Schilderung des Dorfes und seiner Bewohner um das Resultat einer Fiktion handelt, bildet das letzte Kapitel des Buches, in dem sich die Berliner Journalistin Lucy Finkbeiner als Autorin der Binnenerzählung zu erkennen gibt und deren abgerissene Erzählfäden aufgreift und zu Ende führt. Den genannten Fiktionalitätssignalen stehen jedoch auch Faktualitätssignale gegenüber, die zum einen in historisch lokalisierbare Ereignisse und Institutionen und zum anderen in die Textwelt transzendierende Links eingeteilt werden können. Zu den auf der Zeitachse lokalisierbaren Ereignissen zählt der Konkurs der Investmentbank Lehman Brothers, der bereits im dritten Kapitel erwähnt wird (ebd.: 56). Des Weiteren diskutieren zwei Figuren über die Todesfälle bei der Loveparade in Duisburg im Jahr 2010 (ebd.: 412), wodurch die Handlung zeitlich lokalisiert wird. Verweise auf zeitgenössische Diskurse wie die Drittmittel-Akquise-Praktiken an Universitäten (ebd.: 25) oder Firmen- und Vereinsnamen wie Immobilienscout24 oder ADAC übernehmen dieselbe Funktion wie die Erwähnung zeitlich lokalisierbarer Ereignisse, da sie auf zeitgenössische Varianten des Forschungsbetriebs, des Wohnungsmarktes und des Bedürfnisses nach Sicherheit hinweisen und damit den Jetztzeitbezug unterstreichen. Darüber hinaus arbeitet der Text an der Transzendierung seiner eigenen Textwelt. So wird beispielsweise die Website www.maerkischer-landmann-unterleuten.de erwähnt (ebd.: 331), die realiter existiert, aber auf den ersten Blick als Parodie einer Website und deshalb als eine Extension der Romanwelt erkannt werden kann. Einen ähnlichen Realitätsstatus hat das im Roman mehrfach zitierte Buch von Manfred Gortz mit dem Titel DEIN ERFOLG, das von Zeh unter dem Pseudonym des fiktiven Autors noch vor der Veröffentlichung von UNTERLEUTEN publiziert wurde.6 Während Hinweise auf historisch verbürgte Ereignisse die erzählte Welt an die außerliterarische Welt anbinden
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Das englische Wort weirdo kann mit ›verrückter Typ‹ übersetzt werden. Dieser Firmennamen ist wiederum der Spielername des Programmierers Frederik Wachs, dem Freund von Linda Franzen.
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Juli Zehs Fortsetzung des Spiels mit der Leserschaft über die Romangrenzen hinweg hat Lehmkuhl (2016) in seiner Rezension in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG nachgezeichnet.
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und das Erzählte zu beglaubigen scheinen, haben die zweitgenannten, auf den ersten Blick ebenfalls als Faktualitätssignale identifizierbaren Außenweltbezüge eine gegenteilige Wirkung, da sie sich bereits bei einer ersten Recherche als Sackgassen der Sinnsuche erweisen. Das Verweisungsspiel wirft die Leser/innen auf ihre Leser/ innen-Position zurück, da die Sinnsuche beziehungsweise Sinnkonstruktion während der Lektüre auf diese Weise erfahrbar wird, und erinnert sie an den ihrer Lektüre zugrundeliegenden Fiktionspakt. Die Aussage der fiktiven Autorin im Epilog, dass das Dorf und ein großer Teil der Figuren ihrer Erzählungen in der Realität andere Namen tragen (ebd.: 629), hat denselben Effekt, da durch die Anspielung auf das Erzählmuster eines Schlüsselromans die Differenz zwischen Fiktionalität und Faktualität intradiegetisch thematisiert wird. Es wird suggeriert, dass Figuren und Orte zwar andere Namen tragen, die Geschehnisse sich jedoch wie geschildert zugetragen haben. Doch nicht nur die zweite Art von Faktualitätssignalen, sondern auch die erste Art lässt eine Sensibilisierung für den Erzählmodus und die Differenz zwischen Fiktionalität und Faktualität erkennen, da beispielsweise der Unfall während der Loveparade einen Gegenwartsbezug aufbaut, der als Vergleichsgröße für weitere, fingierte Gegenwartsbezüge fungiert. Beide Arten von Faktualitätssignalen haben folglich dieselbe Funktion wie die Fiktionalitätssignale, da sie zum einen als Kontrastfolie für das Spiel mit der Differenz Fiktion versus Realität fungieren und zum anderen als Spielzug innerhalb dieses Spiels für das Erzählen als einen Grenzgang zwischen Fiktionalität und Faktualität sensibilisieren. Der Epilog weist sowohl explizite Faktualitäts- als auch implizite Fiktionalitätssignalen auf. Während in den vorhergehenden 61 Kapiteln unterschiedliche Dorfbilder und -vorstellungen präsentiert wurden, wird im letzten Kapitel die Perspektiven- und Standortgebundenheit der jeweiligen Dorfansichten betont und die Perspektive der Erzählinstanz, aus der die Leserschaft diese Dorfansichten kennenlernt, kenntlich gemacht. Der Unterschied zwischen den Erzählebenen wird dadurch markiert, dass zu Beginn des letzten Kapitels die Entstehungsgeschichte der Binnenerzählung rekonstruiert wird. Ein Spiegel Online-Beitrag über einen spektakulären Freitod in einem Dorf wird als Anlass für eine Recherche vor Ort aufgeführt und auf das Resultat der Recherche, zwanzig Aktenordner voller transkribierter Interviews (ebd.: 628), sowie auf die Anonymisierung des Berichteten hingewiesen – wodurch schließlich auch die Differenz zwischen Text und Außenwelt romanintern zitiert wird. »Die Redaktion sagte, das sei kein Stoff für eine Geschichte, sondern für einen Roman, und passe zudem thematisch nicht besonders gut ins Konzept von Vesta.« (Ebd.: 627) Durch den Hinweis auf die Romanhaftigkeit des Stoffes kann die Leserschaft die Binnenerzählung als den auf den Recherchen beruhenden Roman identifizieren. Die Selbstdarstellung der Rahmenerzählerin ist wiederum reich an Faktualitätssignalen, wozu unter anderem die häufige Verwendung der 1. Person Singular und die der mündlichen Rede nachgebildeten Satzstrukturen zählen. Die Faktualitätssignale basieren auf der explizit
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gezogenen Grenze zwischen dem Erzählten, das in der Rahmenerzählung als Romanmanuskript angesprochen wird, und dem zeitlich nachfolgenden Bericht über das Erzählte, der die Lebensgeschichten der Figuren der Binnenerzählung fortsetzt. In der Selbsteinführung der Erzählerin wird am Beispiel der relativen Alterskategorie ›jung‹ aber auch die Differenz zwischen realen und fiktiven Figuren markiert und auf die Spezifik von Fiktionen hingewiesen. »Neben ihm geht das, was in Romanen eine junge Frau genannt wird, also ein weibliches Wesen, das sich gerade noch im gebärfähigen Alter befindet. Ihre bunte Wollmütze und die Fellstiefel mit zu hohen Absätzen machen sie in dieser Gegend zu einem Ortsschild von Berlin. Das bin ich, Lucy Finkbeiner.« (Ebd.: 633)
Die fiktive Autorin greift in ihrer Selbstbeschreibung auf Klischees – ›junge Frau‹ als Bezeichnung für eine Frau Anfang/Mitte Vierzig – zurück, die aufgrund der Perspektive der Beschreibung als Zuschreibungen von außen kenntlich gemacht werden, wodurch sich Finkbeiner zugleich wieder vom fiktionalen Erzählen distanziert. Ebenso bedient auch das sogenannte »Ortsschild von Berlin« bekannte Klischees und signalisiert der Leserschaft trotz der Distanzierung Finkbeiners, dass die Berichterstattung in der Binnenerzählung nicht frei von stereotypen Beschreibungen ist. Die autobiographischen Angaben zeichnen das Bild einer Städterin, das idealtypischer nicht sein könnte. Lucy Finkbeiner arbeitet nach eigenen Angaben als Freelancerin für das neu gegründete Monatsmagazin VESTA, das aufgrund seines Namens auf die Sparte der Frauenzeitschriften verweist. Die Hinweise auf eine Arbeit ohne feste Anstellung sowie auf die Aussicht, bei Misslingen des Projekts die Kosten übernehmen zu müssen, verdeutlichen die prekären Arbeits- und Lebensverhältnisse der Figur. Die Vorstellung Finkbeiners, das Manuskript im Rahmen eines spektakulären Auftritts in der Zeitschriftenredaktion zu deponieren, deutet auf den Inszenierungsdrang der Figur hin. Die Charakteristik von Lucy Finkbeiner als verkappte Romanautorin, die als Journalistin ihr Dasein fristet, stellt wiederum eine Verbindung zur Vorstellung her, dass in Berlin alle zu Künstler/innen werden können oder Berlin für Künstler/innen ein optimales Soziotop sei, was aufgrund steigender Wohn- und Arbeitsraumpreise laufend an Wirklichkeitsgehalt verliert. Wenn die Rahmenerzählerin über den Spiegel Online-Beitrag sagt, dass es sich um »[e]ine Geschichte mit Zeug zur urban legend« (ebd.: 627) handelt, dann stellt dies einen indirekten Kommentar zur Binnenerzählung dar. Die Rekonstruktion der Geschichte bis hin zu Gombrowskis Freitod im Brunnenschacht kann folglich als moderne Sage oder in einer wörtlichen Übersetzung als Großstadtlegende interpretiert werden. Der Wahrheitsanspruch des Dargebotenen wird durch den Hinweis auf Mythen oder Legenden explizit eingeklammert und die Aufmerksamkeit auf das Spektakuläre gelenkt. Das (Selbst-)Bild der Erzählerin als (objektive) Berichterstatterin wird zudem durch ihre Erzählungen demaskiert, die besagen,
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dass sie mit Figuren interagiert und sie beispielsweise in Fragen der Kindererziehung zu unterweisen versucht, während sie zugleich behauptet, dass es die Dorfbevölkerung sei, die sich durch Rechthaberei auszeichne (ebd.: 630). Der Epilog ist allerdings nicht die letzte beziehungsweise äußerste Rahmung des Romans. Auch der Romananfang und das Romanende entpuppen sich bei einer zweiten Lektüre als Rahmung, die gegenüber der Rahmenerzählung dieselbe Funktion einnimmt wie letztere gegenüber der Binnenerzählung. Der Roman wird durch folgenden Satz eröffnet: »›Das Tier hat uns in der Hand. Das ist noch schlimmer als Hitze und Gestank.‹« (ebd.: 9) Sein letzter Satz lautet: »Draußen legt sich die frühe Nacht dem Dorf wie eine beruhigende Hand auf den Scheitel.« (Ebd.: 635) In beiden Sätzen wird das Symbol der Hand bemüht, dessen zentrale Bedeutungskomponenten – zum einen Macht beziehungsweise Gewalt und zum anderen Schutz – aufgerufen und über eine weitere Bedeutungskomponente, diejenige der schöpferischen Aktivität, an den Schreibprozess und damit an eine weitere Autorin zurückgebunden werden (vgl. Natterer 2012: 172-174). Die Rahmenerzählung wird auf diese Weise eingeklammert und in ihrer Fiktionalität hervorgehoben. Die Frage, ob Zehs Roman lediglich von Dorfimaginationen und -ansichten oder aufgrund der zentralen Rolle der unzuverlässigen Rahmenerzählerin auch von Stadt- und spezifischer von Berlin-Imaginationen handelt, welche sich in der Präsentation der Dorfimaginationen durch die fiktive Autorin zeigen, muss also noch einmal neu gestellt werden.
E RZÄHLSCHEMATA UND DAS D ORF -N ARRATIV Welche Funktion haben die extensiv verwendeten Konstruktions- und Fiktionalitätssignale in Zehs Roman? Ein erster Erklärungsversuch könnte darauf abzielen, die große Anzahl solcher Signale als Bestandteil einer Verfremdungsstrategie zu lesen, die auf eine spielerische Weise eine nostalgische Lesart des Textes erschwert oder verhindert. Die in UNTERLEUTEN dargestellten Szenen haben allerdings wenig gemein mit idyllischen Bildern, einige Szenen sind dem Genre des Kriminalromans entsprechend brutal.7 Anstelle von eindrücklichen Landschaftsbildern ist von einem »Freilichtmuseum preußischen Versagens beim Versuch der Wiederaufsiedlung wüst gefallener Ländereien« (Zeh 2016: 55) die Rede. Ebenso wird das erzählerische Augenmerk auf eines der bevorzugten Betätigungsfelder der Zugezogenen, kleinbürgerliche Garten- und Hausumbauarbeiten, gelegt, die, wenn überhaupt, vom
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Die Schilderung einer Kampfszene im 48. Kapitel oder die Beschreibung von Gombrowskis Freitod im Brunnen im 61. Kapitel wären Beispiele für anti-idyllische Szenen.
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Versuch zeugen, eine idyllische Umgebung zu erschaffen. Da der Roman jedoch kein idyllisches Szenario aufbaut, bedarf es folglich auch keiner Fiktionalitätssignale, um dieses im Dienste einer auf Wirklichkeitsnähe abzielenden Darstellung zu demaskieren. Ein zweiter, und hier auch weiterverfolgter, Erklärungsversuch könnte die Signale, welche die Fiktionalität der Figuren, des Schauplatzes und der Konflikte betonen, als Fingerzeig auf ein den Dorfdarstellungen zugrundeliegendes Narrativ verstehen. Die Perspektivität des Erzählens wird im Roman unter anderem durch die Rahmung der kapitelweise dargestellten Sichtweisen der Figuren im letzten Kapitel des Romans markiert. Da sich diese Erzählstruktur der Leserschaft erst im letzten Kapitel des Buches erschließt, wird ihr die Perspektivengebundenheit des Erzählens über das Rurale zuerst in der Form der von Kapitel zu Kapitel wechselnden Erzählperspektive bewusst. Die bereits angesprochenen Aspekte des Provinzromans – wie etwa die binäre Logik, der sowohl die Figurenkonstellation als auch die Handlungsführung unterworfen sind – und die sprechenden Namen der Figuren und Ortschaften unterstreichen ebenfalls die Perspektivengebundenheit, da sie auf einen schöpferischen Akt hindeuten. Würde man sämtliche Kapitel mit derselben Überschrift aneinanderreihen (und eben nicht durch andere Perspektivierungen bzw. Kapitel unterbrechen), dann würden einzelne Lebenserzählungen vorliegen, die wiederum in Emanzipations- oder Verlusterzählungen aufgeteilt werden können. Emanzipations- und Erfolgserzählungen kommen vorwiegend bei der Darstellung der weiblichen Figuren zur Anwendung. Im Laufe des Romans verlassen beispielsweise Gombrowskis Frau, die künftige Doktorandin Jule Fließ oder auch die erfolgsverwöhnte Linda Franzen das Dorf, während Krons Tochter eine Machtposition im Dorf übernimmt. Die Lebenserzählungen der männlichen Figuren werden hingegen als Verlusterzählungen dargestellt. So verliert der indirekte Herrscher des Dorfes Gombrowski, aber auch sein Widersacher Kron, den Kampf um das für den Bau des Windparks erforderliche Stück Land, wodurch ihr Machtverlust und indirekt auch die Auflösung der binären Ordnung symbolisiert wird. Dabei verliert Gombrowski nicht nur seine Machtposition, sondern auch seine Frau und seine Hündin, bevor er seinem Leben eigenhändig ein Ende setzt, während der Programmierer Frederik Wachs seine Freundin und bei einem Autounfall beinahe sein Leben verliert. Eine Abgleichung der Schicksale der Figuren auf der Ebene der Narrationsschemata – die alten mächtigen Männer treten ab, die jungen Frauen treten (auf einem selbstgewählten Feld inner- und außerhalb des Dorfes) an – hat zum einen eine Komplexitätsreduktion des Erzählten zur Folge, und zum anderen wird durch die Priorisierung von Verlust- und Emanzipationsnarrationen bei der Darstellung der Figuren die Erzählstruktur an der Textoberfläche sichtbar gemacht. Durch die Betonung der Darstellungsebene wird das Dorf als ein Narrativ – »[n]icht nur eine Erzählung, sondern vielmehr eine mehr oder weniger geordnete Sammlung von Erzählungen und Vorstellungen, Erfahrungen und Imaginationen individueller
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und kollektiver Art« (Nell 2014: 180)8 – kenntlich gemacht. Der Leserschaft wird im Epilog der Unterschied von Information und Narrativ explizit vorgeführt, indem ihr eine zusammenhangslose Reihe an Informationen präsentiert wird, die nach der Lektüre der vorangehenden Kapitel als Impulsgeber für die Erzählungen in der Binnenerzählung identifiziert werden können: »Windkraftanlagen sollten gebaut werden, ein junger Mann war bei einem Autounfall gestorben, ein älterer nach tätlichem Angriff ins Krankenhaus eingeliefert worden, eine Pferdefrau und eine Vogelfrau hatten das Dorf verlassen, es war zu einer Verhaftung gekommen, die Frau des Selbstmörders war verschwunden, ebenso ihr Hund, und einer gewissen Hilde waren zwanzig Katzen abhandengekommen, weshalb sie ebenfalls nicht mehr in Unterleuten lebte.« (Zeh 2016: 627)
Wie bereits gezeigt wurde, sind die auf diesen Informationen basierenden Erzählungen entweder dem Muster der Verlust- oder der Emanzipationserzählung entsprechend aufgebaut. Möchte man diese Erzählungen wiederum bündeln, kann man von einem Narrativ sprechen. Sowohl durch das Spiel mit Faktualitäts- und Fiktionalitätssignalen als auch durch die Priorisierung von Verlust- und Emanzipationserzählungen wird die Aufmerksamkeit der Leserschaft auf die Ebene der Narrationen gelenkt, in denen ihr das Dorf Unterleuten präsentiert wird, und infolgedessen auf das Narrativ ›Dorf‹. Mit Blick auf die Struktur und Form des Romans treten allerdings Zweifel auf, ob der Roman lediglich aufzeigt, was ein Dorf-Narrativ sei. Die interne Fokalisierung, die Diskontinuität und Partikularität des Erzählens und die Vielsträngigkeit der Erzählung sind in erster Linie Merkmale des (Groß-)Stadtromans (vgl. Steinhoff 1990: 185-186). So erinnert die Perspektivenvielfalt des Romans nicht nur an TV-Serien, wie im Hinblick auf die Gegenwartsbezogenheit des Romans betont wurde (vgl. März 2016), sondern auch an die montageartigen Texturen eines (Groß-)Stadtromans. Franz-Werner Kersting und Clemens Zimmermann haben in ihren einleitenden Bemerkungen zum Sammelband STADT-LAND-BEZIEHUNGEN IM 20. JAHRHUNDERT festgehalten, dass trotz der sozial-räumlichen Veränderungen der Beziehungen zwischen Stadt und Land »die traditionsreiche gesellschaftspolitische Debatte über beide Pole« (Kersting/Zimmermann 2015: 10) nicht eingeebnet wurde und die Stadt-Land/Dorf-Differenz weiterhin Bestandteil soziopolitischer Diskussionen sei. Dies scheint nun auch für die Ebene der Narrative zuzutreffen, d.h. Zeh hat diese Debatte in ihrem Roman nicht nur inhaltlich, sondern auch im Hinblick
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Werner Nells Definition eines Narrativs erfolgt im Rahmen des Versuchs, die Stadt als Narrativ zu charakterisieren. Diese Definition ist an dieser Stelle hilfreich, da sie den (heuristischen) Unterschied zwischen Narration und Narrativ kenntlich macht.
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auf die Erzählstruktur aufgegriffen und produktiv weiterentwickelt. Auch Marcus Twellmann (2016: 71) beruft sich zu Beginn seiner Rezension zu Zehs UNTERLEUTEN auf diese Leitdifferenz und betont die Wirkmächtigkeit von Gegenbildern, die beispielsweise Städter/innen zum Umzug in ländliche Regionen verleiten. Diese Gegenbilder und insbesondere ihre gesellschaftliche Funktion ständen im Zentrum von Zehs Roman, der sowohl unterhaltsam sei – Twellmann verweist auf die konventionelle Spannungserzeugung nach dem Muster einer Kriminalerzählung – als auch mit einer Erzählstruktur überzeuge, welche die Sichtweisen unterschiedlicher Figuren wiedergebe (ebd.: 74). Allerdings spricht Twellmann zwar die Recherchetätigkeit der fiktiven Autorin und den von ihr behaupteten fehlenden Durchblick an, ihre spezifische Großstadtperspektive wird hingegen nicht explizit thematisiert. Da die Binnenerzählung retrospektiv als Roman der fiktiven Autorin kenntlich gemacht wird, nimmt diese Darstellungsform des Dorfes neben den anderen Darstellungsformen wie etwa dem Spiegel Online-Beitrag, dem Theaterstück oder der Promotionsschrift eine herausragende Stellung ein. Wie die vorhergehende Analyse von Zehs Roman gezeigt hat, werden sowohl Stereotypen des Dorf- als auch des Stadtlebens präsentiert, sodass der Roman die klassische Stadt-LandDifferenz aufnimmt und kenntlich macht; und somit schließlich trotz der Übermacht der Dorfbilder auch Stadtbilder und -vorstellungen entwirft. Zehs Roman handelt folglich nicht nur von der stereotypen Re-Literarisierung zeitgenössischer Dorfimaginationen, sondern auch von der Funktion des Dorf-Narrativs im Hinblick auf ein zeitgenössisches Stadt-Narrativ. Er führt uns sowohl unsere Dorfimaginationen und -darstellungen vor als auch – mittels der Rahmenerzählerin und ihrer Vorund Darstellung eines Dorfes – unsere (Groß-)Stadtimaginationen, deren Realitätsgehalt mit demjenigen der Dorfimaginationen übereinstimmt. Das Rurale bildet dabei einen konstitutiven Bestandteil großstädtischer Selbstdarstellung; weshalb auch davon auszugehen ist, dass zukünftige Berlin- oder allgemeiner: Großstadtromane in sich Dorfimaginationen enthalten werden. Die Leitdifferenz Stadt versus Land/Dorf ist daher sowohl für die Untersuchung von zeitgenössischen Dorf- als auch Stadtromanen von zentralem Interesse.
L ITERATUR Baur, Uwe (2010): »Dorfgeschichte«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller, hg. von Klaus Weimar, Bd. 1, Berlin: De Gruyter, S. 391-392. Kersting, Franz-Werner/Zimmermann, Clemens (2015): »Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert. Geschichts- und kulturwissenschaftliche Perspektiven«, in:
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Dies. (Hg.), Stadt-Land-Beziehungen im 20. Jahrhundert. Geschichts- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Paderborn: Ferdinand Schöningh, S. 9-31. Lehmkuhl, Tobias (2016): »Wer in Juli Zehs ›Unterleuten‹ wen bewegt«, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.04.2016. URL: www.sueddeutsche.de/kultur/julizehs-unterleuten-hat-juli-zeh-fuer-ihren-aktuellen-roman-abgeschrieben1.2949260 [abgerufen am 29.05.2017]. Magenau, Jörg (2016): »›Unterleuten‹ von Juli Zeh. Die Landidylle, in der Gewalt alltäglich ist«, in: Süddeutsche Zeitung vom 21.03.2016. URL: www.sueddeutsche.de/kultur/unterleuten-von-juli-zeh-die-landidylle-in-dergewalt-alltaeglich-ist-1.2915472 [abgerufen am 29.05.2017]. März, Ursula (2016): »›Unterleuten‹. Jedes Dorf ist eine Welt«, in: Die Zeit vom 05.04.2016. URL: www.zeit.de/2016/13/unterleuten-juli-zeh-roman [abgerufen am 29.05.2017]. Mecklenburg, Norbert (1982): Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman, Königstein/Ts.: Athenäum. Natterer, Claudia (2012): »Hand/Finger«, in: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole. 2., erweiterte Auflage, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 172-174. Nell, Werner (2014): »Die Stadt als Dorf. Über die Generalisierung von Nahräumen und ihre Grenzen«, in: Werner Nell/Marc Weiland (Hg.), Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt, Bielefeld: transcript, S. 175-194. Neumann, Michael/Twellmann, Marcus (2014): »Dorfgeschichten. Anthropologie und Weltliteratur«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 88/1, S. 22-45. Rölcke, Michael (2013): »Konstruierte Enge. Die Provinz als Weltmodell im deutschsprachigen Gegenwartsroman«, in: Carsten Rohde/Hansgeorg SchmidtBergmann (Hg.), Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989, Bielefeld: Aisthesis, S. 113-138. Steinhoff, Hans-Hugo (1990): »Großstadtdichtung«, in: Günther und Irmgard Schweikle (Hg.), Metzler Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen, 2. überarbeitete Auflage, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 185-186. Twellmann, Marcus (2016): »Idyll aktuell. Was eine Geschichte vom Dorf über die Gesellschaft verrät«, in: Merkur 70/805, S. 71-77. Zeh, Juli (2016): Unterleuten, München: Luchterhand.
Energien erzählen Zum Aufeinandertreffen von Kunst, Literatur und Energiewende I NGO U HLIG
Zur Energiewende zählen weit mehr als technische Innovationen, neue Infrastrukturen und politische Programme. Längst ist damit ein historischer Ereigniszusammenhang bezeichnet, der in Lebenswelten und -entwürfe hineinwirkt und verschiedene soziokulturelle Bereiche durchdrungen hat. Dazu zählen auch die bildenden Künste und die Literatur, die mit der Verhandlung von neuen Energien nicht zuletzt sehr grundsätzliche Fragen nach dem Raum und dem Status des Ländlichen in unserer Gesellschaft aufwerfen. Die folgenden Ausführungen erkunden diese imaginäre Seite der Energiewende. Diese Erkundungen sind hier nicht auf eine grundsätzliche Behandlung des Themas ausgelegt, sondern haben zunächst selbst ein dezentrales, ein essayistisches Format: Ich suche einige neuralgische Punkte auf, die es ermöglichen, unsere Imaginationen mit unseren Energien in Beziehung zu setzten. An diesen Punkten zeigt sich, dass die Künste ein ebenso originelles wie profundes Wissen über den Zusammenhang von Lebens- und Energieformen bereithalten. Der Zugang dazu soll zunächst anhand historischer Schlaglichter auf die Beziehung von Kunst und Energie gefunden werden.
H ISTORISCHE S TATIONEN Wird in der Geschichte der Künste eine Geschichte der Energie und der Energiewenden greifbar? Den ersten, nach einer Antwort suchenden Blick könnte man auf Motive, Themen und Ikonographien richten: Was erzählt etwa das achtzehnte Jahrhundert von den Kräften, die es bewegt haben? Das heißt, von den Kraftquellen des mechanischen Zeitalters: Wind, Wasser, Tier und Mensch. Und wie greift im Vergleich dazu das neunzehnte Jahrhundert andere Energie-Artefakte und -Objekte
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auf: Wärmemaschinen, Kohleöfen und -maschinen, fossile Rohstoffe, Dampf und Wolken? Der französische Philosoph und Wissenschaftshistoriker Michel Serres hat dafür in dem »Turner übersetzt Carnot« überschriebenen Kapitel von HERMES III (Serres 1992) treffende Beispiele herangezogen: George Garrards MR. WHITBREADS WHARF (1784) und William Turners THE FIGHTING TEMERAIRE (1839). Es sind Kraftquellen und Arbeitsvorgänge, von denen diese Bilder erzählen. Zuerst der Umschlag von Dingen in einer Lagerhalle des achtzehnten Jahrhunderts. Man findet die vier Krafterzeuger dieser Zeit: Wind, Wasser, Pferde und Menschen und all jene mechanischen Werkzeuge, um deren Kräfte zu übertragen: »Eine erschöpfende Sammlung von Instrumenten zum Heben, Bewegen und Transportieren von Lasten, ausgestattet mit ihren Transmissionselementen«. (Serres 1992: 328) Dann, bei Turner, wird der klassische Segler von einem Dampfboot zum Abwracken geschleppt. Die Energiewende, die hinter den Industrialisierungsschüben des neunzehnten Jahrhunderts steht, ist ins Bild gesetzt. So lässt sich der Übergang von den mechanischen zu den Wärmemaschinen anhand der Malerei dokumentieren. Das ist aber, wie gesagt, nur der erste Blick. Der Zusammenhang beider Wissens- und Kulturbereiche ist um einiges subtiler. Dies wird deutlich, wenn man den Blick auf die Darstellungsweisen lenkt und damit der Frage, ›Was‹ dargestellt wird, jene nach dem ›Wie‹ folgen lässt. Von der Ikonographie also zur Formalästhetik: Parallel zu dieser Energiewende vollzog sich der Epochenübergang von einer abbildlich-realistischen zu einer früh- oder präimpressionistischen Ästhetik. Eine Freisetzung des Malerischen gegenüber der Zeichnung, der Farbe gegenüber der Kontur, des Grunds gegenüber der Figur, generell die Tendenz zur Abstraktion. Das neunzehnte Jahrhundert prägen umrisslose, wandelbare Erscheinungen und dynamisierte Bildräume. Eine parallele Entwicklung im Wissen um die Energien: Auf die Mechanik, die definierte Körper in Ruhe und Bewegung und folglich in geometrischen Ordnungen beschreibt, folgen – verbunden mit dem Namen Carnots – thermodynamische Modelle und eine Physik, die Differenzen und Materieübergänge verhandelt. Statt der Geometrie von Körpern eine Stochastik von Teilchen, die »zittern und verschmelzen«. Michel Serres: »Die Materie bleibt nicht länger den Gefängnissen des Schemas überlassen. Das Feuer löst sie auf, lässt sie vibrieren, zittern, oszillieren, lässt sie in Wolken explodieren.« (Ebd.: 333) Von den tableau- oder sammlungsartigen, objektverliebten Erzählungen der Aufklärung hin zu jenen kräfteabhängigen Erscheinungen und Materien des Impressionismus und des beginnenden nervösen Zeitalters. Epistemisch wie ästhetisch werden Übergänge vollzogen: von Enzyklopädien und Tableaus zu Massendarstellungen und Wolken; soziokulturell ersetzen industrielle Arbeitsweisen handwerkliche. Wenn man diese Linie weiterzieht, wenn man also davon ausgeht, dass unsere Imaginationen auf subtile Weise mit Energieformen in Beziehung stehen, ließe sich
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wahrscheinlich das Pathos der Industrialisierung, das sich in den Entwürfen der historischen Dialektik, des Fortschritts und der modernen Heroik ausdrückt, als eine untergründige Petrofiction kennzeichnen. Was an ideologischen oder geschichtsphilosophischen Ansprüchen in den modernen Kulturkämpfen artikuliert wurde: Es waren Fiktionen der fossilen Energien und ihres Reichtums bzw. des Kampfs um diesen Reichtum – eine Kultur der Motoren (Serres 1993: 60-65; Leggewie 2013: 327). Im zwanzigsten Jahrhundert tritt eine neue Energieform auf den Plan, die in einem Maße eindrucksvoll ist, dass sie die Malerei kurzerhand zur Erklärung ihrer radikalen Formexperimente heranzieht: Wenn der abstrakte Expressionismus daran arbeitet, jegliche Form und Figur zu sprengen und wenn mit den Drippings von Jackson Pollock ein Bildprogramm entsteht, das den gesamten Bildraum – all over – ins Chaos stürzt, dann steht dies mit atomaren und globalen Maschinen in Zusammenhang: »It seems to me that the modern painter cannot express his age, the airplane, the atom bomb, the radio, in the old forms of the Renaissance or any other past culture. Each age finds its own technique.«1
Und sicher lässt sich die Reihe vom nuklearen Informell in die Zeit des Klimawandels und der erneuerbaren Energien verlängern: Kronzeuge hierfür ist eine Arbeit von Olafur Eliasson, die von 2003-2004 in der Turbinen-Halle der Tate Modern-Galerie in London zu sehen war. Rund zwei Millionen Besucher machten die künstliche Sonne von THE WEATHER PROJECT zu einer der meist rezipierten und erfolgreichsten künstlerischen Arbeiten unserer Gegenwart. Hier wie in anderen Installationen (nochmals monumentaler etwa in James Turells RODEN CRATER) wird das Licht oder der Lichtraum zu einem Akteur, der in unsere sinnliche Konstitution eingreift und neue Fühlweisen einer durchaus sehr vertrauten Energie erzeugt. Mittlerweile wohl ähnlich bekannt wie Eliassons monumentale Sonne in der Tate dürfte die 2012 präsentierte dezentrale Mini-Version des Themas sein. Dabei handelt es sich um eine von Eliasson designte und unter dem Namen LITTLE SUN angebotene Solarlampe, die Menschen in Regionen ohne Stromnetz mit Licht versorgen soll. Der Preis einer zum Beispiel in Deutschland angebotenen LITTLE SUN ist dabei so kalkuliert, dass die Lampe in ärmeren Ländern erschwinglich bleibt. Beworben wird dieses Energiewende-Objekt gegenwärtig mit dem Satz bzw. hashtag: »We are all #connectedbythesun«.
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So Pollock in einem Interview mit William Wright im Sommer 1950. Hier zitiert nach Doss (1991: 331).
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N OVA R EGIO Im Gesamtwerk von Eliasson stehen beide Arbeiten im Zusammenhang mit einer regelrechten Wind-, Wasser- und Sonnenkunst. Wobei eine zentrale poietische Struktur darin zu bestehen scheint, das lokale Auftreten (des Lichts oder des Wassers) mit globalen oder besser kosmischen Energiezusammenhängen und -umwandlungen in eine Resonanz zu versetzen, die sinnlich erfahrbar wird. Zu diesem Gefüge zählt auch der Rezipient: Ich selbst bin ein Modus, eine Form dieses Austauschprozesses; ich stehe mit meiner Umgebung – ihren Medien, Objekten, Netzwerken und Verfahren, aber vor allem auch mit ihren Energien – in Verbindung und ständigem Austausch. (Eine Einsicht, die Immanenzphilosophien vertraten, lange bevor sie unter dem Label des Neuen Materialismus formuliert wurde.) Eliasson nutzt eine existenzielle und grundsätzliche, aber gerade deshalb häufig verdeckte und nicht-wahrgenommene oder nicht-bewusste Vertrautheit mit den Energien, die allein aufgrund ihres natürlichen Vorkommens steter Anteil unserer sinnlichen Erfahrungen sind: We are all connected… Denn zur Menge meiner Wahrnehmungen und Perzeptionen zählt immer das Licht, zählt die Feuchtigkeit, zählt die Wärme. Der Kunst kommt es zu, diese Virtualitäten und Diesheiten, von denen das Feld meiner unbewussten Perzeptionen in jedem Moment durchdrungen ist, über die Schwelle der Wahrnehmbarkeit zu heben, ihnen eine Individualität zu verleihen. Es wird ein Feld individueller Erfahrung aufgespürt, welches es aus dem Bereich des Allzuvertrauten oder Trivialen herauszuheben gilt: Das Licht etwa hat eine Geschichte, deren Reflexionsfläche und Brechungspunkt für eine bestimmte Zeit lang ich bin. Ebenso bin ich ein Schauplatz oder Ausdruck der Farbe oder der Wärme. Dies ist das natur- und immanenzphilosophische Erzählmuster, das hier zum Einsatz kommt: Es ist keine Geschichte der Form, sondern eine der Kräfte, der Ereignisse. Im gelingenden Fall entsteht dabei ein ästhetisches Potential, das in der Lage ist, die Wahrnehmung der Phänomene und – da ich, wie gesagt, selbst Teil dieses Zusammenhangs bin – letztlich die Wahrnehmung meiner selbst und das eingeschliffene Funktionieren meiner sinnlichen Vermögen zu erneuern. Erläutert wird diese Arbeit an der Aisthesis und das Erschließen dieses Feldes sinnlicher Immanenz wiederum mit einem höchst alltäglichen Geschehen: dem Essen. Von der monumentalen Sonne der Tate über LITTLE SUN führt der Weg zum Chlorophyll: zum Salatblatt. Vorgetragen werden diese Überlegungen in einer Publikation aus dem Jahr 2016: STUDIO OLAFUR ELIASSON: THE KITCHEN – ein Buch, das die Küche und das Essen in Eliassons Berliner Studio vorstellt. Versammelt sind hier wie in einem klassischen Kochbuch eine große Anzahl von Rezepten und Abbildungen. Im Ganzen betrachtet liegt jedoch eine Art naturphilosophisches Projekt vor, das sich wie andere Sparten der künstlerischen Arbeit der Aisthesis von Energien widmet. Eliasson schreibt:
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»Beim Essen nehmen wir die Energie auf und bringen Licht in unsere Körper. Ein Blatt Salat ist im Wesentlichen gespeichertes Sonnenlicht. Da der Salat ohne die Einstrahlung der Sonne nicht hätte wachsen können, gleicht er einer Solarzelle. Indem wir den Salat essen, nehmen wir seine Energie auf. The Kitchen feiert diese Verbindung zwischen Menschen, Nahrung und der Sonne als Teil eines Energiekreislaufs, als Ökologie des Lebens, Nehmens und Teilens. […] Etwas zu essen bedeutet immer, auch im Wortsinn, eine innere Erfahrung, und all diese Erfahrungen sind tief in unserem Alltag verwurzelt – als gefühltes Wissen. Wie solch innere Erfahrungen äußerliche Gestalt annehmen, ist schon lange ein Kern meines künstlerischen Schaffens.« (Eliasson 2016: 12)
Derlei innere Erfahrungen – um dies nochmals festzuhalten – sind keineswegs selten, sondern im Gegenteil stetes Inventar eines ästhetischen oder sinnlichen Unbewussten, das etwa in den Naturphilosophien von Spinoza und Leibniz systematisch entfaltet wurde und seither intensive philosophische Bearbeitungen erfahren hat. Selten oder vielmehr nicht selbstverständlich ist es aber, dass diesen zumeist diffusen oder, wie Leibniz sagen würde, dunklen Erfahrungen eine äußerliche Gestalt in Form eines Kunstwerks verliehen wird. Etwas ungelenk formuliert: Ich erfahre oder werde die Materien und Energien, die ich bin. Doch auch die Tatsache, dass Eliasson im Zuge dieser immanenzphilosophischen Überlegungen auf das Essen zurückkommt, steht in einer philosophischen Tradition, die man etwa in die metabolistischen Theorieexperimente der Romantik, vor allem zu Novalis zurückverfolgen könnte. Wenn Novalis nach Erkenntniszuständen fragt, in welchen mein Körper »mir nicht specifisch vom Ganzen verschieden – sondern nur als eine Variation desselben vorkommen« würde (Novalis 1977, Bd. 2: 551), findet er auf direktem Weg zum Essen, das er als das »Immanent Genießende« beschreibt (vgl. Uhlig 2015: 238ff.). Essen bedeutet dabei nicht nur eine Vermischung oder Alienation mit Substanzen der materiellen Nahumgebung, sondern wird als universelles, den menschlichen Maßstab konsequent überschreitendes Modell für Substanz- und Energieumwandlungen angesehen. Der Kosmos insgesamt erscheint als Metabolismus. Dies zeigt eines seiner naturwissenschaftlichen Fragmente, dessen hyperbolische Figuren wohl nicht zuletzt die Vertrautheit mit der alltäglichen Verrichtung durchbrechen und einen gewissen Schwindel erregen sollen. Oder anders herangegangen: Wie lautet eigentlich die Antwort auf die Frage, was jenes Ganze ist, dessen Variation ich bin? »Was wir hier Tod nennen ist eine Folge des absoluten Lebens, des Himmels – daher die unaufhörliche Zerstörung alles Unvollkomnen Lebens – diese fortwährende Verdauung[,] dieses unaufhörliche Bilden neuer Freßpunkte – neuer Mägen – dieses beständige Fressen und machen – Absolutes Leben – abs[olutes] Genießen. […] Die Natur, oder das absol[ute] Leben, ist das Immanent Genießende.« (Novalis 1977, Bd. 3: 60f.)
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Zurück aber zu Eliasson, für den das Essen ebenfalls eine Möglichkeit darstellt, sich als Variation des Ganzen zu erfahren, und der dafür sehr konkrete Erfahrungen in Anschlag bringen kann. Denn die höchst empirische Inspiration Eliassons geht hier auf den Kopenhagener Avantgarde-Koch René Redzepi zurück, für dessen 2010 erschienenes Buch NOMA. TIME AND SPACE IN NORDIC CUISINE Eliasson das Vorwort verfasst hat. Redzepi ist einer jener Köche, die das mittlerweile weitverbreitete Prinzip einer regionalen und saisonalen Küche in den 2000er Jahren in der Hochküche etablierten und dabei die notorische Orientierung an der französischen Tradition konsequent hinter sich ließen. Das Konzept basiert auf der Verwendung regionaler Ressourcen und zielt auf eine Bearbeitung und Intensivierung ihrer je eigenen Dimension, ihres Herkunftsmilieus und ihrer ursprünglichen Nachbarschaften. Statt um Exotik geht es also um Interpretation einer sinnlich vertrauten Umgebung, wobei diese Vertrautheit untergründig sein kann, also aus Latenzen, Spuren und kleinen Perzeptionen besteht, die es erst herauszuheben gilt. Hierfür wird das Spektrum der gängigen Zutaten und Aromen erheblich erweitert: Hölzer, Steine, Laub, Asche und Erde werden zu Komponenten, die sich tatsächlich auf dem Teller wiederfinden. Vorgenommen wird so eine intensive Erforschung der näheren Umgebung mit dem Ergebnis, dass sich weitaus mehr (sehr gut) Essbares findet als angenommen.2 Ziel dieses Programms ist ein Geschmacksbild, das einen spezifischen Ort, eine Jahreszeit oder auch eine Wettersituation geschmacklich erfahrbar macht: Der Rezeptteil in NOMA. TIME AND SPACE IN NORDIC CUISINE ist treffend mit »the weather recipes« überschrieben. Um hier nochmals an Eliassons Formulierung anzuschließen: Die Kunst besteht darin, einer »inneren Erfahrung« die Klarheit einer äußeren Gestalt zu verleihen. Jedes Wetter hat einen Geschmack: Es kann gekocht werden. Eliassons bereits erwähntes Vorwort zu Redzepis NOMA. TIME AND SPACE IN NORDIC CUISINE kommt immer wieder auf die singulären und komplexen Raumerfahrungen zu sprechen, die Redzepis Gerichte zu vermitteln in der Lage sind: Wenn etwa das Spektrum einer Wiese oder eines Ackers auf dem Teller erscheint, hält er fest: »We do not stop the world when we eat; we go into it a little more deeply.« (Eliasson 2010: 7) Dieser Schritt bedeutet, die Immanenz von Materien und Energien wahrnehmen zu können: Ich bestehe, um es anders zu formulieren, schon immer aus den Materien und Energien eines Ackers oder einer Wiese, nur sind Spuren dieser Orte verwischt und undeutlich. An der Behebung dieses sensuellen
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Dies führt zu experimentellen Formaten, z.B. dem auf vollständige Verwertung angelegten Trash Cooking: »Noma’s technique of creative dishes from the parts of animals and vegetables that might be considered ›trash‹.« (Redzepi 2014: 211)
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Defizits (das letztlich auf Gewohnheit und Trivialisierungen zurückgeht)3 arbeitet Redzepi, worin, so Eliasson, eine deutliche Parallele zur bildenden Kunst besteht: »When you work with a language of very delicate shades of meaning – in cooking as well as in art – it gives access to a subtle and unfamiliar register of experience. You come close to the limits of your sensory values. The senses combine, stretching your brain, and a new synaesthetic map appears.« (Ebd. 8)
Für die von Köchen wie Redzepi vertretene Küche hat der deutsche Restaurantkritiker Jürgen Dollase (2014: 222ff.) den treffenden Titel Nova Regio vorgeschlagen. Dollase verwendet diesen Begriff in erster Linie, um den hier praktizierten neuen Umgang mit der Region (die erwähnte lokale Beschränkung und Detailarbeit) zu kennzeichnen. Der Begriff bietet sich aber darüber hinaus an, um jene erneuerte Raumerfahrung zu beschreiben . Nova Regio meint eine neue Art zu kochen, es meint aber notwendig auch eine neue Erfahrung des Raumes und meiner Einbindung in diesen Raum: Die Wahrnehmung der lokalen Umwelt, ihrer Materien und Kräfte, im Format innerer Erfahrung. All dies hat, darauf muss hingewiesen werden, keinerlei esoterischen Beiklang und spielt nicht mit den Klischees einer guten alten Zeit oder ländlichen Einfachheit. Zwar wendet man sich gleichsam gegen industrialisierte und trivialisierte Geschmacksbilder, dies geschieht aber aus der Perspektive der Avantgarde: die Erneuerung von Geschmack, Wahrnehmung und letztlich auch des/der Essenden. Hinzu kommt hier ein durchaus politischer Ansatz, der nach zukünftigen Möglichkeiten einer ökologisch vertretbaren Versorgung mit hochwertigen Lebensmitteln fragt (vgl. Dollase 2013).
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Interessant ist dabei, dass es im NOMA (wenn man die zeitweise äußerst rege Berichterstattung über das Restaurant verfolgte) zu einer auffälligen Häufung der Memoire Involontaire kommt: Die Gerichte geraten in Resonanz mit Geschmackserlebnissen aus der Kindheit, also einer Zeit, in der viele Sinneseindrücke noch der Phase der Entdeckungen zugehört haben und weniger angeeignet und durch die Erfahrung kategorisiert waren. Auch Marcel, Prousts Erzähler im Roman, musste den frühen Geschmack der Madeleine und all jene durch ihn evozierten, einzigartigen Essenzen des Dorfes Combray erst wieder unter den notorischen Erinnerungen an die Auslagen bei den Pariser Bäckern hervorsuchen (Proust 2000: 66).
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Diese gegenwärtigen Experimente mit der Aisthesis von Räumen und Energien fordern die Frage nach der Gegenwartsliteratur heraus: Gibt es signifikante Schreibweisen und Erzählungen, die eine vergleichbare Immanenz, eine Verschränkung von Räumen, Energien und Akteuren darzustellen versuchen? Bevor ich versuche, diese Frage zu beantworten, scheint es hilfreich, auf eine in der jüngsten Zeit erfolgte Reformulierung des Begriffs der Erzählung aufmerksam zu machen. Gemeint ist Albrecht Koschorkes 2012 erschienene Studie WAHRHEIT UND ERFINDUNG. GRUNDZÜGE EINER ALLGEMEINEN ERZÄHLTHEORIE. Die Bezeichnung ›allgemeine Erzähltheorie‹ verweist hier schon auf das Vorhaben, das gesamte empirische, also keineswegs nur literarische Auftreten des Erzählens in den Blick zu nehmen: Es geht um eine kulturelle Empirie der Erzählung. Zu diesem Zweck werden Erzählung und Raum konzeptuell so miteinander verflochten, dass sie schließlich als identische Größen erscheinen. Dabei zeigt sich zunächst ein Wandel im Verständnis dessen, was Raum in ganz elementarer Weise sei. Definiert wird ein Raum, der sich Subjekten und Objekten, Äußerungen und Bedeutungen gegenüber keineswegs neutral verhält, sondern in deren Gestaltung und deren Existenz eingreift: Räume sind nicht passiv, sondern epistemisch und semantisch übergriffig. Sie beeinflussen, was ich sagen und wissen kann, sie beeinflussen, was und wie ich wahrnehme und wahrgenommen werde. Räume sind voller Zeichen, oder besser: Sie sind selbst Zeichen, die in das Generieren und die Existenz jeder beliebigen Erzählung eingreifen. Woraus folgt, dass kein Zeichen und Narrativ, das einen Raum durchquert, die Bedeutung behält, die es zu Beginn seines Wegs hatte. Erzählungen und Zeichen affizieren und informieren einander, sie durchmischen und koppeln sich. (Wiederum stößt man auf einen immanenzphilosophischen Theoriekern.) Dabei sind diese Einflussnahmen voller subtiler und grober Varianzen, es gibt Schwellen und Grenzen, Zentren und Provinzen, deren Eigenheiten ich zum Beispiel bemerke, wenn ich dort zu sprechen beginne. Koschorke verfolgt also eine kulturelle Empirie der Erzählung, die ihrer räumlichen Verbreitung, Dynamik und letztlich ihrem singulären Charakter gerecht wird. Hier zeigt sich zunächst auch, dass das Erzählen keineswegs im Dienste kultureller Homogenität steht (auch der Universalismus ist de facto eine »Sinnprovinz« unter anderen), und es macht ebenso wenig Sinn, der Masse der Erzählungen einfache dialektische Muster (Antagonismen, definierte Frontstellungen) zuzuweisen. Vielmehr ist zu beobachten, dass da, wo erzählt wird, ein Vermannigfachen von Sinnangeboten und -zusammenhängen zu beobachten ist. Dessen Ergebnis ist nicht Entropie, sondern eine Differenzierung in der Fläche: Die Erzählung ist ein notorisch sich regionalisierendes, dezentrales Gebilde, ein »Flickenteppich« oder eine »Polyglossie«.
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Dabei hat diese Theorie gerade in der vorgenommenen Verräumlichung der Erzählung, also im Ausweis ihrer empirischen Mannigfaltigkeit, einen energetischen Subtext, der an einigen Stellen des Buches, wie in dem Kapitel »Sinn als Energieproblem« (Koschorke 2012: 148-152), deutlich an der Oberfläche sichtbar wird. Jede Aussendung von Zeichen ist eine Energieleistung, jede Äußerung, so die informationstheoretische Anleihe, arbeitet gegen den Zerfall, die Entropie. Wer etwas erzählt, betreibt Aufwand, arbeitet: Institutionen und Traditionen erzählen gegen ihren Zerfall und das Vergessen an, das Neue und Subversive behauptet sich in Absetzung von der Tradition. Augenfälligstes Beispiel ist der Propagandaaufwand autoritärer Institutionen, also z.B. von Staaten, die an flächendeckenden, einheitlichen Bedeutungen interessiert sind und immense Arbeit leisten müssen um dies zu erreichen: Hegemonie benötigt stetige Stabilisierung, Redundanz und »Sinnzwang«. Viel wahrscheinlicher als eine derartige Homogenität ist lokale Varianz; und so beginnt es immer wieder an den Rändern, aber auch im Hier und Jetzt, zu rauschen, immer gibt es Schwund und immer wird Korrektur und Vermittlung nötig. Eine kulturelle Empirie der Erzählung ist folglich eine Theorie lokaler, singulärer Kräfte. Wenn man, dem folgend, Räume als poietische Energien begreift, dann macht jede Narration Energien sichtbar. Und möglicherweise – dies wäre der Weg in die Literatur – sind weite Teile der gegenwärtigen Textproduktion darauf angelegt, mehr Licht auf deren Auftreten zu werfen. Dabei geht es aktuell weniger um Experimentierweisen der literarischen Avantgarden, also etwa darum, sich fundamentalen Bedingungen der sprachlichen Form zuzuwenden. Es geht aktuell um einen Realismus der lokalen Kräfte und letztlich um eine intensive Bearbeitung der Provinz – dies erscheint nur auf den ersten Blick als ein eher zahmes Unterfangen. Es sind Provinzen von besonderer Form, sie definieren sich nicht in erster Linie über historische oder, schwächer formuliert, modische Rückständigkeit und sie erweisen sich nicht notwendig als träge Lebenswelten, die inszeniert, diffamiert oder verklärt werden können. Folglich sind sie auch nicht der Schauplatz eines heroischen politischen oder gesellschaftlichen Programms, das an oder in ihnen verwirklicht werden soll. Dieser gegenwärtige Realismus ist nicht politisch programmatisch4 (auch nicht in einem ökologischen Sinne) und ist keine Poetik der Zeit, ihrer Entwicklungsmöglichkeiten und -defizite, ihrer Rückständigkeit und ihres Fortschritts. Es ist ein Realismus des Raumes. Das heißt nicht nur, dass die gegenwärtige Konjunktur imaginärer Dörfer und Provinzen als Spielfeld jener vervielfältigten Erzählungen, also der Polyglossie, begriffen werden kann, in deren Gesamtschau sich eine dezentrale, vielfach belegte und letztlich postfaktische Landschaft voller Eigengesetzlichkeiten ergibt. Es heißt
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Zur Verortung gegenwärtiger Strömungen des Realismus vgl. Tommek (2016).
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vor allem – dieser Sachverhalt steht im Zentrum –, dass der Raum selbst der Akteur oder die Kraft ist, die Figuren und Gruppen durchläuft, ihre Gestalt definiert und sich in singulären Landschaften ausdrückt. Diese Räume sind nicht die Schauplätze für die Handlungen von Figuren, viel eher ist die Figur der Schauplatz des Raumes. Eine solche Vertauschung von Subjekt und Objekt geht in der Formulierung leicht von Hand, ist aber wesentlich schwerer zu beschreiben. Eines der wesentlichen literarischen Mittel ihrer Realisierung besteht darin, die Figuren mit einer gewissen Versehrtheit zu zeichnen: Sie sind nicht von apollinischer Glätte, sondern Träger verschiedenster Spuren, Kräfteeinflüsse und Manierismen. Folglich erscheinen die meisten Akteure vor allem der gegenwärtigen Dorfromane als merkwürdig sekundäre, fluktuierende Größen, dazu geschaffen, die Kräfte ihrer Umgebungen wahr- und aufzunehmen, sie zum Ausdruck zu bringen. Der Dorfraum, das enge Netz seiner Nachbarschaften, hat sich mitunter regelrecht inkarniert. Die Figur ist Teil des Raumes geworden, der sie moduliert und umwandelt, sie sogar erscheinen und verschwinden lassen kann. Auf den isolierten oder insularen Schauplätzen treten Kräfte auf, die immer eine Deformation, Verwindungen und Affekte der Figur bedingen. Etwa die junge Heldin bei Alina Herbing (NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN, 2017), die Stall und Acker immer näher kommt und die Intensität dieser Orte erfährt, je weniger sie im Dorf leben kann; die ebenso schattenhafte wie territoriale Personage bei Anika Scheffel (BEVOR ALLES VERSCHWINDET, 2013), wo der Raum eine Art Wiedergänger in der Figur Milo findet; oder die »kaleidoskopischen« Figuren bei Juli Zeh (UNTERLEUTEN, 2016), die trotz ihrer Mehrdeutigkeit dokumentieren, wie sehr sich ihnen das Dorf eingeprägt hat. Man hat das Gefühl, dass viele dieser Akteure weder ohne noch mit diesen Räumen leben können. Gerade in ihrem verzerrten Auftreten machen sie den Raum, seine Zeichen, seine poietischen Energien sichtbar, was letztlich vor allem bei Scheffel dazu führt, dass die Figur in den Raum regelrecht eingeht. Man könnte angesichts dieser agentiellen Räume sicherlich aktuelle posthumanistische Theorieprogramme in Anschlag bringen, aber es lässt sich wiederum darauf hinweisen, dass die Theorien der Immanenz schon immer Argumente in dieser Richtung vertreten haben: Wenn Spinoza eine Theorie der Affektion entwirft, wenn Nietzsche vom Leib als »fühlbar werdende Geschichte« (Nietzsche 1999: 655) spricht oder wenn Gilles Deleuze und Félix Guattari eine ästhetische Einheit von Empfindungswesen, Haus und Kosmos entwerfen. Letzteres Konzept aus WAS IST PHILOSOPHIE? soll hier kurz referiert werden, insbesondere da hier eine weitere Theorie lokaler poietischer Formationen vorliegt, die pointiert auf den spezifisch künstlerischen Umgang mit dem Raum hinweist: Im Zentrum steht das Haus. Zunächst werden künstlerische Phänomene in den Begriffen von Perzept und Affekt beschrieben: Als Perzept wird eine genuin der Kunst entstammende Wahrnehmungsweise bezeichnet. Im Perzept erschließt die Kunst den Raum; ihre Funk-
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tion ist es, »die sinnlich unspürbaren Kräfte, die unsere Welt bevölkern, die uns affizieren, uns werden lassen, spürbar zu machen« (Deleuze/Guattari 2000: 216). Im Affekt realisiert die Figur diese Kräfte, wobei stets Verzerrungen der Normalexistenz und sozialer Konventionen auftreten, z.B. Formen eines Tier- oder Pflanzewerdens. Im Zusammenspiel beider, Perzept und Affekt, entsteht ein ›Empfindungswesen‹ (›l’être de sensation‹) – ein Begriff, dessen Akzent auf dem Sachverhalt liegt, dass das Paar von Subjekt und Objekt einer merkwürdig verschränkten Gestalt, einer sinnlichen Immanenz gewichen ist (phänomenologisch gesprochen: eine Einheit von Fühlendem und Gefühltem) (vgl. ebd. 217).5 Im Gang durch verschiedene Kunstgattungen weisen die Autoren nach, dass zu diesem Empfindungswesen eine Art Territorium, eine Provinz gehört, die generalisierend als das ›Haus‹ bezeichnet wird. Gemeint ist ein Schauplatz, eine Nahumgebung, ein Zimmer oder auch ein Dorf (ein Beispiel ist das Proustsche Combray) als Rahmen, in dem sich die Empfindung hält (vgl. ebd. 225). Wiederum zeigt sich ein Raum, der nicht neutral, sondern affizierend und invasiv ist und dem Akteur hohe Energiemengen zumutet. Die Kunst macht durch das realistische Element des Hauses deren Auftreten sichtbar. Die weiterführende Frage wäre hier, zu welchem Zweck die Kunst ihre Figuren derart ausrichtet und in Stellung bringt? Wozu legt sie diese keineswegs behaglichen Räume an? Im Prinzip ist dies eine Frage nach der Autonomie des künstlerischen Zugriffs. Um dies zu erkennen, sollte man sich – erstens – die Figur nicht statisch vorstellen, ›vor Ort‹ erweist sie sich weniger als Identität denn als ein Zusammenhang von Individuierungen. Zweitens ist auch ihr Territorium nicht geschlossen oder gar Idylle, vielmehr arbeiten die Künste stets an seiner Öffnung.6 Bleibt es geschlossen, gelingt die Kunst nicht, wird Klischee, Meinung, Wiedergabe und Verfestigung bekannter Formen. Die Formulierung ›die Kräfte sichtbar machen‹ bedeutet immer notwendig einen Abbau verfestigter Formen oder verbindlicher Bedeutung und eine radikale Historisierung alles scheinbar Zeitlosen – was zur
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Im Hintergrund steht hier eine Arbeit von Erwin Straus (1952). Man bemerkt, wie nahe
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Dies gilt auch für das Erzählen: Es kann »in den Dienst des Abbaus von Sinnbezügen
Eliassons Begriffspaar von äußerer Gestalt und innerer Erfahrung hier ist. gestellt werden, etwa durch Demontage von hegemonialen Sinnzwängen. Als eine im hohen Maße formlose Tätigkeit kann es entsprechend gerade die Qualität der Formlosigkeit – sei es durch Deformation, sei es durch Auflösung verfestigter Sinnformen – im Prozess der kulturellen Semiosis ausspielen. In einer Vielzahl von Erzählungen wird Kontingenz keineswegs gebannt, sondern geradezu heraufbeschworen.« (Koschorke 2012: 16, Hervorhebung im Original)
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Schaffung oder zumindest zur Kenntnis neuer Lebensmöglichkeiten führen kann.7 Anders formuliert: Wenn die Figur derart vom Raum abhängt, dann heißt das auch, dass sie in hohem Maße wandelbar ist. So wird das Haus stets nur errichtet, um es im selben Moment zu öffnen und etwas vom Kosmos hereinzulassen. Das Territorium, der Schauplatz, das Dorf sind nur scheinbar beruhigte Areale; sie beherbergen »Fluchtwesen« (ebd.: 225). Richten wir den Blick wieder auf die Gegenwartsliteratur, auf den Schauplatz Dorf, hinter dessen Konjunktur man nach dem Gesagten ein derartiges Spiel von Kräften vermuten könnte. Dabei fällt auf: Die Dörfer sind nicht heimatlich, sie sind kosmisch. Alina Herbings Roman beginnt auf dem Acker, die passive Heldin nimmt die Situation wahr: die Hitze, der Himmel, »dieses verdammt blaue Blau«, die Sonne, eine langsam fallende Bombe, Windradtürme, ein vom Mähwerk erfasstes Reh, Blut und Teile des Tiers. Aber nicht nur Schreckliches oder Erhabenes, auch alltägliche Dinge: Ein alter Traktor, ein Fettfleck an der Scheibe, dort wo der Kopf angelehnt war, Feldmäuse, das Taschenmesser in der Gefrierbox. Dann, auf dem Acker im Nirgendwo, ein definierter Affekt: Das Durchschneiden des Kabels. Ein kurzes
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Den Begriff Kosmos (oder auch Kosmogenese) übernehmen Deleuze/Guattari aus poetologischen Überlegungen von Paul Klee, um eine postromantische, nicht mehr am Heimatlichen ausgerichtete Kunst zu beschreiben. Klee seinerseits verwendet den Begriff, um ein informelles oder präindividuelles Geschehen offen zu legen, das in der künstlerischen Form sichtbar bleibt. Im Zusammenhang damit stehen Passagen wie die folgenden aus Klees SCHÖPFERISCHE KONFESSION: »Früher schilderte man Dinge, die auf der Erde zu sehen waren, die man gern sah oder gern gesehen hätte. Jetzt wird die Relativität der sichtbaren Dinge offenbar gemacht und dabei dem Glauben Ausdruck verliehen, daß das Sichtbare im Verhältnis zum Weltganzen nur isoliertes Beispiel ist und daß andere Wahrheiten latent in der Überzahl sind. Die Dinge erscheinen in erweitertem und vermannigfachtem Sinn, der rationellen Erfahrung von gestern oft scheinbar widersprechend. Eine Verwesentlichung des Zufälligen wird angestrebt.« (Klee 1991: 63f.) Zusammenfassend führt Klee folgendes Beispiel an: »[W]as ein moderner Mensch, über das Deck eines Dampfers schreitend, erlebt: 1. die eigene Bewegung, 2. die Fahrt des Schiffs, welche entgegengesetzt sein kann, 3. die Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit des Stromes, 4. die Rotation der Erde, 5. ihre Bahn, 6. die Bahn von Monden und Gestirnen drum herum. Ergebnis: ein Gefüge von Bewegungen im Weltall, als Zentrum das Ich auf dem Dampfer.« (Ebd.)
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Austicken, scheinbar kindlicher Trotz oder ein Kind-Werden, in einer Umgebung, die die Heldin schon immer kennt; zugleich aber, neben allem Destruktiven, ein vitales Element, das die erste Strecke jener Fluchtlinie entwirft, auf die die Heldin geraten ist. »Bevor noch mehr passiert werfe ich das Messer lieber wieder in die Gefrierbox.« (Herbing, 2017: 13) Natürlich wird an anderen, benachbarten Orten noch mehr passieren… Ähnliche Dramatisierungen von Dorfereignissen bei Juli Zeh: In der Figur Gombrowski, lokaler Entscheidungsträger, schwergewichtig und durchsetzungsstark (zumindest ehemals), wird durch einen eher harmlosen Angriff auf sein Haus ein traumatischer Affekt aus Kindertagen wachgerufen: Hier »wechselte Gombrowskis Wahrnehmung die Spur […,] die Sicht extrem klar. Er sah die Beine eines Dreizehnjährigen, lang und dünn, in gestreiften Pyjamahosen […,] die panische Angst eines Kindes […,] Gombrowski schrie wie ein Tier.« (Zeh 2016: 408) Perzept und Affekt sind auch hier nicht Perzeptionen und Emotionen im Normalmaß, sondern kennzeichnen die Figuren durch signifikante Anomalien und bedingen ihr je eigenes Herausfallen aus der sozialen Ordnung. Immer sind es aber lokale Kräfte, die wirken und sich an ihnen manifestieren. Die Figur Gombrowski realisiert dies letztlich in ihrem Freitod im Trinkwasserspeicher des Ortes Unterleuten, der als Anschlag auf den lokalen Metabolismus verstanden werden kann. Bei Annika Scheffel ist das Dorf wohl am deutlichsten ein agentieller Raum, der sich – durch sein Verschwinden verstärkt – in den Halluzinationen seiner Bewohner ausdrückt, die gänzlich und zuweilen gewaltsam an Häuser, Zimmer und Plätze gebunden erscheinen (etwa das Figurenpaar Wacho und David).8 Auch nach außen hin wird das Gebiet widerständig und regelrecht toxisch: Entworfen wird die Tierfigur des blauen Fuchses, der die von außen kommenden Akteure durch seinen Biss mit Tollwut infiziert. Die Öffnung erfährt der Raum mit seiner Flutung, die neue Fühlweisen selbst an Figuren ermöglicht, die den ganzen Roman über wie vom Stupor geschlagen schienen: Etwa wenn sich die Figur Wacho beim gemeinsamen Schwimmen mit Elini wiederfindet. Eine Szene, die andeutet, dass die Figuren nach der Flutung abgesprengten Inseln gleich zurückbleiben werden.
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Scheffels Erzählung als realistisch zu bezeichnen, strapaziert die Genrebezeichnung Realismus sicherlich relativ stark. Allerdings gilt, dass alle märchenhaften Elemente des Romans an zutiefst lokale Intensitäten gebunden sind und aus den ›Empfindungswesen‹, also den Bewohnern, hervorgehen und damit halluziniert werden. Es ist der Raum in seiner intensiven Bearbeitung, der hier realistische Darstellungsweisen zu überfordern beginnt.
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Die drei Romane sind nicht nur Erzählungen von Dörfern und Affekten, von affizierenden Räumen und ihren Bewohnern, es sind auch Energieerzählungen. In das Milieu lokaler Kräfteverhältnisse und in die Geflechte der Figuren, die tendenziell in Zuständen kleinerer oder größerer Rasereien und Fluchten angetroffen werden, überführt die Literatur das gesellschaftliche Projekt der Energiewende. Bei Herbing spielt sich das Geschehen in und unter Windrädern und mit einem Windkraftarbeiter ab, bei Zeh steht der Bau eines Windparks, bei Scheffel der Bau eines Wasserkraftwerks bevor. Anders als die Arbeiten des bildenden Künstlers Eliasson sind diese EnergieTexte allerdings nicht ›nah‹ an der Natur oder an ihrem Element. Es gibt keine oder kaum eine Poesie des Windes oder des Wassers (wie es etwa auch in Ian McEwans SOLAR (2010) keine Poesie der Sonne oder des Lichts gibt). Die Beobachtung dieser Naturdistanz legt zunächst die Vermutung nahe, dass sich ecocritische Methoden nur bedingt als ergiebig erweisen dürften: Ökologische Probleme und Umweltschutz spielen eine Rolle, insofern sie als eine Komponente zum Energiethema gehören, aber das Thema wird nicht vom Umweltschutz (auch nicht vom Klimaschutz) her entworfen.9 Interessant ist aber ein Aspekt, der sich durchaus von Eliassons Energiekunst, allerdings weniger von den motivischen als von den konzeptuellen Elementen herleiten lässt. Dies wäre ein Aspekt, in dem man in der Tat ein Paradigma der ästhetischen Thematisierung der erneuerbaren Energien ausmachen kann: Das Aufgreifen der erneuerbaren Energien in der bildenden Kunst und der Literatur zeigt die Gemeinsamkeit, dass der Fokus auf eine intensivierte, die Grenze von Subjekt und Raum dementierende Kontiguität gerichtet wird. Bei Eliasson geschieht dies als sinnliche Unmittelbarkeit (im Moment der inneren Erfahrung), in der Literatur geschieht es als Realismus des Raums, also in der Darstellung von Schauplätzen und Dörfern, die die Erscheinung der Figur bestimmen und deren Intensitäten ihr einen deutlichen Manierismus aufnötigen. Insofern wird sie kaum als essentielle Größe und Identität auffällig, sondern eher als Zusammenhang von lokalen Individuierungen. Der Unterschied zum ästhetischen Programm Eliassons besteht hier vor allem darin, dass die erwähnten Texte um einiges anorganischer zu Werke gehen, insofern sie Ungenießbares, Giftiges und das Spektrum des Abjekten in die Zirkula-
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Jonathan Franzens FREEDOM (2010) und die heroische Hauptfigur Walter Berglund wären ein Beispiel für eine derart engagierte Energieliteratur; und damit zugleich eine Ausnahme. Wobei nicht unberücksichtigt bleiben sollte, dass Berglund im Prinzip ein Held der fossilen Energien – der Kohle – ist. Vgl. dazu das Kapitel »Mountaintop Removal« (Franzen 2010: 239-290).
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tion von Raum und Figur einbeziehen. Die Dörfer in allen drei Beispielen sind in verschiedenen Hinsichten toxische Orte und sie beherbergen ebensolche Figuren. Gemeinsam ist der Literatur und der bildenden Kunst aber dennoch die Idee, das Energiethema durch das Entwerfen dieser agentiellen Räume zu verhandeln. Damit zeichnet sich eine literarische Formation ab, die auf den ersten Blick zu erkennen gibt, dass über die erneuerbaren Energien in markant anderer Weise geschrieben wird als über die konventionellen, in der Regel fossilen Energien: Während die klassischen Industriegesellschaften mit der ständigen Verfügung über Energie nicht nur die Grundlage ihrer Existenz, sondern auch die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Emanzipation verbunden sahen (etwa in den Fortschrittsideologien oder im Wettstreit der beiden Blöcke), fehlt den Erzählungen der erneuerbaren Energien in auffälliger Weise das Pathos einer solchen karbonen Fiktion. Sie und ihre postheroische Personage fügen sich auffällig nahtlos in das Panorama einer ›breiten Gegenwart‹, einer Posthistorie, die das Soziale nicht mehr als emanzipatorisches – historisches – Projekt in den Blick nimmt. Exemplarisch für diese historische Verbindung von Heroismus, Fortschritt und Energie ist Monika Marons Kraftwerksroman FLUGASCHE von 1981, der zudem einen der ersten deutschsprachigen Umweltromane darstellt. Hier kämpft die junge Journalistin mit aller Kraft des Wortes und des Kategorischen für eine Verbindung von technischem bzw. ökologischem Fortschritt und gesellschaftlicher Emanzipation. Alles wird dominiert von historischen Fragen: Wer verfügt über Energie und Ressource, wer lenkt die Kräfte und die Arbeiter und wer in Berlin entscheidet über den petrochemischen Großstandort Bitterfeld? Das korrupte System oder die progressiv-kritische Kraft, die sich in Besitz glasklarer Fakten und Argumente weiß, heroisch dafür eintritt und deren Überzeugung in einen unumstößlichen Satz passt: »B. ist die schmutzigste Stadt Europas.« (Maron 1981: 36)? Sprache und Erzählen sind hier in klaren Frontstellungen und Regulativen – ›wahr/korrupt‹, ›zentral/peripher‹ – organisiert. Das Schema der aktuellen Energieerzählung ist hinsichtlich der historischen Perspektive (also hinsichtlich der Ordnung der Zeit) bei weitem anspruchsloser, räumlich aber um einiges komplexer. Statt Zentren und Hierarchien aufzuweisen, also mit klaren und organisierenden Antagonismen zu arbeiten, finden sich dezentrale, topographisch singuläre und fluktuierende Formationen. Die Spuren des Heroischen haben sich in einem derart intransparenten Raum längst verloren. Das heißt, dass auch der klassische Protest schnell verebbt – regelrecht frappant ist etwa die Sprachlosigkeit des pathetischen Schauspielers Robert in BEVOR ALLES VERSCHWINDET. Die zur Sprache kommenden Energieprojekte werden weder heroisch befürwortet noch heroisch bekämpft, sie intensivieren lediglich eine lokale Konfliktlage und befördern das Aufbrechen latenter Spannungen. Man steht nach der Romanlektüre vor folgender (ich möchte festhalten: provisorischer und bei weitem unvollständiger) Bilanz: Das Inventar der alten Energien – fossiler Rohstoff, zentrale Produktion, heroische Steuerung – wird ersetzt durch
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Wind/Wasser, lokaler Schauplatz und Affekt. Statt Potentiale der Zeit (historischer Fortschritt) zu erschließen und zu verwalten, führen die neuen Energieerzählungen in schüttere Landschaften, wobei es dennoch gelingt, deren poetische Fülle zu erschließen. Es ist eine unpathetische Literatur. Eine Literatur, die das Feld möglicher Aussagen nicht durch Pathos verknappt, sondern lokal erweitert hat.
L ITERATUR Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (2000): Was ist Philosophie?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dollase, Jürgen (2013): »Faktor Ökologie«, in: Port Culinaire, 27, 6-21. Dollase, Jürgen (2014): Himmel und Erde. In der Küche eines Restaurantkritikers, Aarau u. München: AT. Doss, Erika (1991): Benton, Pollock and the Politics of Modernism. From Regionalism to Abstract Expressionism, Chicago: University of Chicago Press. Eliasson, Olafur (2010): »Milkskin with gras«, in: Redzepi, René (2010): NOMA. Time and Space in nordic cuisine, London: Phaidon Press, S. 6-9. Eliasson, Olafur (2016): Studio Olafur Eliasson: The Kitchen, München: Knesebeck. Franzen, Jonathan, (2010): Freedom, New York: Farrar, Straus and Giroux. Herbing, Alina (2017): Niemand ist bei den Kälbern, Zürich u. Hamburg: Arche. Klee, Paul (1991): Kunst-Lehre, Leipzig: Reclam. Koschorke, Albrecht (2012): Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a.M.: Fischer. Leggewie, Claus (2013): »Prometheus in der Wüste. Wie Energieerzeugung und Regimeformen zusammenhängen«, in: Claus Leggewie/Ursula Renner/Peter Rasthaus (Hg.): Prometheische Kultur. Wo kommen unsere Energien her?, München: Wilhelm Fink, S. 319-340. Maron, Monika (1981): Flugasche, Frankfurt a.M.: Fischer. McEwan, Ian (2010): Solar, London: Vintage Books. Nietzsche, Friedrich (1988): Nachlass 1882-1884 (= Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzini Montinari, 2. Aufl., Bd. 10), Berlin u. New York: de Gruyter. Novalis (1977ff): Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, 3., nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Aufl., Stuttgart: Kohlhammer. Proust, Marcel (2000): Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Redzepi, René (2010): NOMA. Time and Space in nordic cuisine, London: Phaidon Press.
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Redzepi, René (2014), Journal, London: Phaidon Press. Scheffel, Anika (2013): Bevor alles verschwindet, Berlin: Suhrkamp. Serres, Michel (1992): Hermes III. Übersetzung, Berlin: Merve. Serres, Michel (1993): Hermes IV. Verteilung, Berlin: Merve. Straus, Erwin (1952): Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, Berlin u. Heidelberg: Springer. Tommek, Heribert (2016): »Formen des Realismus im Gegenwartsroman. Ein konzeptueller Bestimmungsversuch«, in: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, X/16, München: Richard Boorberg, S. 75-87. Uhlig, Ingo (2007): »Poetologien der Abstraktion: Paul Klee, Gilles Deleuze«, in: Claudia Blümle/Armin Schäfer (Hg.): Struktur, Figur, Kontur. Abstraktion in Kunst- und Lebenswissenschaften, Zürich: Diaphanes, S. 299-316. Uhlig, Ingo (2015): Traum und Poiesis. Produktive Schlafzustände 1641-1810, Göttingen: Wallstein. Zeh, Juli (2016): Unterleuten, München: Luchterhand.
Gelingendes Leben auf dem Land Marcus H. Rosenmüllers Heimatfilme A LEXANDRA L UDEWIG
Das filmische Erzählen von ländlichen Räumen erfreut sich in letzter Zeit wieder einer großen Beliebtheit bei Regisseuren und Publikum. Gerade die auch weiter zunehmenden Tendenzen der Globalisierung und Urbanisierung befördern hierbei womöglich ein Genre, das schon längst als überholt und unzeitgemäß galt: den Heimatfilm. Dabei zeigen die zeitgenössischen neuen Heimatfilme keine in sich abgeschlossene Welt, sondern verhandeln sowohl soziale Problemlagen als auch universelle Fragestellungen im lokalen Kontext. Einer der aktuell einflussreichen und die Wiederkehr bzw. Erneuerung des Genres mit initiierenden Regisseure ist Marcus H. Rosenmüller. In seinen Filmen nimmt er klassische Topoi und Muster des Heimatfilms auf und verbindet sie mit Elementen der globalen Popkultur. Anhand von Geschichten über das Erwachsenwerden erzählen sie dabei von einer gelingenden Verbindung von Tradition und Moderne, die im überschaubaren Rahmen des Dorfes aufeinandertreffen und miteinander verschmelzen. Der folgende Beitrag setzt sich mit dem cineastischen Oeuvre von Marcus H. Rosenmüller auseinander, insbesondere mit seinem preisgekrönten Heimatfilm WER FRÜHER STIRBT, IST LÄNGER TOT (2006) sowie seiner vom Bayrischen Rundfunk finanzierten Heimattrilogie BESTE ZEIT (2007), BESTE GEGEND (2008) und BESTE CHANCE (2014). Alle vier Filme zeigen Dorfgemeinschaften, die nicht etwa restriktiv-beengend veranlagt sind, sondern in quasi eigensinniger Weise Elemente der Moderne in sich integrieren und dem Individuum einen Platz zum Leben sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer selbst bieten.
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FRÜHER STIRBT , IST LÄNGER TOT
(2006)
In Rosenmüllers Heimatfilm WER FRÜHER STIRBT, IST LÄNGER TOT (2006) geht es – wie auch in den anderen ausgewählten Filmen – um das zentrale Motiv des Erwachsenwerdens. WER FRÜHER STIRBT, IST LÄNGER TOT erzählt die formativen Erlebnisse im Leben des elfjährigen Sebastian Schneider, der als Lausbub und Möchtegern-Rockstar irgendwo zwischen Kindheit und Teenager-Dasein schwebt. Durch seine Ansiedlung zu Füßen der Alpen südlich von München bewegt sich der Film in Bezug auf landschaftliche Ikonographie, Dialekt und Figurenkonstellation schnell auf das Heimatgenre zu. Rosenmüller motiviert diese Fokussierung auf das Heimische und Heimelige in einem Interview wie folgt: »Die Leute identifizieren sich in Zeiten der Globalisierung wieder mehr mit regionalen Problemen.« (Temsch 2007) Von daher ist von Anfang an klar, dass es Rosenmüller nicht um die Präsentation eines Kitschfilmes geht, sondern um soziale Brennpunkte in der Region. Die Annahme, dass landschaftliche Schönheit und Idylle keine Probleme beherbergen könnten, wird von Anfang an unterminiert. Nicht nur an der Fassade des Dorfes wird gekratzt, auch am genre-konstituierenden blauen Himmel des Heimatkosmos tauchen zunehmend Wolken auf. Besonders die bayrische Interpretation des Katholizismus wird in diesem Film aufs Korn genommen und mit anderen Glaubensrichtungen, aber auch mit Mythos und Aberglauben allgemein kontrastiert. Schon die ersten Bilder des Filmes verweisen auf diese Dekonstruktion des Metaphysischen und Transzendentalen. Die Gipfel der Berge erscheinen hier nicht mehr wie im klassischen Heimatfilm, bspw. in Leni Riefenstahls Propagandafilm TRIUMPH DES WILLENS (1935), als sagenumwobene Kulisse und Ausdruck des Erhabenen, sondern lediglich als Umgebung menschengemachter Propaganda. Symbolisch für diese Kritik werden in der Eröffnungssequenz des Filmes eine Sternwarte als Verweis auf das Aufklärungsprojekt der jüngsten Menschheitsgeschichte und eine Radiostation mit ihren Fernmeldemasten als Kommunikationsknoten einer wirtschaftlich erschlossenen Region in den Blick genommen. Die Kamera fängt, genau wie in der Eröffnungsszene von Riefenstahls Film über den Nürnberger Parteitag von 1934, die Wolken mit ihrer himmlischen Aura ein, bevor der Blick frei wird auf den Menschen: In Riefenstahls Fall Hitler, bei Rosenmüller ist es Radiostar Alfred. Gottgleich sitzt er als Alleinunterhalter im Radiostudio auf dem Gipfel des Wendelsteins neben Gipfelkreuz und Sendemast und versorgt das Umland aus dem Äther. Wie die Kamerafahrt vorbei an seiner illustren Garderobe beweist, versteht sich Alfred als Verkörperung verschiedenster Heldenfiguren: Vom Indianer bis zum Rockstar spielt er seine Rolle je nach Publikumswunsch bis ins Requisitendetail. Dass er in jeder Hinsicht ein reichhaltiges Repertoire zu bieten hat, verrät bereits seine Posterwand im Studio, an der Größen aus den 1970er, 80er und 90er Jahren prangen, z.B. Ikonen der amerikanischen
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Pop- und Rock-Industrie vom King of Rock’n Roll Elvis Presley über Janis Joplin und Otis Redding bis hin zu Curt Cobain. In diesem Sammelsurium aus Stilrichtungen und Epochen finden sich zudem Kleidung von Hippies, Haarschmuck von Häuptlingen, Gebetsmühlen aus dem Fernen Osten und viele andere ethnologische Kuriositäten. Dieses kulturelle Gemisch wird des Weiteren ergänzt von einer Uncle-Sam-Tracht, einem Cowboy-Kostüm und Woodstock-Outfit, in denen Alfred willig für seine Hörerschaft im regionalen Germringen posiert. Als die Kamera den Radiowellen folgend über das Land in die Niederungen des Tales hinabfährt, wird deutlich, dass Alfreds Sender auch eine bunte Mischung von Einheimischen verbindet: Alt und Jung, Arm wie Reich, LKW-Fahrer und Kunden eines Supermarktes, Wirtshausbesucher, aber auch den kleinen Protagonisten des Films, der ein Transistorradio an sein Fahrrad geschnallt hat. Während er den Klängen von SOMETHING’S RISING (Musik und Text von Gerd Baumann) lauscht, wird er just überfahren. Als wäre es ein Lied über den Aufstieg seiner Seele ins Himmelreich, muss man aufgrund der Filmmusik als Zuschauer von Sebastians Tod ausgehen.1 Doch der kleine Sohn des Kandlerwirts, den der LKW-Fahrer beliefert, hat die Kollision, wie sich schnell herausstellt, ohne Blessuren überstanden und setzt sein Tagewerk, Unfug anzurichten, fort. Als Lausbub hat er in den letzten Jahren ein beachtliches Sündenregister angehäuft und muss sich unter anderem vor seinem älteren Bruder Franz für den Tod von dessen sieben Lieblingshasen verantworten, was er mit einer Abbitte versucht: »Lieber Karl, lieber Vinzenz, liebe Walpurga [...], es duat ma leid, dass du wega mia nimma auf dera scheena Weid bist.« Bei diesem Ritual wirft ihm sein Bruder vor, ebenfalls für den Tod der eigenen Mutter die Schuld zu tragen, da diese bei seiner Geburt im August 1995 verstarb.2 Begleitet von der atonalen Blasmusik einer Kapelle durchlebt der Junge in der Nacht Höllenqualen. In seine Träume werden die Probentexte der Amateurschauspieler aus dem
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Der Tod des Protagonisten steht auch im Mittelpunkt von Andreas Prochaskas Heimathorrorfilm IN DREI TAGEN BIST DU TOT (2006). Auch dieser Film bedient sich der typischen Heimatfilmkulisse: In gewohnter Horror- und Slasherfilmtradition werden die postkartengleichen Idyllen von Alpenseen und Berglandschaften die Jagdgründe eines dementen Serienmörders. Dass der Kontrast von heimatlicher Idylle und unheimlichem Grauen immer wieder aufgenommen wird, zeigen die populären Dorfkrimis in Buch und Film.
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»Die Mama hast Du auch auf dem Gewissen... Umgebracht hast du sie. Dein Geburtstag ist der Mama ihr Todestag. Also ist sie gestorben, weil du geboren bist. Also hast du sie umgebracht.« Derartige Kardinalsünden werden laut Franz mit dem Fegefeuer bestraft: »Weißt du, was passiert, wenn Leute ihr Lebtag Unheil anrichten und nicht dafür büßen müssen? Dann kommen sie vors Jüngste Gericht… Wenn sie sterben, dann kommen sie vors Jüngste Gericht und werden verurteilt und ins Fegefeuer geschmissen.«
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Nachbarzimmer im Wirtshaus eingebaut. Dieses Männerensemble probt DAS HEXENGERICHT ODER DIE GESTOHLENE GLÜCKSSAU, deren Gerichtsverhandlung ebenfalls in der Verdammung und Bestrafung eines Sünders endet. Barocke Kirchenarchitektur, ein Loch im Boden, aus dem Flammen züngeln, ein perückter Richter, Galeerentrommler, römische Soldaten im Kettenhemd sowie eine überdimensionierte Sau dominieren die Horrorvision. In Wort und Bild wird diese Traumsequenz zu einem Schmelztiegel des Aberglaubens, der von Bildern aus dem katholischen Kirchenpomp zehrt und zudem aus den groteskeren Fragmenten des Bauerntheaters, des Horrorfilmgenres und des Heimatgenres zusammengesetzt ist. Doch statt Sebastians Visionen von Raben, verregneten Nächten, Friedhofsszenen und matschigen Fingern, die sich aus Gräbern heraus auf noch Lebende stürzen, nur mit genretypischer Horrormusik zu unterlegen, werden die Visionen zusätzlich mit atonalen Klängen und dem assoziativen Spiel einer bayrischen Blaskapelle karikiert. So vermengt Rosenmüller in seinem Film scheinbar disparate Elemente in einer Montage, um surreale Verhältnisse darzustellen, nicht nur in der Erzählung, sondern auch in der musikalischen Untermalung.3 Sebastian zeigt sich gerade von der Rockmusik und ihrem Leitinstrument Gitarre beeindruckt, das fortan seine Tagträume bestimmt, in denen er sich als zentrales Bandmitglied mit Gitarre sieht. Im Gegensatz dazu dominieren Bläser seine Alpträume und Zupfinstrumente seine Visionen vom Paradies. Während Sebastians Visionen von himmlischer Allmacht und unausweichlicher Hölle kindisch erscheinen mögen, gehören sie doch allgemein zum Weltbild seiner gottesfürchtigen Gemeinde, auch wenn sie in seiner Phantasie ungleich bildhafter sind und wörtlich genommen werden. Im Gegensatz dazu muten seine Vorstellungen vom Paradies als genaue Umsetzung des Gegenteils an: Statt Feuer gibt es hier Wasser, statt musikalischer Atonalität im Jüngsten Gericht ist das Paradies der Ort melodischer Harmonien, statt Chaos und barockem Überfluss bestimmen Klarheit und Transparenz das Wasser. Das Paradies ist die Sphäre seiner verstorbenen Mutter, die nymphengleich durch das klare Blau dieser Unterwasserwelt schwimmt. Harmonische Zither- und Harfenklänge in einer Komposition, die an Sphärenmusik erinnern mag, Tauch- und Schwimmsequenzen in Zeitlupe und mit Blaufilter vor der Kameralinse schaffen den Eindruck einer himmlischen Stimmung, die genauso weit von der Realität entfernt scheint wie die
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Sowohl die volkstümlichen Stücke als auch die Rockballaden der Filmmusik komponierte der Münchner Gerd Baumann, Jahrgang 1967, der zuerst eine Ausbildung am Münchner Gitarreninstitut genoss, bevor er an der Grove School of Music sowie der University of California in Los Angeles studierte. Seine Kompositionen für den Film sind maßgeblich von zwei Instrumenten – der Gitarre und der Trompete – geprägt, mit denen er ein bayrisches bis rockiges Repertoire abdeckt.
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Horrorvision der katholischen Kirche. Durch die Anwesenheit der Mutter wird das Paradies für Sebastian immer erstrebenswerter, was aber auch daraus resultiert, dass er die Hölle als realistische Alternative miteinkalkulieren muss. Sebastians Versuche einer getreuen Übertragung von Gleichnissen und Parabeln der katholischen Doktrin auf seine Realität zeigen, wie anfällig er für Heilsversprechen ist. Überall glaubt er göttliche Zeichen oder Wünsche seiner Mutter zu erblicken, wenn er zufälligen Ereignissen eine Bedeutung einschreibt. Doch statt sich über derartig naive Auslegungen lustig zu machen, vergleicht der Film Sebastians Wunsch, seiner Umwelt einen Sinn zu verleihen, mit der Verzweiflung vieler Erwachsene um ihn herum, die in Mystizismus und Aberglaube verfallen. Sie zeigen allesamt, und auch die Radiosendung »Wunsch ans Universum« verdeutlicht dies, dass der bayrische Katholizismus mit der durch Himmel und Hölle bebilderten Transzendenz im praktischen Umgang nicht etwa monotheistisch orientiert ist, sondern relativ problemlos synkretistisch zu einer multikulturellen Spiritualität erweitert werden kann, in der sowohl buddhistische Gebetsmühlen als auch Hexereien zum akzeptierten Alltag gehören. Die heilige Botschaft wird den Einwohnern von Germringen nicht mehr nur in der Kirche mitgeteilt, sondern auch über die Radiowellen im Supermarkt zuteil. Die Kirche hat in Konkurrenz mit dem Konsumtempel und dem sozialen Zentrum der Kneipe ihre Stellung als spiritueller Lebensmittelpunkt eingebüßt. Dreh- und Angelpunkt des Films ist neben der Radiostation besonders der Kandlerwirt, das Wirtshaus, das Sebastians Vater allein betreibt, und das Sebastians Heimat ist; dies ist der Ort, den er mit Familie und Freunden sowie Initiationsmomenten verbindet. Hier erfährt er am Stammtisch von einer sehr weltlichen Kongregation, dass man dem Jüngsten Gericht entgehen kann, wenn man sich unsterblich macht: entweder durch Fortpflanzung, Draculas Kuss oder Ruhm. Nach den Androhungen seines Bruders strebt Sebastian genau das an und testet die vorgeschlagenen Optionen. Angesichts der vielen widersprüchlichen Ratschlägen will er genau wissen, ob z.B. Katzen wirklich sieben Leben haben und Stromstöße nach Frankensteinscher Manier zum Leben erwecken, wie genau man Unsterblichkeit erlangen kann und was Leviten sind. Die Lehren der traditionellen Religion, Legenden, Fabeln, Bauernregeln und Hausfrauenweisheiten erweisen sich in seinen Tests jedoch als nicht seriös, gerade wenn man sie wörtlich nimmt und in die Realität umsetzen will. So versteift sich Sebastian in seiner Panik, den Tod vermeiden zu müssen, um nicht im Fegefeuer zu landen, auf die letzte Option: unsterblich zu werden, entweder durch gute Taten oder Ruhm. Die drei Weisen am Stammtisch, die Sebastian den Sündenerlass in Aussicht stellen, schlagen als gute Tat vor, seinem verwitweten Vater eine neue Frau zu besorgen: »Eine mit G’schick, Grips und ’nem g’scheitn Arsch!« Auch wenn Sebastians Brautschau ihn erst auf die falsche Fährte bringt, treibt er seinen Vater indirekt in die richtige Richtung, in die Arme seiner Lehrerin Veronika Dorstreiter.
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Diese ist jedoch bereits verheiratet, und zwar mit dem DJ Alfred, der Sebastian wiederum mit der Idee vertraut macht, dass man auch über die Musik Unsterblichkeit erlangen könne. Alfred ist, wie auch Sebastians verstorbene Mutter, ein Fan von Jimi Hendrix und dem sagenumwobenen Entertainer John Ferdinand Woodstock. Der Radiomacher ermöglicht Sebastian somit, die Nachfolge seiner Mutter anzutreten – indem er sowohl ihren Musikgeschmack als auch ihr Gitarrenspiel fortführt. Sebastian wird so die Welt der Musikverehrung und gleichzeitig die Kreation von alternativen Göttern aufgezeigt. Mit der enigmatischen Figur des John Ferdinand Woodstock bringt der Film einen solchen Musik-Gott ins Bild. Sein Abbild prangt an der Posterwand im Studio des Radiosenders. Sebastian begegnet seinem Portrait zudem im Keller beim Aufstöbern der Plattensammlung seiner Mutter, wo er ihre Gitarre findet. Der Musiker mit dem weißen Strohhut, der weißen Fellweste, dem jesusähnlichen Bart und der Langhaarfrisur lebt lange nach seinem Tod in der Verehrung seiner Fans weiter. Seine Platte SLIPPING DOWN THE UNIVERSE, sein Bild, aber auch sein Plektrum, das Alfred wie eine Reliquie hütet, rücken den Leadgitarristen in eine Liga mit anderen Heldenfiguren. Sebastian, der sowohl die Gitarre seiner Mutter entwendet als auch das Plektrum bei einem Besuch der Radiostation mitgehen lässt, macht sich daran, Posen und Lieder von Woodstock einzustudieren. Selbst nach Rückschlägen verzagt er nicht, da ihm John Ferdinand Woodstock in seinen Tagträumen begegnet, die einer Epiphanie gleichen. Derartige Erscheinungen bestärken nur Sebastians Lebenswunsch, Rockstar zu werden. DJ Alfred erzählt ihm, dass Ferdinand Woodstock nach Jimi Hendrix der beste Gitarrenspieler auf der ganzen Welt gewesen sei, und deshalb einfach unsterblich ist. Genau diesen Status möchte Sebastian auch erlangen. Auf seiner Suche nach Vorbildern und Antworten auf seine quälenden Fragen nach der Erlangung von Unsterblichkeit hatte Sebastian anfänglich die örtliche Kirche und ihren Priester besucht, doch dessen blutleere Phrasen, trocken vorgetragen, ohne Sinn für Sebastians Alter oder Gefühlslage, ließen ihn enttäuscht der Amtskirche den Rücken zukehren. Dieses Vakuum füllt Alfred, der als säkularisierte New-Age-Version der Selbstüberhebung fungiert. Er scheint allwissend und allmächtig (zürnt über die Ignoranz der ihn besuchenden Schulkinder, die nicht einmal Jimi Hendrix kennen), weiß auf alles eine Antwort (vom Plektrum bis zur Unsterblichkeit) und wird zum Medium, durch das Sebastian mit dem Jenseits Kontakt aufnehmen kann (wenn er Radiogrüße an seine verstorbene Mutter schickt). Darüber hinaus benutzt Sebastian Alfreds Studio wie einen Beichtstuhl, wenn er dort sein Sündenregister offenbart, und unterstreicht somit Alfreds Status als neuer
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Messias von Germringen.4 Dennoch wird beiden emotional hart mitgespielt. Sebastian muss erwachsen werden und Alfred muss akzeptieren, dass seine Ehe gescheitert ist. In ihrem Kummer finden beide in der Musik ein Ventil. Was im Heimatfilm der 1950er Jahre der Schlager war, wird hier im Soundtrack mit englischen Texten und moderner Instrumentierung wie der E-Gitarre vollzogen. Die traditionellen Klänge der Bläserkapelle und Alphörner dienen nur noch zur Untermalung des Volkstheaters sowie der Horrorszenen im Film. Selbst hier haben sich allerdings bereits die Harmonien von südosteuropäischen Zigeunerbegräbnissen eingeschlichen und die Klangpalette einer traditionellen bayrischen Blaskapelle entscheidend erweitert. Diese Vermischungen von Stilrichtungen finden sich auf allen Ebenen des Filmes. Surrealistische Elemente in der Tradition Dalis (zum Beispiel die Spaghetti im Bluteimer), magischer Realismus sowie populäre Bausteine des Volkstheaters machen aus dem Film ein hybrides Gebilde,5 das aufgrund des Charmes seines kindlichen Protagonisten selbst mit Religionskritik und Bauernschelte aufwarten darf und trotzdem ein kommerzieller wie kritischer Erfolg wurde. Rosenmüllers Film kann als ein Pastiche verstanden werden, das aus persönlichen und religiösen, popkulturellen und literarischen (von Astrid Lindgrens MICHEL AUS LÖNNEBERGA im ländlichen Schweden bis zu Ludwig Thomas bayrischen Lausbubengeschichten) Referenzen besteht und diese in das Genre des Heimatfilms verstrickt.6 Andere Zitate stammen aus der dänischen Erzählung HODDER RETTET DIE WELT, die von Henrik Ruben Genz 2003 verfilmt wurde (mit Rosenmüllers Film verbindet
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Dabei arbeitet Rosenmüller auch in selbstreferenzieller Weise: Genau wie Rosenmüller ist Alfred emotional involviert, aber trotzdem in der Lage, sich einen Überblick zu verschaffen; beide haben die Kraft, durch ihre Arbeit ein Individuum zu erhöhen, unsterblich zu machen und Träume zu erfüllen, kurz: Herr über das Schicksal anderer Figuren zu sein. Die Basis für diese Selbstreferenzialität findet sich in einer grundlegenden Identifikation des Regisseurs mit seinem Stoff, der immer auch von den eigenen persönlichen Erfahrungen berichtet (vgl. Bozadjieva 2007). So äußert Rosenmüller etwa in einem Interview: »Das Thema eines Films muss mich berühren und mit meiner Heimat zu tun haben.« (Flemmer 2011b)
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Dass Rosenmüller auch genau auf diese filmische Vermischung fiktiver, surrealistischer und realistischer Elemente abzielte, bestätigt er auch in einem Interview auf der Website des Films: »Das Fantastische, Surrealistische gemischt mit einem traditionellen Volkstheaterhumor – ich mag guten Komödienstadl genauso wie [Karl] Valentin oder Luis Bunuel.« Siehe: www.wer-frueher-stirbt-ist-laenger-tot.de/hinter-den-kulissen/interview_ rosenmueller.html (26.07.2017).
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So äußert Rosenmüller in einem Interview auch: »Es stimmt schon, dass sich in meinen Filmen viele Genremuster finden.« (Flemmer 2011a)
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Hodders Abenteuer, dass beide die Geschichte eines Halbwaisen erzählen, der auf Fragen zu Leben und Tod Antworten sucht), und Stephen Daldrys ›coming of age‹Film BILLY ELLIOT aus dem Jahr 2000 (hier wird der Besuch am Grab der Mutter zum Wendepunkt stilisiert und die Entwicklung des Kindes in der Nachfolge der Verstorbenen interpretiert). Auch Rosenmüllers Darstellung des Dorflebens bedient sich positiver wie negativer Modelle aus der literarischen wie filmischen Tradition, vom grummeligen, einsilbigen Vater bis zum hyperaktiven Schürzenjäger in Lederhosen, die man aus so manchem Heimatfilm kennt. Doch trotz aller regionalen Bezüge und der Nähe zum Heimatfilmgenre sieht Marcus H. Rosenmüller seinen Film nicht nur in der bayrischen, sondern in einer weitestgehend europäischen Tradition.7 Rosenmüllers Vorbilder sind Joachim Ringelnatz und Robert Gernhardt als lyrische sowie François Truffaut und Helmut Käutner als cineastische Inspirationen (vgl. Temsch 2007). Diese Mischung aus regionalen und europäischen Einflüssen ist bereits im Führerhaus des LKW-Fahrers am Anfang des Filmes programmatisch zur Schau gestellt worden, wo Bayernwimpel und Europafahnen nebeneinander prangen. Auch die bereits angesprochenen popkulturellen Elemente des Films zeigen: Die Globalisierung ist längst bis in die hintersten Winkel des Dorfes vorgedrungen. Dies wird auch musikalisch gestaltet. Neben den europäischen Zupfinstrumenten werden amerikanische Harmonien und Kompositionstraditionen bemüht, um einen universellen Klang zu erzeugen. Die Universalität des Films betrifft auch seinen Kommentar zum Mythischen. Nicht nur religiöse Rituale und Szenarien werden als theatralisch, verlogen und fatalistisch dargestellt, sie werden zudem mit weltlichen Mythen fortgeschrieben. Symbolisch vollzieht sich der damit verbundene Reifeprozess Sebastians anhand der Tatsache, dass er nicht mehr Adressat und Rezipient von Räuberpistolen und Ammenmärchen ist, sondern nunmehr selbst zum Produzenten und Erzähler fantastischer Geschichten wird. Während der Katholizismus, der Provinzialismus und der Konservatismus karikiert werden, sollen doch die vielfach aufgerufenen bayrischen Heimatklischees trotzdem liebenswert bleiben. Eine gewisse Unsentimentalität, die einem Pragmatismus geschuldet ist, mit der die Bewohner von Germringen an jeden Tag herangehen, provozieren viele Lacher, z.B. die Art und Weise, mit der in der Gemeinde mit Leben und Tod umgegangen wird, wo doch Schlachtung und selbst der Verzehr von Haustieren an der Tagesordnung sind. Alles scheint in die göttliche Weltordnung zu passen, weshalb die Gemeinde auch gestärkt die Zeiten übersteht, in denen einige
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Ihm zufolge sei, so führt er in einem Interview aus, WER FRÜHER STIRBT, IST LÄNGER TOT
– »geografisch und vom Dialekt her« – zwar »ein Heimatfilm«, doch ginge es ihm
»beim Filmemachen vor allem um die geistige Heimat« (Casati/von Festenberg 2007: 136).
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ihrer Mitglieder moralische Fehltritte begehen, selbst wenn es sich dabei um Kardinalsünden wie Ehebruch und versuchter Mord handelt. Der Film stellt das Gemeinschaftsgefühl im Dorf und die identitätsstiftende Funktion von Musik als Garanten für die Erzeugung von Heimatlichkeit dar. Über die Generationen hinweg findet hier ein Austausch statt, der trotz aller Differenzen über die Familiengrenzen hinaus ein soziales Band herstellt. Zu dieser versöhnlichen Grundstimmung des Films trägt maßgeblich der Radiosender bei, der mit Wort und Ton die Richtung vorgibt. In seinem Essay DER STARKE GRUND ZUSAMMEN ZU SEIN äußert Peter Sloterdijk den Verdacht, »dass Nationen, wie wir sie kennen, möglicherweise nichts anderes [seien] als Effekte von umfassenden psycho-akustischen Inszenierungen, durch die allein tatsächlich zusammenwachsen kann, was sich zusammen hört, was sich zusammen liest, was sich zusammen fernsieht, was sich zusammen informiert und aufregt« (Sloterdijk 1998: 27). Rosenmüllers Film zeigt genau dies in komödiantischer Weise: die Erschaffung einer Gemeinschaft und auch die Stärkung des Individuums durch die popkulturellen symbolischen Formen. So wird schließlich auch aus Sebastian ein neuer – irdischer – Gott am Gitarrenhimmel, der am Ende des Films den Luftgitarristen Alfred in seinem Studio in den Bergen an der E-Gitarre begleitet und, mehr noch, diesen auch aus seinem Liebeskummer und seinen Selbstmordabsichten mit der Leadgitarre wieder in die Welt entführt.
B ESTE Z EIT (2007), B ESTE G EGEND (2008) UND B ESTE C HANCE (2014) Auch in Rosenmüllers folgenden Filmen, insbesondere der Trilogie, spielen die Liebe zur Musik und ihre Generationen und Zeiten umspannenden Potentiale eine wichtige Rolle. Bevor die ersten gesprochenen Worte in BESTE ZEIT (2007) fallen, singen zwei Teenager ihre Lieblingslieder aus einem VW-Bus heraus, über die Felder des Umlands blickend. Wieder sind es Originalkompositionen von Gerd Baumann, der in einer Klangmischung aus Rock’n Roll und Pink Floyd mit rockigen Balladen der Szenerie eine Atmosphäre verleiht, in der Mensch und Landschaft im Einklang stehen. Die Hügellandschaft gehört zur Gemeinde Tandern im Landkreis Dachau, einer Gegend, die nicht der Postkartenidylle von Alpen oder Landeshauptstadt entspricht und daher auch, so Rosenmüller im Interview, »nicht urbayrische Landschaftsbilder, sondern ganz normale Orte« (Niederfriniger 2009) präsentiert. Dasselbe gilt für die Protagonistinnen der Trilogie, Kati und Jo. Wie auch schon WER FRÜHER STIRBT, IST LÄNGER TOT zielen die Filme auf eine harmonische Verbindung von Volkstümlichkeit und Moderne ab und untersuchen diese Verbindung anhand des Erwachsenwerdens von zwei Freundinnen, die über eine
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Zeitspanne von mehreren Jahren begleitet werden. Der erste Teil der Trilogie beginnt mit dem siebzehnten Geburtstag von Kati, den sie mit ihrer Freundin Jo im VW-Bus um Mitternacht feiert. Beide träumen davon, gemeinsam die Welt zu bereisen. Doch vorerst soll sich dieser Traum nur für Kati erfüllen, die auf eine Zusage für ihr Austauschjahr in den USA wartet. Zur Ermutigung wünscht Jo ihrer Freundin dafür »Die beste Zeit«. Die fortschreitende Emanzipation der Mädchen und ihre Abnabelung von sowie Heimkehr in den Schoß von Familie und Freunden durchzieht alle drei Filme.8 Sie führen dabei ein elastisches Band zwischen Heimat und Individuum vor, das selbst nach Auszug und Abkehr sowie den Initiationsriten des Erwachsenwerdens noch hält, ohne jedoch fest zu binden. Angesprochen wird hierbei das Genre der Adoleszenzfilme, die sich, wie auch das Genre des Adoleszenzromans (vgl. Gansel 2000), mit klassischen Problembereichen und Handlungsmustern des Erwachsenwerdens auseinandersetzen – unter anderem: »a) die Ablösung von den Eltern; b) die Ausbildung eigener Wertvorstellungen (Ethik, Politik, Kultur, usw.); c) das Erleben erster sexueller Kontakte; d) das Entwickeln eigener Sozialbeziehungen; e) das Hineinwachsen oder das Ablehnen einer eigenen sozialen Rolle.« (Gansel 2000: 371)
Rosenmüller erzählt diesen Prozess zwischen Veränderung und Beständigkeit. Die Qualität und Intensität der Mädchenfreundschaft in der Provinz des Dachauer Landes, die sich innerhalb der Trilogie entwickelt und wandelt, überdauert etwa alle äußeren Einflüsse und Herausforderungen, seien es Männerbekanntschaften, Fernreisen oder divergierende Ausbildungen. Die drei Filme Rosenmüllers arbeiten an einer Erneuerung vieler ehemals klassischer Heimattopoi und thematisieren vor allem das Spannungsverhältnis zwischen Bleiben und Gehen sowie die damit verbundenen Prozesse des Wandels. Dass Werden, Sein und Vergehen zum Kreislauf des Daseins gehören, haben die zwei Mädchen bereits verstanden: »Leben, Liebe, Tod. Mehr gibt’s nicht.« Davon reden sie am Anfang als Vermutung und am Ende als Gewissheit. Rosenmüller erzählt dabei eine nahezu klassische Bildungsgeschichte: Sie lernen selbst, ihre Lebensläufe in einem Spannungsverhältnis zwischen Fernweh und Heimatgefühl, Freiheit und Geborgenheit selbstbestimmt in unterschiedlichen Situationen mit unterschiedlichen Inhalten zu füllen. Katis und
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Laut Rosenmüller steht sie auch stellvertretend für seinen eigenen Schaffens- und Reifeprozess. So sagt der Regisseur über sich und seinen Heimatort: »Hausham, das ist meine Heimat. [...] Ich glaube, ich möchte immer zurückkommen. Ich bin schon sehr gern daheim.« (Bozadjieva 2007) Folglich hat er seinen Heimatort Hausham auch ganz programmatisch anstelle des ursprünglichen Mittelnamens Heinrich als Initial und Wort in seinem Namen aufgenommen.
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Jos Leben verlaufen behütet und werden durch Jahreszeiten und Dorffeste strukturiert, wozu auch die wiederholte Präsenz des Todes gehört (denn immer wieder sind neben den Dorffesten und Sportwettkämpfen auch Begräbnisse mit anschließendem Leichenschmaus eine Gelegenheit, den Trost und die Stärke der Gemeinde zu erleben). Die ländliche Umgebung erscheint dabei als Ermöglichungsbedingung einer freien Entfaltung der eigenen Jugend, sei es in Bezug auf Alkoholgenuss oder das Umherfahren mit allerlei fahrbarem Untersatz (Traktoren, Mopeds, Autos oder Lastwagen); und sie basiert auf einem unbedingten Grundvertrauen der Kinder in ihre Umgebung. Wenn es darauf ankommt, dann achtet man aufeinander; ansonsten lässt man sich seine Freiheiten. Unverschlossene Häuser, offene Beziehungen und weite Landschaften stehen für eine Dorfgemeinschaft, die nicht als restriktiv, sondern als befreiend wahrgenommen wird. Das einzige, was diese Freiheit einschränken und begrenzen kann, ist ironischerweise die Liebe. Kati weiß: »Liebe ist, wenn’s größer ist als Freiheit«. Bei aller Freiheit für die Dorfjugend auf dem Land, die das Fahren ohne Führerschein und Alkoholkonsum vor dem sechzehnten Geburtstag gewohnt ist, erkennen die Freundinnen, dass das Einzige, was ihre Flügel wahrlich stutzen kann, das Korsett einer festen Beziehung ist. Sehnsüchtig blicken sie am Himmel den Linienflugzeugen nach, die vom Münchner Flughafen aus alle Welt ansteuern. Einerseits säßen sie gern in diesen Maschinen, andererseits haben sie Angst vor der eigenen Courage. Immerhin wissen sie, dass sie in ihrer Abwesenheit von wichtige Ereignisse auf dem Land verpassen und in mancher Hinsicht aus dem engen Geflecht der Heimat herausfallen könnten. Das Dorfleben wird in einer ganz grundlegend positiven Weise dargestellt. Die Dorfbewohner leben im Einklang mit der Natur in generationsübergreifenden Hofgemeinschaften und arbeiten in vielseitigen Produktionsgemeinschaften. Die Geräuschkulisse auf dem Hof von Katis Familie verrät einige der Wirtschaftszweige: Das Kreischen der Motorsäge, das Geklapper der Pferdehufe und das Beschlagen der Hufe bringen Tochter, Vater und Großvater zusammen, denn neben der Landwirtschaft gehen die Eltern der Mädchen noch anderen Geschäften nach, vom Tischlern bis zu Bauarbeiten. Auf dem Land teilt man sich die Ressourcen, so zum Beispiel auch das Toilettenhäuschen, das von der Baustelle oder vom Hof geholt wird, um bei Festen eingesetzt zu werden. Die Eltern der Protagonistinnen sind jeweils aktive Gemeindemitglieder, im Chor und im Nachbarschaftsdienst, wobei die Großfamilien mitsamt Tanten und Onkeln nicht als Verpflichtungen wahrgenommen werden. Es gibt keinen Anwesenheitszwang bei Geburtstagen, stattdessen befürworten die Eltern beider Mädchen deren zunehmende Mobilität und Selbständigkeit. In der Weite dieser Landschaft, aber auch im Wissen um die Größe der Welt – repräsentiert durch das Leben in der Einflugschneise des internationalen Flughafens – prosten sie sich mit folgendem Singspruch zu: »Auf Fahrtwind und Freiheit, / Sehnsucht und Liebe. / Und den Vollmond als Wegweiser. / Ich wünsch
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Dir die beste Zeit deines Lebens. / 1000 Chancen jeden Tag / 1000 Träume / und dass alles in Erfüllung geht.« In dieser Weise wird der siebzehnte Geburtstag von Kati um Mitternacht begrüßt, während die ferne Kirchturmuhr das neue Lebensjahr einläutet. Dies ist auch das Jahr, in dem Kati ihr Austauschjahr in den Vereinigten Staaten antreten soll. Doch die Ambivalenz zwischen Freiheitsdrang und der Angst vor dem Unbekannten belastet die Mädchen. Der Regisseur erklärt dazu im Interview: »Das ist das Dilemma der Hauptfiguren. Einerseits wollen sie, dass sich nichts ändert, andererseits sehnen sie eine Veränderung herbei.« (Flemmer 2014) Im ersten Teil der Trilogie arbeitet und spielt Rosenmüller deshalb immer wieder mit der Metapher der Vertreibung aus dem Paradies. Man sieht eine Schlange, erkennt, dass verschiedene Charaktere im Film vom Baum der Erkenntnis kosten, und Kati schließlich der Versuchung des Fernwehs nachgibt.9 Zum Abschied schwören sich die Mädchen: »Unsere Straßen werden sich immer kreuzen.« Doch der Toast »Auf dich« statt »Auf uns« verrät, dass ihre Wege sich trennen werden. Ihre Zweifel, ob der Auslandaufenthalt zu diesem Zeitpunkt die richtige Wahl ist, beziehen sich besonders auf Katis erste große Liebe, einen jungen Mann aus ihrem Dorf, der mittlerweile seinen Militärdienst ableistet, mit einem frisierten Möchtegernsportwagen das Umland erkundet und die Münchner Disco M1 mittlerweile dem lokalen Bierzelt vorzieht. Sein Hedonismus und Egoismus werden zwar von beiden Mädchen als negative Attribute wahrgenommen, doch befreien können sie sich von dem Schwarm nicht, auch wenn sie sich in Anbetracht von Sternschnuppen ganz andere Männer herbeisehnen: »Groß, dunkel, geheimnisvoll, echte Helden«. Umgeben und mitunter auch eingenommen wird das Dorfleben in der Trilogie von einer Landschaft, die die Menschen immer wieder verschluckt. Die Kameraführung zeigt diese Symbiose von Mensch und Natur als Einheit, etwa wenn Autos und Personen hinter Hügeln und zwischen wogenden Gras- und Getreidelandschaften aus dem Blickfeld geraten. Dabei erscheinen Tanderns Felder und Weiten keineswegs bedrohlich, sondern idyllisch und harmonisch; die Kamera nimmt sich in längeren Einstellungen Zeit für sie. Rosenmüller schreibt diesen Filmpassagen dabei eine quasi therapeutische Funktion zu:
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Rosenmüller geht es dabei auch um die Bebilderung einer persönlichen Lebenslehre: dass »zum Leben Veränderung und Tod gehören, man das Glück nicht bewahren muss und alles im Fluss ist. Der Mensch muss begreifen, dass man das Glück nicht halten kann und man sich verändern muss. Das ist ein schwieriger Prozess, weil der Aufbruch immer mit Abschied einhergeht. Auf der positiven Seite stehen das Neue und die Tatsache, dass die Bindungen und die Erfahrung trotz aller Veränderungen bleiben.« (Flemmer 2014)
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»Das macht der Ort mit mir. Ich wollte schöne lange Einstellungen haben, um einen Blick auf die beeindruckende Natur zu gewährleisten. Die Landschaft in Tandern finde ich eh sehr filmisch. Das war am Anfang ganz anders. Als ich dort zum ersten Mal war, fand ich den Ort etwas fade und langweilig. Doch dann entdeckte ich seine Poesie. Wenn ich dort bin, werde ich automatisch etwas ruhiger.« (Flemmer 2014)
Die Stille und Weite der Landschaftsbilder verweisen auch auf einen Alltag ohne Eile und Tempo. Nur das Gekreische der Zugvögel und die wiederholte Einblendung von Flugzeugen am Himmel erinnern an das Fernweh und die Unabwendbarkeit von Veränderung. In Rosenmüllers Trilogie geht es um eine universelle Freiheitsliebe und Selbsterfüllung, die gerade vor dem Hintergrund ländlicher Lebenswelten erzählt wird und erzählt werden kann.10 Die Filme beschreiben die Geburtswehen der Adoleszenz, wobei die Ablösung von der Primärfamilie und Durchsetzung in der Peergroup zu den gängigen Mustern gehören, die Kati und Jo gleichfalls zu durchleiden haben. Die Emanzipation von Familie und Umfeld ist auch durch eine zunehmend ambivalentere Haltung zur Heimat geprägt: einerseits Heimat als Gefühl und Lokalität der Bindung, andererseits aber auch der Abstoßung. Katis Ziel ist gewissermaßen auch ein Ziel ex negativo, das sich aus dem Drang wegzugehen – sei es nach Amerika, wie im ersten Teil der Trilogie, oder ins Studium, wie im letzten – ergibt und schmerzhafte Trennungsgefühle erzeugt. Rosenmüller erklärt dazu in einem Interview: »Mir ging es in erster Linie um die Loslösung von Heimat und Familie, um die Momente, in denen man intensiv lebt [...], in denen dieses Lösen schwer fällt.« (Bozadjieva 2007) Dass der Regisseur in den Filmen dabei seine eigene Generation festhalten wollte, mag die vielen Anachronismen erklären. So haben die Jugendlichen allesamt keine Handys oder Computer und die Technologie ist insgesamt veraltet (wie man bspw. an den Haus- oder Kneipentelefonen sehen kann). Das hat etwas Analog-Romantisches an sich und wirkt wie ein leiser Protest gegen die Digitalisierung der Jungkultur. Dies ist sowohl Kritikern aufgefallen (»the BESTE films clearly recall the post-war genre«, so Wüst 2011: 83) als auch Rosenmüller selbst bewusst, wenn er sich dazu bekennt kein »moderne[r] Filmemacher« (Flemmer 2011a) zu sein. Im Vordergrund steht für Rosenmüller in seinen
10 So führt der Regisseur etwa in einem Interview aus, dass es ihm um Menschen geht, »die zwar in einer Region wohlbehütet leben, die aber trotzdem von etwas Aggressivem beherrscht werden, das ausbrechen will. Trotz der Obhut und des Harmonischen spüren Sie eine Enge und eine Sehnsucht nach Befreiung. Sie wollen ausbrechen in die große Welt, interessieren sich für die großen Fragen des Lebens. Es geht mir um die Vertreibung aus dem Paradies. Obwohl meine Filme in Bayern spielen, ist dieser Konflikt universell.« (Flemmer 2011a)
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Heimatfilmen der persönliche und zwischenmenschliche Kontakt, nicht der technisch-simulierte. Dies zeigt sich auch an der Verwendung von Sprache. Gerade der lokale Dialekt erzeugt hierbei den Eindruck eines direkteren Kontakts zwischen den Sprechenden und sorgt auch für ein Aufgehobensein in der Sprache. Dieses Gefühl der Unvermitteltheit soll sich dabei auch auf die Rezipienten übertragen: »Ich fand es wichtig, dass er [der Film BESTE ZEIT] in Dialekt ist, weil es stimmiger ist. Die Geschichte kommt ehrlicher rüber. Es entsteht sofort ein Regionalbezug, es ist etwas Kleines, Bescheidenes. Ich fände es komisch, wenn der Film im Dachauer Hinterland auf Hochdeutsch wäre. Das würde ja nicht stimmen. Außerdem muss man ja nicht jedes Wort verstehen. Die Szenen sind wichtig. Wenn sich zwei streiten, dann weiß man sofort: ›aha, Vater, Tochter!‹ Das hat schon jeder erlebt.« (Bozadjieva 2007)
Kurz gesagt, so Rosenmüller: »Der Dialekt macht die Geschichte nur authentischer.« (Niederfriniger 2009) Dabei geht es weder in der Verwendung von materiellen Anachronismen noch in der Verwendung des Dialekts darum, das Bild des fortschrittlichen und produktiven Bundeslandes bewusst zu konterkarieren oder ins Komödiantische zu überführen. Rosenmüller betont, dass er mit seinen Filmen keinen lokalspezifischen, sondern einen universellen – auch ethisch normativen – Anspruch verfolgt: »Es geht mir nicht so sehr um Bayern, sondern um die Menschen. Es ist meine Liebe zum Menschen. Ich möchte nicht den bayerischen Heimatpfleger machen. Es geht mir um die Art und Weise, wie ich dieses Zueinander empfinde, oder wie es sein sollte. Ich möchte vielleicht zeigen, wie die Welt sein sollte und wie man miteinander umgehen müsste. Das ist ein Ziel meiner Filme.« (Bozadjieva 2007)
Dieser bewusst rückständige, fast protestierende Aspekt zeigt sich im Film auch, wenn Kati im VW-Bus Kassetten statt CDs (bzw. MP3s) abspielt oder alte Autos als Statussymbole dienen. Es ist somit, auch wenn die Filme allesamt in der Gegenwart angesiedelt sind, in Bezug auf die Jugendkultur eine Art Zeitreise in die 1980er und 90er Jahre, die sich aus der autobiografische Erfahrungen verarbeitenden Arbeitsweise Rosenmüllers erklärt. Diese autobiografischen Erfahrungen finden sich auch in der Indienreise, die Kati und Jo jeweils unabhängig voneinander in BESTE CHANCE antreten.11 Diese Reise erscheint letztlich als weitere Stufe im Prozess des Erwachsenwerdens und auch als eine Art Radikalkur in Sachen Heimat und Fremde – konfrontiert sie doch mit den Gegenbildern der Massen und der
11 So drehte Rosenmüller im Jahr 2002 seinen Abschlussfilm an der Hochschule für Film und Fernsehen München, HOTEL DEEPA (2003), im indischen Pune.
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Schnelllebigkeit.12 Am Ende kehren beide Mädchen nach Bayern zurück. Nicht als verlorene Töchter oder gescheiterte Weltenbummlerinnen, sondern als erwachsene, selbstbewusste und weitgereiste Frauen, die in der Fremde gelernt haben, was Heimatverbundenheit heißt. Gerade angesichts der auch weiter fortschreitenden Modernisierung, Urbanisierung und Globalisierung sieht Rosenmüller darin auch die Funktion und Chance von Filmen mit Regionalbezug: »Ich glaube schon, dass kleine Filme mit regionalem Bezug gut ankommen, weil sich die Leute besser identifizieren können. Wegen der Angst vor der Globalisierung, dass alles gleich wird, finden das die Leute umso besser, wenn man so eine Art Enklave findet.« (Bozadjieva 2007)
Das schnelllebige Stadtleben in Indien, mit seiner Medien- und Markendominanz, hat den letzten Teil der Trilogie auch kinematographisch beschleunigt und insgesamt ein zeitgenössischeres Flair in der formalen Gestaltung des Films bewirkt. Allerdings: Statt in Indien auf Müllberge und Chaos zu verweisen, bleibt es lediglich bei der Injektion von einer viel lauteren und reicheren Geräuschkulisse, einer großen Farben- und Schildervielfalt und Massen von Menschen. Rosenmüller motiviert diese vergleichsweise weichzeichnerische Methode so: »Ich will nicht die krasse Wirklichkeit zeigen, vielmehr greife ich zu Metaphern, mit denen ich das Abgründige andeute. In BESTE CHANCE zeige ich am Anfang das Geradlinige und am Schluss das Bild mit dem großen heiligen Fluss. Damit ist für mich das Dilemma des Lebens beschrieben«. (Flemmer 2014)
Folglich kann es dabei in der individuellen Entwicklung auch zu keinem endgültigen Abschluss kommen – weder in der Ferne noch daheim in der Provinz. Die Filme haben daher allesamt ein offenes Ende, das darauf verweist, dass die Figuren im Prozess des Suchens und Findens bleiben. Weder wird ihnen ein ultimatives Happy-End in Aussicht gestellt, noch werden alle Fragen beantwortet. Dies steht in den Filmen letztlich jedoch nicht im Gegensatz oder gar Widerspruch zu der Möglichkeit, einen Ort der Geborgenheit und Heimatlichkeit zu kennen und auch in ihm leben zu können.
12 Rosenmüller: »in Indien wuselt es, alles ist im Fluss« (Flemmer 2014).
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L ITERATUR Bozadjieva, Tzveta (2007): »Zuhause ist es am Schönsten. Rosenmüllers Welt«, http://filmreporter.de/stars/interview/854-Rosenmuellers-Welt (26.07.2017). Casati, Rebecca/von Festenberg, Nikolaus (2007): »Vom Maisfeld verschluckt«, in: Der Spiegel 31/2007, S.136-137. Flemmer, Willy (2011a): »›Im Zeitalter des schlechten Designs‹. Nostalgisch: Marcus H. Rosenmüller«, http://filmreporter.de/stars/interview/3352Nostalgisch-Marcus-H-Rosenmueller (26.07.2017). Flemmer, Willy (2011b): »Hilft die Meditation? Marcus H. Rosenmüller heimatlich«, http://filmreporter.de/stars/interview/3246-Marcus-H-Rosenmuellerheimatlich (26.07.2017). Flemmer, Willy (2014): »Das Leben ändert sich, das Glück bleibt. Romantischer Marcus H. Rosenmüller«, http://filmreporter.de/stars/interview/4150Romantischer-Marcus-H-Rosenmueller (26.07.2017). Gansel, Carsten (2000): Der Adoleszenzroman. Zwischen Moderne und Postmoderne. In: Günter Lange (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur, Bd. 1, Baltmannsweiler: Schneider, S. 359-399. Niederfriniger, Andrea (2009), »Marcus H. Rosenmüller mit Lokalkolorit. ›Der Moment der Lüge‹‹«, http://filmreporter.de/stars/interview/1656-Der-Momentder-Luege (26.07.2017). Sloterdijk, Peter (1998): Der starke Grund, zusammen zu sein. Erinnerungen an die Erfindungen des Volkes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Temsch, Jochen (2007): »Das Wunder von Bern – auf Bayrisch«, Süddeutsche Zeitung vom 15. Jan. 2007, http://www.sueddeutsche.de/muenchen/schwerejungs-das-wunder-von-bern-auf-bayerisch-1.738788 (26.07.2017). Wüst Sarah (2011): »Young German Heimatfilm: Negotiations of a Powerful Myth«, in: Austausch 1/1, S. 76-94.
»Es geht mir nicht darum, Idyllen zu erzählen« Annika Scheffel im Gespräch mit Julia Rössel und Marc Weiland
Weiland: Julia Rössel, als Sozialgeografin beschäftigst du dich empirisch mit Leuten, die aufs Land ziehen; und zwar ganz spezifisch in eine sehr dünn besiedelte Region, die mit Arbeitslosigkeit, Überalterung und hoher Abwanderung konfrontiert ist: der Uckermark. Du schilderst dabei einerseits die verschiedenen problembehafteten Versuche der Wiederbelebung eines vermeintlich ›leeren‹ Raumes und andererseits die damit einhergehenden und diesen zugrunde liegenden individuellen Motivierungen und Konzeptualisierungen des eigenen Handelns im Raum. Damit bildet deine Untersuchung quasi auch einen Kontrapunkt zu Annika Scheffels Roman BEVOR ALLES VERSCHWINDET, der den Untergang eines Dorfes beschreibt. Warum war dieses Thema für dich, entgegen des eher umfassenderen Trends der Landflucht, von Interesse? Rössel: Ich habe mich in meiner Dissertation mit der Frage beschäftigt, wer heute überhaupt aufs Land zieht. In der Geografie ist das Ländliche ein etwas vernachlässigtes Thema. Zunächst hat diese Idee, sich damit nochmal aus einer anderen Perspektive zu befassen, nicht unbedingt Begeisterungsstürme ausgelöst. Aber wie sich dann im Verlauf der Arbeit gezeigt hat, passieren in ländlichen Gebieten Aspekte und Veränderungen, die mit den Erkenntnissen der modernen Sozialgeografie gut zusammenpassen. Ich habe mich mit der Frage beschäftigt: Was passiert denn in den Dörfern heute Neues? Gibt es Veränderungen? Gibt es wirklich nur Abwanderung? Gibt es nur Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit? Das sind Schlagwörter, die man üblicherweise mit dem demografischen Wandel verbindet. Ich habe mir dafür eine Region ausgesucht, die davon stark betroffen ist, nämlich die Uckermark. Dabei habe ich vor allem untersucht, wer dort neu hinzieht und warum. Konträr zu der geläufigen Vorstellung, dass das Dorf stirbt, war mein Ausgangspunkt die Fragstellung: Was zieht euch da hin?
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Weiland: Warum ziehen denn die Leute dort hin? Rössel: Das kann man natürlich nicht mit einem Satz beantworten. Eine grundlegende Motivation aller Zugezogenen war, dass sie ein anderes, ein gutes Leben suchten. Ein Leben, das Kontraste zu dem Leben darstellt, das sie vorher gelebt haben. Ein Großteil der Interviews, die ich geführt habe und die auch den Schwerpunkt meiner Forschung darstellen, hat die Reflexion ausgemacht: Inwiefern ist dieses neue Leben gut? Die Basis dafür bildete meist ein Vergleich zum vorherigen Leben. Weiland: Ländliche Räume werden ja häufig unter rein demografischen Gesichtspunkten betrachtet. Laut United Nations werden im Jahr 2050 nur noch ein Drittel aller Menschen in ländlichen Gebieten wohnen und zwei Drittel dementsprechend in Städten. Laut dem Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung werden bis 2030 ca. vier Millionen Menschen aus ländlichen Gebieten weggezogen sein; und im Jahr 2050 sollen es dann bereits zwölf Millionen sein. Annika Scheffel, du bist ja noch recht jung und wohnst in Berlin. Etwas oberflächlich und provokativ formuliert: Eigentlich müsstest du doch eher Großstadtromane schreiben. Warum beschäftigst du dich in deinem Roman mit ländlichen Regionen, mit dem Dorf? Was ist daran überhaupt erzählenswert? Scheffel: Ich glaube, den großen Berlinroman schreibt sowieso jedes Jahr jemand; da braucht es mich nicht, um den zu schreiben. Ich beschäftige mich einfach gerne mit Orten, an denen ich nicht bin und mit Menschen, die ich selbst nicht bin. Das macht für mich eher den Reiz aus, als mich selbst zu reproduzieren oder aus meinem eigenen Blick zu schreiben. Ich habe nie auf dem Dorf gelebt; und ich habe auch keine Oma, die vom Dorf vertrieben wurde. Ich habe keine persönliche Geschichte, die ich damit verbinde; außer, dass meine Oma früher mit mir im Harz beim Stausee war und mir erzählt hat, dass da unter dem Wasser ein altes Dorf ist und man nachts noch die läutenden Kirchturmglocken hören kann. Mittlerweile weiß ich, dass das der älteste Mythos zu den versunkenen Orten überhaupt ist; und ich weiß jetzt auch, dass es bei diesem konkreten Ort nie eine Kirche gab. Das war gleich eine Enttäuschung zu Beginn des Schreibens. Es ist daher nichts konkret Persönliches, es ist eher dieser Zustand, der mich fasziniert und auch ein bisschen bestürzt hat: Dieses Dasein des Ortes, der schon im Verschwinden begriffen ist und ermöglicht, von Leuten zu erzählen, die eben gar nicht freiwillig da wegwollen. Da gibt es keine Landflucht, denn die Menschen wären ja nicht auf die Idee gekommen, da überhaupt weg zu gehen. Die wollen da leben, die dachten, sie leben da ihr Leben lang und plötzlich wird ihnen von außen diktiert, wo sie zu sein haben und wo nicht. Das hat mich interessiert.
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Weiland: Als ich BEVOR ALLES VERSCHWINDET gelesen habe, dachte ich zunächst: Das ist ein Buch, das stellt Literatur aus Literatur her. Es gibt sehr viele Märchenmotive und die Figuren haben zumeist auch gar keine herkömmlichen Namen; alles wirkt recht fantastisch und erscheint mehr oder minder irreal. Dann habe ich aber zum Schluss gesehen, dass du auf das ARCHIV VERSCHWUNDENER ORTE verweist. Es gibt also de facto trotz aller märchenhafter Verweise und trotz aller Mythologisierung auch konkrete lebensweltliche Vorlagen. Kannst du über die Rechercheform etwas erzählen? Was liegt dem Buch, sozusagen, als Aufhänger zugrunde? Scheffel: Ich habe mir verschieden Orte angeschaut. Der erste war ein Ort im Harz, dann war ich am Edersee in Hessen. Wenn man den googelt, dann sieht man ein Bild, das aus den 1960er Jahren ist. Da sieht man Menschen, die auf einem zubetonierten Friedhof Blumen auf ein Grab legen. Dieser Friedhof war erstmals seit vierzig oder fünfzig Jahren wieder aufgetaucht, weil das Wasser so niedrig stand. Das geschah wohl direkt am Totensonntag, sodass die Leute dann zum ersten Mal wieder direkt Blumen auf die Gräber legen konnten. Das war so ein Bild, das mich beim Schreiben sehr beschäftigt hat. Ebenso Bilder aus Nordrhein-Westfalen, wo Orte vom Kohleabbau betroffen sind. Da habe ich ein Bild mit einem Fenster gesehen, in dem stand geschrieben: ›Hier leben noch Menschen‹. Es gehen dort fremde Menschen in die Häuser und schauen sich das an, als ob es ein Museum wäre; und aus den Zurückgebliebenen werden lebende Geister, die noch dort wohnen. Dann war ich beim ARCHIV VERSCHWUNDENER ORTE in der Lausitz. Das ist eine gut gemeinte Geste von der Betreibergesellschaft, die diesen Ort abgebrochen hat. Zum einen haben sie versucht, diesen Ort in der alten Struktur wieder aufzubauen, alte Nachbarn durften nebeneinander wohnen und wurden gefragt, ob sie das wollen. Ich weiß auch nicht, was es ausgelöst hat, wenn man dann jedoch gesagt hat: Ne, möcht ich nicht. Sie haben also versucht, die alte Dorfstruktur mit dem Weiher nachzubauen, und sie haben zum anderen dieses Archiv gebaut. Die Räume darin sind mit einem Innenfutter ausgekleidet, das mit einer Landkarte bedruckt ist. Es gibt Infosauger, mit denen man über den Boden saugen kann und dann sieht man in einem Display die Geschichte der Orte. Man kann zum Beispiel lesen, wann sie verschwunden sind und wie viele Leute da gewohnt haben. Es gibt auch ein paar Artefakte, wie einen alten Maikranzstab. Die Frau, die da sehr einsam an der Kasse saß, hat mir erzählt, dass eigentlich selten jemand in das Museum kommt. Vor dem Hintergrund der Symbolik mit dem Infosauger, der den Ort ja noch einmal wegsaugt, ist es für die Bewohner vielleicht gar nicht so einfach, da hin zu gehen und sich auf diese Art zu erinnern. Die Idee ist ja gut gemeint und museumspädagogisch sicher ganz toll, aber für die Leute vielleicht eher traumatisch, je nachdem wie schlimm der Abbruch des Ortes für sie war.
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Rössel: Aus meiner Perspektive sehe ich da einen sehr interessanten Aspekt. Man kann ein Dorf nicht einfach so woandershin verpflanzen und annehmen, es wäre dasselbe Dorf. Im Buch bekommen die Figuren ein neues und vielleicht auch viel besseres Dorf als das alte – und trotzdem bricht überhaupt keine Begeisterung aus. Die Menschen freuen sich nicht auf dieses neue, bessere, modernere Dorf. Ich habe mir dann die Frage gestellt: Was unterscheidet denn diese beiden Dörfer aus einer geografischen Perspektive? Ich würde sagen, dass es nicht gelingt, dass die Bedeutungen, die das Dorfleben über Jahrhunderte an dem alten Ort schafft, zu reproduzieren. Das kann nur durch Alltagsleben entstehen. Das ist auch etwas, das mir in der Uckermark begegnet ist. Die Dörfer sind in einem hohen Maß mit Symbolen und Bedeutungen aufgeladen – und genau die werden dann auch beständig reproduziert und als bereichernd empfunden. Weiland: Das hängt vermutlich auch mit der ›guten‹ Erzählbarkeit des Dorfes zusammen. In ihm lässt sich das eigene Leben, insbesondere auch die Auswirkungen des eigenen Tuns und Handelns, möglicherweise besser verorten. Scheffel: Ich finde es interessant, Julia, dass du zu Städtern geforscht hast, die mit ihrem eigenen Mythos in das Dorf kommen und versuchen, diesen dort zu spielen oder auszuleben, obwohl ja schon eigene Geschichten und Erinnerungen in einem Dorf zu finden sind. Rössel: Das war auch ein ganz interessanter Punkt, denn natürlich lebte im Dorf bereits eine alteingesessene Bevölkerung mit ihren eigenen Geschichten. Die Dörfer und kleinen Siedlungen in der Uckermark waren ja zum Teil verlassen und schon seit der Wende von Leerstand durch Abwanderung gekennzeichnet. Durch die neu Zuziehenden wurden sie wiederbelebt. Die beiden Gruppen treffen hier aufeinander und mit ihnen auch ihre Geschichten, woraus wiederrum auch neue entstehen. Alte Dorfrituale werden wieder aufgegriffen. Die neuen Leute fragen danach, was es gab und was sie vielleicht wieder aufgreifen können. So versuchen sie beispielsweise Dorffeste und -rituale wieder aufleben zu lassen. Weiland: Es ist ja häufig zu beobachten, dass gerade die Zugezogenen die höchste Motivation mitbringen, die Dorftraditionen aufrecht zu erhalten und den vermeintlich ursprünglichen Raum zu konservieren, den sie selbst schon de facto durch ihren Zuzug verändert haben. Das erscheint mitunter paradox und geht vermutlich nicht ganz problem- und konfliktlos vonstatten. Rössel: Dafür möchte ich zunächst etwas zu dem Raumverständnis sagen, das ich als Sozialgeografin habe. Raum ist ja nichts Statisches, das sich in diesem Sinne vermessen ließe. Er ist immer etwas Hybrides, etwas Veränderbares, ein Prozess;
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genauer gesagt: Ein Produktionsprozess, also etwas sozial Gemachtes. Menschen produzieren Raum. Dementsprechend ist er auch nicht einfach so da. Wenn nun eine Veränderung geschieht, neue Menschen in eine Gemeinschaft, in eine Gruppe kommen, dann verändert sich auch der Raum; sie bringen neue Aspekte ein, verändern Dinge, die bestehen – und natürlich läuft das nicht immer konfliktfrei ab. In meiner Arbeit habe ich mich mit den Zugezogenen beschäftigt. Zu der Perspektive der alteingesessenen Bevölkerung kann ich daher wenig sagen. Auch, weil ich selbst sehr schnell der Gruppe der Zugezogenen zugeordnet wurde. Aber ich habe erfahren, dass gerade in Dörfern, in denen etwa fünfzig Prozent der Dorfbevölkerung Zugezogene sind, Konflikte bestehen. Und zwar Konflikte über ganz alltägliche Dinge: Wie gestalte ich meinen Vorgarten? Wie gestalte ich meine Wohnräume? Wie renoviere ich Häuser? Wie saniere ich Straßen? Das war in einem Ort ein großes Thema. Da ging es dann darum, ob das Kopfsteinpflaster erhalten oder die Straße geteert werden soll. Dabei wurde mir klar, dass schon ganz verschiedene Bilder in den Köpfen existieren. Um nun in der Raumsprache zu bleiben, würde ich sagen: Ganz verschiedene Räume wurden hierbei schon konzipiert. Bei den Zugezogenen ging es mehr um ästhetische Fragen, die sagen: Ich finde das Kopfsteinpflaster passender zu meiner Vorstellung von der ländlichen Idylle. Alteingesessene in dem Dorf haben eher pragmatisch argumentiert und gesagt: Ich möchte mein Auto aber auch lange Zeit hier fahren können und dafür ist diese Straße nicht geeignet. Solche Kleinigkeiten haben große Konflikte entfacht, die auch über Jahre immer wieder reproduziert und aufgewärmt wurden. Weiland: Sowohl in den neueren als auch älteren Dorfgeschichten ist auffällig, dass das Erzählen der Geschichte häufig damit beginnt, dass etwas von außen eindringt und ein Element der Unordnung ins ordentliche Gefüge hineinbringt. Da lässt sich eine Verbindung zwischen so gegensätzlichen Texten wie etwa den Erzählungen Stifters und Jan Brandts GEGEN DIE WELT oder aber auch deinem Roman herstellen. Ist denn Fremdheit möglicherweise etwas, das für das Erzählen vom Dorf konstitutiv ist? Scheffel: Fremdheit ist das, was konstitutiv ist für das Erzählen von Geschichten und bildet meistens den Startpunkt für Geschichten. Das kann man auf alles ausweiten. Wenn die Titanic nicht untergegangenen wäre, hätte man diese Geschichte nicht erzählt. Dass etwas anders läuft, als man denkt oder jemand kommt, mit dem man nicht gerechnet hat, das ist ja der Motor für Geschichten. Das finde ich bei Dorfgeschichten aber eher als Klischee: In unserer städtischen Vorstellung läuft ja im Dorf alles, weil es hermetisch abgeriegelt ist, immer gleich; und es muss dann schon einer von außen kommen, damit sich da mal etwas ändert. Du meintest, das sind bei mir die Gelbhelme, die Leute der Poseidongesellschaft. So wollte ich das eigentlich nicht erzählen, aber es ist interessant, dass es so gelesen wird. Ich wollte
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keine Dualität aufmachen oder gut versus böse erzählen. Für mich waren die, die von außen kommen, einfach nicht so wichtig. Weiland: Die haben ja auch keine Namen. Das sind einfach nur Nummern. Scheffel: Genau, das sind nur die Überbringer der Botschaft. Sie bringen diesen Katalysator, dass es jetzt wirklich losgeht. Aber sie sind keine Macht, gegen die man kämpft. Die Bewohner kämpfen vielmehr mit sich selbst. Wer noch neu hinzukommt, ist die Figur Milo, die erst von David gesehen wird und dann auch von den anderen Bewohnern im Dorf. Außerdem erscheint noch ein blauer Fuchs, eine Figur, die von einer Zeichnung ausgeht, die Marie macht. Es stehen eher die fantastischen Elemente, die aus dem Dorf selbst generiert werden, im Vordergrund als die Bösen von außen, die alles zerstören wollen. Weiland: Zu Beginn des Romans hätte man auch noch vermuten können, dass es gerade dieser von außen kommende Einbruch der radikalen Modernisierung ist, der dazu führt, dass die Dorfgemeinschaft irgendwie zusammenwächst und sich auf gemeinsame Werte besinnt. Dabei bröckelt es innerlich eigentlich schon die ganze Zeit; und auch die üblichen Idealisierungen des Dorflebens lassen sich gar nicht erst finden. Das zeigt sich an mehreren Beispielen; unter anderem wenn man sich etwa das Verhältnis von Wacho zu seinem Sohn anschaut, der eingesperrt und körperlich misshandelt wird. Da kommen dann die negativen Seiten der Gemeinschaft zum Ausdruck, die alles Unverständliche auszuschließen oder gar zu eliminieren sucht; und zwar auch dann, wenn es ihr selbst entspringt. Scheffel: Ich finde diese Rezeption interessant. Schon mehrmals wurde ich darauf angesprochen: Jetzt zerstören Sie in dem Roman diese Idylle, diesen wunderschönen Ort. Warum denn? Wie kann man sich denn in dem Alter mit so viel Zerstörung auseinandersetzen? Es geht mir nicht darum, Idyllen zu erzählen. Ich habe dabei absichtlich auf den Begriff Dorf verzichtet, weil ich auf das Idyllenbild verzichten wollte; und zwar trotz der ganzen Klischees, die ich verwende. Ich wollte von einem Ort erzählen, der auch mal fünfzigtausend Bewohner gehabt haben könnte, von denen jetzt aber nur noch hundert da sind und dann auch nur noch zehn. Es geht mir nicht so sehr um ein Dorf, sondern es geht mir um einen Ort, der aufgelöst wird. Dieser Ort ist ja alles andere als idyllisch. Man hat Wacho, der seinen Sohn misshandelt, und die vielleicht schon ungesund enge Beziehung zwischen den Zwillingen. Da kann man schon durchaus denken: Gut, dass nun endlich dieser Ort zusammenstürzt, damit ihr mal woanders hinkommt. Mir ging es aber darum, viele Perspektiven und Umgangsformen zu erzählen. Aus den unterschiedlichen Lebenssituationen der Figuren ergibt sich dann schließlich auch die Art und Weise, wie sie reagieren. Es geht mir nicht darum zu erzählen, dass die Idylle Dorf durch die bösen
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kapitalistischen Stauseebauer und Energiegewinner zerstört wird. Das war auch der Hauptgrund, warum bei mir die Bauarbeiter alle nur Gelbhelme heißen. Das wird dann an einer Stelle aufgebrochen, an der sich eine dieser Figuren mit dem Dorfleben vermischt. Rössel: Eine interessante Parallele zeigt sich vielleicht auch im Gemeinschaftsbegriff, den ja viele Menschen mit dem Dorf oder mit ländlichen Regionen verbinden. In meiner Arbeit haben die Zugezogenen, mit denen ich gesprochen habe, Gemeinschaft auch immer als Element des guten Lebens definiert. Ich habe mit ihnen reflektiert, was individuell für sie zu diesem guten Leben dazugehört. Der Gemeinschaftsbegriff spielt da eine große Rolle. Trotzdem hat sich in meiner Beobachtung dieser Dörfer gezeigt, dass dort verschiedene Gemeinschaften existieren. Die Zugezogenen selbst in der Uckermark bildeten eine Art von Gemeinschaft und haben gute Netzwerke, initiieren Projekte und unterstützen sich gegenseitig – aber die Vermischung mit den Alteingesessenen findet in diesen vermeintlichen Gemeinschaften kaum statt. Dieses Bild der einheitlichen Dorfgemeinschaft existiert dort auch gar nicht mehr. Weiland: Diese vermeintlich klischeehaften Bilder des Dörflichen oder der Gemeinschaft haben sich kulturgeschichtlich sehr lang gehalten und werden sich vermutlich auch immer noch weiter halten. Dabei hat sich die starre Stadt-LandDifferenz in der Realität doch schon längst überlebt; aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven untersucht man mittlerweile diverse Vermischungen und Hybridformen. Wir finden städtische Lebensstilen in ruralen Räumen wie auch rurale Lebensstile in den Städten. Dabei stellt sich dann jedoch die Frage: Warum halten sich noch wie vor diese vereinseitigenden Vorstellungen – seien es einerseits, in ihrer positiven Variante, die idyllischen Bilder oder andererseits, in ihrer negativen Variante, die Bilder des dem Untergang geweihten Dorfes? Rössel: Also aus meiner Perspektive kann ich sagen, dass in der wissenschaftlichen Debatte in der Geografie die Begriffe Land und Stadt kontrovers diskutiert werden und letztlich diese Abgrenzung mit einheitlichen Definitionen nicht mehr möglich ist. Da herrscht, glaube ich, Einigkeit. Der ländliche Raum oder die Stadt existieren in dem klassischen Sinne nicht mehr. Es vermischt sich zunehmend und es treten hybride Formen auf; man spricht dann von urbanen Lebensstilen in ländlichen Regionen und es ist auch nicht mehr klar, wie genau man diese beiden Kategorien abgrenzen kann. Doch trotz dessen habe ich in meiner Forschung gelernt, dass für die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, diese Kategorien im Alltagsleben sehr wichtig sind; und ich habe das als eine Art Ordnungsschema verstanden. Wenn ich beispielsweise mit meinen Interviewpartnern darüber gesprochen habe, was jetzt für sie gutes Leben ausmacht oder inwiefern sie dieses Leben in der Uckermark als
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gut bewerten, dann wurde immer von Land und Stadt als Kontrast gesprochen. Es war dichotom. Sie haben anhand dieser Kategorien für sich festgestellt, dass das Leben vorher, in dem Fall in der Stadt, weniger gut war als das Leben auf dem Land. Das war für sie entscheidend. Scheffel: Was haben sie denn dabei für Gründe genannt? Gab es klassische Argumente wie zum Beispiel: Es ist dort leiser? Rössel: Es war tatsächlich klassisch. Es ging um Fragen der Ruhe und der Stille. Dann kamen aber auch Themen auf wie: Ich kann hier mehr selbst machen, ich bin nicht den kapitalistischen Zwängen der Gesellschaft in derselben Form unterworfen, ich kann freier wirtschaften, ich kann mich selbst versorgen. Es haben sich in vielerlei Hinsicht Klischees wiedergefunden. Trotzdem würde ich sagen, dass die individuelle Ausprägung letztlich immer verschieden war. Scheffel: Da zeigt sich auch eine Utopie von Weltgestaltung. Du hast ja auch viel mit Leuten zu tun gehabt, die aus Berlin kamen. Dabei war Berlin ja auch mal eine Stadt, von der gesagt wurde: da kann man viel gestalten, da gibt es viele Freiräume. Es ist schon interessant, dass sich das verlagert. Rössel: Ich hatte Interviewpartner aus ganz verschiedenen Städten, aber alle eben aus Städten. Das Gestalten war auch ein Aspekt ihres Verständnisses von gutem Leben. Es ist natürlich fraglich, wie man das fassen kann. Ist ein Leben an sich gut? Welches Leben ist mehr gut und welches ist weniger gut? Ich bin von einer sehr individuellen Perspektive ausgegangen; und zwar von der Bewertung durch die Interviewpartner selbst. Dabei ging es immer um die zentrale Frage: Kann ich diejenigen Ziele, die ich für mein Leben habe, an diesem Ort, in dem Fall in der Uckermark, verwirklichen? Zuvor konnten sie Ziele auch lange Zeit verwirklichen, bis ein Umbruch im Leben kam. Dieser kann ganz unterschiedlich sein; zum Beispiel die Geburt von Kindern, der Eintritt ins Rentenalter. Aber es gibt auch Umbrüche, und das trifft auch auf Berlin zu, die politischer Natur sind. In diesem Fall war der Mauerfall häufig ein zentrales Ereignis für die Menschen, die dort lebten. Die haben mit dem Mauerfall schwerwiegende Veränderungen erfahren und mitunter dann die Entscheidung getroffen, Berlin zu verlassen. Weiland: Die Menschen, mit denen du gesprochen hast, kommen einerseits mit Idealbildern bepackt aufs Land, andererseits mit dem Wunsch nach Abgrenzung zum städtischen Leben. Wie sieht dabei der Abgleich mit der Realität aus? Finden sie das, was sie gesucht haben?
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Rössel: Natürlich nicht. Eine Art von Wissensproduktion findet ja bereits vor dem Umzug statt. Man hat Ideen, überlegt, was man will und wie man es umsetzen möchte. Da gab es sehr interessante individuelle Vorstellungen, z.B. die von der Selbstversorgung: Wie kann ich mich selbst versorgen in der Uckermark, wie kann ich einen Garten anlegen, der mich das ganze Jahr über ernährt? Und tatsächlich mussten einige dann feststellen, dass diese Vorstellung nicht realisierbar ist. Das alleine bedeutet für die Personen aber nicht, dass das Leben deshalb nicht gut ist. Es ist also nicht so, dass das Ziel erreicht werden muss, um letztlich das gute Leben als übergeordnetes Ziel dieser Vorstellung zu erreichen. Es geht vielmehr um die Frage: Kann ich vielleicht auch Ziele modifizieren und dann trotzdem dieses Leben als gut bewerten? So hatte ich beispielsweise eine Interviewpartnerin, die sagte: Nein, mit dieser Gartenvorstellung, das funktioniert in meinem Alltagsleben am neuen Wohnort nicht und trotzdem habe ich jetzt eine gute Lösung gefunden. Sie hat jetzt den Garten an eine junge Familie weitergegeben, die ihn bewirtschaftet. Die Kinder spielen dort, und das findet sie auch schön. Sie hat sozusagen ihr soziales Ziel gefunden und die Idee der Selbstversorgung aufgegeben. Daher ist sie auch nicht wieder aus der Uckermark weggegangen. Denn diese Fälle gibt es natürlich auch: Menschen, die merken, dass sie ihre Ziele doch nicht an diesem Ort verwirklichen können und deshalb den Ort wieder verlassen haben. Gast: Frau Rössel, haben Sie bei der Befragung auch thematisiert, wie die Auswahl des jeweiligen Dorfes und Hauses erfolgt ist? Denn das ist ja wahrscheinlich genau der Punkt, an dem man sehen kann, welche Bilder schon an den Ort herangetragen werden. Es gibt ja mehrere Möglichkeiten zu wohnen und man findet meist nicht genau die, die man sich vorgestellt hat; man kann nur einen Ort zu dem machen, den man sich vorstellt, aber man findet ihn nicht. Welche Bilder oder welche Kriterien gab es? Rössel: Es existierten ganz verschiedene Bilder von dem, wie beispielsweise das Haus sein sollte. Das sind dann sehr konkrete Bilder wie ein Backsteinhaus, ein Haus am See oder auch ein Haus in Alleinlage. Die Realisierung scheiterte dann aber häufig an der Finanzierung. Nicht alle dieser Vorstellungen konnten finanziell gestemmt werden; und dann wurden die Vorstellungen eben pragmatischer. Ein Interviewpartner formulierte das sehr schön: Nach der Wende existierte ihm zufolge in der Uckermark so eine Art Goldgräber-Stimmung. Man konnte für relativ wenig Geld relativ gute und schöne Häuser kaufen, die den Vorstellungen der Zuziehenden entsprachen. Was mich dann noch besonders interessiert hat, war die Renovierung. Darüber haben wir immer sehr lange gesprochen, weil sich dabei auch zeigt, welche Ideale mit der Hausgestaltung verbunden sind. Das fing damit an, dass die Zuziehenden sich sehr dafür interessierten, welche Geschichte das Haus mit sich bringt. Einige haben mir auch erläutert, dass sie versucht haben, genau die Elemen-
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te, die das Haus in ihrer Sichtweise ausmacht, zu erhalten oder wieder herzustellen. Ein Interviewpartner beispielsweise hatte das Verputzen mit Lehm gelernt, um sein Haus auch selbst zu renovieren. Das Selbermachen spielte dabei eine sehr große Rolle, was wiederum häufig mit dem Ideal eines antikapitalistischen Denkens zusammenhing. In der Ortswahl waren daher viele gar nicht so festgelegt. Allerdings hat sich dann aber herausgestellt, dass Dörfer, die bereits einen starken Zuzug zu verzeichnen haben, auch interessanter sind für weitere Zuziehende. Der Zuzug verstärkt sich von selbst. Es gibt zum Beispiel Dörfer, in denen die Zugezogenen eine eigene Schule gegründet haben; und das hat dann wieder andere Interessenten angelockt. Gast: Interessant finde ich, dass es in BEVOR ALLES VERSCHWINDET viele Verlierer gibt. Es gibt viele Figuren, die sich entweder Illusionen machen oder zusehen müssen, wie sie alles verlieren. Es besteht keine Möglichkeit, noch einmal etwas aus sich selbst zu machen. Gewalttätigkeit spielt eine große Rolle und kommt aus dem Dorf selbst. Es gibt also keinen Anlass zu sagen: Früher war die Welt besser oder ist heiler gewesen. Vielmehr handelt es sich um eine vergleichsweise dunkle Verfallsgeschichte, die bestenfalls eine Art Zerr- oder Negativbild von dem erzeugt, was ein gutes Leben sein könnte. Entwerfen oder entwickeln Sie in Ihrem Buch auch Ansätze oder Hinweise darauf, wie ein gutes Leben in dieser Welt zu führen sein könnte? Scheffel: Das Erschreckende für die Bewohner im Buch ist der von außen aufoktroyierte Schlussstrich. Ihnen wird gesagt: Hier ist der Schlussstrich für diesen Ort, für diese Phase, die ihr hattet, und bis hierhin seid ihr gekommen, so steht ihr jetzt da. Die Leute müssten eigentlich Tabula rasa machen; und bei den meisten sieht es natürlich wirklich nicht so großartig aus. Ihnen bleibt nicht die Chance, noch einmal alles zu sortieren, damit sie am Ende, wenn sie den Ort verlassen müssen, wie ein Mensch mit einem guten Leben wirken. Sie gehen ja zunächst davon aus, dass sie dort noch zwanzig, dreißig oder vierzig Jahre haben und daher noch einiges verändern können. Vielleicht ist das der Moment, der viele von diesen Bewohnern so erschreckt: wenn sie ihre Koffer packen müssen. Sie denken: Oje, wie sehe ich denn aus, wie steh ich denn da, womit kann ich denn da weitermachen? Die meisten Figuren sind eher große Realisten, die einfach im Hier und Jetzt wohnen. Aber dann wird ihnen das Hier und Jetzt plötzlich genommen und sie müssen in eine andere Zukunft denken. Dadurch sind sie gezwungen, zu Idealisten zu werden; und sie müssen sich fragen: Was stelle ich mir denn eigentlich als gutes Leben vor, was will ich eigentlich jenseits von dem, was mir gegeben ist? Das ist für sie dann die Aufgabe und das schaffen sie eben unterschiedlich gut. Das sehe ich auch als etwas Positives an diesem ganzen Ortsabbruch. Wenigstens für einige
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Figuren besteht diese Chance, dieser Tritt in den Hintern: Frag dich doch mal und reflektiere dich doch mal! Was ist da eigentlich noch? Rössel: Genau diese Reflexion hat auch einen Großteil meiner Interviews ausgemacht. Sie hat sich in meiner Untersuchung als Motor des Produktionsprozesses von Räumen gezeigt. Diese Räume des guten Lebens, wie ich es genannt habe, werden durch die Reflexion der einzelnen Menschen produziert. Denn nur die einzelne Person kann letztlich das Leben und die eigenen gesetzten Ziele bewerten. Weiland: Lässt sich denn vor diesem Hintergrund auch eine Zukunftsprognose formulieren? Rössel: Mit Prognosen bin ich, wie vielleicht viele Wissenschaftler, sehr zurückhaltend. Aus meiner Perspektive kann ich mich jedoch von jener Aussage der Zahlen trennen, die rein statistisch behaupten, dass diese Region verlassen sei. Aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte gelten einige Regionen teilweise als gar nicht besiedelt. Ein Interviewpartner hat gesagt: Wenn man den EU-Statistiken glaubt, dann sind wir ja schon längst ein weißer Fleck auf der Landkarte. Trotzdem passiert viel in den Dörfern. Dafür reicht schon mitunter eine einzelne Person aus, die die Initiative ergreift. Denn es braucht immer auch eine Schlüsselfigur. Dabei ist es völlig irrelevant, ob dies ein Zugezogener ist oder ein Alteingesessener. In meinem Fall habe ich mir angeschaut, was die Zugezogenen machen; und es waren manchmal nur drei Personen pro Dorf, die unheimlich viel initiiert und auf die Beine gestellt haben, Schule, Kindergarten, Kinderbetreuungseinrichtung. Man kann natürlich behaupten, dass sie damit die Politik aus der Verantwortung für diese Strukturen entlassen. Es lässt sich aber trotzdem festhalten, dass nicht nur die Zahlen die Zukunft der Dörfer diese bestimmen, sondern dass vielmehr einzelne Initiativen die Dörfer am Leben halten. Deswegen glaube ich auch nicht daran, dass das Dorf in Zukunft stirbt. Scheffel: Ich kann mir vorstellen, dass die Dörfer überleben, die nicht stagnieren und an zu viel festhalten, sondern die Impulse bekommen und weitermachen und weiterdenken. Literarisch wird es wahrscheinlich weiterhin viele, viele Füchse geben auf dem Land, in allen möglichen Farben.
»Countryside – Soul of the Nation« Ideals and Realities in Contemporary Hungary C HRIS H ANN
I NTRODUCTION :
DEVELOPING THE COUNTRYSIDE
I spent the best part of the academic year 1976-7 in the village of Tázlár, about 130 kilometres south-east of Budapest, mid-way between the rivers Danube and Tisza, collecting data for my doctoral dissertation. It never occurred to me at the time that I might still be paying regular annual visits to the same community forty years later. My landlady and many of my friends from the early days have passed away but some of those who helped me in my enquiries as a cocky youngster, confident about almost everything except in using the Hungarian language, are still answering my questions today. In the meantime I have made new friends, and succeeded in remaining on good terms with members of all political and religious groupings. In the original research as well as in later publications (Hann 1980, 1995, 2015) I made considerable use of the work of Ferenc Erdei (1910-1971), an influential »sociographer« of this region in the 1930s, and later a powerful politician in the first decades of socialism (see Huszár 2012). Erdei grew up in a Calvinist family in the agrarian town of Makó some 80 kms east of Tázlár. His first-hand experience of rural conditions gelled with a political radicalization at the University of Szeged and led to pioneering analyses of the stratification of the Hungarian peasantry. As the secretary of an innovative cooperative formed by the onion-growers of his home town, he travelled to Western Europe to study more advanced agricultural systems and their social structures. According to Erdei’s diagnosis, the backwardness (elmaradottság) of Hungarian society was caused by defective processes of embourgeoisement (polgárosodás), which had exposed a vast gulf between urban elites and the great majority of the population who lived in villages or small towns and made their living directly or indirectly from agriculture.
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Rural poverty was exemplified by regions of poor natural endowment such as the »running sand dunes« (futóhomok) of the Danube-Tisza interfluve, to which peasants had migrated within living memory when their situation in their natal communities deteriorated due to an expanding population and acute shortage of fertile land. Erdei wrote that the scattered puszta farmsteads of Tázlár and its neighbours were totally lacking the civilizational institutions of the village, let alone a market town: »There is no midwife or doctor nearby when needed, there is no church people could attend, even if they wanted to, it takes children a half a day to get to school, and the homesteaders lose a whole day when they need to get a cattle licence. The deprivation in these places is so great that simply creating new communities by administrative measures would not help at all. Only an economic and social process of community creation can raise them out of their Asian conditions…. In these places they still use a wooden plough and children hide away under the bed when a stranger appears at the homestead, because they haven’t seen the like of him before.« (Erdei 1957 [1936]: 177-8)
Ferenc Erdei matured into an unusual hybrid: a Marxist-Leninist populist. After the Second World War he cooperated with the dominant Communist Party to create new communities that would raise the civilizáció of the Hungarian peasantry to a higher level while preserving its unique folk culture (népi kultúra). Following the revolution of 1956 (which nearly cost him his life) he played a key role in implementing a flexible form of collectivization which brought unparalleled prosperity to the countryside, in effect integrating the peasantry into the national society for the first time through a process of »socialist embourgeoisement« (see Szelenyi 1988). Tázlár provided a good illustration of these processes, with their many tensions and contradictions. In the last decades of socialism hundreds of villagers abandoned their scattered homesteads to build new houses in the centre, where they had access to electricity and piped water as well as churches, shops, a modern primary school and a Culture House. The dynamism was fuelled by the economic compromises of Hungary’s »market socialism«, which gave households material incentives to produce commodities (notably hogs) which they sold through their local »specialist cooperative«. This institution was frequently criticised by its members, who remained for the most part committed to more conservative forms of rural populism based on the sanctity of private property. But even critics had to concede that the absence of central coordination following the re-privatization of the land in the 1990s was a major factor contributing to falling production and demographic decline. Membership of the European Union (since 2004) has brought access to various subsidies, but they do not compensate for the loss of the socialist synthesis of cooperative and
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household sector. Nowadays about one quarter of the houses in the village centre are empty; there is no market for them because economic opportunities in the countryside are so few. Many young people work abroad (London is the most favoured destination and Brexit is unlikely to change this). Social security entitlements have been slashed and the unemployed (a category unknown under socialism) must participate in workfare schemes to receive any income (Hann 2016a). In short, postsocialist disintegration has hit the Hungarian countryside hard. Given entrenched value systems, however, it is almost impossible to say anything positive about the socialist era, at any rate in public. Ferenc Erdei is an ambivalent figure, criticised for cooperating with communists who imposed compulsory deliveries to the state and then took away the land itself. The ideological orientation of the countryside has drifted ever further to the right, especially since the Fidesz party led by Viktor Orbán replaced a discredited Hungarian Socialist Party as the main party of government in 2010. This has been abundantly clear in the course of the »migrants crisis« that erupted in the summer of 2015. In addition to targeting refugees themselves, the Fidesz government blames EU policies in Brussels and an international liberal conspiracy for the degeneration of social conditions and, more profoundly, the loss of European Christian values. Support for Fidesz is strongest in the countryside. In this chapter, focusing on a single day-long event in 2016, I explore some of the ways in which representations of the countryside combine with national and religious discourses to provide a comforting alternative to the harsh realities of postsocialist political economy.
AN
UPLIFTING DAY IN
H ARKAKÖTÖNY
During a stay in Tázlár in the late summer of 2016, at the end of a long conversation in the local government offices, the mayor mentioned that he and a few colleagues would be spending the following day, a Saturday, at an event in the neighbouring community of Harkakötöny. This mayor is a teacher at the village school and a member of Fidesz. He was elected in 2014, narrowly defeating the incumbent, who had held office for 20 years as an independent. Since the two men hardly differed in terms of world view, it was widely held that the challenger owed his victory not only to his energetic campaigning but to the support of Fidesz officials outside the community and the expectation that village prospects might be enhanced if it was clearly seen to endorse the party that now dominated at district, county and national levels (Hann 2016b). The Tázlár mayor had been invited by his counterpart in Harkakötöny to organize a tent-exhibition at a get-together (találkozó) to bring together like-minded village leaders with a distinct Christian ethos. The title was: Vidék: a Nemzet Lelke (Countryside: Soul of the Nation). In
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addition to speeches and a podium discussion moderated by a well-known Catholic radio journalist, there would be a range of cultural and sporting activities, culinary delights and recreational opportunities for children. The mayor of Tázlár explained that he had agreed to attend as an opportunity to display some of the products of the village’s workfare scheme, in addition to samples of the embroidery and other objects produced by Tázlár residents privately. Of course, I did not hesitate to accept his invitation to accompany the delegation. Picture 1: Roadside publicity for the big event: »Countryside Get-Together, Harkakötöny, 3.09.2016«
© Chris Hann
We set out at 7.00 am with most of our wares stashed into the back of the village’s new minibus (the result of a successful application for central funding, for the purchase of such a vehicle could not be supported by the village’s limited budget). Additional materials were carried by the mayor in his private car. The third vehicle to leave Tázlár early that morning was a csettegĘ – a simple machine invented in the socialist era to facilitate the production and transportation of agricultural goods in the household sector.1 It took the driver (a participant in the village’s workfare programme) over an hour to travel 16 kilometres to the site of the gathering just outside the centre of Harkakötöny.
1
It is said locally with pride that the first csettegĘk were improvised in the socialist decades when villagers were still precluded from purchasing tractors to support their private farming activities. Even before the end of socialism such restrictions had long been lifted, but the csettegĘ survived as a cheap and practical vehicle, especially for vineyard work.
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When we arrived it was immediately clear that this találkozó differed from a village harvest festival as well as from larger events focused on the new wine, organized annually in late summer in the nearby towns of Kiskunhalas and KiskĘrös. A central marquee was empty but other visitors were busy putting up smaller tents and tables displaying Catholic devotional literature but also secular tourist brochures, and items of furniture and leather goods produced by the more advanced workfare programmes of larger settlements, including Makó and others from even further afield. The Tázlár exhibits consisted primarily of vegetables produced in the workfare scheme. These were supplemented by small handicrafts, some drawing on traditional folk themes, the work of women of all ages. Picture 2: The mayor of Tázlár preparing his village’s pavilion at the gettogether
© Chris Hann
The programme began with a Catholic mass in the small church of Harkakötöny. With a total population of just over one thousand, this settlement is significantly smaller than Tázlár. Most houses were constructed in a simple grid in the socialist period. Prior to this, most of the population lived in isolated tanya farmsteads but the establishment of a collective farm helped to transform farming and settlement patterns alike. The streets were adorned with the blue propaganda posters of the government ahead of its referendum on the »migrant question«. Harkakötöny had briefly figured in recent media coverage of these issues, since the village’s longserving local doctor was a black African who had studied in Hungary in the social-
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ist era and stayed on after marrying a Hungarian girl. Needless to say this respected doctor (who had moved to a nearby town after his retirement) was not considered to be a »migrant« in the contemporary sense of the term. Picture 3: Government posters in Harkakötöny ahead of the referendum of 2nd October; this one asks: Did you know that almost one million immigrants want to come to Europe from Libya alone?
© Chris Hann
For his sermon the local priest took inspiration from the biblical parable of the vineyard owner who hires his workers at different times of the day (Matthew 20: 116). When they all receive the same payment at the end of the day there are protests from those who have worked much longer, yet Jesus points out that these workers too have been given what they were promised. The mayor of Tázlár interpreted this sermon as a commentary on Hungary’s postsocialist condition: the people have received what they were promised, and no one has any right to complain if some have profited more than others as a result of the multifarious opaque mechanisms of establishing the new market economy. The emphasis was on God’s absolute right to determine human deserts. In explaining this to me, the mayor did not even try to disguise the fact that this message flew in the face of any notion of fairness. The speeches began in the middle of the morning, by which time a few hundred visitors had arrived. The mayor of Harkakötöny greeted his guests on behalf of the
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local community and the association of prosperous farmers (Gazdakör) who had contributed to meeting the costs of the event. He read out a lengthy list of apologies for absence from leading personalities of the county. A more senior Catholic priest embellished his greetings with reminiscences of his rural childhood. Nostalgia for a lost golden age continued in the address of Gábor Barna, a professor of ethnography from the University of Szeged, and in those of agricultural experts critical of industrial techniques and the dumping of poisonous foreign products on the Hungarian market. Following these intellectuals, the mayor of a Transylvanian community gave an inspiring address that emphasized local resilience, and an ordinary farmer took the microphone to explain his pioneering efforts to produce in more environmentally friendly ways (i.e. without pesticides). The speeches were compered by the radio journalist, who then chaired a »round table« in which members of the audience were able to pose questions. One particularly vigorous intervention came from a well-known Christian economist. Like all the other speakers of the morning, she emphasized the need to put people and their communities first, in other words to prioritize values ahead of profitability. During these formal proceedings there was no allusion to party politics, either past or present. Nor was there any reference to the migrant crisis currently dominating the media and graphically visible through posters even in small villages such as Harkakötöny. Picture 4: The central marquee where the speeches were given
© Chris Hann
Entertainment was provided in the form of traditional Hungarian folk dancing and an equestrian display. Lunch consisted of mutton or beef stew served from huge cauldrons that several delegations had brought along with them. The Tázlár team
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(consisting of the mayor’s wife, who is an elected councillor, plus several women participants in the workfare programme) fried large quantities of battered zucchini. Thereafter adults chatted in smaller groups over beer and coffee, which were available for purchase; a few shared home-made fruit brandy, but no one showed the slightest sign of intoxication. Children could mount a horse, practise archery skills and enjoy a ride around the village on a csettegĘ. There was a little commerce and about half of the remaining zucchini from Tázlár were sold very cheaply. We returned home at the end of the afternoon. Everyone seemed satisfied with the event (though I heard the next day that the driver of the csettegĘ had had difficulties with his engine and did not reach the village till well after dark). Picture 5: Taking a ride on the Tázlár csettegĘ
© Chris Hann
Picture 6: Visitors milling near the Tázlár exhibition
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Let me now consider each of the three terms in the title of this találkozó in more detail. The Hungarian word lélek is usually translated as soul, but it has a wide semantic range both inside Christianity (e.g. szent lélek is the Holy Ghost) and outside it (e.g. to indicate the spirit of an ancestor in shamanic beliefs). Certainly religious and spiritual elements were prominent on this early September Saturday on the Great Hungarian Plain. The event was organized indirectly or sponsored by the Focolare Movement, a Roman Catholic network founded in Italy in 1943 that established its first groups in Eastern Europe in clandestine fashion in the socialist era. It is known officially as Opera di Maria (Work of Mary) but none of the participants in Harkakötöny were familiar with this name. Even the more popular designation Focolare, which translates as »hearth« in Italian, seemed to be unfamiliar to most participants. Curiously, no information concerning the movement was distributed at the találkozó. I was assured by an Italian member (visiting Hungary from his monastic base in Poland and the only other foreigner present) that the Szeged group was very active and that they were responsible for initiating a series of events of this kind, including this wonderful uplifting event in Harkakötöny. The popular literature available at several tents featured other charismatic strands of contemporary Hungarian Catholicism, rather than the socially oriented and ecumenical Focolare movement. Most of the morning’s speakers invoked Christianity in one way or another. Three commented on Pope Francis’s celebrated encyclical Laudato Si´: Our Common Home in order to point out the profundity of its vision of humankind as an integral part of nature. It was much more than »the Pope’s green encyclical«. Professor Gábor Barna of the University of Szeged followed a different approach. After outlining the institutional history of studies of the Great Plain peasantry at his university, Barna focused on the seminal works of Sándor Bálint (1904-1980), a locally born contemporary of Ferenc Erdei. Bálint, like Erdei, cared passionately about the folk culture of the Hungarian peasantry; but he was more interested in understanding the richness of folk religiosity than in transforming socio-economic conditions. He repeatedly fell faul of the communist authorities throughout his career, but still managed to leave behind a large corpus of work testifying not only to the piety of the peasantry but also (especially in personal works published only after the end of socialism) to his own mystical temperament. On the basis of this impressive biography, Gábor Barna has been campaigning to have Sandor Bálint beatified by the Roman Catholic Church. To a spellbound audience, Barna read out an extract from a posthumously published diary entry in which Bálint recalled the landscape of Tazlár as he experienced it during a field trip (the year is uncertain, but it was probably in the early years of socialism). Whereas Erdei had written just a few years earlier about the pitiful living conditions of the inhabitants of the scattered homesteads, Bálint embraced a unity of man, nature and deity:
196 | C HRIS H ANN »August 12. We cross from Harkakötöny to Tázlár, a half-day journey, walking most of the way. Now I truly recognize the archaic world of the sand dunes with its unbounded sky, its attracting and crushing grandeur. Now I know the true meaning of the expression ›ocean of sand‹. There is something in it of the continuity of a huge river, with its overwhelming strength and captivating charm. The world of sand is wonderful, there is something biblical about it. In the winds it is as if the Doomsday angel would sound her trumpet towards you: how many peoples and cultures, how many intentions has she buried beneath her? But the man of the sand seems with his work and his faith to have triumphed. In this enormous desert the people and the homesteads, the trees and the vines, the storks’ nests and the garden flowers, impress one like a mirage … and the desert can now celebrate in praise and toast the Creator, the King of the Last Supper, with wine.« (Bálint 1997: 85)
No one could accuse Sándor Bálint of exploiting religion for the purposes of nationalist politics. Yet links between Christianity and national identity were implicit in several of the speeches made in Harkakötöny and a national colouring was evident throughout the day. It is significant that the name of the event highlighted nemzet, nation, implying the dignity of a state behind it, rather than nép, meaning nation in the sense of (common) people/folk. The word nemzet achieved its apogee in the 19th century when the Hungarians were an imperial power in Central Europe, and not just another more or less peasant-like nép. Some of the hosts dressed in national costume. Everyone stood up to sing the national anthem at the end of the formal proceedings. Those who walked over to the village centre could not miss a new monument in the village park bemoaning the »mutilated Hungary« (csonka Magyarország) created in 1920 at the Treaty of Trianon, when large numbers of ethnic Magyars were left outside the boundary of the truncated nationstate. The largest of these communities found itself in Romania. It was no accident that the event in Harkakötöny featured a representative of this minority among its prominent speakers. The message of the mayor of Szépvíz, where most Hungarians are Calvinist Protestants, was that at the end of the day national identity was what counted, transcending religion as well as party political affiliation. The first term in the title of get-together in Harkakötöny was vidék, usually translated as countryside. It was addressed head-on by several speakers, who referred to it as a slippery (csalafinta) concept. The premise of the entire gathering was the necessity to get back to the values of a pristine rural world, in which honest citizens produced pure foodstuffs through their own hard labour, and God would determine their ultimate deserts. In the dominant conservative populism of the presocialist period, this vision of vidék is identified with the Hungarian people (nép) in an ethnic (or even racial) sense. It is opposed to the kozmopolita population of the big cities, notably Budapest, in which Hungarians are overshadowed by Germans and Jews. The left-wing populism of Ferenc Erdei also exploited this anti-urbánus
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sentiment. But in the last work he completed before his early death, Erdei (1971) wrote about Szeged and its hinterland with a stress on the unity of town and country (város és vidék). This unity could be a progressive force, and Erdei clearly endorsed the socialist system that he had helped to create. But it could also be unbalanced, prejudicial to the health of the nation. It seemed to be the consensus of the podium discussion in Harkakötöny that this was the case in the Hungary of today. While no speaker praised the harmony acclaimed by Erdei half a century earlier, there was agreement that things had gotten seriously out of kilter in the postsocialist years. The countryside deserved better, the future of the Christian nation depended on this: but this could only be achieved with the city, and not in a futile opposition to urban modernity. Picture 7: Produce of the Tázlár workfare scheme on display in Harkakötöny
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C OUNTER - NARRATIVES In this paper I have outlined the »front-stage« performances and implicit supporting messages as I interpreted them in Harkakötöny. However, all three elements – religion, nation and countryside – had their more or less articulated counternarratives. Beginning again with religion, I noticed that anticlerical sentiments rose to the surface on several occasions. Professor Barna made it clear in the discussion that, in his view, the priests and bishops of Hungary’s largest Church could and
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should be much more seriously engaged in spiritual matters (e.g. by recognizing the holiness of Sándor Bálint), instead of deploying their resources in too many profane and frivolous contexts. The Church and its new Pope were unassailable, but local ecclesiastical institutions certainly were not. It is somewhat more difficult in contemporary Hungary to utter anything that might be construed as questioning the supreme value of national identity. Yet in private conversations (in which my foreign identity usually emerged very quickly) visitors to Harkakötöny were willing enough to mock self-congratulatory Hungarian bragging. A member of the delegation from Makó, after helping me to understand why Ferenc Erdei was not an unambiguously popular figure nowadays even in his hometown, commented on how sad it was that the Hungarians of traditionally multi-ethnic regions of the Great Plain were now monolingual, while across the border in Serbia and Romania many people could communicate in three or four languages. Appealing to the incontestable authority of the founder of the Hungarian state in the tenth century, this interlocutor declared that the Hungary of King (Saint) Stephen was a country of many peoples and languages, in contrast to the impoverished ethnic vision of the nation promoted by its leaders today. As for vidék, again Professor Barna led the way in challenging cherished stereotypes. He expressed his pessimism for the conservation of a healthy countryside if its small market towns were in terminal decline: specifically, if they could no longer maintain a viable secondary school to serve the town and surrounding villages. Along with other speakers, he cast doubt on the ability of demoralized contemporary Hungarians to work together for a common cause. The evidence indicated a rising tide of egoism and the dissolution of community bonds. Barna’s explanation for this sad trend, in his last public intervention of the day, was »internal colonialism« (belsĘ gyarmatosítás). This was a process of exploitation (he used the word kizsákmányolás, which is also the standard Marxist term) through which the state, dominated by its urban elites, was continuing to extract value from the countryside, while failing to establish healthy conditions for the reproduction of the rural community. This analysis sounded more reminiscent of the radical sociology of Ferenc Erdei than the Catholic mysticism of Sándor Bálint. In concluding, I would like to endorse and extend the tentative political economy put forward by Gábor Barna (whose primary field of specialization is folk religion). When I first worked in Tázlár the majority of households were far too busy with their private accumulation strategies to find time for the themes that dominated the találkozó in Harkakötöny. Church and nation took second place to building a modern house with a bathroom, acquiring a car, and endowing one’s children. The csettegĘ was invented to facilitate small-scale commodity production in this period. The collapse of the socialist synthesis of large-scale and small-scale agricultural sectors has left a relatively large rural population unable to continue the upward mobility of the previous generation. On the basis of historically conserva-
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tive values – religion, nation and private property – these villagers constitute the prime electoral base of Fidesz. The dominant party has tried to address the problem of unemployment through workfare schemes to cultivate public allotments, but it has no solution for the structural problems responsible for demographic decline and strong feelings of relative deprivation. Given these material realities, cultural festivals proliferate as occasions for imaginative escapism. Tázlár’s mayor opted to make workfare products the focal point of his village’s display, thus providing a vivid link between the enduring values of the soil and the scourge of unemployment which afflicts the postsocialist countryside. The best vegetable specimens were surrounded by examples of labour-intensive embroidery and other examples of female creativity. Women had no time to produce such objects in socialist days, either because they too had wage-labour jobs, or because they were busy in their own gardens and pig sties, or in many cases both. As for the csettegĘ, it has become a curious object of heritage: largely obsolete in the facilitation of production, it is now appreciated as a vehicle to give children holiday rides around a village with well-kept green verges, decorated with bright blue posters. In his anti-EU referendum one month after this Saturday in Harkakötöny, Viktor Orbán failed ignominiously to persuade more than 41,3% of the electorate to turn up and cast a valid vote. The referendum was therefore invalid. But in the villages of Tázlár and Harkakötöny, both led by Christian Fidesz mayors and haemorrhaging population since the end of socialism, Hungary’s autocratic Prime Minister achieved the strong support he had hoped for nationwide (51% and 56% respectively).2
R EFERENCES Bálint, Sándor (1997): Breviárium, Szeged: Mandala. Erdei, Ferenc (1957) [1936]: Futóhomok. A Duna-Tisza köze, Budapest: Gondolat. — (1971): Város és vidéke, Budapest: Szépírodalmi. Hann, Chris (1980): Tázlár: a village in Hungary, Cambridge: Cambridge University Press. — (1995): »Ferenc Erdei, Antal Vermes and the struggle for balance in rural Hungary«, in David A. Kideckel (ed.), East-Central European Communities: the struggle for balance in turbulent times, Oxford: Westview, pp. 101-15.
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The question at this referendum (considered by most foreign analysts to be highly manipulative and possibly even illegal) was: »Do you want the European Union to be able to order the mandatory settlement of non-Hungarian citizens in Hungary without parliament’s consent?«
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— (2015): »Backwardness revisited: time, space and civilization in rural Eastern Europe«, in: Comparative Studies in Society and History 57 (4), pp. 881-911. — (2016a): »Cucumbers and courgettes: rural workfare and the new double movement in Hungary«, in: Intersections 2 (2), pp. 38-56. — (2016b): »Postsocialist populist malaise, the elections of 2014 and the return to political monopoly in rural Hungary«, in: Elena Soler/Luís Calvo Calvo (eds.): Transiciones Culturales. Perspectivas desde Europa Central y del Este, Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Científicas, pp. 25-45. Huszár, Tibor (2012): Erdei Ferenc. Politikai Életrajz. 1910-1971, Budapest: Corvina. Szelenyi, Ivan (1988): Socialist Entrepreneurs. Embourgeoisement in Rural Hungary, Cambridge: Polity.
ACKNOWLEDGEMENTS I thank the Mayor of Tázlár for including me in his delegation and the Mayor of Harkakötöny for his hospitality. Luca Szücs and Gábor Barna helped me to translate the excerpt from Sándor Bálint’s BREVIÁRIUM.
»Einanderersein«∗ Verwahrloste ländliche Gemeinschaften als Thema ungarischer Gegenwartsliteratur: Ferenc Barnás ތDer Neunte und Szilárd Borbélys Die Mittellosen É VA B ÁNYAI
Ein Vergleich der Romane DER NEUNTE von Ferenc Barnás und DIE MITTELLOSEN von Szilárd Borbély bietet sich geradezu an. Beide Texte zeigen die menschliche wie psychische und soziale Tiefe der Verwahrlosung ruraler Existenzen im staatssozialistischen Ungarn. Sie bieten eine fiktionale Welt des Prekären und des Verfalls. Beide verstärken einander gegenseitig und heben einander mit ihren Themen wechselseitig hervor. Dennoch stellen sie völlig eigenständige Texte dar. Barnás ތText erschien zuerst 2006 (dt. 2015) und wurde im Frühjahr 2014 neu aufgelegt, was außer dem Verlagswechsel auch belegt, dass der Roman erfolgreich war. Borbélys Roman kam 2013 (dt. 2014) heraus und heimste zur großen Freude des Literaturbetriebes auch gleich einige Preise ein. Der Vergleich stellt die Narrative und die Darstellung von Mittellosigkeit, Armut, Aussichtslosigkeit und Elend sowie die Tatsache in den Mittelpunkt, dass beide Texte aus der Perspektive von Kindern erzählt sind. In beiden Romanen wird die Kádár-Zeit der späten 1960er Jahre in Ungarn gezeigt, der nicht lebbare und doch unausweichliche Charakter der sozialistischen (in den Romanen auf vielerlei Weise vorgeführten ›schmutzigen kommunistischen‹) Weltordnung in ihrer provisorischen Komplexität und in ihrer komplexen Zeitweiligkeit. In beiden Romanen herrschen schizophrene Verhältnisse: Es sind Kinder, die in jene doppelgesichtige Gesellschaft hineingeboren werden und mit der dort alltägli-
∗
Der ungarische Originaltitel dieser Studie lautet Másiklevés. Dieser Text ist eine Übersetzung zu Bányai (2016) von Stephan Krause.
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chen Zurückhaltung im Gespräch, mit den Lebenslügen, dem verlogenen Weltbild konfrontiert sind. Gegenstand der Untersuchung ist somit gleichermaßen, wie sich Bewusstsein in einem Willkürsystem entwickelt, das auf Lügen basiert, auf Lügen und Verschweigen baut und zu beidem zwingt, und wie die räumlichen Verhältnisse auf die Beziehungen der Menschen wirken und auf welche Weise die Sozialisation in einer Atmosphäre von Doppelzüngigkeit und Verschweigen die Weltsicht der Kinder verzerrt. Denn die der Erwachsenen ist ohnehin schon verzerrt. DER NEUNTE ist eine Geschichte über die Einsamkeit, dargeboten aus der Perspektive und mit der Stimme des neunten Kindes einer aus eigentlich dreizehn Mitgliedern bestehenden, in der erzählten Zeit zu elft zusammenlebenden Großfamilie. DIE MITTELLOSEN hingegen ist die von Primzahlen durchsetzte Geschichte der Einsamkeit des mittleren Kindes einer marginalisierten Familie auf dem Dorfe. Diese Romane lassen sich gleichermaßen als confessiones, als Bekenntnisgeschichten lesen. Denn es wird klar, dass diese (erzählenden) Kinder ihre Welt so sehr in Einsamkeit, im Alleingelassensein erleben, dass das Prinzip ›ich kann darüber mit niemandem sprechen, also erzähle ich es allen‹ greift. Dies wird bei jedem auf seine Weise durch eigene innere Stimmen verräumlicht, und zwar als Text. ›Alle‹ meint hier natürlich den späteren, unreflektierten Leser, während in den Texten als Variationen sehr starke Wendung nach innen, Einsamkeit und Alleinsein begegnen. Dadurch, dass weder die kleine noch die große Familie, weder die engere noch die größere Gemeinschaft einen Ort für die Auflösung von Einsamkeit, Angst und Beklemmung darstellen, ja, dass weder die Familie, noch die Schule oder die Dorfgesellschaft Gelegenheit zum Ausbruch daraus bieten, sondern auch selbst restriktiv veranlagt sind und das Individuum einsperren, werden auch die noch in den Sumpf hinuntergezogen, die eigentlich die Möglichkeit hätten, aus dieser ›Existenz‹ auszubrechen. In der Fiktion findet sich nicht einmal eine Spur – auch nicht vorübergehend – der moralischen Reinheit jener oft in der ungarischen Literaturerwähnten idyllischen dörflichen Gemeinschaft – die zugleich auch Gegenentwurf zum ›Großstadtsumpf‹ ist, wo die aus Dörfern und von Höfen stammenden ordentlichen und ehrbaren Menschen angeblich verkommen. Auch in dieser Hinsicht brechen beide Romane mit der Tradition und zeigen eine Welt, in der man Tag für Tag nur dahinvegetiert, trinkt, heuchelt und hasst – und zu Aggression und Brutalität neigt. Das Anliegen beider Romane ist die Erschaffung einer (Figuren-)Identität qua Erzählstimme. Bei Ferenc Barnás wird ein in der Familie als neuntes Kind geborener und in der erzählten Zeit neunjähriger Junge, der in die dritte Klasse geht, zum Erzähler, durch dessen Stimme körperliches und geistiges Elend neun Kapitel lang geschildert wird. Erzähl- und Sprechweise sind authentisch und homogen, es gibt keine nachträgliche Korrektur durch Erwachsene, die Präsenz des Autors wird in den präzisen Sätzen, den gut konstruierten Kapiteln und dem makellosen Bau des Romans spürbar und nimmt doch nicht einmal indirekt Einfluss. In Szilárd Borbélys
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Roman ist die Identität des Erzählers hingegen nicht so klar. Der Beginn des Romans wird mit der Stimme eines sechsjährigen Kindes erzählt, die manchmal in die Narration des Zehnjährigen hinüberwechselt. Am Ende des Romans meldet sich die vermutlich selbe Person als bereits junger Erwachsener. László Bedecs (2014) ist darin zuzustimmen, dass diese Perspektivwechsel nicht abschließend durchdacht sind und dass auch nur schwer nachvollziehbar ist, aus welchem Grund und zu welchem Zweck diese Übergänge erfolgen; zumindest gibt es im Text keinen Hinweis darauf und kein Zeichen dafür, wie sie zu verstehen sind. In die Kinderstimme mischen sich Elemente, die das Wissen eines Erwachsenen, also nachträgliche Korrekturen aus der Erwachsenenperspektive darstellen, worunter nicht nur jeweils moralisierende oder deutende Reflexionen und Gedankengänge zu verstehen sind, sondern beispielsweise auch die durch »wir sagen…« hervorgehobenen Passagen (es ist zu bezweifeln, dass diese Wörter nur auf den familiären Sprachgebrauch beschränkt und die Ausdrücke nur Zeichen der Unterscheidung von den Dorfbewohnern sind; eher ist anzunehmen, dass dieses Ansprechen dazu dient, die Abgrenzung zwischen kleiner und großer Gemeinschaft aus der späteren Position des Erwachsenen anzuzeigen). Zudem sind die Zahlen problematisch: Der Roman baut auf Primzahlen auf und alles wird diesen einsamen, nicht teilbaren Zahlen untergeordnet, was jedoch nicht zu einer gesicherten Ordnung dieser Zahlen führt, denn die Primzahlen und die Zahlen überhaupt erschweren die sichere Orientierung in der Textwelt (einfachstes Beispiel: am Anfang wird gesagt, zwischen dem Jungen und seiner Schwester seien fünf Jahre Unterschied, später dann sind es nur noch zwei). Doch auch darüber hinaus sind die Identitäten der beiden Erzählfiguren nur schwer zu fassen, da die Kinder keine Autonomie besitzen. Sie sind nur durch ihre ihnen jeweils zugeordnete Position bestimmt und durch den Kampf ums Überleben, der sich im unaufhörlichen Gerangel um diese Position zeigt und ständige Präsenz und Bereitschaft fordert. Denn diese Kinder müssen um alles kämpfen, um eine Decke, um einen Platz, um Raum, selbst um das tägliche Luftholen. Diese namenlosen Romanhelden leben in einer Art dauerhafter Krise, die in der sprachlichen Form der Texte und ihrer rhetorischen Funktionsweise als Neurose greifbar wird. Es dominieren das extreme Erleben ihrer Identitätskrise und fortgesetzte Unentschiedenheit. So schwankt der Held in DER NEUNTE ständig an einer Art Grenzlinie hin und her, während er sich auf seine Weise bemüht, den Erwartungen der anderen um ihn herum gerecht zu werden. Er sehnt sich nach einer anderen Welt, einem Fortsein, einem Anderswosein, einem »Einanderersein«1, die für ihn
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Es handelt sich bei dieser Wendung um eine markante Zusammensetzung, die in der Rede des (kindlichen) Erzählers in Barnás’ Roman auftaucht und letztlich das gesamte Dasein des Jungen charakterisiert, etwa: »mein körper ist schwer, als würde ich taumeln,
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zum Ziel werden. Wo immer er sich aufhält – sowohl im Raum als auch in der Zeit –, befindet er sich unausgesetzt in einem Zwischenstadium. Beide Romantexte erinnern an Tagebücher, denn zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit liegt keine (große) Diskrepanz (diese Ordnung zerfällt in Borbélys Roman allerdings am Ende). Auch die tagebuchartige Erzählweise in DER NEUNTE war bereits Gegenstand von Rezensionen (Radics 2006, Dunajcsik 2006). Zudem wurden die Erzählerstimmen etwa mit Gyuri Köves verglichen, dem Erzähler in Imre Kertész ތROMAN EINES SCHICKSALLOSEN. Denn die Sprechweise der beiden Erzähler ist bestimmt durch eine völlig eigene Stimme, eine eigene Weltsicht und kindliches Denken. In dieser Kindersprache meldet sich auch ihre Umwelt, durchsetzt vom bösartigen, groben und schonungslosen Sprechen der Erwachsenen. In DER NEUNTE wirkt der alltägliche Stil mitunter ironisch; und zwar, wenn Allgemeinplätze in die literarische Sprache überführt werden. Demgegenüber ist in DIE MITTELLOSEN vor allem die Banalität und Brutalität des Alltags wichtig, was durch die vielfach und in unterschiedlichen Kontexten erwähnten Genitalien und Fäkalien verstärkt wird. Insgesamt ist die Narration immer wieder durch Elemente gesprochener Sprache gekennzeichnet. Grundlage ist dabei der durchgehende Präsensgebrauch, wobei das Vergangene, das die Gegenwart beeinflusst, sich kontinuierlich verändert und entwickelt und gleichzeitig immer anwesend ist. Bestimmend sind die engen und die entfernteren Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft und die Auswirkungen der reizlosen Umgebung, in der die Romanhelden mit ihren Familien leben: Außer der Bibel befindet sich in der Wohnung kein einziges Buch oder eine Zeitung, vielmehr herrschen Anspruchslosigkeit, Grau und Eintönigkeit. Einzig die Musik würde relative Freiheit repräsentieren, die zeitweilige Befreiung aus dieser Sphäre. Doch in beiden Romanen kommt ihr nur vorübergehend eine Rolle zu. Anspruchslosigkeit charakterisiert auch die Umgebung der Lebensräume in den Romanwelten: Die Pomázer2 Siedlung und das dörfliche Zigeunerviertel zeigen die Verstetigung des Übergangshaften, wo halbfertige Häuser, Schuppen, Buden, zerfallende Zäune das Bild prägen. In dieser Welt, wo das ständige Erleben von Hunger, Frieren, täglicher Demütigung, Ausgestoßensein und Elend dominieren, bleiben als Ziele nur Sehnsucht und der Wunsch nach
es ist fast so wie damals, als ich den jungs das erste mal begegnet bin, sie sagten, ich solle mitgehen, wir gingen, es gibt wieder schnitzel […], die behaarung von dem einen ist dichter, ganz schwarz, das portemonnaie habe ich auch so aufgemacht, als wäre nicht ich das, daran erinnere ich mich genau, noch mehr als an das krankenhaus, dabei hat das einanderersein dort kürzere zeit angedauert« (Barnás 2015: 182). Orthographie und Syntax ändern sich nur im achten Kapitel des Romans. Das Zitat folgt der Vorlage. (Anm. d. Ü.) 2
Pomáz – rechtsdanubische Kleinstadt, ca. 30 Minuten Zugfahrt nördlich von Budapest, Anm. d. Ü.
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Befreiung. Denn wo Angst, Beklemmung und unterschiedliche Zwänge und die alles durchdringende physische Aggression sowie Schmerzen alles bestimmen, mangelt es vor allem an Freiheit. Die kindlichen Erzähler aber sehnen sich nicht nur, vor allem nicht ausdrücklich und reflektiert, nach Freiheit, sondern sind einerseits auch von körperlichen Bedürfnissen abhängig: Salami, Kolbász3, Wärme, ein eigenes Bett (auch dies lässt sich zwischen Borbély und Barnás vergleichen: das ›Dreierbett‹, da sich in DER NEUNTE drei ein Bett teilen, worin sie Kopf an Fuß schlafen, während in DIE MITTELLOSEN Eltern und Kinder in einem Bett schlafen und die Eltern neben ihnen, in direkter körperlicher Nähe, auch ihr Geschlechtsleben haben). Andererseits sehnen sich die Kinder danach, dass die Demütigungen und Schläge in ihrer engeren und weiteren Umgebung und der Schule aufhören mögen. Zur Hauptfigur bei der Beschreibung der Körper und der körperlichen Bedürfnisse wird das ›Nichts‹, das Fehlen (der Mangel an Essen, Umarmungen, körperlicher Berührung und Intimität), beziehungsweise Verbote: Nicht erlaubt sind Reden, Spielen, Lesen, das Zeigen von Gefühlen, Schlafen, Träumen – ja: Leben. Gescheiterte Leben werden hier vorgeführt: Auf Ésapa4, die dominante Vaterfigur in DER NEUNTE, wartete eigentlich eine erfolgreiche Karriere als Soldat, doch er entwickelt sich zu einem aggressiven Menschen, der illegal mit Devotionalien handelt, seine Familie unaufhörlich zur Arbeit zwingt und auch selbst wie manisch arbeitet. Ésanya5 hätte eine Karriere als Künstlerin machen können, stattdessen verkam die begabte Musikerin zur Gebärmaschine und zu einer Arbeiterin in der Kugelschreiberfabrik mit vielen Kindern und spielte die Rolle einer ›andächtigen Heiligen‹. In DIE MITTELLOSEN wird der Vater als Quasi-Kulak überall hinausgeworfen und kann schließlich nicht einmal mehr einen Fuß ins Dorf setzen, während die Mutter vom Verkauf von Flurstücken und Tagelöhnen lebt, hauptsächlich aber depressiv ist und ständig selbstmordgefährdet. »Vater hätte sogar Gott Mores gelehrt« (Barnás 2015: 145), äußert der Erzähler in DER NEUNTE. Als Frucht der väterlichen Aggressionen lebt in beiden Romanen in den Kindern der starke Wunsch, der Vater möge so weit weg wie nur möglich sein, ja noch von seinem absoluten Fernbleiben, dem vielleicht eintretenden Tod, träumen sie oft, sehnen sich gar danach – das heißt, der Vater bestimmt auch dann alles, wenn er gar nicht zugegen ist. In beiden Romanen sind die Kinder physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt: In DER NEUNTE wird dies als ›Behandlung‹
3 4
kolbász – harte, grobe, mit Paprika gewürzte Wurst, Anm. d. Ü. Verkürzung von Édesapa, ungarische familiäre Anrede des Vaters, im Folgenden ›Vater‹, Anm. d. Ü.
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Verkürzung von Édesanya, ungarische familiäre Anrede der Mutter, im Folgenden ›Mutter‹, Anm. d. Ü.
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bezeichnet, während der die Kleineren, in den Schrank gesperrt, durch Spalten zusehen, wie ihre größeren Geschwister, auch die Mädchen, mit dem Gürtel oder einem Stock verprügelt werden. Auch in DIE MITTELLOSEN werden die Kinder ständig geschlagen, ebenso wie auch die Tiere fortwährend gequält und getreten werden, ›nur so aus Gewohnheit‹. Das Erleben und Erleiden dieser Aggressionen setzt sich weiter fort, da die Kinder auf die gleiche Weise den ihnen gegenüber Kleineren wehtun oder die Tiere quälen. Die Kinder wollen ganz offensichtlich mit der patriarchalischen Welt abrechnen, doch sind im Text auch die Mütter auf ihre Art widerlich, aggressiv oder heuchlerisch und unfähig zu lieben. Aus solchen verletzten Kindern werden dann ebenso verletzte Erwachsene, sodass ihr Unglück wohl unvermeidlich ist. Die Mütter lassen die Kinder nicht nah an sich heran, erzählen ihnen keine Geschichten, antworten nicht einmal auf ihre Fragen und auch körperliche Nähe gibt es nicht, ja ist in DER NEUNTE direkt verboten. Diese Romane zeigen jene erbarmungslose und brutale Welt nicht nur, sie versuchen nicht nur, sie darzustellen, sondern sie wirken auf die Gefühle des Lesers, dem durch das unablässige Beklemmungsgefühl mulmig wird und der die unterschiedlichen Stufen des Grauens mit durchlebt und keine Möglichkeit hat, die Augen niederzuschlagen oder sich abzuwenden. Er ist mit all dem genauso gnadenlos konfrontiert, wie ihm dies in den fiktionalen Welten vor Augen geführt wird. Das in der Kindheit gesehene und erlebte Grauen »wiederholt sich im Erwachsenenalter in abgeschwächter, dafür aber giftigerer Form. Barnás ist es gelungen, die elementaren Inhalte, die Form und die Umstände der Beklemmung zu beschreiben und ihre paradoxe Kraft aufzuzeigen«, schreibt dazu Viktória Radics (2006: 1705). Beide Romane thematisieren die Andersheit und Fremdheit, die Marginalisierung, die Heimatlosigkeit und bilden dabei Räume des Dazwischen aus. Die Mutterfiguren in beiden Texten sind Zugewanderte und stammen von außerhalb: In DER NEUNTE ›verhilft‹ der Vater der Mutter während des Zweiten Weltkrieges ›zur Flucht‹ aus Erdély [Siebenbürgen], aus dem Székelyföld6, weshalb die mütterliche Großmutter nur die Székler Oma genannt wird, die väterliche hingegen ›andere‹ Großmutter. In DIE MITTELLOSEN ist auch hauptsächlich die Mutter eine Zugewanderte: sie hat russinisch-huzulische Vorfahren, die aus dem ca. 25 km nordwestlich von Munkács gelegenen Szlatina7 gekommen waren, aber nie in der Dorfgemein-
6
Ungarisch für Szeklerland, Gebiet in Zentralsiebenbürgen, etwa zwischen Târgu-Mure ܈/ Marosvásárhely (im Nordwesten), Covasna / Kovászna (im Südosten) und Borsec / Borszék (im Norden), das von den ungarischsprachigen Székely (Szeklern) bewohnt wurde, Anm. d. Ü.
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Ukrainisch ɇɢɠɧɽ ɋɨɥɨɬɜɢɧɨ. Im Roman wird präzisiert, dass es sich nicht um das bedeutendere Aknaszlatina (ukrainisch ɋɨɥɨɬɜɢɧɨ, direkt an der rumänischen Grenze)
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schaft ankamen, sich nie assimilierten, vielleicht auch nicht ankommen wollten. Das Gefühl der Andersheit ist bei der Mutter sehr ausgeprägt, ihre Sehnsucht wegzukommen beinahe von ýechov’scher Tiefe, doch es dominieren ihr Hass auf und ihre Verachtung für die anderen Dorfbewohner. Der Vater besitzt rumänische und auch zum Teil jüdische Wurzeln, was ebenso ein verschwiegenes, dann in Verleugnung sich auswachsendes Moment der Familiengeschichte ist. Doch ist dies nicht nur ein Moment, sondern der Roman wird durch das Thema Judenhass bestimmt. ›Der Jude‹ dort als Repräsentant des auf ewig Fremden, der gedemütigt, deportiert, ermordet wird, was auch nach Jahrzehnten noch in derselben Art thematisiert wird, sodass sich daran zeigt, wie unausrottbar tief die Wurzeln des Antisemitismus sind. DIE MITTELLOSEN beschreibt die Schwierigkeiten der Herausbildung einer Zwischenidentität und deren Determination durch den dominanten Assimilationsdruck, den die ungarische Identität ausübt. Im Text heißt es, die Großeltern, Verwandten, Nachbarn könnten sagen, was immer sie wollten, »wir sind Ungarn«. Es herrscht ein Anpassungs- und Assimilationszwang vor, der zudem durch ein Übergangs- und Grenzdasein belastet ist. »Wir sind Ungarn, das müsst ihr sagen. Denn wir sind Ungarn« (Borbély 2013: 137), sagt die Mutter und das Kind sucht nach seinem Platz in einer Gemeinschaft, die es aussondert, an den Rand drängt und ihm unausweichlich vorschreibt, es sei ein ›reiner‹ Ungar. Wie zum Spott zählt es die Familiennamen der Nachbarn auf: Udicska, Ricu, Kotvász, Tarca, Tógyer, Udud8 (Borbély 2013: 142). Im Barnás-Roman wird die Multinationalität von Pomáz nicht angesprochen, sondern die Andersheit und Fremdheit zeigt sich vor allem in der Abgrenzung der Hauptfigur von sich selbst. In Borbélys Roman stehen hingegen insbesondere die Spielarten der Andersheit im Fokus: Zum einen grenzen sich die Hauptfiguren von den Bauern ab (obwohl sie selbst ein bäuerliches Leben führen), zum anderen aber ist die Erfahrung der Andersheit und Fremdheit ihrer ethnisch-religiösen Herkunft demgegenüber noch stärker. Dies gilt auch noch, sofern die Erzähler eine entfremdete, verlassene Welt zeigen, in der sie sich aber gewohnheitsmäßig bewegen, weil dies für sie die einzige
handelt: »Dein Ururgroßvater kam aus Szlatina. Nicht aus Aknaszlatina. Das kennt jeder. Sondern aus Szlatina in den Bergen, oberhalb von Munkács.« (Borbély 2014: 242; Anm. d. Ü.) 8
Diese im Text aufgezählten Familiennamen zeigen nur – dies allerdings deutlich –, dass es sich bei ihnen, trotz ungarischer Orthographie, nicht um ungarische Namen handelt. Dies erkennt ein kritisch geschulter Leser leicht. Jene Dorfbewohner und -nachbarn halten sich aber für äußerst ungarisch, während sie die Vorfahren des Erzählers ausschließen, obwohl ihre Namen wiederum zeigen, dass sie ursprünglich auch Einwanderer sind. Aber wer ist in Ungarn eigentlich nicht ›Einwanderer‹?
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Welt ist. Diese bedeutet für sie Zuhause, und zwar mit allem Negativen und allen noch so schlimmen Geschichten. Die doppelte Weltsicht besitzt bewusstseinsbildende Funktion, woraus sich zugleich eine ungeheure Sensibilität ergibt, die nicht nur zum schnellen Erkennen von Lüge und Heimtücke befähigt, sondern auch das Fühlen verfeinert, vor allem im Bereich des Riechens, Hörens und Sehens. Denn in beiden Büchern spielen olfaktorische Reize eine herausragende Rolle, signalisiert ein Geruch doch nicht nur Andersheit und Fremdheit, sondern wirkt auch als Marker für Räume oder Beziehungen. Beide Texte bieten Epochendarstellungen und können doch auch als zeitlos verstanden werden, da Armut und Besitzlosigkeit nicht von Zeit und Epoche abhängen. Zudem bleibt festzuhalten, dass beide Romane als begrenzte Fiktionen zu bezeichnen sind, da die wechselseitige teilweise Überlagerung von Fiktion und Realität in beiden Fällen offenkundig ist. Im Klappentext der Originalausgabe von DIE MITTELLOSEN wird darauf angespielt, indem zur Referentialisierbarkeit des Romanschauplatzes gar die GPS-Koordinaten angegeben sind. Im Text kommt der Name des konkreten Ortes nicht vor, sondern nur die Umgebung, die umliegenden Dörfer beziehungsweise die aus dem Dorf hinausführenden Straßen, sodass die aus der engeren Örtlichkeit in die Ferne weisenden Vektoren benannt werden. Borbélys Roman ist auch ein warnendes Zeichen, dass es aus dem Elend und der Besitzlosigkeit keinen Ausweg gibt, denn der im Untertitel genannte ›Messias‹ ist nicht nur fortgegangen, er ist nicht einmal angekommen. Die ausgeschlossenen, an den Rand gedrängten, mit den Charakteristika der Andersheit/Fremdheit versehenen Gemeinschaften, zu denen auch die in DIE MITTELLOSEN gezeigte dörfliche Zigeunergesellschaft gehört, die ›Nutznießer‹ der sprachlichen Besitzlosigkeit, haben keine eigenen Narrative, sodass anstatt ihrer jemand ihre Geschichte erzählen muss, der sprachlichen Zugang zum Erzählen hat: Dies ist der Schriftsteller, der im Verlauf seines eigenen Gangs durch die Hölle fähig ist, die Welt tiefster Armut zu rekonstruieren. Aus dem Ungarischen von Stephan Krause.
L ITERATUR Bányai, Éva (2016): »Másiklevés. Barnás Ferenc, A kilencedik és Borbély Szilárd, Nincstelenek«, in: Dies., Fordulat-próza. Átmenetnarratívák a kortárs magyar irodalomban, Cluj Napoca, Erdélyi Múzeum Egyesület [Societatea Muzeului Ardelean] 2016, S. 121-130. Barnás, Ferenc (2015): Der Neunte. Roman, Wien: Nischen-Verlag; Original: Barnás Ferenc (2006): A kilencedik. Budapest: MagvetĘ.
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Barnás, Ferenc (2014): A kilencedik. [Zweite, überarbeitete Auflage.] Budapest/Pozsony: Kalligram. Bedecs, László (2014): »Csak egy: önmaga. Borbély Szilárd: Nincstelenek«, in: Bárka 22/2, www.barkaonline.hu/kritika/4013-bedecs-laszlo-a-nincstelenekrl (12.10.2017). Borbély, Szilárd (2014): Die Mittellosen. Roman, Berlin: Suhrkamp; Original: Borbély Szilárd (2013): Nincstelenek. Már elment a Mesijás? Budapest/Pozsony: Kalligram. Dunajcsik, Mátyás (2006): »Egy lépés hátra«, in: Holmi 18/12, 1708-1710. Radics, Viktória (2006): »MestermĦ«, in: Holmi 18/12, 1704-1708.
Dörfliches Coming-out∗ Autobiographische Stimmen aus dem Dorf in der polnischen Gegenwartsliteratur M AGDALENA M ARSZAŁEK
Das autobiographische Schreiben – ein »Über sich selbst schreiben« (vgl. Foucault 2003) – dient bekanntlich dem Entwerfen, Verhandeln und Versichern der eigenen Identität. Es wäre heute anachronistisch, ›bäuerliche‹ autobiographische IchEntwürfe zu erwarten – angesichts der fortschreitenden Entagrarisierung sowie gravierenden Entvölkerung ländlicher Gebiete und der Angleichung ruraler und urbaner Lebensstile in der Zeit der ökonomischen und kommunikationstechnischen Globalisierung. Es erscheint deshalb zutreffender von ›dörflichen‹ Autobiographien zu sprechen, wenn man nach den autobiographischen Stimmen aus dem Dorf fragt. Der Geschichte von Dorfgeschichten – seit Berthold Auerbach – kann man allerdings entnehmen, dass man gewöhnlich das Dorf verlassen muss, um über das Dorf zu schreiben. ›Dörfliche‹ Autobiographien sensu stricto sind nicht zuletzt aus diesem Grund eher ein seltenes Genre. In der polnischen Gegenwartsliteratur sind autobiographische Stimmen aus dem Dorf – auch aus dem Dorf, das man bereits verlassen hat – eine besondere Rarität. Dies hat mit der spezifischen Kondition des Dorfs im östlichen Europa zu tun, deren Gründe sowohl in der langen Geschichte der bäuerlichen Unfreiheit als auch in den sozialen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts zu finden sind. Im Folgenden wird den Schwierigkeiten der Artikulation autobiographischer Stimmen aus dem Dorf in der polnischen Kultur nachgegangen – mit Blick auf die spannende Praxis der zu Forschungszwecken durchgeführten bäuerlichen Memoiren-Wettbewerbe im
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Der vorliegende Aufsatz ist eine überarbeitete Fassung eines in polnischer Sprache veröffentlichten Artikels (vgl. Marszałek 2016).
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20. Jahrhundert, auf die Rückkehr des Dorfs in den öffentlichen Debatten der letzten Dekade sowie auf drei gegenwärtige literarische autobiographische Projekte.
D ÖRFLICHES C OMING - OUT Mehr als ein Drittel der polnischen Bevölkerung lebt heute noch auf dem Lande, aber das Schreiben in der ersten Person aus der Perspektive eines Dorfbewohners ist in der polnischen Gegenwartsliteratur ein äußerst seltener Fall. Es fällt auf, dass die Artikulation einer dörflichen Ich-Stimme an die Bedingung einer ›sicheren‹ Distanz zum Dorf geknüpft ist: einer zeitlichen oder räumlichen Distanz bzw. einer erzähltechnischen Distanzierung (worauf ich noch genauer eingehen werde). Anders verhält es sich, wenn über das Dorf aus der Position eines mehr oder weniger involvierten Beobachters oder eines sich hinter der fiktionalen Darstellung verbergenden Erzählers geschrieben wird: Solche Darstellungen finden wir nicht nur bei den heute schon klassischen, älteren Autoren der Dorfprosa wie Wiesław MyĞliwski oder Marian Pilot, sondern auch u.a. in den GALIZISCHEN GESCHICHTEN Andrzej Stasiuks (2002, poln. OPOWIEĝCI GALICYJSKIE, 1995), in DAS SÄGEWERK Daniel Odijas (2006, poln. TARTAK, 2003) oder BOMBEL von Mirosław Nahacz (2008, poln. BOMBEL, 2004). Der Erzähler kann dabei, z.B. durch die Verwendung eines Dialekts wie in Andrzej MuszyĔskis MIEDZA (2013, Feldrain), seine intimen Kenntnisse des Landlebens verraten, wozu nicht zuletzt der Nachweis für die Existenz einer Dorfprosa auch in der Literatur der jüngeren Generation erbracht wird. Jedoch stellt eine offen autobiographische Stimme aus dem Dorf in der polnischen Literatur eine dezidierte Ausnahme dar. Viel über die Schwierigkeiten mit der Artikulation einer dörflichen Identität verrät der Umstand, dass solche Versuche gleichsam Charakter eines Coming-out bekommen: »Ich komme vom Lande!«: Die unter diesem Motto im Jahre 2013 von den jungen Aktivisten aus der Vereinigung Stowarzyszenie Folkowisko geführte öffentliche Kampagne hat auf die in der polnischen Kultur immer noch virulente Diskriminierung des Dorfs und der Dorfbewohner hingewiesen. Alleine der Slogan der Kampagne machte darauf aufmerksam, dass das Bekenntnis zur dörflichen Herkunft beinahe an einen Akt Zivilcourage grenzt: »Im Rahmen der Aktion des dörflichen Comingout haben wir im Netz Fotos von jungen, gebildeten Menschen veröffentlicht, die sich mit Stolz zu ihren dörflichen Wurzeln bekennen, darüber hinaus haben wir entsprechende Plakate in den Warschauer Pubs und Clubs ausgehängt. […] Es ist uns gelungen zu zeigen, dass die Dorf-Stereotype sowohl das alltägliche Leben als auch strategische Entscheidungen beeinflussen, die die Kluft zwischen Zentrum und Peripherie noch vergrößern. Die Verachtung für das Dörfliche ist in unserer Kultur und
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Sprache tief verwurzelt, deshalb bekämpfen wir die negativen Konnotationen der Worte ›Dörfler‹, ›Dörflichkeit‹ und ›Dorf‹. Wir argumentieren, dass die adligen Wurzeln einer Mehrheit der polnischen Gesellschaft eine Selbstlüge ist, dass die Bauern schon immer die Mehrheit der Gesellschaft ausmachten, und nicht zuletzt, dass die Dorfkultur reich und schön ist.«1
Die Vereinigung Stowarzyszenie Folkowisko hat im Jahre 2015 einen Dokumentarfilm unter dem Titel NIEPAMIĉû (Die Nichterinnerung) produziert, den sie als »den ersten Film über das Erbe der Leibeigenschaft«2 annoncierte. Zwei junge Protagonist_innen, eine »Bäuerin, die in Warschau lebt« (wie Magdalena Bartecka sich im Film selbst vorstellt) und ein Nachfahre einer aristokratischen Familie (Franciszek Ledóchowski) fahren aufs Land, um – auch selbstbiographisch – den kulturellen und mentalen Spätfolgen feudaler Verhältnisse nachzuspüren. Die filmische Aktualisierung der Kategorien ›Bauer‹ und ›Herr‹, affirmativ vor allem im Hinblick auf die Erstere, soll auf die in der polnischen Kultur tief verwurzelte Verachtung des bäuerlichen Dorfs hinweisen. Der Soziologe und Essayist Jan Sowa kritisiert allerdings in seiner – durchaus wohlwollenden – Rezension des Films diese Art Identitätspolitik mit dem Hinweis, dass die Strategie der Emanzipation durch die Affirmation des ›Bäuerlichen‹ und die Negation der gegenüber dem Bauerntum oppressiven (historischen) Adelskultur an der bis heute wirksamen kulturellen Dichotomie selbst wenig ändert (vgl. Sowa 2015). In der polnischen Gegenwartsliteratur finden wir keine autobiographische Erzählung, die eine ähnlich provokative, affirmative Politik der bäuerlichen bzw. dörflichen Identität vertreten würde, und (folglich) auch keine, die über die Vorund Nachteile einer subversiv-affirmativen Identitätspolitik nachdenken könnte. So stellt der Film ein interessantes diskursives Experiment dar, das versucht, die unterschwellig in den sozialen Hierarchien – vor allem in der Kluft zwischen Stadt und Land – wirkenden alten, historisch bedingten Denkmuster aufzuzeigen und zu benennen. Die Geschichte der Bauern in Polen – und generell im historisch stark durch die Gutsherrschaft geprägten Ostmittel- und Osteuropa – bietet viele Anhaltspunkte für an den Kategorien postkolonialer Theorie orientierte Erklärungsansätze des auffallend niedrigen symbolischen Kapitals des bäuerlichen wie auch post-bäuerlichen Dorfs. Dies hat nicht zuletzt zur Folge, dass das Dorf als Ort einer äußerst ambivalenten kulturellen Identifikation fungiert, wovon auch die Schwierigkeiten der autobiographischen Artikulation dörflicher Identitäten herrühren.
1
http://folkowisko.gorajec.info/jestem-ze-wsi
2
http://folkowisko.gorajec.info/?page_id=1149
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»E S
GIBT NIEMANDEN MEHR , DER SCHREIBEN KÖNNTE ...«
Jenseits des institutionalisierten Literaturbetriebs gibt es in Polen ein umfangreiches Korpus bäuerlicher Autobiographien aus dem 20. Jahrhundert, die im Auftrag der Sozialforschung in der Zwischenkriegszeit, aber auch nach dem Krieg bis in die 1970er Jahre geschrieben wurden. Der Soziologe Józef Burszta erwähnt im Vorwort zu den Memoiren des Bauern Wawrzyniec Skorupka (1970), der übrigens nicht für einen Wettbewerb, sondern aus dem eigenen Schreibantrieb bereits vor dem Krieg mit dem autobiographischen Schreiben begonnen hat, dass in Polen bis 1970 über 300 Memoiren-Wettbewerbe in unterschiedlichen sozialen Milieus durchgeführt wurden. Viele von ihnen erfreuten sich einer großen Resonanz und führten zu Veröffentlichungen von Anthologien. Die zweibändige Edition der Bauern-Memoiren, herausgegeben Mitte der 1930er Jahre von dem Soziologen Ludwig Krzywicki (1935/36) auf der Basis des Wettbewerbs von 1933, ist auf großes Interesse der Leser gestoßen. Die Klagen der Bäuerinnen und Bauern über ihre schweren Lebensumstände und die Armut auf dem Lande hat auch lebhafte Diskussionen unter den Forschenden wie auch den Aktivisten der Bauernbewegung ausgelöst (vgl. Lebow 2014). Józef ChałasiĔski, Soziologe, der seine Forschungen zu den Bauern-Memoiren nach dem Zweiten Weltkrieg im großen Umfang fortsetzte, hat bereits in den 1930er Jahren eine vierbändige, auf einem umfassenden autobiographischen Material gestützte Monographie über die Bauern veröffentlicht (ChałasiĔski 1984).3 Bäuerliche Autobiographien sind bisweilen auch unabhängig von soziologischen Initiativen entstanden, was u.a. eine Anthologie von Stanisław PigoĔ aus den 1940er Jahren deutlich aufzeigt (PigoĔ 1947/48). Auf die Tradition der Memoiren-Wettbewerbe wurde gelegentlich auch nach der Wende von 1989 zurückgegriffen, allerdings nur sporadisch und – im Vergleich zur Vorkriegsforschung und der Forschung im sozialistischen Polen – in einem kleinen Maßstab. Der Soziologe Bronisław GołĊbiowski kommentiert das sinkende Interesse an dörflichen Memoiren wie folgt: »Das Dorf benötigt keine Memoiren-Wettbewerbe mehr. Die am meisten aktiven Bewohner von Dörfern und Kleinstädten emigrierten ins Ausland oder zogen in die polnischen Großstädte. Es gibt niemanden mehr, der schreiben könnte...« (GołĊbiowski 2009)
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ChałasiĔskis wissenschaftliche Arbeit über die Bauern, mit einem Vorwort von Florian Znaniecki, dem Pionier der auf den autobiographischen Dokumenten basierten Sozialforschung, trug den Titel DIE JUNGE BAUERNGENERATION. Nach dem Krieg gab ChałasiĔski seit den 1960er Jahren neun Bände der aus den Wettbewerben hervorgegangenen Bauern-Autobiographien DIE JUNGE GENERATION IM DORF DER VOLKSREPUBLIK POLEN heraus.
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Das Argument von GołĊbiowski ist plausibel, jedoch ist das Dorf nach der Wende aus dem Blickfeld der Sozial- und Kulturforschung auch aus anderen Gründen geraten: In der Zeit der politischen und marktwirtschaftlichen Transformation rückten die urbanen Modernisierungsprozesse ins Augenmerk der Forschung. In ihrem Bericht über das Kulturleben der Dörfer und Kleinstädte sprechen die Soziologen Izabella Bukraba-Rylska und Wojciech Józef Burszta gar von einem »urbanen Chauvinismus« des liberalen Modernisierungsprojekts (Bukraba-Rylska/Burszta 2011: 15). Die Karriere von urban studies ist ein weiteres Indiz für die kulturelle und ökonomische Dominanz der Stadt gegenüber der ländlichen Provinz, die sich in Polen in der Transformationszeit nach 1989 noch verschärfte.
D IE R ÜCKKEHR
DES
D ORFS
Seit einigen Jahren kehrt allerdings das Dorf als Gegenstand der Forschung sowie öffentlichen Diskussionen in Polen wieder. Sowohl in der Forschung als auch in den gesellschaftlichen Debatten kehrt das Dorf als Thema auf zwei Pfaden zurück, die sich nur selten kreuzen, was eine gewisse Erkenntnisdissonanz hervorruft. Der Kulturanthropologe des Dorfs, Roch Sulima, hat das Problem in einem Interview prägnant benannt: »Die Auseinandersetzung mit der Benachteiligung der leibeigenen Bauern gehört zu den verzwickten polnischen Problemen. Was tun mit dem Bauern? Wie lässt sich das Leid abrechnen? Auf der anderen Seite aber hat sich dieser Bauer an der ›goldenen Ernte‹ beteiligt, die Jan Gross beschrieben hat.«4 (Sulima 2014: 31)
Das Dorf kehr also einerseits als ein verdrängtes, nicht aufgearbeitetes Unrecht der feudalen Form der Sklaverei wieder, und zwar sowohl in den aus der Perspektive postkolonialer Studien gestellten Diagnosen zum polnischen »peripheren Ringen mit der Modernität« (vgl. Sowa 2011), als auch in den künstlerischen und medialen Formen: im Theater (u.a. in den Stücken Paweł Demirskis), in der Musik – in den Rekonstruktionen der Lieder von leibeigenen Bauern durch die Gruppe R.U.T.A. – oder in der bereits erwähnten filmischen Reportage NIEPAMIĉû (Die Nichterinnerung). Eine postkoloniale Perspektive ist auch bei dem Ethnologen Michał
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»Die goldene Ernte« bezieht sich auf den Titel des Buchs von Jan Tomasz Gross (2011), in dem der Autor (unter Mitarbeit von Irena GrudziĔska-Gross) über die Beteiligung der polnischen Bevölkerung an Enteignungen von jüdischem Besitz sowie über Plünderungen, Grabschändungen und Goldsuche an Orten der Massenvernichtung in ländlichen Gebieten unmittelbar nach dem Krieg (u.a. in der Nähe von Treblinka) berichtet.
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Buchowski zu finden, der über eine »Orientalisierung« des Dorfs im Diskurs der Transformationszeit spricht (Buchowski 2006). Andererseits kehrt das Dorf in den Forschungen der Historiker als »menschliche Wüste« wieder (Engelking 2011: 259) und die Bauern – als »Freiwillige im Werk der Ermordung der Juden« (ebd.: 257). Barbara Engelking macht auf die Notwendigkeit weiterer ethnologischer Forschung aufmerksam, da wir nicht wissen – wie sie schreibt – »wie sich der Verrat und die Morde, die bis heute ein Tabu von vielen Dorfgemeinschaften sind, auf die Geschichte, Soziologie und Anthropologie des Dorfes ausgewirkt haben« (ebd.: 258). Auf diese Forschung reagiert interessanterweise vor allem das polnische Kino, um hier solche Filme wie Z DALEKA WIDOK JEST PIĉKNY (FERNER SCHÖNER SCHEIN) von Anna i Wilhelm Sasnal (2011), SEKRET (DAS GEHEIMNIS) von Przemysław Wojcieszek (2012), POKŁOSIE (DIE NACHLESE) Władysław Pasikowskis (2012) sowie KLEZMER Piotr Chrzans (2015) kurz zu erwähnen (vgl. auch Marszałek 2014). Aus den jüngsten wissenschaftlichen und künstlerischen Explorationen ergibt sich ein kompliziertes Bild des Dorfs: Das bäuerliche Dorf erscheint als historisch stark benachteiligt und seine Gewaltgeschichte – sowohl des eigenen als auch des zugefügten Leides – als wenig aufgearbeitet. Es erscheint einerseits als ›Gewinner‹ der Umbrüche in der frühen Nachkriegszeit (vor allem der Agrarreform) und andererseits als ›Verlierer‹ zumindest der ersten Phase der ökonomischen Transformation in den 1990er Jahren. Der Warschauer Philosoph Andrzej Leder vertritt die These, dass in der Geschichte des Dorfs im 20. Jahrhundert ein Schlüssel zum Verstehen der polnischen ›post-bäuerlichen‹ Nachkriegsgesellschaft und ihrer neuen Mittelschicht liegt. Allerdings ist die Reflexion über die Folgen der Umwälzungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit wenig im kollektiven Bewusstsein präsent: Leder betrachtet – mit einer Benjamin’schen und Lacan’schen Brille – die Zeit der gewaltsamen Ereignisse von 1939 bis 1956 in Polen als die Zeit einer grausamen, die polnische Gesellschaft zutiefst verändernden sozialen Revolution, in der letzten Endes nicht nur die Verwandlung der bäuerlichen in die städtische Kultur, sondern auch die heutige Mittelschicht ihre Wurzeln haben. Sowohl die Vernichtung der Juden durch die Nazis als auch die Zerstörung des Landadels, d.h. die sowjetisch inspirierte Agrarrevolution der 1940er Jahre, seien – so Leder – die entscheidenden radikalen historischen Umbrüche für die Genese der Nachkriegsgesellschaft. Die provokative These Leders lautet, dass diese Revolution bzw. der Kern dieser Revolution bis heute nicht in das gesellschaftliche Bewusstsein integriert wurde: »Diese Zeit, wie ich behaupte, wurde verträumt. Dies ist das entscheidende Moment der Revolution, die sich damals vollzogen hat. Sie wurde durch Andere durchgeführt, ohne dass sich die breiten Teile der Gesellschaft mit den Entscheidungen, Handlungen und mit der Verantwortung dafür, was passierte, identifiziert haben. Infolge dessen wurde die Revolution
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durch die polnische Gesellschaft wie ein Albtraum erfahren; wie ein Traum, in dem die tief verborgenen und grausamen Wünsche und Ängste in Erfüllung gehen.« (Leder 2014: 17, Hervorhebung M.M.)
Aufgrund der Tatsache, dass das »polnische politische Subjekt« keine direkte Verantwortung für die Geschehnisse der gewaltsamen Revolution (Vernichtung der Juden, Vertreibung der Deutschen, Beseitigung der Landbesitzer) trägt, wird – so Leder – angenommen, dass die Ereignisse auch keine moralischen, sozialen und politischen Folgen für dieses Subjekt haben. Deshalb können sie kaum erzählt und verstanden werden, wie die Inhalte eines quälenden Albtraums (vgl. ebd.: 18). Leder nähert sich der schwierigen Geschichte der polnischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert, darunter – zentral – der Geschichte der bäuerlichen Provinz, mit einem psychoanalytischen Ansatz. Die neue Sensibilität gegenüber der offenen und unterschwelligen Diskriminierung der Dörfler findet ihre Ausdrucksmöglichkeit eher in der Sprache postkolonialer Theorie, darunter auch in der Beschreibung des Stadt/Land-Verhältnisses als hierarchischer Zentrum/Peripherie-Relation. Deshalb hat sie mit der ideologisierten Kritik der feudalen Ausbeutung von Bauern in der frühen Nachkriegszeit, die die Agrarreform und die politische Revolution legitimierte und dabei mit einem sozialistischen Paternalismus auf das Dorf schaute, wenig zu tun. Vielmehr – auch wenn nicht unbedingt bewusst – erinnert die heutige Reflexion der kritischen Kondition des Dorfs an die Motive des emanzipativen Denkens über das Dorf in den 1930er Jahren, einer Zeit, in der nicht nur die Forschung über die Bauern, sondern auch die bäuerliche Literatur und Publizistik florierte, in der unterschiedliche politische Konzepte bäuerlicher Emanzipation entwickelt wurden – nicht nur durch Postulate gesellschaftlicher Demokratisierung, sonder auch durch Förderung der Aufwertung des bäuerlichen kulturellen Selbstbewusstseins (vgl. Ziątek 1995). So lassen sich in den heutigen ethnologischen Diagnosen, in der Identitätspolitik von Stowarzyszenie Folkowisko, in der publizistischen Kritik der Stadt/Land-Dichotomie sowie der verdeckten Codes, die das Dorf diskriminieren, späte Echos der Diskussionen der 1930er Jahre heraushören. Bereits Józef ChałasiĔski, ein aktiver Teilnehmer damaliger Diskussionen, hat in seinem oben kurz erwähnten Werk DIE JUNGE BAUERNGENERATION von 1938 die Opposition ›Bauern vs. Herren‹ nicht als eine Klassifikation sozialer Schichten verstanden, sondern als eine kulturelle Dichotomie bzw. als »zwei Kriterien der gesellschaftlichen Wertung – Kriterien, die die ganze Gesellschaft tief durchdringen« (ChałasiĔski 1984: 70). So beschreibt ChałasiĔski in seinem Buch zwei antagonistische Auffassungen der polnischen Kultur, eine ›adlige‹ und eine ›bäuerliche‹, und zwei distinktive Kategorien, die sich gegenseitig ausschließen: »Der ›Bauer‹ kann zum ›Herren‹ werden [z.B. aufgrund der Nobilitierung zum Intelligenzler durch Bildung, M.M.], aber er kann nicht zugleich ›Bauer‹ und ›Herr‹ sein« (ebd.: 73).
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ChałasiĔski schrieb über das ›adlige‹ und das ›bäuerliche‹ Polen; heute – darauf machen Bukraba-Rylska und Burszta (2011: 16) aufmerksam – wurden diese Kategorien durch die Unterscheidung zwischen dem ›städtischen‹ und dem ›dörflichen‹ bzw. ›elitären‹ und ›plebejischen‹ Polen ersetzt. Bis heute ist aber, wie Roch Sulima (2001: 99) feststellt, der Bauer eine »Figur des Denkens über die kulturelle Überund Unterlegenheit« und die Volkskultur – »ein nationaler Komplex«, »ein Bündel verdrängter Inhalte, die immer noch unseren Wirklichkeitssinn stören«. Es lassen sich also einige Gründe dafür anführen, warum eine autobiographische Identifikation mit dem Dorf heute noch problematisch ist. Dörfliche Gegenwartsautobiographien beschreiben zwangsläufig ein Leben ›dazwischen‹: zwischen Dorf und Stadt, zwischen den in der polnischen Kultur hierarchisch markierten Identitäten – der stigmatisierenden Dörflichkeit, von der man flieht, und der Urbanität, die eine Chance bietet und zugleich diskriminiert – oder zwischen den polnischen Identitätsschemata und der Emigrationserfahrung, die zu ihnen eine Distanz ermöglicht.
D REI S TIMMEN AUS DEM D ORF : G RZEGORZEWSKA, M ASTERNAK , S TASIUK Wioletta Grzegorzewskas Erzählband GUGUŁY (ein schwer übersetzbarer dialektaler Ausdruck für unreife Früchte) von 2014 besteht aus autobiographischen Miniaturen – Erinnerungen an die auf dem Lande in den 1980er Jahren verbrachte Kindheit. Grzegorzewskas Prosa, die der kindlichen Wahrnehmung und jugendlichen Erfahrungswelt einen dezenten poetischen Schliff verleiht, stellt keineswegs ein Manifest einer neuen Identitätspolitik bzw. neuen Dorf-Literatur dar. Es ist aber auffallend, dass sie gänzlich auf satirische Darstellung, Dämonisierung oder aber naturalistische Kritik der Armut und Rückständigkeit verzichtet, und bereits damit von den typischen Erzählweisen über das Dorf in der heutigen polnischen Literatur oder im Film abweicht. Das Poetische in der Prosa Grzegorzewskas ist durch die Perspektive kindlicher Wahrnehmung motiviert und nicht durch die bei den DorfDarstellungen häufig anzutreffende Poetik eines ›magischen Realismus‹. Der autobiographische Rückblick auf das Dorf operiert mit einer Innenperspektive – allerdings aus einer deutlichen zeitlichen und geographischen Distanz: Die Autorin lebt seit mehr als zehn Jahren in Großbritannien. Womöglich verdankt sich der direkte persönliche Ton ihrer Prosa diesem Umstand, einer Prosa, die weder auf die Groteske oder die Mythographie noch auf eine naturalistische Hyperbel zurückgreifen muss, wenn sie die Armut, die spezifische Volksreligiosität, die schwere Arbeit der Frauen, den Alkoholismus der Männer – die allesamt zu den unverzichtbaren Motiven in der polnischen Literatur über das Dorf gehören – beschreibt. Zu den
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Schlüsselszenen des Buchs gehört ein Treffen auf dem Marktplatz in der Stadt zwischen der Protagonistin und einem Jungen aus der Stadt, den sie kurz davor in der Diskothek kennenlernte. Die unerwartete Begegnung mit dem Jungen, in den sie sich verliebte, ist zugleich eine harte Lektion der sozialen Distinktion. Das Mädchen, das zusammen mit seiner Dialekt sprechenden Oma auf dem Markt in der Stadt Kirschen verkauft, schämt sich nicht nur für ihre Situation, sondern ahnt auch sofort, dass sie den Jungen nie mehr wiedersehen wird (vgl. Grzegorzewska 2014: 75-78). Eine nüchterne, zur Knappheit neigende Narration und die poetische Verkürzung des Anekdotischen erlauben Grzegorzewska, über das Dorf ohne eine idyllische bzw. dystopische Stilisierung zu erzählen. Dies ist eine Erzählweise, die für die polnische Literatur über das Dorf durchaus eine Hürde darstellt: aus einer Innenperspektive, autobiographisch, ohne parodistische Grimassen oder mythographische Schleier. Probleme mit der autobiographischen Repräsentation des Dorfs sind in einer Kultur, in der die Feststellung »Ich komme vom Land« einem Coming-out gleicht, nachvollziehbar. Für die Dorfprosa, die in der Volksrepublik Polen noch ideologisch geschützt wurde, gelten heute ausschließlich die Regeln des freien literarischen Markts: Eine Stimme aus dem Dorf muss sich in dem für den sozialen Habitus und die feinen Unterschiede empfindlichen Literaturbetrieb durchsetzen. Grzegorzewska schreibt aus der Distanz der Emigration. Weniger Distanz zum Dorf hat Zbigniew Masternak, Autor eines in der polnischen Gegenwartsliteratur einzigartigen dörflichen autobiographischen Projekts. Masternak, geboren 1978, hat in den Jahren 2006-2008 drei Bände seines autobiographischen Romanzyklus veröffentlicht, der 2011 als eine Trilogie unter dem Titel KSIĉSTWO (Das Fürstentum) erschienen ist.5 Der Romanzyklus beruht auf den biographischen Erfahrungen in der Kindheit und Jugend. Trotz des unzweifelhaften ›autobiographischen Pakts‹ lässt er sich allerdings aufgrund der deutlichen literarischen Konstruktion eher der ›Autofiktion‹ zurechnen. Die Trilogie erzählt vom Fliehen aus dem Dorf – so könnte man in einem Satz den Inhalt zusammenfassen. Zunächst wird aber der kindliche Protagonist von seinem Vater – einem Alkoholiker und zugleich verträumten Geschichtenerzähler – in eine Phantasiewelt der Märchen und Sagen eingeführt. Das Heranwachsen entzaubert allmählich und unwiederbringlich die Welt der Kindheit, die der rauen Wirklichkeit weichen muss. Der junge Protagonist versucht verschiedene Fluchtwege aus dem Landleben (mit jeweils eher minderem Erfolg): durch Bildung (Studium), Fußball und Literatur. Diego Armando Goethe heißt das Pseudonym des debütierenden Fußballspielers und Dichters in einer Person. Aus
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Verfilmt wurde der Zyklus von Andrzej BaraĔski ebenfalls unter dem Titel KSIĉSTWO im Jahre 2011.
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dem kindlichen, naiven, verträumten »Prinzen« erwächst ein von finanziellen, familiären und Identitätsproblemen geplagter Junge, der zum Zynismus neigt. Das Dorf – gesehen mit seinen Augen – ist ein furchtbarer Ort: bestimmt durch Alkoholismus, Armut, Aberglaube, Perspektivlosigkeit sowie soziale und moralische Verkommenheit der Dorfgemeinschaft. Die Begegnungen der Dörfler mit den Städtern sind immer konfliktbeladen: Dorf und Stadt sind zwei getrennte Welten, voller gegenseitiger Abneigung und Vorurteile. Neben diesen für die Dorfprosa geradezu prototypischen Motive finden wir bei Masternak einige Aktualisierungen, die an politische sowie alltagskulturelle Erscheinungen und Diskussionen der Transformationszeit in Polen anknüpfen, u.a. an die durch die frustrierten Landwirte organisierten Straßenblockaden, an historische Nachstellungen (reenactment) als populäres Volksspiel, an sexuellen Missbrauch in der Familie, lesbische Liebe etc. Masternaks Prosa besteht aus Kurzerzählungen, die auf Dialogen basieren und meist mit einer überraschenden, ironischen Pointe enden. Zur narrativen Konstruktion gehören ebenfalls literarische, oft scherzhafte Anspielungen. So wird der Protagonist Schriftsteller dank einer in der Kindheit geschluckten Münze mit Henryk Sienkiewicz (einem erfolgreichen Romancier des 19. Jhs.), betrunkene Männer am Dorfladen tragen die Namen der Autoren des polnischen Sozrealismus, und der Tierarzt, der wenig Ahnung vom Dorf hat und den Dialekt unbeholfen nachahmt, heißt... Stasiuk. Auffallend ist die – für die Identitätsstrategie entscheidende – Konstruktion des autobiographischen Subjekts in der Prosa Masternaks: Er gehört zur Welt der Dorfgemeinschaft und distanziert sich zugleich von ihr: Er ist ein Anderer (ein »Prinz«). Die Grenze wird durch die Sprache markiert: Der Ich-Erzähler spricht keinen Dialekt, nicht mal in den Dialogen mit den dialektal sprechenden Dorfmitbewohnern. In der ganzen Trilogie wird er nur ein einziges Mal auf Dialekt zurückgreifen: überraschend und provokativ, in der Konfrontation mit den das Dorf besuchenden Städtern (vgl. Masternak 2011: 272). Die Sprache wird im autobiographischen Projekt Masternaks zum Mittel der Distanz zur dargestellten Welt. Eine solche Funktion erfüllt auch die konsequente literarische Konstruktion, die den Regeln einer gut erzählten Anekdote folgt, wodurch die Prosa Masternaks Züge eines Schelmenromans bekommt. Scherzhafter Spott gegenüber Andrzej Stasiuk, einem der erfolgreichsten polnischen Gegenwartsautoren, führt in die Prosa Masternaks das Motiv literarischer Konkurrenz ein, in der – halb im Spaß, halb im Ernst – die Frage nach der schriftstellerischen ›Lizenz‹ zur Dorfliteratur gestellt wird: Was weiß ein aus Warschau stammender Autor über das Dorf? Das Dorf ist aber von Anfang an in der Prosa Stasiuks präsent und mit der Biographie des Autors verbunden. Das Dorf als Thema kehrt in seinem Schreiben immer wieder nicht nur aufgrund seiner Entscheidung, Warschau zu verlassen und sich in einem Dorf in der südostpolnischen Provinz anzusiedeln, und nicht nur aufgrund seiner programmatischen, wiederholten Reisen
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durch die ostmitteleuropäischen Provinzen, sondern auch als Erinnerung an die mit den auf dem Lande lebenden Großeltern in der Kindheit verbrachte Zeit. Die autobiographische Erzählung Stasiuks über die in der halb-ruralen Warschauer Vorstadt sowie auf dem Lande bei den Großeltern verbrachte Kindheit dringt in seine ReiseEssayistik ein und ist auch spürbar in der stärker fiktional ausgerichteten Prosa, wie DIE WELT HINTER DUKLA (2000, poln. DUKLA, 1997), sowie zunehmend in seinen letzten Prosabänden – in KURZES BUCH ÜBER DAS STERBEN (2013, poln. GROCHÓW, 2012) und in DER OSTEN (2017, poln. WSCHÓD, 2014). Die autobiographische Erzählung in DER OSTEN stellt einen Rahmen – den Ausgangspunkt und die Koda – für die Erinnerungen an die Reisen nach Russland, China und in die Mongolei dar. Die Reise in den Osten ist zugleich eine Erinnerungsreise in die eigene Vergangenheit: zur Geschichte der Eltern, die nach dem Zweiten Weltkrieg das Dorf verlassen haben, zu sich selbst als Kind, das halb in der Stadt, halb auf dem Lande aufgewachsen ist, zu den eigenen Faszinationen fürs Dörfliche und Provinzielle. Die autobiographische Erzählung Stasiuks unterliegt den Regeln seiner ›Geopoetik‹: dem Schreiben ›aus dem Gedächtnis‹ über die Reisen durch die vergessenen Provinzen. Diesmal wird der polnische Osten zwischen der Weichsel und dem Bug mit dem fernen Osten sowie die Mikrogeschichte der Familie mit der Makrogeschichte des (politischen) Ostens miteinander verwoben: »Sowohl Mutter als auch Vater hatten ihre Dörfer verlassen im Zuge der großen Wanderung der Verdammten dieser Erde. Sie waren aus der Sklaverei geführt worden. Aus dem Reich des Sandes, des Mistes und des Hungers. Aus dem Territorium der Verachtung. Von Ost nach West. […] Aus dem bäurischen Dorf in die herrschaftliche Stadt. Um das Sklavenerbe zu vergessen, um Schuhe zu tragen. […] Doch bis ins Zentrum kamen sie nicht. Sie hielten sich in den Vororten an, wie die Mehrzahl der plebejischen Eroberer. Aber darüber sprach man nicht.« (Stasiuk 2017: 24)
Die in der Prosa Stasiuks von Beginn an keimende autobiographische, mit dem Dorf verbundene Erzählung kulminiert in DER OSTEN in der Schilderung der für das Nachkriegspolen typischen Erfahrungen jener Generation, die nach dem Krieg das Dorf verlassen hat, sowie der Erfahrung der ›dritten‹ Generation, die durch den Kontakt mit den Großeltern das Dorf kennenlernen konnte. Wenn er über die Eltern schreibt, bedient sich Stasiuk des Pronomens »wir«, wodurch sich der Erzähler mit der Erfahrung der Elterngeneration identifiziert: »Das Dorf war meinen Eltern gefolgt. Sie hatten es mitgenommen. Wir waren Dörfler mit einem Eber, Bürger mit einem Plattenspieler und Proletariat, das um sechs Uhr morgens an der Maschine stand. Und zugleich waren wir eigentlich niemand.« (Ebd.: 256)
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Auffallend ist, dass in der autobiographischen Erzählung Stasiuks über das Dorf die Juden thematisiert werden. Die Reiseroute zu seinem Wohnort in Südostpolen führt nah an BełĪec vorbei, und das Dorf, aus dem die Familie stammt, liegt in der Nähe von Treblinka. Trotzdem gab es keine Erinnerungen an die Juden in den in der Familie erzählten Geschichten: »Über alles wurde gesprochen, über das Leben, über den Tod, über Geister, aber nicht über die Geister der Juden, die der Wind über das Dorf trug. Nicht einmal an das Wort ›Jude‹ kann ich mich erinnern. Es kann sein, dass ich es nicht kannte. Dreißig Kilometer von dem Ort entfernt, wo sieben- oder achthunderttausend jüdische Leichen verbrannt wurden. Weil die Erinnerung im Sand versunken oder im Wind verweht war? Oder weil es sie nie gegeben hat?« (Ebd.: 104)
Die fehlende Erinnerung wird durch die Vorstellungskraft kompensiert, und diese postmemoriale Geste führt den Autor zu den Spekulationen darüber, wie es hätte sein können, wenn es sich noch näher am Heimatdorf abgespielt hätte: »Und wenn es hier gewesen wäre? Dann wäre ich mit den Dorfjungen zu den Aschenfeldern gegangen, zu den zugeschütteten Gruben, zu den verwischten Spuren. Zu dem Denkmal aus Stein. […] Wir hätten über Gold geredet.« (Ebd.: 106) »Aber jetzt betrachte ich das andere Ufer und stelle mir vor, dass es doch so war: Sie gehen durch den Wald, vorsichtig, aber sie tragen Spaten, Schaufeln, wie zu einem späten Begräbnis, sie haben Siebe für die Asche und Wodka für den Mut […]. […] All das stelle ich mir vor. Im Reich der Kindheit, im Reich der Unschuld. Im Osten, an der Weichsel. In der Vorhölle. Auf der Müllhalde menschlicher Reste. In der Finsternis des Kontinents.« (Ebd.: 107109)
Die autobiographische Erzählung in der jüngsten Prosa Stasiuks integriert Elemente des aktuellen Diskurses über das benachteiligte Dorf, die nicht aufgearbeitete Geschichte von Erniedrigung und Armut, Entwurzelung und sozialem Aufstieg, aber auch über die »goldene Ernte«. Stasiuk kehrt in die Welt der Kindheit als Erinnerung und Imagination zurück, er denkt sich in das Schicksal der Eltern und Großeltern hinein, bejaht die plebejische Genealogie – und trotzdem ist seine Perspektive keineswegs eine ›dörfliche‹. Eingeschrieben in die Reise-Essayistik folgt seine autobiographische Erzählung einer nomadischen Assoziationslogik und pendelt zwischen Dorf, Stadt und ›rurbaner‹ Vorstadt. Dabei wird die dörflichstädtische Vorstadt zur Metapher der Identität und der biographischen Erfahrung der Nachkriegsgeneration, die das Dorf verlassen hat. Drei autobiographische Stimmen aus dem Dorf – Grzegorzewskas, Masternaks und Stasiuks – erschöpfen im Grunde das Potenzial einer ›dörflichen Autobiographik‹ in der polnischen Gegenwartsliteratur. Was sie verbindet, sind Thematisie-
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rungen der auf dem Lande (zumindest temporär – wie bei Stasiuk) verbrachten Kindheit und Jugend sowie Versuche einer identitären Integration dieser Erfahrung und Herkunft. Noch mehr trennt aber die Schreibenden: die Erzählweise, die autobiographische Haltung, d.h. die Perspektivierung der autobiographischen Erinnerung, sowie die affektiven Strategien der Konstruktion und Auflösung identitärer Verbindungen mit dem Dorf. Bei Grzegorzewska stellt das Dorf eine Chiffre der Kindheit dar: Die zurückhaltende und poetische Narration verrät durch Knappheit und Understatement einiges über das Schmerzhafte der Erinnerung. Masternaks Erzählung über das Aufwachsen auf dem Lande ist zugleich eine Erzählung über das Fliehen aus dem Dorf, über das Aufbegehren und ambivalentes Dazugehören, über das Manövrieren zwischen den steifen und hierarchischen Oppositionen von Dörflichkeit und Urbanität. Stasiuk wiederum formuliert geradezu ein in seinen essayistischen Reiseberichten verstecktes Manifest einer plebejischen, postbäuerlichen, ›östlichen‹ Identität als Erbe sozialer Umwälzungen, die auf die Zerstörungen des Kriegs und die revolutionären Umbrüche der unmittelbaren Nachkriegszeit zurückgehen. Bei allen drei Schreibenden kommt eine neue Sensibilität gegenüber der Dörflichkeit als »nationalem Komplex« (Roch Sulima) zutage, mit dem sich die polnische Kultur noch auseinandersetzen muss.
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»Das Dorf hat etwas Episches« Jan Brandt im Gespräch mit Christoph Schröder und Marc Weiland
Weiland: Gegenwärtig ist eine gewisse Konjunktur der Dorfgeschichten und Provinzromane zu beobachten. Christoph Schröder, warum erscheint das Dörfliche und Ländliche aktuell als ein drängendes und wieder neu zu erschreibendes Themenspektrum und Problemfeld einer vor allem auch jungen Autorengeneration? Schröder: Ich glaube, das hat damit zu tun, dass die Zeit, diese Geschichten zu erzählen, jetzt reif ist. Es ist jetzt eine Generation von Autoren im schreib- und publikationsfähigen Alter, die diese Erfahrungen mitzuteilen haben. Ich bin beim Lesen von BRD NOIR von Frank Witzel und Philipp Felsch auf einen interessanten Gedanken gestoßen. Darin wird die These aufgestellt: Das Dorf sei eigentlich gar kein Ort, sondern ein Zustand, in dem man sich in einem gewissen Alter befindet. Vielleicht ist das eine Erklärung dafür, dass nun der Zeitpunkt gekommen ist, mit diesen Geschichten an die Öffentlichkeit zu kommen. Weiland: Vor einigen Jahren hast du in einer Polemik1 den »ästhetischen Zwangsurbanismus« scharf kritisiert. Der Umgang nicht weniger deutschsprachiger Gegenwartsautorinnen und -autoren mit dem Ländlichen sei mittlerweile mechanisiert und reduziert. Was ist damit gemeint? Woran liegt das, wenn es denn stimmt? Schröder: Ich glaube tatsächlich, dass die Provinz in vielen Büchern als etwas dargestellt wird, von dem man sich wegbewegen, von wo man es selbst wegschaffen muss. Die Provinz wird als ein Unort betrachtet und die Stadt, das Urbane, als das Heilsversprechen, in dem man den engen Verhältnissen entfliehen und endlich zu sich selbst und einer gewissen Weltoffenheit finden kann. Man müsse es
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Unter: www.zeit.de/kultur/literatur/2011-01/provinz-literatur-polemik (18.07.2017)
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dementsprechend unbedingt nach Berlin schaffen, um cool oder lebensfähig zu sein; und ich empfinde das als eine unglaublich provinzielle Einstellung. Dabei reden wir von einer Stadt, die in sich so viele kleine Provinzen gebildet hat, dass man kaum von einer Stadt reden kann. Natürlich war das eine Polemik und in der Polemik steckt die Übertreibung. Genauso oft wird aber auch das Dorf in stereotyper Weise in Romanen dargestellt und an die Stadt gebunden. Erst schafft man es weg von dort und dann vollzieht sich eine gegenläufige Bewegung, die Rückkehr: Jemand kommt nach einiger Zeit wieder zurück in sein Dorf und die Erinnerung beginnt plötzlich zu laufen. Dabei werden meist auch wieder nur Stereotype produziert. Weiland: Jan Brandt, du lebst mittlerweile in Berlin und hast in GEGEN DIE WELT über dörfliche Erfahrungen und Wahrnehmungen geschrieben. Wenn wir die Kritik von Christoph Schröder ernst nehmen, dann stellt sich die Frage: Gibt es so etwas wie ein angemessenes oder unangemessenes Schreiben über das Dorf oder die Provinz? Und wenn ja, welche Bedingungen sind dabei zu beachten? Brandt: Erfahrung ist natürlich wichtig, um über einen Ort schreiben zu können. Es kann also nicht von Nachteil sein, einige Zeit dort gelebt zu haben oder dort zu leben. Für mich war in diesem Fall die Voraussetzung dafür, dieses Buch schreiben zu können, nicht mehr dort zu leben. Ich brauchte die Distanz, ich musste auch längerer Zeit von dort weg sein, um den Ort, der mich in der frühen Phase meines Lebens geprägt hat, in gewisser Weise wertschätzen zu können und diese Ablehnung, die ich ganz lange empfand, in Worte fassen zu können. Damit meine ich mehr als nur Wut. Es musste sich erst mal setzten. Ich merkte, dass die zunächst entstehenden Texte so nicht funktionierten. Es war zu viel Emotion drin. Weiland: Ich möchte noch einmal kurz Christoph Schröder aus dem gleichen Artikel zitieren: »Die Teilung in Stadt und Provinz war schon immer ein Thema der Literatur. Und schon immer war es so, dass zumindest eine unausgesprochene innere Entscheidung getroffen werden musste: Stifter oder Joyce?« Damit verbunden ist dann auch die Unterscheidung zwischen einem vermeintlich eher vormodernen bzw. ländlichen und einem vermeintlich eher modernen bzw. urbanen Erzählen. Jan Brandt: Wo würdest du dich eher verorten: Bei Stifter oder bei Joyce? Oder bei beiden? Brandt: Dieses Buch – und deshalb ist es ja so umfangreich geworden – ist ja Joyce auf dem Dorf, aber natürlich urban erzählt. Der ganze Duktus hat etwas Urbanes. Das ist eben ohne den Resonanzraum Großstadt gar nicht denkbar; und damit meine ich nicht den Gegensatz zwischen Stadt und Land, sondern vielmehr die Großstadt als Schreiberfahrung, Spracherfahrung, Lebenserfahrung. Wenn ich von diesem
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Dorf in ein anderes Dorf gezogen wäre und über mein erstes Dorf geschrieben hätte, dann wäre das sprachlich ganz anders ausgefallen. Ich glaube, ich brauchte diesen intellektuellen Background, der sich in der Stadt eher verdichtet als auf dem Land. Schröder: Es ist natürlich nicht so, dass ich ein Plädoyer für eine geschönte, idyllische, romantische Darstellung des alten Dorfraums halten würde. Wenn man sich freiwillig in diese Perspektive des Zurückkehrens in ein Dorf versetzt und damit zugleich alle anderen Perspektiven des Erzählens automatisch ausschließt, dann kommt man auch bloß wieder in diese klischeehafte Erzählhaltung rein. Wohingegen es unendlich viele Mittel gibt, sich dem Dorf zu nähern, weil da ja auch unendlich viele Dinge zu entdecken sind. Man muss in diesen Mikrokosmos eben genauer reinschauen und Mittel finden, diese auch darzustellen. Ich bin jetzt nicht einer, der der Gartenlaube das Wort reden will. Weiland: Wenn wir über die Erzählbarkeit des Dorfes sprechen, scheint es so zu sein, dass wir uns in einer Art ambivalenten Situation befinden. Einerseits erscheint das Dorf im Kopf nach wie vor als ein vermeintlich klarer und gut handhabbarer Raum. Es scheint überschaubare Figurenkonstellationen und Handlungsstränge zu bieten. Wenn wir uns auf der anderen Seite jedoch die neueren Texte anschauen, dann wird mit diesen möglicherweise auch eine ästhetische Gegenbewegung vollzogen: Wir haben zwar diesen vermeintlich gut überschaubaren Raum, finden in diesem jedoch unglaublich viele miteinander verstrickte und ineinander verworrene Geschichten. Ist es vielleicht diese Ambivalenz, die heutige Dorfgeschichten auszeichnet? Und die damit zwar einerseits versuchen, das Dorf seinem Wesen nach zu erfassen und zu bestimmen und dabei zugleich andererseits auch zeigen, dass es eine wesentliche Bestimmung nicht geben kann? Brandt: Dass das Dorf überschaubar sei, ist natürlich eine sehr oberflächliche Betrachtungsweise. Es ist nur deshalb vermeintlich überschaubar, weil es dort weniger Menschen gibt als in der Großstadt. Aber meine These ist, dass die Verflechtung der Beziehungen viel dichter ist als in der Großstadt und stärker über Generationen hinweg fortgetragen wird. Auch die Geschichten, die man sich auf dem Dorf gegenseitig erzählt, sind viel komplexer. Man kann eben nicht aufs Dorf gehen, dort fünf Jahre leben und dann wieder wegziehen, ohne dass dies niemand mitkriegt. Man wird automatisch Teil der Narration dieses Dorfes – ob man will oder nicht. In der Großstadt ist das anders. Dort kann man hinziehen und wieder wegziehen und keiner bekommt das mit. Insofern hat ein Dorf eine anders geartete Komplexität. Das habe ich beim Schreiben zunächst wohl nur unbewusst gespürt. Ursprünglich sollte das Buch eine Novelle werden. Ich hatte auf einhundertzwanzig Seiten spekuliert und dann weitete es sich aus, weil ich genau diese Komplexität
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bemerkt habe und sie sich schließlich zu einer unendlichen Geschichte ausgedehnt hat. Aber da bin ich auch nicht allein. Peter Kurzeck betreibt ja so eine gigantomanische Provinzbeschreibung, bei der auch klar ist: Das sind so viele Geschichten, die kann man nicht in einem Buch erzählen. Ein anderes Beispiel ist die Filmreihe HEIMAT von Edgar Reitz. Der Mikrokosmos Dorf wird darin thematisiert, indem über und durch mehrere Generationen, ein ganzes Jahrhundert und schließlich auch die gesamte Geschichte des Landes erzählt wird. Da habe ich gemerkt: Das Dorf hat etwas Episches. Schröder: Ich glaube, dass das Dorf so zu einem Brennspiegel werden kann. Das wird in GEGEN DIE WELT auch sehr gut dargestellt. Es stimmt, man hat weniger Menschen, doch sind die Strukturen deswegen nicht weniger kompliziert. Anhand dieser wenigen Menschen kann man jedoch deutlicher zeigen, was passiert. In diesem Buch wird ganz nebenbei, ohne dass es explizit erwähnt wird, der Übergang von einem Land ins andere beschrieben: Der Übergang von der alten Bundesrepublik Deutschland in die Berliner Republik, die natürlich dort nicht oder noch nicht so heißt, und alles, was damit zusammenhängt, zum Beispiel der Niedergang dieser Drogerie und der damit verbundene Niedergang dessen, was der Fetisch der Bundesrepublik Deutschland war, nämlich der gesunde Mittelstand. Und noch etwas: Im Milieu der Heavy-Metal-Jugend zieht es, sich Gruppen anzuschließen und sich eine Identität zu schaffen gegen etwas, nämlich gegen den Rest des Dorfes; gerade auch wenn man jung ist. Ich kenne das von dort, wo ich aufgewachsen bin. Das alles wird im Buch dargestellt und ich glaube, das ist nur möglich, wenn man in solche vermeintlich überschaubaren Strukturen genau hineinschaut und dann entdeckt, dass diese in Wahrheit wahnsinnig kompliziert sind. Brandt: Bei Peter Kurzeck reicht das ja noch viel weiter zurück als bei mir. Bei mir geht es nur bis in die Sechziger Jahre. Mit der Wende hat sich etwas ganz Entscheidendes verändert. Nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Ich habe dieses Buch ja auch geschrieben, um zu zeigen, wie dieses Dörfliche mit der Zeit verschwindet. Mit der Globalisierung, die mit der Wende und dem Fall des Eisernen Vorhangs massiv beschleunigt wurde, hat sich auch die Provinz im Westen Deutschlands ganz stark verändert. Die Dörfer sind größtenteils praktisch tot. Da gibt es keinen Einzelhandel mehr, nur noch Supermärkte. Da bricht die Gemeinschaft weg. Schließlich verändert sich die soziale Komponente. Nun wurde schon Frank Witzel mit seinem Buch BRD NOIR angesprochen, in dem die These aufgestellt wird, dass es weder in Westdeutschland noch in Ostdeutschland eine Metropole gegeben habe. Die einzig große Metropole, die einzige Großstadt, war geteilt und damit zerschlagen. Ich habe Geschichten von Leuten aus Berlin damals gehört, die mich stark an Dorfgeschichten erinnert haben, weil man dort sehr stark aufeinander bezogen war. Es gab die Hausgemeinschaften und Hausbesetzer. Man kannte sich,
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die ganze Szene kannte sich. Das ist durch die Wende, durch die Zeit, die man zurückblickt, vollkommen aufgebrochen. Auch das ist ein Grund, weshalb man sich jetzt in der Literatur verstärkt mit dörflichen und ländlichen Räumen beschäftigt. Es entstehen Provinzerzählungen, weil das heute nicht mehr so existiert. Man nimmt das jetzt wahr und versucht aufzuschreiben, woran das liegt oder wie es zu dieser Entwicklung gekommen ist. Schröder: Man kann diese Parallelen zwischen den Erzählweisen nach der Wende und der Globalisierung tatsächlich sehen. Damit sind wir noch einmal bei Peter Kurzeck. Der ist natürlich deswegen auch kein Idylliker, weil er ja permanent das beschreibt, was schon verschwunden ist. Was er beschreibt, ist, wie nach dem Krieg ein Land für den Kapitalismus zugerichtet wurde, für Verkehr, Handel, Wirtschaft. Was ich von Kurzeck an so einer Stelle gerne zitiere: ›Wo früher Pferdekarren fuhren, da kann man jetzt im dritten Gang durchfahren.‹ Und so ist dieses Land nach dem Krieg geworden und so sind die Dörfer auch geworden. Das, was war, verschwindet und das Schreiben ist ein permanenter Beschreibungsprozess des eigentlich schon Verschwundenen. Weiland: Jan Brandt, in GEGEN DIE WELT beschreibst du auch, wie die Gemeinschaft kippt und eine nicht mehr zu kontrollierende Gruppendynamik, ja Gruppenidentität, entsteht. Zeigt sich hierbei auch der unauflösbare Widerspruch des Gemeinschaftlichen? Im Positiven sprechen wir von Nachbarschaftshilfe, da kennt jeder den anderen. Aber es gibt ja auch im Negativen den Prozess, in dem das das Nachbarschaftliche umschlägt in soziale Kontrolle und einen Kampf gegen alles, was als fremd oder anders wahrgenommen wird. Brandt: Ja, natürlich, das gehört zum Dorf dazu. Es hat eben zwei Seiten. Man passt aufeinander auf, im positiven wie im negativen Sinne. Es gibt da schon so eine Diktatur der Angepassten. Jeder muss so sein wie der andere, jeder muss der Normalvorstellung entsprechen. Der Vorgarten muss gepflegt sein, der Rasen muss regelmäßig gemäht werden. Wenn das nicht so ist, ist man eben Teil des Dorfgesprächs. Und das ist natürlich auch der Grund, warum all die, die nicht angepasst sind und sich nicht anpassen wollen, das Dorf verlassen. Es herrscht das unausgesprochene Diktat der Normalität; und wenn man dem nicht entsprechen will, bleibt einem nur die Flucht in die Großstadt. Dabei zeigt sich an den Jugendlichen im Roman auch, wie subtil der Mechanismus der sozialen Kontrolle in die Figuren hineinwirkt. Denn die Erfahrung, die die Jugendlichen dabei machen ist: Dass dieses Dorf überall ist und dass es kein Entrinnen gibt. Die Großstadt ist zwar auch als ein ganz ferner Fluchtpunkt da, aber keiner von ihnen schafft es nach dort. Es gibt keine Bewegung dorthin. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als sich in ihrer Subkultur zusammenzurotten und diese als entferntestes Gegenmodell zur dörfli-
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chen Gesellschaft zu nutzen; und damit auch ihre maximale Ablehnung zu zeigen. Das unterscheidet sich auch insofern von der Großstadt, dass die Energie, die sich dabei entfaltet, hier eine viel stärkere ist, denn es gibt kein anderes Ventil dafür. Die Art und Weise, wie sie herumlaufen, wird permanent kommentiert und in Frage gestellt. Es gibt keine Nische, in die sie sich flüchten könnten. Die Drogerie ist dafür natürlich auch der Brennpunkt. Ich habe das einmal als säkularen Beichtstuhl bezeichnet, spielen doch die Kirche und die Religion eine große Rolle. Diese Drogerie entspricht sozusagen dem weltlichen Gegenstück; denn allein durch das, was man einkauft, weiß der Drogist, wie es um einen bestellt ist. Wenn man anfängt, Pampers zu kaufen, dann weiß man: Da ist jetzt ein Kind in der Familie. Oder wenn man Kondome kauft: Ah, der oder die wird wohl bald Sex haben. Das wird natürlich weitererzählt und so wird das dann Teil des Dorfgesprächs. Da kommt die soziale Kontrolle einfach über die Waren, die man kauft, unausgesprochen mit hinein. Man muss also nicht einmal etwas sagen und doch weiß jedermann schon Bescheid. Das gilt aber auch umgekehrt: Bei dem Ehepaar im Buch ist es so, dass Hard, der Drogist, einige Affären hat, was in so einem Dorf natürlich sehr schwierig geheim zu halten ist. Es spricht sich herum und er gerät irgendwann in ein Geflecht, das er selbst nicht mehr kontrollieren kann. Gleichzeitig gibt es hier diesen wegbrechenden Mittelstand, dem er angehört. Der manifestiert sich in seiner Drogerie. Sein Kampf richtet sich dann gegen Schlecker, der die Filialen auf dem Land aufkauft und ihm Konkurrenz macht. Das ist wiederum die Globalisierung. Deshalb holt er seine Frau ins Unternehmen mit rein, weil er merkt, dass er selbst die Kunden nicht mehr ansprechen kann. Es sind nämlich die Frauen, die er braucht, um das Geschäft aufrecht zu erhalten. Er richtet sich in seinem Kampf gegen Schlecker auch gegen die Welt. So stellt sich gewissermaßen dieses Dorf als Ganzes gegen die Außenwelt. Weiland: Häufig wird ja auch von der Stadt als Dorf gesprochen. Ist es denn vorstellbar, dass Großstädte nichts anderes als große Dörfer sind? Oder fungiert hier möglicherweise das Dorf eher als eine Art Modell, um größere Zusammenhänge mit einfachen Mitteln verständlich zu machen? Brandt: Man muss nur einmal den Fokus oder die Perspektive verschieben, dann ist Berlin natürlich auch provinziell. Von New York aus gesehen ist Berlin klein und ein Dorf. Berlin gliedert sich ja auch in Stadtteile, die wiederum dörflich funktionieren. Man begegnet sich dort. Und ich weiß auch aus meiner eigenen Erfahrung, wie ungern man den Stadtteil verlässt. Man bleibt da unter sich. Natürlich gibt es eine andere Identität, die auf einen selbst zurückwirkt. Der Kosmos ist ein anderer. Aber trotzdem kriegt man das Dörfliche auch in der Stadt zu spüren. Je kleiner die Stadt ist, desto mehr muss man eben aufpassen, was man sagt, welche Feindschaften man sich leisten kann und welche nicht. Meine Eltern hatten auch ein Geschäft
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auf dem Dorf, keine Drogerie. Aber bei uns gab es immer die Ansage: Das sind Kunden von uns. Also jeder ist ein potenzieller Kunde und mit dem darf man sich das nicht verscherzen. Das ist etwas, das man in der Großstadt nicht hat, weil sich das nicht so konzentriert. Aber dieses Grundprinzip – man begegnet sich im Leben zweimal – ist letztendlich doch etwas, das sich auf größere Orte übertragen lässt.
Begeisterung und Abscheu Die Bauernschaft und das bäuerliche Leben im ukrainischen Intellektuellendiskurs vom 19. Jahrhundert bis Anfang des 21. Jahrhunderts T ETIANA P ORTNOVA
Die Geschichte der Vorstellungen vom Dorf ist ein zwingender Bestandteil der Forschung zur Bauernschaft. Bereits Anfang der 1970er Jahre konstatiert Teodor Shanin: Was die Bauern sind, kann nur verstehen, wer verstanden hat, was die gebildeten Menschen über die Bauernschaft denken und dachten, und warum sie das tun (vgl. Shanin 1990: 70). Wichtig ist das insbesondere deshalb, weil die meisten der für die Forscher zugänglichen Dorfbeschreibungen ausgerechnet von außen stehenden Beobachtern erstellt wurden; diese übertrugen notwendig bestimmte Erwartungshaltungen auf die Welt der Bauern, bewerteten diese und formulierten die Stereotype, die dauerhaft deren Wahrnehmung prägten. Die Ukraine ist ein interessantes Beispiel, an dem man die Wahrnehmung der Bauernschaft in einer Gesellschaft beobachten kann, die bis heute einen ausgeprägten ruralen Charakter hat, und erst jetzt im Begriff ist, eine Urbanisierung zu vollziehen. Dabei handelt es sich um eine Gesellschaft, deren bäuerliche Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer gezielten gewaltsamen Demontage ausgesetzt war.
D AS 19. J AHRHUNDERT : »D IE B AUERNSCHAFT EIN UND ALLES «
IST UNSER
Die Bauernschaft hat im ukrainischen Denken und der ukrainischen Kultur des 19. Jahrhunderts eine Sonderstellung, die aus der spezifischen Struktur der ukrainischen Gesellschaft im russländischen Imperium resultiert. Diese beschreibt man häufig als
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Gesellschaft, die ihre Eliten verloren hatte: Sie hätten sich überwiegend assimiliert, votierten für die Loyalität zum Imperium und für die hohe russländische Kultur samt der russischen Sprache als Grundlage für die eigene Identität. Ein weiteres Spezifikum war der nicht-ukrainische Charakter der Städte – da dominierten die russische, die jüdische und die polnische Kultur. Die in den Jahren 1820 bis 1830 aufkommende, junge, ukrainische nationale Bewegung, auf der Suche nach einem Halt für ihre Aktivitäten, fand diesen gerade in der Bauernschaft, mehr noch, sie entdeckte die Bauernschaft für sich als den einzigen Träger von spezifisch ukrainischen, ethnischen Merkmalen. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieb Mychajlo Hruševs’kyj, ein führender Historiker und künftiges Oberhaupt der ersten Regierung der Ukrainischen Volksrepublik (im Jahr 1917), die Stimmung im 19. Jahrhundert folgendermaßen: »In den langen Stunden unseres Dahinvegetierens im Dämmerzustand wiederholten wir immer wieder, dass in der Bauernschaft und nur in der Bauernschaft die Zukunft der ukrainischen Renaissance und die Zukunft der Ukraine überhaupt beschlossen ist. Im Verlauf eines ganzen Jahrhunderts waren Ukrainertum und Bauerntum gleichsam Synonyme. Seit der Zeit, als alle anderen Bevölkerungsgruppen ihre Nationalität preisgaben, schöpfte man aus ihm das ganze Material für den nationalen Aufbau, auf ihm ruhten alle Erwartungen.« (Hruševs’kyj 1992: 39)
Insbesondere im Rahmen der nationalen Ideologie etablierte sich auch das schmeichlerische Bauernbild, das die ukrainische Kultur des 19. Jahrhunderts dominierte. Insofern von der Bauernschaft zu sprechen, bedeutete, vom ukrainischen Volk selbst zu sprechen, schienen Kritik und Skepsis hier unangebracht. Ein ähnliches Verhältnis ist für alle nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts typisch: Damalige Bauernbeschreibungen spiegeln nicht so sehr die realen Vorzüge wieder, wie sie eine Wunschvorstellung von der eigenen Nation entwarfen.1 Dies
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Die Forschung ist sich darin einig, dass in den Debatten über die Bauernschaft im 19. Jahrhundert vor allem die Selbstwahrnehmung und das Bild der eigenen Nation verhandelt werden. Beispielsweise bemerkt Emi Wyngaard, dass sich der Bauer in Frankreich seit der Epoche der Aufklärung als Franzose erwies, und dass die um die Bauern herum ausgebildeten Bilder und Ideen auch für die gegenwärtigen Konzeptionen der französischen Identität zentral blieben (vgl. Wyngaard 2004: 13). John Gagliardo stellt die Ähnlichkeit von Vorstellungen des »typischen Bauern« und des »typischen Deutschen« fest (vgl. Gagliardo 1969: 149). Allerdings ist die Bauernschaft besonders für die Nationen wichtig, die ihren eigenen Staat und ihre eigene Elite verloren haben (vgl. Hroch 1985).
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führte unweigerlich zur Idealisierung der bäuerlichen Welt und zur Ausbildung eines eigentümlichen »Volkskultes« – nicht von ungefähr charakterisiert man das ukrainische Denken des 19. Jahrhunderts als Narodniki-Denken. Das ukrainische Denken des 19. Jahrhunderts wiederholte zwei paradigmatische Entwicklungsstufen, die allgemein für die nationalen Bewegungen in Mittel- und Osteuropa charakteristisch sind. Die ersten, die das ukrainische Dorf zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschrieben, waren Ethnografen und Philologen – für die Generation der Romantik fungierte das Dorf in erster Linie als Bewahrer von einer nicht assimilierten nationalen Kultur. Die damals auf das Dorf gerichtete Aufmerksamkeit war extrem selektiv: Die Suche nach dem »authentischen Volk« verlangte in erster Linie ein Interesse an der Volksdichtung sowie an Elementen der Alltagskultur mit Volkskolorit. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurden »die schönsten« Volksweisen der »slawischen Welt«, die malerischen bemalten Katen und die schöne Volkstracht zu Erkennungssymbolen des Ukrainischen (Petrov 2013: 1178-1181). Namentlich der Bauer wurde zum Prototyp des ukrainischen Nationalcharakters mit den Hauptmerkmalen der Freiheitsliebe, der demokratischen Einstellung und seiner ausgesprochen poetischen Begabung. Da ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt die Grundsteine der modernen ukrainischen Kultur gelegt wurden, verbleibt dieser ethnografische Romantismus für immer in ihrem Arsenal der Differenzierungsmerkmale. Ebenfalls bleibt das schmeichelhafte Bild der Bauernschaft, das im Rahmen der frühen nationalen Ideologie entwickelt wurde, weiterhin bestehen. Seit den 1860er Jahren macht die ethnografische Auseinandersetzung mit dem Volksalltag einem praktischen Narodniþestvo Platz, auf der Suche nach Möglichkeiten, den materiellen Wohlstand des Dorfes zu verbessern. Die Generation von ukrainischen Autoren zur Zeit des Positivismus widmet erstmals den dörflichen Problemen besondere Aufmerksamkeit, um verärgert festzustellen, dass die in den Büchern besungene Bauernschaft sich in Wirklichkeit gegen jede nützliche Neuerung auflehnt, die schwarze Magie fürchtet, Alkohol missbraucht, und – was das unangenehmste für die Vertreter der nationalen Bewegung war – keinerlei Bewusstsein von seiner nationalen Zugehörigkeit hat. Das vorausgegangene Bild vom Bauern als innerer Halt nationaler Besonderheiten machte dem Bild vom zurückgebliebenen »kleinen Bruder« Platz, dem von seinen gebildeten Mitbürgern geholfen werden muss. Dennoch erteilte man der schmeichelhaften Sichtweise auf die Bauern keine Absage. Im Gegenteil, ausgerechnet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliert sich unter den Befürwortern der ukrainischen Bewegung ein eigener ethischer Standard, der den patriotisch eingestellten Ukrainer dazu verpflichtet, als Verteidiger und Anwalt der bäuerlichen Welt aufzutreten. In den Worten eines in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannten Publizisten, Mychajlo Drahomanov, heißt es: »darüber, dass die Knechte Faulpelze und Säufer sind, sprechen zur
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Genüge auch die Adligen« (Drahomanov 1970: 403). Auf die tiefe Dissonanz zwischen dem realen und dem idealisierten Bauern reagierte das ukrainische Denken mit der Ausbildung eines eigentümlichen Dualismus: Das Wissen von der Unvollkommenheit einzelner Bauern warf keinen Schatten auf das allgemein tadellose Bild vom einfachen Volk. Die ukrainischen Schriftsteller neigten dazu, alle negativen Seiten des bäuerlichen Alltags ausschließlich als Resultat der jahrhundertelangen Knechtschaft und ökonomischer Diskriminierung zu deuten, die Bauern selbst stellte man als Opfer ungünstiger Umstände dar. Im Volk sahen sie das Gold, das sich zwar als verschmutzt entpuppt hatte, aber trotzdem Gold blieb. Wichtige Charakteristika des Bauern-Diskurses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren außerdem zum einen der Ruralozentrismus und zum anderen seine antimodernistische Ausrichtung. Mit der Zeit wurde das Bauernthema fast zum einzigen Thema in Literatur und Malerei, der Bauer blieb ihr Hauptheld; Versuche, über andere Themen zu schreiben, galten als Mangel an Patriotismus. Der Antimodernismus trat in der Idealisierung des dörflichen Lebens zu Tage, in der Gegenüberstellung der dörflichen Vorzüge gegenüber der verdorbenen demoralisierten Stadt und im Missfallen gegenüber allem, was die traditionelle, dörfliche Struktur zerstört – vom Kapitalismus bis zur russischsprachigen Schule. Ein positives Verhältnis zur Bauernschaft wurde für das ukrainische Denken zu einem spezifischen memento, einer ungeschriebenen Regel, die es lange nicht erlaubte, die Ideen der Narodniki kritisch zu hinterfragen. An der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert tauchen erstmals (etwa in den Erzählungen von Vasyl Stefanyk und von Gryz’k Grygorenko – Aleksandra Sudovšþikovaja-Kosaþ’s Pseudonym) Beschreibungen der Bauernschaft auf, die sie als dunkle, desorientierte Masse zeigen, die in einer archaischen Welt lebt; dies wiederum empfanden viele Leser als schmerzhaft. Für die ukrainische Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts war die Bauernschaft mehr als bloß das Material, um eine nationale Kultur zu erschaffen, und als das Objekt aufklärerischer Bemühungen. Die Bauernschaft war die große Hoffnung, die man nicht in Zweifel ziehen durfte. Der Dichter Pavlo Hrabovs’kyj formulierte dies 1893 in einem Brief aphoristisch: »Unsere Kraft wurzelt im Volk, insofern das Volk eigentlich auch das einzige ist, was wir haben« (Hrabovs’kyj 1985: 190).
1905-1920 ER J AHRE : I LLUSION ZUNICHTE
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Das schmeichelhafte Bild der Bauernschaft, das auf die Narodniki zurückgeht, nahm zu Beginn des 20. Jahrhunderts ernsthaften Schaden. Im Verlauf der Revolutionen in den Jahren 1905-1907 und 1917-1918 verkündete das Dorf, zuvor passiv
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und abhängig, zum ersten Mal in der ukrainischen Geschichte seine Interessen und Rechte – und zwar auf extrem aggressive Weise. Aus der ganzen Vielfalt neuer politischer Losungen schien den Bauern die ihnen nächste und verständlichste »Prügel den Herrn!« zu sein – in der Regel machte man dabei keinen Unterschied zwischen Gutsherrn, Beamten und Lehrern.2 Aus dem Bauer, vormals dem »kleinen Bruder«, der das Mitleid der gebildeten Leute nötig gehabt hatte, war in den Zeiten der bürgerlichen Konflikte ein unbarmherziger Rächer für die frühere Unterdrückung geworden. Die ersten, für die Städter alarmierenden Anzeichen waren Massenplünderungen, Ermordungen der Gutsbesitzer und das Verprügeln der dörflichen Intelligenz im Jahr 1905. Das Umschlagen der Beziehung gibt Mychajlo Kocjubyns’kyjs 1906 geschriebene Erzählung LACHEN gut wieder. Die Familie eines oppositionellen Anwalts, eines Menschen mit liberalen Überzeugungen, der sich für einen Verteidiger der Volksinteressen hält, ist zur Zeit des städtischen, von konservativen Kräften unter dem Banner der Verteidigung der alten Ordnung organisierten Pogroms gezwungen, sich im eigenen Haus zu verstecken. Die Menge auf den Straßen, aufgeheizt von Losungen wie »Schlagt die Demokraten!«, fällt unbarmherzig über Vertreter der Bildungsschicht her. Eine vorübergehende Lehrerin erzählt von den unlängst von ihr im Dorf beobachteten Strafaktionen an den Gutsbesitzern (als die wenigen unversehrten gezwungen wurden, über Stunden vor den Bauern im Dreck zu knien und um Gnade zu flehen) und stellt fest, dass die Kämpfe in der Stadt auch jetzt nicht von Rüpeln oder niedrigen Elementen veranstaltet würden: »Und wissen sie, wen ich in der Menge gesehen habe? Das Volk... Die Bauern... in ihren grauen Kitteln, hohen Stiefeln, die einfachen, gesetzten Getreidebauern... Es waren die stillen, ruhigen, arbeitsamen Leute aus unserem Dorf...« (Kocjubyns’kyj 1974: 240)
Vollkommen demoralisiert, versucht der Anwalt bei dem einzigen Ruhe bewahrenden Menschen Unterstützung zu finden, bei seiner Bediensteten, der alten Njanja und Köchin in seinem Haus, die seit Urzeiten von der Arbeit im Dorf freigestellt ist. Aber auf sein erschrockenes »Sie prügeln die Herren« antwortet sie ihm zügellos lachend: »Ha-ha! ... Man prügelt sie... und man soll sie ruhig prügeln... Gott sei Dank, endlich haben es die Leute geschafft...« (ebd.: 244). Auf tendenziell ähnliche Weise – als grausame Revanche des Dorfes für die zuvor erlittene Diskriminierung gegenüber der wohlhabenden Stadt – nahmen die Zeitgenossen während der Revolutionen und des Bürgerkriegs viele Phänomene
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Das Wort pan [Herr] bezeichnete in der Sprache der einfachen ukrainischen Bauern nicht nur die Gutsbesitzer, sondern aus der Perspektive der Bauern alle untätigen, begüterten und mit der städtischen Kultur verbundenen Menschen.
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wahr. Eines der auffälligsten Beispiele war das Phänomen der Machnovšþina – einer Massenbewegung im Süden der Ukraine in den Jahren 1918-1921, benannt zu Ehren ihres Anführers Nestor Machno. Die Bewegung vereinte anarchistisches Gedankengut mit einem ökonomischen Programm, das die Interessen des Dorfes verteidigte und erfolgreich mit den ukrainischen politischen Parteien und den Bolschewisten um den Einfluss auf die Bauern konkurrierte. Obschon die gewöhnlichen bäuerlichen Anhänger von Machno sich wenig in der Politik auskannten und eher von der Möglichkeit angezogen wurden, die städtischen Läden auszurauben, die dem Dorf unbekannten Glasvitrinen einzuschlagen und die städtischen, schmucken, nach Parfum duftenden Frauen zu vergewaltigen. Ähnliche Stimmungsbilder verzeichnete der ukrainische Schriftsteller Valerian Pidmohyl’nyj in der Erzählung DIE DRITTE REVOLUTION, die der Einnahme der Stadt Ekaterinoslav (dem heutigen Dnipro im Südosten der Ukraine) durch die Truppen von Machno 1919 gewidmet ist. Pidmohyl’nyj hielt einen Dialog zwischen den in einen Stadtteil einfallenden Bauernburschen der Truppe von Machno und einem darin lebenden, unverhofft der Gefahr ausgesetztem Städter fest: »– Sie kommen vom Dorf? – Vom Dorf, antwortete unwillig der Zottelige. – Was ist ihr Euer Programm? Die Machno-Leute blickten sich um. – Unser Programm ist, die Herren zu vernichten. – Und dann? – Sobald wir sie vernichtet haben, sehen wir weiter.« (Pidmohyl’nyj 2012: 232)
Infolgedessen entwickeln die gebildeten ukrainischen Schichten, die zuvor Mitleid mit dem idealisierten einfachen Volk hatte, eine Angst vor der Bauernschaft als einer wilden Elementargewalt; die Stadt als Raum der Kultur steht nun dem Dorf als Träger archaischer Wildheit gegenüber. Die Zuspitzung des ökonomischen Konfliktes zwischen Stadt und Dorf während des Bürgerkriegs übte auf die Wahrnehmung des Dorfes großen Einfluss aus. Innerhalb der städtischen Bevölkerung, die erstmals mit einem jähen Mangel an Nahrungsmitteln in Berührung kam, wuchs die Feindseligkeit gegenüber dem Dorf – das zunächst satter, wohlhabender lebte als die Stadt. Erinnerungen und Literatur sind voll von Erzählungen darüber, wie der Hunger die Städter zwingt, aufs Dorf zu fahren, um die letzte Habe gegen Brot, Butter und Fleisch einzutauschen; diese Geschichten sind auch voller Ärger. In der Stadt verstärkt sich die Ansicht vom Dorf als dem Fremden und Feindlichen – diese Wahrnehmung war für die sowjetische Klassenpropaganda ein fruchtbarer Boden. Das Dorf brachte den Städten gleichfalls Ablehnung entgegen – alle Macht, die von der Verteidigung der Interes-
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sen der Bauern als Organ der Masse auf dem Land sprach, praktizierten aktiv die Beschlagnahmung von Lebensmitteln. Die Verärgerung seitens der Bauern teilten auch die Vertreter der politischen Hauptkräfte, die anfangs für die Gründung eines autonomen Gebietes im russländischen Imperium gekämpft hatten, und später, in den Jahren 1917-1921, für einen unabhängigen ukrainischen Staat. Die Bauern erwiesen sich als schwieriger und zuweilen unangenehmer Verbündeter. In der treffenden Formulierung von Włodzimierz MĊdrzecki erscheinen die Bauern zugleich als Fundament und als Ballast der modernen Nation (vgl. Medžec’kyj 2001: 59). Ursprünglich legte die ukrainische Bauernschaft gegenüber der ukrainischen Bewegung eine beeindruckende Unterstützung an den Tag: Die Bauern sympathisierten mit der Idee eines autonomen Gebietes, traten für die Ukrainisierung der Administration und der lokalen Schulen ein, füllten die Reihen der ukrainischen Armee auf. Allerdings wurden sie in erster Linie von pragmatischen Interessen angetrieben. Von »ihrem« Staat erwarteten die Bauern die Befreiung aus der sozialen Knechtschaft und eine positive Lösung der Bauernfrage. Als sie das Erwartete nicht erhielten, waren sie bereit, die Nationalregierung der Willkür des Schicksals zu überlassen und liefen in die Armee der lokalen Atamane über oder ließen sich von der bolschewistischen Propaganda verführen. Ukrainische Beobachter verzeichneten mit Bedauern einen »Bolschewisierungsprozess« der ukrainischen Truppen; die aus der Bauernschaft rekrutierten Soldaten wollten nicht kämpfen, sondern eilten nachhause, um »der Herren Grund und Boden aufzuteilen« (sie fürchteten, zu spät kommen und nichts mehr zum Teilen zu haben; Majstrenko 1985: 25). Die grundsätzlichen Vorbehalte der Bildungsschicht gegenüber der Bauernschaft manifestieren sich in der Anschuldigung, es fehle ihnen an dem nötigen Bewusstsein und an Handelsgeschick, ferner seien sie nicht imstande, sich zu einem Verständnis staatlicher Interessen aufzuschwingen. Der populäre Schriftsteller und Politiker mit sozialistischer Anschauung, Volodymyr Vynnyþenko, schrieb im November 1918 bekümmert: »Wir haben keine Nation, sondern ein dunkles, von allerlei historischen Narkosemitteln stumpfsinniges Volk. Aus ihm wollen wir eine Nation machen, es selbst schielt auf unsere Manipulationen und grummelt böse vor sich hin […]. Auch vor einem Jahr waren unsere Onkelchen in grauen Mänteln die wichtigste Grundlage und Stütze unserer Staatlichkeit. Das waren recht wackelige Stützen. Der bolschewistische imperialistische Hausbock3 brauchte nicht lange zu nagen; sie fielen, von der Agitation des Kacap’schen4 Maximalismus zerfres-
3
Hier spielt Vynnyþenko metaphorisch auf die Langhornböcke an, die sich von Holz ernähren und für jedes Holzhaus Verderben bringen.
4
Kacap ist i.d.R. eine überwiegend in der Ukraine gebräuchliche pejorative Bezeichnung für Russen – A.d.Ü.
242 | TETIANA PORTNOVA sen, schnürten dem Zentralrat und sich selbst die Luft ab […]. Die bolschewistischen Hausböcke nagen furchtbar freundlich und energisch an unseren armen schwachen ›Stützen‹« (Vynnyþenko 1980: 309).
Ausgerechnet die neue Generation der ukrainischen Intelligenz, deren Jugend in den Jahren 1917-1921 während der Kämpfe für die ukrainische Eigenstaatlichkeit verstrichen war, distanziert sich massenweise von den ehemaligen Vorstellungen vom Dorf der Narodniki. Den Impuls für ein Überdenken gaben die qualitativ neuen Bedingungen der Entwicklung der ukrainischen Kultur. Im Zuge der Aktivitäten der ukrainischen Regierungen 1917-1919 und der folgenden sowjetischen Politik der Ukrainisierung eröffneten sich nun für die ukrainische Sprache vordem verschlossene, mit der Stadt assoziierte Sphären: höhere und mittlere Bildung, Theater, Bibliotheken. Die erste, partiell in ukrainisierten Städten aufgewachsene Generation verband das Ukrainische bereits nicht mehr ausschließlich mit dem Dörflichen. Die Anziehungskraft und die Komplexität des Stadtlebens öffneten sich auch für eine Unzahl aus dem Dorf Zugereister, die gekommen waren, um die zuvor sozial und kulturell fremden Städte zu vereinnahmen. Die Entwicklungswege der Neuankömmlinge vermittelt treffend Valerian Pidmohyl’nyjs Roman DIE STADT, veröffentlicht im Jahr 1928: Ein junger Mann vom Dorf, der in der Hoffnung, in die Universität aufgenommen zu werden, nach Kiew kommt, ist anfänglich gegenüber den verzärtelten Städtern feindlich eingestellt und ob des städtischen Lebenstempos irritiert, aber dann entdeckt er die Reize und Möglichkeiten des Stadtlebens für sich. Er bleibt dort, um sich als Schriftsteller zu verwirklichen. Die politischen und ästhetischen Präferenzen der neuen Intelligenz waren unterschiedlich. Für die Autoren des Neoklassizismus war die Möglichkeit entscheidend, die antike Poesie ins Ukrainische zu übersetzen und über westliche Philosophie zu streiten, und nicht nur an der Volksdichtung orientierte Stilisierungen oder Lehrbücher für die Bauern zu verfassen. Für einige, wie Mykola Chvylev, war die feindliche Gesinnung der Bauernschaft gegenüber mit einer Affinität zum Marxismus und dem Bestreben verbunden, eine ukrainische proletarische Kultur zu begründen. Unabhängig von der Position waren allerdings das Desinteresse an der Bauernschaft sowie das Bemühen um eine moderne und städtische ukrainische, von den Sentiments der Narodniki freie Kultur für die junge Bildungsschicht charakteristisch (vgl. Pavlyþko 1999). Ebendiese Generation schrieb als erste explizit darüber, dass die frühere Fokussierung auf die Bauernschaft die ukrainische Kultur in den Augen vieler gebildeter Leute als provinziell und ästhetisch nicht besonders attraktiv hatte erscheinen lassen. Das intellektuelle Projekt der städtischen Moderne blieb aber unrealisiert, da praktisch alle bedeutenden Vertreter der ukrainischen Intelligenz den sowjetischen Repressionen in den 1930er Jahren zum Opfer fielen.
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E NDE
DER 1920 ER BIS ANFANG DER 1930 ER J AHRE : DIE GROSSE GEWALTSAME T RANSFORMATION DES D ORFES Mit der Etablierung der sowjetischen Macht und der Gründung der Ukrainischen Republik als Bestandteil der UdSSR beginnt die von der staatlichen Propaganda errichtete und aufrechterhaltene Sichtweise auf die Bauern zu dominieren; seit Ende der 1920er Jahre ist diese Ansicht auch in der Öffentlichkeit die einzig mögliche. Sie beruht auf einigen Grundthesen: – der Gleichsetzung des Dorfes mit der alten, überlebten Welt, während sie die Zukunft des Landes explizit mit dem industriellen Aufbau verbanden. Die Traditionsverbundenheit des Dorfes, von den national-orientierten, ukrainischen Autoren des 19. Jahrhunderts so geschätzt, wurde qualitativ umgewertet und als Anzeichen von Müdigkeit und Starrheit interpretiert. – der Bewertung der Bauernschaft aus klassischer und ökonomischer Perspektive. Einzelne Pachtländer der Bauern sah man als für den Staat nicht einträglich an, und der Bauer selbst erschien als unzuverlässiger Bürger in der neuen Gesellschaft. Lenins bekannte Losung von der Doppelnatur des Bauern erklärt diese Unzuverlässigkeit: der Bauer ist Arbeiter und Eigentümer in einer Person. Insbesondere der Eigentümerinstinkt verschließt dem Bauern die Türen zur neuen sozialistischen Gesellschaft – darin gibt es keinen Platz für einen Menschen, der vom eigenen Pachtland und Knechten träumt. Aus der Losung von der »Zweigesichtigen Natur« der Bauernschaft leitet sich eine Praktik ab, die Bauernschaft in ›gut‹ und ›schlecht‹ einzuteilen: wenn der dörfliche Hungerleider durch aktive, läuternde Arbeit vermochte, wie man damals sagte, zum »wahren Bruder« des städtischen Proletariats zu werden, so war der wohlsituierte Bauer mit Lohnkraft, der mit überzähligem Brot handelte ein Klassenfeind, ein konterrevolutionäres Element und ein unverbesserlicher Komplize der Bourgeoisie. Sogar während der Neuen Ökonomischen Politik zu Beginn der 1920er Jahre, die dem Dorf auf gewisse Art Zugeständnisse machte, blieb die Beschreibung der vermögenden Bauernschaft stilistisch extrem aggressiv und militant: »...die Kulaken sind in ihrem tiefsten Innern reaktionär...ein Atavismus der alten, noch vorkapitalistischen Geschichtsperiode. Sie sind zur Vernichtung verurteilt... Gegen sie gilt es auf ganzer Linie zu kämpfen. Bekämpfen muss man sie nicht so sehr, weil sie eine Bedrohung für den sozialistischen Aufbau darstellen, sondern, weil sie der Entwicklung im Dorf im Wege stehen« (Gordeev 1925: 193-194).
Die ukrainische Bauernschaft, insbesondere die vermögende, erschien laut der offiziellen Propaganda nicht so sehr als Klassen-, sondern eben als politischer Feind der Sowjetmacht – als Stütze der Parteien, die die ukrainische Staatlichkeit unter-
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stützten oder einfach die Stärke der Gegner der Sowjetmacht. Diese Beziehung visualisierte treffend ein Plakat aus dem Jahr 1920: »Kulak, Bandit und Rote Armee«, das einen abstoßend aussehenden, auf den Schultern eines Anhängers der Petljura-Bewegung sitzenden dicken Bauern in ukrainischer Nationaltracht zeigte, der Vareniki mampfte. Ein ähnlich eigentümliches Bild der Bauernschaft wurde hauptsächlich mit dem Ziel geschaffen, zunächst die Massenbeschlagnahmung von Lebensmitteln in den Dörfern zu legitimieren, um dann das Projekt einer radikalen Reorganisation der Landwirtschaft, durchgeführt im Interesse des Staates, erneut in Angriff zu nehmen. Zum Höhepunkt der Umsetzung einer solchen Beziehung in die Praxis wurde die Zwangskollektivierung und die Liquidierung der Kulaken als Klasse, die faktisch in einen offenen Krieg mit dem Dorf mündete und zur künstlichen Hungersnot der Jahre 1932/33 führte. Die Frage, wie diese Propaganda von den gebildeten Leuten in der Ukraine an der Schwelle der 1920er zu den 1930er Jahren aufgenommen wurde, ist wenig erforscht – in den überlieferten Zeugnissen ist es schwer, die ritualisierte Rhetorik von tatsächlichen Überzeugungen zu unterscheiden, schließlich standen alle Zeitzeugen unter höchstem ideologischen Druck. Die Ethnografen berichten von einem Staatsauftrag, die Errungenschaften des neuen Dorfalltags zu erforschen, und Anweisungen, das Interesse an »dem finstern Aberglauben« zu vernachlässigen. Folglich hatten sich die Schriftsteller auf die Erfolge der »Vermischung von Stadt und Dorf« zu konzentrieren. Ein exemplarisches Beispiel dafür ist die literarische Miniatur von Arkadij Ljubþenko DAS BUCH, DAS ICH NIE SCHREIBEN WERDE aus dem Jahr 1929: Die Idee war es, einen Bauern darzustellen, der, nachdem er die Fabriksirene gehört hat, sich für immer in sie verliebt, in die Fabrik geht und zu einem bemerkenswerten Spezialisten wird: »Und er freut sich. Und alle freuen sich. Und alle ringsum freuen sich schrecklich. Und zum Schluss hört man, wie man beginnt, die ›Internationale‹ zu singen« (Ljubþenko 2005: 462). Doch jeder Versuch, von den Interessen des Dorfes als gesondertem Problem zu sprechen, wurde zum Anlass für eine Anklage wegen »ukrainischen bourgeoisen Nationalismus« genommen. Es ist davon auszugehen, dass die Propaganda einer spezifischen Sichtweise des Dorfes erfolgreich war: ein Teil der Vertreter der neuen Generation war dazu bereit, das alte Dorf als Überrest der Vergangenheit anzusehen, die transformiert werden sollte – sowohl die wirtschaftliche Komponente als auch seine geistige Welt. Ein prägnantes Beispiel für die Analogie des »neuen Dorfes« wurde Oleksandr Došzenkos Film ERDE aus dem Jahr 1930; es ist eine der ersten Geschichten über Kollektivierungen, die ukrainische Filmemacher erzählten und wurde zu einem Musterbeispiel. Später stellte man den Konflikt zwischen Gegnern und Befürwortern der Kollektivierung immer genauso dar: als Konflikt zwischen der alten, inerten, kleinkrä-
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merischen Welt und den hochwohlgeborenen Enthusiasten, die das neue Leben ins Dorf brachten. Und obwohl der Hauptheld im Film von der Hand der gekränkten Dorfeigentümer getötet wird, überzeugt seine Sache – die alte Welt muss der neuen weichen. Viele Zeitgenossen schrieben von dem beeindruckenden Einfluss der Propaganda – sie führte häufig tatsächlich zur Überzeugung, es sei notwendig, »dieses rohe, verlotterte Stück Dorf zu nehmen und aus ihm sowjetische Kollektivisten zu machen« (Epik 1971: 317), und sei es mit Gewalt. Vasilij Grossman hat in dem Roman ALLES FLIEßT... diesen Zustand aus dem Munde seiner Heldin, einer Aktivistin und an der Entkulakisierung beteiligten als spezifische Form der Hexerei beschrieben: »Die Worte begannen auch auf mich zu wirken, ich war ja noch ein ganz junges Ding, in der Versammlung aber gibt es Spezialkonstruktionen, und im Radio wird es gesendet und im Kino gezeigt, und die Schriftsteller schreiben, und Stalin selbst, alle sagen das eine: ›Kulaken – Parasiten, sie verbrennen das Brot, sie morden Kinder.‹ Und man erklärte geradeheraus: die Wut der Massen gegen sie aufpeitschen, sie als Klasse vernichten, die Verfluchten... und ich wurde immer mehr verzaubert, es schien: das ganze Leid kommt von den Kulaken, und wenn man sie vernichtet, dann wird gleich für das Bauerntum eine glückliche Zeit anbrechen« (Grossman 1989: 75).
Einen ähnlichen, alles erfassenden Einfluss beschrieb auch Arkadij Ljubþenko in seiner Erzählung SEIN GEHEIMNIS aus dem Jahr 1943: »Der gesamte Agitations- und Propagandaapparat arbeitete exakt, um zu beweisen, dass der dörfliche Konservatismus die Schuld an allem trägt. Ebendieser Konservatismus weigert sich, die neuen Ideen kollektivistischer landwirtschaftlicher Mittel anzunehmen, und beharrt auf einem blinden, zerstörerischen Chaos« (Ljubþenko 1999: 418).
Zur gleichen Zeit empfand ein bedeutender Teil der gebildeten Leute, besonders derjenigen, die die dörfliche Situation kannten, tiefes Mitleid mit der zerstörten Dorfwelt und ihren Vertretern; man erkannte, dass in einem Jahrzehnt die spezifisch dörfliche Kultur zerstört worden war, dass Millionen Bauern umgesiedelt wurden oder Hungers starben. Wie war es möglich, dass in einem sozialistischen Staat die Bauern massenweise starben, die immer das ganze Land ernährt hatten, und warum waren unter den Opfern so viele Kinder, die schließlich nichts mit dem Klassenkampf zu tun hatten – lautete der Refrain unzählige Briefe, die man aus ukrainischen Landen an die höheren Parteiorgane und Stalin persönlich Anfang 1930 schickte (vgl. Zvedennja 1990: 151-160). Die Informationen über die schreckliche künstliche Hungersnot in der USSR (Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik) veränderte in vielerlei Hinsicht in der ukrainischen Emigration, wie man über die
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Bauernschaft dachte: das Leiden des ukrainischen Dorfes ließ die unbewussten Vorwürfe ebenso vergessen wie den schwachen Rückhalt der ukrainischen Staatlichkeit. Die erschreckenden demografischen Verluste in den Dörfern nahm man in erster Linie als endgültige Untergrabung der ukrainischen nationalen Kräfte wahr.
M ITTE DER 1930 ER BIS 1950 ER J AHRE : DIE » POTEMKINSCHEN K OLCHOSEN « Mitte der 1930er bis 1950er Jahre machten sich in der Ukrainischen SSR erhebliche Konflikte zwischen dem Wissen über das dörfliche Leben, das von Mund zu Mund ging, und den Bildern vom Kolchosedorf, das von der offiziellen Propaganda übermittelt wurde, bemerkbar. Faktisch lag über dem Thema Dorf das Siegel der Verschwiegenheit, erzeugt durch das Verbot, über die tatsächliche Lage der Dinge zu sprechen (es genügt, sich an die Verbreitung des verlogenen Euphemismus »vorübergehende Schwierigkeiten mit Nahrungsmitteln« zu erinnern, der verwendet wurde, um die Hungersnot 1933-1934 zu beschreiben oder die kriminelle Verfolgung oder Beschuldigung wegen antisowjetischer Propaganda für den Versuch, über Hunger zu sprechen). Zu dieser Zeit war auch die Entwicklung der ukrainischen sowjetischen Ethnografie und der Soziologie des Dorfes unterbrochen – die Feldexpeditionen waren bis Mitte der 1940er Jahre faktisch unterbrochen, insofern die gewonnenen Daten nicht der offiziellen Propaganda entsprachen (beispielsweise stellte die letzte Expedition der Ethnografischen Kommission Anti-Kolchose-Folklore und Kehrreime über den Hunger fest). Zum künftigen Hauptobjekt ethnografischer Forschung wurden sorgfältig ausgewählte »fortschrittliche Kolchosen«. Auf der Ebene der Regierungspropaganda koexistierten zwei Hauptstrategien der Dorf-Darstellungen. Die erste und einflussreichere wurde zum Maßstab, um den Kolchosewohlstand im Film und in der darstellenden Kunst zu visualisieren. Genau zur Blütezeit der ukrainischen Kolchose spielt die Liebesgeschichte des populären Films TRAKTORFÜHRER aus dem Jahr 1939. Von der erfolgreichen Entwicklung des Kolchoselebens in der Nachkriegszeit zeugt der Film IN DEN STEPPEN DER UKRAINE (1952). Eines der bekanntesten Bilder seiner Zeit, BROT von Tatjana Jablonskaja, zeigt Berge von Brot und frohe Kolchosebäurinnen; es wurde zum visuellen Inbegriff des in der Kolchose herrschenden Überflusses – gemalt 1949, zwei Jahre nach der Hungersnot 1947 im ukrainischen Dorf.5
5
In den Jahren 1946-1947 herrschte auf ukrainischem Boden wieder, besonders im Süden und im Zentrum, eine Hungersnot; die dritte nach den Hungersnöten von 1921-1923 und
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Die zweite Strategie sah eine Beschreibung des Kolchoselebens im Format semiethnografischer, semistatistischer Übersichten vor, die auf Vergleichsparametern des vorrevolutionären dörflichen und des zeitgenössischen Kolchoselebens aufgebaut waren. Sie dokumentierten Verbesserungen auf allen Ebenen: Die Häuser im Dorf waren sauberer und wohnlicher, die Verwendung von Übermittlungstechnik war allgegenwärtig, die Kolchosebauern selbst waren gesünder und gebildeter, hatten ihre archaischen Riten zugunsten zeitgenössischer Freizeitformen abgelegt. Die Schöpfung einer derartigen Apologie des Kolchosealltags wurde zum Hauptinhalt von den Arbeiten an der ethnografischen Abteilung des kunstwissenschaftlichen Instituts für Folklore und Ethnografie der Akademie der Wissenschaften der USSR, gegründet im Juli 1944. Nicht zufällig avancierte die Erforschung der »neuen Kolchosefolklore« zum Lieblingsgenre der Ethnografie – Lieder über die Revolutionsführer, die Errichtung neuer Fabriken und Lobpreisungen der sozialistischen Arbeiterhelden. Gleichzeitig verbreitete sich im Denken der Massen ein qualitativ anderes Bild von der Kolchosebauernschaft; es war ein Bild, das vom Stigma der Rechtlosigkeit und der sozialen Diskriminierung zeugte. Die Kolchose als Ort der Schwerstarbeit für einen jämmerlich geringen Naturallohn. Eine Arbeit, von der man nie weggehen konnte – da die Kolchosebauern keinen Pass hatten, also auch kein Recht auf Freizügigkeit. Oleksandr Dovženko, der in seinem Tagebuch über die Möglichkeiten einer ehrlichen filmischen Darstellung des Dorflebens nachdenkt, schreibt am 6. November 1954: »Einen Film über das heutige Dorf zu machen ist unvorstellbar schwierig, wollte man ernsthaft von der Lebenswirklichkeit sprechen und nicht zugunsten der Beamten lügen... Schon allein das Äußere der Menschen gibt einem schwer zu denken. So man von Bekleidung und Behausung spricht. Auch das Aussehen der Menschen selbst ist nicht besonders erbaulich. Die Gesichter sind klug, weil die Leute in Wahrheit klug sind, aber da ist nichts als harter, erdrückender Alltag. Wie schwer ist doch das Heldentum der Arbeit für das Volk! Wie fern von Kommunismus. Wie eintönig und schwer es in unseren Dörfern zugeht. Sie erinnern doch immer noch an die Kolyma-Straflager« (Dovženko 2001: 473).
1932-1933. Die Gründe dafür waren die Dürre, die Nachkriegszerstörungen der Dörfer und die aktive Beschlagnahmung des Getreides aus den Kolchosen, um die Bedürfnisse der Industrie zu stillen, sowie die Nahrungsmittelhilfe für die Länder der UdSSR, des sogenannten Sozialistischen Lagers. Die Historiker sind uneins über die Zahl der Opfer, sie beziffern sie zwischen 100 Tausend und 2,8 Millionen (vgl. Veselova 2006: 118). Die Tatsache der Hungersnot wurde von den Machthabern geheim gehalten.
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Es ist kein Zufall, dass die erste, während der Tauwetterwelle von 1959 formierte Dissidentengruppe, eine Abspaltung der Union der Ukrainischen ArbeiterBauernschaft (Ukraïns’ka robitnyþo-seljans’ka spilka – URSS) mit Levko Luk’janenko an der Spitze, von den sozialen Problemen der sowjetischen ukrainischen Gesellschaft sprach: Unter den vorrangigen Problemen nannte man die rechtlose, halbsklavische Situation der Kolchosebauern: »Die URSS bewertet die derzeitige Lage der Bauern als unfrei und die Aussagen seitens der Propaganda über die hohe Materialversorgung der Bauern als dreiste Lüge« (Luk’janenko 1994: 32).
Die soziale Diskriminierung der Kolchosebauern bewirkte auch, dass sich in den Städten Bilder von ihrer kulturellen Zweitrangigkeit verbreiteten. Neben der offiziellen Überhöhung der dörflichen Bestarbeiterbewegung und der Apologie der Kolchosearbeit als Basis, um die Versorgung der Städte zu gewährleisten, war die kulturelle Geringschätzung der Kolchose weit verbreitet. Obschon ein solches Verhältnis für die Sowjetunion insgesamt charakteristisch war, erfuhr sie in der Ukrainischen SSR eine besonders schmerzliche Ausprägung, da dort die Differenz Stadt versus Land nicht nur eine kulturelle Konnotation, sondern auch eine ethnische hatte. Die alte Assoziation »ukrainisch-dörflich« ging über in »ukrainisch-kolchos«, und laut Zeugenaussagen riskierte der, der in der Stadt Ukrainisch statt Russisch sprach, folgende Reaktion: »Sprechen Sie wie ein Mensch, und nicht in der Kolchosesprache«.
1960 BIS 1980 ER J AHRE : DIE M ÖGLICHKEIT , IN DER ZU LEBEN ODER FAST WIE IN DER S TADT
S TADT
Ende der 1950er Jahre beginnen sich die dörflichen Lebensumstände selbst und auch die Möglichkeiten, darüber zu sprechen, qualitativ zu verändern. Dennoch bewirkte paradoxerweise die zeitweilige politische Liberalisierung der UdSSR nach Stalins Tod nicht, dass die Bauern für die ukrainische Gesellschaft zu einem zentralen Thema wurden. Während die Dorfprosa in der russischen Tradition eine neue Blütezeit erlebt, da Viktor Astaf’ev, Valentin Rasputin, Vasilij Šukšin erstmals Versuche unternahmen, über das Schicksal des Dorfes im 20. Jahrhundert Tacheles zu reden, blühte in der sowjetischen Ukraine wie ehedem der klassische »Kolchoseroman« und kündete vom prosperierenden Dorfleben. Zum Schlüsselthema des Nachdenkens über das Dorf von 1960 bis 1980 wurde das Problem, die Grenzen zwischen Stadt und Dorf aufzuheben, ebenso wie das Thema hybrider Formen, die im Rahmen dieses Prozesses entstanden. Zu dieser
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Zeit erfuhr die Republik eine aktive Urbanisierung. Im Jahr 1965 übertraf die Zahl der Stadtbewohner erstmals die Zahl der Dorfbewohner in der Ukrainischen SSR, sie betrug 50,55 % der Gesamtbevölkerung (vgl. Kryvþyk 2001: 22). Teils war dieser Wert dadurch erreicht worden, dass einige Dörfer den Status städtischer Siedlung zuerkannt bekommen hatten, aber allgemein war es das Resultat einer Massenmigration vom Dorf in die Stadt. Obwohl seit der 1960er Jahre der allgemeine Lebensstandard in der Kolchose angestiegen war (die Kolchosebauern hatten die Arbeitseinheiten in eine in Geld entlohnte Arbeit überführt; erstmals erhielten sie staatliche Pensionen, und in den 1970er Jahren wurden die Dörfer »passifiziert« und erhielten einen Pass), die Dorfjugend hatte erstmals massenweise die Möglichkeit, das Dorf zu verlassen und begann die erstbeste Gelegenheit zu ergreifen, um in die Stadt zu ziehen. Die Abwanderung der Jugendlichen aus dem Dorf wird zu einem unumkehrbaren sozialen Prozess. Eine für die 1970er Jahre symptomatische Geschichte präsentiert der ukrainisch-sowjetische Schriftsteller Anatolij Dimarov in seiner Erzählung JAKYMIVNA. In den 1950er Jahren brachte ein jung verheiratetes Paar viel Kraft auf, um ein großes Haus zu bauen, in der Hoffnung, dass die drei kleinen Söhne, wenn sie erwachsen sind, bei den Eltern in der Kolchose bleiben. Aber nach 20 Jahren leert sich das große Haus, alle Kinder sind fort gegangen, und die Eltern können nur seufzen: »Sobald sie mit der Schule fertig sind, wird ihnen im Dorf die Luft zu dünn. Der eine wird Lehrer, der andere Arzt und Ingenieur, oder sie biedern sich in der Fabrik an – alles, nur nicht zuhause sein. Und wer kümmert sich um Grund und Boden?« (Dimarov 1969: 91)
Entscheidend für die Fragen der Annäherung von Stadt und Dorf ist das eklatante Auseinanderklaffen zwischen der offiziellen Rhetorik und den Positionen in den Reihen ukrainischer Autoren. Der Staat betrachtete die »Liquidierung der Gegensätze zwischen Stadt und Dorf« als wichtige Aufgabe, er unternahm Versuche, das Dorf auf das Niveau der Stadt »zu hieven« und erarbeitete Spezialprogramme, um die »Rückständigkeit zu liquidieren«. 1964 begann ein Spezialprojekt, das Experimentier- und Vorzeige-Dörfer schaffen sollte, in denen eine städtische Infrastruktur eingerichtet wurde; deren Bewohner erhielten die Möglichkeit, in Einkaufszentren und zum Friseur zu gehen, Kulturpaläste aufzusuchen und ihre Kinder in die Musikschule zu bringen. Das bekannteste Dorf dieses Typs ist Ksaverivka, es verkörpert den neuen Dorfalltag; dorthin brachte man privilegierte, insbesondere ausländische Delegationen. Seit den 1960er Jahren baute die USSR aktiv an einem neuen Typ städtischer Siedlungen – den sogenannten PGT (poselki gorodskogo tipa), deren Hauptcharakteristikum mehrgeschossige Häuser waren. Obwohl in Wirklichkeit der Alltag der PGT häufig karikaturistische Züge annahm (beispiels-
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weise baute man bei den Hochhäusern Ställe fürs Vieh), betonte die offizielle Propaganda, dass die PGT die Möglichkeit erhielten, am städtischen Alltag zu partizipieren. Die Einstellung, »die Unterschiede zwischen Stadt und Dorf zu glätten«, entsprach gleichfalls einem staatlichen Spezialprogramm der 1960er Jahre, das neue feierliche Rituale entwickelte, die sich von den dörflichen Traditionen unterschieden oder deren Elemente nur sehr selektiv einsetzten. Die Ethnografen und Journalisten bewerteten die Annäherung von dörflichen und städtischen Festen positiv: Beispielsweise trug der Bräutigam die Braut jetzt auf Händen zum Auto, während es früher einen Hochzeitszug gegeben hatte, danach legten beide Blumen bei einem Lenin-Denkmal oder einem Denkmal zu Ehren des Großen Vaterländischen Krieges nieder (vgl. Borysenko 1979). Ein gegensätzliches Verhältnis ist bei einigen ukrainischen Autoren zu finden, die die endgültige Zerstörung des Dorfalltags mit nostalgischem Mitgefühl betrachteten. Die Tendenz, um jeden Preis in die Stadt zu rennen, führe zu einem »Verlust der Wurzeln«: Der Dorfbewohner, der sich von seiner Verbindung zum Dorf lossagte, war dazu verurteilt, die dörflichen Eigenschaften zu verlieren, ohne die Vorzüge des Städters auszubilden. Der Fortgang in die Stadt war oft von Vorbehalten gegenüber dem eigenen Dorf und der Bestrebung begleitet, sich mehr vom Stadtleben zu verschaffen. Gerade eine solche Geschichte beschreibt die Novelle DER SOHN KOMMT von Hryhorij Tjutjunnyk: Ein neuer Städter besucht die Eltern im Dorf und führt den Dorfbewohnern die Vorzüge vor: Er kommt mit dem eigenen Auto, im Nylonhemd, rühmt sich seiner Stadtwohnung, in der er auch einen Fernseher, einen Kühlschrank und eine Waschmaschine hat (vgl. Tjutjunnyk 1984: 175191).
N ACH 1991: » DIE W ELT ,
DIE WIR VERLOREN «
Eine Besonderheit der unabhängigen Ukraine ist die Reaktualisierung des Bauernbildes als Schlüssel zur nationalen Identität. Auf der Ebene der staatlichen Rhetorik und der Schuldidaktik ebenso wie im Alltagsdenken ist es gang und gäbe, sich selbst als Nation mit tiefgehenden bäuerlichen Wurzeln und die »ukrainische Mentalität« als Mentalität des Bodenbestellers zu präsentieren. Zum populärsten Charakteristikum, ja fast schon zum Klischee, wurde die Beschreibung des Dorfes als »Wiege der ukrainischen Nation«. Diese Charakteristik ermöglichte ein positives Überdenken der Figur des Bauern und eine Wiederbelebung des Interesses an der Dorfkultur als Ursprung der nationalen Traditionen. Die in die sowjetische Zeit zurückreichenden »Überbleibsel«, die dörflichen Traditionen, erlangten wieder kulturellen Wert – ausgerechnet vom Dorf lernten die städtischen Ukrainer der
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1990er Jahre wieder, die kirchlichen Feste zu feiern und die traditionellen Speisen zuzubereiten. Die ukrainische Gesellschaft der 1990er Jahre entdeckte für sich erneut das eigene Dorf in erster Linie durch die Reflexion ihrer Geschichte. Die bekannteste öffentliche Debatte in Bezug auf das Dorf ist die Entdeckung der zur Sowjetzeit verschwiegenen Sujets – des demografischen und sozialen Preises von Entkulakisierung und Kollektivierung. Die meisten Äußerungen zu diesem Thema weisen eine retrospektive Sicht auf: Die heutigen Probleme des ukrainischen Dorfes werden direkt mit den traumatischen Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden. Bei aller Unterschiedlichkeit der Arbeiten, die das Dorf in den 1930er Jahren beschreiben, konzentriert man sich auf zwei Grundgedanken: Zum einen auf den Blick auf die ukrainische Bauernschaft als Hauptgegner und infolgedessen als Hauptopfer des sowjetischen Systems und zum anderen auf die Trauer um das »Dorf, das wir verloren«, oder exakter das Dorf, das gewaltsam und unbarmherzig von einer fremden feindlichen Macht vernichtet wurde. Die Erzählung des ukrainischen Dorfes wird mithilfe des seit der Sowjetzeit gewohnten Schemas von »Vorher« und »Nachher« erzählt, aber unter diametral gegensätzlicher Bewertung. Neben unwiederbringlichen demografischen Verlusten betonen ukrainische Schriftsteller die psychologischen Deformationen des Dorfes, sie lenken die Aufmerksamkeit darauf, dass zuerst die besten Bauern starben – die ersten Generationen bereits landwirtschaftlich ausgebildeter und national-bewusster Landwirte, während die Überlebenden häufig als ständig von Ängsten unterjocht, der Erfahrung des Hungers und der Gewaltausübung auf das Dorf ausgesetzt beschrieben werden. Entsprechend dieser Logik ist die tradierte bäuerliche Mentalität, die auf landwirtschaftlicher Initiative und einer gesunden sozialen Moral basierte, für immer in den 1930er Jahren zerstört worden; die Psychologie des Eigentümers sei durch eine Sklavenpsychologie ersetzt worden. Die deformierte Welt beschreibt Oksana Zabužko auf diese Weise: »der grandiose, wahrlich Danteske Alptraum, in den das ehedem von Klassikern besungene ›regelrechte Eierschmuck-Dorf‹ verwandelt wurde, mit seinen mit Stumpf und Stiel ›der Steuern wegen‹ ausgerissenen Wurzeln der Kirschgärten, mit verfaulten (da es kein Reed zum Decken gab) alten Dächern, zum Heizen abmontierten Zäunen – und den hungernden Schatten der ›passlosen‹ Sklaven ›für die Arbeitseinheit‹ ohne Auszeit (›sieben Tage Werktage, gebt wenigstens Brot für einen Tag!‹), die weit davon entfernt waren, einen Flicken auf die Hosen nähen zu können (›das wichtige ist, zu leben‹, wie einer der Helden Tjutjunniks seine einzige Lebenserrungenschaft kommentiert, und das war tatsächlich eine Errungenschaft, die dem Einzelnen die Anstrengung all seiner biologischen Kräfte abverlangte)« (Zabužko 2011).
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Solche Schlussfolgerungen sind in den Untersuchungen zu den mündlichen Kollektivierungs- und Hungererzählungen zu finden, die Mitte der 1990er Jahre in der Ukraine durchgeführt wurden. Der Autor des ersten Großprojektes, der amerikanische Anthropologe William Noll, stützt sich auf Umfragen aus den Jahren 19931995; diese liegen seinem Buch TRANSFORMATION DER BÜRGERLICHEN GESELLSCHAFT: DIE MÜNDLICHE GESCHICHTE DER UKRAINISCHEN BAUERNKULTUR DER JAHRE 1920-1930 zugrunde. Er stellt fest, dass infolge des Hungers nicht nur zahlreiche Familien umkamen und die Landwirtschaft verfiel, sondern die Basis der bürgerlichen Gesellschaft im Dorf und das System des sozialen Miteinanders und der gegenseitigen Hilfe untergraben wurde (vgl. Noll 1999). Die 1930er Jahre werden als negativer Wendepunkt in der ukrainischen Geschichte angesehen. Wie Heorhij Kas’janov bemerkt, dominiert in den Beobachtungen folgendes Schema: Die Hungersnot brach nicht nur den Bauern das Genick, sondern der gesamten ukrainischen Nation (vgl. Kas’janov 2010: 206). Die staatliche Erinnerungspolitik befeuert die Selbstidentifikation der heutigen Ukrainer mit der Tragödie des ukrainischen Dorfes der ersten Hälfte der 1930er Jahre, die als Teil der eigenen Geschichte und der negativen kollektiven Erfahrung der eigenen Gemeinschaft wahrgenommen werden. Das nostalgisch-sentimentale Verhältnis zum präsowjetischen Dorf ist in kollektiven Vorstellungen mit einer komplexen Wahrnehmung des gegenwärtigen Dorfes als problematischen Raums verbunden. Heute beschreibt man das ukrainische Dorf überwiegend pessimistisch und teils sogar auf apokalyptische Weise: Das Bewertungsspektrum variiert von Fixierungen der chronischen systemischen Schwierigkeiten bis hin zu Anzeichen dörflicher Agonie. Dabei sind sich alle Beobachter in ihrer Meinung über die dörflichen Ortschaften als depressive Regionen einig. Das heutige »kollektive Porträt« des Dorfes weist folgende Charakteristika auf: •
Unabgeschlossenheit der Übergangsprozesse von kollektiven, staatlich kontrollierten Wirtschaftsformen zu freien Marktverhältnissen (der Zustand wird häufig mit der Losung »von den Kolchosen weggegangen, ohne beim Kapitalismus angekommen zu sein« beschrieben). Infolgedessen verwandelte sich die Mehrzahl dörflicher Siedlungsbewohner in Mietarbeiter für Kopeken (häufig spricht man vom spezifischen Phänomen einer »gegenwärtigen Feudalisierung« des ukrainischen Dorfes) statt erwartungsgemäß in »Bauern und effektive Eigentümer« und selbständige Landwirte mit eigenem Grund; die Hauptdividenden von der Umbildung indes erhielt das Großkapital und umtriebige Geschäftsmänner. Die ökonomischen Probleme zogen wiederum soziale Probleme nach sich.
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Die katastrophale Entvölkerung und Überalterung: Von 1991 bis 2001 verlor das ukrainische Dorf fast 2 Mio. Bewohner (vgl. Ihnatenko 2009: 25), die Dorfbevölkerung des Landes verringerte sich auf 16,9 % (vgl. Lebedyns’ka 2011: 218). Das Dorf ist ein Raum, in dem es praktisch keine Jugend gibt und wo nur die Alteingesessenen ihrem Lebensende entgegengehen. Der Zerfall der Infrastruktur und die Entindustrialisierung der dörflichen Arbeit: In den Dörfern gibt es praktisch keine Schulen, Krankenhäuser und Straßen; es werden keine neuen Häuser gebaut und der Boden wird häufig mit archaischen Mitteln bestellt. Massenarmut: Die 2013 vom Institut für soziale und politische Psychologie der Nationalen Akademie der Pädagogischen Wissenschaften durchgeführte Studie bezeichnete das ukrainische Dorf als »Hauptträger einer Armutskultur«: Dort gibt es nicht nur kein Geld, sondern es fehlt auch an der Bereitschaft, die eigene Lage ohne Hilfe von außen zu verbessern (vgl. Kiriþenko 2013). Die beängstigende moralische Degradierung des Dorfes (Alkoholismus, Gewalt), die anscheinend besonders in jener Gesellschaft droht, in der das Dorf traditionell als Bollwerk moralischer Tugenden betrachtet wurde.
Im Bereich der populären Vorstellungen wird das Dorfleben häufig durch das Prisma der heutigen individualistischen Moral bewertet: Das ukrainische Dorf ist kein Ort, an dem der Mensch von Heute leben und sich entwickeln kann. Hier kann man geboren werden, doch sollte man von dort besser wegziehen, denn die dagebliebenen sind »zur ewigen Landarbeit verdammt, das einzige Fenster in die Welt ist für sie der Fernseher« (Pahutjak 2007: 80). Meist wird das Dorfleben als Leben in der Vergangenheit beschrieben. So kommen etwa die vom Internationalen Institut für Bildung, Kultur und Kontakt der Diaspora durchgeführten Studien zur Lage der Frauen im heutigen ukrainischen Dorf zu der Schlussfolgerung, dass »die ukrainische Bäuerin wie im Mittelalter lebt«: Sie muss Minimum 15 Stunden am Tag arbeiten, hat weder Geld noch Zeit, um sich elementar um Gesundheit, Bildung und Freizeit zu kümmern (vgl. Kljuþkovs’ka 2011). Das charakteristische Beispiel für eine literarische Beschreibung der Situation ist Ljuko Dašvars (Iryna ýernovas) Buch DAS DORF, NICHT DIE LEUTE von 2007.6 Der Autor arbeitete mehrere Jahre als Chefredakteur für die Zeitung DORFSTERN und schrieb eine Geschichte über eine Liebe, die im Dorf verboten war und die Heldin fast das Leben gekostet hätte. Die Anfang des 21. Jahrhunderts ins Dorf gekommenen Ethnografen, auf der Suche nach Volksdichtung und malerischer Tradition, waren statt dessen von der Gottverlassenheit der lokalen Alltagsbedin-
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Diese Bezeichnung ist in der Originalsprache eine Anspielung auf den Titel der populären sowjetischen Zeitschrift für Dorfbewohner: DORF UND LEUTE.
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gungen schockiert, von der Grobheit der Beziehungen und der ihnen fremden Mentalität: »Wir verlassen das Dorf erschrocken, verstört... Als ob wir im Dschungel des Amazonas gewesen wären. Nein, wären wir dort gewesen, wäre all das verständlich. Aber wir hatten mit unseren eigenen Wurzeln Kontakt, und... nehmen Reißaus. Nichts wie weg, als wäre es die Pest! Nein, als wäre es ein UFO! Dort ist uns alles fremd, wir verstehen nichts! Alles! Nicht nur, dass es keine Toiletten in den Häusern gibt, nicht nur der Schlamm auf den Straßen, die verlassenen Katen und Höfe, die verfallenen Zäune... Wie die Menschen urteilen und denken ist uns fremd! Wir verstehen sie nicht. Und das ist das Beängstigende!« (Dašvar 2010: 136)
In ihren Beschreibungen des erbarmungswürdigen Zustands des ukrainischen Dorfes ist sich die Mehrheit der heutigen Autoren in ihren Bewertungen einig: Die Dorfwelt ist durch die Entwicklung angesichts der anhaltenden, anomalen Bedingungen deformiert, und so läuft die »Wiege« Gefahr, zur Grabstätte zu werden.
S CHLUSS Die Bauernschaft und die Mythologie der bäuerlichen Welt spielten in der Geschichte der ukrainischen nationalen Bewegung eine Schlüsselrolle. Im Verlauf des 19. und während des Großteils des 20. Jahrhunderts waren die Wörter »Ukraine« und »Dorf« häufig Synonyme; und wenn die Rede von der Ukraine war, sprach man unweigerlich vor allem vom Dorf und seinen Problemen. In der ukrainischen Literatur und im politischen Denken bildete sich eine positiv konnotierte Mythologie des Dorfes und der Bauernschaft aus; sie zu kritisieren war unweigerlich ein gefährliches und brüskierendes Unternehmen. Gleichzeitig erwies sich namentlich die »Ruralozentriertheit« des ukrainischen nationalen Projektes für seine Anhänger als größte Herausforderung und Achillesferse (insbesondere im Kontext der Revolutionsereignisse von 1917-1920, als die ukrainischen Staatsgründungen mit dem drängenden Problem konfrontiert waren, dass die Städte überwiegend nicht ukrainisch waren). Das sowjetische Projekt, das Dorf gewaltsam zu kollektivieren, zu industrialisieren und zu urbanisieren, verschärfte das Problem der Wechselbeziehungen zwischen dem Bäuerlichen und Ukrainischen; zugleich ermöglichte es, die Städte und die städtische Kultur der sowjetischen Ukraine zu »ukrainisieren« (wenn auch in einer eingeschränkten sowjetischen Weise). Der Prozess der sowjetischen Ukrainisierung war allerdings nie das explizite Ziel, fügte sich dabei der Logik der sowjetischen Politik, eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen zu erschaffen. In dazu oppositionellen Bewegungen wurden die Narrative der Idealisierung des Dorfes, die in der Romantik aufkamen, des Öfteren reproduziert. Dabei werden
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gewöhnlich alle negativen Phänomene des heutigen Dorflebens als Folgen des sowjetischen Gesellschaftsexperiments erklärt. Die postsowjetische Ukraine hat die unterschiedlichen Elemente der oben beschriebenen ideologischen Konstruktionen geerbt und sucht nach wie vor nach überzeugenden Schemata, um die eigene Vergangenheit und Gegenwart zu beschreiben. Aus dem Russischen von Anja Dagmar Schloßberger.
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Die Kollektivierung als Gründungstrauma Über die Identitätserzählung der belarussischen Kolchosbauern aus Sicht ethnographischer Feldforschung A NNA E NGELKING
E INFÜHRUNG Der postsowjetische ländliche Raum in Belarus verdient aus mehreren Gründen eine genauere Untersuchung. Anders als in den Nachbarstaaten – Russland, Ukraine, Litauen und Lettland – wurde hier nach dem Zerfall der Sowjetunion das Land nicht an die früheren Kleingrundbesitzer zurückgegeben, wurden die kollektiven Landwirtschaftsbetriebe nicht aufgelöst. Der in den 1990er Jahren einsetzende Wandel im belarussischen ländlichen Raum verlief langsam und evolutionär; die Landbevölkerung verlor nicht das Gefühl der Kontinuität und Sicherheit. Bis heute empfinden sie sich als Kolchosniks. Die überwiegende Mehrheit von ihnen gehört zur Stammwählerschaft von Staatspräsident Lukašenka, weil dieser ihrer Ansicht nach den ländlichen Raum versteht. Die Untersuchung der Gruppenidentität der Kolchosniks in ihrem soziokulturellen Kontext und der Widerspiegelung ihrer Entwicklung im kollektiven Bewusstsein erlaubt Einblicke sowohl in die Spezifik der belarussischen Situation im Vergleich zu anderen Staaten der Region als auch in umfassendere, ganz Mittelosteuropa betreffende Prozesse. Die Geschichte der Kollektivierung in Belarus ist Gegenstand historischer Forschung (vgl. u. a. Proüka 1998, Ruchniewicz 2010, Wierzbicki 2002), in jüngerer Zeit auch der Oral History, die Erinnerungen der Landbewohner an die Kollektivierung dokumentiert.1 Meines Wissens hat aber außer mir noch kein Anthropologe den Versuch einer verstehenden Interpretation des Phänomens der Kolchose aus
1
Damit befasst sich das Belarussische Archiv für Orale Geschichte in Minsk, siehe http://www.nashapamiac.org/archive/archivetree.html.
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subjektiver Sicht, das heißt aus der Perspektive ihrer ›Bewohner‹ unternommen. Als ich Anfang der 1990er Jahre meine ethnographischen Feldstudien in belarussischen Dörfern begann, verblüffte mich die von meinen Gesprächspartnern immer wieder geäußerte Akzeptanz des Kolchossystems. Aus dieser Verblüffung, die mich zur Revision von Stereotypen und Vorurteilen zwang, erwuchs mein Interesse an der Identitätserzählung der belarussischen Kolchosniks.2 Obwohl die von den sowjetischen Behörden mit brutaler Gewalt durchgesetzte Kollektivierung für die älteren Generationen im ländlichen Raum eine individuelle traumatische Erfahrung darstellt, die sie in Gestalt von Erinnerungserzählungen an jüngere Generationen weitergeben, so hört man doch heute in ganz Belarus: »Die Kolchose muss bleiben.« Die verbreitete, von Vertretern der Kolchosverwaltung wie von einfachen Kolchosniks, von Rentnern wie von jungen Leuten geäußerte Überzeugung »ohne Kolchose gehen die Leute zugrunde« (G98Nac.AK) führte mich zur Frage nach Inhalt und Struktur des kollektiven Selbstbilds der heutigen Bewohner des belarussischen ländlichen Raums, das sich über die Gemeinsamkeit ihrer Erinnerungen, darunter vor allem die – Fabularisierungs- und Folklorisierungsprozessen unterworfene – Erzählung von der Kollektivierung konstituiert.3 Zwei Jahrzehnte lang (von 1993 bis 2012) betrieb ich ethnographische Feldstudien in belarussischen Kolchosdörfern, zunächst im westlichen, später auch im östlichen Teil des Landes.4 Ich arbeitete teils mit Studentengruppen und Kollegen, teils allein. Das Ergebnis dieser Forschungen ist ein Korpus von rund 700 Aufnah-
2
Die Bezeichnungen ›Kolchosnik‹ und ›Kolchosdorf‹ sind verallgemeinernde Arbeitsbegriffe, die ich aus der Wirklichkeitswahrnehmung der Gesprächspartner übernommen habe. Unabhängig von der konkreten Organisationsstruktur der landwirtschaftlichen Produktion in den untersuchten Ortschaften (Kolchose oder Sowchose sowie in den letzten zehn Jahren zunehmend Aktiengesellschaft oder andere Unternehmenstypen) bezeichnen sich die Dorfbewohner unverändert als Kolchosniks.
3
Eine
umfassende
KOŁCHOħNICY. PRZEŁOMU
Darstellung
meiner
ANTROPOLOGICZNE
Forschungen
STUDIUM
bietet
TOĩSAMOĝCI
die WSI
Monographie BIAŁORUSKIEJ
XX I XXI WIEKU (KOLCHOSNIKS. EINE ANTHROPOLOGISCHE STUDIE ZUR
IDENTITÄT DES BELARUSSISCHEN LÄNDLICHEN RAUMS AN DER WENDE VOM 20. ZUM 21. JAHRHUNDERT, Engelking 2012). Die wichtigsten Ergebnisse habe ich in drei englischsprachigen Publikationen vorgestellt (Engelking 2013, 2014, 2015). 4
Die Studien umfassten rund 70 Dörfer im Westen des Landes (Verwaltungsbezirke Hrodna und Brest) und rund 40 Dörfer im Osten (Verwaltungsbezirke Homel, Mahilijou und Wizebsk). Meistens handelte es sich um abgelegene Dörfer weitab größerer Städte oder Regionalzentren.
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men von Gesprächen vor allem mit den ältesten Dorfbewohnern.5 Ein Anthropologe, der mit der auf Malinowski zurückgehenden Methode der teilnehmenden Beobachtung arbeitet, versucht seinen Gesprächspartnern möglichst nahe zu kommen und an ihrem Leben teilzuhaben. Er verzichtet auf Befragungen oder Interviews, sondern unterhält sich einfach mit den Menschen, wobei sich seine Rolle vor allem auf die des Zuhörers beschränkt. Zumal ein Anthropologe, dessen Forschungsinteresse sich – wie in meinem Fall – auf das sozio-kulturelle Selbstbild seiner Gesprächspartner, auf die Struktur und die Mechanismen ihres sozialen Imaginariums und ihrer kollektiven Identität sowie auf das System ihrer Begriffe, Vorstellungen und Werte richtet, muss Fragen stellen und im ethnographischen Dialog mit den Untersuchten nach Antworten suchen. Es geht – wie Clifford Geertz schreibt – »darum herauszufinden, wie sie sich überhaupt selbst verstehen« (Geertz 1987: 292). Diese subjektive (emische) Perspektive, die ich im Dialog entdecken und verstehen wollte, artikulierte sich in den fragmentarischen Antworten meiner Gesprächspartner auf die grundlegende Frage »Wer sind wir als Gemeinschaft?«. Das Feld, das wir gemeinsam durchdrangen, war demnach das durch das kollektive Gedächtnis mit konstituierte soziale Imaginarium der Kolchosniks, also mit Charles Taylors Definition die Gesamtheit der »Vorstellungen, die sich die [Menschen] von ihrer sozialen Existenz machen […] sowie von den tieferen normativen Begriffen und Bildern, die diesen Erwartungen zugrunde liegen.« (Taylor 2009: 295). Im langjährigen ethnographischen Dialog entstand eine umfassende und vielschichtige kollektive Dokumentation der lokalen, auf biographische Details konzentrierten Erinnerung der Kolchosniks, die sich in ihrer Identitätserzählung widerspiegelt. Eine Dokumentation, die dem Anthropologen in Gestalt von offenen Quellen zugänglich ist. Die belarussischen Dorfbewohner sprachen nämlich von sich aus über sich und ihre Erlebnisse, oft auch spontan und ungefragt, so als habe die aufmerksame und affirmierende Präsenz des Anthropologen als Katalysator für ihr Erzählen gewirkt, das nicht selten heftige Emotionen freisetzte. Als habe die vergehende Generation das Zeugnis ihrer Erinnerung und ihrer Identität verewigen wollen, als habe sie nach einem Zeugen verlangt.
5
Die überwiegende Mehrheit der Gesprächspartner hatte einige Klassen der Grundschule besucht, vereinzelt waren auch Analphabeten sowie Personen mit Abitur und Hochschulabschluss unter ihnen. Alle sprachen belarussischen Dialekt – im Nordosten die belarusssich-russische Trassjanka, in Polesien eine Übergangsvarietät zu ukrainischen Dialekten. Im Nordwesten, dem vielsprachigen orthodox-katholischen Grenzland, wurden die Gespräche mit Katholiken meist auf Polnisch geführt. Von den Gesprächspartnern bekannte sich etwa die Hälfte zum russisch-orthodoxen, die andere Hälfte zum katholischen Glauben.
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Ü BER
DIE KOLLEKTIVE I DENTITÄT UND DIE E RINNERUNGS GEMEINSCHAFT DER BELARUSSISCHEN K OLCHOSNIKS Infolge der Kollektivierung, die im Osten von Belarus, der nach dem Ersten Weltkrieg der Sowjetunion zugeschlagen worden war, in den 1930er Jahren und im Westen, dem dieses Schicksal nach Ende des Zweiten Weltkriegs widerfuhr, an der Wende von den 1940er zu den 1950er Jahren vollzogen wurde, gab es in der Belarussischen Sowjetrepublik keine Dörfer mehr, die nicht zu einer Kolchose oder Sowchose gehörten.6 Die von ihrem Land und Besitz enteigneten früheren Individualbauern arbeiteten in den großen Landwirtschaftsbetrieben, die auf den verstaatlichten Gütern entstanden waren. Ihr einziger verbliebener Besitz waren die Häuser mit den dazugehörigen Wirtschaftsgebäuden und einem kleinen Hofgrundstück. Das sowjetische Kolchossystem, welches das Modell der einstigen feudalen Gutshöfe konservierte, wirkte gleichsam wie eine Kühlkammer, in der alle ökonomischen, sozialen und mentalen Modernisierungsprozesse verlangsamt abliefen. Deshalb bilden heute die belarussischen Kolchos- und Postkolchosdörfer eine der wohl letzten Restbestände vormoderner Weltanschauung und sozialer Identität in Europa. Mit Charles Taylor gesprochen, wurzelt das die weißrussischen Kolchosdörfer bewohnende Kollektivsubjekt in einer nicht »entzauberten« Welt: in einer sakralisierten sozialen Ordnung, im Kosmos und im Begriff des menschlichen Heils (Taylor 2010: 251-274). Die kollektive Identität der belarussischen Landbevölkerung in ihrer heutigen Ausprägung ist noch immer eine bäuerliche postfeudale Identität, die das Mal der früheren Standes- oder Kastengesellschaft trägt und untrennbar mit einem mythischen Weltbild verflochten ist. Gemäß den Mechanismen dieser vormodernen Verwurzelung handelt es sich um eine zugewiesene, nicht frei
6
Der Name Kolchose (belaruss. kalchaz) ist die Abkürzung der russischen Bezeichnung kollektivnoe chozjajstvo (›Kollektivwirtschaft‹). Formal handelte es sich um Genossenschaften. Die zweite Organisationsform der agrarischen Produktion in der UdSSR waren Staatsbetriebe, die sogenannten Sowchosen (belaruss. saܜchaz); der Name ist eine Abkürzung von sovjetskoe chozjajstvo (›Sowjetwirtschaft‹). Nach dem Jahr 2000 wurden die Kolchosen in neue Agrarbetriebe mit unterschiedlichen Strukturen und Besitzverhältnissen umgewandelt und arbeiteten fortan u. a. als Agrar-Industrielle Genossenschaften (Selskochazjajstvenno-Proizvodstwennyj Kooperativ, SPK), Geschlossene Aktiengesellschaften (Zakrytoe Akcyjonernoe Obšþestvo, ZAO) oder Vereinigte Kommunaler Agrarbetriebe (Kommunalnoe Selskochazjajstvennoe Unitarnoe Predprijatije, KSUP). Im Empfinden ihrer Bewohner und Arbeiter gab es keine grundlegenden Veränderungen, man spricht weiterhin von Kolchosen.
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gewählte Identität. Man wird in sie hineingeboren. Diese Identität gründet auf drei Säulen. Die erste Säule ist die »implizite ›Landkarte‹ des sozialen Raums« (Taylor 2009: 298), die ihre Legitimation durch den feudalen Mythos der Abstammung von den biblischen Urbauern Kain und/oder Ham erhält. Im Einklang mit diesem Weltbild definiert sich die bäuerliche Identität über die Verortung in der historischen und symbolischen, aus der Ständegesellschaft hervorgehenden dreipoligen Relation Bauer – Herr – Jude, die bis heute das Gesellschaftsbild der Kolchosniks strukturiert und das als Strukturmodell jeweils mit aktuellen Inhalten gefüllt wird. Wie die Analyse der in Erzählungen der Kolchosniks präsenten Begriffskategorien zeigt, basiert das kognitiv-strukturelle Fundament ihrer kollektiven Identität auf den Oppositionen Bauer-Herr, Bauer-Jude und Christ-Jude. Die grundlegende, für das Stereotyp und Autostereotyp des einfachen Bauern (der hier Mužik genannt wird) konstitutive Eigenschaft – die Schlichtheit (Primitivität) – wird immer in Relation zum kultivierten und feinfühligen Herrn bzw. Adligen gesehen. Im Stereotyp der Schlichtheit – dem Negativ zur Vornehmheit der Adelsherren – vereinen sich der den belarussischen Bauern zugeschriebene kulturelle Primitivismus und ihr niedriger materieller Status mit der ihnen seitens der höheren sozialen Schichten entgegengebrachten Verachtung. Indem sie die stereotype Wahrnehmung der dominierenden Kultur als eigene übernimmt, sieht sich die Gemeinschaft der Kolchosniks – ebenso wie ihre leibeigenen Vorfahren – auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie angesiedelt. Die Opposition adliger Herr – einfacher Mužik konstituiert sich auf Grundlage eines anderen, für die bäuerliche Wahrnehmung der sozialen Welt zentralen und sie strukturierenden Gegensatzes, nämlich der Opposition Arbeit-Nichtarbeit. Die Überzeugung, dass die Beschäftigung der Herren keine Arbeit sei, ist ein jahrhundertealtes, fest verwurzeltes Stereotyp in der bäuerlichen Kultur, in der nur die Mühen des Landwirts als Arbeit gelten. Auf derselben Opposition basiert die Wahrnehmung der modernen »Herren« (repräsentiert durch die Kolchosverwaltung oder städtische Intellektuelle) als Nichtarbeitende im Gegensatz zu den Mužiks bzw. Kolchosniks als landwirtschaftlich Arbeitenden. Die zweite für die kollektive Identität konstitutive Figur des sozialen Imaginariums der Kolchosniks ist der symbolische Jude als derjenige, der nicht auf dem Feld arbeitet und nicht Christ ist. Damit der Bauer auf dem Land bleiben kann, muss der Jude – als Händler und Vermittler – in ständiger Bewegung sein. Das Stereotyp des Juden betont ex negativo die distinktiven Merkmale des Selbstbilds des Kolchosniks als einfacher Mensch, der auf dem Feld arbeitet und – anderes als der mobile Jude – sesshaft und in der lokalen Gemeinschaft der Hiesigen verwurzelt ist. Mehr noch, der mythische Jude, der all das verkörpert, was im Volksdenken als unchristlich gilt, ist ein notwendiges Negativ des Selbstbildes des belarussischen
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Bauern als Christen, ganz gleich ob als Orthodoxer oder als Katholik. Das für die christliche Identität konstitutive Bild der Kreuzigung Christi kann hier nicht ohne das Bild der ihn kreuzigenden Juden als Gottesmörder, ohne das Stereotyp des Juden als Nichtchristen (im Extremfall: Antichristen) evoziert werden. In diesem Weltbild kann es den Bauern nicht ohne Herrn und ohne Juden geben. Eine Analyse von Inhalt und Struktur der Identität der belarussischen Kolchosniks am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert führt zu dem Schluss, dass sie – ebenso wie die Generationen ihrer Vorfahren – eine Gemeinschaft bilden, deren Wesen sich in der Charakterisierung »einfaches und arbeitsames hiesiges Christenvolk« manifestiert. Die Definition der eigenen Identität als »hiesiger« impliziert eine kollektive Identifikation auf Grundlage des Gefühls der Bindung an den Wohnort und die lokale bäuerliche Gemeinschaft. Die territoriale Reichweite und ihr habitueller Charakter werden durch Kontakte des Typs face to face abgesteckt. Ein Anthropologe, der in den belarussischen ländlichen Raum kommt, begegnet vornehmlich »Hiesigen«, »Einheimischen«, Menschen »aus unserem Dorf«, »aus unserer Gemeinde«, »aus unserer Kolchose«; von anderen Identifikationen erfährt er erst später und meist nur auf Nachfrage. Aus Sicht dieser Identität ist die staatliche Identifikation eine unhinterfragte administrative Selbstverständlichkeit, die nationale Identität mitsamt den dazugehörigen Ideologien ist für die Kolchosniks kaum interessant. Die zweite Säule der kollektiven Identität der belarussischen Kolchosniks ist das bäuerliche Ethos, das heißt ein System von Werten, unter denen die Arbeit auf dem Feld und der Glaube an Gott für die kollektive Identität konstitutiv sind; beide sichern die Kontinuität und die Verlängerung des Lebens des Einzelnen und der Gruppe. Das Selbstbild der Kolchosniks stützt sich unverändert auf das mittelalterliche Modell des Bauern als arbeitsamem und frommem Menschen und verweist auf das mythische Ur-Vorbild Adam, der durch die Vertreibung aus dem Paradies zum Bauern wurde. Adams Schicksal ist die endlose Arbeit (Buße) im Schweiße seines Angesichts; zugleich jedoch die von Gott geheiligte Arbeit des Pflügers: »Gott hat gesagt: Arbeite, Mensch, so will ich dir beistehen« [G93Pap.AW]. Dieses Ethos verkörpert sich am vollständigsten im über die Opposition Bauer-Herr hinausgehenden Modell des Bauern, der sein eigener Herr ist. Das ist das Modell des guten Landwirts, das als Gegenentwurf zum von außen herangetragenen, abwertenden Stereotyp des Homo sovieticus für die kollektive Identität der Kolchosniks von fundamentaler Bedeutung ist. Das den guten Landwirt definierende Stereotyp der Arbeit umfasst nicht nur den Arbeitsprozess, sondern auch den Land- und sonstigen Besitz sowie alle durch eigene Anstrengung, also durch die hoch bewertete Arbeit mit eigenen Händen erlangten Güter. Dieser Wohlstand wird als Resultat göttlichen Segens begriffen, als sich im Leben verwirklichendes gutes Schicksal. Das Modell des Bauern-Herren als desjenigen, der sich durch eigene Arbeit auf eigenem Land
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als Subjekt konstituiert und nicht wie der leibeigene Bauer oder Kolchosknecht Objekt in den Händen der Herren ist, ist eine Fortschreibung des aus der Zeit vor der Kollektivierung stammenden sozialen Ideals des wohlhabenden Landwirts (haspadar-bahatyr) und verweist auf die in Erzählungen und alltäglichen Praktiken aktualisierte Erinnerung der Kolchosniks an Zeiten, als »der Landwirt sein eigener Herr war« [G99Pap.SK]. Das Modell des guten Landwirts – die Wurzel der kollektiven Identität der Kolchosniks – bündelt nicht nur die konstitutiven Werte dieser Gemeinschaft und unterstreicht die universelle Dimension der bäuerlichen Würde. Es hat auch einen weiteren für meine Überlegungen wesentlichen Aspekt, der sich – anders als im Falle des symbolischen Herrn und des Juden – nicht zu den »sekundären und dependenten«, aus den »eigenen Vorstellungen über die benachbarten ethnischen Gruppen und den Vorstellungen dieser Gruppen über sie« abgeleiteten Merkmalen des kollektiven Selbstbilds zählen lässt. Es handelt sich um ein autonomes Muster, »eine eigene und originäre Vorstellung der Gruppe von sich selbst« (ObrĊbski 2005: 163), in der das Gemeinschaftsbewusstsein über das Gefühl der Individualität dominiert. Die dritte Säule der Identität der heutigen belarussischen Kolchosniks bildet das kollektive Gedächtnis (oder auch Postgedächtnis) der Gewalt, welche auf die Zerstörung der geheiligten Sphäre der für die bäuerliche Identität konstitutiven Werte abzielte. Dieses Gedächtnis, dessen Gegenstand dem postfeudalen sozialen Imaginarium ein neues Element hinzufügt, während die Erzählung, in der sie sich artikuliert, vormoderne Frames und Begriffskategorien widerspiegelt, erwächst aus einem historischen Gründungstrauma (founding trauma). Diese Art von Trauma, so Dominick LaCapra, »paradoxically becomes the valorized or intensely cathected basis of identity for an individual or a group rather than events that pose the problematic question of identity […] Such a trauma is typical of myths of origin and may perhaps be located in the more or less mythologized history of every people« (LaCapra 2001: 23, 81).
Im 20. Jahrhundert erlebte der belarussische ländliche Raum ein dreifaches kollektives Trauma in Gestalt von Kollektivierung, Atheisierung und Auslöschung. Wie eingangs erwähnt, betraf die Zwangskollektivierung in den 1930er Jahren zunächst den Osten von Belarus. Die Erinnerung daran artikuliert sich vor allem in Schilderungen des Terrors – nach Schätzungen von Historikern wurden zwischen mehr als 500.000 (Proüka 1998: 126) und rund einer Million (Szybieka 2002: 311) Bauern zu Opfern von Deportationen und Erschießungen – sowie in Erzählungen von bitterer Armut, Hunger und Waisentum. Die Kollektivierung im Westen von Belarus nach dem Krieg verlief nach demselben Muster, wenngleich weniger brutal
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(Ruchniewicz 2010: 243-340, Wierzbicki 2002: 127-140). Infolge der aufgezwungenen Umstrukturierung der Grundbesitzverhältnisse wurde die ökonomisch heterogene soziale Schicht der Individualbauern ausgelöscht: Man schuf die alle Unterschiede nivellierende Kategorie des landlosen Bauern – des Kolchosniks. Die enteigneten früheren Hofbesitzer und Agrarproduzenten wurden zu Landarbeitern in einem nicht ihnen gehörenden Betrieb: Kolchosniks in der Kolchose. Das zweite Schlüsselmoment der kollektiven traumatischen Erinnerung bildet die sowjetische Atheisierungspolitik, die sich gegen die institutionelle und individuelle Verwurzelung der bäuerlichen Kultur in einer sakralen, »verzauberten« Wirklichkeit richtet. Die Erzählung von der Atheisierung mythologisiert die verantwortlichen Kommunisten als die Existenz der Gruppe bedrohende dämonische Fremde und verortet sie in der – dem christlichen Kosmos konträren – Sphäre des Antigottes und des Antiglaubens: »Die Sowjets haben, als sie herkamen, die Kirchen, die Priester unterdrückt. Sie haben sie verschleppt, verurteilt, zehn Jahre hat jeder Priester bekommen. […] Man kann sagen: Das ist nicht die Sowjetregierung, sondern die Hölle! Die finsterste Hölle! […] Es gibt keinen Gott, nur Lenin. Sie haben ihre eigene Religion, den Kommunismus. Du musst an Marx-Engels glauben, denn er hat die Partei gegründet […]. Eine Marx-Engels-Religion war das« [G93Pap.AW].
Der dritte Punkt ist die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg; sie manifestiert sich in der Erzählung von der Auslöschung der Bauern und Juden, der Angst und dem Terror des bäuerlichen Partisanenkriegs, der Umsiedlung von Dörfern und der Flucht in den Wald, wo man monatelang in Erdhütten vegetierte. Ihr Charakteristikum ist dem polnischen Ethnologen Józef ObrĊbski zufolge »das unaufhörliche Aufeinanderprallen der ländlichen Welt, in der das Leben und Bewahrung des Lebens die höchste Aufgabe und das grundlegende moralische Gebot bilden, und der kriegerischen Aspekte des politischen Lebens, in denen ein abstraktes und unbegreifliches Gruppeninteresse befiehlt zu töten, zu verhaften, zu zerstören und zu plündern« [ObrĊbski 2007a: 471].
In der Erzählung über die Shoah fällt auf, dass die Opposition Bauer-Jude zugunsten der Betonung der bäuerlich-jüdischen Gemeinschaft als Menschen neutralisiert wird. Die Erinnerung der Kolchosniks an die Vernichtung der Juden ist eng mit der Erinnerung an die Vernichtung der Bauern – im Rahmen der Pazifizierung von Dörfern durch NS-Einheiten – verflochten. Eine Folge dieser ins kollektive Gedächtnis eingeschriebenen Erfahrungen ist das Empfinden der Schicksalsgemeinschaft der beiden als unschuldige Opfer wahrgenommenen Gruppen: der er-
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schossenen und lebendig begrabenen Bewohner der jüdischen Schtetl und der erschossenen und bei lebendigem Leibe verbrannten Bewohner der belarussischen Dörfer. Erlebt, erinnert und erzählt werden diese kollektiven Traumata der bäuerlichen Gemeinschaft – Katastrophen, die die physische und symbolische Existenz der Gruppe bedrohten – in einem vormodernen kulturellen Frame, in dem das soziale Imaginarium durch den Mythos legitimiert wird. Die entsprechenden Erzählungen besitzen einige Gemeinsamkeiten mit den von Charles Taylor beschriebenen Erzählungen der Moderne von Fortschritt, Revolution und Nation (vgl. Taylor 2009). Die posttraumatische Erzählung der Kolchosniks wird in das mythische Schema des bäuerlichen Denkens vom Ende der Welt und ihres Neubeginns integriert, ein Schema, das von der Prophezeiung des »Wandels der Welten« (Zowczak 2000: 8893) vorhergesagt wurde. Sozialforscher interpretieren diesen Wandel als Desintegration (oder Zerstörung) von sozialen Werten, Normen und Praktiken, auf die früher oder später Prozesse der Reintegration (oder Rekonstruktion) folgen. Die Kolchosniks indes semiotisieren den Wandel gemäß einem unbewussten kulturellen Schema: dem slawischen Urmythos von den Antagonisten (vgl. Iwanow, Toporow 1974, Tomicki 1976). Er handelt vom zyklischen Kampf des Himmels- und Gewittergottes mit dem das Wasser des Lebens blockierenden, in Teufels- oder Drachengestalt erscheinenden Erdgott. In christianisierter Sprache, aber im Einklang mit Struktur und Botschaft des Urmythos, interpretiert das narrative Gedächtnis des belarussischen ländlichen Raums die erlittenen Traumata in Kategorien des Kampfes zwischen Gruppen, die mit dem Teufel im Bunde stehen (Kommunisten, Nationalsozialisten sowie die mit ihnen kollaborierenden Verräter aus der bäuerlichen Bevölkerung), und den Verbündeten des Donnergottes (den gottgläubigen einfachen Leuten). In den fabularisierten und folklorisierten Erzählungen von Kollektivierung, Atheisierung und Auslöschung hören wir die mythische Geschichte vom Kampf um die Herrschaft über die Menschenseelen – und damit vom Kampf um die neue Gestalt der kollektiven Identität der Bauern bzw. Kolchosniks. Ihre Komposition entspricht der Reihung semiotischer Oppositionen: Leben-Tod, Gut-Böse, Gott-Teufel, Glaube-Unglaube, Arbeit-Fest, Kosmos-Chaos, Kultur-Antikultur. Obwohl die Kolchosniks überregionale Informationsmedien nutzen – Rundfunk und Fernsehen, seltener auch Presse und Literatur –, ist die für ihre Identität konstitutive Kommunikationsform durch den täglichen Face-to-face-Kontakt bestimmt. Ihre historische Erinnerung wird – anders als die kodifizierte Traditionsvermittlung schriftbasierter Nationalgemeinschaften – nicht in Textform überliefert oder durch die Geschichtspolitik der Herrschenden formatiert. Es ist eine »ethnische Erinnerung«, das heißt – mit Jacques Le Goff – »die kollektive Erinnerung bei Völkern ohne Schriftlichkeit«, die dazu neigt, »Geschichte und Mythos zu vermischen« (Le Goff 1992: 87-88). Heute existiert keine politische oder symbolische Macht, die
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diese Erinnerung usurpieren und manipulieren wollte. Sie liegt außerhalb des offiziellen Diskurses und jenseits des fortwährend der ideologischen Bearbeitung unterworfenen allgemeinen Kollektivgedächtnisses der Republik Belarus. Das sich national-staatlichen Kategorisierungen und modernen Ideologien (hier: der sowjetischen und postsowjetischen) entziehende kollektive Gedächtnis der Kolchosniks wirkt autonom. Seine Konstituenten sind die seinen Trägern eigenen Kulturmodelle: die nicht nationalisierte und nur schwach modernisierte belarussische postbäuerliche Kultur, die sich in zwei christlichen Varianten, der orthodoxen und der katholischen, manifestiert.
Ü BER DIE I DENTITÄT DER BELARUSSISCHEN B AUERN K OLCHOSNIKS ODER D IE E RINNERUNG AN DIE K OLLEKTIVIERUNG
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Die objektivierte Erzählung von der Kollektivierung, die das Schicksal von Einzelpersonen und lokalen Gemeinschaften in strukturierte und ausformulierte narrative Formen überführt, liefert als Dokument des kollektiven Gedächtnisses ein anschauliches Beispiel für den Übergang vom traumatischen zum narrativen Gedächtnis als Beleg für die Aneignung (Verarbeitung) des kollektiven Traumas. Das beste Symbol für diesen Prozess ist die von vielen Gesprächspartner refrainartig wiederholte Aussage: »Wir fürchteten uns, in die Kolchose einzutreten. Aber jetzt haben wir uns daran gewöhnt und fürchten, wie könnten die Kolchose verlieren. Denn wie sollen wir ohne Kolchose leben?« [B99Dwr.SS] Diese Erzählung – der Gründungsmythos der Gemeinschaft der Kolchosniks – wird in die eschatologischen Kategorien vom Ende der Welt und ihrem Neubeginn gefasst, sie spricht von grausamen und unbegreiflichen zerstörerischen Mächten, welche der um die Kategorie des Eigenen zentrierten lokalen Welt der Landwirte das Attribut des Subjekthaften nehmen und eine neue, moderne Form von Leibeigenschaft etablieren. Die Gemeinschaft der Kolchosniks/Untertanen ist zunächst gelähmt durch die Erfahrung von Angst und Verlust, passt sich jedoch mit der Zeit den neuen Bedingungen an und reintegriert ihre Bestrebungen unter den neuen materiellen und sozialen Umständen um den zentralen Wert des bäuerlichen Ethos – die Solidarität mit dem Leben. Die Erzählung der Kolchosniks über die Kollektivierung lässt sich demnach auch als Zeugnis der Genugtuung darüber lesen, dass es der lokalen Gemeinschaft gelang zu überleben. Betrachten wir nun dieses »von den Trägern der gemeinschaftlichen Erinnerung geschaffene Epos« [Hajduk-Nijakowska 2015] aus der Sicht ihrer – kollektiven und individuellen – Protagonisten. Weil die Erzählungen von der Kollektivierung im Osten und im Westen des Landes sich zwar in der Faktographie
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der Ereignisse und in der Akzentsetzung unterscheiden, in ihrem basalen semantischen und axiologischen Inhalt sowie in Aussage und emotionalem Duktus aber identisch sind, präsentiere ich die beiden Varianten hier als eine Erzählung. Der kollektive Protagonist dieser Erzählung ist die Dorfgemeinschaft. Die individuellen Erinnerungserzählungen beginnen meist mit der Schilderung aussichtsloser Versuche des kollektiven Widerstands gegen die von dämonischen Kräften von außen aufgezwungenen destruktiven Veränderungen. Gleichzeitig erfahren wir von der kollektiven Reaktion auf diese Veränderungen – auf die Erfahrung des Verlusts – in Gestalt der Flucht in Trauerrituale. In den Dörfern herrschte Verzweiflung. Unter Tränen und Klagen wurden die ersten Kolchosernten eingeholt, das von den Landwirten noch auf den eigenen Äckern ausgesäte Getreide landete schon in den Kolchosscheunen. Im Dorf Naþa an der litauischen Grenze (später Zentrum der Kolchose Svetlyj put’) »weinten die Frauen, als wäre jemand gestorben« [G98Nac.TW]. »Die Leute hatten im Herbst gesät, doch im Frühjahr durften sie nicht mehr ernten. Sie brachten sie in die Kolchosen. Und darum weinten die Frauen. Sie nahmen die Sicheln und weinten. Ich habe es selbst gesehen. […] Alle gingen auf dem Weg und … Und weinten wie um einen Toten« [G11Nac.TW].
Wie im Begräbnisritual trauerte man um den für die Kolchose konfiszierten Besitz: Vieh und landwirtschaftliches Gerät. Es handelte sich um eine öffentliche Klage,7 darum, »sich vor aller Augen zu zeigen«, wie Roch Sulima, einer der Erforscher des bäuerlichen Ethos, schreibt. »Die Wehklage, das Beweinen war eine Reaktion auf große Katastrophen […]. Die ›Grenzsituationen‹ im bäuerlichen Leben wurden durch den formal und emotional überaus reichen Inhalt der Klage bewältigt und neutralisiert. […] Die Klage war meist improvisiert, sie entsprang einer Aufwallung des Schmerzes […], sie konfrontierte den Menschen mit den letzten Dingen« [Sulima 1992: 42, 82-87, 125].
Ungeachtet der Erfahrung von Verzweiflung und Angst leisteten die Bauern Widerstand, in manchen Dörfern solidarisch und organisiert wie in Papernja bei Lida (später ein Dorf der ýapaev-Kolchose), das erst 1953 der Kolchose beitrat.
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Klagerituale werden bis heute in belarussischen Dörfern als Bestandteil von Bestattungszeremonien praktiziert. Gustaw Juzala, der sich mit litauisch-belarussischen Klageritualen befasste, merkt an, dass auf diesem Gebiet nicht nur Begräbnis-, sondern auch Hochzeits- und Kriegsklagerituale existieren (vgl. Juzala 2007: 171-179).
270 | A NNA ENGELKING »Dort herrschte Krieg. Oh, Papernja wollte nicht beitreten! […] Was haben sie ihnen dort zugesetzt, oje oje, wegen der Kolchose. Aber Papiernja hat standgehalten, sie haben Wodka gebrannt, sind über die Märkte gezogen, nur davon [vom Wodka] haben sie gelebt…« [G97Cze.HG]. »Sie haben uns die Ernte weggenommen. Die Kolchose wollte sie haben. Nun, wir hatten noch unsere Äcker. Im Winter hatten die Leute gesät, aber ernten wollten jetzt sie. […] Die Leute haben sie nicht gelassen, haben geweint […]. Sie haben sich unter die Autos gelegt, als die Kolchose zum Ernten kam. Und haben ihnen nichts gegeben« [G99Pap.MB].
Was im Bauerndorf Papernja gelang, scheiterte im Adelsdorf Zanjaviþy bei Indura. Dort waren die Bauern im Kampf um ihr Eigentum chancenlos. »Das Wintergetreide hatten wir noch selbst gesät. Sie hatten versprochen, uns die Ernte zu überlassen. Sie sagten: ›Ihr werdet selbst ernten.‹ […] Aber von wegen! Der Sommer kam, und was war los?! Die Frauen zerschnitten die Stricke in den Mähmaschinen. Sie wurden ins Gefängnis geworfen. Es half nichts, sie nahmen uns alles weg« [G06Zan.WZ].
Um die Dörfer zum Eintritt in die Kolchose zu zwingen, wurden die Bauern mit so hohen Steuern und Pflichtabgaben belegt, dass die Höfe bankrott gingen. »Mit Gewalt, mit Gewalt haben sie gedrängt. Also, da kommt einer und fängt an, alle Belege zu prüfen. Sie hatten uns Verpflichtungen gegeben, wie viel Getreide, wie viel so und so. Und da kommt der: ›Warum habt ihr nicht geliefert?‹ Und fängt an – nicht genug Milch geliefert, nicht das und das. Sie ließen uns nicht in Ruhe, ja, wegen so was« [G06Stn.RS]. »Sie verlangen Steuern. ›Aha, du bist nicht eingetreten?‹ Einen Tag oder eine Woche später kommen sie wieder, und es heißt: zweimal soviel, dreimal soviel. Die Leute konnten nicht zahlen und mussten eintreten« [G93Waw.PA].
Der Widerstand der Bauern wurde gebrochen. Sie wurden Kolchosniks. »Na und dann wussten die Leute nicht mehr weiter. Sie traten ein und fertig« [G06Ob.LO]. »Später meldeten sie sich so oder so. Einer trat ein, ein anderer trat ein, und die anderen folgten ihnen. Was wolltest du machen?« [G99Pap.WL]. Der Eintritt in die Kolchose – so wollte es die sowjetische Ideologie und auch das sowjetische Recht – musste freiwillig erfolgen. Jeder Bauer, ob er wollte oder nicht, füllte eine Anmeldung aus und bestätigte sie mit seiner Unterschrift (Analphabeten machten ein Kreuz). Die zum Kolchosbeitritt gezwungenen Bauern »weinten blutige Tränen und gingen freiwillig« [G98Bl.JWM]. Meine Gesprächspartner beschreiben den Terror, mit dem dieser »freiwillige« Beitritt erzwungen wurde: »Sie prügelten mit Knüppeln, plünderten, verurteilten – ja, das gab es. Was es nicht alles gab! Sie nahmen dir die Kühe weg und die Pferde, alles. Und dann hieß es: ›Tritt der Kolchose
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bei!‹ Und das war’s. Du musstest beitreten. Sie haben alles ausgefüllt, aber unterschreiben musstest du selbst. Tja, gegen Knüppel machst du nichts!« [G93Pap.AW]. »Sie drohten auf alle möglichen Weisen. […] Jemand hatte viel Land, dann war er für sie ein Kulak – wenn er gut wirtschaftete. Dann kamen sie gleich, und – du bist ein Kulak! […] Vater ging nicht in die Kolchose. Er wollte seine Kühe und Pferde behalten. Aber sie nahmen ihm das Land, rund um’s Haus. Sie sagten: ›Kauf dir ein Flugzeug und flieg damit hin und her, denn auf diesem Boden hast du kein Recht mehr zu laufen.‹ Tja, da gab es keinen Ausweg, er ging in die Kolchose« [G06Stn.RS].
Für den Kolchosbetrieb wurden neben Land auch Nutztiere, landwirtschaftliches Gerät und Gebäude konfisziert. Der auf diese Weise ›vergesellschaftete‹ Besitz wurde zur kollektiven Arbeitsstätte, doch in den ersten Jahren nach der Kollektivierung garantierte die Arbeit in der Kolchose keine ausreichenden Mittel für den Lebensunterhalt. In der Erinnerung der Gesprächspartner figuriert dieser Abschnitt als Zeit eines dramatischen Überlebenskampfs, in der sie nicht nur hungerten und bettelten, sondern auch gezwungen waren zu stehlen. Den Arbeitslohn erhielten sie in Naturalien: Für die geleisteten Arbeitstage erhielten sie am Ende des Jahres (mitunter zwei Mal im Jahr) eine bestimmte Menge Getreide. »Ja, du arbeitest in der Kolchose, und was haben wir damals verdient? [...] Ich habe für ein ganzes Jahr nur 96 Kilo Gerste verdient, mehr nicht. Roggen für Brot null. Man grub sich sein eigenes Grab« [G97Mac.TR]. In der Fabularisierung der traumatischen Erfahrung der Zwangskollektivierung flüchten sich die Gesprächspartner zur Ausdrucksmitteln wie Aufzählung und Wiederholung: »Oje, wie sie alles zerstörten! Die Leute zerstörten sie und alles. Oje, was für eine Zerstörung!« [G94Sur.MC] »Sie nahmen dich mit und schickten dich nach Sibirien. Sie hielten dich für einen Kulak und schickten dich nach Sibirien« [G97Rou.ATB]. »Sie haben uns alles genommen, alles kaputtgemacht«, »Ach, wie furchtbar, furchtbar das war« – das sind die charakteristischen Wendungen, die refrainartig in fast jedem Gespräch über die Kollektivierung auftauchen, ähnlich wie die zahlreichen Anrufungen Gottes, Jesu und der Gottesmutter oder die lexikalischen und phraseologischen Referenzen auf das Evangelium und zumal die Passionsgeschichte. Sie entstammen dem linguistisch-stilistischen Repertoire bäuerlicher Trauer- und Klagegesänge und religiöser Texte (vor allem Litaneien und Begräbnislieder). Es handelt sich um konventionalisierte Formen, um extreme Emotionen auszudrücken, zugleich aber auch um einen Beleg dafür, dass die geschilderten Ereignisse einen Bezug zu mythischen Mustern haben, die immer dualistisch über Oppositionen wie Leben-Tod, Gut-Böse, Gott-Teufel konstruiert werden. Hier nun einige Beispiele für die kollektive Klage in ihrer Funktion als »Selbstbild des Volkes« [Sulima 1992: 125].
272 | A NNA ENGELKING »Dann kamen unsere ›Befreier‹ […]. Sie nahmen uns alles, alles nahmen sie, nur eine Kuh ließen sie da […]. Sie nahmen uns das Land, sie nahmen uns das Pferd, sie nahmen uns den Wagen, und Ende… So blieben wir zurück« [G97Cze.HG]. »Und es gab kein Brot, sie nahmen uns das Getreide, sie nahmen uns das Land, sie nahmen uns alles. Alles, was man für die Landwirtschaft braucht: die Pflüge, die Eggen, die Pferde, die Scheunen. […] Ach, das war schwer. Die Kolchose. Alles war kaputt, alles war durcheinander. Waren die Leute reich, hieß es: Du darfst nichts haben, du sollst nicht leben. Sie nahmen uns alles, alles nahmen sie uns, alles nahmen sie für Russland« [G97Pap.MS]. »Ach, es war schwer. Es herrschte Hunger. Die Leute hungerten. Es gab nichts. Stalin verschleppte so schrecklich viele Leute. Sie kamen nachts, trieben eine ganze Familie auf die Straße und gleich ins Auto. Und so verschleppte Stalin die Leute. Ja, Stalin war ein schlechter Mensch. […] Ach, wir hatten es schwer. Ach, wir fürchteten ihn, Stalin« [G94Krp.SS]. »Wir blieben als Waisen zurück, ohne Mutter, ohne Vater, wir gingen um Brot betteln. Wir aßen verfaulte Kartoffeln und wir aßen Eicheln. […] Sie nahmen viele Leute mit wie meinen Vater. Viele. Sie brachten sie nach Masyr und dort erschossen sie die Leute, töteten sie. ’37« [H03Mjs.WN]. »Die Leute plagten sich ab mit diesem Leben. Gott, wie sie uns quälten! Wir lebten in Angst. Du konntest nirgends hin, sie packten dich, sie drohten dir, sie machten alles mir dir, so dass du vor lauter Nerven am ganzen Leib zittertest. […] Die Sowjetmacht legte ihre Hand auf alles und packte fest zu, immer nur ›njet‹. Sie schickte all diese Kommunisten her und gab ihnen die Macht über das Volk« [G97Mej.FK].
Die für die inhaltliche Ebene der Erzählung der Kolchosniks über die Kollektivierung konstitutiven Bilder bewegen durch ihre emotionale Kraft. Die Menschen haben Tränen in den Augen, während sie erzählen. Viele weinen, weil sie die vorherrschenden Emotionen jener Zeit aufs Neue durchleben: Angst, Verzweiflung, Wut. Das Gefühl der Ohnmacht und Erniedrigung lebt wieder auf, wenn sie über die angesehenen Bauern in den Dörfern der Vorkolchoszeit – ihre Väter, Großväter, Nachbarn – sagen: »Sie haben die besten Leute vernichtet« [H03Zah.HI]. Der individuelle Protagonist der Klageerzählung von der Kollektivierung, die zentrale Gestalt des Erzählflusses, ist nämlich der von den sowjetischen Behörden und der Propaganda zum Hauptfeind erkorene Kulak. In der offiziellen Darstellung war er ein Geizhals und Blutsauger, der größte Feind des arbeitenden Volks. In der bäuerlichen Vorstellung von der sozialen Welt war er im Gegensatz dazu derjenige, der »fürchterlich schuftete« und »ein guter Landwirt« war. Der Kulak, der über die von ihm mit höchstem Einsatz geleistete Arbeit auf dem Feld definiert wird, bildet die Verkörperung des bäuerlichen, nicht adligen, Ideals des arbeitsamen Menschen: »Wer fleißig war, der wurde Kulak« [H03Zah.MH]. Zu Zielen ideologischer Angriffe und Opfern des Terrors wurden nämlich die am besten wirtschaftenden Bauern, die das autonome Modell des guten Landwirts verkörperten, in dem sich die gemeinschaftlichen Werte, Modelle und Ziele bündelten.
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»Stalin regierte. Die, denen es etwas besser ging, ließ er deportieren. Wie sie sie nannten – Kulak. Aber was für Kulaken, wenn sie von früh bis spät schufteten und dafür sorgten, das alles da war?« [G98Nac.JK]. »Und wie viele Leute starben? Und meistens waren es die guten Landwirte. Wenn sie das Land bebauen konnten, hießen sie bei uns Kulaken. Der Kulak war ein ›Volksfeind‹ und wurde sogleich von ihnen verschleppt« [G97Rou.ATB]. »Sie wurden nach Russland verschleppt. Weil sie angeblich reich waren. Aber was für ein Reichtum war das schon? Sie mühten sich ab. Sie aßen nichts. Man musste alles für den Betrieb kaufen. Eggen, Maschinen, alles mögliche. Ihre Milch und ihre Sahne trugen sie auf den Markt und verkauften sie. […] Also sie waren wohlhabend, aber keine Kulaken« [G98Nac.JW]. »Großvater ging in Pantoffeln, er baute Häuser, schöne Häuser. Und wofür wurde er verbannt? Er wurde dafür verbannt, dass die Leute furchtbar schufteten, dass sie in Pantoffeln gingen. […] Und Großvater kam nicht zurück, er starb dort in Sibirien« [H03Alk.MD]. »Hier bei uns ging eine Gruppe herum und entkulakisierte. Die einen wurden entkulakisiert, andere verbannt. […] Und wofür? Dafür, dass sie arbeiteten. Sagen wir, einer hatte zum Beispiel fünf Kühe, zwei, drei Pferde, ein bisschen Land – und dafür wurde er verbannt. Was übrig blieb, wurde geplündert, und ihn schickte man in den Tod« [H03Wic.RD]. »Also, wenn einer einen Sack Weizen hatte oder auch Gerste – dann nahmen sie alles mit. Sie entkulakisierten. Alles, alles nahmen sie mit. Bis hinter den Ural schickten sie die, denen… Ach, nur daran zu denken, sie schufteten furchtbar, diese Leute. Darum haben sie sie Kulaken genannt. […] Aber einst ist der Kulak in Pantoffeln gegangen. Er hat nichts Gutes gesehen« [H03Hln.HM].
Der Protagonist der Erzählungen der Kolchosniks über die Entkulakisierung ist der fleißige, umsichtige und lebenstüchtige Bauer als guter Landwirt, d.h. als Verkörperung des bäuerlichen Ideals der Arbeitsmoral. Die Attribute, die von seiner Unschuld und Rechtschaffenheit zeugen, sind unter anderem die heute die Armut der Bauern symbolisierenden Pantoffeln und die Phrase »er hat nichts Gutes gesehen« – eine für die bäuerliche Klage charakteristische Pointe und Quintessenz der bäuerlichen Existenz. Die Kolchosniks wiederholen: »Wir haben überlebt. Aber wir haben nichts Gutes gesehen außer Qual und Arbeit« [H03Jur.AK]. Wie uns die Erzählung der Kolchosniks zeigt, bedeutete die Vernichtung der als Kulaken diffamierten Landwirte durch die totalitäre Maschinerie der Zerstörung aber keineswegs die Löschung des Idealmodells des guten Landwirts aus ihrem sozialen Imaginarium.
Ü BER
DAS
»P HÄNOMEN DER AKZEPTANZ «
Im Lichte dessen, was uns die Erzählung von der Kollektivierung über die Erfahrung der Zerstörung der alten Welt vermittelt, mag die heutige Akzeptanz des
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Kolchossystems auf den ersten Blick verblüffen. Zeit also, sich mit diesem »Phänomen der Akzeptanz« zu befassen. Nach einer anfänglichen Phase der Verzweiflung, der Rebellion und des Überlebenskampfs verbesserte und stabilisierte sich die Lage der Kolchosniks. Sukzessive ließ auch der Druck der Obrigkeit nach. Die Menschen hungerten nicht mehr und befreiten sich allmählich aus der Armut. Ab Mitte der 1960er Jahre wurde die Arbeitsleistung nicht mehr in Naturalien vergolten, die Kolchosniks bekamen Löhne und auch Renten. Sie waren nicht länger wie Leibeigene an ihr Dorf gebunden. Als letzte Gruppe der Sowjetbürger erhielten sie nicht nur Geld, sondern auch Personalausweise, die unerlässlich waren, wenn man außerhalb des ländlichen Raums leben und arbeiten wollte. Im Laufe der Jahre trat dann das für mich am Beginn meiner Forschungen so überraschende »Phänomen der Akzeptanz«, die Gewöhnung an die Kolchose, in den Vordergrund. »Das Leben war schwer. Aber später gewöhnten wir uns daran. Und noch später war schon das ganze Leben in der Kolchose« [G93Pln.JD]. Von was zeugt die Gewöhnung an das schwere Leben? Ist der meistgehörte Kolchosrefrain »Was kannst du schon tun? Nichts kannst du tun…« ein Zeichen von Ohnmacht? Sicher ja. »Ach, wo werden wir enden?«, »Wir können nirgendwo anders hin« – das sind habituelle, ritualisierte Phrasen; hinter ihnen steht das Menschenbild der traditionellen »fatalistischen Konzeption des bäuerlichen Unglücks, das eher der natürlichen Ordnung der Welt als menschlichem Willen zugeschrieben wird« [ObrĊbski 2007b: 293]. Der Mensch als Bauer wird hier durch das Prisma der archaischen Kategorie des Schicksals wahrgenommen. Darum sagen die Kolchosniks: »Es ist unser Schicksal, dass die Sowjets herkamen, dass wir hier bei ihnen geboren wurden und dass wir leben und dass wir müssen« [G97Dyl.BS]. Allerdings lässt sich aus dem »Nichts kannst du tun« der Kolchosniks mehr als nur Fatalismus herauslesen. Dieser Refrain ist auch Ausdruck einer pragmatischen, aus der Auffassung vom Leben als oberstem Wert resultierenden Haltung: »Mögen die Leute die Kolchose?« »Nun, ja, sie mögen sie. Aber was kannst du tun? Ob du sie magst oder nicht, du musst leben und Ende« [G99Pap.WL]. Der Refrain »Nichts kannst du tun« ist auch ein Beleg für den sozialen Konformismus, dessen sprachliche Manifestationen in verbreiteten, ständig wiederholten sprichwörtlichen Wendungen und Phrasen greifbar werden. Einige Beispiele: »Gegen den Wind bläst du nicht an«, »Einer gegen alle kommt nicht weit«, »Einer allein im Feld ist kein Soldat« oder »Die Pferde laufen in den Stall, also laufen wir mit« [B99Czw.WZ]. Ein besonders eindrückliches Beispiel für diese Art von Phrasematik ist die emotionale Aussage einer Gesprächspartnerin: »Was kannst du schon tun? Wie das Sprichwort sagt: Auf wessen Wagen du fährst, dem sollst du
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ein Lied singen. Was tun? Leben willst du – also pass dich an. Was kannst du schon tun? Wo willst du hin? Willst du gegen den Wind anblasen?« [G94Sur.WS] In diesem Kontext kann auch von bäuerlichem Stoizismus gesprochen werden – dem »bäuerlichen Überdauern«. Dessen Wesen veranschaulicht die folgende Anekdote aus einer Kolchose: »Sagt ein Landmensch zum neuen Direktor der Kolchose: ›Du bist schon mein achter.‹ – ›Was meinst du?‹ – ›Du bist gekommen und wirst wieder gehen, ich war schon hier und werde bleiben‹« [G98Nac.TW]. Die Sowjetmacht nahm den Bauern den Besitz und versuchte ihnen die Würde zu nehmen, aber sie nahm ihnen nicht das Leben, den fundamentalen und universellen Wert, der das bäuerliche Weltbild strukturierte. Am Leben zu bleiben wurde für die Kolchosniks zu einer Aufgabe, deren Erfüllung sowohl intellektuelle und physische Kompetenzen als auch ungeheure psychische Kräfte erforderte. »Aber wir leben. Wir essen Brot. Ja, so ist es. Genau so ist es« [G99Pap.WL]. Die Kunst des Überlebens und die untrennbar mit ihr verbundene spontane Affirmation des Lebens scheinen die Kolchosniks zur Perfektion gebracht zu haben. Angesichts der enormen Anstrengung, der Aktivität und dem Unternehmergeist, welche die belarussischen Bauern in den vergangenen Jahrzehnten aufwenden mussten, um zu überleben, erscheinen die abwertenden Meinungen über sie allenfalls als Stereotype, die aus einer vermeintlich überlegenen und im Grunde kolonialen Perspektive aufgestellt wurden. Wenn man den Kolchosniks aufmerksam zuhört, bemerkt man in ihren Erzählungen ein weiteres charakteristisches Konstruktionsschema. Oft beenden sie – auf eine Weise, die man als rituell bezeichnen möchte – ihre Schilderungen des überaus harten, von auszehrender Arbeit erfüllten Lebens mit Wendungen wie »wir leben«, »na, irgendwie haben wir überlebt« oder »und das alles haben wir überlebt«. Das affirmierende »Wir haben überlebt!« fungiert als Pointe der schmerzlichsten Geschichten und leidvollsten Erinnerungen. Etwa dieser: »Das war eine Schinderei… Sie errichteten die Kolchose, trieben uns in die Kolchose. Wir sind nach Wilna gefahren, für Brot, es herrschte Hunger. Und wir stachen Torf… Jetzt, oh, da haben sie Autos, Traktoren, aber wir haben allein in den Wäldern, in den Sümpfen gearbeitet. Wir haben geträumt… Ein paar Kopeken werden sie zahlen und 100, 200 Gramm Getreide pro Arbeitstag. Aber von wegen! So oder so, wir haben überlebt « [G98Puz.Dĩ].
In diesen Erzählungen schwingt der Stolz der Kolchosniks mit, dass sie überlebten; sie wissen das Heute zu schätzen, und sie blicken ohne Groll aufs Gestern. Sie sind nicht verbittert; sie scheinen mit sich und ihrem Schicksal im Reinen. Mit Roch Sulima könnte man für die Erinnerungserzählungen der Kolchosniks vom »biblisch-evangelischen Motiv des durch die Möglichkeit des Verlusts und Wiedererlangens«, das heißt durch das »Bewusstsein des Überdauerns« »gestärkten Men-
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schen« [Sulima 2001: 165] sprechen. Das Leben und Überleben, Dauern und Überdauern, bilden den Kern des einstmals für das bäuerliche Leben und heute für das Leben in der Kolchose grundlegenden Ethos. Es sind die Werte, die es den Kolchosniks letztlich ermöglichten, das antibäuerliche und antisakrale sowjetische Kolchossystem zu akzeptieren. Die Überlebensstrategien der Kolchosniks dürfen nicht mit Passivität und Resignation assoziiert werden. Sie sind motiviert durch ein von der Affirmation des Lebens diktiertes Einverständnis mit dem Schicksal, das von der Anerkennung der Gesetze zeugt, welche die Ordnung der Dinge regeln. Und diese Ordnung gründet auf der Überzeugung, dass an der Spitze der Hierarchie Gott steht, der alles geschaffen hat und alles lenkt. »Wenn es Gott gibt, dann soll es so sein«, sagen die Kolchosniks. Und überlassen Gott die Sorge um alles, was außerhalb ihrer Möglichkeiten und Erfahrungen, ihres Wissens und ihrer Vorstellungskraft liegt und wofür sie nur ein Schulterzucken haben: »Das weiß Gott allein…« Aber aus diesem Grund können sie auch sagen: »Mit Gottes Hilfe werden wir schon irgendwie überleben…« [G97Mej.MP]. Denn: »Gott gibt Armut und Beständigkeit« [G10Pap.MB]. »Gott hat all das gesandt. Gott. Wie Sibylle geschrieben hat. Alles geschieht so, wie sie es beschrieben hat« [G93Pap.MS]. »Wenn man bei Sibylle nachschaut, da erfüllt sich alles, ja. Dass es die Kolchosen gibt. Oh, seht ihr… Sie werden die Feldraine auslöschen, das Ödland beackern, aber das Brot, so teuer es war, so teuer wird es bleiben« [G93Pap.AW]. »Sibylle sagte, es würde fruchtbare Felder und Berge von Weizen geben, aber die Leute würden kilometerweit für Brot fahren. Und so war es auch! Es gab Brot und es gab Weizen, aber alles musste man der Kolchose abgeben. Alles, was die Leute gesät hatten, mussten sie der Kolchose abgeben, aber den Leuten gaben sie nichts, außer am Ende des Jahres ein Pfund Roggen« [G98Mic.HK].
Man könnte also sagen: Es gibt die Kolchosen, weil es so bestimmt war. Das erinnert an eine der von Ludwik Stomma formulierten Gesetzmäßigkeiten des für die Volkskultur typische isolierte Bewusstsein: »es ist so, wie es sein soll« [Stomma 1986: 82]. Für die Kolchosniks existieren die Kolchosen, weil es so hatte sein sollen. Sie leben in der wahrgewordenen Prophezeiung der Sibylle. »Was die heilige Sibylle geschrieben hat, das wird auch so gemacht« [G98Nac.JI]. Dies ist ein weiterer Aspekt des »Phänomens der Akzeptanz«: das Einvernehmen mit der Wirklichkeit, das aus der Übernahme der mythischen Begründung der Ordnung der Welt resultiert. Darum handelt es sich bei der Unterwerfung unter den göttlichen Willen, der die Welt durch das Prisma sich erfüllender Prophezeiungen wahrzunehmen befiehlt.
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Ein weiterer – und wie ich meine zentraler – Aspekt des »Phänomens der Akzeptanz« sind die Wirkmacht, welche die Kolchosniks in ihren Überlebensstrategien beweisen, und das Engagement, mit dem sie ihre tägliche Arbeit verrichten. Die Arbeit – heute gleichbedeutend mit Einkommen und der Freiheit, über sich selbst zu entscheiden – erlaubte es ihnen, das fundamentale Identitätsmodell des Bauern als Herrn zu realisieren. Das Modell des Landwirts-Kulaken, der durch harte Arbeit seiner Familie zu Wohlstand verhilft, war nämlich mit der Kollektivierung keineswegs in Vergessenheit geraten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde das Kolchossystem liberalisiert; die Kolchosniks können heute Land pachten oder kleine Parzellen als Eigentum erwerben. Wer sich dazu bereit fühlt, kann das tun – und sogar bereits verrentete Kolchosniks nutzen diese Möglichkeit. Ein Kolchosnik sagte im Gespräch: »Man will ja leben, wisst ihr? […] Ich habe keine Zeit. Meine Frau und ich wollen ein neues Auto kaufen. Also haben wir viele Tomaten gepflanzt. Einen ganzen Garten. Und einen zweiten mit Kohl. Wir verkaufen alles, dann kaufen wir das Auto. […] Man muss früh aufstehen, denn man muss hochbinden, jäten, ja. [...] Und Gott danken, wisst ihr« [G06Boh.TB].
Andere pflichten bei: »Jetzt ist es freier. Früher gaben sie einem nur 30-Ar-Parzellen und man durfte keinen Roggen anbauen, sondern nur Kartoffeln, Gemüse, Obst. Und jetzt bitte sehr, kannst du auch einen Hektar haben. Du kannst auch Roggen anbauen. Du kannst auch Tabak anbauen. Was du willst!« [B99Win.AK]. »Heute hat der Landwirt ein Pferd, er hat etwas Land – bau an, soviel du willst! Die Rentner zahlen keine Steuern. Sie bauen an, machen das Ihre, alles machen sie« [H03Alk.AW]. »Das ist jetzt mein Eigentum. Das Land ist gekauft, alles hier, rings ums Haus. Achtzehn Ar. Das kann ich jetzt überlassen, wem ich will. Wenn eins von den Kindern will, dann haben sie schon was…« [G10Waw.WM].
Sobald die Kolchosniks Land erhalten, über das sie selbst verfügen können, und somit die reale Möglichkeit besteht, dass sie es mit ihren eigenen Händen bearbeiten können – kehren die Kulaken zurück. Und der Bauer wird zum Herrn. Die Erzählung von Kollektivierung und Entkulakisierung ist auch ein Beleg dafür, dass die Kategorie des Eigenen – des eigenen Lands, des eigenen Betriebs und der Arbeit auf eigenem Grund – trotz aller Versuche, sie zu zerstören, weiterhin den zentralen Wert bildet, um den sich die täglichen Lebensaktivitäten der Kolchosniks gruppieren, die sich als Landwirte dort realisieren, wo sie keinen Herren über sich haben – auf den Restgütern der alten Höfe, die sie als Eigentum erwerben können. Viele von ihnen entdecken sogar die Attribute bäuerlicher Autonomie in den heutigen Kolchosen, in denen sich das »Herr sein« über die den Lebensunterhalt sichernde Arbeit konstituiert: »Jetzt ist es wirklich nicht schlecht in der
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Kolchose. Es lässt sich leben. Früher gab es viele Herren. Aber jetzt ist jeder sein eigener Herr. Denn geh hin, arbeite, und du wirst Herr« [G98Nac.JN].
S CHLUSS Motiviert durch die Sorge darum, dass die Erde Früchte tragen möge und so auch die menschliche Welt fortbestehen könne, überlebten die Kolchosniks und verarbeiteten die im 20. Jahrhundert erlittenen Traumata der Kollektivierung, Atheisierung und Auslöschung. Die begrifflichen und axiologischen Strukturen der longue durée, welche dem bäuerlichen sozialen Imaginarium und der bäuerlichen Identität Sinn und Kohärenz gaben, halfen ihnen, ihre Identität als Gemeinschaft einfacher und arbeitsamer Christen-Menschen vor der Vernichtung zu bewahren. Dabei halfen ihnen auch die in dieser Gemeinschaft praktizierten Klage- und Erzählrituale, mit deren Hilfe Verlust und Leiden verarbeitet und integriert sowie Wertsysteme und Sinnstrukturen rekonstruiert werden konnten. So wurde also die Welt der belarussischen Kolchosniks noch einmal verlängert: »Bei Sibylle, in der Bibel heißt es, wenn die Leute an Gott glauben, wird die Welt verlängert. Und wenn es nicht genug Gläubige gibt, dauert die Welt nur bis zum Jahr 2000. Aber bei uns gibt es noch viele Gläubige« [G94Rdz.WR]. Die Identitätserzählung der Kolchosniks ist eine Geschichte eines dramatischen Kampfs ums Leben und Überleben: über die »Verlängerung der Welt«, nachdem sie in Trümmer fiel. Sie ist zu lesen als elaborierter, der Regeneration dienender Klagetext und zugleich als Loblied auf das Leben und Ausdruck des bäuerlichen Stolzes darüber, dass die Gemeinschaft – obwohl es unmöglich schien – überdauerte und weiterbesteht. Diese Erzählung vom Überdauern – die den Impuls für die Verarbeitung des Traumas bildende Geschichte des »Phänomens der Akzeptanz« der Kolchose lieferte – bildet den Wesenskern des Gründungsmythos der Kolchosnik-Gemeinschaft. Die belarussischen Kolchosniks – die bis heute zu einem bedeutenden Teil in einer vormodernen Welt leben – scheinen sich als Objekte, nicht als Subjekte der geschehenden Geschichte zu verstehen. Über ihr kollektives Schicksal entscheiden äußere physische und metaphysische Kräfte in Gestalt von Herren und Zaren, Kommunisten und Nationalsozialisten, Gott und Teufel. Doch darf man ihre kollektive Identität keinesfalls auf das Gefühl erlittenen Unrechts reduzieren. Sie hat nämlich einen zweiten, immens wichtigen Pol: das in der Arbeit realisierte sakrale Modell des Bauern als Landwirt. Der heutige Kolchosnik findet wie der einstige Landwirt Erfüllung im Streben nach diesem für die bäuerliche Subjektivität fundamentalen Ideal. Und wenngleich dieses Ideal durch das mythische und soziale
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»Schicksal« geprägt wurde, hängt seine Verwirklichung doch von Wille und Aktivität des Einzelnen ab. Jenes alte Ideal des »arbeitsamen und frommen Menschen«, das sich im ideologischen Hauptfeind des sowjetischen Kolchossystems, dem als Kulaken diffamierten Landwirt, verkörpert, gehört zur belarussischen »Gegengeschichte«: dem kollektiven Gedächtnis als »Akt des Widerstands« gegen den vorherrschenden Diskurs, der aufgrund seiner revolutionären Inhalte eine »kontrapräsentische oder kontrafaktische« Funktion erfüllt (Assmann 1997: 83-86). Weitere Untersuchungen zu diesem Phänomen und darüber hinaus zur Erinnerung der belarussischen Bauern könnten diesen Menschen, die in den langen Jahren der Existenz des totalitären sowjetischen Staates ähnlich wie während der Jahrhunderte der Leibeigenschaft zum Schweigen verdammt waren, die Stimme wiedergeben. Sie wären damit nicht nur Teil des Prozesses der Wiederherstellung verdrängter Erinnerungen, ihrer Objektivierung und Integration ins belarussische kollektive Gesamtgedächtnis, sondern wirkten auch an der Befreiung durch die Erinnerung mit. Dies könnte letztlich zur Dekolonisierung und Selbstermächtigung der belarussischen Identität beitragen. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann.
I NTERVIEWPARTNER Bezirk Brest B99Czw.WZ: weiblich, 74 und 85 Jahre alt, orthodox; Czuczewiczy, Kreis Łuniniec; 1999; Gespräch A. Engelking. B99Dwr.SS: weiblich, 80 Jahre alt, orthodox; Dworec, Kreis Łuniniec; 1999; Gespräch A. Engelking. B99Win.AK: männlich, 78 Jahre alt, orthodox; Wiczyn, Kreis Łuniniec; 1999; Gespräch A. Engelking. Bezirk Hrodna G06Boh.TB: männlich, 70 Jahre alt, katholisch; Bohatyrowiczy, Kreis Mosty; 2006; Gespräch A. Engelking. G06Ob.LO: weiblich, 78 Jahre alt, katholisch; Obuchowiczey, Kreis Grodno; 2006; Gespräch A. Engelking. G06Stn.RS: männlich, 75 Jahre alt, katholisch; Staniewiczey, Kreis Berestowica; 2006; Gespräch A. Engelking. G06Zan.WZ: männlich, 81 Jahre alt, katholisch; Zaniewiczy, Kreis Grodno; 2006; Gespräch A. Engelking.
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G10Pap.MB: weiblich, 70 Jahre alt, katholisch; Papiernia, Kreis Lida; 2010; Gespräch A. Engelking. G10Waw.WM: männlich, 78 Jahre alt, katholisch; Wawierka, Kreis Lida; 2010; Gespräch A. Engelking. G11Nac.TW: weiblich, 69 Jahre alt, katholisch; Nacza, Kreis Woronowo; 2011; Gespräch A. Engelking. G93Pap.AW: männlich, ca. 70 Jahre alt, katholisch; Papiernia, Kreis Lida; 1993; Gespräch A. Engelking. G93Pap.LAP: Ehepaar, ca. 60 und 65 Jahre alt, katholisch; Papiernia, Kreis Lida; 1993; Gespräch D. ĩyczyĔska-Ciołek. G93Pap.MS: weiblich, 71 Jahre alt, katholisch; Papiernia, Kreis Lida; 1993; Gespräch A. Engelking. G93Pln.JD: männlich, 66 Jahre alt, katholisch; PieluĔcey, Kreis Woronowo; 1993; Gespräch J. Cichocki. G93Rou.SR: weiblich, ca. 70 Jahre alt, katholisch; Rouby, Kreis Lida; 1993; Gespräch P. Piszczatowski. G93Waw.PA: männlich, 62 Jahre alt, katholisch; Wawierka, Kreis Lida; 1993; Gespräch A. Engelking. G94Krp.SS: weiblich, ca. 80 Jahre alt, katholisch; Krupowo, Kreis Lida; 1994; Gespräch D. ĩyczyĔska-Ciołek. G94Rdz.WR: weiblich, 52 Jahre alt, orthodox; Radziwoniszki, Kreis Lida; 1994; Gespräch A. Engelking. G94Sur.MC: weiblich, ca. 65 Jahre alt, katholisch; Surkonty, Kreis Woronowo; 1994; Gespräch K. DołĊgowska. G94Sur.WS: weiblich, 78 Jahre alt, katholisch; Surkonty, Kreis Woronowo; 1994; Gespräch J. Straczuk. G97Cze.HG: weiblich, 70 Jahre alt, katholisch; Czeszejki, Kreis Woronowo; 1997; Gespräch O. Linkiewicz. G97Dyl.BS: weiblich, 62 Jahre alt, katholisch; Dylewo, Kreis Lida; 1997; Gespräch M. Just. G97Mac.TR: männlich, 74 Jahre alt, katholisch; Maciasy, Kreis Lida; 1997; Gespräch M. Orgelbrand. G97Mej.FK: weiblich, 78 Jahre alt, katholisch; Mejry, Kreis Lida; 1997; Gespräch D. Kołakowska. G97Mej.MP: weiblich, 79 Jahre alt, katholisch; Mejry, Kreis Lida; 1997; Gespräch D. Kołakowska. G97Pap.MS: weiblich, 75 Jahre alt, katholisch; Papiernia, Kreis Lida; 1997; Gespräch A. Engelking. G97Rou.ATB: Ehepaar, 71 und ca. 65 Jahre alt, katholisch; Rouby, Kreis Lida; 1997; Gespräch K. Kolasa. G98Bl.JWM: Ehepaar, 74 und 68 Jahre alt, katholisch; BieluĔcy, Kreis Woronowo; 1998; Gespräch A. Engelking.
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G98Mic.HK: weiblich, 68 Jahre alt, katholisch; MickaĔcy, Kreis Woronowo; 1998; Gespräch K. DołĊgowska. G98Nac.AK: männlich, 23 Jahre alt, katholisch; Nacza, Kreis Woronowo; 1998; Gespräch A. Engelking. G98Nac.JI: weiblich, ca. 60 Jahre alt, katholisch; Nacza, Kreis Woronowo; 1998; Gespräch P. Kordos. G98Nac.JK: männlich, 72 Jahre alt, katholisch, Nacza, Kreis Woronowo; 1998; Gespräch K. Łebkowska. G98Nac.JN: weiblich, 74 Jahre alt, katholisch; Nacza, Kreis Woronowo; 1998; Gespräch K. Łebkowska. G98Nac.JW: weiblich, ca. 70 Jahre alt, katholisch, Nacza, Kreis Woronowo; 1998; Gespräch A. Engelking. G98Nac.TW: weiblich, 56 Jahre alt, katholisch; Nacza, Kreis Woronowo; 1998; Gespräch A. Engelking. G98Puz.Dĩ: weiblich, 73 Jahre alt, katholisch; Puzieli, Kreis Woronowo; 1998; Gespräch K. Łebkowska. G99Pap.MB: weiblich, 69 Jahre alt, katholisch; Papiernia, Kreis Lida; 1999; Gespräch A. Engelking. G99Pap.SK: männlich, 75 Jahre alt, katholisch; Papiernia, Kreis Lida; 1999; Gespräch A. Engelking. G99Pap.WL: weiblich, 54 Jahre alt, katholisch; Papiernia, Kreis Lida; 1999; Gespräch A. Engelking. Bezirk Homel H03Alk.AW: weiblich, 80 Jahre alt, orthodox; Aleksiczy, Kreis Chojniki; 2003; Gespräch I. Alunina. H03Alk.MD: weiblich, 74 Jahre alt, orthodox; Aleksiczy, Kreis Chojniki; 2003; Gespräch A. Engelking. H03Hln.HM: weiblich, 78 Jahre alt, orthodox; Hliniszczy, Kreis Chojniki; 2003; Gespräch P. Koszman. H03Jur.AK: Ehepaar, 78 und 82 Jahre alt, orthodox; Jurewiczey, Kreis Kalinkowiczy; 2003; Gespräch O. Łobaczewska. H03Mjs.WN: weiblich, 68 Jahre alt, orthodox; Mojsiejewka, Kreis Mozyr; 2003; Gespräch R. Lichaszapka. H03Wic.RD: männlich, 70 Jahre alt, orthodox; Wiü, Kreis Chojniki; 2003; Gespräch A. Engelking. H03Zah.HI: männlich, 73 Jahre alt, orthodox; Zahalle, Kreis Chojniki; 2003; Gespräch I. Ramanawa. H03Zah.MH: weiblich, 77 Jahre alt, katholisch; Zahalle, Kreis Chojniki; 2003; Gespräch I. Ramanawa.
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Herrschaft, Utopie und Ökonomie Russlands ländliche Räume im 20. Jahrhundert K ATJA B RUISCH
E INLEITUNG Die ländliche Siedlung Vjatskoe im Jaroslavler Gebiet nördlich von Moskau hat ein neues Gesicht. Nachdem ein Unternehmer dort vor einigen Jahren im Verfall begriffene Kaufmanns- und Bauernhäuser gekauft hat und restaurieren ließ, hat sich der Ort zu einem beliebten Ausflugsziel entwickelt. Jährlich kommen etwa einhunderttausend meist russische Besucher in den Fünfhundert-Seelen-Ort, der inzwischen mehr als zehn Museen, einen eigenen Youtube-Kanal und zahlreiche Übernachtungsmöglichkeiten für auswärtige Gäste besitzt. Im Oktober 2015 wurde Vjatskoe offiziell zum schönsten Dorf in Russland gekürt.1 Die VEREINIGUNG DER SCHÖNSTEN DÖRFER RUSSLANDS, die hinter der Auszeichnung steht, hat es sich zum Ziel gesetzt, Menschen für den ländlichen Raum zu begeistern. Sie unterstützt Projekte zum Erhalt von historischer Bausubstanz sowie von Kultur- und Naturdenkmälern und entwickelt Maßnahmen zur touristischen Erschließung ländlicher Regionen. Als Voraussetzung der Würdigung muss ein Ort eine Reihe von ästhetischen, ökologischen und infrastrukturellen Kriterien erfüllen. Die Fassaden der Gebäude sollten miteinander harmonieren, Gasleitungen oder Fernsehantennen dürfen den visuellen Gesamteindruck des Dorfes nicht beeinträchtigen. Unkraut oder invasive Arten wie etwa der Riesenbärenklau, der sich gegenwärtig in Russland rasant verbreitet, sollten entweder gar nicht vorkommen oder aktiv bekämpft werden. Eine gute Verkehrsanbindung und verfügbare Unterkünfte
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Zur Internetpräsenz des Ortes: http://ɜɹɬɫɤɨɟ-ɫɟɥɨ.ɪɮ (12.12.2016); www.youtube.com/channel/UClcKzFf8zIOA4WTkQWHPaaQ (12. 12.2016).
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für Touristen sind ebenfalls entscheidend für die Aufnahme eines Ortes in die Assoziation.2 Worauf gründet sich das Bedürfnis, den ländlichen Raum Russlands zu schützen und aufzuwerten? Was wird gesucht, und was glaubt man, zu verlieren oder bereits verloren zu haben? Die Geschichte ist eines der stärksten Argumente bei der Suche nach dem schönsten Dorf Russlands. Die im Internet publizierten Bilder der bislang gekürten Orte lassen erkennen, dass die vermeintliche Idylle des vorrevolutionären Dorfes die Blaupause für gegenwärtige Vorstellungen von einem »guten Landleben« liefert. Die Entwicklungen während der sowjetischen Zeit scheinen hingegen keinerlei Anknüpfungspunkte für die Identitätssuche im ländlichen Raum zu bieten. Der Traktor oder der Strommast, während der sowjetischen Herrschaft Symbole einer vorbildhaften ländlichen Siedlung, finden sich nicht unter den Kriterien der Vereinigung oder werden als ästhetische Störfaktoren eingestuft. Auch der Staat, in der Bildsprache der Sowjetunion präsentiert durch Kulturhäuser oder wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen wie Kindergärten oder Krankenstationen, scheint nicht in den gekürten Siedlungen in Erscheinung zu treten. Schön ist ein Ort offensichtlich dann, wenn er den Prozessen ökonomischer, technologischer und gesellschaftlicher Dynamisierung, die gemeinhin mit modernen Gesellschaften, und insbesondere dem sowjetischen Projekt, assoziiert werden, entgehen und seine für vormoderne ländliche Siedlung gemeinhin unterstellte Autonomie und Authentizität bewahren konnte. Diese Prinzipien folgen Ansätzen zur Ästhetisierung und Konservierung ländlicher Regionen aus der Sowjetzeit, als Architekten und Denkmalschützer der romantischen Idee einer tief in die Geschichte zurückreichenden kollektiven ländlichen Kultur in Freiluftmuseen Gestalt verliehen (Golubev 2017). Die angebliche Unberührtheit dieser Orte ist natürlich eine Fiktion. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts durchlebten Vjatskoe und die anderen Orte aus der Riege der schönsten Dörfer Russlands einschneidende Veränderungen, und auch das vorsowjetische Dorf war keineswegs ›zeitlos‹. Ziel dieses Beitrags ist es, die in der Suche nach dem »schönsten Dorf Russlands« offenkundig werdende mentale Konstruktion des Idealdorfes historisch zu verorten und in der Gegenwart des postsowjetischen Russlands zu situieren. Im Mittelpunkt stehen dabei die Interdependenzen von Herrschaft, Utopie und Ökonomie und ihre Implikationen für die ländlichen Regionen im 20. Jahrhundert. Die Verquickung von staatlichem Hegemoniestreben, utopischem Verlangen und wirtschaftlichem Kalkül im Diskurs wie auch im politischen Handeln der Eliten prägten und veränderten die Regionen jenseits der Städte nachhaltig. Die ländlichen Räume Russlands (wie der ganzen Sowjetunion) waren
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Pereþen’ kriteriev dlja otnesenija sel’skich naselennych punktov k þislu samych krasivych. https://yadi.sk/i/gf1sy1hPnfiJT (12.12.2016).
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Experimentierfelder staatlicher Politik, Orte des konfliktreichen Aufeinandertreffens von Zentralmacht und lokaler Bevölkerung und Gegenstand elitärer Projektionen, die in der Regel auf die Zukunft, seltener auch auf die Vergangenheit verwiesen. Zugleich standen den mitunter gewaltsamen Versuchen, das Dorf in zentralisierte Verwaltungs- und Wirtschaftsabläufe zu integrieren, die bisweilen eigensinnigen Reaktionen der ländlichen Bevölkerung gegenüber. Vor diesem Hintergrund muss die Musealisierung von Orten wie Vjatskoe als Antwort auf tiefgreifende Transformationserfahrungen verstanden werden. Die schönsten Dörfer Russlands werden dabei entworfen als ein doppelter Kontrast: in Abgrenzung von der Vergangenheit des sowjetischen und von der Gegenwart des postsowjetischen Dorfes.
H ISTORIOGRAPHISCHE ANNÄHERUNGEN AN DEN LÄNDLICHEN R AUM WÄHREND DER SOWJETISCHEN H ERRSCHAFT Im Zentrum der historischen Forschung über die ländlichen Räume nach der Revolution von 1917 stand vor allem die Frühphase des Stalinismus, als die »sozialistische Transformation« ländlicher Wirtschafts- und Lebenszusammenhänge eines der zentralen Anliegen der Stalinischen »Mobilisierungsdiktatur« (Hildermeier 1998) darstellte. Am Beginn der 1930er Jahre wurde das Dorf zum Ziel sozialistischer Modernisierungsvorhaben sowie zu einem zentralen Schauplatz sowjetischer Gewaltgeschichte. Die Kollektivierung der Landwirtschaft und die massenhafte Erfahrung von Willkür, Terror und Hunger sind in Quellenbänden, lokalen Fallstudien und Gesamtdarstellungen gut dokumentiert (vgl. Danilov/Manning/Viola 1999-2006) und ihre dramatischen Folgen für Bevölkerung und Wirtschaft auf dem Lande bilanziert worden (vgl. Merl 1998). Aufschlussreiche Untersuchungen gibt es auch über die Formen des bäuerlichen Widerstands gegen das brutale Vorgehen der Kollektivierungsbrigaden (vgl. Fitzpatrick 1994, Viola 1996). An der Bewertung der Hungersnot von 1933/34 entzündeten sich vor allem nach dem Ende der Sowjetunion die intensivsten Debatten, sowohl unter Historikern als auch in einer breiteren Öffentlichkeit. Während die Bedeutung von klimatischen und politischen Faktoren für den Ausbruch und den Verlauf der Hungersnot unterschiedlich bemessen werden, gilt die im postsowjetischen Raum kontrovers diskutierte These, die Moskauer Führung habe den Hunger gezielt gegen die ukrainische Bevölkerung eingesetzt, zumindest in der historischen Forschung als widerlegt; neben der Ukraine waren auch Kasachstan und die Gebiete des nördlichen Kaukasus überproportional von der Katastrophe betroffen (vgl. Ellmann 2007, Tauger 2001, Davies/Wheatcroft 2009, Kindler 2014). Das massenhafte Sterben
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war kein politisches Ziel, wurde von der sowjetischen Regierung jedoch wissend in Kauf genommen und zur Stärkung der eigenen Herrschaft instrumentalisiert. Neben der Kollektivierung haben auch die Jahre der Neuen Ökonomischen Politik (NƠP), als die sowjetische Führung die partielle Wiederherstellung marktwirtschaftlicher Prinzipien anregte, um die Agrarproduktion anzukurbeln, große Aufmerksamkeit erfahren. Inhärent war der Beschäftigung mit dieser Phase die Frage nach den Ursachen und der Zwangsläufigkeit des Stalinschen Kollektivierungskurses. Die Aufarbeitung der Debatten über die Zukunft des Dorfes, die marxistische und populistische Agrartheoretiker in den 1920er Jahren austrugen (vgl. Gross 1977, Cox 1986), war zugleich Teil einer von Soziologen und Ökonomen geführten Diskussion über die Perspektiven bäuerlicher Agrarentwicklung in Entwicklungsländern (vgl. Shanin 1972). Die »Archivrevolution« der 1990er Jahre ermöglichte dann detaillierte Fallstudien über die Institutionen staatlicher Agrarpolitik und die Rolle von Experten am Vorabend der Kollektivierung. Die entsprechenden Arbeiten präsentieren die NƠP als eine ambivalente Zeit, in der Agrarspezialisten in sowjetischen Behörden einigen Spielraum bei der Interpretation der ideologischen Vorgaben der Partei besaßen. Marxistische Maximen waren dabei manchmal weniger entscheidend als der Konsens über die Notwendigkeit wirtschaftlicher Planung, der die Intervention in ländliche Lebens- und Wirtschaftszusammenhänge im Europa der Zwischenkriegszeit systemübergreifend zum Imperativ staatlichen Handelns erhob.3 Zugleich lassen die Arbeiten über die 1920er Jahre den Schluss zu, dass die Kollektivierung und das mit ihr verbundene Leid nicht zwingend aus der Machtübernahme durch die Bolschewiken im Jahre 1917 resultierte. Sie war eine politische Entscheidung, mit deren Hilfe die sowjetische Führung um Stalin ihre Macht absichern und die ökonomischen und sozialen Ressourcen für die Industrialisierung mobilisieren konnte (vgl. Wehner 1998, Heinzen 2004, Bruisch 2014). Die erst an Fahrt aufnehmende Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Dorf nach dem Ende des Stalinismus folgte bislang dem auch in Bezug auf frühere Perioden dominierenden Fokus auf politische Entscheidungsträger, Wissenschaftler und Experten. Konzise Studien gibt es etwa über die ethnologische Wissensproduktion der 1950er Jahre, in der sich das Interesse an Problemen der sowjetischen Gegenwart, und speziell dem kollektivierten Dorf, mit dem Wunsch nach einem sozialistischen social engineering auf dem Lande verband (vgl. Alymov 2011, Haber 2014). Mehrere Arbeiten dokumentieren zudem den Austausch zwischen Wissenschaft und Politik sowie den wachsenden Einfluss von Experten auf staatliche Programme zur Entwicklung ländlicher Regionen nach dem Ende des Stalinismus. Die vorliegen-
3
Zur Rolle von Staat und Experten in den ländlichen Räumen Europas während der Zwischenkriegszeit siehe Van de Grift/Ribi Forclaz (2018).
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den Studien geben Anlass, etablierte Zäsuren in der sowjetischen Geschichte zu hinterfragen. So wurden manche Ideen zur Reformierung der Landwirtschaft und zur Verbesserung der sozialen Wohlfahrt auf dem Land, die Gorbaþev dann zu einem kohärenten Programm zu verbinden suchte, im Kreise von Wissenschaftlern bereits vor dem Beginn der Perestrojka formuliert (vgl. Melvin 2003, Kirchik 2016, Alymov 2017). Gegenwärtig etabliert sich zudem die Umweltgeschichte der sowjetischen Landwirtschaft als ein neues Forschungsfeld. Neben den ökologischen Langzeitfolgen sowjetischer Agrarentwicklung wurden bislang die klimatische und naturräumliche Bedingtheit der sowjetischen Landwirtschaft (vgl. Smith 2014) sowie Expertendiskurse über die Risiken intensiver Landnutzung in den Steppenregionen (vgl. Elie 2015) thematisiert.4 Vor allem in Bezug auf den Alltag des poststalinistischen Dorf gibt es noch einen erheblichen Bedarf an regionalen Fallstudien und systematisierenden Überblicksdarstellungen.5 Im Kontext der russischen Peasant Studies, die sich in den frühen 1990er Jahren als krest’janovedenie um den Soziologen Teodor Shanin und den Agrarhistoriker Viktor P. Danilov konstituiert haben, sind interviewbasierte Dokumentation über die Wahrnehmungsmuster und Alltagspraktiken der ländlichen Bevölkerung in der späten Sowjetzeit und der Transformationsperiode entstanden (vgl. Shanin/Danilov/Nikulin 2002).6 Themen wie die Jugend, Religiosität, die Rezeption von öffentlichen Medien in ländlichen Kontexten sowie die Bedeutung von lokalen Identitäten oder auch das politische Selbstverständnis der ländlichen Bevölkerung verdienen jedoch weitere Aufmerksamkeit. Es bleibt daher zu hoffen, dass das gegenwärtig wachsende Interesse an der Spätphase der Sowjetunion künftig auch die ländlichen Regionen in ihrer Heterogenität miteinbeziehen und systematische Untersuchungen zu ländlichen Lebens-, Arbeits- und Vorstellungswelten generieren wird.7
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Für einen ersten Überblick siehe Libert (1995). Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 923 »Bedrohte Ordnungen« an der Universität Tübingen bearbeitet Timm Schönfelder derzeit das Teilprojekt »Versalzung und Bodendegradation als Bedrohung agrarischer Ordnungen in Südrussland seit 1945«.
5
Einzelne Aspekte finden Beachtung im dritten Band von Carsten Goehrkes Geschichte
6
Vgl. auch das seit 1996 erscheinende Jahrbuch KREST’JANOVEDENIE. TEORIJA. ISTORIJA.
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Hier setzt das 2017 angelaufene Forschungsprojekt »Late Soviet village: people, institu-
des russischen Alltags (Goehrke 2005: 307-331). SOVREMENNOST’. tions, and things between the socialist cult of urbanity and ruralisation of urban life styles« unter der Leitung von Ekaterina Emeliantseva (Universität Zürich) an, das sich dem ländlichen Alltag der späten Sowjetzeit durch regionale Fallstudien zur materiellen Kultur und den sozialen Räumen des Dorfes annähert.
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S TAATLICHE I NTERVENTION UND T RANSFORMATION
LÄNDLICHE
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zählten eine stabile Lebensmittelversorgung sowie die Einbindung der ländlichen Regionen in übergeordnete Verwaltungsstrukturen und Wirtschaftskreisläufe zu den zentralen Anliegen des imperialen und später des sowjetischen Staates (vgl. Leonard 2011). Die sowjetische Regierung verschrieb sich zudem der sozialistischen Utopie einer kollektiven ländlichen Ökonomie. Diese Ziele wurden zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Methoden verfolgt. So gehörten die Förderung der Landwirtschaft mit Hilfe von Marktanreizen und Wissenstransfer oder der Aufbau einer lokalen Selbstverwaltung ebenso zum Repertoire staatlicher Maßnahmen wie Mobilitätsbeschränkungen und die Aneignung ländlicher Ressourcen durch staatlich sanktionierte Gewalt. Nachdem den Bauern mit der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 die persönliche Freiheit sowie die Verfügungsrechte über eine eigene Wirtschaft zugesprochen worden waren, entwickelten die Behörden des Zentralstaats administrative und fiskalische Hebel, um die Landwirtschaft zu einer verlässlichen Säule der nationalen Wirtschaft zu machen und die staatliche Kontrolle über das Dorf auszuweiten (vgl. Yaney 1982). Am Beginn des 20. Jahrhunderts lancierte die zarische Regierung eine Reihe von Reformen zur Schwächung der Landumteilungsgemeinde (mir), in der weite Teile der Eliten ein wichtiges Modernisierungshindernis sahen. Diese so genannten Stolypinschen Reformen folgten der Vorstellung von der zentralen Bedeutung des Landeigentums für die Aktivierung des landwirtschaftlichen Potentials. Durch die Aufhebung kollektiver Landnutzungspraktiken sollten die Bauern aus den Zwängen einer vermeintlich in Rückständigkeit erstarrten dörflichen Gemeinschaft befreit und ihr Unternehmergeist angeregt werden. Die »administrative Utopie« (Pallot 1999) klarer Eigentums- und Besitzverhältnisse auf dem Land löste in der Bevölkerung gemischte Reaktionen aus und wurde letztlich nur partiell realisiert. Zudem verkannte sie das Innovationspotential der bestehenden Agrarordnung, die seit den 1880er Jahren in manchen Regionen erhebliche Produktionszuwächse ermöglicht hatte (vgl. Kopsidis/Bruisch/Bromley 2015). Am Vorabend der Revolution war das Dorf ein Mikrokosmos des tiefgreifenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wandels im Russischen Reich. Die saisonale Abwanderung der Bauern (otchodniþestvo) in die wachsenden industriellen Zentren hatte sich in den Jahrzehnten nach der Aufhebung der Leibeigenschaft zu einem massenhaften Phänomen entwickelt. Im gleichen Zuge fanden städtische Konsumartikel den Weg in das Dorf, wo sie sich fest im bäuerlichen Alltag etablierten (vgl. Burds 1998). Auch das gesellschaftliche Leben auf dem Land befand sich am Ende der zarischen Herrschaft im Umbruch. Mit den 1864 eingerichteten ländlichen Selbstverwaltungsorganen waren öffentliche Räume entstanden, in denen die
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unterschiedlichen Vertreter der ländlichen Bevölkerung lokale Angelegenheiten regelten (vgl. Schedewie 2006). Dank des erwachenden Interesses der Intelligenzija an den Bauern gelang es diesen darüber hinaus in zunehmendem Maße, sich öffentlich zu artikulieren und so den gesellschaftlichen Resonanzraum ihrer Interessen auszuweiten (vgl. Herzberg 2013). Bei der Formulierung von Zukunftsvorstellungen für das Dorf traten die Bewohner ländlich geprägter Regionen daher nicht nur als Rezipienten, sondern mitunter auch als Partizipatoren auf. Im letzten Jahrzehnt der zarischen Herrschaft standen die ländlichen Räume im Zentrum einer großangelegten Modernisierungskampagne, in der verschiedene gesellschaftliche Akteursgruppen trotz zum Teil divergierender politischer Vorstellungen mitunter eng kooperierten. Durch Bildungsinitiativen und die Implementierung technologischer Innovationen versuchten Beamte, landwirtschaftliche Vereine, Genossenschaften und lokale Selbstverwaltungen die Landwirtschaft nach wissenschaftlichen Maßstäben zu organisieren und für die Bauern profitabel zu machen (vgl. Gerasimov 2009). Programmatisch waren politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel für viele Zeitgenossen dabei kaum voneinander zu trennen. Die Modernisierung der Landwirtschaft wurde daher vielfach auch als ein Beitrag zur Reformierung der politischen Verfasstheit des Russischen Reichs verstanden (Bruisch 2014: 89-98). Der Erste Weltkrieg und die Revolution von 1917 veränderten die wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik auf dem Lande. Als die Bolschewiki im Herbst 1917 die Macht übernahmen, befand sich das Dorf in einem Zustand des Chaos. Nach dem Sturz der zarischen Regierung im Frühjahr des gleichen Jahres hatten sich soziale Spannungen und die Kriegsmüdigkeit der bäuerlichen Soldaten in einer Welle der Gewalt gegen die landbesitzenden Eliten entladen. Angesichts der Unruhen auf dem Land wurde die Unterstützung durch die Bauern zur Überlebensfrage für das sowjetische Regime. Sozusagen über Nacht lösten die bolschewistischen Machthaber die traditionellen Eigentumsbeziehungen auf und nationalisierten den Boden. Die Befriedung des Dorfes gelang ihnen jedoch nicht; die gewaltsame Beschaffung von Lebensmitteln durch die Parteien des Russischen Bürgerkriegs führten zwischen 1918 und 1921 in vielen Landesteilen zu Bauernaufständen, die neben den militärischen Konflikten mit verschiedenen Weißen Armeen den sowjetischen Herrschaftsanspruch empfindlich gefährdeten (vgl. Lih 1990, Landis 2008). Mit dem Beginn der Neuen Ökonomischen Politik erkannten die sowjetischen Machthaber im Jahre 1921 an, dass eine Politik gegen die Bauern unweigerlich in die Krise führte. Zwar träumten sie davon, die ländlichen Regionen zu homogenisieren und die Landwirtschaft nach dem Vorbild der Industrie in Großbetrieben zu organisieren. Angesichts der instabilen Machtverhältnisse am Ende des Bürgerkriegs lenkten sie jedoch ein. Für einige Jahre versuchte die Regierung nun, die Dorfbevölkerung durch eine Reihe wirtschaftlicher Konzessionen für sich zu
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gewinnen und das Land durch die Förderung der bäuerlichen Produktion aus der wirtschaftlichen Misere zu befreien. Im gleichen Zuge intensivierte sie jedoch die fiskalische und politische Diskriminierung wohlhabender Bauern, die als potentielle Saboteure der sowjetischen Herrschaft galten (vgl. Merl 1981). Die Neue Ökonomische Politik verkörperte damit das Dilemma zwischen der Abhängigkeit der sowjetischen Führung von der Loyalität der ländlichen Bevölkerung und ihrem Wunsch, die ländlichen Räume im Interesse der eigenen Herrschaft nutzbar zu machen. Der eigentliche Angriff auf das russische Dorf erfolgte ein Jahrzehnt nach dem Ende des Ancien Régime. Die von Stalin Ende 1929 zu höchster Priorität erhobene Kollektivierung der Landwirtschaft zielte darauf, Wirtschaft und Kultur auf dem Lande grundlegend zu verändern und die Ressourcen des Dorfes für die Industrialisierung zu mobilisieren. Im ganzen Land wurden meist gewaltsam Kollektivbetriebe errichtet, die die Produktion von Agrargütern nach dem Vorbild der Industrie organisieren sollten. Anders als die Planer intendierten, war die Mehrheit von ihnen jedoch sehr klein und ökonomisch nicht effektiv. Von einer industrialisierten Landwirtschaft, die als Ziel der Kollektivierung präsentiert worden war, konnte in den 1930er Jahren jedoch keine Rede sein; der Einsatz von Technik blieb gering (Berg 2012: 20-54, Smith 2014: 21-62). Zugleich machte der Terror gegen Agrarspezialisten in den Zentralbehörden sowie in den Betrieben jegliche Versuche, die Verlässlichkeit und Effektivität der Agrarproduktion zu erhöhen, zunichte (vgl. Merl 2016). Entsprechend verheerend war die Bilanz der Kollektivierung: Demographische Verluste, die Zerstörung von Inventar und der Einbruch des Viehbestands warfen die Landwirtschaft trotz steigender Investitionen in Maschinen und Gerät über Jahre zurück, während Enteignung, Deportation und Hunger Millionen Menschen traumatisierten (vgl. Merl 1998, Leonard 2011: 68-73). Nachdem das Dorf in der Zeit des Stalinismus primär als Ressourcenreservoir gedient hatte, suchten die politischen Erben Stalins nach Wegen, um die ländliche Bevölkerung in den sowjetischen Sozialvertrag einzubeziehen. Bis zum Ende der Sowjetzeit stand die Erhöhung von Lebensstandard und Produktivität auf dem Lande weit oben auf der politischen Agenda, an deren Ausarbeitung eine wachsende Zahl von Experten beteiligt war (vgl. Melvin 2003). Nikita S. Chrušþev, ein erklärter Bewunderer der USA, räumte der Industrialisierung der Landwirtschaft und der Urbanisierung ländlicher Siedlungen höchste Priorität ein. Die Vergrößerung der Agrarbetriebe, der Fokus auf fortschrittliche Technologien, die Ausweitung des Maisanbaus zur Förderung der Viehzucht und die Erschließung der »Neulandgebiete« (celina) in den Steppenregionen trugen allerdings wenig zu einer dauerhaften Steigerung der Erträge bei (vgl. Hale-Dorrell 2015). Kaum positiver war die Bilanz der Regierung Leonid I. Brežnevs, die hohe Agrarsubventionen mit dem Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Strukturen verband, ihre anfänglichen Erfolge aber nicht verstetigen konnte. Angesichts der massenhaften Abwanderung aus den länd-
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lichen Regionen und der sich verschärfenden landwirtschaftlichen Krise erklärte Michail S. Gorbaþev die grundlegende Neuausrichtung der sowjetischen Agrarpolitik daher zu einer wichtigen Säule seines Reformprogramms. Mehr als ein halbes Jahrhundert nachdem Stalin das Ende des alten Dorfes gefeiert hatte, versprach der neue Generalsekretär dessen »Wiedergeburt« (Pallot 1990: 660). Bei der Umsetzung seiner Agenda, die auf marktwirtschaftliche Anreize und die Ausweitung betrieblicher Entscheidungskompetenzen setzte, scheiterte er jedoch am Widerstand von Funktionären in Zentralbehörden und Agrarbetrieben (vgl. Miller 2016). Nach der Auflösung der Sowjetunion forcierte schließlich der russische Präsident Boris N. El’cin den radikalen Bruch mit der kollektivierten Landwirtschaft. Das in den 1990er Jahren vielfach beschworene Leitbild einer auf Familienwirtschaften basierenden Agrarordnung wurde allerdings verfehlt. Infolge des anhaltenden Einflusses sowjetischer Eliten auf Wirtschaft und Politik in den Regionen blieben die Handlungsspielräume der ländlichen Bevölkerung im »postsowjetischen Potemkinschen Dorf« (Alina-Pissaro 2008) gering. Die Krise der Landwirtschaft während der Transformationsjahre führte zur Marginalisierung weiter Landstriche. In vielen Regionen Russlands lagen zwischen 1991 und 2000 mehr als ein Drittel, in manchen Landkreisen der Gebiete Smolensk und Rjazan’ sogar mehr als 60%, der vormals landwirtschaftlich genutzten Flächen brach (vgl. Prishchepov et al 2012). In den 2000er Jahren haben sich landwirtschaftliche Flächen vor allem im Süden des Landes zum Spekulationsobjekt nationaler und internationaler Investoren entwickelt. So genannte Agroholdings kontrollieren hier häufig alle Stufen der landwirtschaftlichen Wertschöpfung und nehmen Einfluss auf die lokale Politik. Im postsowjetischen Russland sind die ländlichen Räume damit auch ein Spiegel der engen Verzahnung von wirtschaftlichen und politischen Interessen (vgl. Visser/ Mamonova/Spoor 2012).
I MAGINATIONEN
UND
R EPRÄSENTATIONEN
DES
D ORFES
Die zahlreichen Versuche, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur auf dem Lande im Einklang mit staatlichem Interessen oder der Vision einer modernen ländlichen Ordnung zu verändern, waren eingebettet in elitäre Diskurse über die Rolle des Dorfes im politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Gesamtgefüge des Landes. Eine Hassliebe verband die Eliten mit den Bauern und ihrer Lebensweise, und so bestimmte eine Mischung aus Mitleid, Stolz und Ressentiments über Generationen und über die politische Zäsur von 1917 hinweg das Reden über die Menschen auf dem Dorf. Als Imaginationsräume spielten ländliche Regionen zugleich eine zentrale Rolle, um die Richtung und Geschwindigkeit wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen zu bewerten. Die unterschiedlichen Repräsen-
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tationen des Dorfes sind daher folglich auch ein Schlüssel zu den sich wandelnden Formen und Modellen nationaler Identitätssuche im Russland des 20. Jahrhunderts. Im ausgehenden 19. Jahrhundert gewannen die wesentlichen Topoi elitärer Diskurse über die Bauern an Kontur. Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 entwickelten Vertreter der gebildeten Eliten einen regelrechten Kult ländlicher Lebensart. In Folge der schweren Hungersnot der frühen 1890er Jahre, die Hundertausende Opfer forderte, wich das romantische Bild vom idyllischen Leben auf dem Dorf zunehmend einer kritischen Auseinandersetzung mit der »Rückständigkeit« (otstalost’) der ländlichen Bevölkerung. Die »Agrarfrage« wurde nun zur Chiffre für die weit verbreitete Überzeugung, das Dorf sei die Achillesferse nationalen Erfolgs. In ihr spiegelte sich die allgemeine Sorge, das Russische Reich werde in seiner Entwicklung langfristig zurückstehen und international an Bedeutung verlieren. Die Überwindung der bäuerlichen Rückständigkeit durch Bildungsprogramme und die Verwissenschaftlichung der Landwirtschaft wurde daher zu einem Projekt elitärer Selbstverständigung, das Beamte, Intellektuelle und Experten miteinander verband (vgl. Kotsonis 1999). Der Glaube, das Schicksal Russlands sei auf das Engste mit den Bauern verknüpft, hielt sich mit erstaunlicher Beharrlichkeit auch nach der Revolution. So lag die Tragödie des Bürgerkriegs für den Schriftsteller Maksim Gorkij einzig in der mangelnden Kultiviertheit der ländlichen Bevölkerung und deren Unverständnis für die Überlegenheit des Verstandes begründet. In seiner 1922 veröffentlichten Streitschrift VOM RUSSISCHEN BAUERN beschuldigte er die Dorfbewohner, die Ideale der Revolution in roher Gewalt zu ertränken: »Ich sage das in der unbedingten Überzeugung, dass die gesamte russische Intelligenz – die fast ein ganzes Jahrhundert hindurch sich mutvoll bemüht hat, das schwerfällige russische Volk aufzurütteln, das träg, interesselos, unglücklich auf seiner Scholle saß –, dass die gesamte Intelligenz ein Opfer ist des trostlosen Dahinlebens des Volkes, das es fertiggebracht hat, erstaunlich bettelhaft auf einem märchenhaft reichen Boden zu leben! […] Fast der ganze Vorrat von geistiger Energie, die Russland im neunzehnten Jahrhundert angesammelt hat, ist in der Revolution verbraucht worden, hat sich in der bäuerlichen Masse aufgelöst.« (Gorki 1984 [1922]: 109)
Gorkijs Text spiegelt das urbane Selbstverständnis sowie das auf die Erfahrung des Bürgerkriegs zurückgehende Misstrauen der sowjetischen Machthaber gegenüber den Bauern. Selbst in den Jahren der NƠP, als die wirtschaftliche Gängelung des Dorfes abgemildert wurde, bestimmte der Argwohn der sowjetischen Führung die staatliche Politik (vgl. Hudson 2012, Wehner 1998). Zugleich nahmen die ländlichen Regionen weiterhin einen zentralen Platz in der sowjetischen Fortschrittsrhetorik ein. Lenins Glaube an die baldige Elektrifizierung des Dorfes wurde zum
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Mantra sowjetischer Entscheidungsträger. Während der Kollektivierung verbanden sich Misstrauen und Modernisierungswille dann zu einem gewaltsamen Angriff auf die Lebenswelt des Dorfes. Land und Besitz bäuerlicher Familien wurden in Kollektivbetriebe überführt und ihre kulturellen und religiösen Traditionen einer rigorosen Kampagne zur Erneuerung des Alltags (byt) preisgegeben (vgl. Viola 1996). Fortan dominierte das Bild des sozialistischen Dorfes, wo die Bevölkerung ein von den Insignien der sowjetischen Moderne geprägtes Leben führte und die nach dem Vorbild der Industrie organisierte Landwirtschaft stabile Erträge einbrachte, die offiziellen Verlautbarungen und die mediale Repräsentation der ländlichen Regionen in der Sowjetunion (vgl. Rüthers 2009). Die in den 1930er Jahren von Architekten und Hygieneexperten entworfenen Projekte ländlicher Siedlungen markierten in ihrer Orientierung an stadtplanerischen Prinzipien das urbane Selbstverständnis der Eliten. Auch wenn die ambitionierten Visionen nie verwirklicht wurden, waren sie symptomatisch für die Erwartung, die »sozialistische Transformation« des Dorfes werde dieses letztlich an die Stadt angleichen (Pallot 1993: 212-214). Chrušþev machte dieses Anliegen dann zur Richtschnur staatlicher Modernisierungsstrategien. Seit den 1950er Jahren wurden zahlreiche Planungs- und Expertengremien eingerichtet, denen die architektonische und räumliche Neuordnung ländlicher Siedlungen aufgetragen war. Besonders offenkundig zeigte sich der planerische Anspruch der poststalinistischen Agrarpolitik in der Unterscheidung von »perspektivlosen« (neperspektivnye) und »perspektivreichen« (perspektivnye) Dörfern, die fortan über die Höhe der für die einzelnen Regionen aufgebrachten staatlichen Mittel entschied. Die Politik, Investitionen gezielt in Gebiete mit Wachstumspotential zu lenken und die Bevölkerung dorthin umzusiedeln, hat die ländlichen Räume Russlands weit über die Amtszeit Chrušþevs hinaus verändert. Nach Berechnungen einer Kommission unter Leitung der Agrarsoziologin Tat’jana I. Zaslavskaja verschwanden in der russischen Sowjetrepublik zwischen 1959 und 1970 mehr als 40.000 Dörfer von der Landkarte (Melvin 2003: 166). Zwar muss diese Zahl im Kontext des allgemeinen Bevölkerungsrückgangs auf dem Lande gesehen werden. Die zunehmende räumliche Konzentrierung der ländlichen Bevölkerung im gleichen Zeitraum (Pallot 1979: 228) spricht jedoch dafür, dass das Ziel, die Siedlungsstrukturen neu zu ordnen, einige Wirkmächtigkeit entfaltete. Das Ergebnis entsprach jedoch nur bedingt dem Ansinnen der Planer; neben der Bedeutung der mit staatlichen Mitteln geförderten Großdörfer wuchs auch der Anteil an Kleinstsiedlungen, deren Bewohner den Umzug in die Plandörfer verweigerten (Goehrke 2005: 312). Während die Politik unter Chrušþev dem Leitbild der industrialisierten Landwirtschaft folgte und die Dörfer der Zukunft als quasi-städtische Lebensräume entworfen wurden, artikulierte eine wachsende Zahl von Denkmalschützern, Schriftstellern und Publizisten Sympathie für das Dorf, das sie als distinkten sozia-
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len und kulturellen Raum ansahen, dem auch im Kontext der sowjetischen Moderne ein Platz gebührte (vgl. Golubev 2017). Verbunden damit war eine Rückkehr zum vorrevolutionären Topos des »russischen Bauern«. Anzeichen für dessen Stellenwert im Diskurs sowjetischer Intellektueller finden sich bereits in den unveröffentlichten Reisenotizen des Schriftstellers Tichon Semuškin, der im August 1953 von der Zeitung PRAVDA beauftragt wurde, eine Reportage über die ländlichen Regionen in Zentralrussland zu verfassen. In Semuškins Aufzeichnungen mischte sich die aus Gorkijs Text bekannte Abneigung des Städters gegenüber dem Aberglauben der Dorfbewohner mit einer tiefen Sympathie für deren Leidensfähigkeit, die ihm als Ausweis nationaler Größe galt: »Das russische Volk ist wahrlich groß, trotz seiner Kulturlosigkeit!« (Bruisch/Mukhamatulin 2017: 415). Stilbildend wirkte der Nexus aus Dorfromantik, Konservatismus und russischem Nationalismus dann in der so genannten »Dorfprosa« der 1960er und 1970er Jahre. Ihre Vertreter entwarfen die ländlichen Räume als eine Gegenwelt zur Stadt, in der Moral, Werte und nationale Identität vor den Zumutungen der Industriemoderne bewahrt würden (vgl. Razuvalova 2015). Der zunehmende Rekurs auf das Dorf folgte jedoch nicht nur dem Bedürfnis russisch-nationaler Selbstvergewisserung oder dem Verlangen, kollektive Verlustempfindungen zum Ausdruck zu bringen. Angesichts der massenhaften Abwanderung der Bevölkerung in die Städte artikulierten Wissenschaftler, Politiker und Künstler die Sorge, die ländlichen Regionen würden in der näheren Zukunft dem Verfall preisgegeben. Im Kontext des spätsowjetischen Krisendiskurses entstand der Wunsch nach einem neuen Gesellschaftsvertrag, der die ländliche Bevölkerung explizit miteinbezog. So weiteten Ökonomen und Soziologen die herrschende Sozialismusdefinition sukzessive aus, indem sie die Nebenwirtschaften der Dorfbewohner zu Bestandteilen des sowjetischen Sozialismus umdeuteten und auf diese Weise den Beitrag der privaten Wirtschaften zur Agrarproduktion des Landes würdigten (vgl. Bruisch 2016; Alymov 2017). Für die Regierung Brežnevs erwies sich die Förderung der Dorfliteratur als hilfreiches Instrument, um eine breite Akzeptanz für die massiven Investitionen in den Agrarsektor zu gewinnen und diese gegenüber Kritikern durchzusetzen. Zwar stellten die meisten Anhänger der Strömung die Vision einer industrialisierten Landwirtschaft in Frage, die weiterhin das Ziel staatlicher Agrarpolitik darstellte. Ihre nostalgisch-nationalistische Verklärung des Dorfes diente jedoch als Legitimation für das Ansinnen der sowjetischen Führung, die Lebensbedingungen auf dem Land durch umfassende Transferzahlungen zu verbessern und den Bevölkerungsrückgang auf dem Lande zugunsten ausgewählter Regionen abzubremsen (vgl. Brudny 1998: 102-110). Die von Gorbaþev zur politischen Leitschnur erhobene Besinnung auf das Dorf war folglich nicht nur in Wissenschaft und Kunst, sondern auch auf der Ebene der staatlichen Politik vorbereitet worden.
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W ANDEL
Impulse des Staates oder Entwicklungen in städtischen Regionen wirkten sich entscheidend auf die Lage der Bevölkerung in den ländlichen Regionen Russlands aus. Die Veränderungen gingen einher mit Leid und Ungewissheit, boten jedoch auch Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs. In der späten Sowjetzeit verbesserten die Investitionen des Staates zudem die materiellen Lebensbedingungen auf dem Dorf. Der ländlichen Bevölkerung standen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, ihr Leben auf den sich verändernden Status des Dorfes in der politischen und sozialen Tektonik des Landes einzustellen: Das Repertoire an Handlungsmöglichkeiten umfasste passiven und offenen Widerstand, die kreative und eigensinnige Aneignung der staatlich geschaffenen Ordnung auf dem Lande sowie das »Abstimmen mit den Füßen«. Dieses Potential zwang die sowjetische Regierung, deren Macht nicht zuletzt von der allgemeinen Versorgungslage abhing, ihre Politik an die Stimmung auf dem Lande anzupassen. Eines der wichtigsten Konzession der sowjetischen Regierung an die ländliche Bevölkerung war die Beibehaltung der privaten Lebensmittelerzeugung für den Eigenbedarf. Bei aller Vehemenz, die während der Kollektivierung an den Tag gelegt wurde, zeigte sich binnen kurzer Zeit, dass die Bedürfnisse der ländlichen Bevölkerung nicht vollends unterschlagen werden konnten. Angesichts der Hungersnot und der katastrophalen Lage der Landwirtschaft nach der Kollektivierung gestand die sowjetische Führung den Kolchosbauern am Beginn der 1930er Jahre die Möglichkeit zur privaten Herstellung von Lebensmitteln zu. Mit der so genannten »privaten Nebenwirtschaft« (liþnoe podsobnoe chozjajstvo) schuf die Regierung einen rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen die Rolle des privaten Hofs als zentraler Bestandteil des ländlichen Sozial- und Wirtschaftslebens perpetuiert wurde (vgl. Merl 1998: 121-124). Auch wenn die Löhne im sowjetischen Agrarsektor nach dem Ende des Stalinismus sukzessive anstiegen und damit einen wachsenden Anteil am Einkommen ländlicher Haushalte ausmachten, blieben die Nebenwirtschaften bis zum Ende der Sowjetunion ein wichtiges Merkmal des Dorfes. Sie halfen der ländlichen Bevölkerung, den Eigenbedarf an Lebensmitteln abzudecken und – über den Verkauf auf dem Kolchosmarkt – monetäres Einkommen zu erwirtschaften. Als eine unverzichtbare Säule der sowjetischen Agrarordnung eröffnete die private Hofwirtschaft der ländlichen Bevölkerung einen gewissen Grad an Autonomie innerhalb der staatlich kontrollierten Wirtschaftsordnung. Privat erzeugte Milchprodukte, arbeitsintensive Gemüsekulturen oder Eier trugen zudem erheblich zur landwirtschaftlichen Gesamtproduktion bei (vgl. Hedlund 1989). Ihre gewaltsame Implementierung in der Frühphase des Stalinismus machte die sowjetische Agrarordnung unbeliebt. Bis in die späte Sowjetzeit blieb die Motivierung der in den landwirtschaftlichen Staats- und Kollektivbetrieben beschäftigten
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Bevölkerung ein zentrales Problem. Zugleich verhinderte die ausbleibende oder geringe Entlohnung über Jahrzehnte die Identifikation mit den neu geschaffenen Agrarbetrieben. Wie fremd den Bewohnern der Dörfer die kollektivierte Landwirtschaft blieb, zeigte sich besonders nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als hoffnungsvolle Gerüchte den Umlauf machten, die sowjetische Führung plane eine Rückkehr zur individuellen Landwirtschaft (vgl. Zubkova 1998: 59-67). Hatte die ländliche Bevölkerung während der Kollektivierung zunächst mit offenem Widerstand auf die neue Organisation der landwirtschaftlichen Produktion reagiert, entwickelte sie im Laufe der Jahrzehnte eine Reihe von informellen Praktiken zur Verbesserung ihrer materiellen Lage. Zu diesen zählten etwa die illegale Aufnahme einer saisonalen Beschäftigung außerhalb der Landwirtschaft oder das Fernbleiben vom Kolchosbetrieb, um im eigenen Hof zu arbeiten. Diese »SelbstDekollektivierung« (Lévesque 2006: 116) unterminierte die offizielle Ordnung, wirkte paradoxerweise jedoch zugleich als ein stabilisierender Faktor, da sie den Menschen auf dem Lande ein verhältnismäßig absehbares, wenn auch bescheidenes Auskommen ermöglichte. Die illegale Entwendung von Produktionsmitteln aus den Staats- und Kollektivbetrieben wurde schließlich zum festen Bestandteil eines informellen Arrangements, das zwar zur Ineffektivität der sowjetischen Landwirtschaft beitrug, sich aber für die Betriebe wie auch für die ländliche Bevölkerung als vorteilhaft erwies: Während die Dorfbewohner ihrer Eigenproduktion nachgingen und über ihre Anstellung Zugang zum sowjetischen Wohlfahrtsstaat erhielten, konnten die Agrarbetriebe durch ihre Unterstützung für die Privatwirtschaften die Loyalität ihrer Arbeiter sicherstellen (Hedlund 1989: 64-66). Die deutlichsten Konsequenzen für die ländlichen Lebenswelten hatte sicherlich das vorübergehende oder endgültige Verlassen der ländlichen Regionen, das traditionell fest im Repertoire bäuerlichen Handelns verankert war. Hatten die Dörfer unmittelbar nach der Revolution vorübergehend als Zufluchtsort vor der Versorgungskrise der Städte gedient, lief die Wanderungsbewegung der Bevölkerung seit den 1920er Jahren meist auf die Stadt zu. Die Verheißung sozialen Aufstiegs auf den Großbaustellen des ersten Fünf-Jahres-Plans und die massenhafte Erfahrung von Gewalt und Hunger im Kontext der Kollektivierung veranlassten zwischen 1928 und 1932 fast zwölf Millionen Menschen zur Abwanderung in städtische Regionen (Fitzpatrick 1993: 22). Das Regime fürchtete eine Verschärfung der ohnehin prekären Versorgungslage in den urbanen Zentren und versuchte daher, die Zuwanderung durch die Einführung eines Inlandspasses Ende 1932 zu begrenzen (vgl. Kessler 2001). Die staatliche Kontrolle über die Mobilität der ländlichen Bevölkerung blieb jedoch bis in die späte Sowjetzeit eine Fiktion. Angesichts andauernder Unterschiede im Lebensstandard zwischen Stadt und Land nahm die Abwanderung in die Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg dramatisch zu. Auch das anhaltende Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern – seit dem Krieg waren
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Frauen auf dem Land deutlich in der Überzahl – war ein Grund, dem Dorf den Rücken zu kehren. Insbesondere junge Menschen suchten über Bildung und Beschäftigung den Weg in die Stadt (vgl. Siegelbaum/Moch 2014: 125-140). Erleichtert wurde dies durch die endgültige Aufhebung der Migrationsbeschränkung für die ländliche Bevölkerung im Jahr 1974. Zwar verbesserten sich die Lebensbedingungen auf dem Lande durch die Ausweitung wohlfahrtsstaatlicher Versorgungsangebote und die staatlichen Investitionen in die ländliche Infrastruktur vor allem während der Amtszeit Brežnevs. Das Versprechen einer Angleichung städtischer und ländlicher Lebensbedingungen blieb jedoch unerfüllt. In der russischen Sowjetrepublik zählte man in den 1980er Jahren daher fast eine halbe Million verlassene Höfe (vgl. Goehrke 2005: 314-316; Neutatz 2013: 448-453). Während die massenhafte Abwanderung zur Erosion von Dorfgemeinschaften und sogar zum Verschwinden ganzer Dörfer führte, etablierten sich in den verbleibenden ländlichen Siedlungen komplexe Verbindungen aus dörflicher und städtischer Kultur. So blieb etwa die bäuerliche Festkultur noch Jahrzehnte nach der Kollektivierung den Rhythmen und Praktiken des orthodoxen Festtagskalenders verbunden (vgl. Huhn 2014: 249-282). Taufen und kirchliche Trauungen gehörten trotz wiederholter antireligiöser Kampagnen und der staatlichen Gängelung der Kirche bis in die späte Sowjetzeit zum Alltag auf dem Lande (vgl. Denisova 2010: 132-142). In den 1960er Jahren wurden religiöse Traditionen zudem von einem Teil der städtischen Bevölkerung wiederbelebt, die unter dem Eindruck des veränderten Dorfdiskurses versuchten, sich die vermeintlich authentische Lebensweise der Dörfer anzueignen (vgl. Vajl’/Genis 2014: 267-280). Mit der Stärkung der sowjetischen Konsumgüterindustrie veränderte sich in der poststalinistischen Zeit nicht nur die materielle Kultur der Städte, sondern auch jene auf dem Lande. Nachdem zahlreiche Regionen an das Stromnetz angeschlossen worden waren, spielte das Radio und später das Fernsehen eine zunehmend wichtige Rolle. Seriell gefertigte Möbel und Kleidung waren ebenfalls immer häufiger in den ländlichen Siedlungen anzutreffen; fließendes Wasser hingegen war vielerorts bis in die späte Sowjetzeit keine Selbstverständlichkeit (vgl. Bönker 2016: 181-182, 197; Goehrke 2005: 310-311, Humphrey 1998). Die fundamentale Veränderung der Wirtschafts- und Lebensstile in den ländlichen Regionen Russlands ging einher mit einem Wandel ländlicher Sinnhorizonte. Angesichts der zunehmenden Arbeitsteilung und Spezialisierung in der Landwirtschaft sowie der engen ökonomischen und sozialen Bindungen privater Haushalte an die Betriebe wurde die Kategorie des Bauern in der späten Sowjetzeit und danach von der ländlichen Bevölkerung Russlands nicht mehr zur Markierung der eigenen sozialen Identität in Anspruch genommen. Seit der Perestrojka steht stattdessen der Begriff des fermer für das Leitbild des landwirtschaftlichen Familienbetriebs, das insbesondere von der Regierung El’cins propagiert wurde (vgl.
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Humphrey 2002). In der überwiegenden Zahl der Regionen blieben fermer jedoch unbedeutend. Nach dem Ende der Sowjetunion reagierten die Angestellten landwirtschaftlicher Betriebe zögerlich auf die Option, ihre Landanteile zu privatisieren. Bürokratische Hürden, der Mangel eines Marktes für Produktionsmittel und Kredite sowie die zentrale Bedeutung, den der Zugang zu den Ressourcen der Betriebe für die ländliche Bevölkerung gewonnen hatte, machten die Aufnahme einer eigenständigen landwirtschaftlichen Tätigkeit zu einem großen Risiko. In der Folge wurde das von der Regierung proklamierte Ansinnen, ein ländliches Unternehmertum auf der Basis von Landrechten und Marktwirtschaft zu schaffen, verfehlt und die faktisch landlose Bevölkerung sozial und ökonomisch marginalisiert. Was mitunter nostalgisch als ein »Niedergang der ländlichen Welt« (Goehrke 2005: 307) beklagt wird, gleicht folglich eher einer »Proletarisierung« der ländlichen Regionen (AllinaPisano 2008: 10).
AUSBLICK Herrschaft, Utopie und Ökonomie waren in den ländlichen Regionen im Russland des 20. Jahrhunderts wechselseitig aufeinander bezogen. Die Macht des Staates hing von der Möglichkeit ab, die Versorgung insbesondere der städtischen Bevölkerung sicher zu stellen. Dies machte die Situation in den ländlichen Regionen zu einem entscheidenden Garanten der Macht. Neben den Herrschaftsinteressen folgten die von der Regierung forcierten Eingriffe in die Ökonomie des Dorfes vielfach utopischen Entwürfen einer modernen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Utopien für den ländlichen Raum wiederum bezogen ihre Legitimität aus dem Verlangen der Eliten, eine als rückständig wahrgenommene Ökonomie an die Erfordernisse der Moderne anzupassen. Die Antworten auf das bereits während der Zarenzeit identifizierte Problem der »Rückständigkeit« waren vielfältig. In den 1920er Jahren wurden die vor der Revolution entwickelten Maßnahmen zur Modernisierung der ländlichen Regionen fortgesetzt. Doch während vormals staatliche und nicht-staatliche Akteure parallel agiert hatten, monopolisierte die sowjetische Regierung die Zuständigkeiten in diesem Bereich. Die Kollektivierung zielte auf den Transfer von Ressourcen aus dem ländlichen Raum in die städtischen Zentren. Zugleich war sie ein Mittel, um die vermeintlich illoyale Bevölkerung der Dörfer zu kontrollieren und ihre Wirtschafts- und Lebensweise zu modernisieren. In der poststalinistischen Sowjetunion verband sich die Vision einer hochmodernen Landwirtschaft mit den letztlich erfolglosen Versuchen der Regierung, der massenhaften Abwanderung aus den ländlichen Regionen durch eine Aufwertung der ländlichen Regionen und Investitionen zu begegnen.
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Gegenwärtig bestimmen das Erbe der sowjetischen Agrarordnung, der globale Trend des land grabbing sowie das ebenfalls internationale Phänomen der Suburbanisierung die ländlichen Regionen Russlands. Obwohl die Reformen der frühen 1990er Jahre darauf zielten, die Konzentration von Landbesitz bei den Großbetrieben zu überwinden, erinnert die russische Landwirtschaft heute strukturell an die Organisation der sowjetischen: An der Seite von Großbetrieben, die nationale und internationale Lebensmittelketten beliefern, produzieren ländliche Haushalte für den eigenen Bedarf bzw. die meist gewerblich nicht registrierte Vermarktung. Da Agrarbetriebe unter den Bedingungen der Marktwirtschaft soziale und administrative Funktionen in deutlich geringerem Maße übernehmen als ihre sowjetischen Vorgänger, ist der Zugang zu Infrastruktur und sozialen Dienstleistungen in vielen ländlichen Regionen erschwert (vgl. Pallot/Nefedova 2007). Zugleich lässt sich ein deutlicher Trend zur Regionalisierung ausmachen: Während Agrarholdings die Landschaften im Süden des Landes prägen, sind Regionen mit geringen landwirtschaftlichen Gewinnmargen häufig verarmt (vgl. Nefedova 2012). In großstadtnahen Gegenden wiederum werden ländliche Räume als Erholungsgebiete geschätzt. Zahlreiche Moskauer verbringen ihre Wochenenden und die Sommermonate auf ihren Datschen, und in sog. Cottage-Siedlungen versucht die gehobene Mittelschicht seit einigen Jahren einen Brückenschlag zwischen gesundem Land- und bequemen Stadtleben (vgl. Nason/Nigmatullina 2011). Die eingangs beschriebene Suche nach dem »schönsten Dorf Russlands« ist eine Reaktion auf den tiefgreifenden sozialen, ökonomischen und kulturellen Wandel in den ländlichen Regionen Russlands im 20. Jahrhundert. Im Lichte der Veränderung wird das Dorf als ein Ort kultureller und häufig auch nationaler Authentizität konstruiert. Damit setzt die Initiative die bis in die frühe Nachkriegszeit zurückgehenden Bestrebungen zur Bewahrung dörflicher Kultur, Lebensformen und vermeintlicher lokaler Authentizität fort, die sich in der Errichtung von heimatkundlichen Museen, in der sog. Dorfprosa und später sogar im ökonomischen Denken niederschlugen. Zugleich knüpft sie an zentrale Muster elitärer kultureller Selbstverständigung an, deren Wurzeln bis in die spätimperiale Zeit zurückreichen. Aus einer international vergleichenden Perspektive wiederum ist die Suche nach dem schönsten Dorf Russlands keinesfalls etwas Besonderes. Als Reaktion auf Urbanisierung und die Industrialisierung der Landwirtschaft entstehen in vielen Ländern Initiativen zur Konservierung von Landschaften und ländlicher Lebensart. So geht die in Russland seit 2014 aktive Initiative auf die 1982 in Frankreich gegründete Organisation LES PLUS BEAUX VILLAGES zurück, die inzwischen Teil eines internationalen Dachverbands mit mehreren nationalen Ablegern ist.8
8
Vgl. die Seite der Assoziation: http://krasaderevni.ru/association/.
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Im Kontext des postsowjetischen Russlands verweist der Rekurs auf ein imaginäres Dorf der Vergangenheit nicht nur auf den Wunsch nach einer Konservierung ländlicher Lebenswelten. Er ist auch und vor allem ein Spiegel der kollektiven Enttäuschung über das Scheitern des sowjetischen Projekts, dessen ambitioniertes Versprechen, die ländlichen an die städtischen Regionen anzugleichen, letztlich nie eingelöst wurde. Zugleich spiegelt die Suche nach den schönsten Dörfern die Sehnsucht nach einer kollektiven Identität, die auf romantische Geschichtsbilder rekurriert und bereits im 19. Jahrhundert eng mit der vermeintlichen nationalen Eigenart ländlicher Regionen assoziiert wurde. Anders als während der sowjetischen Herrschaft wird daher nicht die von der staatlichen Führung proklamierte Utopie revolutionärer Veränderung, sondern die vermeintliche Zeitlosigkeit ländlicher Regionen in den Mittelpunkt gerückt. Unterstützung erfährt dieser reaktivierte Dorfdiskurs von Wissenschaftlern und Intellektuellen, die sich – gleich den Vertretern des narodniþestvo im späten 19. Jahrhundert – für die Rückkehr auf das Dorf einsetzen und so der auf die Entwicklung der Städte fixierten Politik des Staates eine Alternative entgegensetzen möchten.9 Vor allem hierin spiegelt sich ein Phänomen, das bei Weitem nicht auf Russland beschränkt ist: Die Landlust kommt häufig aus der Stadt.
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9
So zum Beispiel die Vertreter der russischen Peasant Studies (krest’janovedenie) oder auch die Sozialwissenschaftler und Geographen, die im Rahmen des Ugorsker Projekts im Gebiet
Kostroma
Wissenschaft
und Dorfromantik
miteinander
verbinden:
http://www.ugory.ru/index.htm. Vgl. auch das Beispiel Karelien, wo die Inszenierung einer vorindustriellen ländlichen Idylle vor allem dem Bedürfnis städtischer Eliten entspringt (Golubev 2017).
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»Man könnte es vielleicht als Autopoesie des ländlichen Raumes bezeichnen« Andreas Maier im Gespräch mit Kenneth Anders und Werner Nell
Nell: Andreas Maier, ein Großteil Ihrer literarischen Texte spielt vor allem in ländlichen Räumen; und es geht in diesen immer wieder auch darum, in welcher Weise sich dort Lebensmöglichkeiten gestalten und entfalten lassen. So auch in Ihrem autobiografischen Großprojekt mit dem Titel ORTSUMGEHUNG. Gern würde ich zunächst einmal auf den Titel eingehen. Auf der einen Seite ist die Ortsumgehung, das sprechen mehrere Bücher von Ihnen an, eine Belastung der Landschaft: Die Straße wird um die Orte herum gebaut und zerstört Landschaft, die Orte werden links liegen gelassen und verschwinden zunehmend aus dem Wahrnehmungs- und Lebensbereich der Menschen. So haben Sie an einer Stelle einmal sinngemäß geschrieben, dass die Wetterau lediglich als Name für eine Raststätte an einer Autobahn erhalten bleibt. Auf der anderen Seite lässt sich aber sagen, dass das Erzählen, so wie Sie es betreiben, ja auch als eine Art des Umkreisens zu verstehen ist, als ein Umgehen des Ortes in dem Sinne, dass man ihn aus wechselnden Distanzen anschaut und sich auf diese Art auch wieder dem Ort annähern kann. Maier: Bevor ich überhaupt anfange irgendetwas zu schreiben, das war schon mein ganzes schriftstellerisches Leben so, brauche ich immer erst den Titel. Ich habe immer zu Titeln tendiert, die möglichst leer und empfänglich sind für das, was anschließend im Buch als Füllung für diesen Titel in das Wort hineinfließt – sodass anschließend der Titel und dieser leere Begriff möglichst für gar nichts anderes mehr stehen als für das, was ich damit gemacht habe. Als damals um meine Heimatstadt Friedberg in der Wetterau die Trasse für die Ortsumgehung planiert wurde, war das ein total guter Stichwortgeber. Dazu muss ich vielleicht die Stadt ganz kurz beschreiben, aus der ich komme. Das ist Friedberg in der Wetterau, eine Kreisstadt; und in der Kernstadt zwanzigtausend Einwohner. Ich wohnte in einem
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Neubaugebiet. Das Haus war etwas protzig, denn meine Eltern hatten das größte, das in dem Gebiet gebaut wurde. Mein Vater kommt nicht von dort, was zur ersten Verwerfung geführt hat. Das Haus wurde 1970 gebaut, Gott sei Dank wenigstens an einem Acker. Als Accessoire zu diesem ganzen halben Wetterauer Leben – meine Mutter ist Wetterauerin – hatten wir auch noch einen Yorkshireterrier, der 1993 gestorben ist. Er ist sehr alt geworden, zwanzig Jahre, war aber ziemlich dienstunfähig in den letzten Jahren und hat so wenig gesehen, dass er teilweise gegen die Wand gelaufen ist. Eines Tages, er konnte nur noch sehr schlecht laufen, ist dieser Hund raus. Das hat er normalerweise eigentlich nur noch ganz kurz zur Verrichtung der Notdurft gemacht, aber ist dann lange draußen geblieben und tatsächlich noch einmal um dieses ganze große Haus herumgegangen. Das war einen Tag vor seinem Tod. Es war sozusagen eine finale Hausumgehung. Für mich war daher unser Yorkshireterrier von Anfang an in diesem Umgehungsbegriff mit drin: Also dieses noch einmal Herumgehen um etwas, das du jetzt bald – in seinem Fall durch den Tod, in unserem Fall durch die Ortsumgehung – verlieren wirst. Nell: In literarischen Texten finden wir Beschreibungen eines Ichs und auch die Suche nach diesem Ich bzw. nach denjenigen Erinnerungen, aus denen es sich konstituieren kann. In welcher Art und Weise könnte man, wenn überhaupt, denn solche Narrationen im Ländlichen verstehen und vielleicht auch nutzen für das, was Sie, Kenneth Anders, machen, wenn Sie sich doch sehr konkret mit der Frage der Gestaltung von Landschaft im ländlichen Raum beschäftigen? Anders: Ich würde das mit einer gewissen Vorsicht anfassen. In den ländlichen Räumen, in denen ich mich bewege, ist das Beschreiben und das Erzählen der eigenen Orte und der eigenen Landschaft sehr stark rückläufig. Dafür gibt es auch gute Gründe, die damit zu tun haben, dass die autopoetische Kraft des Landes ihre Wurzeln unmittelbar in der wirtschaftlichen Aneignung der Ressourcen des Landes findet. In dem Moment, wo das aufhört und nur noch wenige Menschen dieses Land bewirtschaften, kommt dieses Beschreiben und Erzählen auch zum Erliegen. Es verstummt, und selbst da, wo ich noch Leute kenne, die noch sehr viel wissen und das auch artikulieren können, haben sie gar nicht das Zutrauen, dass diese Beschreibungen noch zu irgendetwas von Nutzen sein könnten. Die Frage ist also, ob ein Kunstgriff möglich ist, dass man trotzdem beschreibt und dadurch neue Aneignungsweisen stiftet. Das ist ein Pferd, auf das ich eigentlich immer setze und gesetzt habe. Ich frage mich aber auch, ob das überhaupt berechtigt ist. Das kann man nämlich in Zweifel ziehen. Man kann sagen: Wenn es keine Aneignungsbeziehung mehr gibt, dann werden die Orte eben bedeutungslos. Genau das ist es, was an vielen Stellen mit ländlichen Räumen geschieht. Das Interessante an DER ORT von Andreas Maier war für mich, dass es durchaus von einer Aneignungsbeziehung
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handelt. Die Beschreibung des Ortes ist sicherlich sehr vorsichtig und immer durch die Geschichte des Heranwachsenden geprägt. Es geht darum, was dieser Heranwachsende dort macht. Er ist ja viel zu Fuß unterwegs, dadurch hat er einen Zugang zu diesem Raum, er kann ihn selber als ein Medium für das, was ihn beschäftigt, nutzen. Später in dem Buch heißt es sogar: ›Er feiert eine Hochzeit mit dem Ort.‹ Es wird dialektisch erzählt. Das ist eine Arbeit, die zeigt: Was auch immer für ein Raum es ist, er kann angeeignet werden und wir können unsere Entwicklung und Biografien in diesen Räumen vollziehen und mit ihnen in Auseinandersetzung stehen, ohne dass wir objektive Aussagen darüber treffen. Es findet einfach darin statt. Und das unterscheidet für mich dieses Buch auf sehr wohltuende Art von vielen Texten, die Jugend in der Provinz behandeln. Davon gibt es ja sehr viele und einige sind auch ganz toll, zum Beispiel POPULÄRMUSIK AUS VITTULA von Mikael Niemi. Aber diese Bücher enden in der Regel damit, dass der Held sagt: ›Ich verlasse jetzt diesen Raum und ich lasse auch diese Leute hinter mir, weil ich in den Ballungsraum gehe.‹ Nun ist ja dieser ganze Zyklus von Andreas Maier noch nicht abgeschlossen. Aber ich finde schon bemerkenswert, dass der Autor sein literarisches Alter Ego sehr ernst nimmt, und zwar ohne pathetisch zu werden. Denn das ist genau das Gegenteil dessen, was wir in den verschiedenen Bewegungen hin zu den Ballungsräumen oft sehen und lesen, nämlich dass die Menschen das Bedürfnis haben, die ländlichen Räume abzustreifen und hinter sich zu lassen. So als wäre damit eine soziale Deklassierung und Schmach verbunden, als Angehöriger eines Raumes, der provinziell geprägt ist, zu erscheinen. Da ist dieses Buch schonungslos, ich kann dieses Distanzierungsbedürfnis in ihm nicht finden. Maier: Ich stoße eben immer wieder auf dieses Muster. Mir erscheint eine gewisse Sorgfalt im Umgang mit so etwas wie Herkunft, auch wenn man den Ort verlässt, sehr wichtig, weil die Herkunft letztendlich auch wieder das Potential birgt, sich wieder auf andere Orte einzulassen. Dabei ist nachrangig, ob jemand in einem Ballungsraum wohnt oder in einer anderen Provinz. Aber sich selber nicht davon abhängig zu machen, in der richtigen Umgebung zu sein, ist eine kulturelle Kraft. In diesem vermittelten und vermittelnden Sinn kann Literatur eben sehr viel beitragen. Nell: Sie nehmen diesen Jungen ernst, in seiner Zeit, in seinen Projektionen und auch in den Besessenheiten, unter deren Vorzeichen dieses Heranwachsen steht. Muss man mit dem ländlichen Raum einfach ernsthafter umgehen? Maier: Ich nehme jeden Menschen ernst. Es ist mir völlig egal, wie alt die Leute sind. Ich habe meine Tochter vom ersten Augenblick an ernst genommen. Ich war einmal Studienreferendar für Latein und Deutsch am Gagern-Gymnasium in Frankfurt. Das habe ich elf Monate lang gemacht. Diese Ausbildung dauert eigentlich
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zwei Jahre. Eigentlich wollte ich das nicht machen, bin da aber so hineingeschlittert und es gab Geld und so weiter. Wie kann man Sechzehnjährige ernst nehmen? Ich behaupte ja bis heute, dass der Begriff Pubertät, den ich niemals in einem Buch verwenden würde, nur dazu erfunden ist, damit die sogenannten Erwachsenen eine Sicherheit vor denen bekommen. Sie haben eine Art Krankheitsbegriff erfunden für den Zustand, den ich eigentlich immer den Wahrheitszustand nenne. Damals bin ich nach elf Monaten aus dem Referendariat raus, auch deshalb, weil ich mir geschworen hatte, ich würde niemals über die Gruppe – ›Gruppe‹ ist auch so ein Wort, das ich verachte, denn in der Gruppe regrediert jeder einzelne und stirbt dahin –, sondern immer nur von einzelnen Menschen reden. Und wer einmal im Referendariat war, der weiß, irgendwann kommt auf Sie zu, dass Sie Unterrichtsentwürfe schreiben müssen. Das habe ich lange hinausgezögert, weil ich dann diese schlimmen Sätze im Erwartungshorizont hätte schreiben müssen: ›Die Gruppe soll...‹ Irgendwann habe ich mir gesagt: Wenn du hier bleibst, wirst du sowieso kein Schriftsteller mehr. Und dann bin ich zu meiner elften Klasse, die ich geliebt habe und die mich geliebt hat, und habe denen gesagt, dass ich eben gekündigt habe. Als sie gefragt haben, warum, habe ich ihnen erklärt: Weil ich so bleiben will wie ihr und nicht so werden will, wie die im Lehrerzimmer. Damals war ich etwa 27. Es gibt für mich nichts, was ich an diesem Alter nicht ernst zu nehmen hatte. Es gibt in späteren Jahren unserer Entwicklung vielmehr, was ich völlig unglaubhaft finde und nicht ernst nehmen kann. Das sind zum Beispiel all die Fragen, die wir uns gestellt und niemals für uns selbst beantwortet haben. Anders: Eine ganz zentrale Frage an diejenige Literatur, die so eine räumliche Verankerung hat, ist für mich, inwiefern sie etwas zur Selbstbeschreibung von Menschen leistet, die eine gemeinsame räumliche Bindung haben. Ein Beispiel dafür ist ein Buch, das wir im Aufland-Verlag verlegt haben. Das ist von einem Zimmermann, ein ganz ruppiges, grob geschriebenes Buch: DER MALERLEHRLING – EINE OSTDEUTSCHE GESCHICHTE. Der Autor ist jetzt so Mitte fünfzig und für die Leute, die ungefähr in dieser Region aufgewachsen sind, ist dieses Buch sehr wichtig, weil sie darin etwas bestätigt sehen, wofür sie selber keine Sprache hatten. Sie können darin eine Erfahrung wiederfinden; und sicherlich macht denen das auch einfach Spaß. Aber es macht auch deutlich, wie man einigermaßen erhobenen Hauptes aus der DDR-Geschichte rauskommen konnte, ohne dass man sich als DDR-geschädigt hinstellen muss. In dem Buch von Andreas Maier gibt es auch eine politische Geschichte, diese CDU-Veranstaltung, die ja sehr fulminant geschrieben ist; und es gibt auch andere Momente einer Radikalität, die in dem Alter da ist: Dieses Sich-selber-ohnmächtig-Machen. Da musste ich an einen Freund denken, der mit etwa fünfzehn Jahren immer Nuth geschnüffelt hat. Das war so eine Möbelpolitur im Osten. Das war natürlich ein Drogengebrauch, aber es war auch
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ein Ausdruck einer Radikalität, das unbedingt ausprobieren zu wollen. Daher würde mich interessieren, ob es ein Feedback zu dem Buch gibt von Leuten, die diese Generationserfahrung teilen, nicht als Gruppenerfahrung, aber doch als eine Erfahrung, in diesem Alter, in dieser Region gelebt zu haben. Maier: In Friedberg und Bad Nauheim selbst, wo ich herkomme, eigentlich nicht. Die Leute sind da inzwischen recht stolz auf mich, das habe ich schon gemerkt. Das war am Anfang, vor fünfzehn Jahren, noch nicht so. Da gab es eher andere Probleme. Ich merke allerdings, dass nicht nur meine Altersgruppe auf mich reagiert, sondern dass die Reaktionen ziemlich umfassend sind. In den überregionalen Zeitungen, in den Feuilletons, stelle ich oft fest, dass es dabei um die Evokation oder Revokation einer Welt, einer ganz bestimmten Generation geht und man sich dann unter gewissen Produktnamen oder dergleichen zusammenfindet. Wobei bei mir ja kaum Produkte vorkommen. Ich glaube, das Waschmittel Coral kommt einmal vor. Überregional wird das Buch daher auch eher verzeitlicht. Deshalb kann ich nicht sagen, dass es für die Leute zu Hause in der Wetterau etwas Identifikationsstiftendes hat. Die Leute sehen schon auch, was ich da für ein Spiel treibe und dass ich etwas schaffe, was nochmal die Wetterau ist, aber eben nicht die Wetterau selbst. Nell: Mit Ihrem Buch lassen sich ja auch verschiedene zeitbezogene Fragen thematisieren: Handelt es sich um einen gegenwärtigen Ort oder um einen vergangenen Ort, der in das vergangene Ländliche zurückführt? Ist es ein Ort, in dem Zeitsprünge und Anachronismen in besonderer Art und Weise in Erscheinung treten, die dann wiederum genutzt werden können, um uns selbst in der Gegenwart und in unseren Zusammenhängen überhaupt zu verstehen? Maier: Ich denke, ich bin geprägt von einer starken Erinnerung an meine erste Welt, in der ich herangewachsen bin. Für die habe ich eine Art Sensorium entwickelt. Meine erste Welt ist mir immer meine erste Welt geblieben; auch deshalb, weil ich die spätere Welt nicht durch große Benutzung zugedeckt habe. Man könnte es vielleicht als Autopoesie des ländlichen Raumes bezeichnen; für mich war dieser Gedanke neu, aber er scheint mir vollkommen richtig zu sein. Diese Autopoesie stirbt deshalb dahin, weil die Nutzbarkeit des Landes, das, was quasi für dich ökonomisch wichtig ist, nicht für das Land selbst von Bedeutung ist; aber du ersetzt das durch eine andere unmittelbare Natur, nämlich zum Beispiel durch die Straße, auf der du dann mit deinem Auto von dem Dorf nach Frankfurt fährst. Das ist es, was nun unmittelbar zugänglich ist – in ähnlicher Weise wie es früher der Apfelbaum oder der Acker war. Ich selbst habe im Laufe meines Lebens durch Unfähigkeit, Passivität und keine Ahnung, durch was alles, die Welt um mich herum sehr wenig benutzt. Ich bin kein Urlauber, ich fliege nie, ich fahre kein Auto, ich gucke
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nicht fern und all so ein Kram. Deshalb ist mir wahrscheinlich diese allererste Welt so stark erinnerlich geblieben. Und deshalb habe ich vermutlich auch nie ganz verstanden, warum diese Welt eigentlich so verändert werden musste. Das wird aber jeder verstehen, der sie benutzt. Ich habe die sensorische Erfahrung des Nutzens vielleicht wirklich nicht in dem Maße wie jemand, der nach Malaysia fliegt. Anders: Das leuchtet mir ein. Diese erste Welt auch so ernst zu nehmen oder in solch einer Präsenz zu erhalten, sie eben nicht zu überdecken, hat sicherlich auch damit etwas zu tun, dass man sie selber als Ressource begreifen kann. Maier: Man kann es auch viel banaler sagen: Für die Jungs einer befreundeten Familie in Ockstadt beispielsweise, die jetzt so um die 20 Jahre alt sind, ist die Ortsumgehung, die es jetzt ja schon seit einigen Jahren gibt, vollkommen Natur. Ich fahre üblicherweise nie über die Ortsumgehung und habe daher auch keinen physischen sensitiven Zugang zu ihr. Wenn ich das aber jeden Tag hätte, dann wäre das für mich durchaus meine Natur. Anders: Da wäre ich vorsichtig, und zwar aus folgendem Grund: Der Apfelbaum beispielsweise hat die Besonderheit, dass ich ihn nicht ohne Weiteres substituieren kann. Das macht ihn als Ressource aus. Genauso ist es mit meiner ersten Welt, meiner Kindheit. Die kann ich ja auch nicht einfach austauschen; und das trifft ja auch auf den Apfelbaum zu, den ich bewirtschafte. Diese Bindung kann ich nicht ohne weiteres aufheben, das ist sozusagen ein Relikt, das die Landleute bis heute haben. Grundsätzlich behandeln wir gegenwärtig aber nur noch sehr wenige Dinge als Ressourcen. Unsere Kleidung, unsere Autos kann man austauschen. Wenn die Straße nicht mehr ist, bauen wir eine neue. Das sind also eigentlich alles substituierbare Güter. Ich denke, dass die Brücke, die zwischen einer Auseinandersetzung mit so einer ersten Welt, wie Sie es nennen, und einer ländlichen Kultur besteht, mit dieser Ressourcenhaftigkeit zu tun hat. Dass ich mir sage und auch sagen muss: Ich habe nur diese eine Jugendzeit gehabt, ich habe nur diese eine Welt in meiner Jugend genossen – oder sie ist mir halt widerfahren – und die kann ich nicht austauschen. Es gibt schon einen Unterschied zwischen den Dingen, die wir austauschen können, und den Dingen, die uns nun mal gegeben sind; und diesen Unterschied gilt es anzuerkennen. Maier: Das kann ich am eigenen Beispiel bestätigen. Ich habe persönlich schon eine relativ starke Beziehung zum Apfel, auch zum Apfelwein. Neulich habe ich einen Beitrag geschrieben über Ressourcen. Da habe ich natürlich sofort angefangen, über den Apfel zu schreiben. Und im Zuge dieses Artikels habe ich mir über-
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legt: Was mache ich eigentlich? Da bin ich auf den Gedanken gekommen: Eigentlich arbeite ich an der Selbstvermostung meiner eigenen Kindheit und Herkunft. Denn ich mache die Wetterau zu meiner eigenen Ressource und mache für mich, ganz brutal-ökonomisch gesagt, auch Geld daraus. Allerdings: Selbst wenn ich mich als Wetterauer und die Wetterau selbst vermoste, so kann man doch trotzdem durch die Wetterau fahren und man sieht nichts von mir. Ich bin sozusagen physisch konkret gar nicht da. Anders: Ich habe mich neulich mit der Problematik beschäftigt, was Landschaft mit Ländlichem zu tun hat. Daraufhin habe ich nochmal Lothar Kühne gelesen, einen marxistischen Ästhetiker der DDR, den man heute fast nicht mehr lesen kann. Die Sprache ist so verstellt und eigenartig dialektisch; alles wird immer ineinander aufgehoben. Kühne entwirft in seinen Schriften ein utopisches Panorama von einer Landschaft im Kommunismus, wie sie einmal sein würde. In dieser ist dann der Widerspruch zwischen Haus und Landschaft aufgehoben. Das heißt: Das Haus selber ist nicht mehr nötig im Sinne eines Schutzraumes, die Kirche ist nicht mehr nötig im Sinne eines sakralen Raumes. Denn diese ganzen Möglichkeiten des Seins sind in der Landschaft selber vorhanden und dadurch wird die Teilhabe des Einzelnen am Raum quasi universal gewährleistet. Wir gehen vollkommen in allem auf. Es ist heute schon kaum noch zu begreifen, wie man so etwas überhaupt denken konnte. Das Interessante aber ist, dass diese Teilhabe möglich sein muss, ohne ein Verkehrsmittel zur Hilfe zu nehmen. Denn nur dann sind die Qualitäten gegeben, die nötig sind, um die eigene Teilhabe am Raum und damit auch an der Gesellschaft und an der Natur überhaupt erfahren zu können. Jetzt ist das so mit der Utopie nicht aufgegangen, aber ich möchte analytisch gern daran festhalten, dass diese Zusammenschau von Dingen, die im Raum sind, wirklich wichtig ist. Eines der dramatischen Probleme, die wir gegenwärtig in der Raumentwicklung haben, ist die krasse Segregation von Räumen nach Funktionen, die Teil größerer Systeme sind. Wir haben Industriegebiete, Tourismusgebiete, Agrarzonen, Wohngebiete, Logistikzonen und so weiter. In diesen können wir uns gar nicht mehr in eine Position begeben, die es uns ermöglicht, die verschiedenen Aspekte unseres eigenen Lebens, wie es tatsächlich über Naturaneignung vermittelt ist, zusammenzuschauen. Die Räume sind fragmentiert und wir müssen es daher in gewisser Hinsicht auch sein. Demgegenüber empfinde ich das in Andreas Maiers Romanen dargestellte Beharrungsvermögen dann auch in einer gewissen Hinsicht als programmatisch für unseren Umgang mit Räumen. Nell: In Ihren Büchern thematisieren Sie immer wieder eine gewisse Widerständigkeit des individuellen Lebens, die es in ihrer jeweils spezifischen Art und Weise ernst zu nehmen gilt. Diese Widerständigkeit scheint mir auch auf die von Ihnen
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beschriebenen ländlichen Räume zuzutreffen. Hier wird meiner Meinung nach Einspruch erhoben gegen die Vernutzbarkeit und gegen die Vorstellung, dass Räume linear zu entwickeln sind. Maier: Ich würde das, obwohl ich Ihnen zustimme, deshalb niemals so sagen wie Sie, weil Sie es so programmatisch formulieren. Selbst wenn das mein Programm wäre, dann würde ich es nicht zugeben, weil das, was ich will, durch die Literatur sinnlich erfahrbar sein und sich im Kopf des Anderen erschließen soll. Es ist nicht meine Aufgabe, Programme zu machen. Für mich als Autor ist es eher wichtig, etwas zu leben. Und dadurch den Gedanken oder das Wollen oder vielleicht auch ein bestimmtes Weltbild, wie auch immer man es nennen will, auf eine quasi organische Weise nachempfindbar zu machen; so, dass dann jeder seine eigenen Schlüsse daraus ziehen kann. Nell: Da würde ich ja gerne sagen: Das ist für mich das, was Literatur ausmacht. Sie liefern ein Bild und dieses Bild ist im Unterschied zu dem, was ich programmatisch genannt habe, ein Bild, das vermutlich auch in späteren Generationen noch jemanden dazu anregen kann, über sich und die Anderen nachzudenken. Gast: Ich würde gerne ein Loblied auf die Ortsumgehung singen. Meine Großeltern und mein Vater kommen auch aus der Wetterau, aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Frankfurt, aus Bergen. Da Frankfurt im Laufe der Zeit immer größer geworden ist, hat sich der Unterschied zwischen Bergen-Enkheim und Frankfurt immer mehr aufgehoben. Wenn ich als Sechzehnjähriger meiner Großmutter gegenüber gesagt habe, dass ich jetzt nach Frankfurt fahre, dann hat meine Großmutter immer gesagt: Ach, Frankfurt, nein, nein, bleib mal lieber hier. Ich habe zwar verstanden, was sie meinte – Frankfurt ist gefährlich –, aber ich selber habe das überhaupt nicht mehr so empfunden. Denn in Wirklichkeit war der Weg von Bergen in Richtung Bad Vilbel gefährlich, und zwar wegen der Umgehungsstraße, die weder Ampel noch Zebrastreifen hatte. Über diese Straße zu kommen, bedeutete, sich einer gewissen Gefahr auszusetzen. Erst in dem Moment, in dem man über die Umgehungsstraße drüber war, war man auf dem Land. Sie hat den Unterschied zwischen Land und Stadt markiert und erfahrbar gemacht. Ich bin dieser Umgehungsstraße immer sehr dankbar gewesen. Maier: Quasi als natürliche Grenze. Anders: Da würde ich gern etwas ergänzen zu einer Umgehungsstraße in Ostbrandenburg. Es gibt da die sogenannte Oder-Lausitz-Trasse. Die ist unterbrochen von einigen Abschnitten, die nach einer alten Landstraße aussehen und das auch sind.
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Der Grund dafür ist, dass es sich in Wirklichkeit gar nicht um eine als Trasse geplante Straße handelt, sondern eine Kette von Umgehungsstraßen, die man von vorneherein pfiffig zusammenschließen wollte, damit man am Ende diese Achse bauen kann. Hartmut Meyer war der damalige Verkehrsminister, der das ins Werk gesetzt hat. Und sein Nachfolger hat irgendwann den schönen Satz gesagt: Ich wollte neulich nach Wriezen, aber ich habe es nicht gefunden. Und es ist tatsächlich so, dass man eben nicht nur schnell auf dieser Straße irgendwohin kommt, sondern man auch nichts mehr sieht. Maier: Ja, sensationell. Ich bin neulich mit dem Fahrrad auf den Feldberg gefahren, das ist in der Nähe von Frankfurt die höchste Erhebung, und wollte dann nach Ockstadt, mein Dorf bei Friedberg, und normalerweise ist das einfach nur die Straße von Bad Homburg nach Friedberg. Die alte Bundesstraße geht geradeaus durch. Von den Straßenschildern wirst du jedoch nur noch runter gelenkt. Friedberg wurde dann etwa zwei Kilometer vor dem Ortseingang zum ersten Mal überhaupt auf dem Schild erwähnt. Du findest es nicht mehr. Die Schilder sagen dir nicht mehr, wo der Ort ist, sondern wie du um ihn drumherum fährst. Anders: Das ist nicht nur ein Problem der ländlichen Räume, sondern auch der neuen Städte. Wir hatten beim Filmfest in Eberswalde einen Preisträgerträgerfilm, der den Titel CONVERSATIONS IN MILTON KEYNES trägt und das Leben in einem dieser großen neuartigen Ballungsräume in England dokumentiert. Der Filmemacher war dort mit seiner Kamera zu Fuß unterwegs und hat die Leute gefragt, wie er irgendwo hinkommt. Diese konnten aber üblicherweise nicht sagen, ob das Ziel etwa im Süden oder wo auch immer liegt. Die typische Antwort war: Du musst zählen, dein Ziel liegt drei Abfahrten links und dann wieder einmal rechts. Sie haben jeweils nur beschreiben können, wie sie mit dem Auto dorthin fahren, konnten aber die verschiedenen Punkte, die sie im Raum nutzen, nicht mehr im Zusammenhang interpretieren. Gast: Eine Frage an Herrn Maier: Sie sagen, Sie ›vermosten‹ die Wetterau und ziehen aus dieser ihr Kapital. Kann man es möglicherweise aber auch umgedreht denken? Dies zeigt sich allein schon an der Tatsache, dass wir hier trotz einiger räumlicher Entfernung nun schon längere Zeit über die Wetterau reden und nachdenken. Sind möglicherweise bekannte oder gar große Schriftsteller nicht vielleicht auch so etwas wie ein symbolisches Kapital für eine Region? Maier: Ich glaube, umgekehrt denken kann man sich das schon; aber ich glaube nicht, dass es größere Effekte haben wird. Gehen Sie mal nach Weimar zum Goethehaus und dann gehen Sie zum Schillerhaus, das ist dann schon eine deutlich
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ärmere Veranstaltung, was da an Zuschauermassen ankommt. Als Hesse fällt mir jetzt als Beispiel natürlich das Goethehaus in Frankfurt ein, aber zum Beispiel Heinrich Heine, da kommen höchstens noch ein paar Schulklassen hin, jedoch kein ausländischer Tourist mehr. Ich glaube nicht, dass jemand in meiner Preisklasse oder darüber das leisten könnte. Vielleicht noch Edgar Reitz mit seiner Filmreihe HEIMAT; alle Welt kommt in den Hunsrück und in die paar Dörfer, in denen das gedreht wurde. Da hat das funktioniert, was Reitz natürlich nie angestrebt hat. Es gibt einen weltweiten Tourismus zu bekannten Drehorten: Die Leute fahren zu diesen Hobbit- und Krieg-der-Sterne-Drehorten. Da brauche ich mit meiner Wetterau gar nicht erst ankommen. Anders: Die Frage ergibt natürlich einen Kurzschluss zwischen Literatur oder Kunstproduktion und Regionalentwicklung, wenn nicht sogar Tourismus. Es gibt keine unschuldigen Aneignungen. Ich denke dabei auch an einen Film wie AVATAR, der das vor Augen führt. In ihm spielen ja zunächst die Wissenschaftler in ihrem Erkundungs- und Erforschungsdrang die Hauptrolle, in Wirklichkeit jedoch lauert das Bergbauunternehmen schon im Hintergrund und zielt auf eine ganz andere Aneignung der Landschaft ab. Es ist gewissermaßen immer problematisch. Wie Humboldt die Welt bereist hat, das finden wir alle toll; aber er hat eben auch Aneignungsweisen vorbereitet, die später dann ganz anderer Art sind. Ebenso zweischneidig sind die Aufladungen, die wir in der Malerei haben und durch sie erfahren; eben, dass mitunter ganze Landschaften kanonisch werden und dass man sie unbedingt gesehen haben muss. Das kann auch von Nachteil sein. Für die Regionalentwicklung mag die kurzfristige Inwertsetzung eines Ortes durch eine Attraktion, die Touristen anzieht, wichtig sein; für einen anderen Umgang mit dem Raum ist sie jedoch nicht unbedingt hilfreich. Gast: Ich würde gerne zwei Begriffe, die hier immer wieder aufgetaucht sind, nochmal hinterfragen. Zum einen den Begriff der Aneignung und zum anderen den der Herkunft. Beide wurden meines Erachtens mit sehr positiven, möglicherweise auch verklärenden, Bedeutungszuschreibungen aufgeladen. Das würde ich in Zweifel ziehen wollen. Herkunft ist das Päckchen, das wir alle mit uns herumschleppen und loswerden wollen; und nicht dasjenige, was es sich wieder anzueignen gilt. Ich würde jetzt einfach mal dagegenhalten und sagen: Loswerdung ist die eigentliche Kulturleistung; dass wir uns befreien können von Sachen, die uns aufgegeben sind, hat einen mindestens genauso hohen psychologischen und existenziellen Wert wie der Begriff Aneignung. Anders: An so etwas wie Loswerdung glaube ich nicht. Ich denke, dass wir uns immer in arbeitsteiliger Weise Dinge und Räume aneignen. Selbst wenn wir uns
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zum Beispiel auch komplett aus bestimmten Räumen zurückziehen würden, dann würde das nicht dazu führen, dass diese Räume aufgegeben werden, sondern dass sie anders angeeignet werden. Die Frage ist immer nur, wie wir aneignen. Selbstverständlich ist Herkunft vielleicht auch etwas Schwieriges. Ich habe einmal eine Führung durchs Oderbruch gemacht, an der eine ältere Frau teilgenommen hat, die aus einer anderen Gegend kam und nicht verstehen konnte, warum ich freiwillig dort lebe. Für sie war knapp sechzig Jahre vorher der Weggang aus dem ländlichen Raum solch eine Befreiung, dass sie es sich gar nicht anders denken konnte. Das stimmt natürlich auch unter bestimmten Bedingungen in vielen Teilen der Welt. Emanzipation ist in bestimmten historischen Epochen und Regionen gleichbedeutend damit, den eigenen Herkunftsort zu verlassen. Aber ich finde, dass wir in einer Kulturgesellschaft leben, die den Leidensdruck größtenteils aufgelöst hat, dem wir durch ganz rigide ländliche Praxen, die wir selber gar nicht gestalten konnten und die wie ein räumliches Korsett wirkten, unterworfen waren. Dieser Alp ist eigentlich weitgehend vom Land genommen. Das bietet Chancen für vielfältige Neuaneignungen; denn man geht nun nicht mehr in diese rigide Praxis, in Dorfgemeinschaften, die einem keinen Spielraum lassen. Dazu möchte ich ein Beispiel anführen: Eine Freundin von mir hat in Bayern einen Müller geheiratet, der in der fünfzehnten Generation Müller ist. In den vierzehn Generationen vorher haben die Frauen, die in diesen Hof eingeheiratet haben, ein sehr hartes Los gehabt. Dort herrschte ein strenges Regime, das einfach durch die Praxis der Mühle vorgegeben war und in der Regel, wenn ich das richtig wahrnehme, waren auch die Verhältnisse zu den Schwiegermüttern immer sehr problematisch, weil diese zuvor selbst in diese harten Bedingungen rein mussten und das dann genauso an ihre Schwiegertöchter weitergegeben haben. Nun jedoch ist dieser Müller, den sie geheiratet hat, möglicherweise der letzte, der das macht. Denn eine kleine Mühle, für die man Korn ankauft und dann vermarktet, wird es möglicherweise nicht mehr lange geben. Genau dieses Zeitfenster jetzt bietet jedoch auch einen hohen Gestaltungsspielraum. Es kann natürlich sein, dass es einfach nur zu Ende geht. Aber sie können aktuell ihre Beziehung ebenso wie das, was sie auf dem Hof machen und wie sie sich entwickeln, frei gestalten. Das gilt für die nächste Generation vielleicht schon nicht mehr und auch für die letzte galt es noch nicht, auch wenn es sich bei dieser schon ankündigte. Die Schwiegermutter beispielsweise geht morgens um acht in einem Aufzug, als würde sie gerade aus der Stadt kommen, in den Gemüsegarten. Und dem ist auch so. Sie ist nämlich um vier schon aufgestanden, hat die Schweine versorgt und war dann in der Stadt; und so sieht sie auch aus. Ihr sieht man noch an, dass sie unbedingt etwas loswerden will. In der aktuellen Generation löst sich das alles auf und wird auf einmal wieder neu verhandelbar.
Das Heimatbuch als Gedächtnisort E RNST L ANGTHALER
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»Heimat« ist aktueller denn je. Im Wahlkampf für die Stichwahl zur österreichischen Bundespräsidentschaft 2016 suchten die beiden Kandidaten, der von der Freiheitlichen Partei Österreichs aufgestellte Norbert Hofer und der vormalige Bundessprecher der Grünen und als überparteilicher Kandidat antretende Alexander van der Bellen, den Begriff für sich zu besetzen. »Deine Heimat braucht Dich jetzt«, fordert der freiheitliche Kandidat im staatsmännischen Anzug vor rot-weißroter Fahne.1 »Wer unsere Heimat liebt, spaltet sie nicht«, appelliert der ExGrünen-Politiker in legerer Freizeitkleidung vor alpiner Landschaftskulisse.2 Exklusive, konfliktive und nationale Anklänge im ersten Fall, inklusive, kooperative und regionale Zuschreibungen im zweiten Fall. Kurz, »Heimat« ist vieldeutig (Costadura/Ries 2016). Vorstellungen von »Heimat« haben in der Moderne vielfältige mediale Ausprägungen gefunden: Heimatroman, Heimatfilm, Heimatabend, Heimatlied, Heimatdichtung – und Heimatbuch. Das Heimatbuch – der Begriff tauchte erstmals 1904 auf – als geschichtskulturelle Schriftenklasse wurde im 20. Jahrhundert zu einem Massenmedium. Es gibt wohl kaum eine Landgemeinde oder ein Stadtteil, die oder der nicht in einem Heimatbuch Darstellung gefunden hätte. Das klassische Heimatbuch zeichnet sich durch zumindest drei Attribute aus: Es verfährt üblicherweise lokalzentriert, holistisch und identifikatorisch. Es verwehrt sich erstens der durch moderne Transport- und Kommunikationsmittel getriebenen Schrumpfung
1
Vgl. http://derstandard.at/2000032885411/Hofer-praesentiert-Wahlplakate-DeineHeimat-braucht-dich-jetzt (Zugriff: 19.9.2017).
2 Vgl. http://derstandard.at/2000035757485/Van-der-Bellen-plakatiert-auch-fuer-dieStichwahl-Heimat (Zugriff: 19.9.2017).
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der Welt und wendet sich einem gleichsam unmittelbar überschaubaren Ort zu. Es sucht zweitens die ›Ganzheit‹ der vor Ort lebenden Menschen und ihrer belebten und nichtbelebten Umwelt zu erfassen: Geschichte, Geographie, Geologie, Pflanzen- und Tierwelt, Kunst, Religion, Folklore und so fort. Es folgt drittens über die bloße Beschreibung des ›ganzen Ortes‹ hinaus einem gemeinschaftsstiftenden Impetus, um die Identifikation der Bevölkerung mit der »Heimat« zu stärken. Auf diese Weise bildet das Buch »Heimat« nicht bloß ab, sondern wird zum Medium des Heimat-Machens (Beer 2010; Faehndrich 2010; Schmoll 2010). Die Antriebskräfte des Heimatbuchs reichen bis in das 19. Jahrhundert zurück. Erstens wurde die Heimatkunde, den Überlegungen Johann Heinrich Pestalozzis folgend, im frühen 19. Jahrhundert zum elementarpädagogischen Prinzip in Gestalt eines eigenständigen Unterrichtsfachs für Volksschulen. Zu deren Leitlinien zählten die Anschaulichkeit, das Fortschreiten »vom Nahen zum Fernen«, das Raumdenken in konzentrischen Kreisen und die Interdisziplinarität. Dazu trat zweitens im späten 19. Jahrhundert »Heimat« als antimodernistischer Kampfbegriff. Demgemäß galt es, die – meist als agrarisch-ländlich gedachte – »Heimat« zu bewahren, sie festzuhalten, sie vor den als bedrohlich empfundenen Umwälzungen der industriellurbanen Moderne zu schützen. Drittens etablierte sich etwa zur selben Zeit die identifikatorisch orientierte und vom Provinzbürgertum betriebene Laienforschung, die sich von der professionalisierten Geschichtswissenschaft abhob, als Trägerinstitution der Heimatkunde (Beer 2010: 28ff.; Faehndrich 2010: 55ff.). Im 20. Jahrhundert lassen sich im deutschsprachigen Raum mehrere Wellen der Heimatbucherstellung ausmachen. Für die erste Welle der 1920er und 1930er Jahre bildete der Erste Weltkrieg einen Katalysator. Die Heimatbücher dieser Phase behandelten Orte inner- und außerhalb der durch die Friedensverträge gezogenen Staatsgrenzen. Zudem wurde das Genre durch Ratgeberliteratur zunehmend kanonisiert. Für die zweite Welle der 1950er und 1960er Jahre wirkte der Zweite Weltkrieg mit seinen einschneidenden Grenz- und Bevölkerungsverschiebungen wiederum als Katalysator. Neben Kommunalheimatbüchern in der BRD, der DDR und Österreich erschienen nun auch Vertriebenenheimatbücher über ehemals von Deutschsprachigen besiedelte Orte in Ost- und Südosteuropa. Die dritte Welle seit den 1970er Jahren wurde in verstärktem Maß durch Neue Soziale Bewegungen (Umwelt-, Frauen-, Friedensbewegung usw.) getragen. Das Motiv der Identitätsstiftung geriet nun zunehmend in Spannung zum Wissenschaftlichkeitsanspruch, wobei auch das 20. Jahrhundert als »Zeitalter der Extreme« (Eric Hobsbawm) zum Thema wurde. Das ›neue Heimatbuch‹ trat in zwei Spielarten auf: einer eher sozialwissenschaftlich-aufklärerischen mit dem Autor als ›Therapeuten‹ und einer eher kulturwissenschaftlich-reflexiven mit dem Autor als ›Moderator‹. Neben herkömmlichen Darstellungsformen spielten elektronische Medien eine immer bedeutendere Rolle
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(Beer 2010: 32ff.; Faehndrich 2010: 62ff.; Setzler 2010; Fendl 2010; Eminger 2003). Alles in allem verweisen die drei Wellen der Heimatbuchherstellung im 20. Jahrhundert auf Anläufe zur Verarbeitung gesellschaftlicher Erfahrungen des Verlustes: einerseits allgemeiner Verlusterfahrungen im forcierten Übergang von der Agrar- zur Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts, andererseits besonderer Verlusterfahrungen durch Grenzverschiebungen und damit verbundene Zwangsmigrationen deutschsprachiger Minderheiten in und nach den beiden Weltkriegen. Die Erfahrung des Verlustes einer zeitlich oder räumlich entrückten, als identitätsstiftende Ressource instrumentalisierten »Heimat« motivierte das klassische Heimatbuch als ganzheitlich-deskriptive, vom äußeren Kontext isolierte Binnendarstellung eines meist ländlichen Ortes. Seit den 1970er Jahren sucht das ›neue Heimatbuch‹ den traditionellen, tendenziell affirmativen Blick auf die »Heimat« zugunsten kritischer Aspekte, etwa der Verstrickungen in den Nationalsozialismus, aufzubrechen (Langthaler 2002a, 2014).
P APIERENER G EDÄCHTNISORT Das geschichtskulturelle Genre des Heimatbuchs lässt sich im Rahmen der sozial-. und kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung als Gedächtnisort, Erinnerungsort oder lieu de mémoire konzipieren (Kessler 2010; Frede 2010; Sannwald 2010; Faehndrich 2005). Es liegt im Spannungsfeld zweier Gedächtnispraktiken: Gedenken und Erinnern. Aleida Assmann fasst diese unterschiedlichen Strategien in die Begriffe von ars (»Kunst«) und vis (»Kraft«). Das Gedächtnis als ars, wie es in der rhetorischen Gedächtniskunst seit der Antike geübt wird, bezieht sich auf Verfahren des reproduzierenden Gedenkens nach räumlichen Vorbildern. Dagegen wendet sich seit der Aufklärung immer deutlicher das Gedächtnis als vis, die Kraft der transformierenden Erinnerung in der Zeit. Daraus leitet Assmann die Unterscheidung von Funktions- und Speichergedächtnis ab. Das »bewohnte Funktionsgedächtnis« umfasst jene lebendigen Erinnerungen, die in der jeweiligen Gegenwart Sinn generieren. Das »unbewohnte Speichergedächtnis« hingegen versammelt tote, sinnentleerte Fakten. Zwischen Funktions- und Speichergedächtnis bestehe keine Trennung, sondern eine Übergangszone für den »Binnenverkehr zwischen aktualisierten und nichtaktualisierten Elementen«, der die Dynamik des Gedächtnisses ermögliche (Assmann 1999: 130ff.). Die Spannung von Gedenken und Erinnern durchzieht auch das Werk Pierre Noras. In seinem enzyklopädischen Projekt LES LIEUX DE MÉMOIRE zieht er eine klare Trennung zwischen Gedächtnis und Geschichte: Während ersteres sakralisierend, gruppenbezogen und punktuell ausgerichtet sei, arbeite letztere entzaubernd,
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verallgemeinernd und kontinuierlich. Kurz, »das Gedächtnis ist ein Absolutes, die Geschichte kennt nur das Relative« (Nora 1998: 13). Nora sieht diese Trennung als spezifischen Zug der Moderne und deutet diesen, versetzt mit einem Schuss Kulturpessimismus, als Herrschaft der Geschichte über das Gedächtnis – als »Entlegitimierung der gelebten Vergangenheit« (ebd.: 13). Dort, wo sich die Geschichte der milieux de mémoire, der gelebten Gedächtnisse, bemächtigt, sieht Nora die lieux de mémoire, die Gedächtnisorte, im Entstehen. Die Gedächtnisorte liegen zwischen Gedächtnis und Geschichte – dem Gedächtnis nicht mehr, der Geschichte noch nicht zugehörig. Die Gedächtnisorte, die als Museen, Archive, Denkmäler, Feste oder Wallfahrtsstätten fassbar werden, schützen das Gedächtnis vor dem Zugriff der Geschichte: »Das Gedächtnis klammert sich an Orte wie die Geschichte an Ereignisse« (ebd.: 30.). Das Heimatbuch als Gedächtnisort markiert gleichsam einen Übergang vom Funktions- zum Speichergedächtnis (Assmann) bzw. vom Gedächtnis zur Geschichte (Nora). Es ist ein papierener Ort, der die lebendige Erinnerung einer imagined community an ihre Vergangenheit in verbindlicher Form festschreibt (Codierung). Zudem lassen sich die verschriftlichen Gedenkinhalte zum Zweck der Gemeinschaftsstiftung und -stärkung in Gegenwart und Zukunft, etwa im Zuge von Gedenkfeiern, gleichsam wiederbeleben (Decodierung). Auf diese Weise wird das Heimatbuch in den Gedächtniskreislauf von Codierung, Text, Decodierung und Alltagsleben eingebunden (Anderson 2006; Kroh/Lang 2010; Langthaler 1999, 2002b). Abbildung 1: Das Heimatbuch im Gedächtniskreislauf
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Z WISCHEN I NTUITION UND R EFLEXION Heimatbücher gibt es in Hülle und Fülle – nicht nur im quantitativen, sondern auch im qualitativen Sinn. Zwei Kontrastbeispiele aus dem Bundesland Niederösterreich markieren das Spektrum an Ausprägungen. Das HEIMATBUCH VON SCHÖNKIRCHEN UND UMGEBUNG, verfasst von dem Volksschullehrer Wilhelm Schwab und erschienen 1925, steht stellvertretend für die zunehmend kanonisierte, vom Provinzbürgertum getragene Heimatbuchwelle der Zwischenkriegszeit. Im Vorwort erläutert der Bezirksschulinspektor, der Leiter der unteren Schulbehörde, die Mission des Buches. Zunächst wird die »Heimat« in einem ganzheitlichen Sinn definiert: »Heimat ist die Summe der unbewussten und bewusst gewordenen inneren Beziehungen, die den einzelnen mit seinen Eltern, mit seiner Familie, mit seiner Kirche, mit seinem Stamme, mit seinem Volke, kurz gesagt mit seiner ganzen Umwelt verbindet.« Sodann wird der Zweck des Buches, die Verinnerlichung der äußeren Werte, dargelegt: »Wir wollen durch den heimatlich eingestellten Unterricht, durch die heimatlich eingestellte Erziehung alle in der Heimat ruhenden sittlichen, religiösen, geschichtlichen, erdkundlichen, naturkundlichen und sonst irgendwie vorhandenen Werte zu Persönlichkeitswerten umschaffen, d.h. der einzelnen soll sich all dieser Schätze bewusst erfreuen, sein Leben durch sie beeinflussen lassen, ein dadurch kulturell höheres Dasein führen.«
Letztlich zielt das Unterfangen auf das Knüpfen eines emotionalen Bandes, einer intuitiven Liebesbeziehung zwischen Person und »Heimat«: »Durch Pflege des Heimatgefühls und Klärung der Heimatvorstellungswelt erzielen wir als köstliche Frucht für das Leben die Heimatliebe« (Schwab 1925: 3ff.; Hervorhebungen im Original). Die Buchinhalte umreißen den zeitgenössischen Themenkanon der Heimatforschung. Im ersten, mit »Geschichte« betitelten Teil geht es um die feudalen, kirchlichen und staatlichen Obrigkeiten vor Ort: Schloss und Gut, Pfarre und Kirche sowie Volksschule. Im zweiten, mit »Geographie« überschriebenen Teil wird die Gesellschaft des im Flachland nordöstlich von Wien gelegenen Dorfes samt belebter und unbelebter Natur beschrieben: Lage, Ortsname, Grenzen, Größe, Ortstypus, Klima, Bevölkerung, materielle und geistige Kultur, Statistik, Orte der Umgebung, Verwaltung und Volkskunde (Schwab 1925: 317ff.). Das Dorf wird als räumlich klar umgrenzte, zeitlich stillstehende und gesellschaftlich wohlgeordnete Gemeinschaft vorgeführt – gleichsam als ruhige Insel in den Stromschnellen der Moderne. Demgegenüber steht das vom Autor dieses Beitrags mitverfasste FRANKENFELSER BUCH von 1997 für die kulturwissenschaftliche Spielart des ›neuen Heimatbuchs‹. Gut ein Drittel des Buches behandelt die Entwicklung der im Voralpenge-
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biet gelegenen Landgemeinde im 20. Jahrhundert. Die Einleitung zu diesem Kapitel schlägt einen konstruktivistischen Zugang zur Ortsgeschichte ein: »Diesen gemeinsamen Vorrat an Regeln, derer sich die Frauen und Männer bei der Konstruktion ihrer Wirklichkeit(en) in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bedienen, nenne ich das Frankenfelser Gedächtnis.« Der Leserschaft wird keine glattgebürstete Geschichte, sondern ein Text-Bild-Patchwork zur Reflexion des Gedächtnisses geboten: »Die folgenden Seiten verfolgen nicht die Illusion, den ›subjektiven‹ Wirklichkeiten der Menschen eine ›objektive‹ Wirklichkeit – eine Geschichte, ›wie es eigentlich gewesen‹ sei – entgegenzusetzen. Sie sollen vielmehr den Leserinnen und Lesern Bausteine zum Hinterfragen vorherrschender und zur Erarbeitung alternativer Geschichtsbilder liefern« (Langthaler 1997: 214f.).
Die Inhalte des Kapitels verteilen sich auf verschiedene Elemente: Eine Zeitleiste am äußeren Seitenrand listet Ereignisse in zeitlicher Abfolge auf; Basisartikel stellen zentrale Aspekte der Lokalgeschichte im überlokalen Kontext dar; dazwischen eingestreute Text- und Bilddokumente laden zur Erkundung qualitativer Aspekte ein; Tabellen und Diagramme bereiten quantitative Aspekte auf. Diese eher offene Form soll das in einer Vielzahl von Heimatbüchern üblicherweise erzeugte Narrativ der räumlich klar umgrenzten, zeitlich stillstehenden und gesellschaftlich wohlgeordneten Gemeinschaft unterwandern und eine Reflexion der Leserschaft über die Mittel, mit denen sie sich ihrer eigenen Geschichte nähert und ihre Vergangenheit erinnert, fördern. Anstatt ein vorgefertigtes und abgeschlossenes Geschichtsbild einer ebenso abgeschlossenen dörflichen Gemeinde bzw. »Heimat« zu vermitteln, fokussiert sie die aktiven Konstruktions- und Dekonstruktionsleistungen der Rezipienten im Akt des Lesens, die selbst Verbindungen zwischen geschichtlichen Ereignissen herstellen oder lösen, Deutungen und Einordnungen vornehmen, Perspektiven ausprobieren und verwerfen – und dadurch quasi auch in die Rolle der Heimatbuchautoren schlüpfen und so selbst zu Produzenten einer möglichen (denn vielleicht auch anders erzählbaren) Geschichte werden. Ein Schwerpunkt liegt auf der Zeit des Nationalsozialismus. Dabei wird vermieden, den Nationalsozialismus auf eine ›von außen‹ und ›von oben‹ hereinbrechende Mobilisierung durch ein totalitäres Regime zu reduzieren; auch die ›von innen‹ und ›von unten‹ ausgehende (Selbst-)Mobilisierung der Ortsbevölkerung kommt zur Sprache. So etwa dient die im lokalen Gedächtnisdiskurs gebräuchliche Metapher der und des Einzelnen als »Spielball« des NS-Regimes als Aufhänger für eine Reflexion der alltäglichen Manövrierräume: »Waren die damals Lebenden tatsächlich ›Spielbälle‹ – oder waren sie nicht auch aktive Mitspieler im Spiel des Lebens, die gelegentlich selbst auf den Ball getreten haben?« (Langthaler 1997: 272)
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Abbildung 2: Der Diskursraum des Heimatbuchs
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Die Fälle des Schönkirchener und Frankenfelser Heimatbuchs markieren diagonal gegenüberliegende Positionen in einem Diskursraum, der sich entlang von zwei Achsen aufspannt: exklusiv versus inklusiv und intuitiv versus reflexiv. Exklusive Ansätze ziehen eine scharfe Grenze zwischen dem (eingeblendeten) Eigenen und dem (ausgeblendeten) Fremden. Inklusive Ansätze öffnen sich für Interaktionen zwischen dem Innen- und Außenraum, dem Eigenen und Fremden, dem Präsenten und Verdrängten – etwa im Hinblick auf den Nationalsozialismus. Intuitive Ansätze begreifen das Heimatbuch allein als identitätsstiftendes und -stabilisierendes Projekt. Reflexive Ansätze suchen Identitätsentwürfe zu de- und zu rekonstruieren, konventionelle zu hinterfragen und alternative anzuregen. Dieser grobe Ordnungsversuch ließe sich durch weiterführende Forschungen gewiss verfeinern. Alles in allem bieten Heimatbücher eine reiche – und bislang noch zu selten genutzte – Quelle zur populären Geschichtskultur auf dem Land im 20. Jahrhundert.
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L ITERATUR Anderson, Benedict (2006): Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, 2. Aufl., London: Verso. Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C. H. Beck. Beer, Mathias (2010): »Das Heimatbuch als Schriftenklasse. Forschungsstand, historischer Kontext, Merkmale und Funktionen«, in: Ders. (Hg.), Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 9-39. Costadura, Edoardo/Ries, Klaus (2016): »Heimat – ein Problemaufriss«, in: Dies. (Hg.), Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld: transcript, S. 7-23. Eminger, Stefan (2003): »Heimatgeschichte zwischen Konflikt und Harmonie. Forschungsfeld, Methoden und Fragestellungen am Beispiel eines Projektes über Wolkersdorf im Weinviertel«, in: Unsere Heimat 74, S. 214-229. Faehndrich, Jutta (2005): »Papierene Erinnerungsorte: die Heimatbücher schlesischer Vertriebener«, in: Marek Czaplinski/Hans-Joachim Hahn/Tobias Weger (Hg.), Schlesische Erinnerungsorte. Gedächtnis und Identität einer mitteleuropäischen Region. Görlitz: Neisse-Verlag, S. 323-342. Faehndrich, Jutta (2010): »Entstehung und Aufstieg des Heimatbuchs«, in: Matthias Beer (Hg.), Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 55-83. Fendl, Elisabeth (2010): »Das neue Heimatbuch. Neue Medien, neue Perspektiven«, in: Matthias Beer (Hg.), Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 257-278. Frede, Ulrike (2010): »›Unsere Heimat war deutsch!‹ Überlegungen zum Umgang mit Geschichte und Geschichtsbildern in ostdeutschen Heimatbüchern«, in: Matthias Beer (Hg.), Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 179-202. Kessler, Wolfgang (2010): »Von der Aneignung der Region als ›Heimat‹ zur Dokumentation des Verlorenen. Heimatbücher zum historischen Nordostdeutschland«, in: Matthias Beer (Hg.), Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 101-127. Kroh, Jens/Lang, Anne-Katrin (2010): »Erinnerungsorte«, in: Christian Gudehus/Ariane Eichenberg/Harald Welzer (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler, S. 184-188. Langthaler, Ernst (1997): »Das Frankenfelser Gedächtnis. Vom Erinnern und Vergessen der Zeitgeschichte (1905 bis 1996)«, in: Bernhard Gamsjäger/Ders. (Hg.), Das Frankenfelser Buch, Frankenfels: Marktgemeinde Frankenfels, S. 214-395.
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Langthaler, Ernst (1999): »Gedächtnisgeschichte: Positionen, Probleme, Perspektiven«, in: Beiträge zur Historischen Sozialkunde 29, Sonderheft Kulturwissenschaften, S. 30-46. Langthaler, Ernst (2002a): »Dorfgeschichte als reflexiver Prozeß«, in: Historische Anthropologie 10, S. 125-133. Langthaler, Ernst (2002b): »The Rise and Fall of a Local Hero. Memory, Identity and Power in Rural Austria, 1945-1960«, in: Cultural Studies 16, S. 786-796. Langthaler, Ernst (2014): »Das Dorf (er-)finden. Wissensfabrikation zwischen Geschichte und Gedächtnis«, in: Werner Nell/Marc Weiland (Hg.), Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt, Bielefeld: transcript, S. 53-80. Nora, Pierre (1998): Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuchverlag. Sannwald, Wolfgang (2010): »Erinnerungskultur vor Ort. Heimatbuch – Landesgeschichte – Wissenschaft«, in: Matthias Beer (Hg.), Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 233-253. Schmoll, Friedemann (2010): »Die Vergegenwärtigung des Verlorenen. Heimatbücher im Schnittfeld von Geschichte und Erinnerung«, in: Matthias Beer (Hg.), Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 309-327. Schwab, Wilhelm (1925): Das Heimatbuch von Schönkirchen und Umgebung, Schönkirchen: Eigenverlag. Setzler, Wilfried (2010): »Die NS-Zeit im Heimatbuch – ein weißer Fleck?«, in: Matthias Beer (Hg.), Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 203-220.
Lokale Agenten des Ruralen in der späten Moderne Überlegungen zur sozialen Konstruktion ländlicher Räume M ARCUS H EINZ Die Wissenschaft, sagt Popper, ist auf Treibsand gebaut; sie steht auf keinerlei festem Grund. Doch heute trifft diese Metapher nicht nur auf die wissenschaftliche Forschung zu, sondern beinahe auf das gesamte Alltagsleben. GIDDENS / REFLEXIVE MODERNISIERUNG, S. 162
Ländliche Räume sind unterschiedlich, doch wie kann diese Unterschiedlichkeit soziologisch erklärt und erforscht werden? Der vorliegende Aufsatz basiert auf einem laufenden Promotionsprojekt, das raumsoziologische Antworten auf diese Fragen geben möchte. Hierfür wird zunächst auf eine Ausgangsbeobachtung verwiesen, welche die Pluralität und Differenz ländlicher Räume betont. Im Anschluss wird die Pluralität des Ländlichen mit Hilfe der Ansätze Anthony Giddens’ und Martina Löws eingefangen. Dabei kann gezeigt werden, dass die Vielzahl von ländlichen Räumen in der Gegenwartsgesellschaft als eine Konsequenz der Moderne zu lesen und zu verstehen ist. Hierbei zeigt sich auch, wie Räume im Handeln von Akteuren entstehen. Dies geschieht in einem Spannungsfeld von Strukturen und Bedeutungszuschreibungen, in welchem Akteure um Positionierungen streiten. Einen zentralen Fixpunkt in diesen Auseinandersetzungen bilden Konstruktionen von Ländlichkeiten, welche als mehr oder weniger dominante raumbildende Synthesen zu deuten sind. Akteure, die sich in lokalen Kontexten mit diesen ausei-
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nandersetzen, erscheinen dabei als lokale Agenten des Ruralen.1 Sie nehmen eine legitimierte Stellvertreter- sowie Vermittlerrolle ein und können als aktive Entwickler ländlicher Räume verstanden werden, die im Mittelpunkt empirischer Forschung stehen sollten.
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Ein (kultur)soziologischer Blick auf das Land lässt zahlreiche Differenzen erkennen. Das Land ist Rückzugsort vom stressigen Stadtalltag, alternativer Lebensort für junge Familien und geschichtsträchtige Heimat, um nur wenige der positiven Zuschreibungen zu nennen. Diesen gegenüber stehen negative Bilder von entleerten Dörfern, rückständigen Regionen sowie industrieller Massentierhaltung. Komplexer gestaltet sich das Nachdenken über das Land, wenn Entwicklungsprognosen einbezogen werden. Dann geraten nicht nur Zustandsbeschreibungen und Deutungen der Vergangenheit oder Gegenwart in den Fokus, sondern auch zukünftige Chancen und Risiken. Auch diese wirken, ähnlich wie die genannten Bedeutungszuschreibungen, nicht selten normativ. Gegenwärtig werden vor allem die Themen- und Problembereiche des demographischen Wandels, die Energiewende oder biotechnologischer Fortschritte diskursiv verhandelt. Das Reden über das Land wird hierbei zum Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Problemlagen, da das Land als »Projektionsfeld[] für sehr unterschiedliche Erwartungen und Konflikte in der Gesellschaft« (Beetz 2010: 126) dient. Dabei ist im Detail jedoch zunehmend unklar, was das Land dann eigentlich sei, beziehungsweise was Begriffe wie ›Ländlichkeit‹, ›ländliche Räume‹, ›ländlich geprägte Kleinstädte‹, ›Ruralität‹ oder auch ›Rurbanität‹ fassen oder fassen sollen. Diese Problemstellung verdeutlicht sich ebenso in Gerhard Henkels’ Suche nach einem typischen bundesrepublikanischen ›Dorf‹.2 Er
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Das in diesem Aufsatz vorgestellte Konzept von ›lokalen Agenten des Ruralen‹ ist ein erstes Ergebnis empirischer Forschung. Basis der Interpretation sind Einzel- sowie Experteninterviews mit Akteuren, welche in der ländlichen Entwicklung aktiv sind. Dabei handelt es sich geographisch um Regionen in den neuen Bundesländern, die häufig mit einer problematischen Entwicklung in Verbindung gebracht und mitunter als ›strukturschwache Regionen‹ bezeichnet werden. In der nächsten Erhebungsphase werden Gruppendiskussionen mit Engagierten stattfinden.
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Auch Hahn (2001: 62) sieht im uneindeutigen Dorf-Begriff eine Problemstellung für die empirisch arbeitenden Sozialwissenschaften und hält deswegen fest, dass »[d]ie eigentliche Aufgabe, die sich einer empirischen Soziologie hier stellt, [...] in einer möglichen
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verwendet deswegen eine Reihe rhetorischer Fragen, die zwar jeweils für den Einzelfall, nicht jedoch in zusammenfassender oder abstrahierender Weise beantwortet werden können: »Wie groß sollte [das typische] Dorf sein, soll es 300 oder 3.000 Einwohner haben? Soll es in der Nähe einer Großstadt liegen oder ›weit ab‹ in Mecklenburg oder der Oberpfalz? Aus welcher deutschen Region soll es sein: aus den Küstengebieten und dem Tiefland, dem Mittelgebirge oder dem Alpenvorland? Soll es ein Börden- oder ein Winzerdorf sein? Welche ökonomischen Schwerpunkte soll das Dorf haben? Ist das Dorfbild eher durch historische oder moderne Bauten geprägt – welchen Stellenwert haben kulturelles Erbe und Traditionspflege? Soll ein wachsendes oder schrumpfendes, ein lebendiges oder ein lethargisches Dorf ausgesucht werden?« (Henkel 2016: 12)
Aus bestimmten soziologischen und humangeographischen Perspektiven gibt es das Land nicht. Vielmehr wird von einer Vielzahl unterschiedlicher ländlicher Räume ausgegangen. Land ist demnach nur im Plural zu begreifen (vgl. Beetz 2010). Die Pluralität ländlicher Räume soll unter anderem durch die Trennung der beiden ähnlichen Begriffe ›Land‹ und ›Ländlichkeit‹ markiert werden (vgl. ebd., Cruickshank 2003). Auf der einen Seite befindet sich dann ein Begriff, der die »faktische Realität«, also u.a. »gewachsene Siedlungsstrukturen«, betont und beschreibbar macht (= Land), auf der anderen Seite wird die Ebene »gesellschaftlicher Praktiken, Regulierungen und Diskurse« begrifflich fokussiert, welche den Strukturen Sinn und Bedeutung zur Seite stellt (= Ländlichkeit), dabei von vorhandenen räumlichen Strukturen inspiriert wird und gleichzeitig deutend auf diese zugreift (Beetz 2015: 77). Zwischen diesen beiden Polen der Unterscheidung bestehen und entstehen verschiedene Beziehungsgeflechte, da unter anderem jede strukturelle Ausprägung mit unterschiedlichen Sinnzuschreibungen belegt werden kann. Genauer betrachtet handelt es sich sogar um eine doppelte Pluralität, da auf der einen Seite unterschiedliche Imaginationen sowie Sinnzuschreibungen existieren (wie z.B. die, in ihren einzelnen Ausformungen zahlreichen, klassischen idyllischen oder dystopischen Bilder des Ländlichen), während gleichzeitig von einer Vielzahl von Strukturen auszugehen ist. Substanzialisierende Bedeutungszuschreibungen – also jene Zuschreibungen, die das Land auf bestimmte objektive Eigenschaften festschreiben möchten – sind somit zwar alltagsweltlich relevant, aber als sozialwissenschaftliche Erklärung ungenügend (vgl. Jones 1995). Dementsprechend ist die aufgenommene Unterscheidung als ein analytischer Zugang zu verstehen, »[der] den Blick für die
Antwort gesucht werden [müsste], was mit dem Ausdruck ›Dorf‹ überhaupt gemeint sein kann.«
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gesellschaftliche Konstruktion des ›Ländlichen‹ schärfen [kann], ohne von vornherein eine bestimmte Perspektive auf das ›Land‹ postulieren zu müssen.« (Beetz 2015: 77) Im Alltag, so lässt sich als weiterführende These anschließen, fallen die beiden hier begrifflich getrennten Ebenen von Land und Ländlichkeit zusammen; und die Art und Weise ihres Zusammenwirkens ist nur mit erheblichem empirischen Aufwand rekonstruierbar. Das gesellschaftliche Reden über das Land (oder über hiermit verbundene Vorteile, Probleme, Wünsche und Entwicklungen), das bestimmte quasi-objektive Festschreibungen und Imaginationen aufnimmt und reproduziert, kann dann als alltägliche Komplexitätsreduktion gedeutet werden. Diese diskursiven Bezugnahmen lassen spezifische Raumbilder entstehen (vgl. Ipsen 1997), die immer wieder fixiert, tradiert aber auch bearbeitet werden. Ein solcher Prozess der Komplexitätsreduktion verschleiert dabei allerdings die äußerst dynamischen und in einigen Fällen auch konflikthaften Wechselwirkungen zwischen Bedeutungszuschreibungen und Strukturen. Eine von subjektivem Sinn (Weber) getragene Bezugnahme auf ein Dorf ist beispielsweise in der Lage, die (materielle ebenso wie soziale) Struktur vor Ort zu verändern; und vice versa sind es die vorhandenen Strukturen, die über biografische oder ästhetische Erfahrungen spezifisch sinnhafte Bezugnahmen zum Land begünstigen (vgl. Heinz 2015). In der Analyse ländlicher Räume müssten daher die Gleichzeitigkeiten unterschiedlicher Konstruktionen sowie die Wechselwirkungen der konstituierenden Elemente ausgearbeitet werden. Es lassen sich aktuell mehrere Versuche beobachten, eine fast zwangsläufig entstehende Unordnung (von Raumtypen, Siedlungsgebilden, ländlichen Lebensentwürfen etc.) in Ordnungen zu überführen. Dabei werden jedoch immer wieder nur einzelne Aspekte ländlicher Räume, etwa die Entwicklung der Bevölkerungsdichte, herausgegriffen, analysiert und prognostiziert. Diese bilden die Basis um raumbezogene Trends zu konstatieren, die bestimmte Räume als »sterbende Gemeinden« kennzeichnen. Vor diesem Hintergrund kann dann beispielsweise auch die Empfehlung plausibel erscheinen, diesen eine »palliativ-medizinische Behandlung« zukommen zu lassen (empirica ag 2016: 47).3 Die Vermutung liegt nahe, dass eine so angelegte Forschungsperspektive auf verschiedene strukturorientierte Typologien ländlicher Räume hinausläuft. Solche Ordnungsversuche beziehen aber im Regelfall nicht die oben erwähnten Bedeutungszuschreibungen ein, mit welchen die
3
Bei der hier zitierten Studie mit dem Titel SCHWARMVERHALTEN IN SACHSEN – EINE UNTERSUCHUNG ZU UMFANG, URSACHE, NACHHALTIGKEIT UND FOLGEN DER NEUEN WANDERUNGSMUSTER handelt es sich um eine Auftragsarbeit der empirica ag. Auftraggeber hierfür waren die Saࡇ chsische Aufbaubank, der Verband der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Sachsen und der Verband saࡇ chsischer Wohnungsgenossenschaften.
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jeweiligen Perspektiven auf ländlichen Räume konstitutiv verbunden sind. Insofern sind sie einseitig, suggerieren und schaffen aber Übersichtlichkeit, indem sie vorhandene Strukturprobleme bewerten. Unter (sozial)wissenschaftlichen Gesichtspunkten folgen sie mitunter weiterhin einer problematischen Ausrichtung der Landund Agrarsoziologie, welche nicht selten als äußerst politiknahe Auftragsforschung fungiert (vgl. Inheetven 2003, Barlösius 1995). Die Diskussion um die Landflucht zeigt dies eindrucksvoll (vgl. Beetz 2016). Dabei rückt nicht die Beobachtung der Entstehung unterschiedlicher ländlicher Räume sowie ihre gesellschaftliche Bewertung ins Zentrum. Vielmehr werden auch im wissenschaftlichen Diskurs normative Konstruktionen von Ländlichkeit erstellt, die wiederum, je nach abgeleiteter Handlungsempfehlung und Akzeptanz, ländliche Räume verändern möchten und sollen. Das Reden über das Land wird dabei sicherer, aber das Zusammenwirken professioneller, populärer, alltäglicher und auch wissenschaftlicher Diskurse kommt nicht in den Blick. Das heißt, das Problem einiger Landsoziologen liegt in ihrer »verstandenen Rolle als ›Gestalter‹ und eben nicht als ›Beobachter‹ der gesellschaftlichen Entwicklung und – gewissermaßen in zweiter Ordnung – der Wirkung [ihrer] eigenen Analysen.« (Beetz 2015: 76) In diesem Sinne ist auch die Sozialforschung als aktiver Konstrukteur von Ländlichkeiten zu verstehen. Die Ergebnisse der jeweiligen Konstruktionsprozesse können weitreichende Folgen haben, da sie sowohl Förderlogiken beeinflussen und auch auf lokale Selbstverständnisse und schließlich Handlungsabläufe einwirken. Um der Pluralität ländlicher Räume gerecht zu werden, wird deswegen zunächst eine erweiterte (Beobachter-)Perspektive benötigt. Diese sollte in der Lage sein, beide Seiten der analytischen Unterscheidung von Land und Ländlichkeit abzubilden und ihr Verhältnis zu verstehen. Studien dieser Ausrichtung liegen unter anderem für Großbritannien vor (Murdoch/Lowe/Ward/Mardsen 2004, Halfacree 2006). Sie betonen Bedeutungszuschreibungen für vorhandene Strukturen, den daraus folgenden Umgang verschiedener, auch lokaler, Akteursgruppen mit diesen, sowie schließlich die Übersetzung in politische Programme. Ländliche Räume – die jeweils raumstrukturell und sinnbehaftet differenziert sind – erscheinen dabei als Aushandlungsgegenstände mit zahlreichen Verbindungen zu gesellschaftlichen Teilbereichen: »It is almost as if the strength of the idea of rurality is in its overarching ability to engage very different situations under a single conceptual banner« (Cloke 2006: 18). Ganz unterschiedliche gesellschaftliche Problemlagen können und werden mit dem Vorzeichen des Ländlichen betrachtet und gedeutet. Gerade die komplexitätsreduzierende Funktion von Ländlichkeitsimaginationen zeigt hierbei ihre soziale Wirkung, beeinflusst sie doch den Aushandlungsprozess in einer grundlegenden Weise. Dadurch kann dann schließlich die lebensweltliche Bedeutungsaushandlung des Untersuchungsgegenstandes ›Land‹ selbst in das Zentrum sozialwissenschaftlichen Interesses rücken (vgl. Beetz 2010). Auch in der
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deutschsprachigen Forschung finden sich hierzu Beiträge. Herauszuheben sind, neben den bereits viel zitierten Überlegungen von Beetz (2004, 2006, 2010, 2016), die Arbeiten Redepennings (2010, 2011, 2018), der systemtheoretisch orientiert »Figuren des Ländlichen«, Grenzziehungsprozesse und letztendlich raumbezogene Selbstbeschreibungen moderner Gesellschaften analysiert. Die Lektüre dieser Arbeiten gibt entscheidende Hinweise zur soziologischen (ebenso wie human- bzw. kulturgeographischen) Annäherung an ländliche Räume der Gegenwart. Wichtig erscheint dabei die stärkere, theoretische wie empirische, Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex ›Raum in der (Spät)Moderne‹. Ziel und Ausgangspunkt einer solchen Auseinandersetzung muss es sein, die Vielzahl ländlicher Räume ernst zu nehmen. Im Anschluss an die bisherigen Überlegungen soll nachfolgend ein raumtheoretischer Vorschlag für eine solche Forschungsperspektive ausgearbeitet werden.
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Die bisherigen Überlegungen haben bereits den analytischen Zugriff auf räumliche Strukturen fokussiert. Darüber hinaus kann die angesprochene räumliche Pluralität stärker in den Kontext der Spätmoderne gerückt werden. Ein solcher Zusammenhang wird an zahlreichen Stellen beobachtet. So betont Hahne (2011: 14), dass »[e]ine einseitige Pfadabhängigkeit ländlicher Räume – z.B. als bloße Rohstofflieferanten für die Weiterverarbeitung in anderen Regionen – [...] in der neuen Ländlichkeit nicht mehr gegeben« sei. Die Entwicklung ländlicher Räume ist demnach nicht vorgegeben, sondern offen für verschiedene Wege, weshalb zunehmend unterschiedliche Räume sowie kleinteiligere Raumbilder entstehen.4 In einer kritischen Auseinandersetzung mit der »neuen Ländlichkeit« versteht Neu (2016: 4) die Entstehung von Raumbildern als Antwort auf »verschiedene gesellschaftliche Anforderungen, Überforderungen, Befindlichkeiten, Sehnsüchte und Ängste der Spätmoderne.« Sie weist damit darauf hin, dass raumbezogene Bedeutungszuschreibungen im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen
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Dass es sich hierbei um eine aktuelle Entwicklung handelt, ist auch der Ausgangspunkt der Überlegungen Woods’ (2011: 1): »The varied functions and meanings that have been attributed to rural space have made the rural into an ambiguous and complex concept. The rural is a messy and slippery idea that eludes easy definition and demarcation.« Betont werden sollte dabei die Formulierung »have made«, da diese auf einen Wandel der Herstellungsprozesse, die Zunahme von Komplexität sowie auf eine Akteursabgängigkeit verweist.
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stehen, die sich auch aus der Zunahme an Unsicherheit, mit welcher sich Akteure konfrontiert sehen, ergeben und dabei die räumliche Ordnung der Gesellschaft beeinflussen. Die besondere Bedeutung und Funktion von gesellschaftlichen Räumen in der Spätmoderne kann außerdem historisch detailliert rekonstruieren werden (vgl. Löw/Steets/Stoetzer 2008: 21ff.), indem danach gefragt wird, wie sich ländliche Räume seit der Vormoderne entwickelt haben und warum in der Gegenwart so viele unterschiedliche Räume existieren. Eine solche Forschungsperspektive kann daher, je nach Erkenntnisinteresse, synchron und diachron vergleichend angelegt werden. Verbunden werden kann diese Akzentuierung mit den Überlegungen Giddens’, welcher in seinen gesellschaftsdiagnostischen Werken ausführlich auf die Verfasstheit der Spätmoderne eingeht und damit einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um die »reflexive Moderne« (Beck/Giddens/Lash 1996) geleistet hat. Ihm zufolge setzen sich Akteure zunehmend aktiv mit ihrem Handeln auseinander. Wie bereits das eingangs stehende Zitat betont, geht Giddens von einer Offenheit und einer daraus folgenden Unsicherheit der Entwicklung der (westlichen) Gegenwartsgesellschaften aus: »Unser Leben ist in vielen Bereichen plötzlich offen geworden, beruht auf einem ›Denken in Szenarien‹, auf Wenn-dann-Erwägungen über eventuell eintretende Folgen. Dies gilt für Individuen wie für die Menschheit als ganze. Einerseits können wir unschwer zahllose neue Möglichkeiten ausmachen, überkommene Beschränkungen zu überwinden. Anderseits droht fast überall die Katastrophe. Und nur selten verfügt man über hinreichend Sicherheit, um vorhersagen zu können, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln.« (Giddens 1996a: 317)
Giddens vertritt die These, dass die individuellen Handlungsmöglichkeiten im Vergleich zu traditionellen und früh-modernen Gesellschaften erheblich zugenommen haben. Unter anderem belegt er dies an der Veränderung von Intimbeziehungen, welche im ausgehenden 20. Jahrhundert von »nicht-intimen Rahmenbedingungen« (Reckwitz 2007: 328), wie dem Ziel der ökonomischen Absicherung, losgelöst werden. Die Entwicklung von der frühen zur späten Moderne kann dabei durch eine extreme Steigerung von Handlungsmöglichkeiten gekennzeichnet werden.5 Zentral
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Es wird somit nachvollziehbar, warum nicht etwa der Bruch zwischen Gesellschaftsstrukturen, sondern die Konsequenzen der Moderne im Mittelpunkt von Giddens’ Arbeiten stehen. Daher verwendet dieser (1996: 11ff.) bewusst den Begriff Spätmoderne (welcher auch eine Steigerung impliziert). Hieran orientiert sich auch der vorliegende Aufsatz. Hahne (2011: 13) weist aufmerksam darauf hin, dass weitere Autoren für ähnliche Argumentationen verschiedene Begriffe verwenden. Beispielsweise kann die »flüchtige
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ist, dass Handlungen ebenso wie die ihnen zugrundeliegenden Orientierungen zwar freier geworden sind, aber zugleich nicht-intendierte Folgen in Erscheinung treten. Da diese schwer berechenbar sind, wird die Planung der Zukunft unsicher und ein ›Denken in Szenarien‹ plausibel. Auch Giddens’ Argument konzentriert sich, ähnlich wie die Diagnose der Risikogesellschaft (vgl. Beck 1986), auf die Janusköpfigkeit der Gegenwartsgesellschaften, in welchen zwar relative Handlungsfreiheit herrscht, deswegen jedoch auch Handlungsentscheidungen getroffen werden müssen.6 Die hierüber in den Mittelpunkt rückende Unsicherheit des menschlichen Zusammenlebens ist nicht neu, erzeugt aber in ihrer Konsequenz ein gesteigertes Kontigenzerleben. Dieses basiert wesentlich auf der Wissenszunahme sowie einer damit einhergehenden Ablösung der Tradition. Die moderne Wissenschaft (vor allem die Soziologie als Geburtshelferin der Moderne) bedingt hierbei die institutionelle sowie individuelle Reflexivität mit (vgl. Giddens 1996: 16ff.). Ein Beispiel für die gesteigerte Reflexivität sind die erwähnten Entwicklungsszenarien für ländliche Räume sowie die daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen für politische Akteure. Sie zeugen jedoch auch von einer weitreichenden Entgrenzung des Wissens (vgl. Giddens 1996: 157ff.). Hiermit ist ein Prozess angesprochen, der Wissen zunächst aus traditionellen – im weitesten Sinne festgeschriebenen – Verweisungszusammenhängen löst und im Anschluss als zunehmend offen erscheinen lässt. In der Gegenwartsgesellschaft geht damit einher, dass wir uns zwar an Wissen orientieren, jede Form des Wissens aber austausch-, revidierund verhandelbar ist. Das heißt, »[m]it dem Ansteigen systematischer Wissensproduktion nimmt die öffentliche Aufmerksamkeit für die Kontingenz dieses Wissens zu.« (Keller 2011: 10)7 Gleichzeitig führt dies zur besonderen Rolle von Experten und Expertenmeinungen in der Spätmoderne, denen eine herausgehobene, aber auch angreifbare, Stellung zukommt. Die Produktion und Ausdifferenzierung von
Moderne« (Zygmunt Baumann) genannt werden. Zur herausgehobenen Bedeutung der Reflexivität in der Moderne hat auch Luhmann (vgl. 1995: 49f.) gearbeitet. 6
Hierbei muss ergänzt werden, dass die Zunahme der Handlungsmöglichkeiten ressourcenabhängig ist. Nicht allen Akteuren stehen somit gleichen Wahlmöglichkeiten zur Verfügung. Ersichtlich wird somit eine stark europäisch-westlich geprägte Perspektive Giddens’, welche häufig auch den Mittelpunkt der Kritik an den Überlegungen bildet.
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Darüber hinaus zieht Keller (2011: 10) hieraus in Anschluss an Nowotny (1999) eine weitere Konsequenz, die unmittelbar an die eingangs angesprochene Pluralität ländlicher Räume erinnert: Durch die Wissenszunahme in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen verlieren Tatsachen (wozu auch die Eigenschaften und Erscheinungsformen ländlicher Räume zu zählen sind) ihre eindeutige Klassifizierbarkeit. Es ist also die Wissensgesellschaft selbst, die zur Dynamisierung gesellschaftlicher (Raum-)Verhältnisse beiträgt.
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Wissen wirkt sich dabei auf die Planung, Gestaltung sowie Bewertung ländlicher Räume aus. Vor Augen führt dies beispielsweise der Streit um die Gebietsreform im Freistaat Thüringen: Wie und auf Grundlage welcher Erkenntnisse und Erwartungen die Landkreise neugeordnet werden sollen, ist eine fortlaufende Debatte. Diese wird nicht zuletzt anhand konträrer Gutachten und Expertisen geführt. Auch die grundsätzliche Rechtskräftigkeit des Gesetzesentwurfes zur Gebietsreform wird dabei angezweifelt. Im Kontext regionaler Entwicklung lohnt darüber hinaus auch ein kurzer Blick nach Sachsen-Anhalt. Um ganzjährlich attraktiver für Touristen zu sein, soll am Winterberg bei Schierke eine Seilbahn entstehen. Zur naturschutzgerechten Umsetzung ist bereits ein drittes Expertengutachten in Planung. Der Ausgang des Bauprojektes ist somit weiterhin offen und im Wesentlichen an Expertensysteme gebunden. Aber auch auf der individuellen Handlungsebene stellen sich ähnlich gelagerte Fragen. Aufgrund zahlreicher Möglichkeiten, die auch in diesem Bereich durch zusätzliche Expertise reflektiert werden können, ist es ebenfalls eine offene Entscheidung, wie die persönliche Zukunft gestaltet und abgesichert werden soll. Die Konjunktur der Ratgeberliteratur, ebenso wie jene der Landmagazine (vgl. Baumann 2014), kann hier als Beispiel herangezogen werden. Sie vermitteln und erzeugen konkrete Spielarten der individuellen Zukunftsplanung und Lebensgestaltung, die nicht zuletzt mit der Frage nach dem guten Leben auf dem Land (vgl. Rössel 2014) verbunden werden. Es zeigt sich auch an diesen Beispielen, dass die Spätmoderne ganz grundlegend durch eine gestiegene Bedeutung des reflexiven Bewusstseins ausgezeichnet ist. Es geht also an erster Stelle nicht um die quantitative Zunahme von Handlungsmöglichkeiten, sondern vor allem um ein gesteigertes Wahlbewusstsein. Rückt die Frage nach den Voraussetzungen für eine solche Entwicklung ins Zentrum, erhält der gesellschaftliche Umgang mit den Dimensionen Raum und Zeit Erklärungskraft. Ihre Neuordnung sowie Neubewertung scheinen dabei in den »Quellcode der Moderne« (Höhne 2015: 39; vgl. Baumann 2016: 257) eingewoben zu sein. Die Analyse der Raum-Zeit-Ordnung muss dementsprechend ein Kernstück der Sozialtheorien darstellen (vgl. Löw 2011: 36). Bereits die raumbezogenen Begrifflichkeiten (bspw. ›Entgrenzung‹), mit welchen die Konsequenzen der Moderne geschildert werden, verweisen auf einen hohen Stellenwert räumlicher Bezüge. Von besonderer Bedeutung ist die RaumZeit-Ordnung, da sie den Rahmen des gesellschaftlichen Lebens, inklusive der sich etablierenden Institutionen, bildet (vgl. Giddens 1992: 185). Der Ausbau der Handlungsmöglichkeiten wird über den sich ändernden gesellschaftlichen Kontext ermöglicht. Die Spätmoderne ist dabei durch eine ihr zugehörige räumliche Organisationsform gekennzeichnet; und die damit verbundene Neuordnung der Räume ist anhand eines Steigerungsprozesses der räumlichen Vernetzung nachvollziehbar.
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Um den Steigerungsprozess zu analysieren, verweist Giddens (1996: 29f.) zunächst auf die Verbreitung der mechanischen Uhr sowie auf die Vereinheitlichung der Zeit. Die Kulminationspunkte bilden dabei die Etablierung der Weltzeit und die Standarisierung der Kalender. Über diese Entwicklungen wird die Zeit zu einer »entleerten« Ordnungsdimension, welche abstrakt und nicht mehr an den konkreten Raum gebunden ist. Laut Giddens (ebd.: 30) ist die Neuordnung der Zeit zugleich die Bedingung für die Neuausrichtung des Raumes. Der Raum wird, ermöglicht durch eine allgemeine Darstellung mit Hilfe der fortschreitenden topographischen Erfassung der Welt, ebenfalls zu einer »entleerten« Dimension. Anhand des abstrakten Darstellungssystems kann Raum demnach ohne einen konkret-lokalen Bezugspunkt gedacht werden. Aus dem sich ändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen folgt, dass einzelne »Schauplätze [...] von entfernten sozialen Einflüssen gründlich geprägt und gestaltet« (ebd.) werden. Ein Ort, als geografisch festgelegter Bezugspunkt, ist somit nicht mehr der einzige ausschlaggebende Orientierungspunkt des Handelns. Somit ist ein Zusammenhang angesprochen, den auch Elias ([zuerst 1939] 2010) als Ausdehnung von Figurationsketten beschreibt. Entgrenzung ist also auch als Auflösung bisher bestehender räumlicher Grenzen des Handelns zu verstehen. Die Erweiterung der Bezugsrahmen ermöglicht schließlich das Fortschreiten der Neukoordination von Raum und Zeit im Verhältnis zu sozialen Tätigkeiten (vgl. Giddens 1996: 31), die sich zum Beispiel in der modernen Arbeitsorganisation zeigt. Eingefangen wird diese Entwicklung durch eine Art Gegenbewegung: das Phänomen der Entflechtung (disembedding) sozialer Systeme. Dieses ermöglicht eine spezifisch moderne Verklammerung von Raum und Zeit. Die Entflechtung ist zudem das treibende Element für die Entwicklung der späten bzw. reflexiven Moderne. Auch hier entfalten erneut zwei Prozesse Tragkraft. Zum einen handelt es sich um die bereits angedeutete Etablierung von Expertensystemen, zum anderen um die nachhaltige Schaffung von symbolischen Zeichen. Beide Prozesse werden in der Entwicklung zur Spätmoderne erneut immer wirksamer, sie »unterstellen und begünstigen zugleich die Trennung der Zeit vom Raum« und fördern die »raumzeitliche Abstandsvergrößerung« (Giddens 1996: 42). Giddens identifiziert hiermit also Aspekte, welche Raum-Zeit-Ordnungen transzendieren. Die zunehmende Abstandsvergrößerung läuft letztendlich auf globale Verweisungszusammenhänge hinaus. Orte, als lokale Handlungskontexte, spielen dabei eine veränderte Rolle, da Handlungen über große räumliche Distanzen und verkürzte zeitliche Abstände angelegt werden und weitrechende, teilweise unvorhersehbare, Konsequenzen haben (vgl. Reckwitz 2007: 325). Um diese sehr theoretischen Überlegungen zu illustrieren, lohnt erneut ein Blick auf die Suche Henkels nach dem typischen bundesrepublikanischen Dorf der Gegenwart. Trotz aller Schwierigkeiten unternimmt er einen Beschreibungsversuch, welcher als weitere Orientierung dienen
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kann. Die dörfliche Entwicklung wird dabei anhand des fiktiven Ortes Kirchhusen vorgestellt: »In Kirchhusen wie in der Mehrzahl der deutschen Dörfer besteht die Identität von Dorf und Gemeinde nicht mehr. Entsprechend verkümmert ist das kommunalpolitische Selbstbewusstsein. Trotzdem hat sich der Ort auf Dauer nicht unterkriegen lassen: So besteht seit zwei Jahren ein neuer, integrativer ›Förderverein Unser Dorf‹, der sich mit Grundsatzfragen der aktuellen und zukünftigen Dorfentwicklung befasst und in gewisser Weise die Arbeit des früheren Gemeinderats und Bürgermeisters fortsetzt. [...] Durch Schule, Urlaub und Beruf haben viele Bewohner von Kirchhusen schon seit Kindesbeinen an Kontakte mit dem Ausland. Manche sind durch ihr Studium oder für ihre Firmen monatelang auf anderen Kontinenten tätig. Das Dorf selbst ist regelrecht bunter geworden durch zahlreiche Zuwanderer aus dem europäischen und außereuropäischen Ausland. Einige sind schon seit Jahrzehnten in Kirchhusen und bewohnen ehemalige Bauern- und Handwerkerhäuser. Im Vergleich zu 1800 zeigt sich das heutige Dorf weltoffen. Der Dorfbewohner ist zum Globetrotter geworden, er bleibt aber ›seinem Kirchhusen‹ als Basisstation verbunden.« (Henkel 2016: 13f.)
In der Darstellung des imaginierten Dorfes scheinen zentrale Punkte der Diskussion um die reflexive Moderne beispielhaft auf. Die Konsequenzen der Moderne zeigen sich sowohl auf makro- wie auch auf mikrosoziologischer Ebene.8 In der Darstellung zeichnen sich aufkommende Unsicherheiten und unvorhersehbare Entwicklungen sowie damit verbundene Bewältigungsstrategien ab. In diesem Kontext ist die Gründung des Fördervereins zu sehen, welcher die Entwicklung des Dorfes positiv beeinflussen möchte. Darüber hinaus wird jedoch ein weiterer Punkt ersichtlich. Henkel betont, dass Kirchhusen weiterhin besteht: das Dorf hat sich »nicht unterkriegen lassen« (ebd. 13), auch wenn es sich aufgrund der neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändert hat. Richtet man die Konzentration auf die räumliche Ordnung der Spätmoderne, stellt sich somit die Frage, worauf die Entleerungs- und Entflechtungsprozesse hinauslaufen. Zahlreiche (klassische) Gesellschaftstheorien gehen von einem deutlichen Bedeutungsverlust des Raumes aus und konstatieren, dass dieser zunehmend irrelevant werde (vgl. Schroer 2008: 127ff.). Distanzen können heute von einer Mehrzahl
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Dies ist auch ein zentraler Argumentationspunkt in Giddens’ Überlegungen. Es sind, wie bereits erwähnt, die Intimitätsbeziehungen und die Reflexivität des Selbst, anhand welcher die mikrosoziologischen Konsequenzen betont werden. Auch in diesem Kontext verdeutlichen sich veränderte Raumrelationen: »Zwei Menschen können heute eine Beziehung zueinander aufrechterhalten, obwohl sie die meiste Zeit Tausende Kilometer entfernt voneinander Leben; Selbsthilfe-Gruppen sind lokal organisiert und verfügen zugleich über globale Netzwerke.« (Giddens 1996: 320)
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der Akteure, aber vor allem von Informationen, Wissen und monetären Mitteln so mühelos überwunden werden, dass sie kaum eine Rolle spielen. Nicht selten wird dann die Zeit als gesellschaftliche Ordnungskategorie bevorzugt, sowohl mit Bezug auf Beschleunigungslogiken als auch unter Berücksichtigung von Ungleichzeitigkeiten (vgl. Rosa 2005). Es lässt sich jedoch beobachten, dass auch die Gegenwartsgesellschaft über diffizile räumliche Ordnungen verfügt. Die Diskussion um die Spätmoderne schlägt hierbei erneut eine interessante Richtung ein. Dabei ist, wie auch in weiteren Überlegungen zur Moderne (vgl. bspw. Latour 2005), die gesellschaftliche Bedeutung und Funktion des Raumes zu berücksichtigen, »[da] die Globalisierung nicht nur für die Auflösung räumlicher Strukturen sorgt, sondern auch neue Räume hervorbringt.« (Schroer 2008: 131) Daher betont Schroer auch explizit: »Was wir derzeit erleben, ist deshalb nicht das Ende des Raumes, sondern eine Diversifizierung räumlicher Bezüge« (ebd.). In diesem Sinne ist Entflechtung nicht mit einer Auflösung des Raumes gleichzusetzen; vielmehr gilt es, die »globalisierungsbedingte Rekonfiguration sozialer Räume« (Berking 1998: 382) zu beachten. Für die Entwicklung von Kirchhusen – wie auch für seine realen Pendants – ist dies einzubeziehen. Mit Bezug auf ländliche Räume ist diese Perspektive anhand der Begrifflichkeiten der reflexiven Moderne bisher kaum systematisch erarbeiten wurden. Giddens gibt jedoch wichtige Ansätze und Impulse, die eine erste Orientierung ermöglichen. Mit Blick auf die fortschreitende Trennung von Zeit und Raum hält er beispielsweise fest, dass diese Trennung nicht als eine einseitig und problemlos verlaufende Entwicklung zu verstehen ist: »Es verhält sich im Gegenteil so, daß dieser Vorgang wie alle Entwicklungstrends dialektische Merkmale aufweist, die die Entstehung von entgegengesetzten Eigenschaften auslösen« (Giddens 1996: 31). Dieser Ansatz kann mithilfe eines zusätzlichen raumbezogenen Begriffs, der sich in der Theorie von Giddens findet, weiter gedeutet werden. Dabei wird die Wirkmächtigkeit der Global-Village-Metapher eingeschränkt, denn auch wenn die Welt aufgrund der auch weiter zunehmenden Vernetzung im übertragenen Sinne ein Dorf geworden ist, so sind doch einzelne Dörfer nach wie vor relevante und vor allem lokale Handlungs- und Lebensorte, welche regionalisiert sind. Im Anschluss an die Gegenüberstellung von Hinter- und Vorderbühnen bei Goffman ([zuerst 1956] 2003) benutzt Giddens (1992: 171) den Begriff der »Regionalisierung«, um das »Aufteilen von Raum und Zeit in Zonen« zu betonen. Damit ist eine grundlegende Organisationsform des menschlichen Zusammenlebens angesprochen, welche auch auf Distinktion ausgerichtet ist. In die verschiedenen Regionalisierungsformen werden jeweils bestimmte Zugangsvoraussetzungen und soziale Repräsentationen eingebunden (vgl. ebd.: 183f.). Sie sorgen für eine Unterteilung und Abgrenzung bestimmter Räume für bestimmte Akteursgruppen (vgl. ebd.: 170). Der anzusetzende Maßstab einer Regionalisierung ist dabei flexibel; er kann sowohl verhältnismä-
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ßig kleine Orte, wie bspw. die Zimmer eines Hauses, als auch verhältnismäßig große Orte, wie bspw. ganze Städte, umfassen. Dies gilt ebenso auch für die gegenwärtigen Aufteilungen in städtische und ländliche Räume, zentrale und periphere Lagen oder unterschiedliche Landkreise, die allesamt als spezifische Formen von Regionalisierungen zu verstehen sind.9 Aber auch diese Regionalisierungen stehen nicht mehr auf festem Grund. Räumliche Unterscheidungen sind ebenfalls dynamisch geworden; sie haben sich verändert und verändern sich weiter. Die traditionelle (essentialistische) StadtLand-Trennung wird dabei obsolet (vgl. Giddens 1996: 15). Stadt und Land können nicht als per se getrennt angesehen werden (vgl. Kersting/Zimmermann 2015), Vielmehr ergibt sich diese Trennung aus einer gesellschaftlichen Einteilung des Raumes, die der Logik der Spätmoderne folgt: »Die Renaissance der Polarisierung zwischen Stadt und Land kann sich nicht auf substanzielle Merkmale von Raխ umen stuࡇ tzen, die Land und Stadt als unterschiedliche Lebens-, Wohn- und Wirtschaftsraࡇ ume festlegen.« (Beetz 2010: 134, Hervorhebung im Original) Vielmehr werde diese Gegensaࡇ tzlichkeit, so Beetz, ökonomisch, politisch und medial hergestellt (ebd.). Im Ergebnis entstehen räumliche Institutionalisierungen unter Globalitätsbedingungen, welche als eben solche zu analysieren sind. Dieser Ansatz verneint dabei weder, dass im Alltag essentialistische Raumkategorien verwendet werden und Geltung erlangen, noch dass Räume strukturstark oder strukturschwach sein können – sondern betont den Herstellungsprozess räumlicher Ordnungen. Dabei ist davon auszugehen, dass aufgrund der Vielzahl von individuellen Handlungsmöglichkeiten auch zahlreiche Ordnungsversuche bestehen (vgl. Heinz 2015). Mithilfe der Theorie der reflexiven Moderne lassen sich diese gesellschaftlich hergestellten Raumunterscheidungen beobachten und analysieren: »Land use and population densities are still characteristics of ›rurality‹ but the theory of Reflexive Modernity puts rural and urban territorial development in the same boat.« (Ray 1999: 265) Ländliche Räume sind dabei als Ergebnisse sozialer Konstruktionen bzw. Produktionsprozesse zu betrachten (vgl. Lefebvre 2006).10
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Für die umfangreiche Regionalisierung ländlicher Räume und Gebiete zählt in diesem Zusammenhang: »Regionen mit großer Spannweite sind solche, die sich weit im Raum und tief in der Zeit ausdehnen.« (Giddens 1992: 174) Dabei lehnt Giddens jedoch einen Regionsbegriff ab, der sich auf physische Eigenschaften der Umgebung bezieht und betont stattdessen konsequent die »Strukturierung sozialen Verhaltens über Raum und Zeit.« (ebd.)
10 Nutzt man Giddens’ Annahmen zur Herausarbeitung der hier vorgestellten Perspektive, ist die Parallelität zur Argumentation bei Lefebvre auffällig. Ein systematischer Vergleich ist durchaus lohnenswert, kann hier jedoch nicht geleistet werden. Zur Betrachtung ländlicher Räume mithilfe Lefebvres hat Rössel (2014) einen wichtigen Beitrag vorgelegt.
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Soziologisch betrachtet handelt es sich bei der Etablierung von Regionalisierungen um Versuche der Lösung des Verortungsproblems menschlichen Zusammenlebens. Zu überlegen ist, inwiefern Regionalisierungen damit auch Antworten auf spezifische spätmoderne Handlungsprobleme darstellen können, wie bereits von Neu (2016) suggeriert wurde. Denn bereits Berking (1998: 390) erinnert mit Bezug auf Geertz (1996: 262) daran, dass auch unter Globalitätsbedingungen »niemand in der Welt im Allgemeinen lebt«. Die Auflösung traditioneller Strukturen und Kontexte hat demnach die Entstehung neuer Räume zur Folge. Zugespitzt lässt sich formulieren: Durch die Öffnung zur Globalität werden neue lokale Schließungen möglich, wenn nicht sogar nötig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Prozesse auch für ländliche Räume von enormer Bedeutung sind und in jeweils spezifischer Weise auf sie einwirken. Des Weiteren gilt, dass der aktuelle gesellschaftliche Bedeutungsgewinn des Ländlichen vor diesem Hintergrund verständlich wird. Denn die gegenwärtigen Bezugnahmen auf imaginierte wie konkrete ländliche Räume – auf Land und Ländlichkeit – lassen sich als Ideen und Ausformungen reflexiver Regionalisierung verstehen.11 Dabei ist dann auch die Frage zu stellen, ob der so beliebte Rückgriff auf Ländlichkeiten als lediglich antimoderne Haltung verstanden werden kann (vgl. Hahne 2011: 15). Außerdem ist zu beobachten, dass die beschriebenen Modernisierungsprozesse nicht überall gleich verlaufen. Ein Nebeneinander von traditionellen, modernen und spätmodernen Logiken erscheint auch im hier betrachteten Kontext wahrscheinlich (vgl. Mordt 2000: 131f.). Giddens würde diese Überlegung vermutlich abschwächen und den spezifisch global geprägten und selektiven Rückgriff auf das Traditionelle herausarbeiten (vgl. Giddens 1996: 13). Letztendlich muss eine solche Verhältnisbestimmung anhand empirischer Analysen erfolgen.
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Um nun aus diesen Überlegungen empirische Analysen anzuleiten, ist eine abschließende raumsoziologische Erweiterung nötig. Dies ist insofern auch entscheidend, da Giddens zwar die Veränderungen in spätmodernen Gesellschaften beschreibt und dabei auf deren räumliche Bedingungen eingeht, sein Vorgehen einem handlungstheoretischen Anspruch jedoch nur in Ansätzen genügt. Er geht von einer Ontologie des Raumes aus (vgl. Löw 2012: 37); es bleibt demzufolge bei
11 Hier lässt sich die Überlegung anschließen, ob die Verhandlung von Ländlichkeit immer auch auf ihr Gegenteil verweist und somit Aussagen über erfahrene Lebenssituationen in urbanen Gebieten beinhaltet (vgl. Redepennig 2011).
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ihm im Detail unklar, ob und wie Räume sowie räumliche Ordnungen im Handeln entstehen. Die Arbeiten zur Spätmoderne und die Diskussionen um die reflexive Moderne entwerfen Modernisierungstheorien, die ländliche Räume (ebenso wie alle anderen gesellschaftlichen Räume) miteinbeziehen. Ihre besondere Stärke liegt dabei in ihrem zeitdiagnostischen Element. Liest man Giddens’ »Rekonstruktion der spezifischen Strukturmerkmale […] hochmoderner und spätmodernen Gegenwartsgesellschaften« (Reckwitz 2007: 323), erscheint die Pluralität ländlicher Räume wenig überraschend. Sie ergibt sich aus verschiedenen Regionalisierungen unterschiedlicher Ausprägungen. Die Vielzahl ländlicher Räume wird somit zum Normalfall; ebenso auch die Vielzahl der Raumaneignungen und Bedeutungszuschreibungen. Giddens fragt dabei zwar, wie Raum durch die Nutzung vor Ort relevant wird (vgl. Löw 2012: 40). Untersucht werden hierbei die Lokalisierungen des Handelns und vor allem aber die Frage, wie Räume auf das Handeln zurückwirken (vgl. ebd.). Dabei ist unter anderem der vergrößerte räumliche Bezug von Handlungen zu beachten. Zur Erinnerung: »Der Dorfbewohner ist zum Globetrotter geworden« (Henkel 2016: 14). Das heißt: Akteure in lokalen Kontexten richten ihre Aufmerksamkeit auf weitreichende räumliche Konfigurationen. Festgehalten wird dabei auch, dass Verhaltenserwartungen und Handlungsmöglichkeiten in Räume eingeschrieben sind.12 Demnach wissen Akteure, welche Handlungen von ihnen je nach sozialer Rolle in einem bestimmten sozialen Raum, sei es etwa ein Restaurant oder ein Dorffest, erwartet und akzeptiert werden; was jedoch nicht zugleich auch bedeutet, dass diesen mechanisch gefolgt wird. Dennoch lässt sich festhalten: Räume rahmen Handlungsmöglichkeiten. Löw (2012) nutzt diese Vorlage und erweitert die Fragerichtung wesentlich. Sie möchte wissen, wie Akteure Raum in ihren Handlungen hervorbringen. Unter dieser Perspektive haben Räume als Thema in der Soziologie in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erhalten, auch wenn sich diese Aufmerksamkeit in der deutschsprachigen Soziologie selten auf ländliche Räume richtet. Neuere raumsoziologische Ansätze gehen davon aus, dass »Raum nicht [...] als naturhaft gegebener materieller Hinter- oder erdgebundener Untergrund sozialer Prozesse unveränderbar und für alle gleichermaßen existent angenommen werden kann.« (Löw/Sturm 2005: 31) Vielmehr wird die Entstehung verschiedener räumlicher Ordnungen in den Mittelpunkt gerückt. Jede Form von sozialer Ordnung ist unbeständig, fragil und gesellschaftlich gebunden (vgl. ebd.: 42). Insofern sich in der Gegenwart also eine
12 Bereits Giddens’ Bezugnahme auf Goffman ([zuerst 1956] 2003) lässt eine solche Perspektivierung wahrscheinlich werden. Ein zentrales Kapitel im Werk Goffmans trägt den vielsagenden Titel »Ort und ortsbestimmtes Verhalten«. Im Original lautet der Titel »Regions and Region Behaviour«.
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Vielzahl unterschiedlicher ländlicher Räumen beobachten lässt, muss die Frage (letztendlich auch empirisch) beantwortet werden, wie diese unterschiedlichen ländlichen Räume konkret im Handeln entstehen. Es lassen sich hierfür zwei ineinander verwobene Prozesse kennzeichnen, die an die bereits eingeführte Unterscheidung von Land und Ländlichkeit erinnern. Räume entstehen zum einen, da Menschen Elemente durch Wahrnehmungs-, Vorstellungsund Erinnerungsprozesse aktiv verknüpfen. Dies wird von Löw als Syntheseleistungen bezeichnet. Sie markiert somit eine konzeptionelle Konstruktionsebene der Raumentstehung. Die Zuschreibung von Ländlichkeit ist auf dieser anzusiedeln. Da diese jedoch mit konkreten Platzierungen einhergehen kann, ist zum anderen eine materielle Ebene zu berücksichtigen. Raum konstituiert sich durch das faktische Positionieren von Markierungen (welche auch symbolische aufgeladen sein können). Dies wird als Prozess des Spacings bezeichnet. Auffällig ist zudem, dass solche Konstruktionen in Relation zu anderen bereits vorhandenen realisiert werden. Raumherstellungen finden demnach nicht im leeren Raum statt. Ein Haus wird mit Bezug zu Straßen, Wegen und anderen Häusern im Dorf platziert. Gleiches gilt für umfangreichere Konzeptionalisierungen wie die Umgestaltung eines Dorfplatzes oder die Erhaltung historischer Baussubstanz. Es entstehen so jene relationalen Strukturen, die als Siedlungsstrukturen bezeichnet werden. Dabei wird deutlich, dass Spacing ohne Synthese nicht möglich ist. Als Ergebnis entstehen räumliche Ordnungen und Strukturen dann nur als (An)Ordnungen; wobei der Begriff durch das Präfix An die Handlungen von Akteuren betont (vgl. Löw 2012: 158ff.). Für einen solchen Prozess sind unterschiedliche Strukturprinzipien, wie Klasse oder Geschlecht, ausschlaggebend. Aus diesen entstehen verschiedene Habitus, in welchen auch die Herstellung von Raum eingeschrieben ist (vgl. ebd.: 202). Damit kommt jener Ansatz raum- und gleichzeitig handlungsbezogenen zur vollen Entfaltung, den Giddens (1992: 77ff.) mit der »Dualität der Strukturen« skizziert. Auch bei der Herstellung von Räumen werden also Erfahrungen und Wissen relevant. Diese erweiterten Kontextbedingungen können dann wiederum auf generationale, geschlechtliche oder bildungsabhängige Typen bezogen werden (vgl. Woods 2011: 38). Auch die im vorliegenden Aufsatz vertretene sinngenetische Rekonstruktion der Herstellungsprozesse ländlicher Räume kann hierfür weiter sensibilisiert werden. Durch die handlungsbezogene Perspektive wird außerdem sichtbar, dass verschiedene Akteure am selben Ort ganz unterschiedliche Räume konstruieren können (vgl. Löw 2012: 198f.). Diese beiden Begriffe werden bei Löw getrennt. Orte sind, ähnlich wie bei Giddens, zunächst mannigfach vorhanden. Ein Ort kann ein Dorf ebenso wie ein Zimmer in einem Haus sein. Charakterisiert sind sie durch eine konkrete geographische Lage. An jedem Ort gibt es zudem materielle Bedingungen, im Falle eines Dorfes zum Beispiel angrenzende Wiesen und Felder,
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welche mit sozialen Praktiken und deswegen auch mit Sinnzuschreibungen verbunden sind. Dabei können an ein und demselben Ort unterschiedliche Räume entstehen: Eine Wiese kann beispielsweise zum Freizeit- oder zum Arbeitsraum werden. Sie kann somit zum Picknicken, zum Bewirtschaften oder zum Bebauen der Fläche einladen (vgl. Langner 2014). Der anfängliche Hinweis auf die Trennung von Land und Ländlichkeit findet demnach in den Überlegungen Löws die geforderte raumtheoretische Fundierung, weil sich räumliche Strukturen und sinnhafte Bezugnahmen analytisch trennen und in ihrer Wirkung aufeinander untersuchen lassen. Im Gegensatz zu Giddens liegt so ein an Handlungen und Bedeutungen gebundenes Raumverständnis vor. Aufgrund der erläuterten Freisetzung von Handlungsmöglichkeiten und der Dynamisierung räumlicher Unterscheidungen ist davon auszugehen, dass auch raumherstellendes Handeln mannigfaltiger geworden ist. Dies würde wiederum die Vielzahl der in der Praxis anzutreffenden Räume bzw. Regionalisierungen erklären. Interessant ist somit das Verhältnis von Raumvorstellungen und in der Lebenswelt vorzufindenden Räumen. Dabei drücken sich in der Reflexion dieses Verhältnisses auch raumbezogene Weltdeutungen über »Aspekte der diskursiven Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit« (Glasze/Mattesek 2009: 31) aus. In diesem Verhältnis von Orten zu Räumen kann außerdem die Ursache für eine konfliktbehaftete Auseinandersetzung um ländliche Räume gesehen werden. Ländlichkeitsvorstellungen (als Synthesen) bestimmen die faktische Entwicklung von ländlichen Räumen (als Spacing) mit, erzeugen zugleich aber auch aufgrund ihrer Diversität Konfliktpotentiale.13 Dies geschieht in Situationen, in welchen sich mehrere Ländlichkeitsvorstellungen auf den gleichen Ort richten und differente Syntheseleistungen unterschiedlicher Akteure miteinander um ihre Realisierung konkurrieren (vgl. Löw 2012: 202). Die über Komplexitätsreduktion arbeitende lebensweltliche Synthetisierung ländlicher Räume führt schließlich auch zur symbolischen Aufladung von Räumen, wobei die konkrete Ortsgebundenheit in den Hintergrund tritt. In der Konsequenz entstehen Bezugnahmen zu ländlichen Räumen mit einem Anspruch von Allgemeingültigkeit. Besonders die Ebene der Synthese verweist dabei auf ein Spannungsfeld (vgl. Christmann 2016, Steets 2015), welches zum Abschluss umrissen werden soll.
13 Dass es sich hierbei nicht nur um ein soziologisch konstruiertes Problem handelt, zeigt beispielsweise auch die literarische Verarbeitung dieser Perspektive in Juli Zehs UNTERLEUTEN.
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S PANNUNGSFELD DER
Ländliche Räume sind Ergebnisse von Handlungen. Die Orientierung an der Raumsoziologie Löws hat nahegelegt, dass dabei Synthesen in Form von Ländlichkeitsvorstellungen eine herausgehobene Rolle spielen, in deren unterschiedlichen Spielarten die Pluralität des Ländlichen zum Ausdruck gebracht wird. Betont werden kann, dass die Ausgestaltung einzelner Räume als Ergebnis von Herstellungsprozessen angesehen werden muss. Im raumbezogenen Handeln von Akteuren entsteht demnach die Pluralität ländlicher Räume. Dabei wird es möglich, räumliche Ordnungen zu stabilisieren, aufzulösen oder neu entstehen zu lassen, was wiederum zu neuen Ordnungsversuchen führt (vgl. Redepenning 2018). Unter den Bedingungen der Spätmoderne ist dies grundsätzlich als ein dynamischer Prozess zu verstehen. Als gesellschaftliche Reaktion auf die dynamische Grundspannung zeigt sich jedoch eine eher überraschende Beständigkeit und Dominanz der bereits mehrfach erwähnten Diskurse über den ländlichen Raum. Dabei ist zu beobachten, dass der ländliche Raum in Deutschland, spätestens seit den 1970er Jahren, nachhaltig als eine Problemzone definiert wird (Beetz 2016: 115).14 Für die Gebiete der neuen Bundesländer gilt dies nach der politischen Wiedervereinigung in besonderem Maße (vgl. Land/Willisch 2006). Diese werden nicht selten, passend zur Prognose der ›blühenden Landschaften‹, mit einer Entwicklungs- und Aufhollogik belegt. Die »vermeintliche Gewissheit« (Beetz 2016: 114) der Landflucht kann als eine Reaktion auf die beschriebenen Dynamiken der Raumherstellung gedeutet werden. Landfluchtszenarien ermöglichen, trotz aller empirischen Zweifel an ihnen, einen Umgang mit Unsicherheiten in regionalen und lokalen Entwicklungen (vgl. ebd.: 114f.). Eine über Problematisierungen angelegte Komplexitätsreduktion ist demnach in der Lage, Eindeutigkeiten zu suggerieren, wo eigentlich keine vorhanden sind.
14 Von ähnlicher Bedeutung ist auch die Persistenz des ländlichen Idylls. Dieses stellt ebenfalls ein dominantes Ländlichkeitsbild dar (vgl. Baumann 2016). Die grundlegende Gegenüberstellung dieser Bezugnahmen ist auch für andere Länder festgestellt worden (vgl. Murdoch/Lowe/Ward/Mardsen 2004). Die starke Betonung der problematischen Entwicklung der ländlichen Räume insbesondere in den neuen Bundesländern sorgt hier für eine Gewichtsverlagerung: Sie »[löst] die gesellschaftliche Bewertung ländlicher Räume zwischen ihrer Perspektivlosigkeit und ihrer Idealisierung [...] nach einer Seite hin [auf].« (Beetz 2013: 61)
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Lebensweltlich selbstverständliche (diskursive) Positionierungen sind somit eine wichtige Basis für die Bewertung von ländlichen Räumen und die Erstellung von Entwicklungsszenarien. Sie sind, soziologisch betrachtet, dominante soziale Orientierungen, da sie eine (spezifische) sinnhafte Bezugnahme (= Ländlichkeit) zu vielen räumlichen Strukturen (= Land) darstellen. In dieser Perspektive wird demnach der Landfluchtdiskurs durch Konstruktionen einer spezifischen Ländlichkeit getragen. Auch solche vereinfachenden Bezugnahmen entwerfen die Zukunft ländlicher Räume und versuchen somit ein Grundproblem der späten Moderne zu lösen, indem sie Ländlichkeitsvorstellungen zum Ausdruck bringen und für konkrete Raumordnung nutzen. Dies gilt sowohl für ›negative‹ wie auch für, in diesem Aufsatz weniger beachtet, ›positive‹ Bezugnahmen. Die Bewertung sowie Entwicklung ländlicher Räume erscheint insofern in einem Spannungsfeld zwischen Chancen und Risiken. Beobachten lässt sich, dass Uneindeutigkeiten und Dynamiken in vermeintliche Sicherheiten und Möglichkeiten überführt werden. Mit der Spätmoderne gehen demnach »räumliche Profilierungsanforderungen einher, die Eindeutigkeiten herstellen« (Beetz 2016: 118), da die Zukunft auch raumbezogen gestaltet werden muss. Die Entwicklung ländlicher Räume droht dabei zum Konflikt zu werden. Ein Positionierungszwang für Ländlichkeitskonstruktionen lokaler Akteure wird beispielsweise im Falle einer existenziellen Bedrohung wahrscheinlich. Die Entwicklung eigener Positionen oder die Umdeutung bestehender kann genutzt werden, um die Zukunft der eigenen Lebensgestaltung, welche immer auch an konkrete Orte und Räume gebunden ist, abzusichern. In ländlichen Räumen sehen sich Gemeinden sowie die dort lebenden Menschen mit Unsicherheiten konfrontiert. Hieraus entsteht die Motivation, sich zu kollektiven Akteuren zusammenzuschließen. Der Zusammenschluss in Fördervereinen oder Stiftungen ist hilfreich, da so »Gesellschaftsvorstellungen, Selbstbeschreibungen, Selbstpräsentationen« und »Situationssowie Problemdefinitionen« (Frank 2016) artikuliert und durchgesetzt werden können. Kollektive Akteure sind dabei für die Entwicklung des Landes besonders ausschlaggebend (vgl. Karstein 2013), denn sie handeln auf der lokalen Ebene relevante Ländlichkeitskonstruktionen aus und vermitteln oder verteidigen diese extern. Die dabei entstehenden Positionierungen haben ebenfalls raumkonstituierenden Anspruch und können mitunter als Widerstand gegen dominante Muster der Raumproduktionen in der Spätmoderne gelesen werden, welche als ungerecht sowie übergriffig empfunden werden können (vgl. Kropp 2015: 104, Christmann 2017). Vermittelt über die Unsicherheit, mit welchen die Entwicklungen von Regionen kontinuierlich in Verbindung gebracht werden, ergeben sich demnach lokale Handlungsprobleme. Akteure, die in diesem Zusammenhang aktiv auf die (symbolische und materielle) Konstruktion ihrer als ›ländlich‹ erfassten und spezifisch gedeuteten Lebenswelt einwirken, sind Agenten des Ruralen. Diese setzen sich reflexiv mit
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vorhandenen – mitunter determinativ wirkenden – Ländlichkeitskonstruktionen auseinander und arbeiten an deren Veränderung. Sie etablieren dabei lokale Gegendiskurse (vgl. Christmann 2017) und erfüllen eine Stellvertreterfunktion, weswegen sie sich innerhalb der lokalen Gruppen legitimieren müssen. Dies gelingt über biografisches (nicht zuletzt auch ortsgebundenes) Wissen ebenso wie anhand professioneller Fähigkeiten, welche im Laufe der Bildungsbiografie gesammelt wurden (vgl. Beetz 2004). Die grundlegende Offenheit der Entwicklung, vor allem aber das Bewusstsein für die Verhandelbarkeit und Anzweifelbarkeit von Entwicklungsprognosen, bieten dabei das Potential, Problem-Diskurse strategisch zu handhaben (vgl. Beetz 2013: 61, Faber/Oswalt 2013). Als weitere Konsequenz führt die Auseinandersetzung um die Zukunft ländlicher Räume zur Entstehung spätmoderner regionaler Identitäten. In den stattfindenden Aushandlungsprozessen wird über etwas verhandelt, »von dem man glaubt, es wäre da gewesen oder hofft, es wieder zu gewinnen.« (Ipsen 1997: 102) Dementsprechend erscheint die Ausbildung regionaler Identitäten als Reaktion auf eine angenommene bzw. festgestellte spätmoderne Situation: »Regionale Identität ist ein Produkt ihres Gegenteils, der Herausbildung nationaler und internationaler Räume und der damit einhergehenden Modernisierungsprozesse.« (Ebd.) Solche Identitätskonstruktionen können ebenfalls ›negativ‹ oder ›positiv‹ aufgeladen sein. Auch eine fortlaufende (diskursive) Reproduktion einer ›negativen‹, so nicht erwünschten, Entwicklung kann das Kernstück einer Identitätskonstruktion bilden. Auffällig ist jedoch, dass es sich stets um raumbezogen Konstruktionsprozesse handelt. Jede Form von regionaler Identität ist dabei in der Lage, Sicherheit in der unsicheren Spätmoderne zu suggerieren, denn sie bietet ein »Maß an Bestimmtheit, welches Voraussetzung für aktives Handeln ist« (ebd.: 105). Dies begünstigt wiederum auch eine Wettbewerbslogik der Räume und Regionen untereinander. Im Zuge einer Reaktion auf konstatierte Untergangszenarien wird unter anderem sowohl um Zuziehende wie auch um Gewerbegebiete und Touristen gekämpft. Dieser Wettbewerbs- sowie Unsicherheitsmodus erfährt auch eine politische Verstetigung, die über Förderlogiken vermittelt wird. Politische Akteure, nationale wie auch supranationale, nutzen dabei Wettbewerbe als Steuerungsinstrument für räumliche Entwicklungen (Meincke 2008: 69). Basierend auf einem »Endogenous Approach« richtet sich beispielsweise die Strukturpolitik der Europäischen Union auf ländliche Entwicklung im lokalen Kontext (vgl. Ray 1997 u. 1999). Ein solches Vorgehen wurde in den letzten Jahren gefestigt und in ein »Neo-Endogenous Development« überführt (vgl. Bosworth et. al. 2016). Hierbei stehen Räume, denen sozioökonomische Probleme und damit auch eine unsichere Zukunft zugesprochen wird, im Mittelpunkt. Ziel ist es, lokal vorhandene Ressourcen zu nutzen und zu verbessern: »The approach tries to attach people – and their innovation, entrepreneurship and capital (financial and intellectual) – to place.«
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(Ray 1999: 259) Das LEADER-Programm15 ist ein methodischer Ansatz, der die hier beschriebenen Positionierungs-, Identätsbildungs- und Wettbewerbsprozesse begünstigt: »Among the signals sent out by the EU was that applications for participation in the programme were to indicate the local identity […] of the proposed area and how this would be animated in its socio-economic development.« (Ebd.) Ähnliches trifft auf Förderprogramme mit geringeren finanziellen Rahmenbedingungen zu, beispielsweise auf den Bundeswettbewerb UNSER DORF SOLL SCHÖNER WERDEN, der seit 1997 unter dem suggestiven Titel UNSER DORF HAT ZUKUNFT fortgeführt wird (vgl. Strube 2013). Letztere Ansätze erzielen Wirkungen vor allem über die symbolische Anerkennung lokaler Leistungen. Dies führt erneut die Vielschichtigkeit und unmittelbare Bedeutung von Ländlichkeitskonstruktionen vor Augen. Sind diese doch in gesellschaftliche (Meta-)Narrative, unterschiedliche Förderprogramme und -logiken ebenso wie in lokale Identitäten eingesponnen und können miteinander in Konflikt treten. Das dadurch entstehende Spannungsverhältnis zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass Agenten des Ruralen sich an ihm abarbeiten können und müssen, was die Entwicklung ländlicher Räume beeinflusst. Eine solche multidimensionale Perspektivierung der sozialwissenschaftlichen Erforschung ländlicher Räume und die sie konstruierenden Akteure fängt die Konsequenzen der Moderne ein und markiert gleichzeitig einen Untersuchungsgegenstand, der äußerst komplex ist. Zielsetzung sollte dabei die Analyse der gegenwärtigen Produktion ländlicher Räume sein. Dafür sind unterschiedliche Fragen anzugehen. Zunächst muss die diskursive Konstruktion ländlicher Räume genauer betrachtet werden. Wie gezeigt wurde, scheint diese reflexiv eingefangen in einem Spannungsverhältnis von Chancen und Risiken. Bisherige empirische Analysen im Rahmen des laufenden Dissertationsprojektes bestätigen dies und zeigen, dass Agenten des Ruralen sich im Zuge verschiedener Repräsentationsprozesse – sowohl ihrer selbst als auch des von ihnen bewohnten und bearbeiteten Ortes – zunächst an verschiedenen Meta-Narrativen abarbeiten. Dabei werden diese äußerst kritisch betrachtet und in ihrer Geltung entkräftet. Daran anschließend geht es um genauere Einblicke in das Zusammenspiel von lokalen und nicht-lokalen Akteuren im Kontext ländlicher Entwicklung. Kein Weg führt dabei an der Rekonstruktion der den Förderprogrammen und -logiken inhärenten Ländlichkeitsvorstellungen vorbei. Viel deutet hierbei auf das aktivierende Potential der jeweiligen Zuwendungen hin, die sich aus den Förderprogrammen ergeben; nicht zuletzt, weil mit diesen positive und handlungsbezogene Zukunftsszenarien verbunden werden können. Zugleich erscheinen die dabei zum Tragen kommenden Ländlichkeitskonstruktionen aber auch deutlich unterkomplex, was wiederum zahlreiche Probleme nach sich ziehen
15 LEADER ist ein Akronym für liaison entre actions de développement de l'économie rurale.
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kann. Neben der Aktivierung lokaler Akteure ist beispielsweise die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass vor Ort stattfindende Entwicklungen eben nicht in den übergreifenden Diskursstrukturen repräsentiert werden und deswegen eine Resignation bezüglich konkreter gesellschaftlicher – und damit auch immer politischer – Bezugnahmen zu und Positionierungen in ländlichen Räumen einsetzt. Eine Verstetigung des Selbstverständnisses als Abgehängte oder Vergessene erscheint somit möglich; und lässt sich auch vielerorts beobachten. Daher stellt sich erneut die Frage, wie Ländlichkeitsvorstellungen in den hier beschriebenen Prozessen in Stellung gebracht werden und wie die Konstitutionsbedingungen der damit verbundenen Positionierungen und Raumproduktionen zu fassen sind. Dies ist noch, unter Berücksichtigung der hier vorgelegten analytischen Perspektive, detailliert und vor allem empirisch aus dem Untersuchungsfeld zu rekonstruieren.
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Heimat ohne Baldachin Zumutungen der Moderne W ERNER N ELL
Auch wenn inzwischen große Anteile der Weltbevölkerung in Städten leben, auf unterschiedlichen Wegen ›unterwegs‹ sind, an Rändern, ›Nicht-Orten‹ oder sonstwo im Dazwischen ihren Aufenthalt finden oder suchen, spielen ländliche Räume noch immer dann eine große Rolle, wenn es darum geht, Heimat zu gestalten, zu erinnern oder zu erzählen.1 Rückbezüge auf das Land als Erfahrung, Konstruktion, Erinnerung oder auch als ideologische Setzung nehmen Ansprüche auf räumliche und soziale Zugehörigkeit, Naturnähe und Nachbarschaftlichkeit, Kontinuitätserfahrungen in Familie und Lebenslauf, nicht zuletzt kulturelle Vertrautheit (vgl. Schmoll 2016: 31-33) auf, die gerade dann dringlich zu werden vermögen, wenn sie im Zuge schnellen sozialen Wandels, zunehmender Mobilitätserfahrungen und weitergehender Öffnungen der Horizonte bspw. durch mediale Vernetzungen oder Migration in Frage gestellt erscheinen bzw. im Schwinden begriffen sind. Gerade in ihren Konjunkturen, und so auch in ihrer charakteristischen »vielsagenden Unschärfe« (Schmoll 2016: 29) stellt sich Heimat damit auch aktuell als ein Konzept dar, das
1
So schreibt Friedemann Schmoll mit Blick auf die seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Heimatbewegung und Heimatkunst auf den Weg gebrachten Museen, literarischen Texte, Traditionsvereine, aber auch das in den Volksschulen seit 1908 eingerichtete Fach der Heimatkunde: »Die Heimaten, die hier thematisiert wurden, waren stets ländliche, traditionell verfasste Räume – äußerlich und innerlich geschlossene, harmonische Lebenszusammenhänge, die als Gegenwelten zu einer undurchschaubaren Moderne aufgebaut wurden.« (Schmoll 2016: 37) Zur Geburt der Heimatkunde und ihren Umständen vgl. Günzel (2014: 30).
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eine »Suchbewegung« (Baake 1990: 479) bezeichnet und diese gleichzeitig selbst darstellt bzw. vollzieht.2 Angesichts immer wieder auftretender »Renaissancen« des Heimatbegriffs (Costadura/Ries 2016: 17), der damit verbundenen Diskussionen und Diskurse sowie der daran erkennbaren, diesen offensichtlich auch zugrunde liegenden Interessen und Bedürfnissen lässt sich Heimat dann aber auch als heuristisches Modell nutzen, wenn es darum geht, im Zuge zeitgenössischer Prozesse der Territorialisierung bzw. Deterritorialisierung (vgl. Deleuze/Guattari 1992: 436-448)3 Erfahrungen und Begehren von Menschen und sozialen Gruppen im Umgang mit Zugehörigkeit und Mobilität, Unterwegssein, Ankommen und Wiederaufbrechen anzusprechen, zu kommunizieren und auch zu reflektieren. Heimat lässt sich so als ein spezifisch im Rahmen und unter den Bedingungen der Moderne entstandenes Deutungsmuster verstehen und nutzen, um Erscheinungs-, Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen geschichtlicher Transformationen, sozialer und kultureller Umbrüche sowie die damit verbundenen individuellen Lebenserfahrungen im lokalen Rahmen anzusprechen bzw. zu bearbeiten. Dabei ist mit dem erst mit der Moderne sich formierenden Konzept einer Heimat, die ebenso sehr aus realen wie aus imaginativen Anteilen besteht (Oesterhelt 2016), darüber hinaus auch historisch und diskursgeschichtlich eine grundlegende Ambivalenz und Ungreifbarkeit verbunden, die sich immer wie-
2
Bezeichnenderweise bezieht sich diese – offensichtlich auch aktuell wieder attraktive – Denkfigur auf eine Skizze zu Bildungsaufgaben in großstädtischen Jugendkulturen: »›Heimat‹«, so das Fazit Baackes (1990!) zu dieser Studie, »ist heute ein Echo, dessen raumgebundener Ursprung längst verhallt ist. Sie ist nur noch dort, wo Menschen sich zeigen, dass sie einander angehen. […] aber gerade dies ist es, was Hoffnung macht: auf neue Chancen der Heimatfindung in beweglichen Modellen von Raumdefinitionen und persönlichen Zuordnungen, die das Lebensexperiment bestehen helfen.« (Baacke 1990: 496) Zur Aktualität vgl. Bauer/Gremler/Penke (2014: 14) und Günzel (2014: 37-43).
3
Günzel entwickelt mit Rückgriff auf Levinas und Deleuze/Guattari ein Modell, das gegenüber einer von Heidegger bis Bollnow (und darüber hinaus bis zu Sloterdijk) vertretenen Ortsgebundenheit der Heimatidee diese an eine abstrakte und damit mobile Raumkonzeption anschließt (Günzel 2014: 37-43); dies zielt auf eine Heimat-Vorstellung, die nicht mehr auf eine lokale Fixierung und die darauf aufbauende Trennung von Eigenem und Fremden sowie den daran anschließenden Ausschluss des Fremden gebunden ist. »Die Eingepflanztheit in eine Landschaft«, so Emmanuel Levinas, »die Verbundenheit mit dem Ort, ohne den das Universum bedeutungslos würde und kaum existiert – eben dies ist die Spaltung der Menschheit in Einheimische und Fremde. Und in dieser Perspektive ist die Technik weniger gefährlich als die Geister des Ortes.« (Levinas 1992: 174; zit. Günzel 2014: 39).
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der auch auf die künstlerischen und lebensweltlichen Wahrnehmungen und Gestaltungen ländlicher Räume erstreckt und sich dann auch in deren Darstellung zwischen sozialgeschichtlichem Realismus und ideologischer Instrumentierung, Kitsch und Kunst, nostalgischer Inszenierung und lebensweltlicher Aneignung wiederfinden lässt. Dieter Thomä hat diese Ambivalenz in einem ÜBER HEIMAT- UND HEIMATLOSIGKEIT untertitelten Text mit der Ortsgebundenheit und Sesshaftigkeit von Gespenstern verglichen und diese »andere« Seite ihrer ansonsten allseits vertrauten Ungreifbarkeit auch auf das Raumverhalten, die Such- und Bindungsbewegungen »des Geistes« selbst übertragen: »Eigentlich ist das Gespenst sowohl verschlossen als auch verlässlich. Das verängstigte Kind bestätigt freiwillig, dass das Gespenst immer da sei; es weiß eben nur nicht, wann und wo es auftaucht. Der Geist ist nicht nur ortlos, sondern auch sesshaft. Schließlich treiben Gespenster jahrtausendelang ihr Unwesen – immer im selben Schloss oder im selben Wald. Das Unheimliche, Unbehauste und das Heimliche, Häusliche greifen ineinander.« (Thomä 2007: 303)
Offensichtlich gilt dies auch in der Umkehrung, wenn das Heimliche, Häusliche, Heimatliche als Ort bzw. Bezugspunkt selbstbewusster und selbstreflexiver historisch-sozialer Zuordnung auf seine gespensterhafte Seite hin betrachtet wird.4 Auch hier bleibt bei der Bestimmung dessen, was denn das Häuslich-Heimatliche eines Ortes oder einer Erfahrung ausmacht, mehr als nur die Unsicherheit der Zuordnung. Vielmehr geht es gerade im Blick auf den Assoziations- und Emotionsbereich des »Heimatlichen« auch um das behaglich-unbehagliche Gefühl, sich in einem Grenzland zu bewegen,5 das sich ebenso anziehend wie verunsichernd darstellt und
4
Dass sich die Faszination, ja Bannkraft des Unheimlichen aus einer Verschiebung des Heimlich-Häuslichen unter dem Bann einer ebenso biografisch erfahrenen wie sozial/ kulturell verdrängten bzw. überformten Gewaltbelastung bzw. eines entsprechenden Eingriffs in die personale, leibliche Integrität herleiten lässt, stellt den Ausgangspunkt der Untersuchung Freuds zum Umheimlichen dar und bietet zugleich den Ansatzpunkt, in der Vorstellung einer in der Obsession bzw. Attraktion des Heimatlichen verborgenen, überdeckten und zugleich weitergetragenen Gewalt- und Leidensgeschichte einen der Gründe für die immer wieder »gespensterhaft« in Erscheinung tretenden Konjunkturen der Heimatdiskussionen und -bedürfnisse zu sehen (vgl. Freud 1970); zur Geburt des Selbstbewusstseins, auch des Angehörigkeitsbedarfs aus der Erfahrung unabwendbaren, also widerfahrenden frühen Leids vgl. Türcke (2006: 9-14); zur Gegebenheit der Herkunft als Widerfahrnis vgl. Kamlah (1973).
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»Es ist kaum anzunehmen«, so beginnt Bernhard Waldenfels seine Ausführungen zu HEIMAT IN DER FREMDE, »daß jemand von uns das Wort ›Heimat‹ unbefangen in den
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entsprechend auch nicht nur für Beobachter Zweifel, Widersprüche und Paradoxien bietet,6 sondern auch diejenigen affiziert, die sich, sei es affirmativ, sei es kritisch, auf die Behauptung, Erfahrung oder auch Rekonstruktion von »Heimat« einlassen.7 »Heimat gibt es nicht ohne einen Bodensatz an Unheimlichem und Unheimischen.« (Waldenfels 1985: 210)
I. Auch für das Thema selbst mag bezeichnend sein, dass sich der nützliche Hinweis von Thomä zur Gegenstandsunbestimmtheit, ja Gespensterhaftigkeit von Heimat selbst an einer verschobenen Stelle findet, also nicht etwa in einem kulturanthropologischen oder sozialpsychologischen Text, sondern vielmehr im Zusammenhang
Mund nimmt. Es gehört zu den sentimental aufgeladenen Vokabeln, mit denen das 19. Jahrhundert uns reichlich beschert hat.« (Waldenfels 1985: 194). 6
Entsprechend verbreitet ist es, sich widersprüchliche Beobachtungen oder Gegensätze als Ausgangspunkt für Überlegungen zu »Heimat« und Heimat-Konzeptionen zu nehmen. »Jede Präzisierung des Heimatbegriffs ist identisch mit dem Zwang, sich seiner Ambivalenzen bewusst zu werden.« (Körner 1997: 22) Dass sich »Heimat« gerade wegen dieses Changierens zwischen Gefühlslagen, ambivalenten Erfahrungen und kontrovers besetzten Bezugsgrößen auch ideologisch setzen, merkantil nutzen und/oder medial-diskursiv ausgestalten, ja, wie der aktuelle Bestseller von Christian Schüle belegt, auch zum Themenfeld für dieses und jenes (von der sogenannten Flüchtlingskrise bis zur Politikverdrossenheit, vom Brexit bis zum Handtaschendiebstahl) »aufblasen« lässt, mag selbst wiederum der Unbestimmtheit der angesprochenen Orientierungen geschuldet und der Faszinationskraft ihrer Gespensterhaftigkeit zugleich zuzuschreiben sein (vgl. Schüle 2017: 236); ebenfalls ein Beststeller, aber weitaus solider und noch heute lesenswert dagegen von Krockow (1989).
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Gerade neuere Abhandlungen umkreisen das Thema mehr als dass sie sich an einer historischen oder sonstwie handfesteren Begriffsbestimmung versuchen; Ernst Blochs berühmte Beschreibung des imaginären Gehalts jeder Vorstellung von »Heimat« »worin noch niemand war« beschreibt in dieser Hinsicht nicht nur einen Wunschraum und Schwebezustand, sondern in realhistorischer und anthropologischer Perspektive eine Unmöglichkeit, da jedes Bestimmen von Heimat schon differenzlogisch nur um den Preis einer Koproduktion von Fremdheit zu haben ist (Waldenfels 1985: 210), die ihrerseits »befremdend« auf die Erfahrung der Heimat nicht nur zurückwirkt, sondern diese in ihrer Fremdheit erst als Heimat erkennbar, ja ggf. zur Heimat werden lässt (vgl. dazu Plessner 1979a: 243).
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der Rezension einer Wittgenstein-Studie.8 Denn freilich haben auch die HeimatDiskurse, soweit sie sich in der Geistes- und Kulturgeschichte der deutschen Lande seit dem 18. Jahrhundert finden lassen und auch die Diskursgeschichte der alten wie der neuen Bundesrepublik begleiten,9 wie Gespenster ihre Konjunkturen, ihren Ort und ihre Zeit.10 Zugleich allerdings lässt sich ihr Auftauchen ebenso wenig wie das der Gespenster, mit denen sie nicht nur die Ungreifbarkeit ihrer Substanz, sondern ebenso die von ihnen ausgehende schwankende Größe, Ausstrahlung, Bannkraft und ggf. Faszination teilen, voraussagen oder spezifisch lokalisieren.11 Auch bleiben, zumindest unter den Bedingungen einer durch »mehrdeutige Aufklärung« (Wagner 1995: 30) sich konstituierenden Moderne, die Möglichkeiten einer einlinigen Manipulation und/oder Steuerung von Heimatbewusstsein ebenso begrenzt wie es offensichtlich unmöglich ist, die mit Heimatvorstellungen verbundenen und aus ihnen hervorgehenden Bilder, Gefühlslagen und auch Besessenheiten gänzlich aus den Selbstzuschreibungen von Menschen herauszunehmen. »Es wäre ein leichtes«, so Bernhard Waldenfels nicht nur angesichts der Vielfalt von Bezugnahmen und Trägern, sondern gerade auch hinsichtlich des Schwankens von Heimatbezügen zwischen Komik und Kitsch, martialischer Heimatverteidigung und sentimentaler
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Dass und in welchem Maße das Sprachspiel »Heimat« und die darauf bezogenen Erscheinungen sich mit Rückgriffen auf Wittgensteins Spätwerk oder aber in einer phänomenologischen Analyse ausarbeiten ließen, kann hier nicht ausgeführt werden, soll aber auch nicht unerwähnt bleiben. »Wenn unsere Erfahrungen des ›Exils‹ und der ›Heimat‹ verschränkt sind, dann ist unser Leben in der Sprache von eben der Ambivalenz geprägt, die sich am Leben des Gespensts zeigt: Ortlosigkeit und Ansässigkeit treten nebeneinander auf, greifen ineinander.« (Thomä 2007: 305) Dies gilt freilich nicht nur für die Orte der Wörter, die sich in ambivalent ausgelegten Sprachspielen beheimatet finden, sondern auch für die Bestimmung jenes imaginären (und zugleich lebensweltlich realen) Raums, der seit dem 19. Jahrhundert mit »Heimat« bezeichnet wird (vgl. dazu auch Waldenfels 1985, bes. hier 194, 199-202).
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Für eine Übersicht der Arbeiten seit den 1960er Jahren vgl. Cremer/Klein (1990); für die ältere Begriffsgeschichte Bausinger (1983), Greverus (1979), Greverus (2002) sowie den von mir verfassten Schlüsselbegriff »Heimat« der Brockhaus Enzyklopädie: Heimat 1989. Für neuere z. T. publikumswirksam adressierte Beiträge sei auf Schmidt (1999), Hecht (2000), Türcke (2006); Musall (2016) und schließlich Schüle (2017) verwiesen.
10 Für Ansatzpunkte einer solchen Diskursgeschichte vgl. Gebhard/Geisler/Schröter (2007). 11 Natürlich ließen sich immer wieder Krisen benennen, die – wie zuletzt die »Flüchtlingskrise« – einen spezifischen Heimat-Bedarf bzw. eine entsprechende Diskussion um die »Geborgenheit« der Heimat und deren Gefährdung begründen können (vgl. Schüle 2017: 82); angesichts einer grundlegend die Moderne charakterisierenden Krisenhaftigkeit (vgl. Wagner 1995) ein freilich recht wohlfeiles Argument.
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Schwärmerei, ökonomisch-touristischer Indienstnahme und strukturplanerischer Egalisierung, »darüber eine Satire zu schreiben, doch dabei bliebe vergessen, was sich hinter den Vorstellungen von ›Heimat‹ an lebenserhaltenden Ansprüchen verbirgt.« (Waldenfels 1985: 194)
II. Neben dem Umstand, dass der Mensch sich selbst an einer Stelle verortet sieht (und zugleich um diese Verortung weiß und sie zu begreifen sucht), zählt die Suche nach einem Vertrautwerden mit und in der Welt ebenso zu diesen »lebenserhaltenden« Ansprüchen wie das Bemühen, Personen, Erfahrungen und Identitätsfacetten an Ortsbezüge (Herkunft, Aufenthalt, Wunschräume) und Zeiträume (Kindheit, Familienzeit, Arbeitszeit, Freizeit, Eigenzeit) zu binden oder diese über jene zu bestimmen. Gerade aber wenn Heimat in diesen grundlegenden Zusammenhängen als Nah-Raum biografisch und lebensweltlich codiert wird (und zu schaffen ist),12 stehen die damit angesprochenen lebensbezogenen und ggf. lebensnotwendigen Bezüge zugleich doch – wie alles Menschliche – unter der Vorgabe, keineswegs natürlich, sondern, dem Plessnerschen »Gesetz der natürlichen Künstlichkeit« folgend,13 selbst Gegenstand und Produkt historischer und sozialer Vermittlung zu sein. »Es gibt keine natürliche Heimat. Wie die Kindheit, so ist auch die Heimat immer schon zurechtgemacht, zurechtgestutzt, gedeutet, verarbeitet, umgesetzt und fortgesetzt, kurz: sie ist in all ihrer Natürlichkeit mit Künstlichem durchsetzt und nur so ist sie menschlich.« (Waldenfels 1985: 201)
12 »Das Thema ›Heimat‹ bezieht sein Gewicht also daher, daß die Örtlichkeit mehr ist als ein Akzidenz unveräußerlicher Substanzen.« (Waldenfels 1985: 197) 13 Für Plessner ist die Künstlichkeit der menschlichen Lebensform Folge und zugleich auch Ausgleich der »konstitutiven Heimatlosigkeit« (Plessner 1975: 309). Er schreibt: »Weil dem Menschen durch seinen Existenztyp aufgezwungen ist, das Leben zu führen, welches er lebt, d.h. zu machen, was er ist – eben weil er nur ist, wenn er vollzieht – braucht er ein Komplement nichtnatürlicher, nichtgewachsener Art. Darum ist er von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich. Als exzentrisches Wesen nicht im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos, muss er ›etwas werden‹ und sich das Gleichgewicht – schaffen. Und er schafft es nur mit Hülfe der außernatürlichen Dinge, die aus seinem Schaffen entspringen, wenn die Ergebnisse dieses schöpferischen Machens ein eigenes Gewicht bekommen.« (Ebd.: 310, Hervorh. im Original)
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Anders aber als es gerade dort erscheint, wo der Verlust der Heimat beklagt oder ein Recht auf Heimat eingeklagt, ggf. auch kämpferisch verfolgt werden soll,14 handelt es sich bei den seit dem 19. Jahrhundert aufgekommenen Vorstellungen von Heimat nicht um einen seit alters her vertrauten, gleichsam aus der anthropologischen, ggf. sogar biologischen Natur des Menschen herleitbaren Anspruch, auch wenn dies immer einmal wieder versucht wurde.15 Vielmehr, und hier sind sich nahezu alle Autoren der letzten Jahrzehnte einig,16 konstituieren sich Gegenstand und Assoziationsraum von Heimat aus einem spezifischen, die Entwicklungen zur Gesellschaft der Moderne seit dem 18. Jahrhundert bestimmenden Reaktionsmuster, das Hermann Bausinger zunächst mit der Verlustgeschichte von rechtlicher Zugehörigkeit im Zuge des Untergangs der alten Ständeordnung durch Industrialisierung und Verbürgerlichung in Verbindung bringt, wohl wissend dass auch in der »alten Zeit« der Besitz von Heimat keineswegs allen gegeben war bzw. eingeräumt wurde/ werden konnte: »Das Heimatrecht entsprach den Prinzipien einer stationären
14 Der Defensiv-Charakter der Heimatvorstellung, der gerade aus einer vermeintlichen Defensive dann auch seine offensive, ja kämpferische und ggf. aggressive Dimension gewinnt bzw. legitimiert, scheint nun tatsächlich eine spezifisch »deutsche« Tönung des Begriffs auszumachen (vgl. Bausinger 1983: 213f.). Freilich gibt es diese auch im polnischen »ojczyzna«; wodurch auch auf eine vielleicht beide Gesellschaften gleichermaßen betreffende Unsicherheit hinsichtlich ihres lokalen, sozialen und kulturellen Selbstverständnisses verwiesen werden kann (vgl. Orłowski 1992; Traba 2003). 15 So schreibt etwa der Verhaltensforscher Paul Leyhausen: »Eine der uralten Eigenheiten des Menschen ist, daß er eigentlich nur für das soziale Leben in einer kleinen Gruppe taugt, in der jedes Mitglied jedes andere persönlich kennt, von Zeit zu Zeit, jedoch nicht zu oft, das Bedürfnis nach größeren geselligen Zusammenkünften hat, sehr oft den Wunsch verspürt, allein zu sein und auf ständige soziale Überforderung mit allen möglichen Mangelerlebnissen, Verklemmungen, Verdrängungen, Aggressionen und Ängsten reagiert« (Leyhausen 1968: 165). Siehe auch die folgende Diagnose zur Zukunftsentwicklung in bemerkenswert zeitgenössischer landwirtschaftlicher Terminologie: »Unsere Zivilisation marschiert mit fliegenden Fahnen von der Lege-Batterie über die Mastkalbbox unaufhaltsam zum Normal-Pflichtverbrauchersilo.« (Ebd.: 163). 16 Siehe die in Anm. 9 aufgeführte Literatur; kennzeichnend ist auch, dass die ENZYKLOPÄDIE DER
NEUZEIT statt eines Eintrags zu Heimat auf die Stichworte »Regionalismus«
und »Vaterland« verweist, die zum einen in ihrer Reichweite die Epoche im Ganzen übergreifen, zum anderen entsprechende Entwicklungen und Vorstellungen über den deutschsprachigen Rahmen hinaus ansprechen können und zum dritten statt einer wie immer imaginär oder ideologisch zu füllenden Vorstellungswelt, konkretere soziokulturelle und soziopolitische Raumvorstellungen und Handlungsmodelle in den Vordergrund stellen (vgl. Jaeger 2007: 345).
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Gesellschaft, an deren Rändern allerdings die Zahl der Heimatlosen, der Vagabunden und Bettelleute, ständig wuchs.« (Bausinger 1983: 212)17 Die symbolische und empfindsame Aufladung des Heimatbegriffs findet dann allerdings erst nach 1800 zunächst in intellektuellen und bürgerlichen Kreisen statt, wobei romantische Entgrenzungs- und Transzendenzvorstellungen ebenso eine Rolle spielen wie die im Zuge der »Befreiungskriege« sich vollziehende nationale Aufladung territorialer Räume18 und darauf gründend volksbezogener, dann auch völkischer Identität.19 Auf dem Weg zu einer städtisch-industriegesellschaftlich geprägten Moderne wird »Heimat«, auch im Kontext der zeitgleich sich zunehmend zeigenden Mobilität und weiterer vor allem auch als Verwerfungen wahrgenommener Umbruchserscheinungen, im Gegenzug als Flucht und Imaginationsraum aufgeladen.
III. In den von Hermann Bausinger beschriebenen Schritten vollzieht sich die Codierung von Heimat zunächst vom Kompensationsraum bürgerlicher Gesellschaftsund Arbeitsordnungen20 zu ihrer Ausgestaltung als »Besänftigungslandschaft« und »Beschwichtigungsangebot« im Blick auf die sich verschärfenden sozialen Konflikte im Zuge weitergehender sozialer Differenzierung einerseits und einer kulturellen und politischen Ausformung einer spezifisch bürgerlichen Kultur (Tenbruck 1986) andererseits. Damit einhergehender wachsender sozialer und ökonomischer Leistungsdruck, auch wachsende Unsicherheiten im Zuge der Vermarktlichung aller sozialen Verhältnisse (Polanyi 1978: 87-112) schaffen dann einen Rahmen, innerhalb dessen Heimat-Vorstellungen und -erfahrungen zu einem so auch politisch umkämpften Handlungsraum werden, der schließlich um 1900 in der Heimat-
17 Es wäre nachzutragen, dass dies kein einliniger Übergang aus einer vermeintlich für die alte Zeit, die traditionellen Gesellschaften charakteristischen Sesshaftigkeit in die Mobilität und Unruhe der Moderne gewesen ist; vielmehr müssen für das vormoderne Europa ebenso wie für andere Kontinente erhebliche Mobilitäts- und Unruheraten als stetige Faktoren historischer Entwicklungen und alltäglicher Lebensverhältnisse in Rechnung gestellt werden, was freilich einer romantisierenden Sicht der Ordnungen in den Heimaten der guten alten Zeit durchaus zuwiderläuft. Für das Europa der frühen Neuzeit vgl. (Febvre 1989: 31, 51); für die anschließenden Jahrhunderte (Bade 2002: 17-58). 18 Für die Kriegsgeborenheit der neueren Heimatkonzepte, vor allem ihrer emotionalen Aufladung, vgl. Kittler (1986). 19 Vgl. dazu Johnston (1990); Brubaker (1994). 20 »Heimat als ausgeglichene, schöne Spazierwelt.« (Bausinger 1983: 212)
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schutzbewegung und in den nationalistischen Diskursen vor und nach dem Ersten Weltkrieg mündet (Bausinger 1983: 212-214; Gebhard/Geisler/Schröter 2007: 2233).21 Im Zuge dieser Entwicklungen findet der Übergang von »Heimat« von einem auf Lokalität und Unterhalt zielenden Rechtsbegriff zu einem sozio-kulturellen Vorstellungsraum zunächst als ein Prozess statt, der im Zuge eines Fortschreitens moderner Gesellschaftsverhältnisse und -vorstellungen seinerseits sowohl durch die Zuspitzung von Erwartungen und Positionen als auch zugleich durch deren Pluralisierung und (ggf. erwünschte oder gefürchtete) Relativierung von Konzepten und Normen bestimmt wird.22 Darüber hinaus verliert der Begriff in Reaktion auf die Funktionalisierung der Heimat-Konzepte für die Legimitierung von Krieg, Vertreibung und Massenmord während des Nationalsozialismus zumindest im deutschsprachigen Raum seine generelle Deutungsmacht und normative Ausrichtung (vgl. Lipp 1986: 336f.).23 Heimat, und so ist auch noch aktuell der Stand der Dinge (vgl. z.B. Türcke 2006, Schmidt 1999, Hecht 2000, Schüle 2017), wird seit den 1970er Jahren im Wesentlichen biografisch, regional oder folkloristisch bestimmt, wobei Aspekte der individuellen und auch gruppenspezifischen Identitätsorganisation eine mehr oder weniger große Rolle spielen können. Sie wird damit zu einem Erlebnisraum24 und zunehmend auch als Bildangebot für kommerzielle Interessen25 genutzt. In elaborierterer Weise dürfte sie – so zumindest noch der Stand der Jahre um 2000 –
21 Dass und in welchem Maße sich das Aufkommen wissenschaftlicher Deutungsmodelle, namentlich durch Biologie und eine vielfach in deren Bann stehende Sozialwissenschaft, in unserem Zusammenhang aber auch durch die Beiträge einer durchaus empirisch orientierten Volkskultur-Forschung (»Deutsche Volkskunde«) auf die Modellierung ebenso wie auf die Popularisierung der Vorstellung von »umkämpfter« Heimat ausgewirkt haben, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Vgl. aber zum Rahmen Wagner (1995: 42f., 78-86); Jeggle (1978: 88-101). 22 Gebhard/Geisler/Schröter (2007: 34-38) sprechen hier von »transzendentaler Heimatlosigkeit« im Blick auf die Erfahrungen von und den Umgang mit Unordnung in den 1920er Jahren. 23 »Die zeitweilige Verabschiedung des Heimatbegriffs gehört in eine Phase der Wachstums- und Planungseuphorie« [der 1950er und 1960er Jahre, W.N.] (Bausinger 1983: 214). 24 Für die Bedeutung und die Zuordnung von Heimatvorstellungen und »Volksmusik« zu bestimmten Erlebnismilieus vgl. Schulze (1995: 150-153). 25 Entsprechende Regionalbindungen von Veranstaltungen, Biersorten und Standorten nehmen hierauf Bezug, etwa die Freiberger Bierwerbung: »Bleib wie dein Bier: natürlich, frisch, frei, bodenständig, gesellig.« [www.bleib-wie-dein-bier.de/unsere-kampagne (21.08.2017)].
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schließlich als Reflexionschance unter durchaus moderaten und unterschiedlichen Vorzeichen aufgenommen werden: »Ein Nachdenken über das Herkommen wirkt sich unter den Bedingungen der Globalität eher auf andere Weise aus: abkühlend gleichsam, mäßigend.« (Schmidt 1999: 111)
IV. Dem gegenüber scheint, darin durchaus den aktuellen Interessen an Religion und Magie, aber eben auch an Gespenstererscheinungen (vgl. z.B. Holling/Naumann/ Schlöffel 2013) und Verschwörungstheorien (vgl. z.B. Bredow/Noetzel 2009) vergleichbar, das Bedürfnis nach einer wie immer auch wieder räumlich, biografisch, familial oder kulturell bestimmten Zuordnung von Heimat offensichtlich gerade unter den Bedingungen einer sich weitergehend globalisierenden Welt gegenwärtig weithin erneut zuzunehmen.26 Zumindest lässt sich das Immer-wieder-inErscheinung-Treten, also auch das gespensterhafte Auftauchen von »Heimat«Diskursen unter den Bedingungen einer durch Freiheit und Disziplin bestimmten, und somit vornehmlich rational ausgeleuchteten Moderne (vgl. Wagner 1995: 1216, 269), ansatzweise damit begründen, dass gerade unter den Bedingungen einer fortgeschrittenen, selbstreflexiven Moderne die Labilität der Ordnungen, zumindest das Wissen um deren prekären Zustand zugenommen hat, ohne dass damit zugleich vertretbare Ersatz-Ordnungen aufgekommen bzw. die tatsächlich im 20. Jahrhundert zustande gekommenen zu rechtfertigen gewesen wären.27 Am Ende des 20. Jahrhunderts ist zudem offensichtlich geworden, dass trotz Bildungsexpansion und einer allgemeinen Anhebung des Lebensstandards zumindest in den reichsten Industriegesellschaften28 die Voraussetzungen und Kompetenzen – eine durch die Moderne grundlegend erzeugte, getragene und sie im Guten wie im Schlechten ausmachende Unruhe nicht nur auszuhalten, sondern gegebenenfalls als Chance zu nutzen und zu gestalten – weiterhin nicht nur ungleich verteilt sind, sondern dass Erfahrungen und Indikatoren sozialer Ungleichheit und Spaltung erneut zuneh-
26 So zumindest die Behauptung und entsprechend angeführte Daten von Schüle (2017: 16, 43-51, 65); vgl. auch Musall (2016: 45). 27 Für eine Kritik der diese Funktionen ebenso versprechenden und teilweise wahrnehmenden wie im Ganzen versagenden »politischen Religionen« des 20. Jahrhunderts vgl. Voegelin (1993 [1938]); etwas stärker sozialtheoretisch angelegt Wagner (1995: 110115). 28 Ulrich Beck hat im Blick auf die Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren von einem »Fahrstuhleffekt« gesprochen (vgl. Beck 1986: 124f.).
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men.29 In dem Maße wie Heimat entweder als fremd, als Verlust oder gar als »Nicht-Ort« (Augé 1994)30 erfahren wird, wächst offensichtlich erneut nicht nur der Bedarf nach ihr, sondern verschärft (und pluralisiert) sich zugleich auch das Interesse daran, wohl auch die Bereitschaft, sie kämpferisch zu restituieren, genau genommen: zu schaffen bzw. zu »erfinden«. In dieser Hinsicht lässt sich die von Hermann Bausinger auf die älteren rechtlichen Verhältnisse gemünzte Beobachtung: »Aber die ganz konkrete Heimat gehörte nicht jedem« (Bausinger 1983: 212) in erweiterter Form auch (und noch immer) auf die gegenwärtigen gruppenspezifischen und individuellen Möglichkeiten im Umgang mit Lokalität und Zugehörigkeit auf der einen, Mobilität und Unbehaustheit auf der anderen Seite, übertragen. Ja, hier hat Zygmunt Bauman bereits vor nahezu drei Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass sich unter den Bedingungen weitergehender Globalisierung, Ökonomisierung und Liberalisierung nicht nur neue Zerrissenheiten auftun, sondern dass diese entsprechend alte und neue Ungleichheiten verschärfen und damit auch die Möglichkeiten lokaler oder sozialer Zugehörigkeit aufs Neue strapazieren, ggf. auch ver- und zerstören: »Die anderen Sicherheitsnetze, selbstgeknüpft und in Eigenarbeit funktionsfähig gehalten, diese zweite Reihe von Schutzgräben wie Familie und Nachbarschaft, in die man sich zurückziehen konnte, um die vom Markt geschlagenen Wunden zu lecken, sind, wenn nicht zerrissen, so doch beträchtlich löchrig geworden.« (Baumann 1995: 12)
V. Im Blick auf »Heimat« als eine Art Klammer für die hier angesprochenen Netze der Nachbarschaft, der Familie und ggf. weitergehender Gemeinde-Erfahrungen, nicht zuletzt der Selbstbestimmung durch Selbstverortung in mitunter durchaus prekären Lebensumständen (vgl. Türcke 2006: 24f., 78), bedeutet dies auch, dass es in einer funktional und sozial differenzierten Gesellschaft, zumal unter den Bedingungen eines weitergehenden Auseinanderklaffens von Lebenswelten, Erfahrungsräumen und sozialen Lagen, dann wohl auch keine umgreifende Heimat-Vorstellung mehr gibt. Deren Universalität steht vielmehr angesichts der Umstände, dass manche Gruppen und Menschen eine weitergehende Entbettung ihrer Lebensumstände
29 Vgl. dazu im Blick auf die Bundesrepublik zu Beginn des 21. Jahrhunderts u.a. Heitmeyer (2012); Butterwegge (2015: 204-250). 30 Für die weitere Diskussion dieses Ansatzes in der europäischen Kulturanthropologie und Möglichkeiten einer empirisch-analytischen Ausrichtung vgl. Weiß (2005).
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aushalten und Rückbettungen31 aus eigenen Ressourcen ermöglichen können, andere nicht,32 durchaus in Frage. Hinzu kommt, dass Helmuth Plessners kategorischer Hinweis auf die Stabilität übergreifender Ordnungen, überwölbender Dächer oder auf Dauer ausgerichteter Lebensmodelle – »Von Überwölbungen ist nichts zu erwarten, außer daß sie einstürzen« (Plessner 1979b: 284) – nicht erst durch die Umbruchsprozesse zur Moderne an Plausibilität gewonnen, sondern vielmehr durch diese noch einmal mehr Berechtigung erlangt hat. In Anlehnung an Peter Bergers einflussreiche Studie THE SACRED CANOPY (1967, dt. 1973) und auf der Basis der Plessnerschen Anthropologie33 hat der Konstanzer Soziologe Hans-Georg Soeffner das Bild einer »Gesellschaft ohne Baldachin« genutzt, um eine Zeitdiagnose gegenwärtiger Wissens- und Gesellschaftsverhältnisse zu umreißen, in denen das »Wissen um die in der […] ›konstitutiven Wurzellosigkeit‹ des Menschen angelegte Unsicherheit, um die Mehrdeutigkeit der eigenen Existenz und um die Labilität gesellschaftlicher Konstruktionen« den Hintergrund »für die menschliche Sehnsucht nach Ordnung« (Soeffner 2000: 13f.) bildet. Dies gilt gleichermaßen für »Gemeinschaften, Institutionen, Staatswesen, Rechts- oder Weltanschauungssysteme« (ebd.). »Sowohl der Antrieb für immer neue Ordnungsentwürfe als auch der Versuch der Wiederherstellung dessen, was nie bestanden hat – die Rückwendung zu verlorengegangenen goldenen Zeitaltern – entspringen dieser Sehnsucht.« (Ebd.: 14) Dies trifft im Rahmen der oben angesprochenen historischen und sozialen Entwicklungen auf dem Weg zur Moderne, so die hier vertretene These, auch auf ein solches kulturspezifisch codiertes Konstrukt wie »Heimat« zu, das, soll es nicht ideologisch besetzt oder sonstwie instrumentalisiert werden, in einer Gesellschaft ohne Baldachin wohl am ehesten gerade in seiner Mehrdeutigkeit und Mehrwertigkeit zum einen als Diskursfeld und zum anderen als Sonde zur Erkundung gesell-
31 Für Begrifflichkeit und Modell vgl. Giddens (1995). 32 Bauman weist darauf hin, dass die Bedingungen, unter denen nicht zuletzt Migration und Fremdheit als Erscheinungsformen der Moderne und ggf. als Erschütterung oder Bereicherung des »heimatlichen« Territoriums wahrgenommen werden, durchaus unterschiedlich sind und sich in diesen Unterschieden derzeit auch noch zuspitzen: »Es sind Menschen ohne Macht, die die Welt nicht als Abenteuerpark, sondern als Falle erfahren, die eingekerkert sind in ein Territorium, aus dem es für sie keinen Ausweg gibt, das aber andere nach Lust und Laune betreten können.« (Bauman 1995: 18). 33 Soeffner nimmt hier die zentralen Kategorien Plessners der »exzentrischen Positionalität« und der »konstitutiven Wurzellosigkeit« als Ausgangspunkte seiner Bestimmung (vgl. Soeffner 2000: 13; vgl. Plessner 31975).
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schaftlicher Stimmungslagen,34 Einstellungen und Erfahrungen genutzt bzw. aufgefasst werden kann. Als Ergebnis und Konstrukt einer reflexiven Moderne zeugt der Diskurs um »Heimat« wie auch um andere Ordnungs- und Allokationsmodelle sowohl von einer nicht stillbaren Sehnsucht nach Stillgestelltheit und festem Überbau sowie von deren anthropologischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen und stellt zugleich als ein Entwurf »ohne Baldachin« jene sozialen Prozesse und auch gegenläufige Bestrebungen vor Augen, die gerade die Festschreibung eines jeden Modells unmöglich, ja im Sinne eines Festhaltens an den Konditionen der Moderne noch nicht einmal wünschbar machen. Bernhard Waldenfels benennt diesen Punkt sehr bestimmt: »Heimat ist ›worin noch niemand war‹, ich füge hinzu: wo auch niemand sein wird; denn eine heimische Welt, die alle Fremdheit abstreifen würde, wäre keine Lebenswelt mehr, sondern ein Mausoleum.« (Waldenfels 1985: 210)
VI. Zu den Meilensteinen der deutschen Volkskunde, auch auf dem Wege ihrer Umwandlung von einer ideologisch besetzten Volkstumskunde hin zu einer empirisch fundierten Erforschung der Alltagskulturen in einer modernen, d. h. vor allem auf Dynamik und Vielfalt hin angelegten Gesellschaft, gehört Hermann Bausingers erstmals 1961 erschienene Studie VOLKSKULTUR IN DER TECHNISCHEN WELT. Sie geht pointiert darauf aus, nun gerade nicht die noch vorhandenen Überbleibsel früherer, in der Regel ländlich ausgerichteter Bräuche, Kochrezepte und Gegen-
34 In welchem Maße sich die Erkundung einer Stimmungslage allerdings auch zum Aufrühren eines Stimmungsbreis nutzen lässt bzw. entwickeln kann, lässt sich eindrücklich anhand von Schüles Buch HEIMAT. EIN PHANTOMSCHMERZ zeigen, das mit großer Emphase bspw. zur Frage nationaler Orientierung Plattheiten wie diese vorträgt: »Ob Konstruktion, Vorstellung oder Erfindung: Die Frage nach Henne und Ei bleibt die entscheidende.« (Schüle 2017: 109) Weitere Beispiele dieser Art lassen sich mühelos zusammenstellen. Entsprechend symptomatisch erscheint der aktuelle Erfolg von Schüles Buch, das von der Fülle der mit dem Thema verbundenen Erwartungen und Irritationen ebenso lebt wie von der Unfähigkeit des Verfassers (vielleicht auch dem Thema geschuldet?), historische und soziologische Befunde klarer zu strukturieren, unterschiedliche Diskurse und Themenfelder zu differenzieren und nicht alles mit allem durcheinander zu rühren (von der Konsumkritik über Politikverdrossenheit bis zum Umweltschutz und zur »Flüchtlingskrise«, alles gesehen aus der Perspektive der Kulturkritik und »irgendwie« auch mit Heimat verbunden).
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stände als Reste vergangener Zeiten zu verstehen oder gar gegen den Geist der Zeit zu retten, sondern zielt vielmehr darauf, gerade die Wertschätzung dieser Objekte, nicht zuletzt den von ihnen ausgehenden Glanz, als eine spezifische Leistung der Moderne hervorzuheben. Ähnlich wie Schillers Begriff des Naiven, das sich nicht als Zustand längst vergangener Zeiten bestimmen lässt, sondern eine Konstruktionsleistung der Gegenwart darstellt – in den Worten Peter Szondis (1978: 95): »Das Naive ist das sentimentalische!« – gewinnen auch diese Gegenstände und Verhaltensmuster ihren Wert nicht so sehr daraus, dass sie alt, ja möglicherweise uralt sind und an eine (bessere?) Welt vor unserer Zeit erinnern, sondern eben dadurch, dass sie als Produkte der Gegenwart eine Art Spiegelraum, eine Gegenwelt zu der Welt, zu den Lebensformen, bieten, in denen wir uns jetzt, das heißt hier und heute und unter den damit gegebenen Rahmenbedingungen der Jetztzeit bewegen und zu verstehen suchen. Ganz in diesem Sinne sind denn auch die Bilder, Muster und Erinnerungsstücke zu verstehen, die in der Regel aufgeboten werden, um »Heimat« anzusprechen oder auszugestalten. Auch hierbei handelt es sich um Setzungen, Bestimmungen und Markierungen, die wie alle Elemente einer Tradition nicht zuletzt aus den Zielvorgaben und Interessen, auch Strebungen und Begehren, einer Gegenwart ihre Bedeutung erhalten, die zudem dann auch noch die Besonderheit einer jeweiligen Konstruktion von Vergangenheit aus den damit verbundenen Erwartungen im Blick auf eine mögliche Zukunft hin gewinnt.35 Dementsprechend zeugen auch die Merkmale einer jeweils rekonstruktiv geschaffenen Heimat weniger von den Dingen und Gegebenheiten eines »Früher« (an sich); vielmehr zeigen sie einen Bedarfs-, Kenntnis- und Entwurfsstand »von Heute« an bzw. suchen den »Nöten« oder Ansprüchen der Gegenwart im Rückgriff auf eine passend modellierte Vergangenheit Rechnung zu tragen.36 Natürlich haben (und hatten) auch die alten Dinge ihre Moden und Konjunkturen. Falsch wäre es nun allerdings anzunehmen, wozu der gegenwärtige vor allem in Medien und Politik, nicht zuletzt in den Unternehmensberatungen und deren Subunternehmen vertretene Glaube an eine unbedingte Markt-, Machbarkeits- und Kampagnenideologie37 allerdings einlädt, dass alle Überzeugungen, Wertvorstel-
35 Für die hier angesprochenen temporalen Verschlingungen im Umgang mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vgl. Kosellek (1979a und 1979b). 36 Beispiele hierzu finden sich – aus dem engeren Bereich der Volkskultur/Europäischen Kulturanthropologie genommen und in diesem Sinne auch für Heimat-Diskurse instruktiv – u. a bei Assion (1986). 37 Für aktuelle Tendenzen einer Auflösung der Gesellschaft in Marktteilnehmer vgl. Nachtwey (2016: 89-110); Wagner (1995: 264-278); zu Kommerzialisierung von Heimat
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lungen, Handlungsmuster und Gegenstände des Handelns und der Wertschätzung einfach »hergestellt« und dann an den Mann oder die Frau gebracht werden, bzw. ihnen auch unter den Händen wieder entwendet, umdefiniert, neu gezaubert oder verlost werden könnten. Vielmehr scheint es so zu sein, und dies führt dann auch das Thema »Heimat« wieder näher an die Diskurse und Verhältnisse der Gegenwart und begründet seine Konjunkturen, dass Menschen nur begrenzt ›programmierbar‹ und auch nur ansatzweise ›umprogrammierbar‹ sind. Lebenszeit und Institutionenzeit, Gesellschaftszeit und Eigenzeit (vgl. Nowak 1989: 47-76) überlagern sich nur teilweise und bilden jeweils eigensinnige und fragmentierte, für einzelne Menschen und Gruppen freilich immer wieder auch unverzichtbare Bezugsmuster aus (ebd.: 105), sodass Menschen sich gerade wegen ihrer Unsicherheit und wegen der Vorläufigkeit ihrer Handlungsmöglichkeiten immer wieder auch an Zugehörigkeiten orientieren, wie sie sich in Vorstellungen einer territorialen Zugeordnetheit wiederfinden lassen. Diese muss nun aber nicht unbedingt, ein weit verbreitetes Missverständnis im Umgang mit Heimat,38 abgegrenzt und stabil sein, sondern kann selbst beweglich und für Veränderungen offen sein.39 Freilich um in diesem Sinne den Veränderungen der Welt, den in einer Welt der Moderne auch schneller, vielfältiger und oft unüberschaubarer aufkommenden und von den Einzelnen aus kaum steuerbaren Veränderungen gewachsen zu sein, bedürfen Akteure in diesen Zusammenhängen erst einmal eines gewissen Maßes innerer Stabilität, einer gewissen Form von Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, wie diese mit den Entwürfen einer gelingenden bürgerlichen Individuation in den Bildungsvorstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts vor Augen gestellt wurden (vgl. Bollenbeck 1994: 221-225). Angesichts steigender, beschleunigter, unüberschaubar gewordener und auch wechselnder Anforderungen an die Vermögen der Einzelnen führen die Entwicklungen der Moderne allerdings auch verstärkt zu Deterritorialisierungs- und auch Dequalifizierungserfahrungen, die zum einen Aggressionen und Verwerfungen aller Art (vgl. Bauman 1995: 18f.; Menke/ Rebentisch 2010) mit sich bringen, während sie zum anderen gesteigerte Offenheit und Lernfähigkeit, in einem erweiterten und reflektierten Sinne also »Bildung« (Spivak 2013), auch »politische Bildung« (Krockow 1983), erfordern.
Schmidt (1999: 81-86); zum Verhältnis von Überflüssigkeit und Heimatlosigkeit Bauman (2005: 22). 38 Vgl. dazu die umständlich elegischen, gleichsam meditativ angelegten Rahmentexte bei Schüle (2017: 11f. und 248-250). 39 Exemplarisch und instruktiv hat dies Vilém Flusser beschrieben, wenn er von Heimat als einem Wohnmobil spricht (vgl. Flusser 1987, 1994a und 1994b).
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VII. Deshalb lässt sich »Heimat« im Rahmen einer solchen Skizze der Belastungen und der Chancen eines Lebens unter den Bedingungen fortgeschrittener und fortschreitender Moderne nicht nur als Bezeichnung eines Ortes oder Programms verstehen, sondern bietet sich als ein Ort der Aushandlung, als Diskursfeld (vgl. Schiffauer 1997: 169) an. Auch wenn der Begriff und das damit angesprochene Bedeutungsfeld sich als vermeintlich »uralt«, ja in gewissem Sinn als anthropologisch fundierte Konstante darstellen und mitunter verstehen lassen möchte, gewinnt »Heimat« doch ihre spezifische Bedeutung als Leitvorstellung erst in der Moderne, das heißt im Bezug auf eben die Kräfte, denen gegenüber sie sich als Bezugspunkt und – ggf. auch – als Recht behaupten muss und denen sie zugleich ihre besondere Form und auch ihre Bedeutung verdankt. »Sozialität«, so hat es der Soziologe Wolfgang Eßbach im Blick auf das Hervorgehen der Paradoxien der Moderne aus den Entwicklungen des 19. Jahrhunderts eben hin zur Moderne des 20. Jahrhunderts beschrieben, »wird nun als beides erfahren: als Zusammenhang von Menschen und als Dunkelfeld, aus dem unberechenbare Kräfte hervortreten: […] Kräfte, die aus dem Zusammenwirken von Individuen herrühren, bedrohen das Zusammenwirken von Individuen.« (Eßbach 1996: 274) Dementsprechend muss das 19. Jahrhundert auch als der Zeitraum, als die Epoche gesehen werden, in der die Suche nach Heimat und der Anspruch auf Heimat – auch das Bestreben eine konkrete Heimat zu finden, ggf. zu haben und u.U. dann auch zu verteidigen, in der Folge auch anderen die Heimat zugunsten der eigenen Bestrebungen zu nehmen – als historische, gesellschaftliche und politische Aufgabe erscheinen konnten.40 Zugleich konstituierte sich in dieser Zeit Heimat auch als ein Handlungsfeld, auf dem sich zumal im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und v.a. in politischer Umsetzung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterschiedliche ideologische und kulturell codierte, dann auch explizit politisierte Konzepte (vgl. Krockow 1989) des Heimatverständnisses ausbilden und verbreiten konnten.41 In dieser Hinsicht stellt die Konjunktur der Heimatvorstellungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert weniger eine Voraussetzung als vielmehr ein Korrelat zu den verschiedenen nationalstaatlichen und nationalistischen Bestrebungen in Europa (und auch in Übersee) dar. Diese waren ja ebenfalls v.a. darauf ausgerichtet, Individuen und sozialen Gruppen angesichts unabsehbarer Veränderungen (hinsichtlich des Übergangs von einer an eher festen lokalen Zuord-
40 Vgl. dazu Bausinger (1983: 213) und die dort genannte weiterführende Literatur. 41 Vgl. dazu die entsprechenden Beiträge zu »Politik« und »Heimatschutz« in Weigand (1997).
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nungen orientierten landwirtschaftlichen zu einer auf Massenmobilität und Fluktuation hin angelegten und auch basierenden Industrie- und Arbeitsgesellschaft) einen Ort innerhalb eines Rahmens zuzuweisen, der ihnen zugleich Sicherheit, Rechte und Wohlergehen ermöglichen sollte. Tatsächlich, so ließe sich rückblickend auf diese Entwicklungen sagen, besteht/ bestand ein Großteil nationalstaatlicher, v.a. auch nationalistischer Bestrebungen sogar darin, eine Art Transformationsprozess anzustoßen bzw. zu fördern, innerhalb dessen vorpolitische und subpolitische Formen der Vergemeinschaftung – etwa familiale und kommunale Verkehrsformen, Werte-Vorräte und Handlungsmuster – auf die Ebene nationalstaatlich orientierter Politik übertragen werden konnten. Entsprechend spielten imaginierte, am Beispiel der Familie und des Dorfes, mitunter auch der Kleinstadt, gewonnene Vorstellungen von Gemeinschaften (vgl. Anderson 1988),42 insbesondere aber auch deren Rückprojektion in ferne Vergangenheiten (bspw.: die altgermanischen Wälder) in nationalen Ideologien und Programmen seit dem 19. Jahrhundert eine große Rolle, nicht zuletzt etwa auch die Fiktion der für die Zuordnung zur Nation in Deutschland, aber auch in Polen noch immer gleichermaßen maßgebliche Abstammungsgemeinschaft, die gerne in familialer, ländlicher Prägung vorgestellt wurde. Und so wurden auch Familie, Verwandtschaft, nachbarschaftliche Nahbereiche und lokale Arbeits- und Gemeindeformen über diese umgreifenden Heimatvorstellungen bereits an die Sphäre des Politischen herangeführt.
VIII. Bietet so das Konzept der Heimat auf der einen Seite eine Art von Stoff und Reservoir von Gefühlslagen und Vorstellungen, aus dem sich im und seit dem 19. Jahrhundert die Vorstellung »nationaler« Gemeinschaft speisen konnte (vgl. Stavenhagen 1948), so stellt Heimat doch zugleich auch eine Art Widerlager und Gegenwelt zu Nationen und anderen, vor allem durch Abstraktion zustande gekommenen Vorstellungen von Großgruppenverbänden dar (vgl. Lipp 1986 u. 1997). In dieser Sichtweise erscheint Heimat nicht so sehr an den modernen, zwar in der Regel auf den Nationalstaat beschränkten, gleichwohl der Tendenz nach generalisierbaren
42 Dies ist wohl auch einer der Erfolgsfaktoren des noch immer vielfach beachteten Standardwerks GEMEINSCHAFT UND GESELLSCHAFT (1887) von Ferdinand Tönnies: »In dem damals entstandenen, über mindestens ein halbes Jahrhundert hinweg sehr einflußreichen Buch von Ferdinand Tönnies […] ist der Vorbildcharakter der einfacheren ländlichen Welt offenkundig.« (Bausinger 1983: 213)
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Leit- und Integrationsmedien wie Geld und Recht, Arbeit und Bildung ausgerichtet. Vielmehr hebt diese Vorstellung die lokale Gegebenheit eines bestimmten Erfahrungsraums, die Zugehörigkeit zu einem Ort, zu den dort vorhandenen und gepflegten, natürlich auch konstruierten und rekonstruierten Interaktionsmustern und Zugehörigkeiten hervor bzw. macht sie diese auch im Blick auf Identitätssetzungen und soziale Zuordnungen zu einem zentralen Differenzkriterium. Brauchtum und Sprache (Dialekt), religiöse Riten, herkömmliche Feste und Feiern, Familienüberlieferungen und lokale Geschichten, Mentalitäten-Merkmale und regional bzw. lokal spezifizierte Habitus bieten hier ein Ensemble von Faktoren, das als eine Art Netzwerk aufgefasst, den Einzelnen und seine Gruppe, erst recht seine Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Anerkennung in einer Art von Nahbereich zu binden und zu halten verspricht. Natürlich ist dies aber auch der Raum, sind dies auch die Instrumente und Versprechen, so berichtet es die zeitgenössische kritische Heimatliteratur von Strittmatter bis Kroetz, von Marianne Hoffmann über Arnold Stadler bis zu Saša Stanišiü und Svenja Leiber, der es bewirkt oder auch ermöglicht, den Einzelnen und ganze soziale Gruppen zu fesseln und ggf. zugrunde zu richten. Bereits der Umstand, dass sie von Menschen gemacht ist, erst recht aber auch die Tatsache, dass es sich bei Heimat um eine sich im Rahmen der Moderne konstituierende Kategorie und entsprechende Vorstellungswelt handelt, macht darauf aufmerksam, dass Heimat genau genommen eben nicht – wie es im Alltagsbewusstsein zunächst als erstes und vertrautes sich einstellt – allein einen Ort bezeichnet. Die Zufälligkeit des Geborenwerdens oder des Sich-Aufhaltens an einem Ort (vgl. Waldenfels 1985: 198f.) würde ja nicht die besondere Gefühlsbesetztheit und kulturelle, mitunter auch politische Codierung des Begriffs erklären können, zumindest nicht ohne metaphysische, zumal in den nationalistischen Strebungen des 19. Jahrhunderts durchaus vorhandene zusätzliche Aufladung (vgl. Türcke 2006; Schmidt 1999). Im Alltagsverständnis von Heimat handelt es sich allerdings doch zuerst und allgemein um die Beschreibung eines Ortes unter der Perspektive, dass an ihm etwas Besonderes und zugleich Imaginäres, tatsächlich aber immer mit der Biografie der beteiligten Personen und ihren Vorstellungen Verbundenes in Erscheinung tritt. Ernst Blochs Formel: »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« (Bloch 1967: 11) kann in dieser Hinsicht als Grenzlinie und Sollgröße einer Individualität bzw. Identität verstanden werden, die ihren imaginären und zugleich »realen« Ort in jener Grenzzone hat, die seit der Romantik mit »Heimat« verbunden wird (vgl. Schmidt 1999: 90-97). Der Ort der Geburt mag dafür einen Ausgangspunkt bilden, der zugehörige, dann als Heimat anzusprechende Raum aber erscheint nicht allein in seiner geografischen Ausprägung oder seinen physikalischen Dimensionen, sondern eben, mit Ernst Cassirer (1975) zu sprechen, als mythischer und ästhetischer, also kulturell codierter Raum, und damit eben auch als Ort einer mit der
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Geburt bereits einsetzenden Erfahrung von Unvertrautheit und Nicht-Zugehörigkeit, als ein Erfahrungs- und Vorstellungsort von nachgetragenen Verlusten und imaginativ gesteigerten Erwartungen (vgl. Waldenfels 1985: 201). In dieser Hinsicht geht es bei Heimat also auch, wie bereits oben angesprochen, um die Beschreibung eines Nicht-Ortes, um die Beschäftigung mit einem Grenzraum und einer Grenzerfahrung, die über die je eigene Person und Stellung hinausgeht. Gerade dieser Umstand, dass es sich dabei auch um einen Ort der Entgrenzung und des Übergangs handelt, zumindest eben im Blick auf die Perspektiven der eigenen Biografie, also auch um den Ausgangspunkt für einen Werdegang zur eigenen Person, der immer auch einen Weg der Ent-Bindung und ggf. wahrgenommener Bindungsmöglichkeiten und erneuter Ent-Bindungen darstellt,43 macht dann auch die Ambivalenz, ja Unbestimmtheit und Gespensterhaftigkeit, auch die Diskurs- und Politisierungsfähigkeit der Heimat-Vorstellungen aus. Dass dieser Weg zum eigenen Ich-Selbst-Werden damit auch ein Weg des Sich-Aussetzens und des Risikos, des Verlusts und ggf. der Gewinne ist und dass sich »runde«, abgeschlossene Bilanzsummen hier mitunter nur ansatzweise ausmachen lassen – manchmal auch nur, wenn man sich entsprechend »schwer« verrechnet –, dürfte de facto jedem einigermaßen Erwachsenen vertraut sein.
IX. Dass die Vorstellung von Heimat darüber hinaus aber auch eine Projektionsfläche ist und einen Erfahrungsraum darstellt, innerhalb dessen die Ambivalenzen und Gefährdungen, auch Aspekte des Scheiterns und der Neukonstitution sich im jeweils eigenen Werdegang der Person zeigen, thematisieren und bearbeiten lassen, erscheint dagegen erst in einem zweiten Reflexionsschritt vertrauter. Sicherlich bleibt es auch beunruhigend. »Das Thema Heimat«, so der Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba (2016: 17), »bleibt immer in höchster Ambivalenz. Sicherheit, Aufgehobenheit, Geborgenheit enthalten immer auch die Gefahr zu kippen, Gefängnis zu sein.« Zu deutlich stehen lokale Zuordnungen und die eben daran festgezurrten Erinnerungen im Vordergrund, die doch in ihren Ansprüchen auf Festigkeit und Bestimmtheit gerade als Reaktionsformen auf die mit dem Aufwachsen ebenso wie mit dem Leben in modernen, unübersichtlichen Zusammenhängen
43 Unter den Bedingungen der Moderne korrelieren diese gegenläufigen und zugleich ineinander verschränkten Prozesse mit jenen im Anschluss an Max Weber von Anthony Giddens beschriebenen Vorgängen (realer) Entbettung und ggf. (imaginativer) Rückbettung (vgl. Giddens 1995: 33-43, 102-107).
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verbundenen zwiespältigen, unsicheren Erfahrungen und Rahmenbedingungen verstanden und in dieser Hinsicht dann auch als Kunst-Gebilde bzw. Konstrukte gesehen werden können bzw. müssen. »Die erste Heimat«, so der Philosoph Christoph Türcke (2006: 12), »ist ein Unding, ein Nicht-Ort, griechisch: utopos. Sie entsteht postum: wenn sie verloren und der Rückweg versperrt ist.« Sie ist damit aber, so bleibt festzuhalten, auch nicht nichts und sie ist damit zugleich auch nicht falsch. Vielmehr stellt sich der Impuls, Heimat zu haben und haben zu wollen, als eine sowohl mit der conditio humana verbundene als auch zugleich unter den besonderen Bedingungen der Moderne in einer bestimmten Steigerungsform, mitunter mit Absolutheitsanspruch vorgetragene und dementsprechend mit Relativierungsvorgaben zu versehende Form der Sinnorientierung von Menschen (vgl. Lipp 1997: 5154) in komplexen sozialen Verhältnissen dar. Heimat als Konzept, Programm und Diskursfeld zeigt sich so als ein spezifisches Projekt der Moderne und häufig zugleich als Reaktionsform auf einen mit der Moderne erfahrenen und mit ihr verbundenen Verlust, der in der Regel tatsächlich so nie stattgefunden hat, sondern gegenüber der lebensgeschichtlichen Entwicklung eine nachholende Fixierung darstellt. Denn erst nach dem Verlust wird das Objekt des Verlustes und damit der Verlust über die Konstitution des verlorenen Objekts erkennbar, erst im Anschluss daran auch rekursiv einhol- und bestimmbar. Dies gilt historisch, gesellschaftlich und individuell. In diesem Sinne ist, hierauf hat ebenfalls Christoph Türcke hingewiesen, jede vermeintlich erste Heimat immer schon mindestens die zweite Heimat: »Die konkrete Heimat des Kindes ist keine heile Welt, aber nichts repräsentiert heile Welt so sehr wie sie. Im Rückblick steht die erste erlebte Heimat für die allererste, die nie erlebt wurde: für den utopos der Heimat. Deshalb ist die erste erlebte Heimat eigentlich schon die zweite: ein Ersatz, ein Verweis, ein Stellvertreter.« (Türcke 2006: 30)
X. Ähnlich wie das in der VIRGINIA BILL OF RIGHTS von 1776 als von Natur aus bestehend anerkannte Streben nach Glück stellt das Bedürfnis nach Heimat im Sinne von Zugehörigkeit zu und Anerkennung an einem Ort, der zugleich unbedingt als ein sozialer Raum zu denken ist, eine offensichtlich für Menschen unverzichtbare Strebung (vgl. Waldenfels 1985: 198-201) dar und ist durchaus mit ihm verwandt. Entsprechend findet sich das Recht, in eine jeweilige Heimat zurückzukehren in der UNO-Menschenrechts-Deklaration von 1948 im gleichen Artikel 13, in dem auch die Freizügigkeit als Grundrecht anerkannt ist (vgl. Bausinger 1983: 212). Dies bedeutet freilich nicht, um Kurzschlüsse an dieser Stelle abzuwehren, die politische
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oder territoriale Zugehörigkeit eines jeweiligen Ortes bereits vorab aus der Perspektive der jeweils eigenen Heimat bestimmen oder sogar einfordern zu können. »Heimat fällt aus dem Vertragsgedanken der Politik und der Organisation des Gemeinwesens durch Institutionen heraus. Sie ist verloren, sobald sie politisch verstanden wird.« (Hüppauf 2007: 113)44 Unter den historischen Rahmenbedingungen und politisch-ideologischen Vorgaben des Heimatschutzes und »Volkstumskampfes« finden spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts auch Pogrome und sogenannte »ethnische Säuberungen« statt, wird der Anspruch auf Heimat vielfach auch als Legitimationsfigur für Massenmord genutzt (vgl. Naimark 2004: 17f.). Gerade die territoriale Entbettung durch Vertreibung von Menschen fand so im Zusammenhang und im Namen der Heimatverteidigung statt, wurde vielfach sowohl als deren Folge als auch in der Reaktion auf sie in Gang gesetzt (vgl. Hüppauf 2007). Allerdings korreliert mit dem Bedürfnis nach Heimat und Zugehörigkeit auch ein Streben nach Selbständigkeit und Freiheit, das sich in gegenwärtigen Diskursen (und so auch in eher wissenschaftlichen Untersuchungen) inzwischen als Möglichkeit einer Rede von »zweiten« und »dritten« Heimaten – in einer älteren soziologischen Unterscheidung als Möglichkeit, zwischen einer durch äußere Umstände »zugeschriebenen« (z.B. durch die Geburt oder den Wohnsitz der Familien bestimmter) und einer im Zuge des individuellen Lebens und durch seine Entscheidungen und Veränderungen »erworbenen« Heimat differenzieren zu können – thematisieren und auch reflektieren lässt.45
XI. Schließlich lassen sich für das Diskursfeld Heimat im Rahmen der bis hierhin beschriebenen Bedingungen und Erscheinungsformen des Lebens in einer Gesellschaft ohne Baldachin die folgenden vier Themen- und Handlungsfelder skizzieren:
44 Gegenteilig dazu Lipp (1997: 57-60), der dort zumindest für die Phase der »Hochmoderne« auch den Anteil institutioneller Verfasstheit und Förderung von Heimat hervorhebt. 45 So schreibt auch Türcke (2006: 77): »Zur Heimat gehört, dass ihre Grenzen ›nicht festgestellt‹ sind. Nur als ›nicht festgestellte‹ kann sie lebendige, konkrete Heimat sein, allerdings stets unter dem […] Vorbehalt, dass erlebte, konkrete Heimat streng genommen immer schon zweite Heimat ist, nämlich Ersatz, Stellvertreter einer allerersten, die selbst nie erlebt wurde und doch der Fluchtpunkt aller erlebten ist, oder, um es mit Ernst Bloch zu sagen, die ›allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war‹.«
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(1) Die Aufarbeitung lokaler, regionaler und gruppenspezifischer Vergangenheiten in ihren jeweiligen alltagsbezogenen, aber auch historischen, sozialen und übergreifenden Rahmungen. Dazu gehört die kritische Reflexion eines auf Statik, überkommene territoriale Vorstellungen und Ausgrenzung hin angelegten Heimatbegriffs selbst. Hier ist – gerade angesichts der älteren deutschen Geschichte und deren ideologischer Überformung, nicht zuletzt durch den Nationalsozialismus, in dessen langen Schatten wir uns auch heute noch (wieder?) bewegen – doch auch noch recht viel zu tun. Tatsächlich, so ist es schon 1816 in der DEUTSCHEN TURNKUNST des sogenannten ›Turnvater Jahn‹ zu lesen, beruht – nicht nur in Deutschland, aber doch hier in einem bemerkenswerten Spannungsverhältnis zu der ansonsten gerade von den Dichtern und Denkern vertretenen universalen Ausrichtung (Lessing, Kant, Goethe) – das Selbstverständnis der Deutschen und so auch ihr Heimatbegriff vom Beginn des 19. Jahrhunderts an vor allem auf der Ausgrenzung von Anderen und der Konzentration auf einen »Kampf« zur Bewahrung/ Verteidigung des eigenen (heimatlichen) Umfelds: »Alle Erziehung aber ist nichtig und eitel«, so der ›Turnvater‹, »die den Zögling in dem öden Elend wahngeschaffener Weltbürgerlichkeit als Irrwisch schweifen lässt […]. Wer wider die deutsche Sache und Sprache freventlich tut oder verächtlich handelt, mit Worten oder Werken, heimlich wie öffentlich – der soll erst ermahnt, dann gewarnt, und so er von seinem undeutschen Tun und Treiben nicht ablässt, vor jedermann vom Turnplatz verwiesen werden. Keiner darf zur Turngemeinschaft kommen, der wissentlich Verkehrer der deutschen Volkstümlichkeit ist und Ausländerei liebt, lobt, treibt oder beschönigt.« (Jahn/Eiselen 1905: 180)
Hier ist ein Ton zu hören, der tatsächlich die Sorge und Pflege, Verteidigung und Ausgestaltung von Heimat bis in die Nazi-Zeit und an manchem Stammtisch vielleicht sogar noch bis heute antreibt. Das hier anklingende Heimatkonzept, nicht zuletzt damit verbunden, dass sich vermutlich kaum ein Dorf, kaum eine Stadt in Deutschland findet, die keine Turnvater-Jahn-Straße oder Ähnliches besitzt, hat lange Zeit nicht nur begrifflich, sondern auch gefühlsmäßig die Menschen auf ein Heimatkonzept eingeschworen, in dem diese vor allem als bedroht, als Raum des Besitzes und damit auch des Ausschlusses von Nicht-Besitzenden gedient hat. Das Festhalten an einem Ort mag, neben den ideologischen Verstärkern, auch seine Bedeutung darin haben, dass Sesshaftigkeit nicht nur eine spät in der Menschheitsgeschichte zustande gekommene Lebensform darstellt, sondern auch innerhalb der Zivilisationsgeschichte – schon vor dem Anbruch der mit der Industriellen Revolution neu einsetzenden Mobilitätsprozesse – immer schon ein knappes, ebenso begehrtes wie vielen nicht zugängliches Gut dargestellt hat, sodass also Ortsgebundenheit und das bereits in der Vormoderne auch als Rechtsinstitut bekannte
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»Heimatrecht« dann doch, zumindest seit dem Einsetzen der bürgerlichen Gesellschaft, ein hohes und eben vor allem auch emotional hoch besetztes Gut darstellten; dass in nahezu allen Familien in irgendwelchen zurückliegenden Generationen plötzlich dann doch auch »fahrendes Volk« auftaucht, gehört zu den vertrautesten, nicht immer ernst genug genommenen Irritationen der Familien- und HeimatForscher. Dass es inzwischen, spätestens seit dem Siegeszug der Oral History und der Geschichtswerkstätten, in vielen Regionen, Dörfern und Städten Ansätze gibt, die sich darauf konzentrieren, eben diese »gemischten« Erfahrungen und Verhältnisse zu erkunden, zu dokumentieren und ebenso auch den heutigen vor Ort lebenden Menschen sowohl ins Bewusstsein zu rufen als auch in Richtung ihrer Gefühle und Selbstverortungen zu vermitteln, soll hier nur als Beispiel eines ebenso offenen wie reflektierten Umgangs mit neueren, zusammengesetzten Heimatvorstellungen erwähnt werden. (2) Die Öffnung des Heimatkonzepts für die Wahrnehmung und Beschäftigung mit all den Initiativen, Gruppierungen, Individuen und sozialen Verhaltensmustern, unter denen Menschen in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen es darauf anlegen, aus und in ihrer lokalen Umgebung einen für Menschen lebenswerten Ort zu machen, wobei freilich, dies muss in aller Deutlichkeit gesagt werden, das Menschenbild und die Werteordnung des Grundgesetzes die Leitlinie angeben und nicht der Ausschluss oder die Diskriminierung anderer nach vermeintlich soziobiologischen oder kulturrassistischen Gesichtspunkten. »Niemand« so lautet hier der Art. 3 (3) GG »darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.« Dies soll hier nicht zitiert werden, um zivilgesellschaftliche Initiativen, einzelne Vereine oder sonstwie in der Heimatpflege engagierte Menschen zu Staatsbeamten zu machen. Vielmehr wird damit eine Grundlage formuliert, ohne deren Berücksichtigung es für niemanden eine Heimat im Sinne einer humanen Gesellschaft geben kann. Zugleich bieten die Regelungen des Grundgesetzes tatsächlich so etwas wie einen Boden und eine Rahmung für das menschenwürdige Zusammenleben unterschiedlicher Individuen und Gruppen in einer von Pluralismus, auch Interessengegensätzen und Diversität geprägten Gesellschaft; sicherlich aber keinen Baldachin. Zu den wichtigen Impulsen und Veränderungen für die ebenfalls nach aufklärerischen Anfängen dann im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert v.a. ideologisch ausgerichtete »deutsche Volkskunde« gehört neben einer bereits während der 1960er Jahre einsetzenden teils ethnologisch, teils soziologisch ausgerichteten Neubesinnung des Faches die in diesem Zusammenhang vorgenommene Veränderung des Kulturbegriffs (vgl. Korff 1978), aus der u.a. dann auch starke Impulse für die seit den 1980er Jahren sich abzeichnende kulturwissenschaftliche Wende der
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Geisteswissenschaften erfolgten. Damit verbunden, begann nicht nur eine Zuwendung zu den wirklichen Lebensverhältnissen und alltagskulturellen Praktiken der Menschen in ihren jeweiligen lokalen und sozialen Umgebungen (vgl. Jeggle 1978), sondern auch die Öffnung für die Erscheinungen und Medien der Moderne, sodass also nun nicht nur Märchen und Holzpantinen, sondern eben auch Erscheinungen der Massenkultur, Technik und Verkehrsmittel, Freizeitmöglichkeiten und Wohnformen ins Zentrum einer in dieser Weise im Blick auf die Moderne geöffneten »Heimatkunde« gelangen konnten.46 War Heimat über lange Zeit in einem traditionellen Sinne die Erinnerung an die Vormoderne aus Sicht derjenigen, die erfolgreich und zugleich mit Unbehagen in der Moderne ihren Platz gefunden hatten,47 so wurde sie im Zuge dieser Entwicklungen zu einem Erfahrungsraum der Gegenwart, freilich – und ganz zu Recht – auch erkennbar als Schnittstelle im Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dies lässt sich inzwischen an zahlreichen Erscheinungen der materiellen Kultur48 ebenso zeigen wie an der Gestaltung von Weihnachtsmärkten, Karneval und Familienfesten, nicht zuletzt – sicherlich dem Turnvater Jahn zum Missvergnügen – auch an der Internationalisierung von Sportfesten. Dass hierbei Kommerz und Konsum, ja – horribile dictu – Kitsch und »das Fernsehen« als Erfahrungen, Intentionen und Medien der Aneignung und Reflexion von »heimatlichen« Lebenswelten in den Blick genommen werden, ohne zugleich kulturkritisch den Verfall der guten alten Zeiten (wann immer sie gewesen sein mögen) zu beklagen, Heimat also nicht mehr den Platz der Vormoderne in der Moderne einnimmt, sondern als Teil der Moderne angesehen wird, beschreibt damit auch ein Arbeitsfeld, einen Bildungsauftrag und ein Reflexionsfeld entsprechender Akteure und wissenschaftsbezogener Begleitung. (3) Heimat als Lebenswelt49, als politischer Raum und nicht zuletzt als Arbeitswelt: Hier ist in Anlehnung an die Studien des amerikanischen Soziologen Richard Sennett einiges Kritische anzumerken und vermutlich auch noch einiges Vernünfti-
46 Zur Erkundung populärer Kulturen vgl. Greverus (1987), Warneken (2006); zum Film u. a. Liptay/Marschall/Solbach (2005). 47 Vgl. dazu Berger/Berger/Kellner (1987: 42-58), Taylor (1995: 7-19), Soeffner (2000: 371-381). 48 Vgl. dazu die Kap. 4-6 in Jeggle u.a. (1986). 49 In Anlehnung an Husserl hat v.a. Bernhard Waldenfels dieses Konzept für eine weitergehende Beschäftigung und Erkundung des Alltags, der Landschaft und so auch im Blick auf »Heimat« fruchtbar gemacht; vgl. die Beiträge »Regionen der Lebenswelt« in Waldenfels (1985: 151-211).
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ge und zugleich ggf. Streitbare zu tun. Sennett zufolge hat die radikale Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse mit den dazu aufgewandten betriebswirtschaftlichen Kategorien und effizienzorientierten Beschreibungen inzwischen nahezu alle Lebensbereiche erfasst. Dazu gehören auch diejenigen, die wie die Gewährleistung staatlicher Grundfunktionen, so z.B. Bildung, Altersversorgung, Gesundheit, Öffentlichkeit und Verkehr, nicht zuletzt Nachbarschaftlichkeit, Partizipation und Bürgergesinnung, nun gerade nicht oder zumindest nicht vornehmlich nach Marktgesetzen bestimmt werden können. Auf der Seite der Individuen hat dies, wie Sennett (1998) an einer Vielzahl individueller Beispiele beschreiben kann, zu einer Strömung50 geführt, die die Menschen aus ihren Lebensverhältnissen und vor allem aus den für sie notwendigen sozialen, auch regionalen oder lokalen Zuordnungen herausgetragen hat bzw. noch herausträgt. Für Sennett spielen dabei die folgenden vier Aspekte eine zentrale Rolle, die – so wäre weiter zu diskutieren – sich im Blick auf den Bedarf an Heimat und den Charakter dessen, was Heimat aktuell und in Zukunft bedeuten kann, nachhaltig auswirken. Ihm zufolge haben Menschen (1) den Bedarf und das Bestreben, »irgendwo« dazuzugehören. Sie haben (2) den Wunsch, mehr noch es gehört zu ihrer Würde, dass sie etwas »können«, also über eine Art von »Handwerk« inklusive zugehöriger Ausbildung und Erfahrung verfügen, das sie nützlich und stolz machen kann und mit dem sie zumindest auch einen angemessenen Lebensunterhalt sichern können. Sie haben (3) den Wunsch (und auch das Recht) den Respekt der anderen zu genießen und sie haben (4) einen Wunsch, dessen Erfüllung dann auch als eine Art von Glück erscheinen kann: Dass sich nämlich der eigene Lebenslauf in einer gewissen Weise als beständige Entwicklung, als Leben in einem mehr oder weniger kohärenten Zusammenhang und in einer einigermaßen sinnvoll vertretbaren Abfolge von Erfahrungen und Entwicklungen darstellen (und erzählen) lässt, natürlich am besten in dem Sinne, dass sich auch die schlimmen Dinge51 doch noch zum Guten gewendet haben. So einfach und nachvollziehbar diese Beobachtungen Sennetts sind, so stark (und kritisch) sind die daraus folgenden Konsequenzen. Denn diese zielen darauf ab, eine Art von wertgeschätzter »Handwerklichkeit« (Sennett 2008: 321-353), die Kohärenz von Lebenszusammenhängen,52 nicht zuletzt die Erfahrung und Wertschätzung von Bürgerlichkeit und politischer Beteiligung, schließlich die Möglichkeit reziproker Beziehungen »vor Ort« und im eigenen Erlebnisraum einzufordern,
50 Sennett spricht von »drift«, einem Wegtreiben bzw. Weggetrieben werden (vgl. Sennett 1998: 37), das zugehörige Motto lautet »nichts Langfristiges« (ebd.: 25). 51 Zum Stichwort »Scheitern« vgl. Sennett (1998: 159-185) sowie Sennett (2005: 67-103). 52 Im Rahmen einer Erfahrung von »Provinzialität«, die im Sinne Elias Canettis als die Beschreibung einer unhintergehbaren Individualität in ihrer besonderen, bewohnbaren Lebensumwelt zu bestimmen ist (vgl. Canetti 1981: 290).
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wie sie – zumindest romantisch rückerinnert – in früheren Verhältnissen53 mit »Heimat« verbunden bestanden haben sollen, nunmehr aber gerade unter den Vorgaben der New Economy zerstört, zumindest in Papiergeld umgewandelt und dann in Luft aufgelöst zu werden scheinen.54 Heimat kann diesen Mangel und den möglichen Verlust nicht ersetzten; und dies kann auch kein Heimatverein. Tatsächlich aber lassen sich zumindest drei Aspekte der bei Sennett genannten vier mit Heimat verbinden und können sodann sowohl beleuchten als auch begründen, in welchem Maße und warum Heimat für Menschen auch gegenwärtig noch immer ein wichtiges Themenfeld ist und einen attraktiven Bezugsraum ausmacht, nicht zuletzt als Raum der Selbstbestimmung und auch der sozialen Partizipation und Kooperation: »Der Ort wird von der Geographie definiert, die Gemeinde beschwört die sozialen und persönlichen Dimensionen des Ortes. Ein Ort wird zu einer Gemeinde, wenn Menschen das Pronomen ›Wir‹ zu gebrauchen beginnen. So zu sprechen, setzt Bindung voraus, im Kleinen wie im Großen.« (Sennett 1998: 189) Unter dieser Vorgabe bietet die Vorstellung von Heimat dann durchaus einen Raum, um darin die Fragen der Kontinuität und Kohärenz von Lebensläufen und Ortserfahrungen, die Fragen der Anerkennung und Nützlichkeit, schließlich nicht zuletzt der Zugehörigkeit und Freiheit, auch der Nichtzugehörigkeit, und ggf. auch die Möglichkeiten reziproker Beziehungen anzusprechen und u.U. sogar zumindest ansatzweise auch gestalten zu können. Dass hier viel zu tun ist, ja sogar Politik gemacht werden muss, scheint allerdings absehbar.55 Selbstverständlich geht es dabei vornehmlich um Entwürfe für eine Gegenwart von Heimat und um Projektionen auf eine mögliche sinnvolle Zukunft hin, nicht um Rückzüge in wie immer auch imaginierte Vergangenheiten. (4) Der Umgang mit Fremden: Georg Simmel hat in seinem noch heute grundlegenden Essay EXKURS ÜBER DEN FREMDEN aus seiner großen Soziologie von 1908 die wichtige Bemerkung gemacht, dass es sich bei dem Fremden um eine Funktion der Gruppe handelt, die ihn als Fremden sowohl »macht« als auch braucht (vgl. Simmel 1968: 512), ja sich durch seine Einbeziehung als Gruppe auch konstituiert. Nicht vornehmlich als Objekt der eigenen Güte und schon gar nicht als Sündenbock
53 Eine durchaus aktuelle und instruktive Beschreibung der politischen und sozialen Funktionen lokaler Gemeinde-Verhältnisse in den Transformationsprozessen zur amerikanischen Moderne findet sich bei de Tocqueville (1985: 50-53). 54 Für eine diesbezügliche Moderne-Theorie vgl. Berman (1988). 55 In welchem Maße sich hier »Heimat« und »Gemeinde« überschneiden, ggf. auch einander im Wege stehen, kann hier nicht weiter erörtert werden; vgl. aber die diesbezüglichen Beiträge in Wehling (1978).
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oder Hassobjekt. Der Fremde ist vielmehr bereits insoweit Teil der eigenen Gruppe, so auch des Lebensumfeldes, das mit Heimat anzusprechen ist, als dass er wie die bislang schon Einheimischen an diesem Ort lebt und sich in seinem Spiegel auch die vorhandenen Lebensmöglichkeiten, diesbezüglichen Grenzen, Obsessionen und eben auch Freiheitschancen an diesem Ort und in seinen sozialen Beziehungen erkennen lassen. Nach Hermann Bausinger existiert »heute«, er schrieb dies bereits 1983, in »unseren Städten und Dörfern« ein »recht sicheres Kriterium dafür, ob Heimat immer noch als Arsenal schöner Überlieferung verstanden wird, aus dem man sich bedienen kann, oder als Idee, menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen. Dieses Kriterium ist der Umgang mit ausländischen Mitbürgern. Ein HeimatBegriff, der ihnen keinen Platz einräumt, greift zu kurz, auch wenn er sich noch so sehr mit historischen Requisiten drapiert.« (Bausinger 1983: 216) Wenn es freilich nun so ist, dass sich Heimatpflege erneut in »national« befreiten Zonen zeigt und staatliche Behörden hier nichts Richtiges machen können – weil das Geld fehlt, die Polizisten das Buch, das gerade verbrannt wurde, nicht kannten, man nicht aus dem Auto aussteigen konnte, um zu helfen, ja »zufälligerweise« gar nichts von Gewalttätigkeit, Antisemitismus und Rassenhass mitbekommen hat56 – dann wird nicht nur den »anderen« das Leben schwer, mitunter zur Hölle gemacht, sondern es werden damit zugleich die Möglichkeiten, Heimat zu erleben, eine Heimat zu haben, für alle zerstört.
XII. In der insgesamt recht euphorischen, zivilgesellschaftlichem Aufbruch und internationalen Umbrüchen gegenüber aufgeschlossenen Atmosphäre der 1990er Jahre hat der Soziologie Wolfgang Lipp dem Umgang mit lokalen Zuordnungen ebenso wie mit Identitätszuschreibungen und Heimat bezogenen Selbstverortungen einen durchaus souveränen, mitunter sogar spielerischen Charakter zugeschrieben: »Der Modus, in dem dies geschieht, hat zunehmend dabei den Zug des Spiels angenommen; Heimat wird heute, in der Spätmoderne, weithin inszeniert, sie kennt Akteure und Publika, greift zurück auf Rollen- und Sachrequisiten, auf Zeit und Ort der Handlung und spielt, was Heimat ist und heute sein kann oder soll, sich selbst und ihren Zuschauern […] mehr oder minder geglückt, mehr oder minder bündig erst vor.« (Lipp 1997: 65)
56 Eine nicht systematische Aufzählung von Vorfällen bzw. Nachrichten aus SachsenAnhalt seit 2000; aber Sachsen-Anhalt und seine Gespenster sind in dieser Hinsicht sicherlich auch »anderswo« zuhause (und anzutreffen).
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Zugleich sah Lipp in diesem natürlich auch von Märkten und Emotionen mitbestimmten Spiel dann doch auch eine gesellschaftlich wichtige Funktion. Heimatbewegung und Regionalismus seien durchaus »in der Lage, jene Verwerfungen und Brüche, die die Moderne auf erster Stufe hinterließ, kulturell wieder aufzufüllen, umzupflügen und erneut urbar zu machen. Im Rahmen und unter den Prämissen von Modernität erzeugen sie gegenüber anonymen, entfremdenden Funktionsabläufen Überschaubarkeit; sie bieten Gestaltung, Selbstfindung und Verankerung im Nahraum an.« (Ebd.)
Es gehört allerdings auch zu den Erfahrungen und Bedingungen von »Heimat« in einer Welt/Moderne »ohne Baldachin«, dass diese Entwicklungslinien im Zuge eben dieser Moderne sich auch erneut verwirren, abbrechen und ggf. auf niedrigere oder vormalige, gegenläufige Pfade zurückführen können. Der z.T. bewusst gewaltorientiert auftretende »neue Ernst« im Kampf um die Heimat, der sich aktuell zumal gegen Migranten unterschiedlichsten Herkommens wendet,57 stellt damit auch die bislang sich im Fortschreiten der Moderne anbahnenden Möglichkeiten eines ebenso reflektierten und spielerischen wie auf soziale Integration und Anerkennung der jeweils anderen ausgehenden Umgangs mit Heimat in Frage. Neue (alte) Formen der Heimatverteidigung destabilisieren – selbst ohne vertrauenerweckenden Baldachin – damit eine Welt und ihre unterschiedlichen Lebensmodelle. Diese haben unter den Bedingungen andauernder Moderne allerdings ebenfalls keine festen Überdachungen mehr anzubieten, sondern bringen die Chance, aber auch die Last mit, sich diese aus den vorhandenen Materialen immer wieder aufs Neue zusammenbasteln58 zu müssen (und zu können).
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57 Vgl. für viele Borcholte (2015). 58 Entsprechend stellt die Metapher des aus den Überresten früherer Schiffbrüche zusammengebastelten Floßes eine instruktive und nützliche Beschreibung der Moderne dar (vgl. Blumenberg 1979: 74).
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Autorinnen und Autoren
Anders, Kenneth, Dr., 1969 in Naumburg/Saale geboren, Studium der Kulturwissenschaften, Soziologie und Philosophie in Leipzig und Berlin, 1999 Promotion im Fach Kulturgeschichte. Derzeit tätig als freier Journalist, Autor und Sprecher. Gründete 2004 mit Lars Fischer das »Büro für Landschaftskommunikation«. Verschiedene Initiativen zur Regional- und Landschaftsentwicklung. Zahlreiche Bühnenerfahrungen mit Produktionen im »KammerMusikTheater«. 2011 Gründung des Aufland Verlags. Zahlreiche wissenschaftliche und literarisch-essayistische Publikationen; u.a. LATTE MACCHIATO IM BUSCH. KOLUMNEN ÜBER LAND UND STADT (2011), LANDSCHAFTSKOMMUNIKATION. THESEN UND TEXTE (2012, gem. mit Lars Fischer) und DIE ANGST VOR MÜCKEN UND DAS HAUSSCHLACHTEN. KOLUMNEN UND ESSAYS ÜBER LÄNDLICHKEIT UND LANDSCHAFT (2016). Bányai Éva, Prof. Dr., geboren in Klausenburg/Cluj Napoca, studierte Ungarische Philologie in Szeged, wo sie 2008 mit einer Arbeit zur ungarischen Gegenwartsliteratur promovierte. Sie lehrt seit 1999 am Lehrstuhl für Hungarologie der Universität Bucure܈ti, den sie seit 2015 als Professorin innehat. Ihre Forschungsinteressen sind: Geokulturalismus, Raumpoetik, Andersheit/Fremdheit in der ungarischen Gegenwartsprosa. Publikationen in Auswahl: TÉRKÉPZETEK, NÉVTÉRKÉPEK, HATÁRIDENTITÁSOK [RAUMVORSTELLUNGEN, NAMENKARTEN, GRENZIDENTITÄTEN.] 2011; TEREK ÉS HATÁROK. TÉRKÉPZETEK BODOR ÁDÁM PRÓZÁJÁBAN. [RÄUME UND GRENZEN. RAUMKONZEPTE IN ÁDÁM BODORS PROSA.] 2012; FORDULAT-PRÓZA. ÁTMENETNARRATÍVÁK A KORTÁRS MAGYAR IRODALOMBAN. [WENDUNGSPROSA. NARRATIVE DES ÜBERGANGS IN DER UNGARISCHEN GEGENWARTSLITERATUR.] 2016.
Brandt, Jan, geboren 1974 in Leer (Ostfriesland), Studium der Literaturwissenschaft und Geschichte in Köln, London und Berlin, besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Lebt und arbeitet als Schriftsteller in Berlin. Sein Roman GEGEN DIE WELT (2011) wurde mit dem Nicolas-Born-Debütpreis ausgezeichnet
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und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Zuletzt erschienen: TOD IN TURIN (2015) und STADT OHNE ENGEL (2016). Bruisch, Katja, Dr., seit 2016 Assistant Professor in Environmental History am Trinity College Dublin. Von 2010 bis 2016 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut Moskau. Katja Bruisch forscht über die sozialen, ökonomischen und ökologischen Aspekte ländlicher Transformation im Russischen Reich und der Sowjetunion. Gegenwärtig untersucht sie die kulturelle Perzeption und die wirtschaftliche Erschließung von Moorlandschaften seit dem 19. Jahrhundert. Zu ihren Veröffentlichungen zählen ALS DAS DORF NOCH ZUKUNFT WAR: AGRARISMUS UND EXPERTISE ZWISCHEN ZARENREICH UND SOWJETUNION (Köln: Böhlau 2014); »The Soviet Village Revisited: Household Farming and the Changing Image of Socialism in the Late Soviet Period«, in: Cahiers du Monde Russe 57/1 (2016), S. 81-100; »Contested Modernity: A. G. Doiarenko and the Trajectories of Agricultural Expertise in Late Imperial and Soviet Russia«, in: Joris Vandendriessche/Evert Peeters/Kaat Wils (Hg.), SCIENTISTS’ EXPERTISE AS PERFORMANCE: BETWEEN STATE AND SOCIETY, 1860-1960 (London: Pickering & Chatto 2015), S. 99-114. Engelking, Anna, Prof. Dr., Ethnographin, Anthropologin, Professorin am Institut für Slawistik der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. Sie beschäftigt sich mit der Anthropologie des belarussischen Dorfs, der Geschichte der polnischen Ethnologie und der Ethnolinguistik. Feldforschungen in Belarus und der Ukraine. Zurzeit arbeitet sie zum Bild der christlich-jüdischen Beziehungen und zum Gedächtnis der Shoah in bäuerlichen Kulturen. Sie erforscht auch das wissenschaftliches Oeuvre des bedeutenden, aber vergessenen polnischen Anthropologen, Józef ObrĊbski, und ediert seine Werke. Sie ist Autorin von zwei Monografien: KLĄTWA. RZECZ O LUDOWEJ MAGII SŁOWA (2000, engl. THE CURSE. ON FOLK MAGIC OF THE WORD, 2017) und KOŁCHOħNICY. ANTROPOLOGICZNE STUDIUM TOĩSAMOĝCI WSI BIAŁORUSKIEJ PRZEŁOMU XX I XXI WIEKU (2012) sowie einigen Dutzend wissenschaftlicher Aufsätze in polnischer, belarussischer und englischer Sprache. Gumz, Alexander, geboren 1974 in Berlin. Tätig als Lyriker, außerdem als Veranstalter, Kurator und Moderator beim Texttonlabel KOOK und für das poesiefestival berlin. Herausgebertätigkeiten, Übersetzungsarbeiten, Seminare und Workshops u.a. an der Freien Universität Berlin, für die Berliner Festspiele und das Haus für Poesie. Wiener Werkstattpreis für Lyrik (2002), Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg (2012), Stipendiat der Deutschen Akademie Rom in der Casa Baldi (2013) und der Villa Aurora (2016) Publikationen u.a.: AUSRÜCKEN MIT MODELLEN.
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Gedichte (2011), VERSCHWÖRUNGSCARTOONS (2015), dichte erscheint im Herbst 2017.
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BARBAREN ERWARTEN.
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Hacker, Katharina, geboren 1967 in Frankfurt am Main. Studium der Philosophie, Geschichte und Judaistik an der Universität Freiburg. 1990 Wechsel an die Hebräische Universität Jerusalem. Lebt und arbeitet seit 1996 als freie Autorin in Berlin. 1997 debütierte sie mit TEL AVIV. EINE STADTERZÄHLUNG im Suhrkamp Verlag. Für den Roman DIE HABENICHTSE erhielt sie 2006 den Deutschen Buchpreis. Des Weiteren erschienen unter anderem: ALIX, ANTON UND DIE ANDEREN (2009), DIE ERDBEEREN VON ANTONS MUTTER (2010), EINE DORFGESCHICHTE (2011) und SKIP (2016). Hann, Chris, Prof. Dr., geboren in 1953 in Cardiff, Wales, studierte in Oxford and Cambridge (Promotion 1979 in Social Anthropology). Danach war er als Fellow, Corpus Christi College, und Lecturer in Social Anthropology an der University of Cambridge tätig. Von 1992-1999 hatte Chris Hann den Lehrstuhl für Social Anthropology an der University of Kent, Canterbury, inne. Seit 1999 ist er Direktor am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle/S. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen die frühen Monographien TÁZLÁR: A VILLAGE IN HUNGARY (Cambridge Univ. Press, 1980) und A VILLAGE WITHOUT SOLIDARITY: POLISH PEASANTS IN YEARS OF CRISIS (Yale Univ. Press, 1985). Heinz, Marcus, geboren 1987 in Eisenach (Thüringen). 2007-2015 Studium der Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig und der Waseda University Tokyo als Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Kultursoziologie der Universität Leipzig. Promotionsprojekt zu Akteuren in der ländlichen Entwicklung und der gesellschaftlichen Produktion bzw. Konstruktion ländlicher Räume, mit dem Untersuchungsschwerpunkt neue Bundesländer. Forschungsschwerpunkte: Soziologie ländlicher Räume, Raumsoziologie, Methoden rekonstruktiver Sozialforschung. Krause, Stephan, Dr. geboren in Berlin, Studium der Germanistik, Romanistik (Französisch) und Hungarologie in Berlin, Lehrtätigkeit an den Universitäten in Budapest, Pécs und Szczecin, Promotion 2008 bei Frank Hörnigk mit einer Arbeit zur Literatur Franz Fühmanns, seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), jetzt Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO). Jüngste Publikationen: »AZ ÚJRAFELHASZNÁLT ANYAG A LÉNYEG.« RICHARD WAGNER MAGYARORSZÁGI JELENLÉTE ÉS RECEPCIÓJA. [»DAS ERNEUT VERWENDETE MATERIAL IST DAS WESENTLICHE.« RICHARD WAGNERS PRÄSENZ UND REZEPTION IN UNGARN] Budapest, Kijárat 2016; »István Széchenyi vor Leipzig. Heldenstory und
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Soldatengeschwätz«, in: Das Jahr 1813. Ostmitteleuropa und Leipzig. Die Völkerschlacht als (trans)nationaler Erinnerungsort. Hg. von Marina Dmitrieva u. Lars Karl. Weimar/Köln 2016, S. 249-266. Krings, Marcel, PD Dr., Akademischer Oberrat am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg, Studium der Germanistik und Romanistik in Heidelberg und Paris, Promotion zum Dr. phil. und zum Docteur ès Lettres. Publikationen (in Auswahl): SELBSTENTWÜRFE. ZUR POETIK DES ICH BEI VALÉRY, RILKE, CELAN UND BECKETT, Tübingen 2005; (Hg.) DEUTSCH-FRANZÖSISCHE LITERATURBEZIEHUNGEN, Würzburg 2007; (Hg.) PHONO-GRAPHIEN. AKUSTISCHE WAHRNEHMUNG IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN LITERATUR VON 1800 BIS ZUR GEGENWART, Würzburg 2011; DER SCHÖNE SCHEIN. ZUR KRITIK DER LITERATURSPRACHE IN GOETHES ›LEHRJAHREN‹, FLAUBERTS ›EDUCATION SENTIMENTALE‹ UND KAFKAS ›VERSCHOLLENEM‹, Tübingen 2016. Zahlreiche Aufsätze zur deutschen Literatur des 17.-20. Jahrhunderts, insbesondere zu Kafka. Langthaler, Ernst, Prof. für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Johannes Kepler Universität Linz, 2011-2017 Leiter des Instituts für Geschichte des ländlichen Raumes in St. Pölten und Privatdozent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Studium der Geschichte (Schwerpunkt Wirtschafts- und Sozialgeschichte) an der Universität Wien (Promotion 2000, Habilitation 2010). Gastprofessor an den Universitäten Innsbruck (2010) und Wien (2010-2012). Geschäftsführender Herausgeber des JAHRBUCHS FÜR GESCHICHTE DES LÄNDLICHEN RAUMES. Arbeitsschwerpunkte: Agrar- und Ernährungsgeschichte, ländliche Gesellschafts- und Umweltgeschichte, Lokal- und Regionalgeschichte, Gedächtnis- und Historiographiegeschichte, sozial- und kulturwissenschaftliche Methodologie. Loeper, Wiebke, geboren 1972 in Berlin. Studium bei Professor Arno Fischer in Leipzig. Seit 1996 freischaffende Fotografin und Mitglied im »lux fotografenbüro berlin«. Von September 1999 bis Januar 2000 Stipendium für Fotoprojekte in den USA mit dem daraus entstandenen Projekt Butcher Boy. 2006 Stipendiatin des Villa Aurora-Programms in Los Angeles. Seit 2008 Professur für Fotografie an der Fachhochschule Potsdam. Als Künstlerin seit 2013 in der Galerie »cubus-m« in Berlin vertreten. Ludewig, Alexandra, Professorin und Institutsleiterin der School of Humanities an der University of Western Australia. Studium der Germanistik und Anglistik in Aachen, Johannesburg, München und Brisbane. Promotionen zum PhD und zum Dr. phil. an der LMU München und der University of Queensland. Habilitation zur
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Geschichte des deutschen Heimatfilmes. Monographien (in Auswahl): SCREENING NOSTALGIA. 100 YEARS OF GERMAN HEIMAT FILM, transcript 2011, ZWISCHEN KORALLENRIFF UND STACHELDRAHT. INTERNIERT AUF ROTTNEST ISLAND 1914-15, Peter Lang 2015 und BORN GERMAN. RE-BORN IN WESTERN AUSTRALIA, UWA Publishing 2016. Maier, Andreas, geboren 1967 in Bad Nauheim, Studium der Altphilologie, Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main. Seit 2005 Mitglied des PENZentrums Deutschland und seit 2015 Mitglied der Freien Akademie der Künste in Hamburg. Ausgezeichnet mit zahlreichen Literaturpreisen, u.a. AspekteLiteraturpreis (2001), Clemens-Brentano-Preis (2003), Wilhelm RaabeLiteraturpreis (2010), Hugo-Ball-Preis und Georg-Christoph-Lichtenberg-Preis (beide 2011) sowie jüngst Arno-Schmidt-Stipendium (2015/16). Buchpublikationen u.a.: WÄLDCHESTAG (2000), KIRILLOW (2005), SANSSOUCI (2009). Seit 2010 Veröffentlichung des autobiografischen Großprojekts ORTSUMGEHUNG, davon bereits erschienen: DAS ZIMMER (2010), DAS HAUS (2011), DIE STRASSE (2013), DER ORT (2015), DER KREIS (2016). Marszałek, Magdalena, Professorin für Slavische Literatur- und Kulturwissenschaft (Schwerpunkt Polonistik) an der Universität Potsdam (seit 2011). Studium in Krakau und Bochum, 2002 Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2006-2011 Juniorprofessorin an der HU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Polnische Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, polnisch-jüdische Kulturgeschichte, autobiographisches Schreiben und literarisches Zeugnis, memoriale und postmemoriale Ästhetiken in der Literatur und Kunst, Geographie und Literatur. Neuere Buchpublikationen (u.a.): GEOPOETIKEN. GEOGRAPHISCHE ENTWÜRFE IN DEN MITTEL- UND OSTEUROPÄISCHEN LITERATUREN (2010, mit S. Sasse), SEIEN WIR REALISTISCH. NEUE REALISMEN UND DOKUMENTARISMEN IN PHILOSOPHIE UND KUNST (2016, mit D. Mersch). Moser, Natalie, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Potsdam. Publikationen: DIE ERZÄHLUNG ALS BILD DER ZEIT. WILHELM RAABES NARRATIV INSZENIERTE BILDDISKURSE, Paderborn 2015 sowie diverse Aufsätze zu den Forschungsschwerpunkten Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur, Realismus-Theorien, Zeit- und Ende-Diskurse. Nell, Werner, Prof. Dr., geboren in St. Goar am Rhein, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg; Adjunct Associate Professor an der Queen’s University in Kingston (Ontario), Kanada; Vorstand des Instituts für sozialpädagogische Forschung Mainz (ism). Forschungsgebiete: Literatur in transnationalen Prozessen, europäisch-
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überseeische Literaturbeziehungen, vergleichende Regionalitätsstudien, Literatur und Gesellschaft. Neuere Publikationen: ATLAS DER FIKTIVEN ORTE (2012); ZWISCHENWELTEN. DAS RHEINLAND UM 1800 (2012, mit V. Gallé); IMAGINÄRE DÖRFER. ZUR WIEDERKEHR DES DÖRFLICHEN IN LITERATUR, FILM UND LEBENSWELT (2014, mit M. Weiland) und VOM KRITISCHEN DENKER ZUR MEDIENPROMINENZ? ZUR ROLLE VON INTELLEKTUELLEN IN LITERATUR UND GESELLSCHAFT VOR UND NACH 1989 (2015, mit C. Gansel). Portnova, Tetiana, Dr., 1981 geboren, Studium der Geschichte an der Universität Dnipropetrovs’k, 2008 Promotion, seit 2013 Dozentin der Universität Dnipropetrovs’k. 2009 Guest Research Fellow am Harvard Ukrainian Research Institute (Harvard University). Autorin von Monographien: MISTO TA MODERNIZACIJA: KATERINOSLAV U SEREDYNI XIX – NA POýATKU XX STOLITTJA (2008) [Stadt und Modernisierung. Katerinoslav in der Mitte des 19. – Anfang des 20. Jhs.] und LJUBYTY I NAVýATY: SELJANSTVO V UJAVLENNJACH UKRAȲNS’KOȲ INTELIHENCIȲ DRUHOȲ POLOVYNY XIX ST. (2016) [Lieben und lehren. Die Bauern in den Vorstellungen der ukrainischen Intelligenzija der zweiten Hälfte des 19. Jhs.]. Forschungsinteressen: intellectual history, historische Urbanistik. Rössel, Julia, Dr., seit 2017 unter dem Namen Julia van Lessen; 1983 in Koblenz geboren, Studium für Lehramt mit den Fächern Geographie und Germanistik. Promotion mit der Arbeit AUF DER SUCHE NACH DEM GUTEN LEBEN. RAUMPRODUKTIONEN DURCH ZUGEZOGENE IN DER UCKERMARK (2014). 2009 bis 2011 am Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz, seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geographischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsinteressen: Sozialgeographie, Rural Geography, Produktion von Raum, Theorien des guten Lebens. Scheffel, Annika, 1983 in Hannover geboren, tätig als Prosa- und Drehbuchautorin. Mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit einem Stipendium der Drehbuchwerkstatt München und dem Grimmelshausen-Förderpreis für ihren Debütroman BEN (2010). Neueste Buchpublikationen: BEVOR ALLES VERSCHWINDET (2013) und NELLI UND DER NEBELORT (2016). Schröder, Christoph, geboren 1973, Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie in Mainz. Derzeit wohnhaft in Frankfurt am Main. Seit 2007 Dozent für Literaturkritik im Studiengang Buch- und Medienpraxis der Goethe-Universität Frankfurt. Publiziert als freier Autor und Kritiker u.a. in der Süddeutschen Zeitung, der Zeit, der taz und im Tagesspiegel. Buchpublikationen: UNSERE STADT (2007,
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gemeinsam mit Katja Kupfer) und ICH PFEIFE (2015). Sprecher der Jury des Deutschen Buchpreises 2016. Schumacher, Katrin, Dr. phil., geboren 1974 in Ostwestfalen-Lippe. Studium in Bamberg, Antwerpen und Hamburg in den Bereichen Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft und neuere dt. Literaturwissenschaft. Lehrtätigkeiten an verschiedenen Universitäten. Tätig als Moderatorin für rbb kulturradio, als Rezensentin und Featureautorin für den WDR, NDR und Deutschlandradio Kultur. Publikationen zu Themen wie dem Phantasma der Wiedergängerin, zu den Regisseuren David Lynch und Wes Anderson, zum Autor Arthur Schnitzler, zur Gegenwartsliteratur, zu Theorien des Monströsen und der Fotografie. Seit 2009 Redakteurin des Mitteldeutschen Rundfunks. Seit 2016 Redaktionsleiterin des trimedialen Ressorts Literatur/Film/Bühne von MDR Kultur. Stanišiü, Saša, 1978 in Višegrad in Bosnien-Herzegowina geboren, lebt seit 1992 in Deutschland. Studium an der Universität Heidelberg und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Lebt und arbeitet als Schriftsteller in Hamburg. Mitglied der Freien Akademie der Künste in Hamburg und im PEN-Zentrum Deutschland. Sein Debuࡇ troman WIE DER SOLDAT DAS GRAMMOFON REPARIERT (2006) wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt. VOR DEM FEST (2014) wurde zum Spiegel-Bestseller und u.a. mit dem Alfred-Doࡇ blin-Preis sowie dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Jüngste Buchpublikation: die Erzählsammlung FALLENSTELLER (2016). Zahlreiche weitere Auszeichnungen: u.a. Publikumspreis beim IngeborgBachmann-Wettbewerb (2005), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2008), Rheingau Literatur Preis (2016) und Schubart-Literaturpreis (2017). Stockinger, Claudia, Prof. Dr., seit 2017 Professur für Neuere deutsche Literatur (19.-21. Jahrhundert) an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2002-2017 Professur für Neuere deutsche Literatur an der Georg-August-Universität Göttingen. Gründungsherausgeberin der Schriftenreihe DEUTSCHE LITERATUR. STUDIEN UND QUELLEN; Publikationen u.a.: DAS DRAMATISCHE WERK FRIEDRICH DE LA MOTTE FOUQUÉS. EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE DES ROMANTISCHEN DRAMAS, Tübingen 2000, DAS 19. JAHRHUNDERT. ZEITALTER DES REALISMUS, Berlin 2010. Forschungsschwerpunkte: Literaturgeschichte der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts, Ästhetik und Praxis populärer Serialität, Literatur- und Kulturzeitschriften des 19. Jahrhunderts, Dorfgeschichte. Uhlig, Ingo, PD Dr., Literatur- und Medienwissenschaftler. Privatdozent an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Promotion im Jahr 2005 an der Bauhaus-Universität Weimar mit einer Arbeit zu Gilles Deleuze. 2013 Habilitation an der MLU Halle-Wittenberg mit der Arbeit TRAUM UND POIESIS. PRODUKTIVE
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SCHLAFZUSTÄNDE 1641-1810 (erschienen Göttingen 2015: Wallstein). Gegenwärtig Forschungen zu agentiellen Räumen und ästhetischen Thematisierungen der Energiewende. Weiland, Marc, Dr., geboren in Lutherstadt Eisleben. Wissenschaftlicher Koordinator des Forschungsprojekts EXPERIMENTIERFELD DORF an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg; Studium der Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft und Philosophie in Halle, Veszprém und Kingston/Ontario. Forschungsschwerpunkte in den Bereichen der philosophischen und literarischen Anthropologie, der Literatur des 20. Jhs. und der Gegenwart sowie der literarischen Dörflichkeit und Ländlichkeit; Promotion mit der Arbeit MENSCH UND ERZÄHLUNG. HELMUTH PLESSNER, PAUL RICŒUR UND DIE LITERARISCHE ANTHROPOLOGIE – AM BEISPIEL VON PAUL AUSTERS NEW YORK TRILOGY; Herausgeberschaft: IMAGINÄRE DÖRFER. ZUR WIEDERKEHR DES DÖRFLICHEN IN LITERATUR, FILM UND LEBENSWELT (2014, mit. W. Nell).
Literaturwissenschaft Stephanie Bung, Jenny Schrödl (Hg.)
Phänomen Hörbuch Interdisziplinäre Perspektiven und medialer Wandel 2016, 228 S., kart., Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3438-9 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3438-3
Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.)
Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt 2016, 318 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3266-8 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3266-2
Stefan Hajduk
Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit 2016, 516 S., kart. 44,99 E (DE), 978-3-8376-3433-4 E-Book PDF: 44,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3433-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Literaturwissenschaft Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.)
Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 2015, 406 S., kart. 39,99 E (DE), 978-3-8376-3078-7 E-Book PDF: 39,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3078-1
Tanja Pröbstl
Zerstörte Sprache — gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen 2015, 300 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3179-1 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3179-5
Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7. Jahrgang, 2016, Heft 2: Transiträume 2016, 220 S., kart. 12,80 E (DE), 978-3-8376-3567-6 E-Book PDF: 12,80 E (DE), ISBN 978-3-8394-3567-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de