Von besten und zweitbesten Regeln: Platonische und aktuelle Perspektiven auf individuelles und staatliches Wohlergehen 344711276X, 9783447112765

Was kann und muss ein Staat leisten, damit es den Menschen gutgeht? Was können und müssen die Einzelnen tun, um individu

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German Pages 260 [265] Year 2019

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Inhalt
Sabine Föllinger, Evelyn Korn: Einleitung
Sektion 1: Modelle vom Menschen und die Frage
nach der Genese von Zielen
Christoph Horn: Platons Theorie des Guten und der Güter: Eine systematische Perspektive
Jörn Müller: Platon und der homo oeconomicus
Arbogast Schmitt: Selbsterhaltung oder Selbstverwirklichung? Über die unterschiedliche Suche nach einem guten Leben in den hellenistischen Philosophenschulen und bei Platon und Aristoteles
Christoph Lütge: Ordnungsethik und ihre ethischen Quellen
C. Mantzavinos: Normativität, Metaethik und Naturalismus
Sektion 2: Die historische Kontextualisierung:
Platons Staatsentwurf und historische Staaten seiner Zeit
Kai Ruffing: Reiches Hellas?
Sitta von Reden: Die Polis als Organisation der Nutzenmaximierung: athenische und platonische Modelle
Alain Bresson: Der Status der Sklaven in Platons „Gesetzen“
Sektion 3: Individuelles Verhalten und staatliche Regulierung
in Platons Politeia und Nomoi
Anna Schriefl: Sind die Erwerbstätigen in Platons Politeia tugendhaft?
Philipp Bösherz: Der ‚homo oeconomicus‘ und Anreize zuwertorientiertem Handeln
Informationen zu den Autoren
Glossar
Sachindex
Index der aus antiken Autoren und Inschriften zitierten Stellen
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Von besten und zweitbesten Regeln: Platonische und aktuelle Perspektiven auf individuelles und staatliches Wohlergehen
 344711276X, 9783447112765

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Von besten und zweitbesten Regeln Platonische und aktuelle Perspektiven auf individuelles und staatliches Wohlergehen Herausgegeben von Sabine Föllinger und Evelyn Korn

PHILIPPIKA

Altertumswissenschaftliche Abhandlungen Contributions to the Study of Ancient World Cultures 137

Harrassowitz Verlag

© 2019, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11276-5 - ISBN E-Book: 978-3-447-19903-2

PHILIPPIKA Altertumswissenschaftliche Abhandlungen Contributions to the Study of Ancient World Cultures

Herausgegeben von /Edited by Joachim Hengstl, Elizabeth Irwin, Andrea Jördens, Torsten Mattern, Robert Rollinger, Kai Ruffing, Orell Witthuhn 137

2019

Harrassowitz Verlag . Wiesbaden

© 2019, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11276-5 - ISBN E-Book: 978-3-447-19903-2

Von besten und zweitbesten Regeln Platonische und aktuelle Perspektiven auf individuelles und staatliches Wohlergehen Herausgegeben von Sabine Föllinger und Evelyn Korn

2019

Harrassowitz Verlag . Wiesbaden

© 2019, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-11276-5 - ISBN E-Book: 978-3-447-19903-2

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung. Bis Band 60: Philippika. Marburger altertumskundliche Abhandlungen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the internet at http://dnb.dnb.de.

Informationen zum Verlagsprogramm finden Sie unter http://www.harrassowitz-verlag.de © Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 1613-5628 ISBN 978-3-447-11276-5 e-ISBN 978-3-447-19903-2

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Inhalt

Sabine Föllinger, Evelyn Korn (Marburg) Einleitung .............................................................................................................................. 3

Sektion 1 Modelle vom Menschen und die Frage nach der Genese von Zielen .................................. 23 Christoph Horn (Bonn) Platons Theorie des Guten und der Güter: Eine systematische Perspektive ........................ 25 Jörn Müller (Würzburg) Platon und der homo oeconomicus ...................................................................................... 43 Arbogast Schmitt (Marburg) Selbsterhaltung oder Selbstverwirklichung? Über die unterschiedliche Suche nach einem guten Leben in den hellenistischen Philosophenschulen und bei Platon und Aristoteles  ......................................................................................................... 71 Christoph Lütge (München) Ordnungsethik und ihre ethischen Quellen  ....................................................................... 103 C. Mantzavinos (Athen) Normativität, Metaethik und Naturalismus ....................................................................... 125

Sektion 2 Die historische Kontextualisierung: Platons Staatsentwurf und historische Staaten seiner Zeit ............................................................................................................. 141 Kai Ruffing (Kassel) Reiches Hellas? ................................................................................................................. 143 Sitta von Reden (Freiburg) Die Polis als Organisation der Nutzenmaximierung: athenische und platonische Modelle  .......................................................................................................... 177 Alain Bresson (Chicago) Der Status der Sklaven in Platons „Gesetzen“................................................................... 199

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2 Sektion 3 Individuelles Verhalten und staatliche Regulierung in Platons Politeia und Nomoi  ......... 211 Anna Schriefl (Bonn) Sind die Erwerbstätigen in Platons Politeia tugendhaft? ................................................... 213 Philipp Bösherz (Marburg) Der ‚homo oeconomicus‘ und Anreize zu wertorientiertem Handeln ................................ 229

Informationen zu den Autoren ........................................................................................... 245 Glossar ............................................................................................................................... 249 Sachindex ........................................................................................................................... 252 Index der aus antiken Autoren und Inschriften zitierten Stellen ........................................ 255

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Einleitung Sabine Föllinger, Evelyn Korn

Mit dem vorliegenden Band präsentieren wir Ergebnisse einer interdisziplinären Tagung, die wir am 2.–4. März 2017 in Marburg organisierten. Die Idee zu dieser Tagung erwuchs aus unserem gemeinsamen, von Gräzistik und Mikroökonomie getragenen Projekt „Wirtschaftliches Handeln bei Platon: Eine institutionenökonomische Analyse von Platons Idealstaatsvorstellungen“. In diesem interdisziplinären Zugriff1 deuteten wir Platons ökonomische Vorstellungen aus der modernen Sicht der ‚Neuen Institutionenökonomik‘. Die Ergebnisse dieses Zugangs sind in verschiedenen Publikationen dargelegt (Föllinger 2016a; Föllinger 2016b; Föllinger/Korn 2016). Besonderes Augenmerk lag dabei auf den Staatskonzepten, die Platons Dialoge Politeia und Nomoi bieten. In ihnen skizziert Platon Voraussetzungen dafür, wie die Wertvorstellung des ‚gelungenen Lebens‘ (Eudaimonie) für Individuum und Staat bzw. Gesellschaft umgesetzt werden kann. Mit den institutionenökonomischen Analysemethoden lassen sich insbesondere für die Nomoi die zu erwartenden Wirkungen der jeweils formulierten Regelsysteme untersuchen und mit den von Platon formulierten Zielen abgleichen. Dazu ist vor allem die Interaktion zwischen Individuum und Gemeinschaft zu berücksichtigen. Die Regelungen des wirtschaftlichen Bereiches spielen dabei eine wichtige Rolle, sind aber im Zusammenhang zu sehen mit einer ausgefeilten Regulierung verschiedener Lebensbereiche. Die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft ist auch in gegenwärtigen Diskussionen aktuell. Dabei zeigen sich zwischen diesen und den in den Platonischen Dialogen vorgeführten Problematisierungen überraschende Parallelen im Hinblick auf folgende Fragen: 1. Wie entstehen Werte und Kollektivziele, an denen sich staatliches (und individuelles) Handeln ausrichtet bzw. ausrichten soll? 2. Was wird als Aufgabe staatlicher Regulierung gesehen? 3. Wie soll das Verhältnis von staatlichen Reglements und individuellem Handeln aussehen? 4. Welche Bedeutung wird dem Bereich der Wirtschaft zugemessen? Um diesen Fragen differenziert nachzugehen, ist es unseres Erachtens nötig, disziplinenübergreifend vorzugehen und historische und systematische Fragestellungen zu verbinden. Deswegen sahen wir für die Tagung folgende Perspektiven vor: – Die Interaktion von Individuum und Staat/Gesellschaft aus Platonischer Perspektive – Die Interaktion von Individuum und Staat/Gesellschaft aus historischer Perspektive (Klassisches Athen) – Die Interaktion von Individuum und Staat/Gesellschaft aus zeitgenössischer Perspektive

1 http://www.uni-marburg.de/fb10/klassphil/thyssenprojekt.

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Sabine Föllinger, Evelyn Korn

Um diese Perspektiven näher zu beleuchten, führte die Tagung Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Bereichen der Gräzistik, der Volkswirtschaftslehre, der Philosophie und der Geschichtswissenschaft zusammen und bot somit ein Forum, um ganz unterschiedliche Zugänge zu dieser Thematik zu diskutieren. Unser eigener Ausgangspunkt dabei war die oben geschilderte institutionenökonomische Sicht auf den Staatsentwurf der Platonischen Nomoi mit seinen vielfältigen, übergreifenden, aber auch bis ins kleinste Detail gehenden Gesetzen und Regelungen, die die individuellen Interessen der im (fiktiven) Staat lebenden Bürger mit dem Ziel kollektiver und individueller Eudaimonie in Übereinstimmung bringen sollen. 1 Individueller Nutzen und Kollektivziel Juli Zeh hat in ihrem Roman „Unterleuten“ eine Figur geschaffen, die Herr Schaller heißt. Dieser wohnt in dem Dorf „Unterleuten“ und macht alte Autos wieder flott, wobei er ab und zu auch nicht mehr ganz so rüstige, aber gerade noch TÜV-fähige Ersatzteile einbaut. Von ihm erhalten wir folgende Charakterisierung: Unter einem alten Golf liegend und seiner Reparaturtätigkeit nachgehend, „nahm“ er, wie es heißt, „aus dem Wassereimer, der ihm als Kühlbox diente, eine Dose Bier, öffnete sie, trank sie aus, zerdrückte sie in der Faust und warf sie auf den Haufen zu den anderen. Leergut brachte er aus Prinzip nicht zurück. Dosenpfand interessierte ihn genauso wenig wie die restlichen sinnlosen Regeln, aus denen die Welt bestand. Er konnte richtig und falsch ohne fremde Hilfe auseinanderhalten. Er tat niemandem grundlos weh und war ein Typ, der mit sich reden ließ. Ansonsten wollte er seine Ruhe. Wie jeder vernünftige Mensch.“2 Mit Herrn Schaller beschreibt der Roman einen Typ Mensch, der seinen ganz individuellen Interessen huldigt. Offensichtlich kann nicht einmal der kleine pekuniäre Vorteil des Dosenpfands ihn von seinem unökologischen und damit letztendlich gemeinschaftsschädigenden Verhalten abhalten. Aus Herrn Schallers Sicht sind Regeln überflüssig und stellen seine eigene Urteilskraft infrage. Institutionenökonomisch geschulte Leser und Leserinnen stellen sich hier die Frage: Welche Regeln müsste es geben, damit auch Herr Schaller Dosen an der Sammelstelle abgibt? Regeln mit strengeren Sanktionen als dem Verlust eines kleinen Dosenpfandes? Und wie kommt man dem Problem bei, dass er sein Verhalten als ‚vernünftig‘ betrachtet und damit offensichtlich einen Vernunftbegriff zugrundelegt, der sich an dem momentanen, ganz individuellen Wohlergehen – einfach in Ruhe gelassen zu werden! – orientiert? 2 Platons ‚Nomoi‘ und der eigennutzorientierte Mensch An der Figur von Herrn Schaller lässt sich also zeigen, inwiefern ein institutionenökonomischer Ansatz einen guten Zugang bietet, um zu begreifen, warum in Platons Spätwerk Nomoi ein komplexes Regelwerk entworfen wird.3 Denn:

2 Zeh 2016, 68. 3 Ausführlich wird die Möglichkeit und Fruchtbarkeit einer institutionenökonomischen Analyse von Platons Regelungen in den Nomoi in Föllinger 2016a und Föllinger/Korn 2016 dargestellt.

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Einleitung

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Man kann in Herrn Schaller Züge eines Typs von Menschen erkennen, den Platon in seinem Spätwerk Nomoi vor Augen hat: Seine (Herrn Schallers) Reflexion richtet sich nicht auf das, was allgemein nützlich und richtig ist. Herr Schaller demonstriert (ex negativo), dass Regeln dafür da sind, individuelles Handeln so zu steuern, dass es einem wie auch immer bestimmten übergeordneten Nutzen dient. Herrn Schallers Verhalten wirft die Frage auf: Wer bestimmt, was vernünftiges Verhalten ist? Herr Schaller selbst? Regelentwerfer müssen sich überlegen, welche Menschentypen sie mit ihren Regeln ansprechen wollen, damit die Regeln auch tatsächlich Wirkung haben. Offensichtlich schmerzt Herrn Schaller der Verlust des Dosenpfandes nicht genug. Alle diese Probleme sind Thema von Platons Dialog Nomoi. In diesem entwerfen drei Gesprächspartner – ein Athener, ein Kreter und ein Spartaner – Gesetze und andere Regeln für einen fiktiven Staat. Der Ausgangspunkt ist wie in Platons früherem und bekannterem Dialog Politeia die Frage, wie man ein „gelungenes Leben“4 (gr. eudaimonía) für den einzelnen und für den Staat, also Wohlergehen für alle, erreichen kann. Der Dialog Politeia entwirft bekanntlich ein Modell, in dem die politische Verantwortung bei einem herrschenden Stand von Philosophen liegt. Diese Philosophen sind fähig zu erkennen, was gut und richtig ist, und regieren dementsprechend die anderen. Im Unterschied dazu präsentieren die Nomoi ein Staatsmodell, das sich enger an die Realität der direkten athenischen Demokratie anlehnt: Alle Bürger partizipieren sowohl als Wähler als auch in der Rolle der Regierenden an der politischen Verantwortung. Man kann das zentrale Problem, das den vielfältigen Überlegungen und Diskussionen der Gesprächspartner unterliegt, folgendermaßen fassen: Wie können Gesetze, aber auch andere Regeln so gestaltet werden, dass die Bürger zu einem Handeln motiviert werden, das dem als gut vorausgesetzten Staatsziel des ‚gelungenen Lebens‘ dient? Dabei ist ein wichtiger Punkt, dass individuelles gelungenes Leben nicht denkbar ist ohne ein gutes Leben als Polisgemeinschaft und umgekehrt. Gute staatliche Strukturen und gutes individuelles Verhalten bedingen sich also gegenseitig. Dieser Sicht der Reziprozität der Qualität von Verfassung und Einzelgesetzen auf der einen Seite und der Qualität des einzelnen auf der anderen Seite entspricht das Ziel, eine Verfassung zu entwickeln, die auf die Förderung des Individuums ausgerichtet ist.5 Pointiert bringt dies der Athener zum Ausdruck (Nomoi VI 770e4–6): „Denn alles Derartige muß man eher auf sich nehmen, als daß man sich eine Verfassung einhandelt, die geeignet ist, die Menschen schlechter zu machen.“6 Bei ihren Überlegungen, welche Anreize Bürger eines künftigen (fiktiven) Staates zum richtigen Handeln motivieren könnten, lässt Platon seine Dialogfiguren von einer heterogenen Bürgerschaft ausgehen. Zwar macht der Weg, den der Athener vorschlägt, deutlich, dass vorausgesetzt wird, dass Menschen prinzipiell vernunftbegabt und fähig zur Einsicht sind. Aber gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass in der Realität nur bei wenigen diese 4 Das ist eine der möglichen Übersetzungen für den griechischen Begriff εὐδαιμoνíα (eudaimonía), für den es im Deutschen kein Äquivalent gibt. Da die Übersetzung „Glück“ falsche Assoziationen wecken kann, ist auch die Wiedergabe mit „Eudaimonie“ verbreitet. 5 Nomoi VI 770c7–e6. 6 ὡς πάντα τὰ τοιαῦτα ἄρ᾽ ἔσθ᾽ ὑπομενετέον πάσχοντας πρὶν ἀλλάξασθαι πολιτείαν ἣ χείρους ἀνθρώπους πέφυκε ποιεῖν. Die Übersetzungen hier und im Folgenden stammen von Schöpsdau 1994/2003/2011.

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Sabine Föllinger, Evelyn Korn

Eigenschaften voll und nachhaltig kultiviert sind und Menschen normalerweise eher darauf aus sind, Dinge zu tun, die für sie nützlich und lustvoll sind. Damit weist das in den Nomoi zugrunde gelegte Bild des ‚normalen Bürgers‘ Parallelen zum modernen Modell des homo oeconomicus auf.7 Auf dieser Basis werden Anreize überlegt, durch die die Menschen zum richtigen Handeln motiviert werden sollen. Zwei grundsätzliche Verfahrensweisen werden vorgeschlagen: Die eine besteht darin, die Bürger auf verschiedene Weise für die Werte des Staates zu gewinnen, also nicht zu zwingen. Gewonnen werden sollen sie zum einen durch eine Erziehung (paideía), die an den Werten des Staates ausgerichtet ist. Darüberhinaus sollen die Bürger kognitiv und emotional für die Gesetze und Regeln gewonnen werden8. So sollen etwa wichtige Gesetze mit Proömien versehen werden, in denen die Sinnhaftigkeit der Gesetze erklärt wird. Die Vermittlung von Einsicht ist der Königsweg, denn ein Verhalten aus Einsicht ist nachhaltig. Der beste Weg wäre es also, dass die Bürger Einsicht in die Werte und die ihnen dienenden Maßnahmen gewinnen und aus dieser Einsicht heraus handeln. 9 Aber sich auf diesen Weg zu verlassen, wäre aus folgenden Gründen riskant (Nomoi IX 874e8–875c3), wie der Athener ausführt: „Gesetze aufzustellen und nach Gesetzen zu leben ist für die Menschen unbedingt notwendig, oder sie werden sich in nichts von den allerwildesten Tieren unterscheiden. Die Ursache hierfür ist folgende: Keines Menschen Natur wird mit einer solchen Fähigkeit geboren, daß er erkennt, was den Menschen für die Verwaltung ihrer Stadt nützt, und dann, wenn er es erkannt hat, auch allzeit fähig und willens ist, das Beste zu tun. Denn erstens ist es schwierig zu erkennen, daß es der wahren Staatskunst nicht um die eigenen Interessen, sondern um das Gemeinwohl gehen muß – denn das Gemeinsame bindet die Städte zusammen, das Eigene zerreißt sie – und daß es für beide, das Gemeinwohl wie für die eigenen Interessen, von Nutzen ist, wenn es eher um das Gemeinsame als um das Eigene gut bestellt ist. Das Zweite: selbst wenn sich jemand wirklich die Erkenntnis, daß sich dies naturgemäß so verhält, in seiner Kunst gründlich angeeignet hat, er aber hernach frei von jeder Verantwortung und in eigener Machtvollkommenheit über eine Stadt herrscht, so wird er wohl nie die Kraft aufbringen, diesem Grundsatz treu zu bleiben und sein ganzes Leben hindurch vorzugsweise das Gemeinwohl in der Stadt zu fördern und das eigene Interesse erst nach dem Gemeinwohl; sondern seine sterbliche Natur wird ihn stets dazu antreiben, mehr haben zu wollen und die eigenen Interessen zu befriedigen, weil sie unvernünftigerweise vor dem Schmerz flieht und der Lust nachjagt; dem Gerechteren und Besseren wird sie dies beides vorziehen, und indem sie in sich selbst Finsternis erzeugt, wird sie am Ende sich selbst und die ganze Stadt mit lauter Übeln anfüllen.“10 7 Es geht allerdings nicht in ihm auf; vgl. dazu Föllinger 2016a, 49–62. 8 Dies ist die Rolle der peithṓ; vgl. hierzu Föllinger 2018. 9 Siehe Nomoi IX 874e7–875d5. Zur Bedeutung von Wissen und Einsicht im Platonischen Werk und vor allem für seine Staatskonzeptionen vgl. Pradeau 2010. 10 προρρητέον δή τι περὶ πάντων τῶν τοιούτων τοιόνδε, ὡς ἄρα νόμους ἀνθρώποις ἀναγκαῖον τίθεσθαι καὶ ζῆν κατὰ νόμους ἢ μηδὲν διαφέρειν τῶν πάντῃ ἀγριωτάτων θηρίων. ἡ δὲ αἰτία τούτων ἥδε, ὅτι φύσις ἀνθρώπων οὐδενὸς ἱκανὴ φύεται ὥστε γνῶναί τε τὰ συμφέροντα ἀνθρώποις εἰς πολιτείαν καὶ γνοῦσα, τὸ βέλτιστον ἀεὶ δύνασθαί τε καὶ ἐθέλειν πράττειν. γνῶναι μὲν γὰρ πρῶτον χαλεπὸν ὅτι πολιτικῇ καὶ ἀληθεῖ τέχνῃ οὐ τὸ ἴδιον ἀλλὰ τὸ κοινὸν ἀνάγκη μέλειν—τὸ μὲν γὰρ κοινὸν συνδεῖ, τὸ δὲ ἴδιον διασπᾷ τὰς πόλεις—καὶ ὅτι συμφέρει τῷ κοινῷ τε καὶ ἰδίῳ, τοῖν ἀμφοῖν, ἢν τὸ κοινὸν τιθῆται καλῶς μᾶλλον ἢ τὸ ἴδιον· δεύτερον δέ, ἐὰν ἄρα καὶ τὸ γνῶναί τις ὅτι ταῦτα οὕτω πέφυκεν λάβῃ ἱκανῶς ἐν τέχνῃ, μετὰ δὲ

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Einleitung

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Diese Passage formuliert folgende Problematik: Erstens muss man annehmen, dass die wenigsten Menschen zu wirklicher Einsicht fähig sind, sondern sich ihre Privatvernunft ‚zusammenbasteln‘, wie dies bei der Figur von Herrn Schaller in Juli Zehs Roman der Fall ist. Zweitens muss man von der Diversität menschlicher Anlagen ausgehen. 11 Drittens ist menschliches Handeln prinzipiell nicht sicher prognostizierbar, da auch bei Menschen, die eigentlich richtig handeln, damit gerechnet werden muss, dass sie durch Macht korrumpiert werden.12 Dies alles bedeutet, dass Gesetzgeber mit dem ‚worst case‘ rechnen und deshalb durch Institutionen, d. h. mit Sanktionen arbeitenden Regeln, für eine möglichst große Verlässlichkeit und Sicherheit sorgen müssen, auch wenn Sanktionen der Platonischen Ansicht zufolge unter dem Aspekt der ‚Nachhaltigkeit‘ nur der zweitbeste Weg gegenüber der Vermittlung und Gewinnung von Einsicht sind.13 3 Eine institutionenökonomische Lektüre von Platons Nomoi Der Versuch, durch Institutionen Sicherheit zu schaffen, ist der Ansatzpunkt für den interdisziplinären Zugang, das Platonische Modell aus institutionenökonomischer Perspektive zu untersuchen. Denn der Neuen Institutionenökonomik zufolge sichern Institutionen menschliche Transaktionen. Dabei versteht man unter ‚Institutionen‘ sowohl formale Regeln als auch informelle Regeln und Normen einschließlich derjenigen Maßnahmen, mit denen sie durchgesetzt werden und zu denen Sanktionen gehören. 14 Der Institutionenbegriff der Neuen Institutionenökonomik umfasst nicht nur Institutionen in Form von kodifizierten Gesetzen, sondern auch Regeln, die etwa aufgrund von Konvention gelten und dadurch durchgesetzt werden, dass ein Verstoß mit gesellschaftlicher Ächtung o. ä. geahndet wird. Dieser Umstand bildet eine hervorragende Basis, um Platons Vorstellungen zu untersuchen. Denn auch Platon nutzt in den Nomoi Institutionen auf verschiedenen Ebenen, um menschliches Handeln auf ein gemeinsames Ziel auszurichten. So wird bei Regelverstößen nicht nur mit gesetzlichen Strafen gedroht. Vielmehr sollen auch gesellschaftliche Ächtung und religiöse Sanktionen zum Zuge kommen. Diesen Institutionen, die zwar nicht schriftlich niedergelegt, aber durch Traditionen gesellschaftlich verankert sind, wird in den Nomoi große Bedeutung zuerkannt. Ihre stabilisierende Funktion wird durch die Begriffe „Band“ (δεσμός/desmós) und „Stützbalken“ (ἔρεισμα/éreisma) ausgedrückt15 – eine

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τοῦτο ἀνυπεύθυνός τε καὶ αὐτοκράτωρ ἄρξῃ πόλεως, οὐκ ἄν ποτε δύναιτο ἐμμεῖναι τούτῳ τῷ δόγματι καὶ διαβιῶναι τὸ μὲν κοινὸν ἡγούμενον τρέφων ἐν τῇ πόλει, τὸ δὲ ἴδιον ἑπόμενον τῷ κοινῷ, ἀλλ᾽ ἐπὶ πλεονεξίαν καὶ ἰδιοπραγίαν ἡ θνητὴ φύσις αὐτὸν ὁρμήσει ἀεί, φεύγουσα μὲν ἀλόγως τὴν λύπην, διώκουσα δὲ τὴν ἡδονήν, τοῦ δὲ δικαιοτέρου τε καὶ ἀμείνονος ἐπίπροσθεν ἄμφω τούτω προστήσεται, καὶ σκότος ἀπεργαζομένη ἐν αὑτῇ πάντων κακῶν ἐμπλήσει πρὸς τὸ τέλος αὑτήν τε καὶ τὴν πόλιν ὅλην. ἐπεὶ ταῦτα εἴ ποτέ τις ἀνθρώπων φύσει ἱκανὸς θείᾳ μοίρᾳ γεννηθεὶς παραλαβεῖν δυνατὸς εἴη, νόμων οὐδὲν ἂν δέοιτο τῶν ἀρξόντων ἑαυτοῦ, ἐπιστήμης γὰρ οὔτε νόμος οὔτε τάξις οὐδεμία κρείττων, οὐδὲ θέμις ἐστὶν νοῦν οὐδενὸς ὑπήκοον οὐδὲ δοῦλον ἀλλὰ πάντων ἄρχοντα εἶναι, ἐάνπερ ἀληθινὸς ἐλεύθερός τε ὄντως ᾖ κατὰ φύσιν. νῦν δὲ οὐ γάρ ἐστιν οὐδαμοῦ οὐδαμῶς, ἀλλ᾽ ἢ κατὰ βραχύ. διὸ δὴ τὸ δεύτερον αἱρετέον, τάξιν τε καὶ νόμον, ἃ δὴ τὸ μὲν ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ ὁρᾷ καὶ βλέπει, τὸ δ᾽ ἐπὶ πᾶν ἀδυνατεῖ. Nomoi III 691c–d; IX 853b–d; IX 875a. Dieses Problem wird v. a. im Politikos 294a10–b6 ausgeführt, bestimmt aber auch die Überlegungen der Gesprächspartner in den Nomoi. Vgl. hierzu Föllinger 2016a, 57f. und 68. North 1988, 211; North 1992, 4; Erlei u. a. 2007, 22–27. Nomoi VII 793a9–d5.

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Sabine Föllinger, Evelyn Korn

Metaphorik, die verblüffend der Ausdrucksweise von Douglass North ähnelt, „wirksame moralische bzw. ethische Normen einer Gesellschaft“ seien „das Bindemittel der sozialen Stabilität“16. Aber auch die Scham vor anderen und vor sich selbst, die bei einem Regelverstoß droht, kann eine Sanktion sein – eine solche besitzt Herr Schaller gerade nicht. Sie ist im Platonischen Regelsystem die wichtigste Sanktion, denn sie beruht auf der eigenen Erkenntnis. Aufschlussreich ist die Untersuchung, für welchen Bereich welche Institutionen vorgeschlagen werden. Vielfach greifen verschiedene Institutionen ineinander. So wird etwa Handwerkern bei Nichteinhaltung von Arbeitsverträgen in Aussicht gestellt, dass die für das Handwerk zuständigen Götter strafend eingreifen werden, dass die Handwerker sich in Anbetracht ihrer Berufsehre sich vor sich selbst schämen werden – und dass sie überdies mit einer saftigen Geldstrafe rechnen müssen!17 Vergleicht man die Gesetzgebung der Nomoi mit der Gesetzgebung des historischen Athen zu Platons Zeit, so kann man feststellen, dass Platon mehr Elemente gesellschaftlicher Sanktionierung vorsieht, aber auch mehr Elemente, die auf die individuelle Charakterschulung zielen und damit dem Ziel gerecht werden, Einsicht in das eigene Handeln zu bewirken. 18 Im Bereich des Handels allerdings traut man dem Erfolg von Strategien, die auf individuelle Scham oder gesellschaftliche Sanktionen setzen, nicht. Vielmehr greifen hier rigide staatliche Maßnahmen, die auf eine möglichst vollständige Trennung von wirtschaftlichem Handeln und politischer Verantwortung hinauslaufen. Dem liegt die Anschauung zugrunde, dass die Pleonexie, das ‚Mehr haben wollen‘, eine anthropologische Konstante ist.19 Deshalb muss ein Staat Vorsorge treffen, um das Risiko der Pleonexie zu vermindern bzw. zu vermeiden. Dabei ist der Ausgangspunkt nicht primär der Wunsch, Menschen moralisch zu verbessern; vielmehr ist das politische Ziel die Einheit des Staates,20 die durch soziale Ungleichheit gefährdet ist. 4 Platons Regulierungen aus moderner Sicht Die zuvor beschriebenen Ideen charakterisieren Fragestellungen, die auch in der Betrachtung moderner Gemeinwesen ihre Relevanz behalten haben und im Fokus institutionenökonomischer Analyse stehen: Wie entstehen Regeln für das Gemeinwesen und welche Möglichkeiten bestehen, eine allgemeine Verbindlichkeit dieser Regeln sicherzustellen? Grundsätzlich erscheinen beide Fragen als unabhängig voneinander – Verbindlichkeit kann grundsätzlich für alle Formen von Regeln gelten. In der institutionenökonomischen Analyse werden beide Elemente jedoch gemeinsam gedacht. Denn nicht alle Regeln sind tatsächlich so umsetzbar, dass Verbindlichkeit hergestellt werden kann. Wenn Individuen die Wahl haben, sich an geltende Regeln zu halten (oder alternativ bei Nichtbefolgung Sanktionen ausgesetzt zu sein), wird das Zusammenleben zu einer Koordinationsaufgabe zwischen den Gruppenmitgliedern. Diese Koordination kann nur gelingen, wenn es für jedes Individuum lohnend ist, sich an die 16 North 1988, 48. In der englischen Originalausgabe (North 1981, 47) heißt es: „Strong moral and ethical codes of a society is the cement of social stability which makes an economic system viable.“ Vgl. Föllinger 2016a, 97–99. 17 Vgl. Föllinger 2016a, 148–150. 18 Vgl. Föllinger 2016a, 126; Föllinger/Korn 2016. 19 Zur Pleonexie vgl. Schriefl 2013. 20 Vgl. Föllinger 2016a, 44; 129f.; 157.

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Einleitung

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Regeln zu halten – diesen Aspekt von Regeln nennen Ökonomen Implementierbarkeit. Es lässt sich zeigen, dass nicht alle Ziele durch freiwillige Koordination zu erreichen sind. Wenn den Gruppenmitgliedern diese Einschränkung klar ist, hat dies Einfluss auf die Wahl der Koordinationsaufgabe – die als Kollektivziel der Gruppe bezeichnet werden kann. Hier stellt sich zunächst die Frage, ob das Kollektivziel innerhalb der Gruppe frei wählbar ist und wie, falls ja, eine solche Auswahl zu treffen ist, damit die daraus folgenden Regeln tatsächlich implementierbar sind. Mit beiden Aspekten befassen sich die folgenden Ausführungen. Implementierbarkeit der Regeln Sowohl Platons Politeia als auch seine Nomoi formulieren als Ziel des Staates seine Einheit, die dann ein ‚gutes Leben‘ für alle ermöglicht. Ausgehend von diesen Regeln befassen sich beide Texte dann mit der Frage, wie dieses Ziel umgesetzt werden kann – er stellt damit unmittelbar die Frage nach ihrer Implementierbarkeit. Platons Ausführungen machen deutlich, dass er für seine Überlegungen sowohl ein Modell der Struktur menschlichen Handelns als auch von der Wirkung staatlicher Eingriffe hat und diese beiden Modelle in enger Verbindung zueinander sieht. Diese Verbindung lässt sich institutionenökonomisch durch sogenannte Mechanismen beschreiben. Ein Mechanismus ist dabei eine Struktur, d. h. eine Vorgabe von Regeln und Konsequenzen, die eine interaktive Entscheidungssituation für eine noch unbekannte Gruppe von Akteuren gestaltet. 21 Mit einer solchen Struktur lässt sich sehr allgemein beschreiben, wie das gemeinsame Ziel einer Gruppe durch eine Koordination individuellen Handelns erreicht werden kann. Diese Koordination erfordert dann besondere Aufmerksamkeit, wenn die Gesellschaftsmitglieder unterschiedliche oder sogar konfligierende persönliche Ziele verfolgen. Gleichwohl kann es sein, dass die Koordination für alle Mitglieder oder zumindest einen großen Teil der Gruppe einen Vorteil bringt. Die Sicherstellung der Koordination ist dann ein Kollektivziel, an dessen Durchsetzung zwar alle oder ein Großteil der Gruppe Interesse haben, das jedoch mit den individuellen Zielen im Widerstreit steht.22 Der Vorteil einer so allgemeinen Beschreibung liegt darin, dass nicht für jede einzelne Entscheidung einer Gruppe neue Absprachen getroffen werden müssen, sondern dass es eine grundsätzliche Verständigung darauf gibt, wie Entscheidungen getroffen werden. Auf diesem Weg können Entscheidungsmechanismen so gestaltet werden, dass auf Änderungen individueller Ziele, Veränderungen in der Gruppenzusammensetzung oder Änderungen äußerer Rahmenbedingungen angemessen reagiert werden kann – ohne dass diese Änderungen zum Zeitpunkt der Regelgestaltung bekannt sein müssten. Die Beschreibung eines Mechanismus, der Regelgestaltung und -umsetzung strukturiert, nimmt Platon sowohl in der Politeia als auch in den Nomoi vor. In der Politeia wird das Entscheidungsproblem durch Delegation an eine Gruppe besonders geeigneter Entscheidungsträger, der ‚Philosophenherrscher‘, gelöst. In den Nomoi werden Regelungen auf zwei Ebenen vorgenommen. Für einige Fragen sind musterhaft Regelbegründung, Regelformulie-

21 Für weitere Erläuterungen sei auf Myerson 2008 und Fudenberg/Tirole 1991 verwiesen. 22 Wie groß die Teilgruppe sein muss, damit ein Ziel dieser Teilgruppe zu einem Kollektivziel werden kann, ist eine eigene Frage der politischen Ökonomie, die hier außen vor bleiben soll.

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rung und eine Beschreibung eines Regeldurchsetzungsprozesses ausformuliert. Darüber hinaus wird mit der Idee eines lernenden Gesetzessystems und der Umsetzung durch die ‚nächtliche Versammlung‘ ein Prozess zur Entwicklung der Regeln entwickelt. Eine detaillierte Anwendung des grundsätzlichen Koordinationsmechanismus – nämlich Regeln und ihre Sanktionsbewehrung klar zu formulieren und ebenso subsidiär organisierte Instanzen mit Verantwortlichkeiten zur Durchsetzung und Weiterentwicklung der Regeln zu benennen – stellt Platon für den Bereich des wirtschaftlichen Handelns vor. Bereits zu Beginn der Politeia begründet Platon die Notwendigkeit für Handel dadurch, dass menschliche Bedürfnisse über die durch Subsistenzwirtschaft erreichbaren Konsummöglichkeiten (Nahrung, Kleidung, Obdach) hinausgehen. Verfeinerte Bedürfnisse sind nur durch Spezialisierung und Austausch mit anderen zu befriedigen.23 Dieser für das Gemeinwohl nötige Austausch birgt jedoch Risiken für die beteiligten Individuen. Um diese Gefährdungen einzudämmen, sieht Platon zahlreiche Regeln vor, die die wirtschaftliche Aktivität beschränken und so im Sinne des guten Lebens rahmen.24 Als Beispiel für eine solche Rahmung können Platons Vorschläge zur Lösung von Nachbarschaftsproblemen, etwa das Ausbringen eigener Saat auf fremdes Land (bzw. dessen Vermeidung)25 oder die Bereitstellung sauberer Wassergräben,26 genutzt werden – beides sogenannte Externalitätenprobleme. Seine Vorschläge basieren auf einer anreizorientierten Perspektive auf die Steuerung menschlichen Handelns. Daher können sie gut mit einer Marktperspektive auf die Bereitstellung von Gütern, wie sie die Mikroökonomie bietet, beschrieben werden. Zugrunde liegt die Idee, dass die Interessen verschiedener Individuen grundsätzlich innerhalb eines Austauschsystems koordiniert werden können. Sie benötigen dazu allerdings Information darüber, welche Folgen ihr Handeln für andere hat. Für Konsumgüter, z. B. Nahrungsmittel, ist eine wichtige Information die Knappheit des Gutes – die erfasst, wie aufwändig die Herstellung der gewünschten Menge und Qualität ist und wie stark das Gut nachgefragt ist. In einem marktlich organisierten Austauschsystem stellt der Preis des Gutes diese Information zur Verfügung und koordiniert so Angebot und Nachfrage. Eine erhöhte Nachfrage bei zunächst gleichbleibendem Angebot führt zu einem höheren Preis, der einerseits weitere Anbieter in den Markt zieht und andererseits den Konsumenten Knappheit signalisiert und ihnen so ermöglicht, ihre Nachfrage nach unten anzupassen. Eine Externalität oder auch ein externer Effekt liegt in einem solchen Markt dann vor, wenn der Preis des Gutes die benötigte Information zur Verhaltensanpassung nicht vollständig zur Verfügung stellt. Im Nahrungsmittelbeispiel ist das etwa dann der Fall, wenn die Kosten einiger Produktionsmittel nicht oder nur zum Teil berücksichtigt werden. So führt z. B. eine übermäßige Viehhaltung, die der Fleisch- und Milchproduktion dient, zu einer Verschmutzung von Abwasser und Luft. Solange beide Güter frei verfügbar sind, berücksichtigen die Produzentinnen und Produzenten – und in der Folge dann die über den Preis falsch informierten Konsumentinnen und Konsumenten – nicht, dass die Verschmutzung von

23 24 25 26

Politeia II 369b–372e. Z. B. Nomoi VIII 846d, XI 918a–c. Nomoi VIII 843c–d. Nomoi VIII 844a–d.

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Gewässern und Luft anderen einen Schaden verursacht und ihre Beseitigung Aufwand verursacht. Ohne Zuordnung von Verantwortlichkeiten werden diese Kosten oder der entstandene Schaden der Allgemeinheit aufgebürdet. Schutz vor dieser Vergesellschaftung privater Kosten könnte dann ein Kollektivziel der Gruppe sein. Dessen Umsetzung kann jedoch durch den Markt nicht erreicht werden. Denn der marktlich bestimmte Preis suggeriert eine zu große Verfügbarkeit von Fleisch, die zu einer überhöhten Nachfrage führt. Um die wahre Knappheit von Fleisch auszudrücken, ist daher ein steuernder Eingriff von außen notwendig, der den Produzentinnen und Produzenten die wahren Kosten der Produktion verdeutlicht. Diese geben dann die Information über den Preis an die Konsumentinnen und Konsumenten weiter; im Gleichgewicht folgt eine niedrigere Nachfrage und Produktion von Fleisch. Es stellt sich die Frage, wie eine solche Steuerung in einem dezentral organisierten System zu bewerkstelligen ist. Denn es wäre zu aufwändig, alle Fleischtransaktionen zu kontrollieren und dann eine der jeweiligen Situation angemessene Korrektur vorzunehmen. Die moderne Lösung ist, den fehlerhaften Preis durch Einfluss von außen informativer zu machen: Im Beispiel der Fleisch- oder Milchproduktion könnte dies sein, eine Steuer auf unerwünschtes oder eine Subvention für erwünschtes Verhalten auszuloben. Das bedeutet für die Milchviehhaltung, dass es eine Subvention dafür geben könnte, wenn mit der Produktion eines Liters Milch weniger Wasser oder andere Ressourcen verbraucht würden. 27 Beide Vorgehen erfordern ein Modell von Preisbildungsprozessen und deren Wirkung auf individuelles Verhalten, auf das Platon in seiner Gedankenwelt nicht zurückgreifen konnte. Gleichwohl hat er die Existenz von Externalitäten und ihre Konsequenzen für das Gemeinwesen erkannt und versucht, Regeln einzuführen, die das Auftreten von Externalitäten eindämmen. Platons Lösungsvorschläge sowohl für das zuvor angesprochene Saatgutproblem als auch für die Sauberhaltung von Wassergräben sind den von Ökonomen der Moderne vorgeschlagenen Lösungen durchaus ähnlich. 28 Für alle Koordinationsfragen benennt er ein dreischrittiges Vorgehen: Zunächst wird das erwünschte Verhalten benannt und – und hier weicht das Platonische vom modernen Vorgehen ab – eine Motivation für die Bürgerinnen und Bürger gegeben, die eine Einsicht bewirken soll, dass das erwünschte Verhalten tatsächlich das für Individuum und Staat beste Verhalten ist. Dann benennt Platon Sanktionen für das Abwei-

27 Die Verfahren werden in ökonomischer Perspektive allerdings schon als ,alt‘ angesehen, weil sie aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts stammen, Die Konzepte zur Besteuerung und Subventionierung externer Effekte gehen auf Pigou 1929 zurück. Coase 1960 hat sich mit der Frage befasst, wie tief eine regulierende Instanz in die Gestaltung der Lösung eingebunden sein muss. Er konnte zeigen, dass dies überhaupt nicht nötig ist, wenn das erwünschte Verhalten klar kommuniziert und mit Rechten versehen ist. Für das Milchbeispiel bedeutet dies, dass zu klären ist, ob Bauern ein Recht darauf haben, den Kuhdung in das Abwasser zu leiten und so eine Schadstoffanreicherung zu verursachen, oder ob die Nachbarn ein Recht auf sauberes Trinkwasser haben. In beiden Fällen mag die Lösung des Konflikts in der Beschränkung der Anzahl der Kühe pro Hektar Land liegen (was ggf. die Kosten der Milchproduktion erhöht); Coase hat gezeigt, dass die Regelung der Ausgangssituation einen Einfluss darauf hat, wer diesen Kostenzuwachs bezahlt, nicht aber auf die Frage, ob die Beschränkung eine gute Lösung ist. 28 Allgemeine Ausführungen zur Anwendung der Neuen Institutionenökonomik auf die Platonischen Überlegungen und eine weitere Ausführung des Beispiels der Externalität gibt der Aufsatz von Föllinger/Korn 2016.

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chen vom erwünschten Verhalten. Schließlich beschreibt er, wie diese Sanktionen durchzusetzen sind; dazu gehört die Benennung der Verantwortlichkeiten in der Kontrolle und ein Verfahren zur Umsetzung. Dieser dreischrittige Aufbau wird auch in der modernen Institutionenökonomik genutzt, um optimale Mechanismen zu finden. Bemerkenswert ist hierbei auch, dass die Moderne Anleihen bei Platon für ihre Begrifflichkeit macht. So werden die gefundenen Mechanismen häufig als „zweitbeste Lösungen“29 bezeichnet, weil in einer Situation, in der die handelnden Individuen der Koordinationsinstanz nicht in allen Details bekannt sind, eine vollständige Ausrichtung des individuellen Handelns auf das Kollektivziel nicht erreichbar ist. Ebenfalls gemeinsam ist den vorgeschlagenen Ansätzen, dass sie keine Vorgaben machen, wie eine Lösung der Externalität konkret auszusehen hat. In Platons Beispiel der Ausbringung von Saatgut auf das nachbarliche Feld wird nicht gesagt, wie der Fehler zu vermeiden wäre. Die Regelungen benennen lediglich Folgen, wenn er passiert – und schaffen so einen Anreiz, das Fehlverhalten zu vermeiden. Konkret benennt Platon den Bedarf, den Schaden zu ersetzen und eine Strafe zu zahlen, die von „Unverschämtheit und Gemeinheit“ heilen soll – Strafe hat hier also ein Element, das auch dem Erhalt der gemeinsamen Werte dient, und geht, wie schon zuvor in Bezug auf implizite und explizite Institutionen dargestellt, über eine rein handlungsbezogene Perspektive hinaus. Er regelt darüber hinaus, wer für die Überprüfung des entstandenen Schadens und die Verursachung zuständig ist. Er schreibt nichts darüber, wie die Übertretung zu vermeiden ist – ob ein Zaun zu bauen ist oder ob ein Abstand zum Nachbarn bei der Nutzung des eigenen Felds einzuhalten ist. Ähnlich wie Platon setzt auch die moderne Perspektive auf eine Zahlung, die dann dafür sorgt, dass die beteiligten Individuen ein Verhalten finden, dass Fehler vermeidet oder erwünschte Ergebnisse verstärkt. Klar ist in beiden Perspektiven, dass die grundsätzliche Regulierung außerhalb der Koordination zwischen den beteiligten Individuen liegt und durch eine Vorgabe gestaltet werden muss. Es braucht also einen aktiven Vertreter des Kollektivziels, der allerdings in beiden Welten mit wenigen Informationen über die konkrete Situation auskommt. Bisher sind Grundprinzipien Platonischer und moderner Lösungsvorschläge für Koordinationsprobleme in Gruppen skizziert worden. Eine Frage ist dabei noch unberührt geblieben – die nach der tatsächlichen Umsetzbarkeit dieser Prinzipien. Diese Frage ist der Kern der Theorie der Implementierbarkeit. Hier geht es um die Frage, ob die vorgeschlagenen Mechanismen tatsächlich funktionieren, um ein gegebenes Kollektivziel tatsächlich umzusetzen, wenn die Individuen ihre Entscheidungen frei in Abwägung negativer und positiver Konsequenzen ihres Handelns treffen. Eine solche Überprüfung hat Platon nicht explizit vorgenommen. Er scheint sich des Problems gleichwohl bewusst gewesen zu sein, denn seine Vorschläge sind nach einer Analyse mit heutigen Methoden als durchaus plausibel unter dem Gesichtspunkt der Umsetzbarkeit anzusehen. Die Tatsache, dass Umsetzbarkeit immer nur in Bezug auf ein gegebenes Ziel zu untersuchen ist, leitet unmittelbar zu der Frage weiter, woher das Kollektivziel kommt. 29 Von „zweitbester“ Lösung spricht Platon im Hinblick auf das Verhältnis von Nomoi und Politeia (Nomoi V 739a3–5; V 739b2f.; V 739e3f.; IX 875d3), aber auch, um ‚visionäre‘ mit ‚realistischen‘ Lösungen zu vergleichen (Nomoi IX 874e7–875d5, vgl. Politikos 297d–e; 300b–c), zu diesen Fällen siehe Föllinger 2016a, 39f.; 96f.; 108f.

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Quelle des Kollektivziels Hier enden die Gemeinsamkeiten des Platonischen und des modernen Ansatzes. Denn sie haben einen unterschiedlichen Ansatz in der Sicht auf die Beziehung zwischen Individualund Kollektivziel. Die bisher skizzierten Ähnlichkeiten beruhen auf der in beiden Ansätzen vertretenen Annahme, dass alle Individuen eines Gemeinwesens unterschiedliche individuelle Ziele verfolgen, die bestmöglich mit Blick auf ein Kollektivziel koordiniert werden sollen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Platonischem und modernem Ansatz besteht in der Begründung und Entwicklung dieses Kollektivziels. In der Platonischen Staatskonzeption gibt der Gesetzgeber bzw. eine Gruppe von Gesetzgebern das Ziel, die Eudaimonie, und die ihr untergeordneten Ziele und Regeln, die auf sie hingeordnet sind, vor. In der modernen ökonomischen Perspektive hingegen stellt sich die Frage, ob die Zielfunktion eines Gesetzgebers durch eine übergeordnete Instanz vorgegeben ist oder ob sie Teil des gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses ist, wie dies etwa das Rawlsche Konzept 30 vorsieht. Eine Folgerung aus dem Ansatz des – für die institutionenökonomische Analyse zentralen – methodologischen Individualismus besteht darin, dass es keine Vorgaben für die Ziele von Individuen geben kann. Darüber hinaus unterstellt der Ansatz, dass jede Gemeinschaft ihre Ziele aus den Individualzielen ableitet. Die Zielfunktion von Politik kann daher nicht durch eine äußere Instanz vorgegeben werden, sondern muss unbedingt von den Bürgern einer Gesellschaft ausgehandelt werden.31 Dieser Ansatz unterscheidet sich deutlich von Platons Sicht sowohl auf individuelle als auch auf gesellschaftliche Zielfunktionen. Denn mit der Idee der Eudaimonie für Individuum und Staat geht aus ökonomischer Perspektive eine Vorgabe einer wünschenswerten Zielfunktion einher, die nicht mit der Struktur des methodologischen Individualismus vereinbar zu sein scheint. Dies soll an einem aktuellen politischen Beispiel verdeutlicht werden. Die Vereinten Nationen haben mit der UN-Agenda 203032 weltweite Ziele für das Zusammenleben der Menschheit formuliert. So ist ein Ziel „Ende des Hungers und nachhaltige Landwirtschaft“. Aus diesem Ziel lässt sich etwa die Forderung ableiten, dass Milchproduktion umweltschonender erfolgen soll. Wie zuvor gezeigt, ist ein Weg, umweltschonende Produktion zu befördern, durch Subventionierung oder Besteuerung auf den Preis für Milch und damit auf das Verhalten von Produzentinnen und Produzenten sowie Konsumentinnen und Konsumenten einzuwirken. Die Analyse der Umsetzung ist damit unabhängig von der Begründung für den Eingriff – sie ist also ungeeignet als Begründung für das beispielhaft genannte Kollektivziel. Die Vereinten Nationen beziehen ihre Legitimation aus der Repräsentanz einer Mehrheit der Staaten der Erde, die wiederum ihre Einwohner repräsentieren. Sie sind damit ein anschauliches Beispiel für die Idee der Aggregation individueller Präferenzen zur Bildung eines allgemeinen Willens: Denn sie sind ein Staatenbund, der über keinerlei externe Sanktionsinstanz verfügt und daher nur auf Freiwilligkeit ihrer Mitglieder setzen kann – alle Verlautbarungen beziehen ihre Legitimation ausschließlich aus dem Konsens. Die Agenda 2030 ist daher das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen den beteiligten Staaten, der einen Minimalkonsens widerspiegelt. In diesem Konsens sind nur diejenigen Werte enthalten, die 30 Vgl. Rawls 1958 und Rawls 1971. 31 Siehe dazu die Ideen der Konstitutionenökonomik, etwa in Buchanan 1987. 32 United Nations 2015.

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von Individuen und den sie repräsentierenden Staaten eingebracht werden. Diese Perspektive schließt nicht aus, dass Werte durch die Interaktion mit anderen oder durch das Erleben bestimmter Institutionen verändert werden können. So können Fuchs-Schündeln und Schündeln33 zeigen, dass sich demokratische Grundhaltungen verändern, wenn Menschen länger in demokratischen Systemen leben. Beblo und Korn34 können zeigen, dass Regeln, die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an der politischen Repräsentanz fördern, positivere Einstellungen zu Gleichberechtigung fördern. Hier geht es allerdings nicht um eine erzieherische Intention, sondern um die Beschreibung von Veränderungsprozessen, die Teil des Feedbacksystems zwischen Individuen und den sie umgebenden institutionellen Rahmenbedingungen sind. Die platonische Perspektive wäre hier eine andere: Die Idee der Nachhaltigkeit und der gerechten Verteilung von Nahrungsmitteln zwischen allen Menschen wäre durch eine allgemeine Norm zu begründen; ihre Umsetzung hat neben der Durchsetzung der Norm auch eine erzieherische Aufgabe für die Menschen. Sie sollen eine Einsicht in die Sinnhaftigkeit der gesetzten Norm entwickeln. So unterschiedlich die Perspektiven auf die Legitimation von Normen sind, so klar verdeutlicht das Ernährungsbeispiel eine noch nicht angesprochene Gemeinsamkeit: Die Durchsetzung jeder Norm ist einfacher, je mehr Menschen von ihrer Berechtigung überzeugt sind. Dies ist ein Teil des Problems in der (eben nicht) nachhaltigen Milchwirtschaft. 5 Die Bedeutung der ‚Vernunft‘ Die Legitimation von Normen, die zuletzt genannt wurde, führt zu wichtigen und weiterführenden Fragen: Wie eigentlich funktionieren gesellschaftliche Aushandlungsprozesse? So gibt es keinen Weg, alle Individualinteressen angemessen zu berücksichtigen. Wer genau also bestimmt nun, was im Interesse aller ist? Wären es alle, wäre es nicht nötig, dass bestimmte Organe wie Regierungen ‚Anreize‘ schaffen. Also auch unter modernen Prämissen stellt sich das Problem, wer bestimmte Verhaltensweisen für vernünftig erklärt und wie man andere zu diesen Verhaltensweisen bewegen kann (das ‚Schaller‘-Problem). Dieses Dilemma wird deutlich in einem jüngst erschienenen Buch zur Wirtschaftsethik. Hier kritisiert der Autor (Herold) zwar Platons undemokratischen Zugang, doch einige Seiten später stellt Herold selbst fest, dass es eine Diskrepanz gebe zwischen dem als vernünftig Erkannten und dem tatsächlichen Verhalten von Individuen.35 Er stellt fest: „Die hohe Kunst der Menschenführung besteht darin, Menschen dazu zu bewegen, genau das aus eigenem Antrieb zu wollen, was sie aus Vernunftgründen tun sollen.“36 Diese Frage nach der bestmöglichen Motivation ist aber genau die Problematik, die Platons Nomoi verhandeln. Aber die Frage bleibt: Wer weiß oder beschließt, was ‚vernünftig‘ ist? Und welche Rolle kommt hierbei dem Staat zu?

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Fuchs-Schündeln/Schündeln 2015. Beblo/Korn 2017. Eine vergleichbare Problematik wird in Nomoi III 689a formuliert. Herold 2012, 94.

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6 Die Beiträge dieses Bandes Vor dem Hintergrund der geschilderten Überlegungen, Probleme und Fragen war es das Ziel der Tagung, unterschiedliche Disziplinen zusammenzuführen, um die Platonischen Ansätze historisch zu verorten, in ihrer Tragweite neu zu beleuchten und modernen Zugriffen gegenüberzustellen. Es ging also um die historische Kontextualisierung Platons, um seine Ansätze vor dem Hintergrund der athenischen Realität besser beurteilen zu können, und um die Integration einer modernen Perspektive auf die Entstehung von Werten und Ordnungssystemen. Zu allen Themenbereichen konnten Experten und Expertinnen gewonnen werden, so dass Klassische Philologie, Alte Geschichte, Philosophie und Ökonomie miteinander ins Gespräch kamen. Dabei verstand sich die Tagung, die vier mit unterschiedlichen Methoden arbeitende Disziplinen vereinte, als Experiment, und die hier vorgelegten Aufsätze spiegeln die heterogenen Ansätze wider. Aber dies war und ist durchaus gewünscht und gewollt, da nur auf diese Weise eine Diskussion über zentrale Fragen entstehen kann. Die Reihung der Beiträge in diesem Sammelband versucht, die unterschiedlichen Positionen so nebeneinanderzustellen, dass die Leserin oder der Leser sowohl die Berührungspunkte als auch die Differenzen nachvollziehen kann und so eine Vorstellung von der produktiven Diskussion der Tagung gewinnt. Aus der Erfahrung der Diskussionen der Tagung haben wir uns entschlossen, die Beiträge neu zu gruppieren. Mit den Sektionen „Modelle vom Menschen und die Frage nach der Genese von Zielen“, „Die historische Kontextualisierung: Platons Staatsentwurf und historische Staaten seiner Zeit“ und „Individuelles Verhalten und staatliche Regulierung in Platons Politeia und Nomoi“ werden einerseits die bereits zuvor skizzierten Berührungsunkte philologischer und philosophischer Analysen mit denen der Ökonomie deutlich und andererseits Verbindungen zwischen Platons normativen Vorschlägen und Modellen zur Lebenswelt seiner Zeit hergestellt. Sektion 1: Modelle vom Menschen und die Frage nach der Genese von Zielen Die Beiträge37 der ersten Sektion beleuchten die Frage, wie ein gutes Ziel zu bestimmen ist, aus der Perspektive Platonischer Konzeptionen und moderner ökonomischer Zugriffe. Dabei ist auch – explizit oder implizit – von Menschenbildern die Rede. Platons Modell des Menschen beleuchten seine Dialoge unter verschiedenen Aspekten, die deutlich machen, dass seine Auffassung zwar Gemeinsamkeiten zu modernen Ansätzen, aber auch entscheidende Differenzen aufweist. Bekannt und zentral ist das Modell der ‚Seelenteile‘ – man könnte auch sagen: unterschiedlicher Instanzen im Menschen –, das Platon in der Politeia entwickelt bzw. von dem Gesprächsführer Sokrates entwickeln lässt. Es hat seinen Ausgangspunkt in dem Versuch, menschliches Handeln und im besonderen innere Konflikte des Menschen zu erklären. Dieses Modell unterscheidet nicht, wie moderne Modelle, zwei Bereiche: Vernunft und Gefühl, sondern drei Instanzen. Dies sind eine ,epithymētikón‘ genannte Instanz, deren Bereich das Begehren, v. a. materieller Dinge wie Geld und Essen ist, das ,logistikón‘ als Überlegungsvermögen und eine dritte, ,thymoeidés‘ genannte Instanz. Diese wird im Deutschen gerne mit den Begriffen ,Eifer‘ oder ,Mut‘ bezeichnet. Man kann sie fassen als „das Sieg- oder Ehrliebende (Politeia IX 581d–e), das zugleich als Instanz der Selbstachtung und 37 Christoph Lütge und Jörn Müller, die krankheitsbedingt nicht an der Tagung teilnehmen konnten, sei herzlich gedankt, dass sie nun zur schriftlichen Fassung beitragen und damit das Spektrum der Überlegungen bereichern.

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in seinem auf Meinung beruhenden Streben als natürlicher Verbündeter der Vernunft konturiert wird“38. Dabei haben alle Instanzen ihre je eigenen Lustgefühle, und alle verfügen in irgendeiner Weise über Kognition39, aber die Vernunft ist die einzige Instanz, die die Bedürfnisse der anderen zu integrieren vermag. 40 Hier wird Platons deskriptive Anthropologie normativ. Denn ‚Menschsein‘ stellt eine Aufgabe für das Individuum dar, weil das Ziel eine Ausgewogenheit der Seeleninstanzen unter der Führung der Vernunft ist. Dieses Ziel zu verfolgen ist aber nicht nur jedem einzelnen auferlegt, sondern muss auch durch geeignete Parameter, für die der Staat sorgen muss, gefördert werden. Mit der Rolle der Vernunft im Rahmen von Platons Anthropologie beschäftigen sich unter verschiedener Perspektivierung die ersten drei Beiträger dieses Bandes, Christoph Horn aus der Perspektive von Platons Gütertheorie, Jörn Müller, indem er das Konzept eines ‚homo oeconomicus‘ bei Platon untersucht, und Arbogast Schmitt unter dem Gesichtspunkt der ‚Selbstverwirklichung‘. Die für Normierungsvorstellungen grundsätzliche Frage, was eigentlich ‚gut‘ ist, stellt Christoph Horn für Platon. In seinem Beitrag „Platons Theorie des Guten und der Güter: Eine systematische Perspektive“ weist er nach, dass die in Platons Schriften an verschiedenen Stellen zu findenden Überlegungen zu dem, was ‚gut‘ ist, sich zu einer kohärenten Gütertheorie verbinden lassen. Denn auch wenn Platon durchaus anerkennt, dass es unterschiedliche Güter gibt, sind diese durch eine Hierarchie gekennzeichnet, an deren höchster Stelle „vernünftige Haltungen oder Einstellungen“ (S. 30) stehen, weil nur diese nicht der Gefahr, missbraucht zu werden, ausgesetzt sind und weil nur diese den richtigen Gebrauch der Güter niedrigerer Hierarchie, wie etwa von Reichtum, gewährleisten. Nach Horn sind bei Platon ein funktionales Gutsein und ein metaphysisches Gutsein, insofern die Idee des Guten das letzte Strebensziel ist, zu unterscheiden. Daraus resultiert nach Horn, dass für Platon ‚egoistische‘ Handlungsmotivationen sekundär sind gegenüber der Erkenntnis, dass das eigene Handeln intrinsische, d. h. um ihrer selbst willen angestrebte Güter zum Ziel hat. Dass ein solches Handeln auch von Lust begleitet ist, macht Platon in der Politeia deutlich. Abschließend verweist Horn auf das Potential von Platons so verstandener Güterkonzeption, die die theoretischen Grundlagen für moderne ökonomische und politisch-soziale Diskussionen bieten könne. Auch Jörn Müller („Platon und der homo oeconomicus“) sieht in Platons Rationalitätsvorstellung die Möglichkeit, moderne Diskurse befruchten zu können. Er formuliert und belegt auf der Grundlage verschiedener Platonischer Werke die These, dass Platon mit Konzepten menschlichen Handelns gearbeitet hat, die in der modernen Ökonomie unter dem Modell des ‚homo oeconomicus‘ zusammengefasst sind. Dazu stellt er verschiedene Perspektiven auf das Modell des homo oeconomicus vor, die bereits für sich genommen eine Basis für den interdisziplinären Diskurs zur Frage rationalen Handelns bilden. Aus diesen Modellzugängen leitet er dann die Frage ab, wie ‚Rationalität‘ als Verhaltensannahme zu beobachtetem selbstschädigenden Verhalten steht. Anhand eines solchen Verhaltens, so Müller, zeigt Platon die Grenzen eines (modern gesprochen) ‚rational choice‘-Konzeptes auf und kritisiert es als nicht ausreichend. Gegen hedonistische Strömungen setzt Platon auf Nutzen- bzw. 38 Müller 2017, 152. 39 Politeia IV 441c, Timaios 70a–71d. Vgl. hierzu Müller 2017, 152. 40 Siehe Müller 2017, 152.

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Lustoptimierung statt -maximierung. Denn das von ihm als Norm angesehene höchste Ziel, ein von Vernunft und Erkenntnis geprägtes Leben, bedeutet gleichzeitig auch die qualitativ höchste Lust. Grundlage ist die Anschauung, dass die Ziele, auf die sich die verschiedenen Seelenteile richten, mit unterschiedlichen Lüsten verbunden sind, die ebenfalls hierarchisiert sind. Die Dialoge Protagoras, Politeia und Philebos erörtern die theoretischen Grundlagen, wohingegen die Nomoi sich dem Problem unter politischer und pädagogischer Perspektive widmen. Sie untersuchen, wie diese Einsichten nicht nur rational überprüfbar, sondern auch emotional vermittelbar gemacht werden können, indem man Menschen zum richtigen Umgang mit Lust und Schmerz motiviert und sie die Priorität der mit dem Vernunftgebrauch verbundenen Lüste erkennen lässt. Als Resultat sieht Müller, unter Berufung auf Amartya Sen, eine mögliche Bereicherung ökonomischer Theorie durch den Einbezug „evaluative(r) Rahmenkontexte des Handelns“ (S. 68) in ökonomische Theorien. Die Platonische Anthropologie mit ihrer Unterteilung unterschiedlicher psychischer Instanzen im Menschen41 ist der Ausgangspunkt für den Beitrag von Arbogast Schmitt. Unter der Fragestellung „Selbsterhaltung oder Selbstverwirklichung?“42 verbindet er die Frage nach der Relation von individuellem Nutzen und Gemeinschaftsnutzen mit der Platonischen Anschauung von den drei seelischen Instanzen. Dabei arbeitet er den generellen Unterschied zwischen dem modernen, von der stoischen Philosophie geprägten Zugang und dem Platonischen Ansatz heraus: Neuzeitliche Denker und hier an prominenter Stelle Adam Smith gehen von einem letztendlich auf die Stoa zurückverweisenden und religiös konnotierten Vertrauen auf die Wohlgeordnetheit und die ‚Fürsorge‘ der Natur aus und betrachten als das Ziel menschlichen Strebens wie das aller Lebewesen die Selbsterhaltung. Darum ist für sie Egoismus ein positives Movens, da das Verfolgen eigennütziger Interessen durch alle Individuen letztendlich zum Gemeinwohl beiträgt. Dagegen ist für Platon das Selbsterhaltungsstreben zwar eine wichtige Voraussetzung, doch erschöpft sich für ihn (wie für Aristoteles) das Ziel menschlichen Lebens nicht darin. Vielmehr entwickelt Platon, indem er verschiedene Instanzen im Menschen annimmt, unterschiedliche und von ihm entsprechend der Hierarchisierung dieser Instanzen unterschiedlich bewertete Lebenskonzepte. Alle hätten, so Schmitt, nach Platon ihre Berechtigung; aber derjenige Lebensentwurf, in dem der Verstand stets die entscheidende und korrigierende Kraft sei, werde von Platon als tragfähigster angesehen, weil nur ein solcher das Individuum dazu befähige, über den momentanen Nutzen und die momentane Lust hinauszuschauen und hinauszuplanen und so die eigenen Vorteile mit denen der Gemeinschaft, also der Gesellschaft und des Staats, zu verbinden. Mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beschäftigt sich Christoph Lütge aus ökonomischer Perspektive in seinem Beitrag „Ordnungsethik und ihre ethischen Quellen“. Dies bedeutet einen gewissen Paradigmenwechsel, insofern Lütge von der modernen Theorie des Gesellschaftsvertrags ausgeht. Denn sein Ansatz fragt danach, wie durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen eine ethische Strukturierung individuellen Verhaltens erfolgen könne und wie die Vorgabe der Rahmenbedingungen zu begründen sei. Anhand eines Gedankenexperiments – die von der Erde stammenden Insassen eines Raumschiffs stehen vor der Besiedelung eines neuen Planeten und vereinbaren einen Gesellschaftsvertrag – skizziert Lütge 41 Vgl. oben, S. 15f. 42 „Selbsterhaltung oder Selbstverwirklichung? Über die unterschiedliche Suche nach einem guten Leben in den hellenistischen Philosophenschulen und bei Platon und Aristoteles“.

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Parameter des Entstehungsprozesses eines Gesellschaftsvertrages. Dabei zielt Ordnungsethik darauf ab, diesen Gesellschaftsvertrag so zu gestalten, dass er eine Verbesserung für alle Mitglieder der Gesellschaft im Vergleich zur Situation ohne Vertrag ermöglicht. Lütge zeigt, dass eine so entwickelte Ordnung stets von den Erfahrungen und Fähigkeiten der Gesellschaftsmitglieder abhängt (und damit nicht mit absoluten Wertbegriffen arbeiten kann). Ferner hängt auch die Implementierbarkeit einer Ordnung vom (rationalen) Verhalten der Gesellschaftsmitglieder ab; sowohl die Entwicklung als auch die Um- und Durchsetzung von Ordnungen ist damit ein gesellschaftsendogener Prozess. An diesem Punkt knüpft auch der Aufsatz von C. Mantzavinos „Normativität, Metaethik und Naturalismus“ an, der der Frage nachgeht, ob es einen moralischen Realismus geben kann. Er argumentiert, dass soziale (und damit insbesondere moralische) Regeln und Normen einer Gruppe stets aus den Bewertungen und Handlungsabwägungen der Individuen entstehen. Individuen können erkennen, dass es zu ihrem Vorteil ist, sich an Regeln zu halten, die kooperatives Verhalten stützen. Aus dieser Vorteilhaftigkeit für den Einzelnen wird in der Reziprozität zwischen den Gruppenmitgliedern eine allgemeine Norm. Da der skizzierte Prozess abhängig von den mentalen Modellen der Individuen ist, existiert er, so argumentiert Mantzavinos, nicht unabhängig von diesen. Die Perspektive eines moralischen Realismus sei daher abzulehnen. Sektion 2: Die historische Kontextualisierung: Platons Staatsentwurf und historische Staaten seiner Zeit Die zweite Sektion richtet den Blick auf die historische Kontextualisierung von Platons Staatsentwürfen. Die in ihr versammelten Beiträge machen deutlich, inwiefern Platons Staatsentwürfe sich kritisch mit der Situation seiner eigenen Zeit auseinandersetzen. So lässt sich die vom Platonischen Sokrates in Buch II der Politeia dargestellte Genese der Polis, der zufolge Kriege eine Folge der materiellen Unersättlichkeit einzelner Gemeinwesen sind, aber auch die relativ unverhüllte Kritik des athenischen Gesprächspartners am Imperialismus Athens in den Nomoi43 um einiges besser einordnen, wenn man Kai Ruffings Analyse von Athens Imperialismus in der klassischen Zeit folgt. Dieser widerspricht in seinem Beitrag „Reiches Hellas?“ der von Josiah Ober vertretenen Auffassung, Hellas sei es in der klassischen Zeit wirtschaftlich gut gegangen, und dies sei der Existenz fairer Regeln im wirtschaftlichen Wettbewerb der Staaten („rule egalitarianism“) zu verdanken gewesen. Demgegenüber weist Ruffing nach, dass vor allem Athen prosperierte, weil es aus seiner Vormachtstellung im Seebund Vorteile gezogen habe und durch mannigfaltige, auch mit äußerster Rücksichtslosigkeit durchgeführte Maßnahmen aus den Bündnispartnern Profit schlagen konnte. Zu den Maßnahmen gehörte, dass die Athener nach militärischen Siegen die Bevölkerung aus von ihnen besetzten Gebieten vertrieben und das Land usurpierten, dass sie Kleruchien gründeten, unterlegene Gegner zu Reparationszahlungen verpflichteten und Tribute auferlegten. Athens imperiales Gebaren trug zur Erhöhung des eigenen Lebensstandards auf Kosten der Bündnispartner bei, so dass diese, aber auch Gemeinwesen außerhalb des Bundes dadurch geschädigt wurden. Dieses Verhalten mit seinen innenpolitischen Auswirkungen habe auch zu Kritik innerhalb Athens geführt, wovon die philosophische Kritik Platons ein Zeugnis sei. 43 Siehe Morrow 1960, 95–100.

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Einleitung

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Platons Kritik wird in der Gestaltung seiner Modell-Polis und deren Verhältnis zum Markt besonders deutlich, wie Sitta von Reden herausarbeitet. In ihrer Untersuchung „Die Polis als Organisation der Nutzenmaximierung: athenische und platonische Modelle“ geht sie, unter Zugrundelegung der Neuen Institutionenökonomik, von der Polis als „organisatorische(m) Setting für die Nutzenkalküle ihrer Bürger“ (S. 177) aus. In einem ersten Schritt weist sie nach, dass man sowohl im Blick auf die athenische Polis als auch auf die Platonische Polis von „Organisation“ sprechen könne, und untersucht dann die Beziehung von Polis und Markt in beiden Formen. Während man für das historische Athen eine hohe Durchlässigkeit zwischen den für beide Bereiche geltenden Regeln beobachten könne und die Innovationsfreude im politischen und wirtschaftlichen Bereich zu großer Effizienz geführt habe, reagierte Platon gerade darauf mit Kritik, da er die damit verbundene Instabilität ablehnte und alles vermeiden wollte, was die Sicherheit der ‚Organisation‘ der idealen Polis und ihres Kollektivziels, der Eudaimonie, gefährden könnte. Platons radikale Kritik an Athen und seiner wirtschaftlichen Organisation ist auch der Ausgangspunkt von Alain Bresson. Er lenkt in seinem Beitrag „Der Status der Sklaven in Platons ‚Gesetzen‘“ seinen Fokus auf eine Bevölkerungsgruppe, der Platon in seinem Spätwerk Nomoi im Unterschied zur Politeia viel Aufmerksamkeit schenkt. Denn da das Resultat von Platons Athenkritik seine Forderung einer radikalen Trennung von politischer Funktion und wirtschaftlicher Tätigkeit ist, kommt den Sklaven – neben den Metöken – als wirtschaftlicher Kraft Bedeutung zu. Gegen Morrow, der in der Sklavenfrage Sparta als Vorbild für Platons Nomoi betrachtete, kann Bresson mit verschiedenen Argumenten beweisen, dass sich Platon am kretischen Modell orientierte. Denn bei den Sklaven der Bürger in den Nomoi handele es sich nicht um Sklaven, die auf dem Markt gekauft werden, sondern um eine Bevölkerungsgruppe, die ans Land gebunden, also indigen sei. Um dem Problem zu entgehen, dass man in einem solchen Fall eher – als bei aus verschiedenen Herkunftsorten stammenden Sklaven – mit Aufständen rechnen musste, bevorzuge Platon eine Herrschaftsform, bei der man nicht, wie in Sparta, mit Brutalität über die einheimischen Sklaven, sondern ohne Gewalt und unter Anlegung von strengen Gerechtigkeitsmaßstäben herrschen solle. Sektion 3: Individuelles Verhalten und staatliche Regulierung in Platons Politeia und Nomoi Eine Form der Kritik am wirtschaftlichen Gebaren Athens und an der Vermengung politischer und wirtschaftlicher Interessen stellt Platons Trennung von politischen Funktionen und wirtschaftlichem Handeln in seinen Staatsentwürfen dar. Dabei spielt der Handel eine ambivalente Rolle. Platon verwirft den Handel nicht, weil er ein Konstituens menschlichen Lebens ist.44 Er gesteht ihm sogar positive Aspekte zu, aber er sieht die Gefahr der Korrumpierbarkeit bei Tätigkeiten, die mit ihm verbunden sind, in besonderem Maße gegeben. Darum sind in seinen Staatsentwürfen stets Menschen ohne Bürgerrecht, die also keinen Einfluss auf die Politik nehmen können, für den Handel zuständig. Während dies in den Nomoi neben den Sklaven die Metöken, ortsansässige Fremde ohne Bürgerrecht, sind, ist die Trennung in der Politeia noch radikaler. Hier bilden die Erwerbstätigen einen eigenen Stand. Sie werden von den Philosophenherrschern regiert, dürfen selbst aber keine politischen Funktionen innehaben. Dabei wirft die Ambivalenz, mit der Platon dem Handel begegnet, die Frage auf, ob 44 Vgl. hierzu Föllinger 2016a, 33–38.

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Sabine Föllinger, Evelyn Korn

er die Gruppe der Handeltreibenden gänzlich vom Zugang zum guten Leben und zur Tugendhaftigkeit ausschließt, sie sozusagen dem größeren Ganzen opfert, oder ob er auch für diese Gruppe einen Weg zur Erfüllung ihrer Möglichkeiten sieht. Dieser Frage widmet sich Anna Schriefl aus philosophischer Perspektive in ihrer Untersuchung „Sind die Erwerbstätigen in Platons Politeia tugendhaft?“. Schriefl skizziert die in der Literatur kontrovers diskutierte Frage, ob neben den Philosophinnen und Philosophen auch andere Gruppen, insbesondere die Erwerbstätigen, überhaupt die Fähigkeit zur Entwicklung von aretḗ besitzen. Sie befasst sich intensiv mit dem schon angesprochenen Widerspruch in Platons Argumentation: Einerseits ist wirtschaftliche Aktivität ein wesentlicher Bestandteil eines Staates, der das gute Leben für seine Bürger ermöglicht; andererseits ist die Mitwirkung an der Wirtschaft der eigenen Tugend abträglich. Schriefl argumentiert, dass Platon diesen Widerspruch auflöst, indem er den Erwerbstätigen ein Mindestmaß an Tugend zugesteht. Sie erläutert diese Perspektive an der Dialogfigur des reichen Geschäftsmanns Kephalos. Dieser sieht seinen Reichtum nicht als Selbstzweck an, sondern als ein Mittel, sich ein gerechtes Leben zu ermöglichen. Damit ist er nicht vollständig tugendhaft, leistet jedoch seinen Beitrag zum Erfolg des Gemeinwesens. Philipp Bösherz setzt mit seinem Beitrag „Der ‚homo oeconomicus‘ und Anreize zu wertorientiertem Handeln“ Schriefls Betrachtung am Beispiel der Regulierung von Informationsasymmetrien fort. Er untersucht die in den Nomoi vorgenommene Handelsregulierung unter Zuhilfenahme des Modells des ‚homo oeconomicus‘ und schließt damit auch an die von Jörn Müller angestellten Überlegungen zum Modell des ‚homo oeconomicus‘ bei Platon an. Platon, so Bösherz, stellt sich der Frage, wie faire Preise gesichert werden können, wenn die Konsumenten die Qualität der angebotenen Ware nicht überprüfen können und auf die Zuverlässigkeit des Händlers angewiesen sind – ein Beispiel von unveränderter Aktualität, wie jede/r weiß, der schon einmal einen Gebrauchtwagen kaufen wollte. Insofern bietet sich als Vergleich ein Modell aus der Informationsökonomik an, das sich genau mit dieser Frage befasst. Bösherz zeigt, dass die Strukturen, mit denen Marktorganisation und -regulierung in der Moderne zu erklären sind, in Ansätzen bereits bei Platon zu finden sind. Mit den vorgestellten Beiträgen ist ein weiter Bogen geschlagen, der von generellen Fragestellungen bis zu Detailuntersuchungen reicht. Wir hoffen, dass für die Leser und Leserinnen die unter der Rahmenfragestellung gebotene Vielfalt, die den historischen Blick mit der virulenten Aktualität von bestimmten Problemen und Fragestellungen verbindet, genauso anregend ist, wie sie es für die Tagungsteilnehmer war, und zum weiteren Nachdenken und Fragen stimuliert. Herzlich gedankt sei auch Thomas Busch, Daniel Fuchs, Hannah Zick und Wesley Zumbusch, die uns bei der Fertigstellung des Tagungsbandes tatkräftig unterstützt haben, sowie Marie-Therese Krein und Franziska Lange für die Erstellung der Indices. Unser Dank geht schließlich an die Thyssen-Stiftung, die durch ihre Finanzierung die Tagung ermöglicht und auch die Druckkosten für diesen Band übernommen hat.

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Einleitung

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Sabine Föllinger, Evelyn Korn

—2011 = Schöpsdau, K., Platon, Nomoi (Gesetze) Buch VIII–XII, Übersetzung und Kommentar von K. S. (Platon, Werke, im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz hrsg. von E. Heitsch, C. W. Müller und K. Sier, IX 2, 3. Teilbd.), Göttingen/Oakville (Conn.) (2011). Schriefl 2013 = Schriefl, A., Platons Kritik an Geld und Reichtum, Berlin (2013) (Beiträge zur Altertumskunde 309). Schulte/Korn/Müller 2017 = Schulte, E.; Korn, E.; Müller, T., Wilhelm Röpke, der Ökonom, in: E. Conze u. a. (Hrsgg.), Wilhelm Röpke – Wissenschaftler und Homo politicus zwischen Marburg, Exil und Nachkriegszeit, Marburg (2017), 71–94. United Nations 2015 = United Nations, Transforming our world: the 2030 Agenda for Sustainable Development, Resolution 70/1 adopted by the General Assembly on 25 September 2015. Zeh 2016 = Zeh, J., Unter Leuten. Roman, München (2016).

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Sektion 1

Modelle vom Menschen und die Frage nach der Genese von Zielen

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Platons Theorie des Guten und der Güter: Eine systematische Perspektive Christoph Horn

Abstract The thesis of this article is that Plato has a coherent theory of ‘the good’ and ‘the goods’ which can be identified in several of his dialogues and which still possesses a remarkable systematic attractivity. This theory is spelled out by the distinctions between (1) apparent and true goodness, (2) ambivalent and non-ambivalent goodness, (3) provisional and final goodness, (4) intrinsic and instrumental goodness, (5) suboptimal and optimal goodness, and (6) functional and metaphysical goodness. Plato has much more to offer than a Hobbesian homo oeconomicus perspective. By discussing the idea of a rational choice from a eudaemonist and perfectionist standpoint, he provides an approach that can be used in philosophical and economic contexts for descriptive and normative analyses. These meines Beitrags ist es, dass sich in Platons Werk einzelne Bemerkungen identifizieren lassen, die man zwanglos zu einer kohärenten Gütertheorie verbinden kann. Diese Elemente versuche ich im Folgenden herauszuarbeiten und in ihrem Zusammenhang zu erläutern. Ich möchte nicht so weit gehen zu behaupten, dass diese Konzeption bei Platon von Anfang an geschlossen vorlag; plausibler ist es sicherlich anzunehmen, dass er zwischen Kriton, Politeia und Nomoi Erweiterungen und Ergänzungen vorgenommen hat. Dennoch bleibt es bemerkenswert, wie gut sich die Elemente miteinander verbinden lassen: Sie legen m. E. eine moderat unitarische Lesart nahe. Darüber hinaus scheint mir die von Platon angedeutete Gütertheorie auch systematisch interessant zu sein: Ihr ‚natürlicher Ort‘ ist zwar die Frage nach dem Glück; sie lässt sich aber auch hervorragend auf Fragen des moralischen Verhaltens und der Ökonomie anwenden. Zunächst ist festzuhalten, dass wir an mehreren Stellen der Dialoge inhaltliche Güterlisten finden, in denen bestimmte äußere Objekte, einige soziale Tatsachen sowie eine Reihe von psychischen Zustände zu den agathá gerechnet werden. In diesen Listen erscheinen z. B. Reichtum, Gesundheit, Körperkraft und äußere (physische) Attraktivität, ein intakter sozialer Ruf, sowie verschiedene Kompetenzen und mentale Qualitäten, etwa Lernfähigkeit, Gedächtnis und Urteilskraft, und schließlich Tugenden wie Großzügigkeit, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Weisheit.1 Die ontologische Verschiedenheit dieser Entitäten ist beachtlich: ‚Gut‘ können nach Platon materielle Dinge sein (wie Geld oder allgemein äußerer Wohlstand), aber auch physische Eigenschaften (wie Körperkraft), physische Zustände (etwa Gesundheit), mentale Anlagen und ihre Realisierung (eben Lernfähigkeit, Gedächtnis und Urteilskraft), Relationen (etwa enge zwischenmenschliche Beziehungen), soziale Positionen 1 Vgl. Euthydemos 279b–280a, Gorgias 452a–d, Menon 87d–89a, Politeia VI 506a sowie Philebos 60d.

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Christoph Horn

(z. B. eine anerkannte politische Stellung), soziale Institutionen (etwa ein Recht auf politische Mitwirkung) und vieles mehr. Offenbar versteht Platon den Ausdruck agathón nicht primär ökonomisch, sondern genereller: Gut ist für ihn dasjenige, worum es einem Menschen geht, woran ihm liegt, was ihm wichtig ist (oder auch: was ihm wichtig sein sollte – auch wenn der Betreffende dies im vorliegenden Fall selbst nicht klar erkennen mag). Wir werden sehen: Letztlich ist etwas deswegen ein Gut, weil es zum Glück eines Menschen beiträgt (dazu auch Horn 2007). In den Nomoi teilt Platon diese Güter nach ihrer Bedeutung wie folgt ein: An erster Stelle kommen seelische Güter, an zweiter körperliche und an dritter Stelle materielle, äußere Güter (Lg. III 697b). Wie jedoch ein genauerer Blick auf sein Oeuvre zeigt, sind solche inhaltlichen Güterlisten für Platon nicht das Entscheidende – zumal diese Listen bisweilen nach einem recht konventionellen Güterverständnis klingen. Für Platons Diskussion um agathá ist nicht so sehr die extensionale Frage zentral, welche Objekte, sozialen Gegebenheiten oder inneren Zustände zu den Gütern zu rechnen sind, als vielmehr die intensionale Frage, wodurch etwas zu einem Gut wird. Auf welche Weise wird etwas für einen Akteur erstrebens- oder wählenswert? Wodurch wird es gegenüber anderem Wählenswerten vorziehenswert? Und was ist überdies „das vollkommene, für alle wählenswerte und schlechterdings Gute“?2 Die naheliegende Antwort auf diese Fragen lautet, dass etwas für jemanden gut ist, weil er es will. Für Platon wäre diese Antwort dann falsch, wenn man sie so verstehen wollte, als konstituierte das Wollen das Gutsein einer Sache. ‚Wollen‘ meint bei Platon, wie sich zeigen lässt, nicht ein subjektives Präferieren eines werthaft neutralen Objekts gemäß einem Geschmacksmodell (Taste-Theory), sondern das rationale Erstreben eines axiologisch positiven Objekts gemäß einem Wahrnehmungsmodell (Perception-Theory). Allerdings bleibt dabei zu klären, worauf sich das objektive Wollen – die vernünftige Ausrichtung auf objektiv Gutes – eigentlich gründet. Im Folgenden will ich sechs Theoriestücke der Platonischen Güterkonzeption genauer in Augenschein nehmen, die um dieses Problem kreisen. 1 Vermeintliches und wahres Gutsein Platon entwickelt erstmals im Menon, einem der späteren Frühdialoge, die Auffassung, dass jeder Akteur in seinem Handeln immer das Gute wolle (77a–78e). In einem ersten Klärungsversuch fragt Sokrates seinen Gesprächspartner Menon, ob dieser glaube, manche Leute erstrebten Schlechtes, andere hingegen Gutes, oder ob er glaube, alle verlangten immer nach Gutem (77b7–c1). Sokrates hält eindeutig die zweite These für zutreffend. Bezeichnen wir sie als die These vom generellen Wollen des Guten (TWG); sie ist in der mittelalterlichen Scholastik so formuliert worden, dass wir alles, was wir wollen, stets unter der Perspektive seines Gutseins wollen (nihil appetimus nisi sub ratione boni). Menon hingegen lehnt diese These ab; er hält es für evident, dass manche Akteure nach Schlechtem verlangen. Daraufhin führt Sokrates die Dichotomie von Meinen und Wissen ein, indem er fragt: Wollen manche das Schlechte in der fälschlichen Meinung, es sei gut, oder verfügen sie tatsächlich über ein Wissen um seine Schlechtigkeit (77c3–5)? Offenkundig hält Sokrates selbst Letzteres für ausgeschlossen. Während Sokrates das Wollen des Schlechten mithin als Wissensdefizit hinstellen möchte, beharrt Menon darauf, es gebe ein wissentliches Wollen des Schlechten. Erst als Sokrates das Wollen des Schlechten zunächst mit dem Wollen des für den Betreffenden 2 Vgl. Philebos 61a1 f.: tó ge téleon kaί pásin hairetón kaί tó pantápasin agathón.

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Platons Theorie des Guten und der Güter

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Schädlichen (hóti bláptei) gleichsetzt, sodann mit dem Wollen des Jämmerlichen (athlíous) und schließlich mit dem Wollen des eigenen Unglücks (kakodaímonas), gibt Menon auf: Ja, niemand wolle wissentlich einen Schaden erleiden, jämmerlich oder unglücklich sein. Wenn er dies aber zugebe, dann, so Sokrates, müsse er im Umkehrschluss auch einräumen, dass jeder für sich stets etwas Gutes will. Folglich (das ist für den Dialogverlauf wichtig) kann das Wollen des Guten keinen relevanten Definitionsbestandteil der Tugend bilden; denn niemand zeichnet sich darin vor allen anderen aus. Was genau will Platon mit TWG behaupten? Das Argument wird recht unterschiedlich gelesen.3 Klar ist zunächst, dass die Stelle – ebenso wie der zeitnah entstandene Protagoras – das Phänomen der Willensschwäche bestreiten soll: Niemand kann im klaren Wissen um das Bessere das Schlechtere wollen oder wählen. 4 Aber wie genau ist das gemeint? Dominic Scott (2006) hat TWG in seinem Menon-Kommentar als „psychological eudaemonism“ bezeichnet: Danach verteidigt Platon die Überzeugung, jeder Akteur besitze den fundamentalen Wunsch, sein eigenes Unglück zu vermeiden. 5 Gleichzeitig richtet Scott gegen TWG jedoch das Bedenken, Wünsche könnten sich durchaus auf Schlechtes richten; dies zeige sich an den Phänomenen Willensschwäche (jemand wählt nicht die ihm bekannte und verfügbare bestmögliche Option, sondern eine schlechtere) und Beherrschtheit (jemand wählt zwar die bessere oder beste Option, steht aber unter dem Druck einer spürbaren Versuchung durch eine weniger gute). Nach Scott liefert Platon erst mit der Seelenteilungslehre aus Politeia IV und dem damit verbundenen Eingeständnis, man könne sich Schlechtes wünschen (nämlich mit dem irrationalen Seeelenteil) plausiblere Antworten auf dieses Problem. Doch Scotts Auseinandersetzung scheint mir unzureichend. Sie rückt TWG zu sehr in die Richtung einer homo oeconomicus-These, von der ich nicht glaube, dass Platon sie ernsthaft vertritt.6 TWG wird nach meiner Auffassung nicht durch den Hinweis auf Willensschwäche oder Beherrschtheit relativiert. Denn weder die Handlungsoptionen der Willensschwäche (z. B. unklugerweise zu viel Alkohol zu konsumieren) noch die der Beherrschtheit (etwa einer ungesunden kulinarischen Versuchung zu widerstehen) noch auch das vielleicht noch extremere Beispiel der Todessehnsucht (ich meine eine extrem irrationale Verlockung wie den Sog, sich von einer Aussichtsplattform in die Tiefe zu stürzen) können vom Akteur, der diese verspürt, schlechterdings als negativ eingeschätzt werden. Vielmehr existiert ein – wenn auch noch so punktueller – Blickwinkel, unter dem diese Optionen als attraktiv erscheinen. Wenn der Akteur sich für sie entscheidet, wählt er mithin auch diese Optionen nicht aus der Perspektive ihres Schlechtseins, sondern um irgendwelcher attraktiver Schein- oder Teilaspekte willen (so unausgewogen sein Urteil all things considered damit auch sein mag). Es handelt sich sogar in diesen Fällen um die Orientierung an etwas aspektweise Gutem; und nur solches kann als Handlungsoption attraktiv scheinen, nicht aber absolut Schlechtes. Dies ist ohne Weiteres damit vereinbar, dass der Akteur die gewollte Handlungsoption nicht ins-

3 Vgl. besonders Penner/Rowe 1994, Reshotko 2006, 21–56 und Dimas 2015. 4 Protagoras 351b–358e. Zu Sokrates’ und Platons komplexer Auseinandersetzung mit der Willensschwäche vgl. die umfassende Studie von Müller 2009, 64–108. 5 Scott 2006, 51: „… everyone has the fundamental desire to avoid misery …“ 6 Zur Präsenz des homo oeconomicus bei Platon vgl. S. Föllinger 2016 sowie J. Müller (im vorliegenden Bd.).

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gesamt für attraktiv hält – sondern eben nur aspekthaft. Was Willensschwäche oder Todessehnsucht hierbei kennzeichnet, ist ihre relativ deutliche Irrationalität: In beiden Fällen würden wir urteilen, dass das Moment des Guten, das durch sie erreicht werden kann, weit hinter dem Anteil an Schlechtem zurückbleibt, den man sich gleichzeitig durch sie einhandelt. Doch durch alles dies wird TWG keineswegs beschädigt; das Prinzip wird vielmehr bestätigt. Ein zusätzlicher bedeutsamer Punkt ist folgender: Der in einem Individuum möglicherweise auftretende Wunsch nach etwas extrem Irrationalen sollte nicht mit dem Willen, dieses tatsächlich zu erreichen, verwechselt werden. Zwar ist der Willensbegriff ziemlich schillernd: Klar ist jedoch, dass er in allen möglichen Teilbedeutungen eine Rationalitätskomponente aufweist, die dem Begriff des bloßen Wunsches fehlt. Wille ist die Bezeichnung für die Fähigkeit eines Akteurs, sich überlegtermaßen Ziele zu setzen und diese planmäßig zu verfolgen.7 Es scheint daher plausibel zu sagen, dass jemand noch sehr viel schädlichere oder unattraktivere Inhalte wünschen könnte, als dass er sie wollen könnte. Aber wie auch immer man diese Unterscheidung näherhin ausformuliert: Sogar für das Wünschen und erst recht für das Wollen gilt, dass es sich nur auf die attraktiven Aspekte eines intentionalen Objekts richten kann. Die entsprechende Willenstheorie lässt sich dem Gorgias entnehmen: Nach Platon gibt es in jedem Akteur ein rationales Streben nach dem wohlverstandenen Guten. Platons Sokrates macht an einer wichtigen Stelle8 eine Differenzierung geltend zwischen dem, was Rhetoren bzw. Tyrannen „wollen“ (boúlontai) und dem, was sie „tun, weil es ihnen das Beste zu sein scheint“ (poieίn méntoi hó ti án autoίs dóxē béltiston eίnai). Das emphatische Wollen, von dem hier die Rede ist, beruht im Unterschied zur Wahl des scheinbar Besten auf Einsicht (noús); Rhetoren und Tyrannen wissen nach Platon also nicht, was sie einsichtsgemäß wollen würden. Nun ist die traditionelle Auffassung, Platon artikuliere hier ein neuplatonisches Modell des „Strebens nach dem wahren Guten“ oder ein Modell des „wahren Wollens“ im Gegensatz zum Selbstmissverständnis einer „bloßen Willkür“, zwar häufig attackiert worden. Eine solche Attacke wirkt jedoch vor dem Hintergrund der zentralen These des Gorgias, niemand wolle Unrecht tun,9 ebenso zum Scheitern verurteilt wie vor dem Hintergrund des Platonischen Lysis und der Politeia. Platon unterscheidet zweifellos zwischen dem Guten als dem wohlverstandenen Objekt des Wollens und solchen Strebenszielen, deren Attraktivität auf einem Selbstmissverständnis beruhen soll. Halten wir soweit fest: Handelnde streben nach Platon nach objektiv Gutem, selbst wenn sie sich inhaltlich täuschen mögen. Sie müssen stets dasjenige bejahen, was sie anstreben. Das menschliche Wollen lässt sich zudem nicht beliebig ausrichten; als rationales Phänomen findet es seine Erfüllung nur in tatsächlich Wertvollem. 7 Dies ist jedenfalls der wichtigste Gehalt, den der Willensbegriff im Verlauf seiner komplexen Begriffsgeschichte zum Ausdruck bringt; vgl. Horn 2005. Näherhin zu differenzieren sind mindestens drei Teilaspekte, nämlich (a) ein rationales Strebevermögen; insofern ist vom Wille innerhalb der Debatte um Handlungsmotive, Impulse, Begierden oder Wünsche und um die Rationalität oder Irrationalität von Zwecken und Handlungszielen die Rede; (b) ein Dezisionsvermögen; insofern erscheint der Ausdruck in Diskussionen um Freiheit, Determination, Absichtlichkeit und Zurechenbarkeit; (c) ein psychisches Antriebspotential; insofern findet er Verwendung in moralpsychologischen Diskussionen um Willenskraft, Willensstärke und Willensschwäche. 8 Gorgias 466a9–467e5. Vgl. die Untersuchung bei D. Russell 2005, 52–76. 9 Vgl. Gorgias 509e5 f.: [...] hēnίka homologḗsamen mēdéna boulómenon adikeίn [...]

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2 Ambivalentes und nicht-ambivalentes Gutsein Wie wir durch Xenophons Memorabilien wissen, unterschied der historische Sokrates zwischen dem Glück als einem eindeutigen Gut, das sich nicht zu etwas Schlechtem wandeln kann, und den vielen uneindeutigen Gütern wie Gesundheit, Wissen, Schönheit, Kraft, Reichtum, Ansehen und Macht. Alle diese gewöhnlich für gut gehaltenen Dinge besäßen einen ambivalenten Charakter: Sie seien nicht einfachhin gut, sondern erwiesen sich in bestimmten Fällen als nachteilig.10 Gesundheit etwa sei insofern ein ambivalentes Gut, als sie zur Teilnahme an einer Schlacht verleiten könne, die einen für den Akteur katastrophalen Ausgang nehme. Schlechterdings erstrebenswert ist für Sokrates nur das Glück. Der Xenophontische Sokrates differenziert daher zwischen dem Glücklichsein (eudaimoneín) als dem An-sichGuten und solchen stets ambivalenten Glücksgütern (eudaimoniká) wie Gesundheit oder Wissen.11 Auch beim frühen Platon ist die Unterscheidung von ambivalenten und nicht-ambivalenten Gütern präsent (was ihren Sokratischen Ursprung als plausibel erscheinen lässt). Doch anders als bei Xenophon wird die Eigenschaft, ein nicht-ambivalentes Gut zu sein, bei Platon nicht nur dem Glück, sondern auch der Tugend (aretḗ) zugeschrieben. Der Platonische Sokrates sagt wiederholt, menschliche Handlungen seien nicht schon an sich gut oder schlecht; gut und schlecht würden sie erst durch die Art ihrer Ausführung.12 Eine besonders detaillierte Darstellung dieses Gedankens findet sich im Platonischen Frühdialog Euthydemos.13 Platon sagt dort, es existiere nur ein einziges nicht-missbrauchbares Gut: die richtige Einsicht (sophía); der Ausdruck sophía fungiert hier offenbar als Inbegriff der intellektualistisch verstandenen Tugend. Der Gedanke wird im Kontext der Frage entwickelt, welche Güter zum Glück beitragen. Platon bildet zwei Gruppen von Gütern und gibt folgende Beispiele: Reichtum, Gesundheit, gute Abstammung, Macht und Ansehen einerseits und Besonnenheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und richtige Einsicht andererseits (Euthd. 279a–c). Daran schließt Platon die These an, sophía sei gleichbedeutend mit dem – bislang noch nicht genannten – wichtigsten aller Güter, dem glücklichen Gelingen (eutychía). Der Wert der sophía wird nun so erläutert: Demjenigen, der etwas fachgerecht verwende, gelinge sein Vorhaben zuverlässig (Euthd. 279e f.). Hiermit gelangt Platons Sokrates dann zu der Auffassung, der rechte Gebrauch müsse dasjenige sein, was etwas zu einem Gut mache. Denn die aufgezählten Güter seien mit Ausnahme der sophía dadurch charakterisiert, dass sie entweder gut oder schlecht verwendet werden könnten. Es handle sich keineswegs von Natur aus um Güter, sondern allein aufgrund von richtigem Gebrauch (281d). Daraus folge aber, dass von den genannten Gütern nur die sophía als ein Gut zu betrachten sei, und ebenso, dass nur die Unwissenheit (amathía) als ein Übel angesehen werden müsse.14

10 Memorabilia IV 2,31–36, vgl. I 1,5–9. 11 Vergleichbar argumentiert auch der Platonische Sokrates: Wenn Gesundheit das Gut des Körpers und Tugend das Gut der Seele ist und wenn letzteres ungleich wertvoller ist, dann kann Gesundheit in bestimmten Konfliktsituationen zum Schlechten ausschlagen; vgl. Gorgias 512a und 477b–e; Kriton 47e– 48a. 12 Lysis 216e; Symposion 180e f.; 183d. 13 Euthydemos 279a–281e; vgl. die Parallelpassage Menon 87c–89a. 14 Euthydemos 281e. Eine ungefähre Parallelstelle ist Gorgias 467e–468a: Auch hier wird pointiert zwischen genuinem und ambivalentem Gütercharakter unterschieden.

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Die Theorie besagt also, dass Glück ein stabiles Gut darstellt und dass sophía ein die anderen Güter stabilisierendes Gut ist. Wie verhalten sich in diesem Modell aber Tugend und Glück zueinander? Im Euthydemos folgt auf die eben behandelte Passage ausdrücklich die Feststellung (282a2–6): Da wir nun alle danach streben, glücklich zu sein, und da wir offenkundig durch den Gebrauch der Dinge – und zwar durch den richtigen Gebrauch (orthṓs chrḗsthai) – glücklich werden, wobei es das Wissen ist, das die Richtigkeit und das gute Gelingen sicherstellt, muss jeder Mensch, wie es scheint, auf jede Weise dafür sorgen, so weise wie möglich zu werden. Da Glück im Unterschied zur Tugend zugleich das letzte Strebensziel darstellt, handelt es sich um zwei in verschiedenem Sinn nicht-ambivalente Güter: Platons Sokrates korreliert Tugend und Glück so, dass das Tugendwissen einen nicht-ambivalenten, aber instrumentellen Charakter im Blick auf die Erlangung des nicht-ambivalenten, aber endgültigen Gutes, nämlich des Glücks, aufweist. Ein Fachwissen – wie das der Medizin oder Feldherrenkunst – lasse sich demgegenüber zu schlechten Zielen instrumentalisieren. Die sophía des Euthydemos ist insofern ein nicht-missbrauchbares Gut, als mit ihr eo ipso eine richtige Finalisierung aller Teilgüter, also die richtige Strebensordnung, verbunden sein soll.15 Die sophía wird also nur gewollt, weil sie zur eudaimonía führt, obwohl beide Güter eindeutig und in ihrem Gutsein invariant sein sollen. Diese Beobachtungen scheinen mir der bekannten These von Terence Irwin zu widersprechen, Sokrates betrachte die Tugend als Mittel zum Glück.16 Denn der ‚instrumentelle‘ Charakter der Tugend ist hier so zu verstehen, dass diese sowohl eine notwendige als auch hinreichende Glücksbedingung bildet. Also besitzt die Tugend keineswegs nur einen transitorisch-instrumentellen Gütercharakter; die Tugend koinzidiert vielmehr in gewisser Weise mit ihrem Ziel, dem Glück. Die Besonderheit der Glückskonzeption im Euthydemos besteht somit darin, dass die Tugend als nicht-ambivalentes Gut qua unentbehrliches, konstitutives Mittel zur Glückserlangung gedeutet wird, während der Xenophontische Sokrates kein solches nicht-ambivalentes Mittel zur eudaimonía anzugeben weiß. Platons Sokrates zufolge will niemand nur tugendhaft sein, d. h. die Tugend ist kein letztes Ziel; wenn aber klar ist, dass die Tugend ein notwendiges und zugleich hinreichendes Mittel zum Glück darstellt, ist es unvermeidlich, Tugend zu wollen – sofern es richtig ist zu sagen, dass niemand bestreiten kann, glücklich sein zu wollen. So betrachtet handelt es sich eher um eine identifizierende als um eine instrumentelle Relation von Tugend und Glück. In der späteren Sokratischen Tradition sind es besonders die Stoiker, die eine solche Beziehung zwischen aretḗ und eudaimonía behauptet haben. Platons Überlegungen lassen sich so verstehen: Vernünftige Haltungen oder Einstellungen sind höherstufige Güter, weil sie stabil und nicht-missbrauchbar sind; sie müssen präsent

15 Vgl. bereits Apologie 30b: Sokrates kennzeichnet dort seine öffentlich vorgetragene Lehre mit den Worten, er betone stets, „dass nicht durch Wohlstand Tugend entsteht, sondern aus der Tugend Wohlstand und alle anderen menschlichen Güter, die privaten ebenso wie die öffentlichen.“ 16 So Irwin 1977 und in erneuerter Form 1995. Eine kritische Auseinandersetzung mit Irwins These bietet Kraut 1997.

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sein, um den Gütercharakter niedrigstufiger Güter – etwa Gesundheit oder Wohlstand – zu stabilisieren, die ansonsten stets zum Schlechten ausschlagen können. 3 Vorläufiges und abschließendes Gutsein Wie wir sahen, kann für Platon etwas nur dann gut sein, wenn es tatsächlich, nicht nur vermeintlich gut ist, und zudem nur dann, wenn es stabil und nicht-ambivalent gut ist. Denn niemand könne wollen, dass es ihm nicht gut geht.17 Instabile Güter erfüllen den beständigen Willen zum Wohlergehen, der sich in uns findet, nur ungenügend. Tugend und Glück sind hingegen nicht-ambivalente Güter; daher kann es niemals einen guten Grund geben, sie zurückzuweisen. Tugend und Glück büßen im Unterschied zu allem anderen ihren Wertcharakter unter keinen Umständen ein. Doch Glück unterscheidet sich in seinem Gütercharakter auch wiederum markant von der Tugend. Glück ist ein abschließendes Gut, Tugend lediglich ein vorläufiges. Dieser Punkt wird deutlicher, wenn man sich zum Vergleich das hedonistische Strebensmodell des Eudoxos von Knidos ansieht, wie es bei Aristoteles zu greifen ist (EN X 2, 1172b9–25). Eudoxos gehörte als vorübergehendes Mitglied der Platonischen Schule an und scheint die altakademische Güterdiskussion um eine interessante Außenseiterposition bereichert zu haben. Als strebenstheoretischer Hedonist hat er die Lust (hēdonḗ) als das Gute (tagathón) bestimmt und dafür u. a. folgende drei Argumente ins Feld geführt: (a) Lust sei das schlechthin Gute, weil alle Lebewesen, sowohl vernünftige als auch vernunftlose, nach ihr strebten und weil in allen Dingen das Wählenswerte (hairetón) zugleich das Gute sei, das höchstgradig Wählenswerte (tó málista hairetón) aber das Beste. Die Tatsache, dass sich alles auf dasselbe hinbewege, zeige, dass dieses für alle das Beste sein müsse. Denn jedes Wesen finde (sc. von Natur aus) das, was für es gut sei, z. B. seine Nahrung. Was aber für alle gut sei und wonach alle strebten, das sei das Gute (Eudoxos vertritt nach Aristoteles auch die komplementäre Überzeugung, wonach Unlust das allgemein für meidenswert gehaltene Übel sei). (b) Das höchstgradig Wählenswerte sei dasjenige, was wir nicht aufgrund eines anderen und nicht um eines anderen willen wählten. Von dieser Art sei aber nach übereinstimmender Meinung die Lust. Denn niemand könne weiterfragen, zu welchem Zweck man Lust empfinde, weil die Lust offenkundig etwas an sich Wählenswertes sei (kath’ hautḗn hairetḗn). (c) Wenn Lust zu irgendeinem Gut hinzugefügt werde, etwa zu gerechtem oder besonnenem Handeln, dann mache sie dieses Gut wählenswerter. Vergrößert werde etwas Gutes aber nur durch Gutes. Entscheidend für unseren jetzigen Kontext ist Überlegung (b): Nach Eudoxos ist das höchstgradig Wählenswerte dasjenige, was abschließend gewählt wird. Für Eudoxos ist Lust das endgültige Gut, weil es sinnlos wäre zu fragen, wozu jemand Lust haben wolle. Auch Platon benutzt diese Überlegung: Er stellt ebenfalls fest, dass das höchste Ziel dasjenige sei, um dessentwillen man alles andere tue (z. B. Grg. 499e). Anders ausgedrückt, auf das höchste Strebensziel sind alle anderen Ziele, zumindest der Intention des jeweiligen Akteurs nach, als Mittel bezogen – wenn auch nicht alle geeignet sein mögen, es tatsächlich zu erreichen. Wir mögen uns in unserer Mittelwahl täuschen, sind aber implizit immer konstant auf ein letztes Ziel gerichtet. Platons höchstes Strebensziel ist allerdings, anders als bei Eudoxos, die eudaimonía, nicht die hēdonḗ. 17 Vgl. Euthydemos 278e5–7: tίs gár ou boúletai eú práttein; – oudeίs hóstis oúk, éphē ho Kleinίas.

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Zur Klärung des Gütercharakters der eudaimonía bei Platon trägt eine Textstelle aus dem Symposion wesentlich bei. In diesem mittleren Dialog lässt Platon die Priesterin Diotima den Eros durch dessen „Verlangen nach dem Schönen“ kennzeichnen (Symp. 204d). Denn Liebe richte sich stets auf etwas Schönes. Platons Interesse gilt nun dieser Strebensrelation: ‚Verlangen nach‘ (erán) bedeute, etwas erreichen zu wollen. Platon fragt dabei nicht, was erstrebt wird, sondern er untersucht, was es für den, der nach etwas verlangt, bedeutet, das Erstrebte zu erreichen; er stellt mithin eine formale, keine materiale Frage. Sie wird allgemeiner formuliert, indem Platon den Begriff des Schönen durch den Ausdruck ‚das Gute‘ oder ‚die Güter‘ (tagathá) ersetzt (Symp. 204e2). Nach etwas Verlangen oder Streben bedeutet auch hier grundsätzlich, etwas Wählenswertes oder Vorteilhaftes anzustreben; der Inbegriff des Vorteilhaften ist so gesehen ‚das Gute‘. Im Text fragt nun die Priesterin wie folgt weiter (204e2–205a4; Übers. C.  H.): Nun, Sokrates, der Strebende strebt also nach Gütern. Doch wonach strebt er? – Danach, dass sie ihm zuteilwerden, antwortete ich. – Und wie lässt sich derjenige kennzeichnen, dem Güter zuteil werden? – Dies weiß ich schon leichter zu beantworten, sagte ich: Er wird glücklich sein. – Denn durch den Besitz von Gütern, sagte sie, sind die Glücklichen glücklich, und es bedarf keiner weiteren Frage mehr von der Art ,Weshalb will der Glückliche glücklich sein?‘; vielmehr scheint das Antworten einen Endpunkt (télos) erreicht zu haben. – Du triffst das Richtige, sagte ich. Würde jemand den Inbegriff dessen, was wünschenswert ist, erreichen: Wie wäre er dann zu charakterisieren? Platon antwortet, der Betreffende werde „glücklich“ (eudaímōn) sein; denn es sei der Besitz des Guten, der die Glücklichen glücklich mache. 18 Die Strebensrelation kommt in dem, was schlechthin erstrebenswert ist, zu einem Abschluss. Denn, so lässt Platon die Dialogfigur Diotima sagen, man könne nicht weiterfragen, weshalb jemand glücklich sein wolle. Was immer unter Glück zu verstehen sein mag, es ist eben das, worin jedes Streben, Begehren, Wünschen usw. ein Ende hat. Die Stelle ist deshalb so bedeutend, weil Platon hier erstmals in der Philosophiegeschichte explizit – wenn auch zweifellos im Anschluss an den historischen Sokrates – einen teleologischen Eudämonismus skizziert. Diese Konzeption bildet das Rückgrat der meisten späteren Versionen einer philosophischen Glückstheorie. Dabei wird das Glück als ein Ziel erwiesen, das man nicht als nur teilweise gut auffassen kann; es ist als endgültiges Gut anzusehen. Anders gesagt, es muss schlechterdings gut sein, weil es das abschließende, alle instrumentellen Güter einbeziehende, also ‚inklusive‘ Gut darstellt. Deshalb kann es auch nicht als Mittel oder Instrument zu einem weiteren Ziel begriffen werden. Man kann von einem ‚Prinzip des ausgeschlossenen Weiterfragens‘ sprechen. Daraus folgt: Was immer dafür in Betracht kommt, das Glück inhaltlich zu bestimmen, z. B. Reichtum, Macht, Lust, Erkenntnis oder Tugend, muss ebenfalls unter allen Umständen und abschließend gut sein, und es darf ebenfalls keine zusätzliche Instrumentalisierung mehr zulassen. Offenbar ist ein solcher Glücksbegriff ein Resultat des formal-funktionalen Begriffsgebrauchs von ‚gut‘.19 Folgt man nun der bereits analysierten Stelle aus dem Gorgias, so hält Platon beispielsweise 18 Symposion 205a; vgl. 202c; Gorgias 478c. 19 Jemandes Glück ist nach antikem Verständnis die superlativische Erfüllungsstufe des objektiv für ihn Guten.

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die Lust deshalb nicht für eine geeignete Glückskandidatin, weil sie zu den Gütern gehöre, bei denen es nicht von vornherein klar sei, ob sie gut oder schlecht seien, d. h. ob sie sich vorteilhaft oder nachteilig auswirkten. Die ausführlichste und interessanteste Behandlung des teleologischen Eudämonismus findet sich in der Politeia. Platon behält hier seine These vom abschließenden Charakter des Strebensglücks bei, stellt sie aber in einen wesentlich anspruchsvolleren Theoriekontext. Erstens versucht er wie schon Sokrates zu zeigen, dass Tugend die notwendige und hinreichende Glücksbedingung ist; mit Blick auf Sokrates spricht man von der ‚Suffizienzthese‘.20 Zweitens geht es ihm um den Nachweis, dass ‚das Gute‘ – also das, nach dem alles strebt – eine metaphysische Entität ist, die er als ‚Idee des Guten‘ bezeichnet. Die beiden Beweisziele werden eng miteinander verknüpft; Platon will zeigen, dass das Glück, das sich aus der Tugend ergibt, präzise durch das Erreichen der Idee des Guten sichergestellt wird. Dazu später mehr. 4 Intrinsisches und instrumentelles Gutsein Platon unterscheidet in Politeia II 357b–d zwischen drei Güterklassen: (i) zwischen Gutem, das man nicht um seiner Folgen willen, sondern allein um seinetwillen anstrebe, z. B. Wohlbefinden oder unschädliche Arten von Vergnügen; (ii) Gutem, das man sowohl um seiner selbst willen als auch wegen seiner Folgen erstrebe, z. B. Vernünftigsein, Sehen oder Gesundsein; und (iii) Gutem, das allein wegen der günstigen Folgen erstrebt werde, z. B. Sportübungen, medizinische Behandlungen und gewinnträchtige Berufe. Nach Platon kann jemand ein Gut entweder um seinetwillen (autó hautoú héneka) wollen oder um der sich aus ihm ergebenden oder zumindest zu erwartenden Konsequenzen (tá apobaínonta) willen – oder wie bei der mittleren Gruppe in beiderlei Absicht. Platon trifft hier erstmals die Unterscheidung zwischen intrinsischen und extrinsischen Gütern, so naheliegend diese schon beim Xenophontischen Sokrates und im Euthydemos gewesen sein mag. Nun soll die Gerechtigkeit zur vorzüglichsten dieser drei Gruppen gehören, nämlich zu (b), und zwar deswegen, weil sie sowohl in sich erstrebenswert sei als auch wünschenswert für den, der glücklich sein wolle (R. II 358a). Bereits in Gorgias 466d–467e erläutert Platon sein Theorem des objektiven Wollens (das wir oben bereits betrachtet haben) mithilfe der Idee intrinsischen Gutseins – wenn auch in weniger klarer Form. Platon möchte nämlich den Ausdruck ‚Wollen‘ (boúlesthai) für das rationale Streben nach intrinsischen Gütern reservieren. Denn es sei ja häufig nicht der Fall, dass jemand dasjenige will, was er gerade tut (hó án práttousin hekástote: 467c6), sondern das, um dessentwillen er tut, was er tut (hoú héneka práttousin toúth’ hó práttousin: 467c6 f.). Drei Beispiele sollen dies illustrieren: nämlich die Einnahme von Medizin (phármaka pínontes: 467c7), das Zur-See-Fahren (pléontes: 467d1) und das Betreiben anderer Geschäfte (gemeint ist: andere als Seehandel: tón állon chrēmatismón chrēmatizómenoi: 467d1 f.). Alle drei Fälle zeigten die gleiche Struktur, nämlich dass die betreffenden Personen vorübergehend Lästiges, Unangenehmes oder Gefährliches tue, um damit auf längere Sicht etwas anderes, für sie Gutes oder Wertvolles, zu erreichen. Entscheidend ist also der jeweilige letzte Handlungszweck (hoú héneka), d. h. in den vorliegenden Fällen Gesundheit und Reichtum.

20 Vgl. besonders Vlastos 1991, Kap. 8.

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Es sei allein dieser Zweck, von dem man sagen könne, dass er gewollt werde. Zur Präzisierung des Gedankens nimmt Sokrates eine Einteilung in drei Klassen vor: in Güter (agathá), Übel (kaká) und Weder-Gutes-noch-Schlechtes (mḗte agathá mḗte kaká: 467e1–3). Zu den Gütern gehörten Weisheit, Gesundheit und Reichtum, zu den Übeln ‚das Gegenteil‘ (also offenbar Dummheit, Krankheit und Armut) und zum ‚Mittleren‘ (tá metaxý: 468a5) Sitzen, Gehen, Laufen und zur See fahren sowie Steine und Holz. Platon behauptet nun, dass zwischen den genannten Klassen nur folgende Beziehung angemessen ist: nämlich das Mittlere um des Guten willen zu wählen. Doch gegen die Überlegungen des Gorgias lassen sich sachliche Bedenken erheben. Zunächst kann man an Platon die Frage richten, ob es tatsächlich zutrifft, dass wir stets etwas um einer anderen Sache willen tun. Jemand kann doch auch einfach etwas für ihn direkt Wertvolles tun, etwa Musik hören oder Zärtlichkeiten austauschen. Nicht jede Handlung muss aus einer Kette von verschiedenen Teilhandlungen bestehen, die aufeinander folgen und in ein abschließendes Ziel einmünden; vielmehr sind manche Handlungen unmittelbar sinnvoll und zielen auf nichts Weiteres ab. Bekanntlich bringt Aristoteles’ práxis-Begriff genau dies zum Ausdruck, dass jemand mitunter etwas tut, das für ihn unmittelbar wertvoll oder selbstzwecklich ist. Sodann lässt sich einwenden, dass die Mittel, die jemand zu einem Zweck gebraucht, zwar für sich genommen etwas Mittleres oder Schlechtes sein mögen (nicht nur Mittleres, wie 468a5 f. suggeriert; man kann auch schlechte Mittel zu etwas Gutem einsetzen, etwa dies ja für Platons eigenes Beispiel von der Unannehmlichkeit der Einnahme von Medikamenten gilt), dass aber jeder Akteur sie zumindest in gewisser Weise wertschätzen muss: Er kommt nicht umhin, sie als irgendwie geeignet und tauglich sowie als irgendwie hinnehmbar und erträglich aufzufassen. (Man gewinnt hier fast den Eindruck, Platon spreche zwischendurch von moralischen bzw. unmoralischen instrumentellen Handlungen.) Dieser Einwand setzt aber das Argument nicht außer Gefecht, wonach man das Ziel rationalerweise höher schätzen muss als das Mittel, das man zu seiner Erlangung verwendet: Niemand kann sinnvoll etwas sehr Gutes zur Erlangung eines geringen Guts gebrauchen. Und schließlich kann man noch einwenden, dass jemand das Zwischenziel oder Mittel auch bereits für sich schätzen kann: Wenn jemand z. B. als Restaurantkritiker arbeitet, kann er zunächst einmal Spaß am Essen haben und in der Konsequenz auch noch Geld und Ruhm damit verdienen. Auch dieser Punkt ist berechtigt, hebt aber erneut Platons Pointe (‚Man darf über der Wertschätzung der Zwischenziele den höheren Wert des Endziels nicht vergessen‘) keineswegs auf.21 Wirklich gravierend scheinen mir allerdings die Einwände gegen die gütertheoretische Dreiteilung zu sein, die Platon seinen Sokrates vornehmen lässt. Offenbar erhebt Platon den Anspruch, dass die gemeinte Dreiteilung vollständig ist. In Wahrheit ist sie aber ziemlich undurchsichtig; man versteht im Grunde nicht einmal, was hier überhaupt eingeteilt werden soll: Sind es Handlungsziele, Handlungen oder Gegenstände wie diejenigen, welche von Akteuren beim Handeln instrumentell gebraucht werden? Die Nennung der Güter Weisheit, Gesundheit und Reichtum spricht für das Erste, die Nennung einiger der ‚mittleren Dinge‘ wie Sitzen, Gehen, Laufen und zur See fahren für das Zweite und die Nennung der – ebenfalls als Mittleres bewerteten – neutralen Objekte wie Steine und Holz für das Dritte. Warum soll 21 Im geschilderten Fall bildet das Essen zugleich ein abschließendes Ziel und ein Mittel für ein weiteres Ziel.

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nur Mittleres, nicht aber Schlechtes (oder sogar Gutes) zur Erlangung von Gutem instrumentalisiert werden? Platon selbst behauptet ja, dass Medikamente einnehmen, zur See fahren und Geschäfte machen unangenehme und schlechte Dinge sind, die dennoch zum eigenen Vorteil praktiziert werden. Er bleibt uns im Text Antworten auf diese Fragen schuldig. Insofern markiert die zu Beginn von Abschnitt 4 erwähnte klassische Passage aus Politeia II einen erheblichen gedanklichen Fortschritt. Für eine systematische Theorie ist Folgendes wichtig: Intrinsisches Gutsein bezeichnet seinem Basisverständnis nach etwas, das seinen Wert in sich selbst (oder aus sich selbst) hat, nicht von etwas anderem her. Sein Gütercharakter ist dann (a) inhärent und nicht-relational (non-relational), zudem (b) ursprünglich, unmittelbar, unabgeleitet (non-derivative) und überdies (c) abschließend oder endgültig (final). Platon hat die Bedeutung (c) im Sinn. 5 Suboptimales und optimales Gutsein Damit zur gütertheoretischen Argumentation der Politeia. Zunächst fällt auf, dass als Inbegriff der Tugend nicht mehr die sophía, sondern die Gerechtigkeit (dikaiosýnē) fungiert. Das impliziert jedoch nicht notwendig eine Positionsverschiebung, weil Platon seit seinem Protagoras die These von der Einheit oder zumindest Antakoluthie der Tugenden vertritt. 22 Nach der Exposition des Problems des ‚sophistischen Immoralismus‘ in Buch I – Thrasymachos vertritt die Überzeugung, Gerechtigkeit zahle sich gemessen an ihren sozialen Folgen nicht aus – trifft Platon die gerade behandelte Unterscheidung zwischen drei Arten von Gütern: intrinsischen und extrinsischen Gütern sowie einer dritten Gruppe von sowohl intrinsisch als auch extrinsisch wertvollen Gütern. Platons Ziel ist es zu zeigen, dass Gerechtigkeit sowohl intrinsisch und extrinsisch wünschenswert ist. Dies unternimmt er mittels der Idee des Guten, die ja einerseits an sich und andererseits in ihren Folgen gut sein soll. Wie aber gelangt Platon zu seinem Argumentationsziel, also zur Einheit von Tugend und Glück im Erreichen der Idee des Guten? Dadurch, dass er ‚zwei Konzeptionen des Guten‘ entfaltet, nämlich eine funktionale und eine metaphysische.23 Die erste Konzeption besteht aus folgenden sieben Schritten, die am Ende von Buch I entwickelt werden (R. I 352d–354d): (i) Einige Dinge besitzen eine spezifische ‚Funktion‘ (érgon), z. B. Pferde, Rebscheren oder Augen. (ii) Die Funktion eines solchen Dings besteht jeweils in dem, was Dinge einer bestimmten Art entweder ausschließlich oder doch am besten leisten können. (iii) Ein konkretes Ding kann die Funktion, die Dingen seiner Art zukommt, gut oder schlecht erfüllen. (iv) Man kann für jede Art von Ding, das eine Funktion hat, eine entsprechende abstrakte Tauglichkeit benennen. (v) Ein Ding erfüllt seine Funktion gut allein dann, wenn in ihm seine angemessene Tauglichkeit ‚präsent‘ ist, und schlecht, wenn diese fehlt. (So liegt es für Platon auf der Hand, dass Rebscheren bestimmte Aufgaben allein oder zumindest besser als alle anderen Gegenstände erfüllen; gute Rebscheren entspre-

22 Platon thematisiert den möglichen Konflikt zwischen Tugenden in Protagoras 329c–d und in Politikos 306a ff. Ob seine Antwort darin liegt, dass die Tugenden strikt identisch sind – wie Penner 1973 behauptet – oder ob er nur ein wechselseitiges Implikationsverhältnis behaupten will (vgl. etwa Politeia IV 428a), ist strittig. 23 Vgl. Santas 1985; die zwei Theorien werden von Platon zwar zunächst differenziert, dann aber bewusst zusammengeführt.

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chen ihrer Aufgabe auf eine höchst angemessene Weise. Platon meint also, dass ein Gegenstand gut ist, wenn er seine Funktion bestmöglich erfüllt.) Schließlich fügt er noch zwei Annahmen hinzu: (vi) Die Bestheit der menschlichen Seele kann man als ‚Gerechtigkeit‘ bezeichnen (wenn es stimmt, dass Gerechtigkeit eine Ordnung bezeichnet, in der jeder das Seine hat bzw. tut). (vii) Der gerechte Mensch führt ein gutes Leben, der ungerechte dagegen ein schlechtes. Der grundlegende Gedanke ist der von Eignungs- oder Tauglichkeitsgraden funktionsorientierter Entitäten. Wenn etwas im Bestzustand ist, erfüllt es seine Funktion optimal. Für Menschen bedeutet somit eine gerechte psychische Verfassung das Erreichen dieses Bestzustands. Man sieht nun leicht, inwiefern die erste, funktionale Konzeption des Guten die Tugend als ein intrinsisches Gut erweist. Denn gleichgültig, welche Folgen die Tugend mit sich bringt, und gleichgültig, was das letzte Ziel menschlichen Strebens ist, in jedem Fall ist die Tugend etwas Wählenswertes: eben als Bestzustand. Da Platon in der Politeia unter Gerechtigkeit die volle funktionale Entfaltung der Seele versteht, ist eine tugendhafte Seele (und analog dazu ein gerechter Staat) intrinsisch wünschenswert, weil allein sie (bzw. allein der vollkommen gerechte Staat) ein funktionales Optimum erreicht. Dass jeder den Übergang vom Mangelzustand einer Entität zu ihrem Erfüllungszustand will, scheint für Platon eine schlichte begriffsanalytische Wahrheit zu sein. Dann liegt aber auch auf der Hand, wodurch eine Seele bzw. der Staat ein funktionales Optimum erreichen: dadurch, dass sie ihre Funktion erfüllen oder, wie es jetzt heißt, „das Ihrige tun“ (tá hautoú práttein), also ihre spezifischen Fähigkeiten entfalten (R. IV 433a). Platon deutet die so verstandene Gerechtigkeit als Einheitsmoment der drei weiteren Tugenden Besonnenheit (sōphrosýnē), Tapferkeit (andreía) und Weisheit (sophía), die er den drei von ihm unterschiedenen Seelenteilen epithymētikón, thymoeidés bzw. logistikón zuordnet. Die einzelnen aretaí stehen zueinander in einem notwendigen Verhältnis; keine kann ohne die andere vorkommen (R. IV 428a). Die Tugenden der Seelenteile werden ebenfalls als deren jeweiliges funktionales Optimum gedeutet. Die vollkommene Tugend besteht somit in der Harmonie eines bestmöglichen Zusammenspiels der drei Seelenteile des Individuums (bzw. der drei Stände eines Staates). Dieses soll sich als Konsequenz der philosophischen Einsicht ergeben. Die dikaiosýnē ist soweit als intrinsisches Gut vergleichbar dem Wohlbefinden oder dem unschädlichen Vergnügen erwiesen. Der entscheidende Gedanke scheint mir zu sein: Selbsttransformation ist nicht nur durch seine güterstabilisierende Wirkung wünschenswert; sie ist sogar das primär Gute, wenn sie das Erreichen des eigenen Bestzustands darstellt. 6 Funktionales und metaphysisches Gutsein Platons zweite Theorie des Guten findet sich in den drei prominenten Gleichnissen der Bücher VI und VII (R. VI 504a–511e bzw. VII 514a–521b). Mithilfe des Sonnen- und Linien- sowie des Höhlengleichnisses wird dort bekanntlich die Konzeption einer obersten Idee, der Idee des Guten, entwickelt. Wie bereits die Feststellung (v) aus der ersten Theorie zeigte, ist Platon der Meinung, dass das Gute eines Dings dasjenige sei, was dem Ding seine Bestheit (aretḗ) verleiht. Ist dieses Gute im Gegenstand in vollem Umfang präsent, dann ist das Ding in höchstem Maße entfaltet. Im Begriff des Guten ist es dieser Übergang von der funktionalen Bestheit zur Ursache dieser Bestheit, der plausibel macht, wie Platon von seiner ersten zur

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zweiten Theorie des Guten gelangen kann. Denn die metaphysischen, epistemologischen und axiologischen Ausführungen zur Idee des Guten in der Gleichnisfolge von Sonne, Linie und Höhle weisen eine Entität aus, die zugleich das höchste Erkenntnisprinzip, das letzte Strebensziel und die Ursache aller Tauglichkeit sein soll. Platons dort getroffene Aussagen lassen sich wie folgt zusammenfassen: (a) Das bedeutendste Gut überhaupt ist die Idee des Guten; denn erst durch die Teilhabe an der Idee des Guten wird alles Gerechte und alles andere, was an ihr Anteil hat, nützlich und wertvoll. Wenn wir, so Platon, alles wüssten, ohne die Idee des Guten zu kennen, wüssten wir immer noch nicht, was moralisch gut und was funktional gut ist (axiologische Funktion der Idee des Guten: R. VI 505a–b). (b) Die Idee des Guten ist dasjenige Gute, das jede Seele (latent oder bewusst) sucht und um dessentwillen sie alles tut; die Seele ahnt, dass es etwas derartiges gibt, befindet sich aber in Aporien und kann nicht hinreichend bestimmen, was es ist (handlungsteleologische Funktion: R. VI 505d–e, vgl. Grg. 499e). (c) Die gesuchte beste Staatsverfassung ist erst dann vollkommen geordnet, wenn die Wächter des Staates wissen, in welchem Sinn Gerechtes und Schönes zugleich gut ist; die Idee des Guten leitet den richtigen Gebrauch von allem an (rektifizierende Funktion: R. VI 506a–b). (d) Die Idee des Guten verleiht den Denkobjekten ihre Realität und vermittelt der Vernunft deren Kenntnis; die Idee des Guten ist Ursache von Wahrheit und Wissen (epistemologische Funktion: R. VI 508b–509a). (e) Die Denkgegenstände erhalten von der Idee des Guten ihr Sein und Wesen, da das Gute nicht Substanz (ousía) ist, sondern noch darüber hinausreicht (seinskonstitutive Funktion: R. VI 509b). Die beiden Theorien des Guten, so können wir mit G. Santas feststellen, sind keineswegs disparat; vielmehr bietet die zweite Theorie die inhaltliche Fortführung und theoretische Fundierung der formal gefassten ersten Konzeption. 24 Jedes Ding gelangt dann zu seiner funktionalen Bestheit, wenn es in größtmöglicher ‚Nähe‘, in einer möglichst direkten Beziehung zur Idee des Guten steht: Das télos jeder Entität liegt in seinem eídos und letztlich in der idéa toú agathoú. Nach Platons Auffassung ist diese Beziehung im Sinn einer Kausalität durch Teilhabe zu verstehen; er interpretiert die funktionale Teleologie mittels der Ideentheorie. Die Idee des Guten ist deshalb nicht nur die Ursache aller Bestheit, sondern bildet zudem das allgemeinverbindliche letzte Strebensziel. Denn sie stellt die übergreifende Ursache aller Wesensformen dar, die jeweils Einzelaspekte sinnlicher Dinge optimieren. Aus der funktionalen Teleologie des ersten Buchs der Politeia wird auf diese Weise eine metaphysische Teleologie. Platon vertritt einen teleologischen Eudämonismus in Form eines Perfektionismus: Unter Glück versteht er die Erfüllung der in einer Entität essentiell angelegten Eigenschaften. Genauer gesagt lehrt Platon einen metaphysischen Perfektionismus: Es soll intelligible Entitäten geben, die durch einen vollständigen Besitz jener Eigenschaften charakterisiert sind, die sensible Entitäten nur partiell aufweisen; und diese Ideen sollen sich zur Idee des Guten wiederum wie Prinzipiate zum Prinzip verhalten. 25

24 Santas 1985, 241 knüpft an die Verbindbarkeit der beiden Theorien zwei Bedingungen: Erstens müsse Platon die Funktion einer sensiblen Entität von der Idee herleiten, an der sie partizipiert; und zweitens muss ihr funktionaler Erfüllungsgrad vom Partizipationsgrad an der Idee abhängen. Beides ist bei Platon nachweislich der Fall, wie Santas selbst unterstreicht. 25 Es ist m. E. nicht nur legitim, sondern interpretatorisch unvermeidlich, die Passage zur Idee des Guten in Politeia VI im Kontext der ungeschriebenen Prinzipientheorie Platons zu sehen; vgl. dazu Krämer 1997.

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Dass die Idee des Guten auch in anderen Kontexten des Platonischen Werks als allgemeines letztes Strebensziel erscheint, scheint recht plausibel. Im Philebos heißt es etwa, das Gute müsse etwas Vollendetes (téleon), etwas Hinreichendes (hikanón) und ein für alles Erkennende verbindliches Strebensziel (pán tó gignṓskón autó thēreúei) sein; Kennzeichen des „Guten selbst“ seien Selbständigkeit (autarkeía) und die „Kraft des Hinreichenden und Vollkommenen“ (hē toú hikanoú kaí teléou dýnamis).26 Der Übergang von einer funktionalen zu einer metaphysischen Teleologie kommt sehr wahrscheinlich bereits im frühen Dialog Lysis zum Ausdruck; dort wird erstmals das Argument entwickelt, dass das, was uns in Wahrheit schätzenswert (phílos) erscheint, um seiner selbst willen schätzenswert sein müsse, nicht um eines anderen Schätzenswerten willen (héneka phίlou tinós hetérou). Dies aber müsse etwas sein, bei dem „alle genannten Wertschätzungen enden“ (eis hó pásai hai legómenai philíai teleutṓsin). Als ein solches prṓton phílon soll laut Platon jedoch „das Gute“ gelten (tó agathón).27 Platon argumentiert also bereits im Lysis, es müsse ein schlechterdings Gutes geben, auf das sich das gesamte Streben zurückführen lässt, weil es in sich schätzens- und wählenswert ist. Zusätzliche Indizien für ein metaphysisches summum bonum bei Platon ergeben sich besonders aus seinen Begriffen von Maß, Symmetrie, Harmonie und Ordnung und aus seiner Ethik einer „Angleichung an Gott“ (homoíōsis theṓ). An dieser Stelle legt sich eine prudentielle Fehldeutung des Platonischen Modells nahe. Denn Platons formal-funktionale Interpretation des Guten scheint erst vor dem Hintergrund bestimmter Handlungsziele oder Zwecke einen Sinn zu ergeben. Optimierte Funktionalität, so könnte man behaupten, ist nur als Eigenschaft eines Mittels M relativ zu einem Ziel Z auffassbar. So gesehen müsste man zunächst über Ziele oder Zwecke verfügen, um in einem zweiten Schritt feststellen zu können, dass sie durch Pferde, Rebscheren oder Augen erfüllt werden und um in einem dritten Schritt sagen zu können, dass verbesserte Versionen oder fähigere Exemplare von Pferden, Rebscheren oder Augen die intendierten Zwecke besser erfüllen. Unterstellt man Platon eine solche Konzeption, dann gelangt man zu der Auffassung, sein Strebensmodell sei insgesamt als prudentielles Streben zu charakterisieren. Eine solche Deutung wurde etwa von P. Stemmer vertreten. 28 Diese Sichtweise beruht jedoch auf einem Missverständnis. Folgt man Platons formal-funktionalem Verständnis von ‚gut‘, so ist ein x dann gut, wenn es eine vollständige, perfekte Instantiierung von x-heit ist. Wäre die Annäherung an die Idee des Guten lediglich prudentiell empfehlenswert, dann müsste sich ein Zweck angeben lassen, um dessentwillen man ein solches Streben klugerweise vollziehen sollte. Die Idee des Guten ist jedoch selbst das, „um dessentwillen die Seele alles tut“. Platon versteht die Idee des Guten als Ursache der Bestheit aller Dinge und damit zugleich als das Ziel, auf das alles zustrebt. Anders gesagt, das unüberbietbar Gute soll zugleich das In-sichErstrebenswerte sein; als solches kann es seinerseits nicht funktionalisiert werden. 26 Philebos 21d und 67a. Dazu Desjardins 2004, 12–51. 27 Lysis 220a–b. Selbst Vlastos 1991, 117 Anm. 49 resümiert diese Stelle mit den Worten: „In the Ly. Socrates lays out the doctrine of the prōton philon: there is a supreme object of desire, such that all other things we may desire would be vain except in so far as that first object is reached (219B–220B).“ 28 Stemmer sagt zwar zu Recht, Platon stelle die Frage „Warum moralisch sein?“ in den Horizont der Frage nach dem guten Leben. Daraus folgt aber nicht, dass Platons Beschreibung des guten Lebens selbst ichbezogen wäre. Vgl. Stemmer 1989, 539: „Motivationsfragen können letztlich nur egozentrisch, nur reflexiv beantwortet werden“ und 541: „Platon akzeptiert den motivationstheoretischen Grundsatz der Sophisten: Man hat nur Gründe, das zu tun, was letztlich für einen selbst gut ist.“

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Folglich wäre es falsch, an Platon die Frage zu richten, welchen Nutzen jemand davon hat, die Idee des Guten zu erreichen – obwohl Platon auch einen Nutzen vorsieht; mit dieser Frage würde jedoch gegen das ‚Prinzip des ausgeschlossenen Weiterfragens‘ verstoßen. Der Gerechte hat aus der Zuwendung zu ihr nur im metaphorischen Sinn einen ‚Gewinn‘ – im Unterschied zum Gewinn äußerer, materieller oder sozialer Güter, von Wohlbefinden oder erweiterter Erkenntnis. Diese Güter sind selbstzwecklich erstrebenswert. Zwar bildet das prudentielle Selbstinteresse den Ausgangspunkt der Platonischen Darstellung (‚Macht sich Gerechtigkeit für ihren Träger tatsächlich bezahlt?‘); das selbstbezogene Antriebsmoment erweist sich im zweiten Schritt aber als vorläufig, sobald nämlich jemand begreift, dass das selbstbezogene Streben genauer betrachtet auf etwas in sich Wählenswertes gerichtet ist. Die Frage nach dem zusätzlichen extrinsischen Gutsein der Idee des Guten ist aber tatsächlich noch offen. Platon will den Nachweis führen, dass sich das, was in sich wählenswert ist und zugleich die Erfüllung des wohlverstandenen Eigeninteresses darstellt, nur erreichen lässt, wenn man Gerechtigkeit sucht. Warum Gerechtigkeit? Es wirkt zunächst alles andere als klar, worin der Zusammenhang von richtiger seelischer Verfassung, Moralität und Glück für Platon besteht. Führt die aretḗ zum Glück wegen der sozialen Achtung, die sie einbringt? Dann würde es sich um eine äußere Form von Belohnung handeln. Man kann diese Deutung ausschließen; nach Platons Ansicht darf Gerechtigkeit gerade nicht wegen ihrer sozialen Folgen gepriesen werden (R. II 366e; 368b–d). Der Platonische Gerechte ist keineswegs deswegen glücklich, weil seine äußeren Lebensumstände dauerhaft günstig wären (vgl. aber R. X 612a–613e). Platon geht es ja im Gegenteil darum zu zeigen, dass sich die These vom Nutzen der Gerechtigkeit selbst bei extremen sozialen Nachteilen, die ein Gerechter unter Umständen hinnehmen muss, aufrechthalten lässt (R. II 360e). Meint Platon mit dem Glück des Tugendhaften dann eine Belohnung nach dem Tod? Für Platon ist dies offenbar eine akzeptable Idee, die er in seinen Mythen vom Totengericht wiederholt darstellt. Wer sein Leben gerecht und heilig geführt hat, so heißt es im Gorgias, der gelangt nach seinem Tod zu den „Inseln der Seligen“, wo er in vollkommener Glückseligkeit frei von allen Übeln lebt.29 Freilich liegt in der ewigen Glückseligkeit des Gerechten eher eine nachgeschobene und sekundäre, nicht die zentrale Begründung, die Platon im Sinn hat. Besteht diese Begründung darin, dass sich das Glück bei der gerechten Persönlichkeit im Sinn einer seelischen Lustempfindung einstellt? Dies wäre eine innere Form von Belohnung, die von allen Außenumständen unberührt bliebe. Tatsächlich meint Platon, der Gerechte zeichne sich durch eine maximale seelische Harmonie und Selbstübereinstimmung aus; Platon parallelisiert die Gerechtigkeit der Seele ausführlich mit dem, was Gesundheit für einen Körper bedeutet (R. IV 444c–e). Allerdings zeigt sich erst im neunten Buch der Politeia, inwiefern in diesem Punkt ein wichtiger Teil des Zusammenhangs zwischen Gerechtigkeit und Glück liegt. Platon kommt erst dort auf das Thema einer Gegenüberstellung des vollkommen Gerechten und des vollkommen Ungerechten zurück und entwickelt dabei drei Argumente für die These vom Glück des Gerechten (R. IX 576b–592b). Die Argumente 2 und 3 stellen dem Gerechten oder Philosophen, gleichgültig wie sein äußeres Leben verläuft, eine höchst positive Lustbilanz in Aussicht, und zwar im Sinn eines geistigen Genusses. Platon sagt nämlich zum einen, der Tugendhafte oder Philosoph führe das lustvollste Leben, weil sein an der Erkenntnis orientiertes Leben den höchsten Grad von Lustempfindung mit sich 29 Gorgias 523a f.; ähnlich Politeia X 608c ff.

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bringe (R. IX 580d–583a). Zum anderen ergibt eine Betrachtung der Qualitätsgrade verschiedener Vergnügungen, dass der Philosoph eine „729mal größere Lust“ als der Nichtphilosoph empfinde (R. IX 583b–588a). Der Philosoph kann mit dieser überlegenen Lustempfindung offenbar jeden sozialen Nachteil und andere widrigen Außenumstände ausgleichen. 7 Systematische Perspektiven Platon hat eine Fülle wichtiger gütertheoretischer Überlegungen anzubieten, die sich nicht auf die einfache Hobbes’sche homo oeconomicus-Konzeption oder ein Hume’sches DesireModell reduzieren lassen. Sie beziehen außerökonomische Aspekte mit ein und begreifen den ökonomischen Teil einer Gütertheorie (Geld, Waren, Geschäfte, Dienstleistungen, Allokation, Güterdistribution usw.) als Teil einer umfassenden (deskriptiven und normativen) Theorie menschlichen Präferenzverhaltens. Die genannten Elemente der Platonischen Güterkonzeption gehören näherhin in den Theoriezusammenhang eines teleologischen Eudämonismus.30 Von Platons Gütertheorie kann man lernen: (a) Wir handeln (oft/in der Mehrzahl der Fälle) in Zielketten, deren Abschlüsse wir stets bejahen müssen. (b) Rationalerweise müssen Zielketten endlich (überschaubar) lang sein. (c) Rationalerweise müssen Zielketten so beschaffen sein, dass intrinsische Güter an ihrem Ende stehen. (d) Die Wahl dessen, was als intrinsisches Gut in Betracht kommt, ist aufgrund seiner Zielstellung nicht-beliebig (Problem des Reichtums: Geld ist ein Allzweckmittel, aber kein intrinsisches Gut). (e) Intrinsische Güter sind solche, die den Gütercharakter instrumenteller (extrinsischer) Güter konstituieren. (f) Die Zweck-Mittel-Relation muss nicht nur effizient, sondern auch axiologisch angemessen sein. (g) Nicht alle intrinsischen Güter sind in allen Fällen abschließend wählenswert (Problem der Lust: Sie ist zwar immer intrinsisch gut, aber nicht immer liegt ihre Wahl im wohlverstandenen Interesse des Akteurs). Auch wenn mir dieser grundsätzlich als attraktiv und aktualisierbar erscheint, muss man dennoch keineswegs die gesamte Theorie akzeptieren, um Platons Ansatz in der gegenwärtigen Gütertheorie fruchtbar machen zu können. Insbesondere muss metaphysisches Gutsein nicht als genuiner Bestandteil eines teleologischen Eudämonismus erscheinen; man kann darauf vollkommen verzichten, ohne die eigentliche Theorie einzuschränken. Auch muss man keineswegs die starken Annahmen Platons zur funktionalen Teleologie teilen. Für Platons Güterkonzeption zentral erscheinen mir die Beobachtungen zum finalen Gutsein und zum intrinsischen Gutsein. Sie bilden eine mögliche theoretische Grundlage für zahlreiche (deskriptive und normative) Überlegungen zu personalen Aspekten des Ökonomi-

30 Darunter verstehe ich ein Strebensmodell bestehend aus folgenden sieben Thesen: [1] Jede Handlung eines Akteurs ist stets auf ein Ziel oder einen Zweck gerichtet. [2] Mit jedem Ziel oder Zweck strebt ein Akteur nach einem (wirklichen oder vermeintlichen) Gut. [3] Ziele oder Zwecke differenzieren sich nach der Antithese von instrumentellen und intrinsischen Gütern; erstere werden (gewöhnlich und zugleich vernünftigerweise) um letzterer willen gewählt. [4] Dabei ergeben sich mehr oder minder lange Zielketten, denn einzelne Handlungen sind (in der Mehrzahl der Fälle) in größere Mittel-Zweck-Abfolgen integriert. [5] Jede Handlung eines Individuums gehört in letzter Konsequenz einem Güter- oder ZweckKontinuum an, welches das gesamte Leben des betreffenden Individuums einschließt. [6] Dieses GüterKontinuum richtet sich auf einen umfassenden letzten Zweck. [7] Der umfassende Zweck besteht im Glück oder gelingenden Leben.

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schen (Beschreibung und Kritik verfehlter Präferenzen, Kritik der pleonexía), politisch-sozialen Aspekten (gesellschaftliche Entwicklungen) sowie politisch-institutionellen Aspekten (Revision von Institutionen und Schaffung neuer Institutionen). Wichtig ist zudem die Idee einer vernünftigen Selbsttransformation, mit der Menschen in ihren Bestzustand gelangen.

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Platon und der homo oeconomicus Jörn Müller

Abstract Continuing the line of investigation laid out by Sabine Föllinger’s book Ökonomie bei Platon (2016), this article explores Plato’s attitude to the set of assumptions about human action, which are usually labelled as homo oeconomicus in contemporary social science. A close reading of several texts stretching from the early Protagoras to the late Laws reveals that Plato repeatedly addresses and analyses this model, especially in his discussions of weakwilled actions (akrasίa) and of hedonism as a contender for the best form of life. Plato criticizes a certain rational choice-theory of human action oriented towards the calculation of a purely quantitative maximum of pleasure but he does not completely discard it because he sticks to the idea that knowledge is ultimately the guide to the best life, which is also the most pleasant. By refining the idea of a “science of measurement” (metrētikḗ téchnē), Plato establishes rational criteria for the preferential choice between different kinds of pleasure and allows for a qualitative hedonism which is integrated into an overarching picture of happiness. He ultimately rejects a pure maximization of pleasures in favor of a philosophical knowledge of how to optimize the overall good in one’s life. This involves a much more substantial role for rationality which transcends the rather restricted and instrumental role assigned to it in contemporary rational choice-theory. Plato’s approach towards akrasía and hedonism amounts to a significant transformation of the homo oeconomicus-model which nevertheless ties in with some developments in recent economic theory (e.g. in Amartya Sen’s The Idea of Justice, 2009). The overall aim of this article is to establish a fresh look at Plato’s ethics in the light of his implicit discussion of rational choice-assumptions. At the same time it is intended to establish a kind of groundwork for future discussions along those lines between historians of ancient philosophy and presentday economists, based on a sophisticated understanding of the homo oeconomicus. In ihrer jüngst erschienenen Monographie zur Ökonomie bei Platon geht Sabine Föllinger der Frage nach, ob bzw. inwieweit sich Platons Überlegungen mit gegenwärtigen wirtschaftswissenschaftlichen Grundannahmen in Relation setzen lassen. Sie kommt dabei zu einem differenzierten Befund: „Es ist also möglich, die Platonische Ökonomie in modernen Kategorien zu erklären, wenn man sich der Unterschiede bewußt ist.“1 Eine Schlüsselrolle kommt bei dieser Verhältnisbestimmung dem Standardmodell des sog. homo oeconomicus in den gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zu, in dem der Mensch als ein rationaler Nutzenmaximierer verstanden wird. Sabine Föllinger untersucht ausführlich, inwiefern sich dieser Ansatz mit Platons Menschenbild vergleichen lässt, wobei sie sich primär auf 1 Föllinger 2016, 62.

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Texte aus der Politeia und den Nomoi stützt.2 Im Ergebnis weist sie überzeugend nach, dass der Wunsch nach Maximierung des eigenen Nutzens bei Platon ein grundlegender Zug des Menschen ist, weshalb in den beiden genannten Werken auch immer wieder gesprächsstrategisch mit dem Nutzen argumentiert wird.3 Dabei werden zugleich zentrale Differenzen im Verständnis des Nutzenbegriffs zwischen Platon und moderner Ökonomie deutlich, die dennoch das prinzipielle Anliegen von Föllinger, Platons ökonomische Überlegungen in modernen Begrifflichkeiten zu spiegeln, nicht konterkarieren. Mit diesem systematischen Abgleich platonischer Texte mit dem gegenwärtigen homo oeconomicus-Modell betritt Sabine Föllinger weitestgehend interpretatives Neuland. 4 Im Folgenden möchte ich diesen hermeneutisch ertragreichen Ansatz in einer anderen Richtung weiterentwickeln. Während es Föllingers primäre Intention ist, eine Art rahmenhafte Kompatibilität von platonischem Menschenbild und homo oeconomicus zu plausibilisieren, möchte ich zeigen, wie Platon selbst gleichermaßen avant la lettre mit zentralen Annahmen dieses Modells operiert, sie dabei aber auch kritisiert und transformiert. 5 Meine leitende Hypothese lautet, dass sich im Corpus Platonicum eine ebenso spannungsreiche wie inhaltlich produktive Auseinandersetzung mit einigen Grundideen des gegenwärtigen homo oeconomicus-Modells findet. Um deren Gehalt und Stoßrichtung zu rekonstruieren, werde ich zuerst in gebotener Kürze darstellen, wie der homo oeconomicus in der gegenwärtigen Literatur modelliert und konturiert wird (Teil 1). Vor dieser Folie werde ich im Durchgang durch einige Schriften Platons, die sich von den frühen sokratischen Dialogen (Protagoras und Gorgias) über das mittlere Werk (Politeia) bis hin zu den Spätschriften (Philebos und Nomoi) – mithin über das gesamte Corpus Platonicum – erstrecken, aufweisen, in welchen Kontexten und mit welcher Stoßrichtung Platon sich kontinuierlich mit einer Art homo oeconomicusModell befasst. Diese leitmotivische Lektüre wird v. a. um das Problem der Willensschwäche und die Auseinandersetzung Platons mit dem Hedonismus kreisen (Teile 2–5). In einer abschließenden Synopse wird dann das ambivalente Verhältnis Platons zu diesem Modell resümiert und angedacht, welche Schlussfolgerungen aus diesen Überlegungen für einen Dialog platonischen Philosophierens mit den heutigen Wirtschaftswissenschaften abgeleitet werden können (Teil 6). Meine Absicht ist dabei keineswegs der Nachweis dafür, dass Plato von nun ab als der eigentliche ‚Erfinder‘ des homo oeconomicus zu gelten habe;6 vielmehr geht es mir darum, durch eine theoriegestützte Analyse bzw. Rekonstruktion einen Beitrag zum vertieften Verständnis der platonischen Ethik anzubieten, der hoffentlich auch interdisziplinär einigen hermeneutischen Gewinn abwirft.

2 Vgl. ebd., Kap. 6 („Der homo oeconomicus: Ein Vergleich von Kategorien der modernen Ökonomie mit dem Platonischen Ansatz“). 3 Vgl. ebd., 61f. 4 Zur insgesamt kritischen Sicht Platons auf den Reichtum und das menschliche Streben nach materiellen Gütern vgl. Schriefl 2013, bes. 142–148 und 174–194 zur Verankerung der Pleonexie in der menschlichen Psychologie. 5 Dabei werde ich an geeigneter Stelle auf einzelne Befunde von Sabine Föllinger zurückkommen, ohne dabei die Absicht zu verfolgen, ihre systematischen Überlegungen en détail nachzuzeichnen. 6 Zur Herkunft des Modells aus der klassischen Nationalökonomie vgl. Kirchgässner 32008, Kap. 3.

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Platon und der homo oeconomicus

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1 Die Modellierung des homo oeconomicus Unter dem Sammelbegriff ‚homo oeconomicus‘ werden in der modernen Literatur de facto verschiedene Modelle entwickelt, die zwar grosso modo in eine ähnliche Richtung tendieren, sich aber bei näherem Hinsehen hinsichtlich der Reichweite ihrer Annahmen bzw. Aussagen unterscheiden. Zwei Hauptstränge lassen sich unterscheiden: 1.1 Der homo oeconomicus als Persönlichkeitstypus Eduard Spranger hat in einer erstmals 1921 veröffentlichten Studie zur Psychologie und Ethik von Lebensformen verschiedene idealisierte Grundtypen menschlicher Persönlichkeit unterschieden. Eine davon ist „der ökonomische Mensch“,7 den Spranger wie folgt charakterisiert: „Der ökonomische Mensch im allgemeinsten Sinne ist also derjenige, der in allen Lebensbeziehungen den Nützlichkeitswert voranstellt. Alles wird für ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung, des naturhaften Kampfs ums Dasein und der angenehmen Lebensgestaltung.“8 Das Nützliche ist dem ökonomischen Menschen ein Mittel zur Befriedigung von eigenen Bedürfnissen, worin die entscheidende Motivation seiner verschiedenen Lebensaktivitäten liegt; diesem angestrebten äußerlichen Nutzeneffekt werden dann konsequent alle inneren Fähigkeiten wie etwa Wissen und Tugenden unterstellt: Sie werden allein unter dem praktischen Gesichtspunkt der Verwertbarkeit und Anwendbarkeit gesehen und beurteilt. Das Verhalten des ökonomischen Menschen ist dabei primär egoistisch motiviert, aber deshalb nicht notwendig kurzsichtig. Spranger betont vielmehr, dass die Urteile über den Nützlichkeitswert „rational unterbaut“ sind, insofern sich in ihnen eine „eingehüllte Rationalität“ zeigt.9 Der ökonomische Mensch ist vor allem darauf aus, das Nützliche möglichst umfassend und effizient zu kalkulieren: „Das ideale Lebensziel des ökonomischen Menschen wäre ein wirtschaftlicher Rationalismus, die Umwandlung des ganzen Lebensprozesses in eine umfassende Rechnung, in der kein Faktor mehr unbekannt ist.“10 An dieser Idee eines rational informierten Nützlichkeitskalküls zeigt sich, dass Spranger diesen Persönlichkeitstypus indirekt mit dem Utilitarismus à la Bentham und Mill in Verbindung bringt – allerdings gerade nicht mit der normativen Pointe des Utility Principle, dass moralisches Handeln einen Beitrag zum größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl leisten soll, sondern nur mit der Idee einer egoistischen Nutzenmaximierung des individuellen Akteurs. 11 Dieser Maximierungslogik des ökonomischen Menschen attestiert Spranger ebenso wie dem Bereich der Ökonomie in toto etwas geradezu Grenzenloses bzw. Unersättliches, immer wieder über das bereits erreichte Maß von Bedürfnisbefriedigung Hinausdrängendes. 12 Der ökonomische Mensch ist also ein zweckrationaler egoistischer Nutzenmaximierer. Spranger sieht ihn aber lediglich als eine typische Lebensform bzw. als eine menschliche

7 8 9 10 11 12

Vgl. Spranger 61927, Kap. 2, 145–164. Ebd., 148. Ebd., 156. Ebd., 150. Ebd., 148, spricht er auch explizit vom ökonomischen Menschen als „Utilitarier“. Im wirtschaftlichen Streben an sich liegt nach Spranger etwas „Unendliches“, eine inhärente Tendenz, „nicht an einem bestimmten Durchschnittspunkte auf[zu]hören, sondern über den gegebenen Befriedigungsstand noch weiter hinaus[zu]wachsen“ (ebd., 147).

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Persönlichkeitsstruktur neben anderen Grundtypen von Individualität 13 und nicht als ein umfassendes Modell zur Beschreibung menschlichen Verhaltens insgesamt. Dies ändert sich in der zweiten und heutzutage dominanten Modellierung: 1.2 Der homo oeconomicus im Sinne der ‚Rational Choice Theory‘ In der rezenten wissenschaftlichen Literatur wird der Terminus homo oeconomicus v. a. mit einem ökonomischen Verhaltensmodell in Verbindung gebracht, mit dem individuelle menschliche Entscheidungen in ihrer Genese erklärt werden sollen. Hier werden zwei zentrale Annahmen gemacht, die sich strukturell schon in Sprangers Zeichnung des ökonomischen Menschen gezeigt haben:14 a. Eigennutzenaxiom: Jedes Individuum handelt nur im Sinne eigener Interessen, so dass Missgunst und Neid, aber auch Altruismus als Handlungsmotivationen ausgeschlossen sind. Das Ziel des Handelns ist die Maximierung des eigenen Nutzens. In dieser Prämisse kommt nicht zuletzt der vorherrschende methodische Atomismus des homo oeconomicusModells deutlich zum Tragen. b. Prinzip der rationalen Maximierung: Als ‚rational‘ gilt ein Verhalten dann, wenn es geeignet ist, die vorgegebenen Präferenzen des Akteurs bestmöglich – also im Sinne des höchsten ‚Netto-Nutzens‘ – zu erfüllen. Zu dieser Maximierung müssen die verschiedenen Handlungsoptionen im Lichte einschlägiger Restriktionen und Informationen abgewogen und miteinander verglichen werden, und zwar auch in einem angemessenen Zeithorizont: Größerer langfristiger Nutzen trumpft kurzfristigen kleineren Nutzen, ebenso wie größerer langfristiger Schaden die Bewertung des gegenwärtigen Nutzens von vorliegenden Handlungsoptionen nachhaltig beeinträchtigt. ‚Rationalität‘ wird hier somit primär verstanden als eine auf stabilen Präferenzen basierende und zeitkonsistente Auswahl der besten Handlungsoption. Das ist der Kern der verschiedenen Rational ChoiceAnsätze, die zur Modellierung des homo oeconomicus herangezogen werden. Die Vernunft, die hier im Spiel ist, wird somit rein instrumentell verstanden. Sie reflektiert nicht über höchste bzw. letzte Ziele, also über die Präferenzen selbst, sondern nur über deren maximierende Realisierung im Handeln. 15 Mit Blick auf die Wertung von Handlungen lassen sich im Anschluss an Amartya Sen ergänzend drei Charakteristika des ökonomischen Rationalitätskonzepts nennen: 16 – Konsequentialismus: Handlungen werden nur nach den Folgen beurteilt. – Es herrscht Handlungs- und nicht Regelwertung. – Es werden nur Handlungen einbezogen, die auf das eigene Interesse der Person bezogen sind.

13 Andere Typen sind bei ihm der theoretische, der ästhetische, der soziale, der religiöse und der Machtmensch. 14 Vgl. zum Folgenden Kirchgässner 32008, 12–62 und Rüfer 2019, 15–38. 15 Rationalität in diesem eingeschränkten Sinne erfordert deshalb primär interne Konsistenz der Entscheidungen. Vgl. Sen 1977, 323: „A person’s choices are considered ‘rational’ in this approach if and only if these choices can all be explained in terms of some preference relation consistent with the revealed preference definition, that is, if all his choices can be explained as the choosing of ‘most preferred’ alternatives with respect to a postulated preference relation.” 16 Vgl. ebd., 342.

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Dieses Standardmodell des homo oeconomicus als Inbegriff von Rational Choice-Annahmen entstammt ursprünglich der klassischen Nationalökonomie, ist aber mittlerweile nicht nur in den Wirtschaftswissenschaften, sondern auch in anderen Sozialwissenschaften ein gängiges Referenzmodell zur Beschreibung und Erklärung individuellen Entscheidungsverhaltens. Seine Reichweite ist freilich umstritten. Oft betonen diejenigen, die sich dieses Modells bedienen, in fast schon apologetischer Manier seinen rein deskriptiven Charakter: Im Sinne einer wertfreien Wissenschaft diene es nur zur Analyse oder Prädiktion menschlichen Verhaltens, ohne damit zugleich normative Aussagen zu intendieren. Ebenso wenig sei damit eine grundlegende anthropologische Grundaussage insinuiert: Der homo oeconomicus sei weder als Menschenbild noch als Ideal zu interpretieren, sondern als ein bloßes Analysekonstrukt. Hier hat die Annahme eines nach dem Nutzenprinzip agierenden Wirtschaftssubjekts also im Selbstverständnis der damit operierenden Wissenschaftler/innen eine primär heuristische Funktion, die zudem meist auf bestimmte Bereiche des menschlichen Verhaltens limitiert wird. Allerdings gibt es auch explanatorisch wesentlich ambitioniertere Varianten dieses Modells, für die man beispielhaft Gary S. Becker, einen Schüler Milton Friedmanns, ins Feld führen kann, der wesentlich die Chicagoer Schule geprägt hat. Becker entgrenzt den homo oeconomicus tendenziell, insofern er meint, dass das ökonomische Erklärungsmodell als Passepartout für die Erklärung sämtlicher Entscheidungen dienen kann, die ein Akteur fällt. 17 Der rationale egoistische Nutzenmaximierer wird somit zum „einheitliche[n] Bezugsrahmen für die Analyse allen menschlichen Verhaltens“18 ausgedehnt. Damit sind wir gewissermassen an einem Extrempol des homo oeconomicus angekommen: Wo Spranger nur bestimmte Individuen als Vertreter einer idealtypisch konturierten Lebensform in den Blick nahm, geht es bei Becker um eine Deutung menschlichen Entscheidungsverhaltens schlechthin. 2 Das Problem der akrasía in Platons Protagoras: Wie ist irrationale Selbstschädigung möglich? Platon setzt sich indirekt bereits in seinen frühen sokratischen Dialogen mit den beiden oben geschilderten Varianten des homo oeconomicus auseinander. Insbesondere im Gorgias inszeniert er eine schonungslose Kontroverse mit dem Sophisten-Schüler Kallikles, der von Sokrates als Vertreter einer rücksichtslos auf egoistische Nutzenmaximierung ausgerichteten Lebensführung dargestellt wird.19 Bei ihm haben wir es am ehesten mit einem homo oeconomicus als spezifischem Persönlichkeitstypus im Sinne Sprangers zu tun. Daneben findet sich im Frühwerk aber auch eine weitere prinzipielle Auseinandersetzung grundgelegt, die den handlungstheoretischen Grundlagen der modernen Rational Choice-Variante des homo

17 Vgl. hierzu programmatisch Becker 21993, 1–15, bes. 15: „Der Kern meines Argumentes ist, daß menschliches Verhalten nicht schizophren ist: einmal auf Maximierung ausgerichtet, einmal nicht; manchmal durch stabile Präferenzen motiviert, manchmal durch unbeständige; manchmal zu einer optimalen Akkumulation von Informationen führend, manchmal nicht. Alles menschliche Verhalten kann vielmehr so betrachtet werden, als habe man es mit Akteuren zu tun, die ihren Nutzen, bezogen auf ein stabiles Präferenzsystem, maximieren und sich in verschiedenen Märkten eine optimale Ausstattung an Informationen und anderen Faktoren schaffen.“ 18 Ebd., 7. 19 Vgl. Platon, Grg. 481b–522e.

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oeconomicus gewidmet ist. Die Wurzeln dieser bis ins Spätwerk reichenden Debatte lassen sich bis zum Protagoras zurückverfolgen. In diesem frühen sokratischen Dialog findet sich eine luzide Diskussion des Problems der akrasía, also der Unbeherrschtheit bzw. Willensschwäche, die – etwas vereinfacht gesprochen – in einem Handeln wider besseres Wissen besteht. 20 Diese Passage ist eingebettet in eine grundlegende Diskussion des Tugendbegriffs bzw. der Frage nach der Einheit der Tugenden. Insofern hier der Gedanke im Hintergrund steht, dass die Tugenden gemäß einer berühmt-berüchtigten These des Sokrates identisch mit Wissen sind, steht in der Diskussion von akratischem Verhalten die handlungsleitende Suprematie des Wissens grundlegend in Frage: Ist das Wissen um das Gute und Schlechte aus sich heraus hinreichend zur richtigen Gestaltung des eigenen Handelns? Oder steht es doch in Gefahr, im konkreten Verhalten von anderen inneren Antrieben, insbesondere von Emotionen, wie ein Sklave herumgezerrt zu werden? Gerade das Auftreten von akrasía scheint eher in die zweite Richtung zu weisen und die These zu belegen, „viele wüssten, was am besten sei, seien aber nicht bereit es zu tun, obwohl es ihnen freistünde, sondern täten anderes“.21 Diese These wird nun als eine Behauptung der „Vielen“ bzw. der Menge vorgestellt, also als eine Art populärer Common Sense, 22 und von Sokrates geprüft. In bester elenktischer Manier verwendet er eine Widerlegung aus den eigenen Voraussetzungen dieser Position heraus zu konstruieren. Wie sieht die zu Grunde liegende Handlungstheorie des Common Sense aus? Sokrates arbeitet drei Momente heraus: 1. Die werttheoretische Prämisse dieser Position ist ein hedonistischer Monismus, in Form der Annahme einer Identität des Guten mit der Lust (bzw. des Schlechten mit der Unlust): „Das also glaubt ihr, sei ein Übel die Unlust, und ein Gut die Lust, da ihr dann sogar vom Lustgenuss selbst sagt, er sei schlecht, wenn er einen um größere Lust bringt als die, die er selbst gewährt, oder größere Unlust bereitet als die durch ihn gewährte Lust. Denn wenn ihr aus einem anderen Grund und mit Blick auf ein anderes Ziel den Lustgenuss selbst schlecht nennt, könntet ihr es uns auch sagen; aber ihr werdet es nicht können.“23 Das Lustvolle ist dabei definiert als das, was an der Lust teilhat oder sie bewirkend hervorbringt, und wird so wesentlich von seinen hedonischen Konsequenzen her bestimmt und bewertet.24 2. Alles Handeln ist auf der Basis dieses monistischen Hedonismus allein darauf ausgerichtet, ein Maximum an Lust und ein Minimum an Unlust hervorzubringen. Das bedingt z. B. ein Abstandnehmen von bestimmten Lüsten, wenn diese größere Schmerzen in sich bergen, oder auch ein Inkaufnehmen von Unlust, wenn dadurch größerer Schmerz verhindert oder noch mehr Lust als Unlust verschafft wird. Sokrates lässt keinen Zweifel daran, dass ein konsequenter wertmonistischer Hedonist letztlich bereit sein muss, von 20 Platon, Prt. 351b–358e. Vgl. hierzu und zur weiteren Entwicklung der Thematik der Willensschwäche im Corpus Platonicum meine Überlegungen in Müller 2009. 21 Prt. 352d. Vgl. auch ebd., 353a. 22 Vgl. ebd., 351c, 352b/d, 353a/e: οἱ πολλοί (hoi polloí). 23 Prt. 354c–d (Übers. hier und nachfolgend: B. Manuwald). Dass die Hedonisten sozusagen contre cœur grundsätzlich konzedieren müssen, dass es auch schlechte Lüste gibt, wird auch in R. VI 505c, unterstrichen. 24 Vgl. Prt. 351d–e. Zu dieser folgenorientierten bzw. konsequentialistischen Sichtweise der Menge vgl. auch ebd., 353c–354e.

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schlechten Lustgenüssen zu sprechen. Der Lustgenuss ist in solchen Fällen zwar nicht an sich ein Übel – das würde die hedonistische Wertprämisse ja schon direkt ad absurdum führen –, wohl aber in Bezug auf die damit verbundenen Lusteinbußen in der Gesamtbilanz. 3. Dabei bringt Sokrates auch die zeitliche Bedingtheit bzw. Versetztheit der Gegenstände solcher Kalkulationen ins Spiel: „Inwiefern behauptet ihr, dass sie schlecht seien? Weil jedes von ihnen beim gegenwärtigen Erleben (ἐν τῷ παραχρῆμα; en tṓ parachrḗma; Anm. d. Verf.) jene Lust verschafft und angenehm ist, oder weil es später (εἰς τὸν ὕστερον χρόνον; eis tón hýsteron chrónon) zu Krankheit und Armut führt und vieles andere dieser Art bewirkt?“25 Neben den unmittelbaren Empfindungen sedimentieren sich bei der Menge also auch positive und negative hedonische Erwartungswerte in einer temporal strukturierten Kalkulation. Fasst man diese Skizze des populären Common Sense zusammen, ergibt sich, dass sie entgegen der ursprünglichen Vermutung des Protagoras keineswegs „irgendetwas Beliebiges daherredet“.26 Im Kern vertritt sie – zumindest in ihrer Rekonstruktion durch Sokrates – eine Auffassung vom Handeln entlang heute gängiger Rational Choice-Annahmen. Hier steht somit grosso modo das zur Diskussion, was Gary S. Becker mit seinem Verständnis des homo oeconomicus im Blick hat, nämlich eine allgemeingültige Erklärung allen menschlichen Verhaltens im Licht einer stabilen – hier: hedonistischen27 – Präferenz. Der hedonistische Akteur erscheint somit nicht als brachialer Wollüstling, der sich à tout prix auf jede unmittelbar verfügbare Lust stürzt, sondern als ein zeitkonsistenter Erwartungsnutzenoptimierer, der seine Handlungen im Licht längerfristiger Konsequenzen und unter Berücksichtigung der zeitlichen Parameter in einer Abwägung bewertet und konsequent die nützlichste wählt. Sokrates buchstabiert dabei die dafür erforderliche Logik des Lust-/UnlustKalküls recht detailliert aus: „Vielmehr wie jemand, der gut wiegen kann, stelle das Angenehme zusammen und stelle das Unangenehme zusammen und, wenn du (auch noch) die Gesichtspunkte der unmittelbar bevorstehenden Zeit und der ferneren Zukunft auf die Waage gelegt hast, sage, welches von beiden mehr ist. [i]28 Wenn Du nämlich Angenehmes im Vergleich zu Angenehmen wägst, musst du jeweils das nehmen, was größer und mehr ist; [ii] wenn Unangenehmes im Vergleich zu Unangenehmen, das, was weniger und kleiner ist; 25 Ebd., 353c–d. Vgl. auch ebd., 354b in Bezug auf hartes körperliches Training, schmerzhafte ärztliche Behandlungen, u. a.: „Nennt ihr diese Dinge nun darum gut, weil sie hier und jetzt (ἐν τῷ παραχρῆμα) äußerste Qualen und Schmerzen bereiten oder weil sie danach (εἰς τὸν ὕστερον χρόνον) zu Gesundheit, guter körperlicher Kondition (…) führen?“ 26 Ebd., 353b. 27 Natürlich soll damit nicht insinuiert sein, dass die Rational Choice-Theoreme in gegenwärtigen Entwürfen speziell auf die Maximierung hedonistischer Präferenzen zugeschnitten sind. Aber sie sollten auch unter der Annahme von individueller Lust als zu maximierender Präferenz funktionieren. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass Becker selbst seinen Ansatz explizit mit Benthams hedonistischer Kalkülidee verbindet (ebd., 8). Auch bei Becker geht es letztlich in der Nutzenfunktion um die Maximierung von „pleasures“, die aber im Gegensatz zu Bentham nicht inhaltlich spezifiziert werden; vgl. hierzu Manstetten 32004, 97f. Auch Bösherz/Noack 2016 verweisen darauf, dass ein Abgleich von Platon mit dem gegenwärtigen homo oeconomicus am besten über die Prinzipien der Lustmaximierung bzw. Schmerzminimierung geleistet werden kann und konzentrieren sich in ihrer Analyse auf die Nomoi. Ich danke beiden Autoren dafür, dass ich dieses unveröffentlichte Diskussionspapier vorab einsehen durfte. 28 Die Nummerierung in eckigen Klammern wurde vom Verf. [J. M.] hinzugefügt.

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[iii] wenn Angenehmes im Vergleich zu Unangenehmen, musst du, falls das Angenehme das Unangenehme überwiegt, [iii/a] sei es das in fernerer Zukunft liegende Angenehme das unmittelbar bevorstehende Unangenehme, [iii/b] sei es das unmittelbar bevorstehende Angenehme das in fernerer Zukunft liegende Unangenehme, jeweils die Handlung ausführen, bei welcher das Angenehme überwiegt; falls aber das Unangenehme gegenüber dem Angenehmen überwiegt, darfst du diese Handlung nicht ausführen.“29 Die verschiedenen Regeln [i], [ii] und [iii] definieren die Parameter einer klaren Präferenzordnung im Urteilen und Handeln, die mit der Logik des homo oeconomicus vollauf übereinstimmt. Sokrates übernimmt nun selbst probehalber diese hedonistische Position 30 und führt den Nachweis, dass auf dieser Grundlage mit der herkömmlichen Auffassung der Masse vom Phänomen der akrasía etwas faul ist. Die Meisten verstehen unter akratischem Verhalten nämlich ein „Von-den-Lüsten-besiegt werden“31 und bringen damit als kausalen Faktor zur Erklärung solcher Handlungen den Lustgewinn ein, der dafür verantwortlich sei, dass man das Gute zwar wisse, es aber nicht tue. Diese Erklärung hält Sokrates nun für verfehlt. Seine Wiederlegung basiert dabei zum einen auf der wechselseitigen Substituierbarkeit von „gut“ und „lustvoll“, zum anderen auf den mit der dargestellten Handlungstheorie des Common Sense voll kompatiblen Annahmen, dass ein Akteur stets von zwei konkurrierenden Gütern das Größere und im Fall von zwei Übeln immer das kleinere zu wählen hat. Das entspricht dem Rationalitätsverständnis des homo oeconomicus, wird aber von Sokrates selbst zum Abschluss der gesamten Diskussion auch noch einmal selbst emphatisch bestätigt: „Nicht wahr, sagte ich, das Schlechte geht freiwillig niemand an, auch nicht das, was er für schlecht hält, und das liegt, wie es scheint, nicht in der Natur des Menschen, das angehen zu wollen, was er für schlecht hält statt des Guten? Und sooft man gezwungen wird, eines von zwei Übeln zu wählen, wird niemand das Größere wählen, wenn er das kleinere wählen könnte.“32 Menschliches Handeln erfolgt, wie Platon an anderer Stelle im Gorgias vertieft analysiert, stets sub ratione boni,33 und das schließt grundsätzlich auch einen abwägenden Vergleich von involvierten Nutzenwerten und Folgeschäden ein. Doch dieses handlungstheoretische Modell scheitert nun zumindest prima facie an der Erklärung akratischen Handelns. Denn wie kann man unter diesen Voraussetzungen um die schlechten Konsequenzen des eigenen Handelns wissen und es trotzdem tun? Dieses Phänomen der irrationalen Selbstschädigung ist für das Modell des zweckrationalen homo oeconomicus eine nicht einfach von der Hand zu weisende Herausforderung, insbesondere dann, wenn man – wie Gary Becker – ein Modell für die Erklärung allen menschlichen Verhaltens intendiert. Damit hat dann aber auch die von Sokrates rekonstruierte Auffassung der Meisten in ihrer Handlungstheorie ein fundamentales Problem, das letztlich aus der Insuffizienz ihrer kausalen Erklärung resultiert. Denn akrasía meint ja: (A) a gibt X gegenüber Y den Vorzug, obwohl er weiß bzw. meint, dass Y besser ist als X, 29 Prt. 356b–c. 30 Mit Van Riel 2000, 9, gehe ich davon aus, dass Sokrates sich hier im Verbund mit Protagoras eher als kritischer Prüfer populärer Meinungen betätigt, die er deshalb nicht notwendig teilt. Gosling/Taylor 1982, 58–58, argumentieren hingegen dafür, dass Sokrates (bzw. Platon) diese hedonistische Grundthese selbst vertritt. 31 Prt. 353a. 32 Prt. 358c–d. 33 Vgl. Grg. 467c–468b; 499e.

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und d. h. übertragen in den hedonistischen Sprachgebrauch des populären Common Sense: (A') a gibt X gegenüber Y den Vorzug, obwohl er weiß/meint, dass Y lustvoller ist als X. Fügt man dieser Phänomenbeschreibung die Erklärung der Masse hinzu, so ergibt sich: (B) a gibt X gegenüber Y den Vorzug, obwohl er weiß/meint, dass Y lustvoller ist als X, weil er von der Lust überwältigt wird. Wie Sokrates dann herausarbeitet, meint „von der Lust überwältigt werden“ nichts anderes, als dass man ein minderwertiges Gut bzw. Lustvolles einem höheren vorzieht.34 Indem bei der dargelegten Wahl nun in der sokratischen Darstellung die Situation einer intentionalen Vorzugswahl vorliegt,35 in der die realisierte Handlungsoption letztlich auf ihrer positiven Evaluation beruht, ergibt sich damit aber: (B') a gibt X gegenüber Y den Vorzug, obwohl er weiß/meint, dass Y lustvoller ist als X, weil er X für lustvoller hält als Y.36 Spätestens hier wird deutlich, dass Sokrates die populäre Auffassung in eine klassische reductio ad absurdum manövriert hat. Der Common Sense läuft also in Sachen Willensschwäche darauf hinaus, dass „jemand im Wissen, dass es schlecht ist, das Schlechte tut, überwältigt vom Guten“.37 Die Erklärung der Menge für akrasía führt in die Paradoxie, dass ein uneingeschränkt und einzig nach der Lust strebender Mensch um der Lust willen nicht das täte, was er für das Lustvollste hielte, weil er simultan zwei kontradiktorische Überzeugungen bzw. Haltungen im Blick auf die Handlungsoptionen X und Y besäße. Dadurch entsteht aber unter Zugrundelegung einer lustmaximierenden Vorzugsordnung eine massive evaluative Inkonsistenz: „Offenkundig versteht ihr unter dem Überwältigtwerden Folgendes: sich für eine geringere Menge an Gutem (die man gewinnt) größere Übel einzuhandeln.“38 Der Akratiker verstieße damit im Urteilen und Handeln flagrant gegen die von Sokrates selbst oben ausbuchstabierte Logik des Lust-/Unlustkalküls. Die Unterstellung eines solchen irrationalen Selbstwiderspruchs an den Handelnden hält Sokrates für „lächerlich“ bzw. für eine „lächerliche Rede“.39 Diese Art von akrasía kann es in einer rein hedonistischen Präferenzordnung schlicht nicht geben. Damit sind angesichts der empirisch unbestreitbaren Existenz des Phämomens nachhaltige Zweifel an dieser Auffassung der Masse angebracht – und auch an der explanatorischen Reichweite des homo oeconomicus-Modells. Aber wie erklärt Sokrates selbst dann eigentlich akratisches Verhalten? 40 Sein Grundgedanke lässt sich auf die Formulierung bringen, dass dem Handelnden eine Fehlkalkulation bei der Abwägung innerhalb seines Lustkalküls unterläuft. In den Kategorien moderner Nutzentheorie gesprochen: Er diskontiert falsch. Das zeitlich bzw. räumlich naheliegende Lustbringende erscheint ihm durch die „Macht der Erscheinung“ (356d: ἡ τοῦ φαινομένου 34 Vgl. Prt. 355d–e. 35 Vgl. Klosko 1980, 316: „And so Socrates makes the crucial assumption that the agent’s behavior is intentional. It is clear that ‘overcome’ must be interpreted as entailing intentional behavior on the part of the agent, or the contradiction would not develop.“ 36 Mit einer etwas anderen Rekonstruktion kommt Irwin 1977, 105, zu dem gleichen Ergebnis: „Sometimes A knows that x is worse than y, but still chooses x over y, because he believes x is better than y.” 37 Prt. 355d. 38 Prt. 355e. 39 Ebd., 355a/d. Vgl. in diesem Sinne auch Gallop 1964, 121f., und Irwin 1977, 105. Gegen diese Interpretation im Sinne eines unterstellten Selbstwiderspruchs vgl. Vlastos 1995, 53f. 40 Vgl. zum Folgenden Prt. 355e–358c.

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δύναμις; hē toú phainoménou dýnamis) größer, als es de facto ist, während er das weiter entfernte, in Wahrheit aber größere Gut zu niedrig veranschlagt. Sokrates vergleicht dies mit Täuschungen in der Wahrnehmung, wenn man etwas Größeres in der Ferne kleiner sieht, oder einen leisen Ton aus der Nähe lauter hört. Dadurch erscheint dann ein in sich kleineres Gut temporär größer, als es eigentlich ist, und auf dieses perspektivisch verfälschte Urteil hin handelt der Akteur. Das eigentlich akratische Moment liegt nach Sokrates also darin, dass der Akteur unter dem Einfluss der zeitlichen und räumlichen Nähe des hedonischen Objekts sein Urteil zumindest kurzfristig umschlagen lässt, obwohl er es ursprünglich eigentlich besser weiß bzw. wusste:41 Während er zum Zeitpunkt t1 noch Y für das größere Gut gegenüber X hält, erscheint ihm letzteres unter dem Eindruck der räumlichen und/oder zeitlichen Nähe von X zum Zeitpunkt t2 (dem Moment der Handlung) als das größere und deshalb zu erstrebende Gut; zu einem späteren Zeitpunkt t3, an dem die „Macht der Erscheinung“ wieder nachgelassen hat, kann ihm diese fehlerhafte Einschätzung dann auch ex post zu seinem eigenen Bedauern bewusst werden. Die so beschriebene Willensschwäche hätte somit einen rein diachronen Charakter: Der Akteur handelt nicht gegen ein simultanes gegenlautendes Urteil, sondern nur gegen ein vorher gefälltes, das dem oszillatorischen Umschlag der Meinung zum Opfer fällt. Im Moment der Handlung glaubt der Akteur durchaus, das zu tun, was ihm temporär als das Beste erscheint. Eine stärkere, nämlich synchrone Form der Willensschwäche ist damit ausgeschlossen. Dieser Fehler im hedonistischen Kalkül geht nun nach Sokrates letztlich auf das Fehlen einer adäquaten „Messkunst (Prt. 356d: ἡ μετρητικὴ τέχνη; hē metrētikḗ téchnē)“ beim Handelnden zurück, insofern sich der Handelnde nicht an der absoluten bzw. wahren Größe der lustbringenden Güter orientiert. Somit entpuppt sich akrasía in Wirklichkeit als ἀμαθία (amathía), als Unwissen bzw. Unverstand.42 Damit kann Sokrates den Bogen zum Wissen schlagen, das er ja in seiner unbezwungenen Suprematie für das menschliche Handeln wiedereinsetzen möchte: Der Akratiker (bzw. Amathiker) hat eben kein auf der Messkunst beruhendes Wissen (ἐπιστήμη; epistḗme), sondern lediglich eine „falsche Meinung“ (ψευδὴς δόξα; pseudḗs dóxa).43 Somit handelt er auch nicht gegen sein Urteil über das Beste, sondern folgt ihm, eben weil er nicht erkennt, dass es falsch kalkuliert ist. Deshalb liegt bei ihm eine Divergenz zwischen dem wahrhaft Gewollten (der größten Menge an Lust) und seinem aktuell intendierten Objekt vor.44 Nicht zuletzt deshalb liegt in der Messkunst „das Heil des Lebens“ (356d/357a: σωτηρία τοῦ βίου; sotēría toú bíou). Indem Sokrates die Messkunst explizit als ein Wissen kennzeichnet,45 ist zugleich der wesentliche Gehalt der These vom Tugendwissen gewahrt: Ein auf der Messkunst beruhendes Wissen ist notwendig und hinreichend für gutes Handeln, und es steht nicht in der Gefahr, durch irrationale Faktoren wider 41 Vgl. zu dieser Konzeptualisierung von Socratic akratic actions Mele 1996, der resümiert: „In some cases of backsliding, we act as we judge best, but the judgment itself is akratic.” (ebd., 158). 42 Vgl. Prt. 357d–e, 358c. 43 Vgl. ebd., 358c. 44 Auf die Bedeutung der Unterscheidung von intended object of desire und actual object of desire für die sokratische akrasía-Diskussion weist Santas 1964, 156, hin: „[W]e can say that what Socrates is denying is that bad things are the intended objects of these [scl. wrongdoing] people’s desires (...). Socrates is not denying (...) that the actual objects of these people’s desires are indeed bad things.” 45 Vgl. Prt. 357b.

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Willen entthront zu werden. Selbstbeherrschung (als Gegenstück zu der als Unverstand konzipierten Willensschwäche) ist somit nichts anderes als Weisheit (358c: σοφία; sophía), was wiederum die These von der im Wissenscharakter gründenden Einheit aller Tugenden im gesamten Dialog stärkt. Sokrates stellt hier auffälligerweise die Frage, um was für eine Art von Wissen es sich bei der heilsbringenden „Messkunst“ handelt, erst einmal zurück. Ihre endgültige Beantwortung findet sich dann später im Philebos, allerdings unter veränderten Vorzeichen (s. u., Teil 4). Vorläufig erscheint die μετρητικὴ τέχνη (metrētikḗ téchnē) im Kontext des Protagoras primär als ein Medium zur korrekten Abschätzung und Verrechnung von Lustquantitäten im Sinne des Mehr oder Weniger, die korrekte präferentielle Entscheidungen im Sinne der oben zitierten Vorzugsregeln erlaubt. Mit seiner reductio ad absurdum der Erklärung der Masse für akratisches Handeln hat Sokrates allerdings keineswegs das gesamte Modell der Handlungserklärung des homo oeconomicus umstandslos ad acta gelegt. Seine eigene Analyse des Phänomens ist sogar bis zu einem gewissen Grade vergleichbar mit modernen Rational Choice-Ansätzen zur Lösung des Problems der individuellen Selbstschädigung. Ein Beispiel dafür ist das Modell des im Grenzbereich von Ökonomik und Philosophie arbeitenden Psychologen George Ainslie.46 Er verweist auf einschlägige Befunde aus der empirischen Psychologie, welche die Standardannahmen der ökonomischen Nutzentheorie in Frage stellen, insofern sie dem Rationalitätsparadigma eines in seinen Entscheidungen konsistent am größten Nutzen orientierten Akteurs zuwiderlaufen. Dafür gibt er folgendes alltagstaugliches Beispiel: „Wenn ich in einem Raum voller Leute bitte, sie sollten sich vorstellen, sie hätten bei einem Wettbewerb gewonnen und könnten zwischen einem sofort einlösbaren, gedeckten Scheck über 100 Euro und einem auf später datierten und erst nach drei Jahren einlösbaren Scheck über 200 Euro wählen, antwortet normalerweise mehr als die Hälfte der Personen, sie hätten lieber gleich 100 Euro. Wenn ich dann fortfahre und frage, wie es mit 100 Euro nach sechs Jahren und 200 Euro nach neun Jahren steht, entscheiden sich fast alle für die 200 Euro. Dabei handelt es sich jedoch um dieselbe Wahl, die aus einem sechs Jahre längeren Abstand gesehen wird.“47 Im Sinne der klassischen Nutzentheorie ist ein solches Verhalten irrational, da es nicht der Forderung der objektiven Konstanz genügt: Belohnungen sollten zeitkonsistent im Verhältnis zu ihrem objektiven Betrag und ihrem zeitlichen Eintreten bewertet und miteinander verglichen werden. Der nicht zu leugnende empirische Befund legt somit einen Finger in die Wunde der klassischen Nutzentheorie im Sinne des homo oeconomicus: Würden präferentielle Entscheidungen nur von kognitiven Wertungen gesteuert, könnte ein solches Verhalten gar nicht zustande kommen. Diese dynamische Inkonsistenz muss also anders erklärt werden. Interessanterweise verweisen Probanden dabei zur Erklärung ihrer temporären Präferenzumschwünge u. a. auf den Einfluss der Sinnlichkeit, 48 worin sich ein Echo der von Sokrates ins Feld geführten „Macht der Erscheinung“ (ἡ τοῦ φαινομένου δύναμις; hē toú phainoménou dýnamis) zeigt, die für Verzerrungen in der Evaluation des hedonischen Werts sorgt. Ainslie versucht nun gewissermaßen den Defekt der klassischen Nutzentheorie zu reparieren, indem er von der Idee abgeht, dass Nutzenwerte grundsätzlich exponentiell, also im Sinne einer 46 Vgl. zum Folgenden Ainslie 2005, eine deutsche Übersetzung von Ainslie 2001, Kap. 3 („The Warp in How We Evaluate the Future”), 27–47. 47 Ainslie 2005, 146. 48 Vgl. ebd. 146f.

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Maximierung prospektiver Belohnungen auf der Basis ihrer jeweiligen objektiven Größen, diskontiert werden. Stattdessen gebe es eine signifikante Delle in der Zukunftsbewertung, die deshalb eher mit einer hyperbolischen Kurve darstellbar sei. Ainslie postuliert auf dieser Basis einen „Basisinstinkt, (…) bei der Bewertung künftiger Ereignisse ihren Betrag durch ihre Verzögerung zu dividieren“. Dieses evaluative Muster hat die Implikation, dass wir dazu neigen, unmittelbar bevorstehende Belohnungen späteren sogar dann vorzuziehen, wenn letztere objektiv größer sind.49 Die Universalität der hyperbolischen Diskontierung, die Ainslie annimmt, verleiht dem Rational Choice-Modell dann aber ein ganz anderes Profil. Folgt man nämlich diesen Voraussetzungen, dann liegt es sogar „in der Natur des Menschen, dass sie geringeren, aber früheren Belohnungen den Vorzug vor größeren und späteren Belohnungen geben. Wir sind außerstande, nicht diejenige Belohnung zu wählen, die bei Diskontierung in Bezug auf den Augenblick der Wahl am größten ausschaut. Akrasía ist nichts anderes als Maximierung der erwarteten und mit Hilfe einer stark gebogenen Kurve diskontierten Belohnung.“50 Sokrates bzw. Platon und Ainslie stimmen also darin überein, dass die dem akratischen Verhalten zu Grunde liegende Urteilsoszillation mit der Annahme zeitkonsistenter Lust- bzw. Nutzenmaximierung im Sinne des Standardmodells des homo oeconomicus nicht kompatibel ist. Dieses Modell weist somit in puncto zeitinkonsistenten Wahlverhaltens eine klare explanatorische Lücke auf, zumindest insofern es als eine Ressource zur Erklärung jeglichen menschlichen Verhaltens aufgefasst wird. 51 Während aber im Protagoras Willensschwäche letztlich doch als ein – durch die Aneignung der Messkunst zu behebendes – kognitives Defizit dargestellt wird, schreibt Ainslie sozusagen das Rational Choice-Modell so um, dass akratisches Verhalten genau den von ihm neu definierten Rationalitätsstandards hyperbolischer Diskontierung entspricht. Platon hat nun allerdings die für die klassische Nutzentheorie so bedrängende Frage, wie es überhaupt zu willensschwachem Verhalten kommen kann, trotz seiner raffinierten Erklärung mittels der Urteilsoszillation noch nicht umfassend und abschließend geklärt, sondern kommt auch in seinem späteren Werk immer wieder darauf zurück. Aus diesen Entwicklungen in puncto akrasía lassen sich ebenso wie aus den fortgesetzten Diskussionen des Hedonismus im Corpus Platonicum in nuce einige Zusammenhänge herausarbeiten, die weitere Schlaglichter auf Platons implizite Auseinandersetzung mit den handlungstheoretischen Annahmen des homo oeconomicus werfen. Auf diese beiden Kontexte, also auf Willensschwäche und Lust, wird sich meine leitmotivische Lektüre deshalb auch weiterhin fokussieren. 3 Motivationaler und evaluativer Pluralismus: Seelenteilung in der Politeia Eine wesentliche Koordinatenverschiebung in der Politeia gegenüber den Diskussionen im Protagoras liegt unbestreitbar in der expliziten Einführung der Seelenteilungslehre. 52 Die Idee einer seelischen Trichotomie ist natürlich in ihrer Verbindung mit dem dreiteiligen 49 Ebd., 152. 50 Ebd., 154. Man beachte in diesem Zitat die verbale Parallele zur sokratischen Aussage darüber, was handlungstheoretisch „in der Natur des Menschen“ (Prt. 358d) liegt. 51 Deshalb wird das Problem der Selbstschädigung von Rational Choice-Theoretikern auch gerne umschifft; vgl. Ainslie 2005, 139f., sowie Kirchgässner 32008, 217f. 52 Vgl. hierzu v. a. Platon, R. IV 435a–441c.

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Staatsmodell der Kallipolis zu sehen, wird aber im Wesentlichen aus einer philosophischen Analyse seelischer Konflikte heraus entwickelt. Dabei spielt der handlungstheoretische Testund Grenzfall der akrasía eine zentrale Rolle, wie wir gleich näher sehen werden. Grundgelegt ist die Seelenteilung in Politeia IV in elementaren Beobachtungen alltäglichen Verhaltens, bei dem sich widerstreitende Handlungsimpulse offenbaren. Als Beispiel führt Platon die Situation an, in der ein durstender Mensch nicht trinken will, er also einerseits zur Bedürfnisbefriedigung gezogen wird, andererseits aber eine verbietende innere Instanz dem entgegensteht und es letztlich verhindert.53 Im Blick auf ein und dasselbe Trinken gibt es also miteinander im Widerspruch stehende, nämlich gebietende und verbietende Impulse. Damit ist aber ein fundamentales Axiom angesprochen, das von Platon wie folgt formulierte Prinzip der Gegensätze: „Offenbar ist doch, dass dasselbe nie zu gleicher Zeit Entgegengesetztes tun und leiden wird, wenigstens nicht in demselben Sinne genommen und in Beziehung auf eines und dasselbe. So dass, wenn wir etwa finden sollten, dass in diesem dies vorkommt, wir wissen, dass sie nicht dasselbe waren, sondern mehreres.“54 Dann kann aber hinsichtlich des obigen Beispiels vom Trinken unter Zugrundelegung dieses Prinzips nicht mehr von einem einzigen Ding die Rede sein, das zugleich trinken und nicht trinken will. Stattdessen müssen in der Seele zwei voneinander verschiedene Teile, die Platon dann mit Vernunft (λογισμός; logismós) und Begierde (ἐπιθυμία; epithymía) identifiziert, angenommen werden.55 Damit ist die Begierde zugleich als eine eigenständige seelische Motivationsquelle benannt, die neben der Vernunft existiert und ggf. mit ihr in einen Widerspruch treten kann. Dieses Schema wird dann in Politeia IV noch um den Mut bzw. den Eifer (θυμός; thymós) erweitert, wofür Platon sich eines drastischen Falls von Willensschwäche bedient: Bei Leontios triumphiert letztlich ein nekrophiler Voyeurismus über das von seinem Ehrgefühl getragene Urteil, dass ein solches Verhalten eigentlich unter seiner Würde ist.56 Die Differenz gegenüber der Analyse im Protagoras wird nun schon dadurch deutlich, dass Platon hier in der Politeia den Ausdruck „Überwundenwerden durch die Begierde“ (R. IV 440a) offensichtlich als eine zutreffende kausale Beschreibung für das dargestellte Geschehen ansieht – ganz im Gegensatz zur Argumentationsstrategie im Protagoras, „das Überwundenwerden durch die Lust“ als selbstwidersprüchlich aufzuzeigen.57 Willensschwäche bzw. akrasía wird fortan im Corpus Platonicum konsequent als ein „Schwächersein als man selbst“ verstanden: als ein temporäres Unterliegen des vernünftigen Urteilens 53 Vgl. zum Folgenden ebd., 436a–439d. Eine detaillierte Analyse der in diesem Argumentationsgang involvierten Prämissen und Schlussfolgerungen liefert Robinson 1971. 54 R. IV 436b–c (Übers. hier und nachfolgend: F. Schleiermacher). Das Prinzip wird nochmals wiederholt und bekräftigt ebd., 436e–437a. 55 Vgl. R. IV 439a–d. 56 Vgl. R. IV 439e–440a: „Aber, sprach ich, ich habe einmal etwas gehört und glaube dem, wie nämlich Leontios, der Sohn des Aglaion, einmal auf dem Peiraieus an der nördlichen Mauer draußen heraufkam und merkte, dass beim Scharfrichter Leichname lägen, er zugleich Lust bekam, sie zu sehen, zugleich aber auch Abscheu fühlte und sich wegwendete und so eine Zeitlang kämpfte und sich verhüllte, dann aber, von der Begierde überwältigt, mit weitgeöffneten Augen zu den Leichnamen hinlief und sagte: Da habt ihr es nun, ihr Unseligen, sättigt euch an dem schönen Anblick.“ 57 Dieser mögliche Widerspruch muss dann natürlich auch nicht nur – wie im Fall des Leontios – zwischen Eifer und Begierde angesetzt werden: Kurz danach wird ausgeführt, dass oftmals jemanden „Begierden gegen seine Überlegung (παρὰ τὸν λογισμóν; pará tón logismón) zwingen“ (ebd., 440a), womit ein Handeln gegen das eigene Vernunfturteil explizit angesprochen ist.

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und Wollens gegenüber den motivationalen Impulsen der beiden irrationalen Seelenteile, insbesondere gegenüber den auf körperliche Lüste fixierten Begierden.58 Die Einführung dieser Seelenteilungslehre erlaubt Platon nicht nur eine neue Erklärung von akratischem Verhalten, sondern lässt auch größeren Raum für stärkere Formen von Willensschwäche als das Oszillationsmodell im Protagoras. Dieses erklärt zwar diachrone Formen des Urteilsumschlags, aber eben nicht ein Handeln gegen ein synchron präsentes Urteil – wie es im Fall des Leontios vorliegt. Diese explanatorische Lücke im Protagoras ist nun kein Versehen oder Zufall, sondern dem von Sokrates konstruierten handlungstheoretischen Rahmen, also dem hedonistischen Maximierungskalkül des Common Sense geschuldet. Dieses Modell setzt nämlich letztlich einen evaluativen und motivationalen Monismus voraus, in dem für simultane Konflikte zwischen Handlungsbewertung und präferentieller Handlungswahl kein Raum besteht. Das ändert sich grundlegend mit der Einführung von Seelenteilen, die Anthony Price einmal sehr konzise wie folgt beschrieben hat: „What, then, is a part of the soul? It turns out to be the home of a family of desires and beliefs that have a tendency to stand in relations both of strong contrariety, and of confrontation, with members of any other family but not of their own. The tendency is due to contrasting sources of desire and belief within the mind.“59 Signifikanterweise tauchen im zehnten Buch der Politeia auch die möglichen Verzerrungen in der sinnlichen Wahrnehmung wieder auf, mit der im Protagoras die inkonsistente und zeitbedingte Vorzugswahl des Akratikers erklärt wurde. 60 In der Politeia dient der Rekurs auf sie aber in erster Linie dem Zweck, weitere Argumente für die Seelenteilungslehre zu liefern: Denn nur das Schlechtere in uns, i. e. die unvernünftige Begierde, urteilt und handelt nach diesem bloßen Augenschein, während die Vernunft sich des genauen Messens, Zählens und Wiegens bedient, „so dass das scheinbar Größere oder Kleinere oder Mehrere oder Schwerere nicht in uns aufkommt, sondern das Rechnende, Messende und Wägende“.61 Hier wird also erneut die wissensbasierte Messkunst gegen den bloßen Augenschein der Wahrnehmung, die „Macht der Erscheinung“ aus dem Protagoras ausgespielt. Die bestmögliche Verfolgung der eigenen Interessen, die nicht auf Täuschungen, sondern nur auf dem Erkennen des objektiven Wertes von Gütern und Handlungsoptionen beruhen kann, ist somit ausschließlich von der Vernunft zu erwarten. Das ist aber nicht zwingend eine Verwerfung der handlungstheoretischen Prämissen des homo oeconomicus-Modells, wie sie im Protagoras auf hedonistischer Basis entwickelt wurde, sondern primär ein Hinweis darauf, dass zur korrekten Kalkulation von Nutzenwerten (seien diese nun hedonischer oder anderer Natur) letztlich v. a. die eigene Vernunft und nicht die Begierden gestärkt werden müssen. Aber natürlich impliziert es sowohl eine Kritik an brachialen Hedonisten à la Kallikles im Gorgias, die ihre 58 Vgl. Müller 2009 und 2013. Selbstbeherrschung bedeutet dann in Analogie dazu, mit der Vernunft über seine eigenen Begierden und Lüste zu herrschen; vgl. Grg. 491c, R. IV 430e–432b, sowie Dorion 2012. 59 Price 1995, 53. 60 Vgl. zum Folgenden R. X 602c–603a sowie die ausführliche Analyse und Kontextualisierung der Passage bei Moss 2008, die sie als Schlüssel für die Aufteilung der Seele in rationale und irrationale Teile bei Platon liest: Die irrationalen Seelenteile richten sich unreflektiert nach der Wahrnehmung von „evaluative appearances“ und sind damit täuschungsanfällig, während die Vernunft rational kalkuliert. Sie sieht hier also stärker kognitive als motivationale Differenzen zwischen den Seelenteilen. Zum Verhältnis dieser Passage zur obigen ἀκρασία-Diskussion im Protagoras vgl. auch Moss 2006. 61 R. X 602d.

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Begierden zwecks quantitativer Lustmaximierung künstlich hochzüchten wollen, 62 als auch an der breiten Masse, die sich in ihrem Streben nach Lust zu wenig an den Urteilen der Vernunft orientiert, sondern stattdessen regelmäßig auf gauklerische Wahrnehmungen setzt. 63 Die Trichotomie der Politeia ist also mit einem evaluativen und motivationalen Pluralismus in der Seele verbunden, der gerade deshalb fast schon zwangsläufig für Konflikte sorgt, weil die verschiedenen Seelenteile unterschiedliche intentionale Objekte erstreben. 64 Es stellt sich dann natürlich auch die Frage, ob die verschiedenen Bewertungsmaßstäbe, nach denen sie ihre Urteile über das gute bzw. beste Handeln fällen, überhaupt kommensurabel sind. Dies gilt insbesondere mit Blick auf eine hedonistisch ausgerichtete Handlungstheorie, denn durch die Einführung der drei Seelenteile stellt sich hier die Lage wesentlich komplexer dar. Auch in der Politeia halten zwar die „Vielen“ die Lust für das höchste Gut,65 aber in Anlehnung an die drei zuvor etablierten Seelenteile unterscheidet Platon im neunten Buch nun dreierlei Arten von Lust, die ihnen jeweils zugeordnet sind.66 Damit wird bereits hier ein Gedanke ins Spiel gebracht, den Platon dann später im Philebos weiterentwickelt: Lust ist keine homogene, rein quantitativ durch bloßes „mehr oder weniger“ geprägte Münze, sondern weist deutliche qualitative Differenzen auf, die natürlich auch im Rahmen einer hedonischen Abwägung in irgendeiner Weise zu Buche schlagen sollten. Die Schwierigkeit liegt dabei darin, dass jede der drei Gattungen der Lust mit den anderen im Streit liegt, womit sich auch auf dieser Ebene der strukturelle Konflikt der drei Seelenteile widerspiegelt. 67 Damit stellt sich dann das bisher im handlungstheoretischen Rahmen des populären Hedonismus noch nicht thematisierte Problem einer Präferenzhierarchie bzw. -ordnung, die einzelne Entscheidungen zwischen den verschiedenen Lustarten bzw. -formen erlaubt. Platon nähert sich dieser Frage nun nicht durch eine weitere Analyse der bereits im Protagoras statuierten präferentiellen Prinzipien der Handlungswahl an, sondern über einen Vergleich von Lebensformen. Denn den drei Arten von Lüsten korrespondieren drei Arten von menschlicher Lebensführung (βίος; bíos), wobei deren Vertreter selbstredend die eigene Art zu leben jeweils für die angenehmste bzw. lustvollste (ἥδιστον; hḗdiston) halten.68 Hier übt Platon nun durchaus deutliche Kritik am Menschentypus des hedonistisch orientierten homo oeconomicus, wie ihn die Lebensführung der Masse verkörpert.69 Dieser Typus orientiert sich 62 Vgl. Grg. 491e–492a; 493d–494c. 63 Konsequenterweise schließt Platon an diese Argumentation mit den täuschenden Wahrnehmungen in R. X dann direkt seine Kritik an der Dichtung an, die den unvernünftigen Seelenteil stärkt und die Vernunft untergräbt. 64 Bemerkenswerterweise kommt auch George Ainslie in seiner nutzentheoretisch orientierten Analyse zu dem Resultat, dass das Selbst im Gegensatz zu Standardannahmen des homo oeconomicus nicht einheitlich, sondern als Population vielfältiger und widersprüchlicher Präferenzen aufgefasst werden sollte, die aufgrund ihrer Zuordnung zu verschiedenen Zeitpunkten jeweils die Oberhand gewinnen. Es ist also kein geordneter „innerer Markt“, sondern ein internes Gerangel, bei dem die Optionen, die sich durchzusetzen versuchen, mehr bieten müssen als die anderen inneren Konkurrenten; vgl. Ainslie 2005, 154–160 sowie 163: „Ein Selbst, das einen Markt solcher Interessen bildet, ist grundverschieden vom herkömmlichen Bild des Selbst und verlangt eine detaillierte Untersuchung.“ 65 Vgl. R. VI 505b. 66 Vgl. R. IX 580d–583a. 67 Vgl. ebd., 581e. 68 Vgl. ebd., 581c–d. 69 Vgl. ebd., 586a–587e.

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nämlich allein an der maximalen Befriedigung der unersättlichen körperlichen Begierden und ähnelt darin der Lebensform des Tyrannen, bei dem ebenfalls das psychisch Unterste die höheren Seelenteile versklavt und sie zwingt, einer ihnen fremden Lust nachzugehen. 70 Platon sieht auch hier letztlich wieder eine Täuschung am Werk, von welcher die Lebensführung der Masse infiziert ist: „Leben nun nicht solche auch notwendig in mit Unlust gemischten Lüsten in gleichsam Doppelgängern oder Schattenbildern der wahren Lust, welche nur durch die Zusammenstellung Farbe bekommen?“71 Dieses ontologisch inspirierte Motiv der Unterscheidung von wahren und falschen (weil rein abbildhaften) Lüsten wird später im Philebos wesentlich vertieft. Im vorliegenden Kontext wird es eher subsidiär ins Feld geführt, um die prinzipielle Unterlegenheit der nichtrationalen gegenüber den rationalen Lüsten zu unterstreichen. Platons primäre Intention ist hier nämlich, eine Art Rang- bzw. Präferenzordnung zwischen den drei Lustarten – und damit auch zwischen den unterschiedlichen Lebensformen – zu etablieren. Die Frage nach der qualitativen Hierarchie wird dabei wie folgt entschieden: An höchster Stelle steht die vernunftbasierte Lust, an zweiter Stelle folgt die ehrliebende Lust, und erst auf dem dritten (und letzten) Platz die begehrliche Lust. Innerhalb des evaluativen und motivationalen Pluralismus der drei Seelenteile und ihrer Lustzustände gibt es somit eine Art ordinaler Funktion. Um diese Ordnung zu erkennen, bedarf es sowohl der Erfahrung (ἐμπειρία; empeiría) als auch der Einsicht (φρόνησις; phrónēsis).72 Platon rundet diese Überlegungen zur richtigen Präferenzordnung innerhalb der qualitativ unterschiedenen Lüste nun noch mit einer grundlegenden Überlegung ab: „Wollen wir also kühnlich sagen, dass von allen auf das Eigennützige und das Streitlustige bezüglichen Begierden diejenigen, welche der Erkenntnis und vernünftiger Rede nachgehend und nur nach deren Anleitung der Lust nachstrebend diejenigen Lüste erlangen, auf welche die Vernunft hindeutet, dass diese sowohl die wahrhaftesten erlangen werden (…) als auch die ihnen eigentümlich Zugehörigen, wenn doch das Beste für einen jeden auch das ihm Eigentümliche ist?“73 Nur die Vernunft ist in der Lage, die divergenten Interessen der drei Teile angemessen in das Ganze der Lebensführung zu integrieren, so dass auch die irrationalen Seelenteile in ihrem spezifischen Luststreben zu ihrem Recht bzw. auf ihre Kosten kommen. Das ist natürlich eine weitere Variation zum Leitthema der Vernunft- bzw. Philosophenherrschaft, die durch die Politeia gerechtfertigt werden soll. Diese normative Idee lässt sich aber auch wieder auf das hedonische Kalkulationsmodell des homo oeconomicus übertragen. Eine Maximierung eigener Lustzustände ist nur unter zwei Voraussetzungen möglich: a. Zwischen qualitativ verschiedenen Lüsten, die miteinander in Konkurrenz stehen, muss eine klare Präferenzordnung hergestellt werden. b. Die unterschiedlichen Lüste müssen im Rahmen einer umfassenden Lebensführung angemessen miteinander in Einklang gebracht werden. Zu beidem bedarf es grundsätzlich der Vernunft als einer abwägenden und vergleichenden Instanz, die richtig kalkuliert. Zum Abschluss dieser Partie in Politeia IX rechnet Sokrates dann auch vor, dass der von seinen Begierden beherrschte Tyrann 729-mal schlechter lebt als 70 71 72 73

Vgl. ebd., 587a. Ebd., 586b. Zur Unterscheidung von falschen und wahren Lüsten vgl. insgesamt ebd., 583b–586c. Vgl. ebd., 582e. Ebd., 586d–e.

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der vernunftorientierte König.74 Man mag solche Berechnungen als zu plakativ oder rein ironisch intendiert abtun. De facto finden sich bei Platon aber immer wieder solche nominalen Ordnungen wie die oben angeführte Lusthierarchie und auch arithmetisch angehauchte Ausführungen in der Betrachtung solcher Fragen. Platon möchte mit seiner Herausarbeitung der Seelenteilung in der Politeia der Kalkülidee also nicht grundlegend das Wasser abgraben, sondern sie auf ein höheres und der psychischen Komplexität des Menschen angemesseneres Niveau heben, als es im Protagoras sichtbar wurde. In diese Richtung weisen speziell mit Blick auf die Lust auch die Überlegungen im Philebos. 4 Die Bedeutung der Lust für das gelingende Leben im Philebos Im Philebos unternimmt Platon eine begriffliche Klärung der Natur der Lust, mit der weitergehenden Absicht, den Platz der Lust im gelingenden Leben möglichst präzise zu bestimmen. Eine zentrale Funktion in dieser Untersuchung kommt dabei der Unterscheidung von wahren und falschen Lüsten zu, die schon in der Politeia initiiert worden ist. Sokrates diskutiert ausführlich vier verschiedene Arten der Falschheit von Lust75 und kommt dabei auch wieder auf das bereits im Protagoras diskutierte Problem zurück, das bei Vergleichen von Lust und Unlust auftreten kann: „Kommt es etwa nur beim Sehen vor, dass die wahre Größe verzerrt wird, wenn man die Dinge von weitem oder ganz aus der Nähe sieht, so dass ein falsches Urteil entsteht, – bei Lust oder Unlust dagegen sollte es derartiges nicht geben? (…) Wenn sie abwechselnd von weitem und aus der Nähe betrachtet und zugleich miteinander verglichen werden, dann scheint bald die Lust größer und heftiger im Vergleich zur Unlust, dann aber auch wieder die Unlust im Vergleich zur Lust.“76 Die Falschheit solcher Lüste besteht dann in einer unangemessenen Wahrnehmung bzw. fehlerhaften Einschätzung ihrer wirklichen hedonischen Quantität. Dorothea Frede hat hier anschaulich von den „Freuden Esaus“ gesprochen, der für den Genuss eines einzigen Mahls auf sein gesamtes Erbteil verzichtet77 – und damit im Sinne des homo oeconomicus eine hochgradig irrationale Selbstschädigung begeht. Es ist plausibel anzunehmen, dass die im Philebos im Anschluss daran nachhaltig forcierte Akzentuierung von Wissensformen, die auf möglichst genauer Zählung bzw. Messung beruhen, hier an die Messkunst (μετρητικὴ τέχνη; metrētikḗ téchnē) als „Heil des Lebens“ aus dem Protagoras andockt.78 Allerdings geht es Platon im Philebos dabei um viel mehr als 74 Vgl. ebd., 587e. 75 Vgl. Phlb. 36c–50e. Vgl. hierzu auch die instruktive Analyse von Frede 1985 sowie Frede 1997, 242– 295. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Argumentation bieten Gosling/Taylor 1982, 429–453. 76 Phlb. 42a–b (Übers. hier und nachfolgend: D. Frede). 77 Hintergrund ist auch hier eine verzerrte Wahrnehmung; vgl. Frede 1992, 447: „The size of the hunger seen from nearby creates enormous desire for replenishment with food, so that Esau takes inordinate pleasure in his repast, falsely enjoying the experience as well worth the future pain of his loss.“ 78 Vgl. Phlb. 55c–59d. Diese Kontinuität betont auch Frede 1992, 434: „Nevertheless, that goods of any kinds must (among other things) be measurable and therefore open to rational control is a point Plato kept in mind over years, as is clear from the fact that the question of measuring pleasure reappears in the Philebus. (…) Plato, it seems, never forgot ‘the art of measuring pleasure and pain’ introduced in the Protagoras.“ In die gleiche Richtung argumentiert auch Van Riel 2000, 12. Auch im späten Politikos kommt Platon auf die Messkunst zurück und unterscheidet zwei verschiedene Formen von ihr; vgl. Plt. 283a–287a. Offenkundig geht es ihm im Spätwerk um eine angemessene Ausdifferenzierung dieses im Protagoras noch unterkonturierten Konzepts.

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nur um den Ausschluss fehlerhafter Diskontierungen im Lust-/Unlustkalkül, aus denen akratisches Verhalten resultieren könnte. Diese rein quantifizierende Betrachtungsweise würde dem qualitativen Lustbegriff, wie ihn Platon schon zuvor in der Politeia auf der Basis der Seelenteilungslehre ansatzweise entwickelt hat, einfach nicht mehr gerecht werden. Hinzu kommt, dass Sokrates im Philebos gegenüber Protarchos, seinem hedonistisch gesinnten Gesprächspartner, herausstreicht, dass Lust eben nicht einfach gleich Lust ist: Die Spezifikation von Lüsten erfolgt über ihre intentionalen Objekte; man hat also nicht einfach nur Lust tout court, sondern Lust an etwas.79 Lust ist somit kein qualitativ homogener Effekt, der sich ggf. auch in Ablösung von den ihn hervorrufenden intentionalen Objekten bzw. Tätigkeiten erzielen oder rein quantitativ messen ließe. Diese Unterschiedenheit der Lüste zeigt sich u. a. daran, dass Lustempfindungen in verschiedenen Graden „rein“ sind. Reinheit meint hier zum einen Freiheit von Schmerz. Viele Lüste haben nach Platon dadurch ab ovo einen gemischten Charakter, dass sie – fast wie siamesische Zwillinge – immer an entsprechende Unlustempfindungen geknüpft sind.80 Dies trifft für Lüste, die auf körperlichen Begierden beruhen, ebenso zu wie für Emotionen.81 Reine Lüste sind hingegen vollkommen schmerzfrei zu genießen und tragen ihre Schönheit in sich. 82 Damit wird aber die in der Politeia bereits vorbereitete Einführung einer philosophisch orientierten Lebensführung fortgeschrieben, der es v. a. um die Entwicklung von rationalen Kriterien für die Beurteilung von Lüsten geht. Dazu dient letztlich auch die Differenzierung von wahren und falschen Lüsten im Philebos, die zu einem prima facie erstaunlichen Ergebnis führt: Bei der Wertschätzung der Reinheit sind eben nicht Größe und Menge – also quantitative Aspekte – ausschlaggebend, „sondern eben die Freiheit von jeder Beimischung“.83 Sokrates leitet hieraus verallgemeinernd ab, „dass auch bei jeglicher Lust eine kleine und geringfügige – wenn sie rein von Unlust ist – sich als angenehmer, wahrhaftiger und schöner erweist als eine große und vielfältige“.84 Mehr ist also nicht immer besser, und die richtige Lustbilanzierung läuft somit keineswegs auf eine bloße Maximierungslogik hinaus. Es ist unverkennbar, dass Platon hier eine argumentative Richtung einschlägt, die sich tendenziell von der auf ein quantitatives Maximum ausgerichteten Nutzenkalkulation des homo oeconomicus entfernt. Das hat auch Auswirkungen auf das Verständnis der μετρητικὴ τέχνη (metrētikḗ téchne), die für die Gestaltung des gelingenden Lebens weiterhin von zentraler Bedeutung ist. Platon unterscheidet hier zum einen sehr deutlich zwischen alltäglicher Rechenkunst und Berechnungen auf philosophischer Basis; nur letztere sind dazu in der Lage, eine präzise Kommensurabilität zu gewährleisten, die der objektiven Größe des Berechneten entspricht. 85 Zum 79 80 81 82 83

Vgl. Phlb. 38a. Für das homogene Lustverständnis von Protarchos vgl. Phlb. 13a–b. Vgl. Phd. 60b–c. Zu den insgesamt drei Arten von gemischten Lüsten vgl. Phlb. 46c–50e. Vgl. ebd., 51a–52b. Ebd., 53a. Vgl. auch 53b: „Wenn wir also behaupten, dass sich ein kleines bisschen reines Weiß zugleich als weißer, schöner und wahrhaftiger erweist als eine große Menge gemischtes, dann werden wir unbestreitbar Recht haben.“ 84 Ebd., 53b–c. 85 Sokrates verweist auf die Rechenkunst als eine architektonische téchnē, die aber „in der Hand der Menge eine Sache ist, eine ganz andere aber bei denen, die sie auf philosophische Weise betreiben“ (Phlb. 56d): „Die einen rechnen bei den Zahlen ungleiche Einheiten zusammen, wie etwa zwei Heere oder zwei

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anderen geht es insgesamt darum, im gelingenden Leben eine angemessene Mischung der verschiedenen Komponenten und Elemente zu finden. Dies beinhaltet gerade in Bezug auf die Lüste, die ontologisch betrachtet zur Klasse des „Grenzenlosen“ (ἄπειρον; ápeiron)86 gehören, im Wesentlichen deren Begrenzung bzw. Mäßigung – und nicht deren Maximierung, wie sie sich schon oben gezeigt hat. Die normative Forderung einer μετριότης (metriótēs) meint also die Festsetzung eines richtigen Maßes, das der seelischen Harmonie zuträglich ist.87 Dies bedingt sogar, dass bestimmte Lüste letztlich ganz aus der Mischung des gelingenden Lebens ausgeschlossen werden – insbesondere solche, die für die Tätigkeit der Vernunft obstruktiv sein können – und nur den reinen Lüsten Einlass gewährt wird.88 Platon etabliert auf diese Weise zum Abschluss des Philebos eine ordinale Wertetafel, bei der die beiden ursprünglichen Anwärter auf die Position des höchsten Gutes, also die Einsicht (φρόνησις; phrónēsis) und die Lust,89 auf dem dritten und fünften Platz zu stehen kommen. 90 Damit ist erneut eine Art Präferenzordnung bzw. -hierarchie beschrieben, in der die Lust einen klar definierten, wenn auch insgesamt deutlich nachgeordneten Rang einnimmt. 91 Platon unterstellt die Lüste in ihrer Gesamtheit somit der sie auswählenden, begrenzenden und ordnenden Hand der Vernunft. Der λογισμός (logismós) muss mit höchster arithmetischer Präzision und dem Blick auf die richtige Mischung des gelingenden Lebens die menschlichen Entscheidungen anleiten; bloße Routine bzw. Erfahrung reichen hier nicht aus,92 sondern gefordert ist letztlich eine auf philosophischer Basis fundierte Messkunst, 93 welche die objektiven Werte der involvierten Größen richtig einzuschätzen vermag und sie – insbesondere im Falle der Lust – auch angemessen limitiert. Mit anderen Worten: Die Vernunft hat bei allen Kalkulationen das Gute (ἀγαθόν; agathón) im Blick, das eben nicht im

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Ochsen, gleich ob es sich um ganz große oder ganz kleine handelt. Die anderen würden mit ihnen niemals mitgehen, wenn man nicht eine Einheit ansetzt, bei der auch nicht der geringste Unterschied zu den unzählig vielen anderen Einheiten besteht“ (ebd., 56d–e). Die Kalkulationen und die Messkunst von Baukunst und Handel stehen also noch einmal deutlich zurück „im Vergleich zur philosophischen Geometrie und ihren Berechnungen“ (ebd., 56e). Vgl. ebd., 27e–28a. Zur grundlegenden Bedeutung der μετριότης (metriótēs) für das Verständnis des guten Lebens vgl. Van Riel 2000, 42f. („It is the equilibrium between excess and shortness that primordially renders our life good, and both intellectual activity and pleasure must bear in themselves this measure in order to be acceptable in the good life.“ Ebd., 43). Vgl. Phlb. 63c–64a. Zu dieser Konkurrenz vgl. schon R. VI 505b–506b. Vgl. Phlb. 66a–c. Zumindest erwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass Platon in seinem Spätwerk auch dem materiellen Reichtum zumindest den untersten Rang in einer Güterhierarchie zuweist und sich damit in seiner Haltung zu ihm von der „Irrelevanzthese“ des Frühwerks und der Auffassung einer Inkompatibilität von Tugend und Geld (in der Politeia) in Richtung einer „Subordinationsthese“ bewegt; vgl. Schriefl 2013, 4–6. Vgl. Phlb., 55e–56a. Dies zeigt schon die Auseinandersetzung mit dem téchnē-Konzept im Gorgias; vgl. etwa die Einschätzung der rein auf Erfahrung (ἐμπειρία; empeiría) beruhenden Kochkunst: „[V]öllig kunstlos geht sie auf den Genuss los, betrachtet weder die Natur des Genusses noch seine Ursache, rechnet sozusagen ohne Verstand sich überhaupt nichts aus (οὐδὲν διαριθμησαμένη; oudén diarithmēsaménē), bewahrt sich nur durch Routine und Erfahrung die Erinnerung daran, womit sie sich gewöhnlich die Genüsse verschafft“ (Grg. 501a; Übers. M. Erler). Dieselbe Kritik trifft dann natürlich auch die sophistische Rhetorik. Vgl. Phlb. 57c–d.

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Angenehmen bzw. Lustvollen aufgeht. Schlagwortartig formuliert: Es geht Platon um eine Optimierung, nicht um eine Maximierung der Lust. Damit ist die Rolle der Vernunft gegenüber einer bloß zweckrationalen Berechnungsinstanz, als der sie in der hedonistischen Handlungsauffassung des Common Sense sowie im klassischen homo oeconomicus-Modell erscheint, natürlich nachhaltig transformiert. Statt als Garant für eine möglichst effiziente Maximierung eines unabhängig von ihr definierten Nutzens zu fungieren, der sich in der Erfüllung von vorgegebenen Präferenzen sedimentiert, legt sie hier gewissermaßen die Präferenzordnung, innerhalb derer sie agiert, selbst fest. Damit verbindet sich natürlich eine nachhaltige Kritik an der werttheoretischen Prämisse des populären Hedonismus, dass die Lust das einzige Gut ist; 94 am Ende des Philebos bleibt ihr deshalb in der Wertetafel nur ein nachgeordneter fünfter Rang. Man darf allerdings nicht vergessen, dass Platon im Philebos eine normativ intendierte Analyse der Lust und ihres Stellenwerts im gelingenden Leben liefert. So sollten (und werden) die präferentiellen Verhältnisse also nur bei denjenigen sein, die sich die philosophische Dialektik angeeignet haben. Es handelt sich hier somit nicht um ein allgemeines deskriptives Erklärungsmodell für menschliches Handeln, das in direkte explanatorische Konkurrenz zu den Annahmen des Common Sense bzw. des homo oeconomicus tritt. Diese firmieren auch weiterhin in Platons letztem Werk, den Nomoi. 5 Hedonistische Marionetten? Die Handlungspsychologie der Nomoi In den Nomoi operiert der als persona für Platon fungierende Fremde aus Athen mit einer Handlungspsychologie, die auf hedonistischen Voraussetzungen beruht. Schmerz- und Lustgefühle sind etwas „wesenhaft Menschliches“ (φύσει ἀνθρώπειον; phýsei anthrṓpeion) für uns als leibseelische Wesen, so dass sie auch als die beiden Hauptquellen unserer Handlungsmotivation beschrieben werden.95 Platon spezifiziert dieses Modell im Rahmen seines Marionettengleichnisses, das die wesentliche Funktion hat zu erläutern, was Selbstbeherrschung bzw. Unbeherrschtheit ist (womit die Diskussion wieder im Kontext der akrasía-Debatte angesiedelt ist).96 Der Mensch wird mit einer Marionette verglichen, deren Körper an verschiedenen Drähten aufgehängt ist. Vier dieser Drähte sind aus Eisen und stehen für die Motivation durch: (a) gegenwärtig empfundene Lust; (b) antizipierte künftige Lust; (c) gegenwärtig empfundenen Schmerz; (d) antizipierten künftigen Schmerz. Über ihnen ist (e) ein goldener und biegsamer Faden der Überlegung (λογισμός; logismós) aufgehängt. Diese Fäden sind als motivationale Kräfte innerhalb der Seele zu verstehen, die „an uns ziehen und (...) uns, da sie als Gegensätze einander entgegenwirken, zu entgegengesetzten Handlungen hinzerren“.97 Damit ist deutlich, dass es sich hier erneut um ein Bild handelt, das Platon spezifisch zur Modellierung innerer Motivationskonflikte entwirft. Dabei ist die involvierte Konfliktstruktur nicht auf eine simple Dichotomie von Vernunft versus irrationalem Trieb zu reduzieren:

94 Vgl. ebd., 67a–b. Diese grundlegende Kritik ist natürlich schon vielfach antizipiert, insbesondere in der Auseinandersetzung von Sokrates mit dem brachialen Hedonisten Kallikles; vgl. Grg. 506c–507a. 95 Vgl. Lg. V 732e. Die Götter hingegen empfinden weder Lust noch Schmerz; vgl. Phlb. 33b. 96 Vgl. Lg. I 644c–645a. Für eine umfangreichere Analyse der Handlungspsychologie der Nomoi vgl. Müller 2013. 97 Lg. I 644e (Übers. hier und nachfolgend: K. Schöpsdau).

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Im Hinblick auf bestimmte Objekte und Handlungen können ja auch die eisernen Fäden untereinander im Widerspruch zueinander stehen, etwa wenn man sich einer gegenwärtig schmerzhaften ärztlichen Behandlung (c) unterzieht, um langfristige zukünftige Schmerzen (d) zu verhindern. Die genaue Rolle des λογισμός (logismós) (e) bleibt im Marionettengleichnis etwas unterbestimmt bzw. undeutlich, aber man geht wohl nicht fehl, hierin mindestens eine Instanz der Abwägung zu sehen, die im Blick auf die verschiedenen Interessen des Akteurs eine Art ‚Alles-in-allem-Urteil‘ über das insgesamt Beste fällt.98 Das Marionettengleichnis beschreibt in nuce eine Art kausaler Handlungstheorie. In der Forschungsliteratur ist des Öfteren bemerkt worden, dass dieses Modell und insbesondere der Lustbegriff, auf den es sich stützt, etwas grobkörnig wirken im Vergleich zur elaborierten Psychologie früherer Werke. 99 Doch hier gilt es die Adressatenorientierung des Fremden aus Athen zu beachten: Seine Ausführungen richten sich an einen an Alltagserfahrungen geschulten Common Sense, wie ihn seine beiden eher ‚unphilosophisch‘ dargestellten Gesprächspartner Megillos und Kleinias repräsentieren. 100 Argumentationsstrategisch ist das somit der Konstellation im Protagoras vergleichbar, in der Sokrates die hedonistischen Auffassungen der Masse als Rahmen einer aitiologischen Analyse des akratischen Handelns etabliert. Wir haben es hier also mit einer erneuten Auseinandersetzung Platons mit einer Variante des homo oeconomicus-Modells zu tun. Dabei kann es sich freilich nicht um einen bloßen Aufguss der Überlegungen aus dem Protagoras handeln. Denn ganz im Gegensatz zur Stoßrichtung der Argumentation des Sokrates wird in den Nomoi das Phänomen einer starken bzw. synchronen Willensschwäche, bei der Menschen „wohl wissen (εἰδότες; eidótes), daß sie besser etwas anderes täten als das, was sie tatsächlich tun“, weitgehend eingeräumt.101 Die seit der Seelenteilung in der Politeia etablierte Ausdrucksweise des „schwächer sein als man selbst“, verstanden als ein Unterliegen der Vernunft gegenüber den irrationalen Begierden, wird damit in den Nomoi fortgeschrieben.102 Die Pointe liegt dann darin, dass ἀμαθία (amathía), also Unwissenheit, als Ursache für willensschwaches Handeln nicht – wie im Protagoras – als Konsequenz eines kognitiven Defizits verstanden wird; akrasía ist den Nomoi zufolge vielmehr bedingt durch eine Divergenz (διαφωνία; diaphōnía) von rationaler Evaluation und emotionaler Motivation, wenn man also das nicht möchte, was man alles in allem für das Beste hält. 103 Das

98 Vgl. ebd., 644d. 99 Vgl. Frede 2010, bes. 117 („surprisingly simplicistic“). 100 Deren beschränktes intellektuelles Fassungsvermögen in Sachen Psychologie zeigt sich u. a. daran, dass sie nach eigener Aussage selbst dem nicht gerade übermäßig komplexen Marionettengleichnis kaum folgen können (vgl. Lg. I 644d); ähnliche Schwierigkeiten haben sie dann erwartungsgemäß auch bei den schwierigeren Ausführungen zur Selbstbewegung der Seele in Buch X. 101 Lg. X 902a. Der athenische Fremde beschreibt die so Handelnden als „die minderwertigsten Menschen“ (οἱ φαυλότατοι τῶν ἀνθρώπων; hoi phaulótatoi tṓn anthrṓpōn) (ebd.), und auch andernorts könnte der Eindruck entstehen, dass ἀκράτεια in erster Linie ein Problem der „ganz großen Masse der Menschen“ (ὁ πᾶς ἀνθρώπινος ὄχλος; ho pás anthrṓpinos óchlos) (Lg. V 734b), also gewissermaßen des „Pöbels“ ist. Platon scheint in den Nomoi aber von einer fundamentalen Pervasivität des Phänomens in der menschlichen Natur als solcher auszugehen. Vgl. hierzu Müller 2013. 102 Vgl. Lg. I 626e–627b; 633d–e; 645b. 103 Vgl. Lg. III 689a–c, 691a.

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konstituiert eine synchrone Form von Willensschwäche: Der Akteur handelt im vollen Wissen um die Falschheit seiner Handlung gegen ein persistierendes rationales Urteil. Für eine solche ‚hard akrasia‘ müssen zwei Bedingungen erfüllt sein:104 a. Handlungsmotivationale Impulse können sich auch anderen Quellen als der vernünftigen Überlegung verdanken. b. Von der vernünftigen Überlegung abweichende motivationale Impulse können auch nach dem Fällen eines vernünftigen „Alles-in-allem“-Gesamturteils fortbestehen.105 Platon erkennt in seinem Spätwerk damit nicht nur die im Frühwerk geleugnete ursächliche Erklärung des „Überwunden-werdens von der Lust“ an, sondern rehabilitiert sie auch als eine eigene Kategorie moralischen Fehlverhaltens, die von einem bloßen Vernunftirrtum klar zu unterscheiden ist.106 Die Heilung von diesem Übel liegt dann nicht mehr in einer Messkunst, sondern in der Herstellung einer συμφωνία (symphōnía),107 also eines Gleichklangs bzw. einer harmonischen Übereinstimmung von rationaler Evaluation und emotionaler Motivation durch eine angemessene éducation sentimentale: Man muss am normativ Richtigen auch Lust haben, so wie das Falsche Unlust erzeugen sollte. Das weist schon deutlich voraus auf die aristotelische Konzeption des ἐθισμός (ethismós) als Grundlage der sittlichen Bildung. Diese moralische Erziehung der Gefühle muss allerdings auf den grundlegenden psychologischen Mechanismen der menschlichen Natur aufbauen, die auf Lust und Schmerz als primären Handlungsdeterminanten beruhen. Das sittlich schöne und gerechte Leben muss also auch als das lustvollste erscheinen,108 denn das ist von unserer Natur her das, „was wir alle suchen: dass wir nämlich mehr Freude und weniger Schmerz empfinden unser ganzes Leben lang“. Der Fremde aus Athen präsentiert dann eine ausführliche Rechnung (λόγος; lógos) als Antwort auf die Frage, „ob ein Leben in dieser Form unserer [i. e. menschlichen] Natur gemäß oder in einer anderen Form gegen die Natur ist, daraufhin muß man Leben neben Leben, das lustvollere und das schmerzvollere, folgendermaßen betrachten.“109 Der Athener legt dieses hedonistische Präferenzmodell also zu Grunde, um verschiedene Lebensformen miteinander zu vergleichen.110 Dabei wird deutlich, dass die emotional exzessiven bzw. intensiveren Gestaltungen der Lebensführung insgesamt schlechter abschneiden als die besonnenen und tugendhaften:111 In den schlechteren Formen überwiegt letztlich doch der Schmerz bzw. die Unlust, während bei den guten Lebensformen auch eine positive Lustbilanz erzielt wird. Ähnlich wie bei der μετριότης (metriótēs) im Philebos kommt es also weniger auf die absolute Gesamtmenge, also auf eine Lustmaximierung, sondern eher auf eine Begrenzung und gezielte Auswahl der wirklich lustbringenden Zustände an: Es gilt, die rechte

104 Vgl. Bobonich 2002, 282. 105 Vgl. Lg. IX 863e: „Von diesen allen behaupten wir aber, daß sie einen jeden, wenn er in die Richtung seines eigenen Wollens gezogen wird, oft zugleich (ἅμα; háma) in die entgegengesetzte Richtung drängen.“ 106 Vgl. auch Sph. 228a–b; Ti. 86b–e. 107 Vgl. Lg. II 653b–c; 659d–e; III 696c. 108 Vgl. Lg. II 663b–d. 109 Lg. V 733a. 110 Die hedonistisch orientierten Kriterien dieses Vergleichs werden ausführlich entfaltet ebd., 733a–c. 111 Vgl. hierzu auch schon Grg. 493d–494a sowie die Rangordnung der fünf Herrschafts- und Menschentypen in R. IX 580b.

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Mitte zu finden,112 was wiederum an die aristotelische mesótēs-Lehre in der Ethik gemahnt. Das Gegenstück hierzu ist das zügellose Leben, das aber letztlich als unfreiwillig (ἄκων; ákōn) charakterisiert wird: Denn niemand will, dass der Schmerz die Lust übersteigt, so dass die in dieser Lebensform erfolgende Selbstschädigung den eigentlichen Interessen des Akteurs zuwiderläuft.113 Damit werden die maßvoll gestalteten und tugendhaften Lebensformen nicht nur auf der Ebene der rationalen Evaluation, sondern auch im Blick auf die emotionale Motivation als überlegen erwiesen.114 Der richtige oder falsche Umgang mit Lust und Schmerz ist nämlich letztlich entscheidend für das Erreichen oder Verfehlen des Glücks.115 Der Athener bringt also hier erneut eine präferentielle Ordnung zum Tragen, die mit zentralen Grundannahmen des homo oeconomicus-Modells vermittelbar ist und dadurch auch den Common Sense der beiden Gesprächspartner in den Nomoi anspricht. Ein Unterschied zur modernen Verhaltensökonomie liegt freilich darin, dass es Platon nicht um einzelne Handlungsentscheidungen und deren Abwägung geht, sondern um die Wahl einer ganzen Lebensform, in die solche Wahlakte eingebettet sind.116 Daraus resultiert dann auch eine klare ordinale Präferenzordnung im Blick auf alle menschlichen und göttlichen Güter. 117 Im Hintergrund steht also weiterhin die im Gorgias ausführlich diskutierte Frage, wie man leben soll. Ebenso wie dort die egoistisch nutzenmaximierende Daseinsform des Tyrannen als Holzweg entlarvt worden ist, der bloß lustvoll erscheint, ohne es wirklich zu sein, werden auch hier bestimmte exzessive Lebensentwürfe als innerlich inkonsistent mit den emotionalen Präferenzen des Akteurs im Summe einer Lust-/Unlustbilanz disqualifiziert. Die Wahl des richtigen und d. h. tugendhaften Lebens kann also auch von einem aufgeklärten Hedonisten nachvollzogen werden, der sich nur Rational Choice-Kriterien verpflichtet weiß. Die entscheidende Voraussetzung ist, dass er in seinem Urteilen und Handeln vom goldenen Faden der Überlegung gesteuert wird und nicht direkt bzw. ausschließlich von den eisernen Drähten seiner Lust-/Unlustgefühle. Der Mensch ist in letzter Konsequenz nicht zwangsläufig eine Marionette seiner Lust- und Schmerzgefühle, trotz des suggestiven Bildes, mit dem Platon die Diskussion der Handlungspsychologie illustriert. Auch in den Nomoi setzt somit die platonische Analyse mit einem deskriptiven psychologischen Hedonismus ein, der dann aber in eine normative Herrschaft von maßgebender Vernunft und Tugend transformiert wird, die eine angemessene Rekanalisierung der wesenseigenen Emotionen erlaubt.118 Dieses im Kern intellektualistische Projekt wird in den Nomoi in seinen pädagogischen und politischen Dimensionen ausführlich entfaltet. Dabei macht sich der Gesetzgeber genau die Kenntnis der psychologischen Mechanismen zunutze, welche den hedonistischen Kalkül der Masse dominieren, 119 ohne sich die dafür vorausgesetzte Wertprämisse, nämlich die Identifikation des Guten mit dem Lustvollen bzw. Angenehmen, zu eigen zu machen. Denn letztlich geht es um eine Ausrichtung auf das wahre Gute, das durch die 112 Vgl. Lg. VII 792c–d. 113 Vgl. Lg. V 734b. Zur Unfreiwilligkeit des Schlechten in den Nomoi vgl. Lg. IX 860d–861d sowie Horn 2004. 114 Vgl. Lg. V 733d–734d. 115 Vgl. Lg. I 636d–e. 116 Darauf macht auch Stalley 1983, 67–70, aufmerksam. 117 Vgl. zu den verschiedenen Güterordnungen in concreto: Lg. I 631b–d; III 697b–c; V 743e–744a. 118 Vgl. hierzu auch Lg. II 653a–c. 119 Vgl. Lg. I 631e; 636d.

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angeborenen Präferenzen des Menschen nicht ab ovo richtig erfasst wird.120 Aus diesem Grund kann die Vernunft – entgegen den Annahmen des populären Common Sense und der heutigen Nutzentheorie – nicht auf eine instrumentelle Zweckrationalität reduziert werden. In diesem Sinne greift das homo oeconomicus-Modell nach Platons Auffassung in einem entscheidenden Punkt zu kurz, nämlich im Blick auf das in den Einzelentscheidungen intendierte gelingende Leben im Ganzen. Aber dieser normative Überstieg wird letztlich aus den handlungspsychologischen Grundbedingungen des hedonistischen homo oeconomicus heraus vollzogen, die Platon nicht negieren, sondern durch Erziehung und rationale Aufklärung in die richtige Bahn lenken möchte. 6 Synopse: Platons Transformation des homo oeconomicus Platons Auseinandersetzung mit Basisannahmen des heutigen homo oeconomicus-Modells lässt sich an Hand seines Umgangs mit einer Handlungstheorie, die er dem damaligen Common Sense zuschreibt, in ihrer Entwicklung sukzessiv konstruieren und analysieren. Die grundsätzliche Problematik kreist dabei um die Lustmaximierung als basales menschliches Entscheidungs- bzw. Lebensprinzip, das seinen Niederschlag in präferentiellen Handlungen findet. In zwei Kontexten findet sich hierfür reichhaltiges Material im Corpus Platonicum, nämlich zum einen bei der handlungstheoretischen Diskussion der Willensschwäche, die prima facie den Grundannahmen des Rational Choice-Modells entgegensteht; zum Anderen in der psychologischen Ausdifferenzierung des Lustkonzepts und bei seiner sukzessiven Einordnung in die Debatte über das Gute bzw. über das gelingende Leben. Im Ergebnis werden dabei vier miteinander verknüpfte Punkte deutlich: 1. In der Erklärung willensschwachen Handelns zeigen sich schon im Protagoras deutliche Grenzen des evaluativen Monismus und einer reinen Kalküllogik, die im hedonistischen Common Sense bzw. im homo oeconomicus-Modell vorausgesetzt werden. Platons späteres Modell einer psychologischen Trichotomie, das spezifisch darauf ausgelegt ist, intrapsychische Konflikte aus einem motivationalen und evaluativem Pluralismus heraus zu erklären und zu modellieren, zeigt sich hier leistungsfähiger: Akrasía ist letztlich zu verstehen als ein Bruch zwischen rationaler Motivation und affektiver Motivation, der sich in einem unvernünftigen und selbstschädigenden Verhalten niederschlägt. Hier bringt Platon also deutliche Korrekturen am Rational Choice-Modell an. 2. Platon akzeptiert dabei aber trotzdem grundsätzlich den psychologischen bzw. deskriptiven Hedonismus als eine Erklärungsfolie für das alltägliche Verhalten des Menschen. Er bereichert das homo oeconomicus-Modell des nutzenorientierten Akteurs selbst immer wieder mit pointierten Analysen für ein konsistentes präferentielles Wahlverhalten, das am Lust-/Unlustkalkül orientiert ist. Damit klärt er den Common Sense gewissermaßen über die seinem Verhalten zu Grunde liegenden Prinzipien einer hedonistischen Rational Choice auf. Ebenso arbeitet er selbst immer wieder auf klare Präferenzhierarchien hin, die sich in entsprechende Güterordnungen oder –tafeln gießen lassen und die durchaus 120 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch die Unterscheidung zwischen „wahren“ philosophischen Tugenden, die auf Einsicht (φρόνησις; phrónēsis) beruhen, und bloßen Scheintugenden: Bei letzteren beruht dann z. B. Mäßigung einzig und allein auf der Furcht vor Schmerz und nicht auf der Einsicht in das Gute; vgl. hierzu Phd. 68e–69b.

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eine grundlegende Nutzenorientierung für den Akteur haben. Allerdings stehen dabei – im Gegensatz zum heutigen Rational Choice-Modell – nicht Einzelhandlungen, sondern miteinander konkurrierende Lebensformen als ganze im Fokus, die miteinander im Blick auf die Erreichung ihres angestrebten Ziels, nämlich des glücklichen Lebens, verglichen und ordinal ‚gerankt‘ werden. Die Leitfrage lautet dabei grundsätzlich, „wie man leben soll“121 – und nicht bloß, wie man in einzelnen Situationen zu handeln hat. 3. Im Laufe seiner Auseinandersetzung mit dem Hedonismus unterscheidet Platon immer deutlicher zwischen dem deskriptiven und dem normativen Hedonismus.122 Letzteren kritisiert er grundlegend aus zwei Erwägungen heraus: (a) zum einen wegen der aus seiner Sicht zu kurz greifenden Gleichsetzung der Lust mit dem Guten.123 Damit ist zugleich die wertmonistische Prämisse des hedonistischen Common Sense-Modells unter Beschuss. Letztlich ist die Wahl zwischen den verschiedenen Lüsten auf ein nicht aus der Lust selbst ableitbares Kriterium verwiesen,124 nämlich auf das Gute (ἀγαθόν; agathón) – freilich ohne dass Platon dieses Gute einseitig gegen die Lust oder den Nutzen ausspielen möchte: Das gute und gerechte Leben ist nach seinen Analysen immer auch das lustvollste. (b) Zum anderen kritisiert Platon den normativen Hedonismus wegen der damit eng verbundenen Idee einer Lustmaximierung, die übersieht, dass man Lust tendenziell begrenzen und v. a. die wahren von den falschen Lüsten aussondern muss, um ihnen den angemessenen Platz in der Mischung des gelingenden Lebens zuzuteilen. Die elementare Maximierungslogik des gegenwärtigen homo oeconomicus ist der platonischen Ethik auf normativer Ebene letztlich doch fremd. Es geht Platon erkennbar um eine qualitative Optimierung im gelingenden Leben, nicht um eine quantitative Maximierung. 4. Die für diese Optimierung erforderliche Einschätzung und Einordnung der unterschiedlichen Güter in die Lebensführung kann nur die Vernunft leisten. Die im homo oeconomicus-Modell angelegte Instrumentalisierung der Vernunft auf eine pure Zweckrationalität, die sich als kalkulatorische Instanz für vorgegebene Präferenzen betätigt, greift zu kurz. Die Vernunft reflektiert auch über die grundlegenden Ziele des Handelns und vermag die inhaltliche Zielorientierung auf der Basis ihrer Erkenntnisse auch zu ändern. Letztlich soll somit auf ein auf Einsicht und Wissen beruhendes Handeln implementiert werden.125 Genau das ist die Aufgabe der Philosophen in ihrer eigenen Lebensführung wie auch in ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. 126 Deshalb bekommen rein egoistisch motivierte Menschentypen à la Kallikles auch regelmäßig die Verfehltheit ihrer eigenen 121 Vgl. Grg. 500c; R. I 352d. 122 Dieser Unterschied ist im Protagoras noch nicht erkennbar, wie Gosling/Taylor 1982, 58, zu Recht diagnostizieren. 123 Vgl. hierzu grundlegend: Grg. 497a; Phlb. 54c–d. 124 Vgl. Van Riel 2000, 10–12. 125 Zu diesen Differenzen im Rationalitätsverständnis zwischen Platon und dem homo oeconomicusModell vgl. auch Föllinger 2016, 54–56, die zu Recht darauf hinweist, dass das heutige Verständnis ökonomischer Rationalität nur einen Teilbereich dessen abdeckt, was Platon unter Vernunftaktivität fallen lässt. 126 Vgl. Grg. 517b: Die Fähigkeit eines guten Politikers ist es nicht, bloß die Wünsche der Bürger zu bedienen, sondern sie in eine andere Richtung zu lenken und zu dem zu bringen, wodurch sie besser werden.

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Lebensführung vor Augen geführt. Allerdings fällt auf, dass Platon nicht grundsätzlich den Altruismus propagiert, sondern – insbesondere in den Nomoi – eher vor einer übertriebenen Eigenliebe warnt.127 Das Eigennutzenaxiom des homo oeconomicus ist somit nicht gänzlich außer Kraft gesetzt, aber die rigorose Beschränkung der Reflexion auf die Bewertung von Handlungen, die auf das Eigeninteresse der Person zu beziehen sind, wird letztlich aufgebrochen.128 Insgesamt ist das Verhältnis Platons zum homo oeconomicus-Modell somit tendenziell ambivalent: Auf deskriptiver Ebene gesteht er ihm eine gewisse, wenn auch nicht umfassende explanatorische Kraft zu. Seine Kritik daran macht sich v. a. an den impliziten und unhinterfragten normativen Voraussetzungen und der reduzierten Rolle der Vernunft in diesem Paradigma fest. Die wesentliche Lehre, die man aus diesen platonischen Überlegungen auch noch heute für den homo oeconomicus ziehen kann, ist die folgende: Ein überzeugendes Modell menschlicher Handlungserklärung kommt nicht ohne Rekurs auf eine Theorie des substantiell Guten aus, die den Einzelentscheidungen ihre Richtung verleiht. Handlungsleitende Präferenzen sind immer eingebettet in eine Auffassung vom guten Leben, die sich den verschiedenen Entscheidungen des Akteurs einprägt. Solche evaluativen Rahmenkontexte des Handelns sind von einer behavioristisch verkürzten Auffassung des homo oeconomicus-Modells meist übersehen bzw. ausgeblendet worden. Dass auch aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht menschliches Handeln komplexer modelliert werden muss, als es das im Alltagsverstand populäre Bild des egoistischen zweckrationalen Nutzenmaximierers suggeriert, hat insbesondere Amartya Sen in seiner überzeugenden Kritik am standardisierten homo oeconomicus gezeigt.129 Ist man sich aber hierüber grundlegend einig, dann kann ein fruchtbarer Diskurs zwischen antiker Philosophie und heutiger Wirtschaftswissenschaft über wahren Nutzen geführt werden, der normative Kategorien wie Gerechtigkeit nicht ausblendet, sondern sie angemessen mit dem ökonomischen Theorierahmen zu vermitteln weiß. 130 Hier ist Platon gerade deshalb ein interessanter Gesprächspartner für die heutigen Wirtschaftswissenschaften, weil er das traditionelle Bild vom homo oeconomicus in seinen Schriften ausbuchstabiert, kritisch prüft und letztlich transformiert.131

127 Vgl. z. B. Lg. V 731d–732b. Dies betrachtet Platon allerdings als das grundlegende Problem der meisten Menschen. Insofern ist es konsequent, dass er sowohl in der Politeia als auch in den Nomoi das Streben nach Reichtum mit zahlreichen Mitteln eingrenzt. 128 Zum Verständnis von Nutzen bei Platon vgl. auch Föllinger 2016, 49–53, die herausarbeitet, dass Eigennutzen eine wichtige Kategorie für Platon bildet. 129 Vgl. Sen 1977. 130 Vgl. z. B. Sen 2010, der auch an Stelle einer reinen Zweckrationalität ein geradezu sokratisch anmutendes Verständnis von Rationalität für Rational Choice als Handlungswahl ins Spiel bringt: „Rationalität ist Übereinstimmung mit Gründen, die nicht nur auf den ersten Blick einleuchten, sondern auch kritischer Überprüfung standhalten“ (Sen 2010, 207f.). 131 Vortragsfassungen dieses Textes wurden im November 2017 in Bonn und in Freiburg zur Diskussion gestellt. Ich danke Christoph Horn und Angela Ulacco für die Einladungen und den Hörerschaften vor Ort für zielführende Nachfragen und Kritik. Weiterhin danke ich Bruno Langmeier für seine Kommentare und Hilfestellungen.

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Selbsterhaltung oder Selbstverwirklichung? Über die unterschiedliche Suche nach einem guten Leben in den hellenistischen Philosophenschulen und bei Platon und Aristoteles Arbogast Schmitt

Abstract Due to its founder Adam Smith, liberal market theory is strongly influenced by Stoic concepts of self-preservation. According to them the individual has a natural propensity to preserve himself. Reason transforms this propensity into a universal duty, resulting in manifold regulations in a market economy. Plato and Aristotle recognise the task of preserving oneself, but they subordinate it to the aim of a self-realisation which satisfies the whole human being. They observe that to many people the opportunity to exercise their individual abilities successfully and to gain recognition for this is a source of greater pleasure, and conversely being impeded in this a source of greater discomfort, than the gratification of sensual needs. In their view, a reasonably stable state of happiness can only be reached if a political community offers all its members the opportunity to test their abilities and to find out their special talents in an education shared by all. In antiquity education in the so-called Liberal Arts was directed at that aim. It differs fundamentally from many concepts of education that are current today by not limiting itself to preparing young people for a job, but rather focussing on the – musical and rational – self-formation of the individual. 1 Die Bedeutung der Stoa der Antike für die moderne Wirtschaftstheorie Platon gilt, wie Sabine Föllinger in ihrer grundlegenden Monographie zur Ökonomie bei Platon feststellt, „nicht gerade als Vordenker in ökonomischen Dingen.“1 Philologisch sorgfältige Untersuchungen2 konnten inzwischen zeigen, dass er über ein ganzes Set von auch praktisch relevanten ökonomischen Konzepten verfügte, von denen nicht wenige auch heute noch beachtenswert, oft sogar als Ergänzung, ja als Ausweg aus unbewältigten Aporien bewertet werden können. Gerade die Verbindung von Ökonomie und Ethik, die lange als Hauptgrund für die Verfehlung eines genuin wirtschaftlichen Denkens bei Platon angesehen worden war, findet angesichts eines kritischen Bewusstseins gegenüber der Dominanz eines reinen Gewinnstrebens neues Interesse. Für Platon steht auch die Ökonomie im Dienst des Strebens des Menschen nach Glück – dieses Grundanliegen hat Sabine Föllinger umfassend berücksichtigt und in seiner ‚Funktionalität‘ für das, was Ökonomie nach Platon leisten soll, aufgearbeitet. 1 S. Föllinger 2016. Für einen kritischen Überblick über die Forschung s. ebd. 9–30. 2 S. neben Föllinger (wie Anm. 1) v. a. Manstetten 2000; Kalil 2000; Polanyi 1979; Schmitt 2008, 426–459 u. 506–514.

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Das, was lange als Zeichen der Unterbewertung des Ökonomischen beurteilt wurde, kann unter diesem Gesichtspunkt mit plausibler Begründung auch als eine berechtigte Unterordnung unter das Gesamt einer sinnvollen Lebensplanung des Menschen betrachtet werden. Dass wirtschaftlicher ‚Wohlstand‘ eine wichtige, aber keine zureichende Bedingung für das Glück des Einzelnen wie einer staatlichen Gemeinschaft ist, kann man als eine Selbstverständlichkeit ansehen. Man kann sich auch auf viele neuere soziologische Untersuchungen stützen, die vielfältig belegt haben, dass die Möglichkeit, glücklich zu sein, zwar von einem gewissen Vermögensstand abhängig ist, dass aber eine Überschreitung dieses Standes sogar zu einer Schwächung und bei extremer Steigerung sogar zu einem völligen Verlust von Glück führen kann.3 Die Frage ist deshalb auch in einer historischen Perspektive wichtig, wie es zu der beinahe umfassenden Vorherrschaft des Ökonomischen in den modernen Zivilisationen kommen konnte, die dazu geführt hat, dass Ansätze, die diesen Anspruch nicht teilen, bestenfalls als Vorstufe, oft sogar als ‚primitive‘, nur auf beschränkte Haushaltsbereiche bezogene Vorstufen einer Marktheorie bewertet wurden. Eine aufschlussreiche Antwort findet man, wenn man auf die Anfänge der ‚liberalen Markttheorie‘ bei ihren ersten Vertretern, vor allem bei Adam Smith, zurückblickt. Denn anders als in den heutigen Wirtschaftswissenschaften gibt es bei Smith noch ein präsentes Wissen von den Quellen, aus denen er die Grundprämissen seiner neuen Theorie geschöpft hat. Diese Quellen sind antike Quellen. Sie stehen allerdings nicht in einer platonischen oder aristotelischen Tradition, sondern stammen aus hellenistischen,4 vor allem stoischen Philosophien,5 die Smith teils direkt v. a. aus Cicero und Seneca, teils aus der wirkungsgeschichtlichen Situation seiner Zeit, die vielfältig von diesen Schulen geprägt war, kennengelernt hat.6 Es sind neben der Überzeugung, dass die Menschen von sich aus, wenn man sie frei ihren Neigungen folgen lässt, auf eine optimale Selbsterhaltung hinstreben, 7 vor allem viele Grundsätze der Ethik der Stoa,8 die er übernommen hat. Eine Reihe neuerer Wirtschaftstheoretiker ist überzeugt, dass die moralischen Gefühle, unter ihnen v. a. die in der Natur jedes Menschen liegende Sympathie mit allen anderen Menschen, die Smith in seiner Theory of Moral Sentiments behandelt, mit seinem Verständnis des homo oeconomicus vereinbar seien9 und einen Einbezug von Fairness und Moral in die Regelung wirtschaftlichen Handelns, das von sich aus auf die reine Gewinnmaximierung ausgerichtet sei, möglich machen. 3 S. z. B. den Sammelband von Bellebaum und Hettlage 2010. 4 Zur Zeit des Hellenismus rechnet man in der Regel die Jahre von ca. 330 (Regierungsbeginn Alexanders des Großen) bis 30 v. Chr. (Schlacht bei Actium; 31 v. Chr.). Die römische Philosophie zwischen dem 1. Jh. vor und dem 2. Jh. nach Christus ist stark von der Rezeption der Philosophie des Hellenismus und der Auseinandersetzung mit ihr geprägt. S. Algra, Bames und Mansfeld 1999. 5 S. v. a. Föllinger 2008; s. auch Schmitt 2008. 6 Im Unterschied zu den gründlichen Kenntnissen, die Smith von der hellenistisch-römischen Philosophie hatte, war ihm Aristoteles nur indirekt, v. a. aus Pufendorf und Montesquieu bekannt. S. Meikle 1995, 110. Dass die klassische und neoklassische Wirtschaftstheorie der Moderne v. a. von antiaristotelischen Tendenzen geprägt war, s. Faber und Manstetten 1988. Zur Herkunft dieses Antiaristotelisms v. a. aus Hume s. Meikle 1995, 181. 7 S. Smith 1981, passim; s. dazu Kraus 2000. 8 S. Smith 1976, s. unten Abschnitt 2. 9 S. z. B. Manstetten 2000; s. Schmitt 2008, 426–441.

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Eine grundsätzliche Schwierigkeit, Smiths Positionen wieder mehr in die aktuelle Diskussion einzubeziehen, ist, wie z. B. schon Alexander Rüstow10 aufgezeigt hat, die religiöse Dimension, in die Smith mit der Stoa das Handeln des Menschen, auch sein marktwirtschaftliches Handeln, gestellt hat. In der bisherigen Forschung ist leider zu wenig beachtet, dass gerade diese religiöse Fundierung eine zentrale Wurzel in der sensualistisch-empiristischen Erkenntnistheorie der Stoa hat. In der Regel macht man eher Platon für diese Abhängigkeit von ‚metaphysischen‘ Annahmen verantwortlich.11 Eine genauere philologische Überprüfung führt aber fast zu einer gegenteiligen Beurteilung: Nicht Platon, der zwar eine empiriekritische, aber keineswegs eine empiriefeindliche Position vertreten hat, sondern die Stoiker der Antike und der Neuzeit kamen durch eine Überschätzung der Leistungsfähigkeit von Wahrnehmung und Beobachtung zu der Überzeugung, dass die Welt von einem durchgängig wohlbestimmten Kausalzusammenhang geordnet sei, dessen Grund sie in einer göttlichen Lenkung gesucht hatten. Die Folgen dieser Überlastung der Empirie sind noch in der gegenwärtigen Wirtschaftstheorie spürbar, z. B. in der Überzeugung, dass jeder Marktteilnehmer genügend Verstand hat und einsetzt, um seinen Gewinn zu maximieren, und dass dies auch das Ziel ist, das jeder auf jede Weise erreichen möchte. 12 2 Die Überlastung der Wahrnehmung in den hellenistischen Philosophenschulen Alle drei hellenistischen Schulen, die Stoa ebenso wie der Epikureismus und die Skepsis, gehen nicht nur davon aus, dass alles Erkennen mit dem Wahrnehmen beginne – das tun auch Platon und Aristoteles –, sondern geben diesem Anfang zugleich den Charakter einer Grundlage allen Wissens. Lukrez etwa nimmt die Tatsache, dass das Erkennen mit der Wahrnehmung anfängt, zum Beweis dafür, dass alle Bekanntschaft mit Wahrem von den Sinnen hervorgebracht werde – mit der Folge, dass der Verstand keine Kritik an der Erkenntnis der Sinne üben kann, da er alles, was er weiß, von ihnen empfangen hat. Einem Skeptiker, der die Möglichkeit von Wissen bestreitet, stellt er die Frage: quaeram … notitiam veri quae res falsique crearit/ et dubium certo quae res differre probarit. Fragen möchte ich ihn, … was die Bekanntschaft mit dem Wahren und Falschen hervorbringt und was lehrt den Zweifel vom Sicheren zu unterscheiden. Und er antwortet: Invenies primis ab sensibus esse creatam/ notitiam veri neque sensus posse refelli … an ab sensu falso ratio orta valebit/ dicere eos contra, quae tota a sensibus orta est? Du wirst finden, dass zuerst von den Sinnen erzeugt ist die Bekanntschaft mit dem Wahren und dass die Sinne nicht widerlegt werden können. … oder vermag wohl ein von einer falschen Sinneserkenntnis her entstandener Verstand gegen die Sinne zu sprechen, der doch ganz aus den Sinnen entstanden ist?13 10 S. Rüstow 2001. 11 S. Vivenza 1999, die aus solchen Gründen eher Platon, Aristoteles und das Christentum als die Stoa für Smiths Grundkonzeption verantwortlich sieht. 12 S. das Folgende und Schmitt 2008. 13 S. Lukrez, De rerum natura 4,474–484 (mit Auslassungen); sämtliche Übersetzungen antiker Textstellen stammen vom Verfasser. S. Binder 2016; s. dazu Hahmann 2015.

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Die entscheidende Botschaft ist die Überzeugung, dass der Verstand alles, was er in Wissen verwandeln kann, aus der Wahrnehmung erhält und erhalten muss: ratio … tota a sensibus orta est. Im Unterschied zu diesem Vertrauen in die direkte Kausalität der Sinne auf den Verstand halten die Stoiker zwar ein Kriterium des Verstandes selbst für erforderlich, an dem er sich orientieren kann, um die Übereinstimmung mit dem sinnlich Gegebenen festzustellen, aber auch sie bleiben bei der Überzeugung, dass eine völlige Vergegenwärtigung aller Sinnesdaten eines Gegenstands identisch mit dem Wissen über das, was dieser Gegenstand ist, sei. 14 Dieses Kriterium finden sie in der sogenannten phantasía katalēptikḗ, in der „begreifenden Vorstellung.“ Diese Form der Vorstellung ist durch Evidenz und Klarheit ausgezeichnet, die gewährleistet, dass die Vorstellung genau so ist, wie nur die wirklich existierenden Dinge der Wahrnehmung gegeben sein können. Dieser Evidenz- und Gewissheits-Charakter macht den rationalen und auch reflexiven Status dieser Vorstellungen aus, denn Evidenz ist immer eine Art sensus sui, in dem sich das Denken selbst seiner Inhalte vergewissert. 15 Die Skeptiker glauben weder an die Wahrheit der Sinneswahrnehmungen, es genügen ihnen aber auch nicht die Evidenzkriterien des Verstandes, auf die die Stoiker vertrauen, da sie viele Beispiele beizubringen in der Lage sind, in der sich der Verstand trotz größter Evidenz seiner Vorstellungen täuscht. Der Zweifel der Skeptiker bezieht sich aber nur auf genau diese Evidenzkriterien, die die Wahrheit oder besser Faktizität einer Vorstellung beglaubigen sollen. Sie stellen also nicht in Frage, dass die Übereinstimmung von Vorstellung und Gegenstand die hinreichende Bedingung dafür wäre, das, was ein Gegenstand ist, zu erkennen, sie glauben nur nicht an die Möglichkeit, dass es Kriterien gibt, die diese Übereinstimmung als sicher ausweisen könnten.16 Alle drei hellenistischen Philosophenschulen sehen also in einer ausgezeichneten Leistung der Vorstellung, in dem, was später als Bewusstsein oder mental representation terminologisch gefasst wurde, die Hauptaufgabe des Erkennens. Es ist die möglichst unverfälschte Vergegenwärtigung von etwas Äußerem und seine Reproduktion im Denken, die als die zentrale Aufgabe des Denkens verstanden wird. Für die Stoa ist die zentrale Bedingung die Evidenz der Vorstellung, die Epikureer verlangen, dass der Verstand das von den Sinnen Gegebene nicht überformt. Der Zweifel, ob es überhaupt eine Übereinstimmung von Sinn und vorstellendem Verstand geben kann, ist die Grundlage skeptischen Denkens.

14 Für die Epikureer sind auch alle Vorstellungen, da sie direkt von der Wahrnehmung stammen, wahr. Erst durch eine Meinung (dóxa) über das Vorgestellte entsteht der Unterschied von wahr und falsch. S. Sextus Empiricus, Adversus mathematicos 7,210,1–2. 15 S. dazu z. B. Diogenes Laertios, Vitae 7,45,9–46,6; oder Schenkl 1916, I,15; 20; 29 u. ö.; s. dazu Vogel 2013, 48–51 und s. v. a. die grundlegende Studie von Krewet 2013, 29–51; s. auch Schmitt 2016, 89–102. 16 Die skeptischen Einwände beziehen sich auf die Verlässlichkeit klarer und deutlicher Vorstellungen, dass die Übereinstimmung von Vorstellung und sinnlicher Wirklichkeit Garant der Wahrheit ist, wird nicht in Zweifel gezogen. S. z. B. die Texte von Sextus Empiricus und Cicero, die Long und Sedley 2000 auf den Seiten 539–542 zitieren; s. Schmitt 2016, 94–97.

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3 Die Empiriekritik bei Platon und Aristoteles Im Unterschied zu dieser Suche der Wahrheit in der Übereinstimmung der Vorstellung mit den wahrnehmbaren Dingen haben Platon und auch noch Aristoteles eine empiriekritische, keineswegs aber eine empiriefeindliche Position vertreten. 17 Ihre Empirie-Kritik ist Resultat einer präziseren Reflexion auf das, was die Wahrnehmung als Wahrnehmung überhaupt leisten kann. Sie erfasst, dies ist die Kernaussage, den Gegenstand in seiner phänomenalen Gestalt, die sich aus dem, was man von ihm sehen, fühlen, riechen, schmecken und hören kann, zusammensetzt. Sie enthält aber keine Erkenntnis über das, was dieser Gegenstand ist. Bei Gegenständen, von denen man sich leicht und scheinbar als Ergebnis der Wahrnehmung einen Begriff bilden kann, wie von Tischen, Häusern, Bäumen usw., fällt diese Schwäche der Wahrnehmung nicht auf, wenn man die Erkenntnisbedingungen aber nur wenig erschwert, wird sie offenbar. Wer etwa Aristoteles einen heutigen Computer zeigen würde, könnte feststellen, dass er trotz gut funktionierender Wahrnehmungsorgane nicht erkennen könnte, was er vor sich hat. Genauso wie ein heutiger Laie in den Naturwissenschaften aus dem, was er sieht, nicht erschließen könnte, dass etwas eine Doppel-Helix ist. Umgekehrt erkennen weniger gebildete Betrachter auf vielen Bildern eines Museums überhaupt nicht, was auf ihnen dargestellt ist – auch wenn ihre Sinnesorgane sehr gut alles Sichtbare erfassen. Die Erkenntnisweise, bei der man mit der Wahrnehmung direkt Gegenstände zu erfassen meint, nennt Aristoteles eine „akzidentelle Wahrnehmung“ (aísthēsis katá symbebēkós), weil in ihr die Wahrnehmung nur die Akzidenzien von etwas aufnimmt, die eigentlich begreifende Leistung, was das Wahrgenommene ist, aber vom Verstand geleistet werden muss. Auch der Verstand wirke aber bei diesen Gegenstandsanschauungen nur akzidentell mit. Denn wer meint, er sehe Gegenstände, reflektiert nicht auf die begrifflichen Bedingungen dieser Erkenntnis. Er hat nach Aristoteles deshalb konfuse Erkenntnisse, weil er Sinnesdaten und Begriff nicht klar unterscheidet und deshalb der unkritischen Wahrnehmung mehr Erkenntnisinhalt zuweist, als sie von sich aus erreichen kann.18 Diese Überbewertung der Wahrnehmung ist für die hellenistischen Philosophenschulen charakteristisch, sie lässt sich aber auch vielfach in neuzeitlichen Formen empirischen Denkens verfolgen. Die Konfusion, die sie erzeugt, soll an einem bei Platon wie Aristoteles beliebten Beispiel knapp angedeutet werden: Wenn man einen ‚wirklichen‘ Kreis, z. B. im Sand, vor sich hat, zeigt eine kritische Erfahrungsanalyse, dass das, was man sieht, keineswegs einfach ‚Kreis‘ ist. Im Gegenteil: das meiste von dem, was sich den Augen zeigt, sind Farben und Formen des Sandes (z. B. seine braunen Kügelchen), und nur eine bestimmte Form, eben die, bei der von der Peripherie zum Mittelpunkt immer der gleiche Abstand eingehalten wird, ist das, was an diesem scheinbar einheitlichen Gesamtphänomen überhaupt Kreis ist. Bei diesem Beispiel fällt der Unterschied zwischen Kreis-Sein und Sand-Sein deutlich auf, es gibt ihn aber genauso, wie Aristoteles betont, bei schwieriger zu differenzierenden Gegenständen. Er demonstriert z. B. auch an den beobachtbaren Teilen des Gesamtphänomens ‚Mensch‘, dass von ihnen nicht leicht klar ist, ob sie auch Teile seines Mensch-Seins sind.19 Kein Geringerer als Kant hat die Arten von Menschen, die es gibt, an ihrer Hautfarbe 17 Zu Platons Empiriekritik s. ausführlicher Schmitt 2011, 131–142; zu Aristoteles s. Schmitt 2017, 9–35. 18 S. v. a. Aristoteles, Physik I 1. 184a16–b5; s. dazu Schmitt 2008, 315–324. 19 S. Aristoteles, Metaphysik VII 11. 1036a26–b8.

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unterschieden und die ‚weiße Rasse‘ an die Spitze der vernunftbegabten Wesen gestellt.20 Der weiße Mensch ist für Aristoteles dagegen geradezu das Musterbeispiel für eine nur akzidentelle Bestimmung dessen, was das Menschsein an einem Menschen ausmacht. An solchen Eigenschaften, auch wenn sie zum Gesamt eines Menschen zu gehören scheinen, darf man sich nicht orientieren, wenn man wissen will, was ein Mensch ist. Die Schwierigkeiten heutiger Verhaltensforscher, durch Beobachtung von Menschen und durch Auswertung dieser Beobachtungen überhaupt einen genauen Unterschied fixieren zu können, was an Menschen Mensch ist und was der Mensch mit vielen anderen Lebewesen gemeinsam hat, dokumentiert den von Platon und Aristoteles behaupteten synthetischen Charakter empirischer Gegenstände sogar am Beispiel des Menschen. Die Aufgabe des Denkens (im Unterschied zu Wahrnehmung und Beobachtung) ist deshalb immer, angesichts der phänomenalen Erscheinung eines Gegenstands zu beachten, dass er keine Einheit sein könnte, die rein und nur etwas Bestimmtes verkörpert: Mensch, Baum, Kreis, Haus usw., und kritisch zu überprüfen, was an ihm zu etwas Einem gehört und was Zusätze sind, die z. B. auf die Bedingungen der Verkörperung, etwa eines Kreises mit Hilfe der Kreide, zurückgehen. 4 Der Weg von der Wahrnehmung ‚wohlbestimmter‘ Einzeldinge zu einer ‚Metaphysik‘ der empirischen Welt in der Stoa Im Unterschied zu der knapp skizzierten synthetischen Erklärung des ‚Seins‘ der Einzeldinge betrachten alle hellenistischen Philosophenschulen die materiellen, wahrnehmbaren Dinge als genau die Einheiten, von denen der Mensch zunächst beeindruckt wird – auch in seinen Gefühlen –, die er dann im Denken möglichst klar repräsentieren und deren Repräsentationen es bearbeiten soll.21 Die Konsequenzen, die sich aus der Überzeugung ergeben, mit der Wahrnehmung müsse das Denken nicht nur anfangen, sondern aus ihr erhalte es auch alle Inhalte, die es zu Begriffen und Urteilen verarbeiten könne, werden besonders deutlich an den Lehrpositionen der Stoa erfassbar. Denn sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie in außergewöhnlicher Stringenz diese Einstellung zu Ende gedacht hat. Das hatte zur Folge, dass sie wegen der Rigorosität ihrer Lehrannahmen – z. B. wegen der Annahme eines umfassenden Determinismus alles Geschehens in der Welt oder wegen der Rigidität der moralischen Forderung, die Freiheit eines selbstbestimmten Denkens durch kein Gefühl beinträchtigen zu lassen (Gegenargumente werden gerade heute oft, auch von Ökonomen, gesucht) – auf vielfältige Ablehnung gestoßen ist. Diese Konsequenzen ergeben sich aber für die Stoa aus der empirischen Basis mit Notwendigkeit, und es sind eben diese Konsequenzen, die zu einem guten Teil Eingang in die modernen Anfänge der Wirtschaftstheorie gefunden haben. Wenn man davon ausgeht, dass es zuerst und allein die Wahrnehmung oder eine andere Form einer ‚unmittelbaren Bekanntschaft‘ ist, durch die wir mit der Welt bekannt werden (s. heute z. B. Bertrand Russell, der diese Leistung ausdrücklich von einer immediate 20 S. Abhandlungen Kants: Von den verschiedenen Rassen der Menschen und Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse (= Kant 1966d); s. dazu Geulen 2007, 57f. (mit dem Nachweis der Abhängigkeit Kants von einer breiten zeitgenössischen Strömung); zur Beurteilung des Menschen auf Grund seiner Hautfarbe im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts s. Hund 2017. 21 S. dazu v. a. Krewet 2013, 29–51.

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acquaintance abhängig macht22), und dass Wissen von der Übereinstimmung der vorgestellten Wahrnehmungen mit den äußeren Gegenständen abhängt, ergibt sich zwingend, dass alle Begriffe, die das Denken über die Dinge bilden kann, aus der Beobachtung der Dinge durch Abstraktion, Vergleich, usw. gewonnen sein müssen. Wenn aber unsere Urteile dann wahr sind, wenn die in den Begriff aufgenommenen Merkmale der Dinge mit den Bestimmungselementen, den Eigenschaften, der Dinge selbst übereinstimmen, sind die Dinge selbst Bedingung möglicher Wahrheit im Urteil über sie, sie müssen also selbst ‚wohlbestimmt‘ sein (res omnimodo determinatae), d. h.: die und nur die Dinge, die ‚existieren‘, sind die ‚reale‘ Einheit aller möglichen von ihnen abstrahierbaren Begriffe. 23 Bis zu diesem Punkt befindet sich die stoische Erkenntnisauffassung in breiter Übereinstimmung mit vielen, auch heute vertretenen empiristischen Positionen. In einem Handbuch wissenschaftstheoretischer Grundbegriffe etwa kann man unter dem Stichwort Empirismus lesen: „Auch wenn die wichtigsten Lehren des Logischen Empirismus … ganz abgelehnt würden, würde das den grundlegenden Einsichten des Empirismus nicht den Boden entziehen – nämlich dass die Welt, nicht die menschliche Vernunft der Schiedsrichter über alle substantiellen Aussagen mit Wahrheitsanspruch ist, und dass die Erfahrung die vorrangige Quelle des Wissens über die Welt ist.“24 Von der Stoa kann man lernen, was diese „grundlegende[] Einsicht[]“ bedeutet: Wenn die Welt der Schiedsrichter über die Wahrheit unseres Wissens ist, dann ist rational nur, was der ‚Welt‘ selbst gemäß ist, und das heißt, Wahrheit im Urteil gibt es nur, wenn alle Dinge der Welt und dadurch die Welt selbst ein ‚wohlbestimmtes‘ Ganzes, ein Kosmos sind. Ein Zweifel an der Zuverlässigkeit des menschlichen Denkens führt deshalb unmittelbar zu einem Zweifel an der rationalen Ordnung der Welt, genauso wie der Glaube an die Verlässlichkeit des Denkens direkt zu einer metaphysischen Überlastung der Welt bzw. (im Sprachgebrauch der Stoa) der ‚Natur‘ führt. Deshalb ist die Überzeugung, dass das die Natur, den Kosmos, bis ins einzelne durchwaltende Ordnungsprinzip Gott ist, eine direkte Folge aus der ‚sensualistischen‘ und ‚materialistischen‘ Erkenntnistheorie der Stoa.25 Kleanthes, einer der frühen Stoiker, spricht von Zeus als dem „Lenker der Natur, der mit dem Gesetz alles steuert, ... dem die ganze Ordnung, die sich über die Erde ausbreitet, folgt, … von dem alle Werke der Natur stammen, weil die Vernunft als die allem gemeinsame Natur … alles durchzieht ...“26

22 S. Russell 1956, 41–56. 23 S. z. B. noch Kant, etwa Nachlass (= Kant 1973) 5710 oder Logik Jäsche (= Kant 1966b) § 15, A 155: „Da nur Einzeldinge durchgängig bestimmt sind, so kann es auch nur durchgängig bestimmte Erkenntnisse als Anschauungen, nicht aber als Begriffe geben.“ S. auch Kritik der reinen Vernunft (= Kant 1966a) B 600/A 572–B 612/A 584. Dazu, dass für Kant Existenz bis zuletzt durchgängige Determiniertheit meint, s. Choi 1996, v. a. das Kapitel: „omnimoda determinatio est existentia“, S. 120–126. Auch wenn Kant ausdrücklich betont, dass man die durchgängige Determination nur durch die Vernunft erkenne (ebd.), setzt er für diese Erkenntnis die der Wahrnehmung oder Empfindung bereits vorliegende durchgängige Determiniertheit voraus. Das Denken expliziert sie, es findet sie aber vor. 24 S. Burian 1980, 157. 25 S. anders Powers 2012, 245–269. 26 S. Kleanthes, Hymnus an Zeus (= v. Arnim 2004, fr. 537), vv. 1–16.

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In ganz ähnlicher Weise fragt Seneca, einer der späten Stoiker der Antike, was das ordnende, formende Prinzip der materia iners, der trägen Materie, sei, und gibt die Antwort: ratio scilicet faciens, id est deus27 („das ist natürlich die schaffende Vernunft, das heißt: Gott“). 5 Die Basis der Selbsterhaltungstheorien in der Neuzeit: Theologisches Vertrauen in die Fürsorge der Natur Eines der Charakteristika der Abwendung der Renaissance vom Mittelalter ist die Hinwendung zu den Dingen der Welt selbst, durch die richtiger, genauer und vollständiger das erfasst werden könne, was das Mittelalter, gestützt auf die Autorität des Aristoteles, aus ‚metaphysischen‘ Prinzipien der ‚Vernunft selbst‘ deduziert hatte. Die Natur wird durch die Gleichheit des Anspruchs der neuen Erfahrungserkenntnis mit der ‚alten‘ Erkenntnis der Dinge aus Begriffen in ähnlicher Weise wie in der Stoa der Antike wieder metaphysisch aufgeladen: sie ist selbst gewissermaßen der tópos eidṓn, der Ort aller Begriffe, die das menschliche Denken bilden kann. Dadurch kommt es auch zu einer intensiven Neurezeption der Stoa und der anderen hellenistischen Philosophenschulen. Wie sehr diese theologische Überlastung der Natur die Anfänge der neueren Wirtschaftstheorie beeinflusst hat, zeigt sich vor allem an der Art der Übernahme der sogenannten Oikeiosis-Theorie28 der Stoa durch Adam Smith. Diese Theorie ist die eigentliche Wurzel für das, was bei Smith zur Ökonomie geworden ist. Schon ihre sprachliche Bezeichnung weist auf den Zusammenhang mit der ‚Ökonomie‘ hin. Das Adjektiv oikeíos heißt: „zum Haus, zu Hab und Gut gehörend“, auch: „angehörig, vertraut, verwandt.“ Das Verbum oikeióō heißt: „sich etwas zu- oder aneignen“, auch „sich etwas vertraut, befreundet, zum Eigentum machen.“ Alle diese Bedeutungen laufen in der Oikeiosis-Theorie zusammen: oikeίōsis bezeichnet, dass man sich mit sich selbst befreundet, sich das zu eigen macht, was man für den eigenen Erhalt benötigt, und zwar durchaus in einem ökonomischen Sinn: dass man das sucht, was den größten Gewinn für den Erhalt des eigenen Lebens bedeutet. Viele Leser haben sich verwundert über Smiths Glauben an eine ‚invisible hand‘ Gottes im Marktgeschehen und an einen ‚impartial spectator‘ im Inneren des einzelnen (auch ökonomisch) handelnden Menschen geäußert. Aus dem Zusammenhang der Argumentation bei Smith ergibt sich aber, dass gerade diese Annahmen Ableitungen aus dem Systemganzen der Stoa sind. Wenn unsere Begriffe dann wohlbestimmt sind, wenn sie der Wohlbestimmtheit der Natur gemäß sind, und wenn die Natur diese Wohlbestimmtheit einer in ihr wirkenden göttlichen, formenden und ordnenden ratio verdankt, dann haben alle Dinge und alle Lebewesen der Natur teil an dieser Kraft, sie sind von ihr gebildet und sollen so sein, wie sie sind. Deshalb vertreten die Stoiker – in deutlichem Widerstreit gegen die Phänomene 29 – die Auffassung, dass alle Lebewesen von Geburt an bestrebt sind, das, was ihre Selbsterhaltung 27 S. Seneca, Epistulae morales 65,12. 28 Zur stoischen Oikeiosis-Lehre s. v. a. Forschner 1995, 142–159; Bees 2004 (Bees betont zu Recht die in der rationalen Organisiertheit der Natur, also modern gesprochen: in ihren Programmen, vorgegebene Tendenz zur Selbsterhaltung. Dieser Tendenz zu folgen, ist allerdings nicht nur ein passives Beeinflusstwerden. Es gehört für die Stoa grundsätzlich die aktive Einstimmung in das von der Natur und dem Schicksal Vorgegebene dazu). S. Horn 2004, Sp. 1403–1408. 29 Dass sich alle Lebewesen (und am Ende sogar ihre Gene) vor allem um ihre Selbsterhaltung kümmern,

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fördert, zu lieben und das, was ihr schadet, zu meiden. Das ist der Grundsinn von oikeíōsis, von Cicero übersetzt als conciliatio: Anfreundung mit sich selbst, d. h. mit den in der eigenen Natur liegenden und von ihr vorgegebenen Bedürfnissen. 30 Deshalb sei jeder auch von Anfang an mit einem sensus sui, einer Art natürlichem Bewusstsein seiner selbst, und mit einer Liebe zu sich selbst (amor sui) ausgestattet.31 Auf dieses naturgemäße Selbsterhaltungsstreben stützt sich auch Adam Smith, wenn er die Überzeugung äußert, dass jeder von sich aus und aus Eigenliebe nach seinem Vorteil strebe und eben dadurch als Teil des Ganzen auch zu dessen Optimierung beitrage. Er beruft sich sogar dort, wo er Mandevilles ‚unmoralischen‘ Vorstellungen, dass aus privaten Fehlern öffentlicher Nutzen entstehe, teilweise zustimmt, auf die Stoa. Denn natürlich wussten auch die Stoiker, dass es in der empirischen Welt viel Unordnung, Zufall, Zerstörung und – im moralischen Bereich – viele Schwächen bis hin zu Bosheit und Laster gibt. Aber sie erklärten diese Abweichungen von der allgemeinen Ordnung aus einem Perspektiven-Unterschied. Für den endlichen Menschen erscheinen diese Übel als etwas Destruktives, aus der Perspektive des Ganzen aber als „eternal art which educes good from ill.“32 6 Die moralische Regelung der Selbsterhaltung durch ihre vom Verstand geforderte Universalisierung Als ein guter Kenner der Stoa bleibt Smith aber nicht bei dieser zwar kaum widerlegbaren, aber auch nicht beweisbaren und am Ende unbefriedigenden Position. Da der Mensch von der Stoa als das Wesen betrachtet wird, das als einziges mit dem Vorzug ausgestattet ist, vernunftbegabt zu sein, versteht sie die Entwicklung des Menschen nicht einfach als etwas von der Natur Vorgegebenes. Im Gegenteil: Die eigentliche Menschwerdung beginnt für sie mit der Entwicklung der Fähigkeit zu einem selbständigen Gebrauch der Vernunft. Ist dieses Stadium erreicht, gewinnt der Mensch Einsicht in die Gesamtordnung des Kosmos, weil er sich reflexiv bewusst wird, dass das Selbsterhaltungsstreben und die Selbstliebe, denen er von Anfang an gefolgt ist, allem, was in der Welt vorhanden ist, und v. a. allen Lebewesen, gemeinsam ist. Alles ist daher notwendig mit den gleichen Rechten zur Selbsterhaltung ausgestattet. Dieses universale Recht wird durch die Einsicht in seine Begründung zur Pflicht 33 und schränkt das ursprünglich eigensüchtige Streben auf die Forderung ein, das eigene Streben nur so weit gewähren zu lassen, wie es das der anderen nicht behindert oder bedroht.

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ist eine These, die erstaunlich selten in Frage gestellt wird. Sie widerspricht aber deutlich den Phänomenen. Nicht nur Menschen, auch Tiere sind leicht durch Nahrungsangebote verführbar, die nicht ihrer Erhaltung, sondern ihrer Lust dienen. Bei den Ägyptern gibt es das Sprichwort: Ein Drittel von dem, was die Menschen essen, essen sie, um sich selbst zu erhalten, zwei Drittel, um die Ärzte zu erhalten. Erfahrbare Evidenz für die Richtigkeit dieser Meinung gibt es zur Genüge. S. Cicero, De finibus bonorum et malorum 3,21. S. Seneca, Epistulae morales 121,20; s. auch ebd. ep. 85,15. S. Smith 1976, I,ii,3,4. Es ist für die den hellenistischen Schulen zugrundeliegende Art des empirischen Denkens charakteristisch, dass man man auch bei einem Anschluss an eine epikureisch geprägte Evolutionstheorie, die den Zufall zum Hauptagens der Entwicklung macht, zu einem fast gleichen Ergebnis kommt: Es ist die Auswahl der Besten, d. h. der Selektionsdruck (bei dem der Tod der eigentliche Meister der Entwicklung ist), die den jeweiligen Entwicklungsstand der Natur bestimmt. Es entsteht also aus dem Untergang des nicht Überlebensfähigen das besser zum Überleben Geeignete, also auch hier: aus dem Schlechten das Gute. S. Cicero, De finibus bonorum et malorum 3,21.

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Diesem jedem vernünftigen Wesen mögliche eigene Grundwissen, Cicero übersetzt den griechischen Terminus énnoia, Innesein, mit notio, entspricht das, was Smith als den ‚unparteiischen Zuschauer‘, d. h. eine Art Gewissen im Inneren jedes Menschen bezeichnet. Es leitet den Menschen, aber er muss auch auf diese innere Stimme hören, d. h. das ihm mögliche, allein auf Grund seiner Vernunftnatur gegebene Wissen ausbilden und beachten. Sie ist keineswegs eine spekulative Instanz in uns, sondern Ergebnis der Reflexion auf die universalen Grundbedürfnisse des Menschen. In der älteren Forschung hat man oft auf den Widerspruch hingewiesen zwischen dem Handeln des homo oeconomicus, der nach Smith durch sein eigenes egoistisches Selbsterhaltungsstreben dem allgemeinen Nutzen dient, und der dem inneren Beobachter zugewiesenen Rolle eines Kontrollorgans, der verfehlte Egoismen steuert und reguliert. In der neueren Forschung hat man auch die Ergänzung betont, die Smiths Abhandlung über die moralischen Gefühle mit ihrer Berufung auf eine Sympathie aller mit allem34 biete. Vom Systemansatz der Stoa her gehört beides, die egoistische Gewinnmaximierung und ein von der Vernunft geleiteter fairer Wettbewerb, wie zwei Phasen ein und derselben Selbsterhaltungstendenz zusammen.35 Die gewisse Diskrepanz zwischen beiden Lehrpositionen hat auch in der alten Stoa ihre Parallele. Denn von den natürlichen Neigungen, mit denen ein Lebewesen das seiner Selbsterhaltung Zuträgliche ‚liebend‘ verfolgt, sollte gelten, dass sie der Natur gemäß und also von sich her gut sind. Auch in der Stoa aber wird aus den Neigungen Pflicht, sobald die Vernunft die Einsicht in die universale Ordnung der Welt gewonnen hat. Immerhin sind die Stoiker überzeugt, dass der Weg zur Pflicht in Übereinstimmung mit den natürlichen Neigungen begangen werden soll. Mit den Prinzipien der Natur – und darunter verstehen sie, „dass man sich in seinem natürlichen Zustand erhalte und das Entgegengesetzte von sich weise“ (ut se conservet in naturae statu … pellatque contraria) – müsse das, was in der Entwicklung des Menschen auf diesen Anfangszustand folgt, übereinstimmen (principia naturae … quibus congruere debent quae sequuntur).36 Maximilian Forschner spricht in seiner Behandlung der stoischen Ethik daher vom Menschen als einem Wesen, das „von Natur zur sittlichen Lebensform prädisponiert“ sei.37 Übertragen auf den homo oeconomicus müsste man sagen, dass er zu einer institutionellen Regelung seines wirtschaftlichen Handelns eine natürliche Tendenz habe, die auf Grund einer in seiner Natur liegenden universellen Sympathie mit allen von den gleichen Strebungen bewegten Menschen auch eine emotionale Basis hat. Von den stoischen Quellen her, auf die Adam Smith sich stützt, kann man daher eine grundsätzliche Berechtigung für die Deutung ableiten, dass der homo oeconomicus, wie ihn Smith (noch) verstanden hatte, einer Bindung an moralische Regeln zugänglich ist. Das eigene Gewinnstreben sollte, wenn es tatsächlich rational ist, von der Norm geleitet sein, dass die Freiheit auch wirtschaftlichen Handelns ihre Grenzen an den gleichen Rechten aller anderen wirtschaftlich Handelnden findet, d. h. „wenn sie“, wie Kant sagt, „mit der Freiheit 34 Zum Sympathiegedanken (von allem mit allem) in der Stoa s. Pohlenz 1992, Bd. 1, 101–106 und Bd. 2, 58 (mit Belegstellen). 35 S. v. a. die überzeugenden Nachweise für den stoischen Einfluss auf beide Hauptwerke in Waszek 1984, 591–606. 36 S. Cicero, De finibus bonorum et malorum 3,20. 37 S. Forschner 1995, 142.

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von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, d. i. diesem Rechte des andern nicht Abbruch tut.“38 7 Lässt sich die von Smith begründete Markttheorie durch Berücksichtigung der nicht rationalen Tendenzen der Marktteilnehmer methodisch korrigieren? Das Problem, das eine stoisch geprägte Markt-Konzeption mit sich bringt, dessen Erforschung gerade zur Vergabe eines Nobelpreises geführt hat, ist nicht nur die offenkundig defizitäre Rationalität vieler Marktteilnehmer, die vor allem einen längerfristigen oder nicht leicht erkenn- oder erreichbaren Nutzen nicht oder zu wenig energisch anstreben, das Problem liegt ebenso in der ethischen Dimension, und auch hier in einem wohlbekannten Phänomen, dessen Relevanz gegen die Stoa immer wieder eingeklagt wurde: Es sind die zwei Herzen in der Brust, auch des homo oeconomicus. Es gibt nicht nur den unparteiischen Beobachter in uns, sondern ebenso den von mehr oder weniger irrationalen Gefühlen bewegten Menschen, der auf den Rat der Vernunft nicht hört. Auch diese Seite des Menschen muss die Ökonomie in Rechnung stellen, wenn ihre Theoriebildungen nicht in Widerspruch zu den Phänomenen stehen sollen. Man muss sie, wie Richard Thaler, der Nobelpreisträger des Jahres 2017, besonders beeindruckend herausgearbeitet hat, in die Planung wirtschaftlichen Handelns einbeziehen und auch auf sie (mit subtilem psychologischem Druck) Einfluss zu nehmen versuchen.39 Ein besonders schönes Beispiel bietet ihm das Verhalten des Odysseus in der Odyssee Homers, als er an der Insel der Sirenen mit seinem Schiff vorbeifährt. 40 Er wird von dem verführerischen, aber tödlichen Gesang der Sirenen, die alles wissen, heftig angezogen. Auch er möchte alles wissen,41 aber er folgt der ratio, die ihn auf die Gefahr aufmerksam macht und lässt sich an den Mast seines Schiffes binden. Er nutzt einen äußeren Druck, Thaler spricht von einem „Schubs“ („nudge“), um seiner emotionalen Schwäche nicht zu erliegen. An die Stelle des Konzepts einer rational strategischen und möglichst auch ethisch gesteuerten Ökonomie muss, das folgert Thaler aus diesem und vielen anderen Beispielen, eine Verhaltensökonomie treten. Dass eine solche Verhaltensökonomie sinnvoll, ja notwendig ist, wenn man das wirtschaftliche Verhalten der Menschen eines Marktes einigermaßen praxisgerecht beurteilen will, ist evident. Eine Schwäche hat aber auch diese Position, die sie mit der alten Markttheorie teilt: Die alte Theorie ging davon aus, dass es der individuelle, meist materiell vorgestellte Nutzen ist, den die Marktteilnehmer meist in zielstrebig rationalem Egoismus, manchmal aber auch unter rationaler, fair geregelter Steuerung zu erreichen suchen. Die neue geht davon aus, dass die Erreichung des größtmöglichen Nutzens grundsätzlich eine Hilfe, einen Anstoß und eine – wenn auch viel Freiraum lassende – Reglementierung benötigt. Thaler spricht von einem „libertären Paternalismus.“42 38 S. Kant, Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (= Kant 1966c) A 235f. 39 S. Thaler und Sunstein 2017. 40 S. ebd. 63; s. Homer, Odyssee 12,166–200. 41 Dieses ‚Alles-wissen-Wollen‘ lässt sich durchaus mit dem Streben des homo oeconomicus, den Besitz immer weiter mehren zu wollen, vergleichen. Auch es muss gebändigt werden, wenn es nicht ins Unglück führen soll. 42 S. v. a. das Kapitel „Der echte dritte Weg“ in Thaler und Sunstein 2017, 331–333.

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Die Schwäche beider Positionen liegt in der Unbestimmtheit dessen, was mit Hilfe des Verstandes oder mit Unterstützung durch emotional geschickt angebrachte nudges zum Ziel des Handelns gemacht werden soll. Am Ende bleibt es bei dem schon von Smith angestrebten „wealth of nations“, d. h. bei einer allgemein florierenden Marktsituation, die vor allem die materiellen, sinnlichen Bedürfnisse des Menschen anregt und zu befriedigen sucht. Da diese Bedürfnisse beliebig immer weitere neue erzeugen, gibt es bei ihnen keine Grenzen, sie sind nach Platon43 wie Aristoteles44 ohne Ende und deshalb von Grund auf nicht berechenbar. Ihre Unbegrenzbarkeit ist, so müsste man aus heutiger Sicht ergänzen, nicht nur für die rationale Berechenbarkeit und Steuerung, sondern für die Grundverfassung eines liberalen Markts überhaupt verhängnisvoll. Denn dessen Prinzip ist, dass die Freiheit des wirtschaftlichen Handelns jedes Einzelnen von dem Gesetz bestimmt sein muss, dass die jedes anderen daneben bestehen können muss. Aus dem sich selbst frei überlassenen Selbsterhaltungsstreben entsteht aber beinahe notwendig, dass einzelne Marktteilnehmer den Raum für andere immer weiter einschränken, bis sich nur einige wenige ‚Spieler‘ erhalten und alle anderen dominieren, d. h. um die Freiheit des Handelns und des Handels bringen. 8 Eine antike Kritik an der (psychischen) Eindimensionalität des Strebens nach Selbsterhaltung Darauf, dass man die Schwäche eines auf dem Selbsterhaltungsstreben gegründeten Handelns auch nicht durch die stoische Unterscheidung von Neigung und Pflicht und der mit der Pflichtgebundenheit einhergehenden Reglementierung des individuellen Egoismus heilen kann, hat schon Alexander von Aphrodisias, ein bedeutender antiker Kommentator des Aristoteles, hingewiesen. Die Stoa scheint ja mit ihrer Unterscheidung von Neigung und Pflicht (der Neigung mit ihrer natürlichen Lust an der Selbsterhaltung des eigenen Organismus und der Pflicht zur universellen, fairen Erhaltung aller) einen Dimensionswechsel im Verhalten des Menschen einzufordern: von einem sinnlich natürlichen zu einem rational moralischen Leben. Alexander rechnet den Stoikern aber vor, dass dieser Wechsel gerade kein Dimensionswechsel ist. Es ist ja die erklärte Lehre der Stoiker, dass das, wessen der Mensch durch die Aktivierung seiner Vernunft ‚inne wird‘, eben das ‚Gesetz‘ ist, von dem bereits die ersten Neigungen jedes Lebewesens geprägt sind. Diese ersten Neigungen sind noch nicht von der Vernunft gesteuert. Das Lebewesen45 folgt ihnen (vorgeblich) einfach auf Grund seiner Wahrnehmungen und der Lust, die mit ihnen verbunden ist, wenn es sich in seinen natürlichen Erhaltungsbedürfnissen gefördert fühlt. 43 S. Föllinger 2016, 39–43. 44 S. Schmitt 2016, 519–523. 45 Jacob Klein betont mit guten Belegen und Gründen, dass das, was Tiere (und Menschen in ihrer nichtrationalen Lebensphase) auf Grund einer „non-rational perception“ tun, eben dasselbe ist wie das, was Menschen auf Grund rationaler Erkenntnis tun: Es ist die Selbsterhaltung, die naturwüchsig oder rational vollzogen werden kann, aber es ist ein und dasselbe Grundstreben, das, wenn es perfekt ausgeführt wird (eben auf rationalem Weg) hinreichende Bedingung für das Glück auch der Menschen sei. S. Klein 2016, hier: S. 145–149. Klein verweist zu Recht darauf, dass diese Gemeinsamkeit zwischen tierischem und menschlichem, der Natur folgendem Selbsterhaltungsstreben auch von den anderen hellenistischen Schulen gleich gesehen wird. Siehe S. 148, Anm. 11. Anders als Klein würde ich allerdings in dieser Deutung kein Sokratisch-Platonisches Erbe sehen (s. S. 195). S. aber ähnlich bereits Pembroke 1971, 140;

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Die Differenz zwischen den ‚naturwüchsigen‘ Neigungen und den rational erkannten Pflichten des Menschen ist lediglich die Differenz zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen, sie entsteht durch die Universalisierung der vorreflexiv vorhandenen Neigungen. Auch, ja gerade der pflichtbewusste Mensch handelt secundum naturam, der Natur gemäß. Auch er ist geleitet von dem seiner Natur von Anfang an mitgegebenen Streben nach Selbsterhaltung des eigenen Lebens.46 Alexander betont deshalb, dass bei dieser Art von Selbsterhaltungsstreben die Bindung an das, was man durch Wahrnehmung in Erfahrung bringt und mit Lust oder Unlust verbindet, nicht überwunden wird.47 Diese Bindung ergibt sich konsequent aus der erkenntnistheoretischen Maxime der Stoiker, für die alles, was der Mensch begrifflich erfassen kann, in den Gegenständen der Wahrnehmung bereits enthalten ist. Sie führt daher auch zu einer besonderen Form des wirtschaftlichen Handelns. Denn wenn die Wirtschaft zuerst der Selbsterhaltung dient, dann hat sie es auch vor allem mit der Befriedigung natürlich sinnlicher Bedürfnisse zu tun, und zwar nicht nur der elementaren, notwendigen, sondern auch der vorgeblich höheren, kultivierteren Bedürfnisse, die aber auf den Bereich eines sinnlich genussvollen Lebens bezogen sind. Wie Platon betont, gehört zu dieser Art wirtschaftlichen Handelns auch das ganze Geldwesen. Denn die Lüste, die man sich mit Hilfe von Geld verschaffen kann, sind weitgehend sinnlich-materieller Natur. In solchen elementaren Strebungen die Weise zu sehen, in der ein Mensch sich in Anpassung an die Umwelt selbst verwirklicht, gehe, so betont Alexander, in grober Weise an dem vorbei, was der Mensch aufgrund seiner menschlichen Fähigkeiten sein kann. Mit der Wahrnehmung, ihren Bedürfnissen und Lüsten, fängt das menschliche Leben zwar in einem zeitlichen Sinn an, alle unsere Erkenntnisse, Gefühle, Willensregungen beginnen mit Wahrnehmungen, sie müssen aber erst durch höhere psychische Akte vervollkommnet werden. Im Sinn der stoischen oikeíōsis wird der Mensch gleichsam an die Anfänge seines Menschseins gebunden, gleichgültig, ob er diese Anfänge ‚natural‘ erstrebt, oder ob er sie reflexiv als vermeintliche Ordnung des Weltganzen aufdeckt und ihnen in bewußtem Pflichtgefühl Folge leistet und so aus Natur Kultur macht.48 Die bei Evolutionsbiologen verbreitete Tendenz, das, was der Mensch ist, auch seine kulturellen Leistungen, aus seiner evolutionären Herkunft von höheren und auch niederen Tierarten zu erklären, zeugt von dem Fortleben dieser Bindung an die elementar anfänglichen Seiten des Menschen. Für die Antwort auf die Frage, was die Gründe dafür sind, dass die liberale Markttheorie über einen so langen Zeitraum die Vielfalt menschlicher Verhaltensmöglichkeiten fast ganz s. auch Menn 1995. 46 Reinhard Brandt belegt und zeigt gut, wie diese stoische Unterscheidung einer natürlichen und einer reflexiv gewordenen Natur auch viele neuzeitliche Diskurse beeinflusst hat, bei John Locke z. B. das Konzept der personalen Identität. Brandt schreibt: „Zum Selbst gehört in der gesuchten forensischen Ebene nur, was in der naturalen schon angeeignet ist. Daher müssen die vergangenen Taten, die meine eigenen … sein sollen, wirklich von mir in der Sorge um mich selbst bewirkt worden sein. … Beides, das ‚conscious of myself‘ und ‚concerned for myself‘ bilden das notwendige Substrat einer natürlichen Selbstkonstitution“ (mit besonderem Verweis auf Seneca, Epistulae morales 121). S. Brandt 2003. 47 Bruns 1887, 152, 13–14; 153, 2–5. 48 Ebd. 151,34 – 152,15 (zum Unterschied zwischen dem, was jeder Mensch der Potenz nach ist, und der Möglichkeit, diese Potenz zu etwas Wirklichem und Bestimmendem zu entwickeln und zu vollenden, s. das Folgende); s. dazu auch Schmitt 2008, 454–455.

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ignorieren und das Marktgeschehen allein unter der Voraussetzung eines rational seinen Nutzen anstrebenden Kalküls der wirtschaftlich Handelnden zu ‚berechnen‘ versuchte, gibt der stoische Rigorismus also eine aufschlussreiche Antwort: Es ist die Überzeugung, es liege in der Natur des Menschen selbst, dass er nach seiner Selbsterhaltung strebe und dieses Streben sich sogar zur Pflicht machen müsse, wenn er dieser seiner Natur reflexiv inne wird. Dass diese Überzeugung noch im 20. Jahrhundert und auch in der Wirtschaftstheorie so vorherrschend war, dass die Berücksichtigung der nichtrationalen Seiten der Menschen für die Art ihres moralischen wie wirtschaftlichen Verhaltens wie ein Paradigmenwechsel bewertet wird, zeigt aber, dass die Stringenz, mit der die Stoiker die Voraussetzungen von Selbsterhaltungstheorien aufgedeckt haben, die Implikationen der gemeinsamen Basis, auf der sie mit anderen sensualistisch-materialistischen Ansätzen stehen, besonders prägnant zum Vorschein gebracht haben. Grundformen solcher Ansätze haben, wie wir gesehen haben, auch die Epikureer und Skeptiker der Antike erprobt, ihre bis in die Gegenwart reichende Wirkungsgeschichte zeugt dafür hinreichend, nicht zuletzt dadurch, dass beide bis heute mit Selbsterhaltungskonzepten verbunden werden. Aus der epikureischen Lehre, die alle Erfahrung beim Erkennen wie beim Fühlen auf die direkte Wahrnehmung zurückführt, könnte man eine Wirtschaftsanalyse entwickeln, die große Ähnlichkeiten mit den heutigen Verhaltensökonomen aufweist. Denn der epikureische Lustkalkül zielt nicht darauf ab, an die Stelle einer rational konsequenten Gewinnmaximierung eine ebenso konsequent irrationale Lustmaximierung zu setzen. Es geht eher um einen ‚libertären Paternalismus‘, durch den das Streben nach Lust auf ein solches Maß hingeführt wird, dass aus ihm keine zu großen, schmerzhaften Unlüste entstehen, wohl aber ein insgesamt – durch das Maß dauerhaft mögliches – lustvolles Leben entsteht.49 Wenn Richard Thaler etwa den Vorschlag macht, jungen Menschen die Lust am Sparen für ein Alter ohne Not dadurch näher zu bringen, dass man ihnen die Mitteilung einer Beitragserhöhung (sc. für eine Rentenversicherung) zeitgleich mit der Mitteilung einer Gehaltserhöhung schicken sollte, dann ist das ein Lust-Unlustkalkül mit dem Ziel, am Ende für eine ausgeglichene, auf Dauer mögliche Lusterfahrung (z. B. ohne Not im Alter) zu sorgen.50 9 Die frühneuzeitliche Wende zu ‚den Dingen selbst‘ – oder: der gesunde Menschenverstand gegen Aristoteles Die knappe Skizze im letzten Abschnitt sollte wenigstens auf einige der Wirkungen aufmerksam machen, die der neuzeitliche Anschluss an die hellenistischen Philosophenschulen und besonders an die Stoa für die ethischen, aber auch für einen guten Teil der ökonomischen Konzepte der Neuzeit mit sich brachte. Sie zeugen von der Macht der Wirkungsgeschichte auch dort, wo sie gar nicht mehr gekannt wird. Sie ist, wie Gadamer formuliert hat, immer mehr Sein als Bewusstsein. Wirklich klar umgrenzbar und in ihrem Gewicht erfassbar werden die Folgen dieser Abhängigkeiten aber erst, wenn man die Gegenposition mitbedenkt, gegen die sich diese hellenistischen Schulen um 300 v. Chr. gewendet hatten und von der – in ihrer aristotelischneuplatonischen Variante – sich die Frühe Neuzeit in einer erneuten Wende noch einmal 49 S. Erler 1994. 50 S. Gregory Karp in der Chicago Tribune vom 30.4.2012.

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absetzte.51 Den Grundtenor dieser ‚Wende‘ hat Schelling in einem Epikureische[n] Glaubensbekenntnis pointiert modelliert. Einige zentrale Aussagen können gut als Zusammenfassung des bisher Besprochenen dienen: Will … mir nicht von den hohen Geistern Lassen Verstand und Sinn verkleistern, Sondern behaupte zu dieser Frist, Dass nur das wirklich und wahrhaft ist, Was man kann mit den Händen betasten, ... Sprach so in meinen innern Gedanken: Tu nicht von deinem Glauben wanken, Der dir geholfen durch die Welt Und Leib und Seel zusammenhält; Können dirs doch nicht demonstrieren Und auf Begriffe reduzieren. Wie sie sprechen vom innern Licht, Reden viel und beweisen nicht, ... Seit ich gekommen bin ins klare, Die Materie sei das einzig Wahre, Unser aller Schutz und Rater, Aller Dinge rechter Vater, Alles Denkens Element, Alles Wissens Anfang und End. Halte nichts vom Unsichtbaren, Halt mich allein am Offenbaren, Was ich kann riechen, schmecken und fühlen, Mit allen Sinnen drinnen wühlen52 ... Erkennen kann man, wie Schelling gut epikureisch feststellt, nur „[w]as man […] mit den Händen betasten“, was man „riechen“, „schmecken“, „fühlen“ usw. kann. Das, was man auf diese Weise erkennen können soll, ist allumfassend: Es ist die „Materie“, die „das einzig Wahre“, „[a]lles Denkens Element, [a]lles Wissens Anfang und End“ ist. Der Gegensatz dazu ist der (mittelalterliche) Anspruch, auf Grund eines „innern Licht[s]“ der Vernunft Wahrheit „demonstrieren/ [u]nd auf Begriffe reduzieren“ und Wissen statt mit (empirisch evidenten) Beweisen mit Worten generieren zu können. Selbst für Schelling spielt also (sc. um 1800) immer noch die aristotelisierende christliche Scholastik den Gegenpart, gegen den er sich abheben möchte. Die lange Lebensdauer (und die offenbare Wiederholbarkeit) dieser Wende zeugt allerdings davon, dass es in ihr nicht nur um eine Aristoteles-Kritik geht, ihr zugrunde liegen vielmehr Vorstellungen des Common Sense und der Alltagssprache. Es ist die Sprache, die wiedergibt, was dem üblichen Denken der meisten entspricht. Und in der üblichen Sprechweise gibt man der Wahrnehmung die Kompetenz, zu erfassen, welche Dinge man vor sich 51 S. Schmitt und Radke 2009. 52 S. Schelling 1975.

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hat. Wir sagen: Ich sehe einen Quarzgranit, eine Tanne, einen Leoparden, einen Menschen; oder: Ich sehe, dass du traurig, zornig, ängstlich bist, ich höre ein Cello, eine Symphonie, rieche einen Käse, usw. In Aufnahme dieses Vorurteils spricht man in manchen Wissenschaften von erfahrungs- oder kultur-vorgeprägten Wahrnehmungen, etwa wenn man in der Psychologie die ‚Gestaltwahrnehmungen‘ untersucht, bei denen man z. B. einen Pokal auch als Gegenüber von zwei Gesichtern sehen können soll; oder wenn man als Gläubiger mit der Farbe Violett Buße, mit Rot den Kardinal verbindet, während für andere ‚Rot‘ die Wahrnehmung von Verboten oder von Erotik ist. 53 10 Zur Anwendung des Widerspruchsaxioms auf Einzeldinge in der Sophistik und bei Platon54 Platon hatte einen besonderen, ‚logischen‘ Anlass, sich mit der Tendenz des alltäglichen Denkens und Sprechens, den der Wahrnehmung vorliegenden Gegenstand für den einheitlichen Träger aller seiner Eigenschaften (Substanz) und Prädikate (Subjekt) zu halten, auseinanderzusetzen. Die Sophisten, mit deren Argumentationsmethoden er immer wieder konfrontiert war, hatten die Lehre des Parmenides, nur das Sein sei erkennbar, als eine Aussage über die wahrnehmbaren Einzeldinge ausgelegt: „Hältst Du es für möglich, dass ein bestimmtes Seiendes (ti tṓn óntōn) das, was es gerade ist, als eben dieses Selbe nicht ist?“ (Euthydemos 293b–c), fragt ein Sophist Sokrates und zieht aus dessen Zustimmung den Schluss, dass dann ein Vater nicht zugleich Vater und nicht Vater, dass ein Wissender nicht zugleich ein Unwissender sein kann, so wie Gold Gold und Eisen Eisen sei. Von mehreren Aspekten und in unterschiedlichen Argumentationszusammenhängen deckt Platon den Grundfehler dieser Pseudologik auf: Die Forderung, dass etwas das, was es ist, nicht zugleich nicht sein kann, ist zuerst eine Forderung des Denkens, keine Aussage über die Dinge, die es irgendwie irgendwo vorfindet. Nicht jedes Wort bezeichnet genau ein bestimmtes Ding und nicht jedes Ding ist (und bleibt) genau ein bestimmtes Ding, es ist vielmehr Aufgabe des Erkennens, an den Dingen, mit denen es konfrontiert ist, zu prüfen, ob und in welchen Hinsichten es genau ein bestimmtes Etwas ist. Nur für das Denken gilt: Man kann nicht zugleich meinen, dass etwas ein und dasselbe Etwas ist und nicht ist. Denn wenn man das tut, hat man gar keine Meinung über dieses Etwas. Die Folgerung ist vielmehr, dass man dann, wenn man meint, etwas sei dasselbe und sei eben dieses Selbe nicht, weiß55, dass man es an einer Differenzierung hat mangeln lassen.

53 In allen diesen Fällen bleibt der Unterschied zwischen dem, was man wirklich wahrnimmt, und was ein Begreifen des Wahrgenommenen leistet, unberücksichtigt. Das, was man bei dem bekannten Rubin-Pokal sieht, ist immer dasselbe: zwei gebogene, unten zusammenstoßende Linien. Ob das ein Pokal oder ein Gesicht ist, muss man begreifen, und wenn man es nicht begreift, sieht man es auch nicht. Deshalb kippen die Bilder nicht für alle Betrachter, obwohl alle dasselbe wahrnehmen. 54 S. zu diesem Komplex Schmitt 1974, 44–72. 55 S. Platon, Politeia IV 436a: „Sobald wir das feststellen, wissen wir, dass das nicht eines, sondern mehreres war“, formuliert Platon; s. auch X 602e: „Wir haben doch gesagt, dass es unmöglich sei, dass ein und derselbe über ein und dasselbe Gegensätzliches meine.“ S. auch Theaitetos 165b; 196b–c; Sophistes 230b; 259c–d; s. dazu Schmitt 2016, 137–178.

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11 Die Anwendung des Widerspruchsaxioms auf psychische Phänomene Dass die Forderung zu differenzieren auch für die verschiedenen seelischen ‚Gegenstände‘ gilt, demonstriert Platon dadurch, dass er das Widerspruchsaxiom ausdrücklich als Grundlage seiner Analyse der Seele einführt. Wie die Feststellung des Widerspruchs, dass ein und derselbe (beobachtbare) Kreis Kreis und Nicht-Kreis (z. B. Kreide) zu sein scheint, zur Unterscheidung verschiedener Aspekte am Kreis führt, so ist es bei den (reflexiv beobachtbaren) Widersprüchen in der Seele. Auch die Seele kann kein da-seiender Widerspruch sein. Meint man Widersprüche in ihren Aktivitäten entdecken zu können, muss das auch bei der Seele zu einer Unterscheidung von Aspekten führen. Man muss aber auch beim ‚Gegenstand‘ Seele das (Nicht-)Widerspruchsprinzip korrekt anwenden, d. h., wie sich gezeigt hat, man darf (nach Platon wie Aristoteles)56 vor allem empirisch gegebene Einheiten nicht zur Grundlage des Urteils machen. Ein ‚wirklicher‘ Mensch ist eben in vieler Hinsicht auch Tier, Pflanze, Mineral oder eine Synthese aus ihnen. Was wirklich das Menschsein am Menschen ausmacht, ist Sache sorgfältiger Analysen. Auch bei der Selbst-Beobachtung seelischer Akte darf man im Sinn dieses Postulats nicht einfach die jeweils beobachtbaren Akte, z. B. des Hungers, des Durstes, des Eros, des Zorns, der Scham, der Liebe, usw. einfach für gegebene Einheiten halten, deren man sich nur bewusst werden müsse. So wie man kein Cello hört, sondern Töne, und erst in weiteren und vom bloßen Wahrnehmen verschiedenen Schritten – mit Gedächtnis, Vorstellung, Schlussfolgerung usw. – die Erkenntnis erreichen kann, die gehörten Töne gehören zu einem Cello, so ist es auch bei der Selbstbeobachtung. Eben diese Meinung, man könne Gefühle oder Willensakte einfach reflexiv in sich beobachten, ist allerdings Ursache für viele Diskrepanzen der Forschung bei der Interpretation der platonischen Seelenteilungslehre, der deshalb auch viele logische Schwächen zugeschrieben werden. Platon unterscheidet ja drei Aktivitäts-Dimensionen in der menschlichen Psyche und stimmt damit grundsätzlich mit der seit dem 18. Jahrhundert (wieder) üblichen Dreiteilung der Seele überein. Dadurch, dass er diese drei Teile wie die Vermögenspsychologie des 18. Jahrhunderts in zwei irrationale (‚Gefühl‘ und ‚Wille‘) und einen rationalen Teil zu gliedern scheint, bringt er sich im Urteil vieler Interpreten in eine ganze Reihe von Schwierigkeiten, weil er dieses Konzept nicht konsequent festhält. Besonders auffällig ist etwa, dass er v. a. den sinnlich begehrlichen Akten der Seele, die er dem epithymētikón (Begehrungsvermögen) zuweist, Verstand und Vernunft abspricht, zugleich aber von ihnen erwartet, dass sie eine Meinungsgemeinschaft mit dem rationalen Part der Seele anstreben. Diese Ungereimtheit ist deshalb besonders konsequenzenreich, weil Platon zwischen der Einzelseele und der staatlichen Gemeinschaft eine Analogie annimmt. Auch die für die materiell sinnliche Seite des Menschen zuständige Gruppe der Bauern, Handwerker, der Kaufleute und des Finanzwesens bildet diese Meinungsgemeinschaft (homodoxía), das Ideal der platonischen

56 Platon und Aristoteles unterscheiden sich in ihren Lehrinhalten in vielen Punkten. Es gibt aber nicht den grundlegenden Gegensatz zwischen einem metaphysischen Platon und einem empirischen Aristoteles, wie ihn die Forschung immer noch behauptet. In diesem Aufsatz kommt es mir vor allem auf die Gemeinsamkeiten an, die beide Philosophen von den hellenistischen Schulen trennen. Die antiken Platoniker und Aristoteliker kennen den in der Neuzeit oft vertretenen Gegensatz zwischen Platon und Aristoteles nicht, sondern gehen von einer weitgehend gemeinsamen Basis aus. S. die Nachweise Hadots 2015. Hadot konnte bei keinem Vertreter beider Schulen in der Zeit zwischen dem 1. und 6. Jahrhundert n. Chr. die Annahme eines Gegensatzes feststellen.

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Staatskonzeption. Man kann und darf sie also nicht von einer Teilhabe an der Vernunft ausschließen. Erst in der neueren Forschung hat man beachtet, dass Platon allen drei Seelen-Arten (eídē) oder Seelen-Teilen die Fähigkeit, zu erkennen, Lust und Unlust zu fühlen und etwas zu wollen, zuspricht.57 Soweit man diese Aspekte auch in früherer Forschung schon beachtet hatte, nahm man sie aber als Indiz für eine noch ungenügende Reflexion auf die Eigentümlichkeit der verschiedenen psychischen Aktmöglichkeiten. Dem Willen etwa kann man, so scheint es, nur ein Wollen zuschreiben, er denkt nicht. Diese Art der Kritik ist deutlich von der Tendenz geprägt, unmittelbar beobachtbare Einheiten nicht weiter kritisch zu analysieren, sondern sie als etwas einheitlich Gegebenes aufzufassen. So wie man unmittelbar einen Menschen zu sehen meint, meint man, unmittelbar ein Gefühl des Zorns, der Scham, der Eifersucht, des Neids, der Trauer, usw., zu empfinden. Dieser Gefühle sollen wir uns nur nachträglich bewusst werden können. Die Erhebung ins Bewusstsein scheint aber nie ohne Verluste der unmittelbaren Ganzheit und Fülle der Empfindung und ohne Einbußen an Inhalt möglich zu sein. Das Verhältnis des Verstandes zu den Gefühlen, deren es sich bewusst wird, ist daher eine Art Stellungnahme: Wir akzeptieren sie oder versuchen sie zu unterdrücken, wir stehen zu ihnen, arbeiten mit ihnen, usw. In allen diesen Fällen scheint ein Gefühl oder ein Wille einfach in uns da zu sein, die Aufgabe des Verstandes setzt danach ein im Umgang mit dem Gefühl, in der Akzeptanz oder Abwehr eines Wollens, usw.58 Denken gilt grundsätzlich als ein Nach-Denken, die Inhalte bekommt das Denken aus Formen unmittelbarer Erfahrungen, aus Empfindung, Anschauung, Intuition, Erlebnis ... . Im Unterschied zu dieser Art der Unterscheidung von Verstand, Gefühl und Wille sagt Platon über die drei von ihm unterschiedenen Arten seelischer Aktivität, jede von ihnen habe eine eigene, besondere Form des Erkennens, ebenso des Fühlens und des Wollens. Er trennt nicht den Verstand vom Gefühl und vom Willen, sondern sieht Denken, Fühlen und Wollen als notwendige, aber je verschieden agierende Komponenten sowohl des epithymētikón wie des thymoeidés und des logistikón.59

57 S. v. a. Büttner 2000, 18–130; Moline 1978. 58 Dass auch dies eine grundsätzlich stoische Gefühlsauslegung ist, s. Schmitt 1994; und s. v. a. Krewet 2013, 141–151. 59 V. a. Politeia IX 580c–588a; s. auch IV 441c. Diese drei Begriffe sind nicht leicht in eine moderne Sprache übersetzbar. Sie bezeichnen alle zuerst ein Streben oder Wollen. Das epithymētikón bezeichnet eine die Wahrnehmung begleitende Lust oder Unlust und das Streben, sie zu erreichen oder zu vermeiden, also etwa ein Begehrungsvermögen. Das thymoeidés bezeichnet eine Meinung über etwas, was einem im Augenblick gut oder schlecht für sich zu sein scheint, und die mit ihr verbundene Lust oder Unlust, die auch zu einem Streben führt, diese Lust- bzw. Unlust-Erfahrungen zu erstreben oder zu meiden. Das logistikón bezeichnet keineswegs einfach den Verstand, sondern die mit dem Verstand erfahrbaren Lüste und Unlüste und das Streben nach Erreichung oder Vermeidung dieser Lust-bzw. Unlust-Erfahrungen. In der Tradition nach Platon, schon bei Aristoteles und dann bis ins Mittelalter, wird diese letzte Form des Strebens mit dem Begriff des Willens (boúlēsis, voluntas) im Unterschied zu den Strebeformen der Sinnlichkeit und des bloßen Meinens belegt. Die übliche Gleichsetzung des epithymētikón mit dem Gefühl, des thymoeidés mit dem Willen (Mut, spirit etc.) und des logistikón mit dem Verstand oder der Vernunft ist mit dem Textbefund nicht vereinbar. Es handelt sich um drei Willensformen, die aber auf je unterschiedlichen Erkenntnisformen, Wahrnehmung, Meinung, Verstand, beruhen.

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Für diese Analyse seelischer Aktivität kann er eine hohe Plausibilität beanspruchen. Nimmt man zum Exempel den Zorn, der für ihn das markanteste Gefühl des thymoeidés ist, kann eine reflektierende Nachprüfung, was man in sich vorzufinden meint, wenn man sich im Zorn fühlt, leicht aufdecken, dass es eine Selbstbeobachtung, in der man eine ‚unmittelbare Bekanntschaft‘ mit dem Gefühl des Zorns machen könnte, gar nicht geben kann. Was man in sich vorfindet, wenn man zornig ist, ist sehr gut in klassischer griechischer Literatur dargestellt, etwa wenn Homer Achill davon sprechen lässt, wie er einer Vogelmutter gleich für seine Kameraden gesorgt, aber statt Dank Entehrung von Agamemnon bekommen hat,60 oder wenn Euripides Medea aufzählen lässt, wieviel sie für ihren Mann Jason getan und geopfert hat, um mit Untreue und Verbannung belohnt zu werden.61 Dass jeder Zuhörer, ohne dass Medea das Wort ‚Zorn‘ auch nur in den Mund nimmt, weiß, dass sie heftige ZornGefühle und einen starken Willen zur Rache hat, liegt daran, dass Euripides ihr nicht einfach nur ein Bewusstsein, dass sie Zorn empfindet, zuschreibt, das, was er darstellt, ist vielmehr die von Lust und Unlust unmittelbar begleitete gedankliche Beschäftigung Medeas mit ihrer Situation und zugleich eine intensive intelligente Suche nach Mitteln, wie sie sich rächen könnte. Das sind genau diejenigen Aktivitäten, die Grund dafür sind, dass sich Medea in einem Zustand des Zorns befindet. Dass die von großem Schmerz begleiteten Gedanken Zorn sind, ist nur eine zusammenfassende, abstrakte und inhaltsarme Interpretation ihrer inneren Aktivitäten. Dass Platon dieser Art von Gefühl eine erkennende, eine fühlende und eine wollende Aktivität zuschreibt, ist im Sinn dieser Darstellung bei Homer und Euripides plausibel. Achills und Medeas Gedanken kreisen um ein ihnen widerfahrenes Unrecht, das ihnen übergroß zu sein scheint. Diese Gedanken sind unmittelbar begleitet von negativen Gefühlen, die besonderen Inhalte dieser Gedanken sind die Quelle, die Ursache für die Art und die Intensität dieser Gefühle. Die Unerträglichkeit dieser Unlust führt beide zu dem Wunsch nach Vergeltung und Rache, d. h. sie erzeugt einen Willen dazu. Das Bewusstsein, ‚ich habe ein heftiges Gefühl des Zorns‘, ist offenbar gar nicht ein Bewusstsein der konkreten inneren Akte, die man in sich bemerken könnte, sondern eine quasi begriffliche Zusammenfassung, die das, was man gerade tut, als Zorn auslegt. Aristoteles hat gezeigt, dass man bei einem (bloßen) Meinen (im Unterschied zu streng rationalem Urteilen) meistens auf die Prämissen nicht achtet, aus denen man seine Meinung gebildet hat. Meinen ist immer eine Art Schlusssatz. Wer zum Fenster hinausblickt und sagt ‚es ist noch Tag‘, hat keinen Tag gesehen, sondern Helligkeit und hat aus dem gewohnten Wissen, dass es Tag ist, wenn es hell ist, den Schluss gezogen, dass es noch Tag ist. So meint man auch ein Gefühl des Zorns zu empfinden, obwohl das Bewusstsein, dieses Gefühl zu haben, auf einem Schluss beruht. Wenn Senecas Medea aus einem ‚Gefühl‘ vom Zorn getrieben zu sein, schließlich sagt: ira qua ducis, sequor, „Zorn wohin du mich führst, ich folge dir“,62 zeugt das nicht von einem genauen, sondern von einem eher abstrakten Bewusstsein Medeas von sich selbst. Bei der 60 S. Homer, Ilias 9, 315–345; s. Schmitt 2009. 61 S. Schmitt 1994. 62 S. Seneca, Medea v. 993; zur aristotelischen Lehre, dass das Meinen sich meistens mit bloßen Schlüssen begnügt, ohne die Prämissen zu prüfen, d. h. ohne die eigene Suche nach Erkenntnis, s. z. B. Nikomachische Ethik VI 10. 1142b14f.; zur ähnlichen Position bei Platon, s. Schmitt 2015b.

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Medea des Euripides dagegen erfährt man, was der konkrete Inhalt ihrer inneren Akte ist, die jeder leicht dem, was man allgemein unter Zorn versteht, zuordnen kann. Dadurch dass Medea aber nicht einfach von ihrem Zorn spricht, sondern genau das wiedergibt, was sie im Zustand des Zorns in intensiver Aktivität gedanklich durchgeht, erfährt man konkret, was sie mit Unlust empört und mit Lust auf Rache erfüllt, und weiß dadurch, was genau ihren individuellen Zorn ausmacht, d. h. den Zorn, der eine so außergewöhnlich Liebende wie Medea bewegt, die in schlimmster Weise um alles Gute, das sie für einen Menschen getan hat, betrogen wurde (und zwar tatsächlich, nicht nur in einer falschen Einbildung wie Senecas Medea), usw. Auch in heutiger Psychologie beachtet man, dass Menschen im Zustand von Gefühlen mit etwas, was sie bewegt, gedanklich beschäftigt sind. Dass man dennoch im Denken nicht den Ursprung von Gefühlen sucht, liegt häufig daran, dass man von Denken im prägnanten Sinn erst bei einer bewussten Reflexion spricht und deshalb auch Denken erst mit Akten der Bewertung durch die spezifischen Akte des Bewusstseins, durch Verallgemeinerung, Verbindung, Trennung usw. beginnen lässt, während die Denkakte, die das Bewusstsein vergegenwärtigt, eher als passiv, weil unbewusst (d. h. eben: unvergegenwärtigt) gelten.63 Deshalb ist es wichtig, zu klären, von welcher Art erkennender Aktivität bei Platon von den Gefühlen, die er wie den Zorn dem thymoeidés zuordnet, die Rede ist. Da er diese Gefühle deutlich von Gefühlen sinnlicher Lust und Unlust abgrenzt – ganz in Übereinstimmung mit vieler Literatur seiner Epoche, so kann man nach Homer Achills Zorn weder mit dem Angebot unendlichen Reichtums noch der schönsten und edelsten Frauen beeinflussen 64 –, muss ihnen als Ursprung auch eine andere Erkenntnisweise zugrunde liegen als sinnlich bedingten Gefühlen. 12 Der Gegenstand des Denkens (im Allgemeinen) im Unterschied zu den Gegenständen der Wahrnehmungserkenntnis bei Platon Das Denken im eigentlichen Sinn hat nach Platon einen anderen Gegenstand als dasjenige eher eingeschränkte und gebundene Denken, das er auch schon den Sinnen zugesteht. Die Wahrnehmung ist nach Platon zwar bereits ein Erkenntnisvermögen, sie erkennt aber nur, was ihren Vermögen gemäß ist: Farben, Töne, Gerüche, usw., sie erkennt auch deren Zusammensetzungen und Kombinationen bis hin zur Erfassung der Ganzheit einer Gestalt (in ihrer äußeren Form). Das, woran man etwas nicht nur in seiner äußeren Gestalt, sondern in seinem wesentlichen Sein erkennt, gilt ihm nicht mehr als eine Leistung der Wahrnehmung, sondern des Denkens im eigentlichen Sinn. Es beginnt mit einem bloßen oder auf Erfahrung gegründeten Meinen und findet seine Vollendung in der Erkenntnis des ideellen Seins einer Sache. Was er unter dieser ‚Ideenerkenntnis‘ versteht, weicht allerdings nicht unerheblich von dem Bild ab, das man sich von dem, was als ein Erkennen nach Ideen gilt, gemacht hat. Am Ende seiner Politeia sagt Sokrates: „Es gibt viele Betten und Tische, aber nur je eine Idee von ihnen, auf die hinblickend der eine Betten, der andere Tische herstellt, die wir in Gebrauch nehmen“ (596b). Diese berühmte Formulierung hat viele verleitet, Ideen für

63 S. dazu ausführlicher Schmitt 2016, 333–352. 64 S. Homer, Ilias 9, 378–387.

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idealisierte Gegenstände zu halten. Es gibt aber mehrere Stellen, an denen Platon explizieren lässt, was er unter diesem ‚Hinblicken auf die Idee‘ verstanden wissen will. Um an einem einfachen Beispiel zu illustrieren, was ein Sprachschöpfer leisten muss, fragt Sokrates seinen Gesprächspartner (Hermogenes) im Kratylos: „Worauf blickt ein Tischler hin, wenn er ein Weberschiffchen (kerkís) macht?“ und gibt selbst die Antwort: „Wohl auf etwas, das die Beschaffenheit hat, von sich her zum Gleiten durch das Webfach zwischen den Kettfäden (kerkízein) geeignet zu sein“ (Kratylos 389a). Auch wenn man eine Kerkis repariere oder eine neue entwerfe, blicke man auf eben jenes eídos, auf das auch der Hersteller geachtet hatte. Das sei also das, „das wir mit vollem Recht das, was das Sein selbst der Kerkis ist, genannt haben“ (389b). Es dürfte klar sein, dass dieser Blick auf die Idee oder das Eidos nicht den Blick auf ein ideal gebautes Weberschiffchen meint, sondern auf das, was ein Weberschiffchen können muss, damit es seine Aufgabe erfüllen kann: „Das, wofür ein Weberschiffchen die beste Eignung hat, diese ihre Natur muss man zu ihrem Werk (érgon; d. Verf.) machen“ (389b/c). Das ‚Werk‘ des Weberschiffchens ist also die korrekte Verwirklichung der Leistung, die man von einer solchen Kerkis fordern muss. Und dieses Werk ist „das Sein selbst der Kerkis“ (ebd.). In ähnlicher Weise spricht Platon am Anfang der Politeia vom Werk eines Pferdes, der Augen, der Ohren und von einem Messer, mit dem man Rebenschösslinge zurückschneiden kann. Im Zuge der Unterscheidung von Meinung und Wissen (Politeia V 477c–d) erklärt er allgemein, dass man das, was etwas kann, die Dynamis von etwas, nicht wahrnehmen kann. Man erkennt sie vielmehr, wenn man beim Wahrnehmen begreift, welches Können etwas gerade ausführt (hó apergázetai, 477d). So erkennt man, ob etwas ein Auge ist, nicht, weil es eine bestimmte Farbe oder Form (477c) hat, sondern an der Ausführung seines Könnens, d. h. wenn man bemerkt, dass etwas die Fähigkeit zu sehen, d. h. Farben zu unterscheiden, vollzieht. Und es sei die bestmögliche Ausführung dieses Könnens, an der man das Sein eines Auges, Ohrs usw. auch am besten und zuverlässigsten erkenne. Bei diesem Rebenschösslinge-Zurückschneide-Messer (drépanon, das wäre heute eine Rebschere) erkennt man das daran, dass es anders als ein Schnitzmesserchen (smílē) und anders als ein Schlachtermesser (máchaira) nicht zu wenig und nicht zu viel von den Schösslingen abschneidet, sondern genau die geforderte Leistung erbringt, damit die Vorjahrestriebe bis auf wenige Knospen zurückgeschnitten werden können (I 353a). Beispiele für diese Art forschenden Erkennens bietet auch das Verfahren heutiger Naturwissenschaftler auf vielfache Weise. Wenn z. B. geprüft werden soll, ob eine bestimmte Muschelart über ein Sehvermögen verfügt, prüft man, ob diese Muscheln hell und dunkel und/oder Farben unterscheiden können. Kann man dies feststellen, kann man im prüfenden Vorgehen weiter verfahren und zu ermitteln versuchen, auf welche Weise und auf Grund welcher Fähigkeiten sie dies können. Die bloße Beobachtung der wahrnehmbaren Eigenheiten dieser Muscheln würde ein solches Ergebnis nicht erbringen können, erst die gezielte ‚Beobachtung‘ von etwas, was man gar nicht beobachten, sondern nur beim Beobachten begreifen kann, d. h. erst durch die gezielte Fragestellung, ob diese Muscheln über die Fähigkeit, Farben zu unterscheiden, verfügen, führt auf die Erkenntnis, dass die Muscheln über ein Sehvermögen verfügen und dass sie es mit Hilfe eines Spiegels und nicht wie der Mensch mit einer Linse verwirklichen. Das, was man ermitteln muss, wenn man etwas in seinem eigenen Sein erkennen will, ist also etwas, was man nicht einfach wahrnehmen kann, sondern

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beim Wahrnehmen begreifen muss: die dýnamis und das érgon von etwas. Wenn man wissen will, was etwas ist, muss man fragen, was es kann und wie es dieses Können verwirklicht. 13 Die Erkenntnisweise des thymós (Sich-Ereifern) und der Gegenstand seines Fühlens und Wollens Dass Gefühle wie der Zorn mit dieser Art von ‚Seinserkenntnis‘ etwas zu tun haben, kann man wieder gut bei Homer ‚beobachten‘. Anders als Paris, der durch seine schöne Gestalt gefallen will und sich am Liebreiz der Schönheit Helenas erfreut, hat Achill kein Interesse an dieser Art von Lusterfahrungen, er sucht und findet seine Lust in einem Selbstwertgefühl, darin, der Verteidiger aller seiner Mitkämpfer und der Zerstörer Trojas sein zu wollen. Wenn Homer dies zum Thema seiner Ilias macht, dann stellt er dar, worin Achill seine ihm eigene Aufgabe und seine Selbstverwirklichung sucht und wie er deshalb in heftigen und anhaltenden Zorn gerät, weil ihn Agamemnon gerade daran, d. h. an seinem ‚Werk‘ (érgon), hindert und ihm auch noch die ihm deshalb zustehende Ehre und Anerkennung verweigert. Für den Unterschied, auf den man durch die Verschiedenheit von Paris und Achill aufmerksam werden kann, gibt es auch viele Beispiele in heutigen Gesellschaften. Nicht nur der Fußballspieler, der lieber in einem ärmeren Verein spielt, als in einem reichen auf der Bank zu sitzen, auch der Handwerker, dem die Qualität seiner Arbeit und die damit verbundene Anerkennung wichtiger als der Lohn ist, bietet dafür ein Beispiel. Und es gibt unendlich viele ähnliche Beispiele. Auch von Ökonomen aufgegriffen und ausgewertet wurde z. B. das Verhalten von Feuerwehrleuten, denen man das Gehalt bei häufigerem Fehlen aus Krankheitsgründen kürzen wollte. Statt auf Krankmeldungen zu verzichten, meldeten sich sehr viele krank, um zu demonstrieren, dass sie ihren Job nicht um des finanziellen Gewinns wegen ausübten. Sie waren empört über die Unterstellung, ihre Motivation sei nicht zuerst die Hilfeleistung für in Not Geratene. 14 Die politische und ökonomische Bedeutung des thymetischen Denkens nach Platon Dass Platon zwischen Gefühlen der Sinnlichkeit und dem Verstand (bei ihm auch: Gefühlen des Verstandes) noch eine dritte Dimension unterscheidet mit Gefühlen, die mit der Selbstverwirklichung – Ehre, Anerkennung usw. – verbunden sind, steht in keinem Widerspruch zu den Phänomenen, sondern wird durch sie beglaubigt. Dennoch zeigt allein die Tatsache, dass wir in modernen westlichen Sprachen nicht einmal ein Wort für diese psychologische Dimension haben (und auch kaum eine wissenschaftliche Diskussion dieser seelischen Seite in uns), sondern sie meist mit allem, was ein nicht-rationales Gefühl zu sein scheint, gleichsetzen, dass Platon etwas aufgedeckt hat, dessen Bedeutung noch genauerer Erforschung bedarf. Das bisher Besprochene sollte zeigen, dass die Gedanken, mit denen sich der thymós beschäftigt und die Gefühle, die dieses Denken begleiten, einem eigenen Gegenstandsbereich gelten. Sie richten sich nicht auf etwas, das man wahrnehmen kann, sondern gelten den Möglichkeiten, wie ein Mensch seine individuellen Fähigkeiten verwirklichen kann. Die sie begleitenden Lust- bzw. Unlustgefühle stehen nicht in einem partiellen, sondern in einem grundlegenden Gegensatz sowohl zu den Gefühlen der Sinnlichkeit wie des Verstandes. Aus platonischer Sicht dürfen diese Unterschiede nicht vermischt werden, weil man sonst zu falschen Urteilen über die tatsächlich in diesen Gefühlen verfolgten Ziele kommt. In Bezug auf die von Platon dem epithymētikón zugerechneten Strebungen haben die thymetischen

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offenbar einen lenkenden Charakter, während die epithymetischen eine subsidiäre Funktion haben. Man kann kein guter Handwerker sein, wenn man nicht auch über die nötigen materiellen und finanziellen Mittel verfügt, um diese Tätigkeit auszuüben. Wenn sich das Streben nach möglichst viel materiellem Gewinn aber verselbständigt und an die Stelle der Freude an der bestmöglichen Ausübung der eigenen Tätigkeit tritt, muss das fast notwendig auch zu einer Minderung der Qualität der Arbeit des Handwerkers (im weiten Sinn des Wortes, d. h. z. B. auch des Architekten, des Arztes, des Lehrers, auch des im Finanzbereich Tätigen) führen. Es wird daher auch etwa im Sport kein Vorteil für einen Verein entstehen, wenn die Spieler mehr auf die hohe Gage als auf die bestmögliche Verwirklichung ihres Könnens konzentriert sind. Auch für die wissenschaftliche Ausbildung macht es einen fundamentalen Unterschied, ob die Studierenden aus überzeugtem Engagement für die Gegenstände eines Faches, der Physik, Mathematik, der Medizin, der Literatur oder Philosophie, usw. ein Studium aufnehmen, oder ob sie dies tun, weil ihnen ein bestimmtes Fach als sichere JobGarantie gilt. Da nach Platon die Unterschiede im Staat aus den Unterschieden der Charaktere der einzelnen Menschen kommen65, führt die Hinwendung zu epithymetischen oder thymetischen Strebetendenzen auch zu einer Veränderung der Verfasstheit eines Staates. Wenn viele Einzel-Individuen das sinnlich-materielle Gewinnstreben zu ihrem Hauptanliegen machen, kommen sie leicht zu der Überzeugung, sie müssten dieses Streben nur rational organisieren und regeln, um auch in den Bereichen gesellschaftlicher Anerkennung und Ehre den Ton angeben zu können. Die methodisch geleitete Ökonomie ist es dann, die auch überall dort, wo es um die gut verwirklichte Lebensgestaltung der Menschen geht, die eigentlichen Ordnungsvorgaben macht. Das hat nach Platon verhängnisvolle Folgen, denn es muss dazu führen, dass z. B. das gesamte Bildungswesen auf die praktische Nützlichkeit für die Ausübung eines Berufs und nicht auf die prüfende Entwicklung und Entfaltung der unterschiedlichen Fähigkeiten der Menschen ausgerichtet wird. Auch der militärische Bereich wird dann unter ökonomischen Zielsetzungen stehen. Aristoteles betont mit Grund, dass ein Staat, je länger sich seine Mitglieder einem bestimmten ‚Bios‘– dem materiellen oder dem ‚politischen‘ – zuwenden, desto mehr werde die ganze staatliche Gemeinschaft alle ihre Bereiche den Zielsetzungen dieses Bios unterwerfen, 66 im Blick auf heutige Bereiche etwa die Krankenversorgung, die Verkehrsgestaltung, die Kommunikation (Post u. ä.), usw. Unterscheidet man die epithymetischen und die thymetischen Tendenzen nicht voneinander, sondern rechnet sie, wie es heute üblich ist, undifferenziert den nicht rationalen Akten des Menschen zu, werden die spezifischen Ziele des thymós gar nicht in ihrer Eigenheit beachtet, sie erhalten daher leicht einen subsidiären, dienenden Status für die materiellsinnlichen Lebenstendenzen. Auf diese Weise entsteht eine Konkurrenz der Ziele beider Strebe- oder Willensarten im Menschen: Der erzielbare Reichtum und das mit ihm verwirklichbare sinnliche Genussleben erwecken den Eindruck, mehr zum Glück beizutragen als der rein handwerkliche oder der sonstige beruflich-fachliche Ehrgeiz.

65 S. Politeia IV 435e; s. auch II 368c–d. 66 S. z. B. Politik V 9. 1310a13–a38.

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15 Warum bildet auch ein ‚thymetisches‘ Leben nicht das letzte Ziel für die Selbstverwirklichung des Einzelnen wie für eine gute Verfassung des Staats? Platon wie auch Aristoteles haben darauf hingewiesen, dass alles Handeln immer ein Handeln im Einzelfall ist, für dessen Erkenntnis zuerst die Wahrnehmung zuständig ist.67 Ihre unmittelbare Präsenz verleitet dazu, die mit ihr verbundene Lust oder Unlust handlungsleitend werden zu lassen. Diese Bindung an das, was der Wahrnehmung direkt gegenwärtig ist, besteht auch bei einem thymetisch motivierten Handeln. Achill empört sich nicht über die allgemeine Ungerechtigkeit der Welt, sondern empfindet ein ganz bestimmtes einzelnes Verhalten Agamemnons ihm gegenüber als ungerecht.68 Odysseus, der als Bettler verkleidet in seinem Palast sitzt und seine Dienerinnen zum Rendezvous mit den Freiern seiner Frau schleichen sieht, ist nicht über ein Fehlverhalten von Dienerinnen im allgemeinen ungehalten, sondern empört sich über diejenigen, die er gerade im Haus vor sich sieht, 69 usw. Diese Bindung an das Einzelne bringt auch im psychischen Verhalten die spezifischen Erkenntnisprobleme mit sich, die Platon und Aristoteles sorgfältig im Allgemeinen untersucht haben. Man kann einen Menschen nicht einfach an seinen an ihm beobachtbaren Eigenschaften, z. B. an seiner weißen Haut, identifizieren, das Haus nicht an Backsteinen und Ziegeln oder am Spitzgiebel, den Kreis nicht an den Sandkörnen, usw. Ebenso ist aber auch nicht alles, was schön aussieht, liebenswert, nicht jeder, der laut ist, ist zornig, nicht jeder, der einem etwas abschlägt, ist ungerecht, nicht jede sanfte Stimme ist Zeichen von Wohlwollen, usw. Die ganze Bedeutung, die diese Konfusion mit sich bringt – mit der Meinung, man nehme am sinnlich präsenten Einzelnen auch ‚wahr‘, welche Vermögen und welches ‚Werk‘ dieses Einzelne vollzieht –, kann man gerade in der heutigen Gegenwart an vielen Beispielen von ihrer verheerenden Seite her studieren. Es genügt vielen eine braune Hautfarbe, um sich zu einem erniedrigenden und sogar ausbeuterischen Umgang mit Menschen dieser Art berechtigt zu fühlen. Anderen genügen dunkles Haar, dunkle Augen und eine dunkle Hautfarbe, um eine ganze Kultur abzulehnen, während umgekehrt anderen wenige äußere Zeichen einer westlichen Lebensart als Grund für eine oft sogar tödliche Bestrafung oder Rache ausreichen, usw. Trotz der ihm wichtigen Unterscheidung einer sinnlich-materiellen und einer thymetischen Lebensweise reicht sie nach Platon noch nicht dazu hin, den Menschen zu einem ihn wirklich mit dauerhaftem Glück erfüllenden Leben hinzuführen. Der Schritt von einer bloßen Orientierung am phänomenalen Äußeren zum Versuch, an diesem Äußeren zu begreifen, was es kann und wie es dieses Können vollzieht, d. h. im psychischen Bereich, der Schritt von einem epithymetischen zu einem thymetischen Lebenskonzept, ist ein wichtiger, aber kein hinreichender Schritt.

67 S. z. B. Aristoteles, Nikomachische Ethik VII 5. 1147a3f.; 1147a24–b14. 68 S. Homer, Ilias 1, 188–205; 365–412. 69 Homer, Odyssee 20, 6–14.

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16 Die Vernunft als Quelle von Selbstbestimmung, Freiheit und optimaler Selbstverwirklichung Obwohl sich der thymós nicht an sinnlich-materiellen Zielen orientiert, sondern im Wunsch nach Selbstverwirklichung nach Anerkennung und Macht strebt und deshalb bereits ein Stadium der Freiheit darstellt – der Freiheit von der unmittelbar präsentischen Macht des Sinnlichen –, ist seine Bindung an das jeweils Einzelne eine Behinderung für einen wirklich freien Blick auf sich selbst und auf die äußeren Dinge. Da der Wunsch, sich durchzusetzen, zuletzt auf das Streben nach Selbstverwirklichung zurückgeht, muss die Freiheit auch gegenüber den jeweils einzelnen Zielen des thymós in den Bedingungen gesucht werden, durch die ein Mensch im allgemeinen seine Fähigkeiten entfalten und ausüben kann. Wenn man ein richtiges Urteil sucht, stützt man sich, wie Platon betont, am besten auf Erfahrung (empeiría), praktische Vernunft (phrónēsis) und logische Argumentation (lógos) (Politeia IX 582a). Davon macht offenbar jede Art menschlichen Strebens und Handelns Gebrauch, wer auf materiellen Gewinn aus ist ebenso wie der, der nach Ehre und Macht strebt, aber natürlich auch der, der die Erkenntnis um ihrer selbst willen sucht (ebd. 582a–583a). Die Art des Gebrauchs der Vernunft ist aber offenbar nicht in allen drei Fällen dieselbe, sondern, wie Platon dies in einem deutlichen Bild ausdrückt, bei dem, der auf den materiellen Gewinn aus ist, sitzt die Besitzgier auf dem Thron und der Eifer und der Verstand sitzen am Boden darunter und haben nur die eine Aufgabe, zu sehen, wie aus wenig Geld mehr wird (ebd. VIII 553d). Diese dienende Tätigkeit der Vernunft wird oft als ein Argument gegen die Rationalität im Allgemeinen benutzt. Es gibt, so lautet die Kritik, auch eine Rationalität, ja eine perfekte Rationalität im Bösen, es gibt den durch-kalkulierten Steuerbetrug, das kalt berechnende Machtstreben, es gibt selbst eine rational perfektionierte Organisation eines Vernichtungslagers, usw. Von Platon kann man lernen, dass in solchen Fällen der Verstand und die Vernunft nicht frei aus sich tätig sind, sondern ihre Kompetenzen nur in (oft sehr) begrenzter Weise betätigen – mit Grenzen, die nicht der Verstand sich selbst setzt, sondern die er sich durch die Konzentration seiner Aufmerksamkeit auf das jeweils Präsente auferlegt hat. Die eigentliche Aufgabe, die dem einzelnen Menschen und mehr noch der staatlichen Gemeinschaft als ganzer gestellt ist, ist daher, in einer Reflexion auf das, was die Vernunft als Vernunft von sich aus leisten kann, die rationalen Fähigkeiten des Menschen zu ermitteln und möglichst breit auszubilden. Platon hat diese Aufgabe vor allem in den Büchern 6 und 7 der Politeia expliziert. Die zur Bewältigung dieser Aufgabe nötige Vor-Erziehung im ‚musischen‘, d. h. dem ‚Gefühls‘-Bereich des Menschen sind die Bücher 2–4 gewidmet.70 Aristoteles hat am Ende seiner Politik damit begonnen, ein Erziehungsprogramm zu entwerfen, das leider schon mit der musischen Erziehung endet, weil es unvollendet geblieben ist. 71 Über die konkrete Durchführung eines Erziehungsprogramms, das die Einzelnen und die Gemeinschaft als ganze auf das Ziel, ein Optimum an Eudaimonie zu erreichen, hinführt, kann man viel in den Nomoi Platons lesen.72 70 S. Schmitt 2011, 116–131. 71 S. Politik VII 14 –VIII 7 (1332b12–1342b34). 72 S. Föllinger 2016, 89–126.

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Die Unterscheidung zwischen einer literarisch-musischen und einer Ausbildung von Verstand (diánoia) und Vernunft (noús) selbst wurde von den späteren Platonikern aufgegriffen und wurde zur Grundlage des Bildungsprogramms der sieben freien Künste, der artes liberales.73 Ziel war immer, durch eine möglichst breite Erprobung aller spezifisch menschlichen Fähigkeiten diejenigen zu ermitteln, für die ein einzelner Mensch in besonderer Weise geeignet ist und in deren Betätigung er seine eigentliche Lebensaufgabe finden kann. Die Erforschung dieses Bildungsprogramms weist immer noch viele Desiderate auf. Auf einen wenig beachteten, aber für die Praxis relevanten Aspekt gerade der rationalen Dimension der Seele soll abschließend noch eingegangen werden. Neben dem rein auf den Logos als Erkenntnisvermögen bezogenen Aspekt ist das logistikón auch durch eine bestimmte, ihm eigene Art der Lustempfindung und ein zu ihm gehörendes Streben geprägt.74 Es sind diese beiden Seiten, die die praktische Relevanz dieses Seelen-‚Teils‘ ausmachen. Zwei Beispiele aus Homer sollen dies – der Kürze wegen – knapp veranschaulichen. Die Situation, in der Odysseus in seinem eigenen Palast als Bettler sitzt und zusehen muss, wie seine Dienerinnen zum Rendezvous mit den Freiern seiner Frau schleichen, endet nicht mit dem empörten Willen, sie zu strafen. Odysseus beherrscht sich nämlich, weil er daran denkt, dass er sich nicht zu früh verraten darf, wenn er den Sieg über die Freier nicht aufs Spiel setzen will. Homer schildert diesen Akt der Selbstbeherrschung aber nicht einfach als einen Sieg des Verstandes über den Affekt, sondern als den Sieg einer weit größeren Lust über eine viel kleinere. Wie nämlich ein Mann, der vor einem lodernden Feuer sitzt, auf dem ein Ziegenmagen gebraten wird, gar nicht abwarten kann, bis er endlich durchgebraten ist, weil er schon vor Fett trieft und verführerisch duftet, so habe Odysseus überlegt, wie er als Einzelner über die Vielen den Sieg erlangen könne. Die mit der Hoffnung auf diesen Sieg verbundene Lust steht ihm so präsent vor Augen, dass er die Anwandlung des Augenblicks leicht überwindet.75 Dass ein solcher Sieg des ‚Verstandes‘ über das ‚Gefühl‘, weil er mit der größeren Lust verbunden ist, zugleich ein weiterer und entscheidender Schritt zu einer freien Selbstbestimmung des Menschen ist – auch für diese platonische Lehre bietet Homer reiches Anschauungsmaterial. Besonders aussagekräftig ist eine Szene aus den ersten (vor-)olympischen Spielen im 23. Buch der Ilias. Der junge Antilochos, ein Sohn des klugen Nestor, meinte, mit ‚Klugheit‘ den weit erfahreneren Menelaos im Wagenrennen überlisten zu können. Er nutzt eine Engstelle aus, an der der besonnene Menelaos ihm Vorfahrt gewährt, um einen Unfall zu vermeiden, und gewinnt das Rennen. Der über diese Niedertracht heftig empörte Menelaos versöhnt sich aber mit Antilochos, als dieser seinen Fehler mit einem Hinweis auf sein jugendlich überhitztes Denken eingesteht. Diesen Vorgang stellt Homer mit einem Bild und einer Erklärung dar. Wie nämlich in der Nachtkälte erstarrte Gräser im Morgentau weich und beweglich werden, so habe sich der thymós des Menelaos erwärmt, weil Menelaos den Blick nicht nur auf das empörende Unrecht, das ihm dieser Antilochos angetan hatte, gerichtet ließ, sondern seinen 73 S. Schmitt 2015a. 74 Politeia IX 580d–581e. 75 Homer, Odyssee 20, 1–30.

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Kopf gleichsam gedreht und mitbedacht habe, dass er im Lauf der Jahre viel Gutes für ihn getan habe, ebenso auch seine Brüder und besonders auch sein Vater. 76 Der Verstand, so sieht man auch an diesem Beispiel, denkt, wenn er wirklich von sich aus aktiv wird, über den Augenblick hinaus und berücksichtigt nicht nur das momentan Präsente, sondern relativiert es im Blick auf das Ganze eines Handelns oder einer Situation. Dadurch wird ein Handeln grundsätzlich „milder“ (práos) und freier, unabhängiger vom jeweiligen Einzelfall. 17 Kurze Zusammenfassung Für die Neuzeit spielt das Konzept der Selbsterhaltung in der Philosophie, in den Naturwissenschaften, v. a. der Evolutionstheorie, und auch in der Ökonomie eine zentrale Rolle. Es bietet vielfach die Grundlage für ein umfassendes Erklärungsmodell. Bei Platon findet man viele Aussagen, die die Bedeutung der (natürlichen) Selbsterhaltung anerkennen, ja betonen, er schränkt diese Bedeutung aber an vielen anderen Stellen auch ein und findet sogar grundsätzliche Vorbehalte gegen eine zu weitgehende Verfolgung dieses Prinzips. Grund dafür ist seine Analyse unterschiedlicher psychischer Strebe- oder Willensformen. Anders als in der im 18. Jahrhundert (neu) begründeten Unterscheidung von Verstand, Gefühl und Wille als den je selbständigen, wenn auch interagierenden Grundvermögen der Seele, teilt Platon die Seele in drei Bereiche, die er alle mit der Kompetenz zu erkennen, zu fühlen und zu wollen, ausgestattet sieht. Der Unterschied dieser Bereiche liegt also nicht darin, dass der eine der Bereich des Verstandes, der andere der des Gefühls, der dritte der des Willens ist, sondern in einer je verschiedenen Art zu erkennen, zu fühlen und zu wollen. Das elementarste Vermögen ist für ihn das aus einem sinnlichen Erkennen und Fühlen entstehende Streben, dem er in einer engeren Umgrenzung, als dies in der Neuzeit üblich ist, das Streben nach Selbsterhaltung zuordnet. Alles, was zur Erkenntnis und Erfüllung natürlicher Bedürfnisse eines Organismus nötig ist, im Bereich der Einzelseele wie in der gemeinsamen, politischen und ökonomischen Organisation der Befriedigung dieser Bedürfnisse, gehört für ihn zu diesem epithymētikón, aber auch nur das. Vieles, was aus der Sicht der Entgegensetzung des Verstandes gegen Gefühl und Wille bereits als rational gilt, kann nach Platon keineswegs bereits dem Verstand selbst zugewiesen werden. Die Sinnlichkeit hat für ihn vielmehr eine ihr eigene Rationalität. Sie unterscheidet das Wahrnehmbare und Beobachtbare und verarbeitet das so Erkannte, um es durch die Lustund Unlust-Erfahrungen, die diese Art sinnlichen Erkennens begleiten, und durch den aus diesen sich ergebenden Willen in die Tat umzusetzen. Dieser sinnlich-materiellen Lebensform sprechen Platon wie Aristoteles daher auch eine eigene Vollkommenheit zu. 77 Sie wird erreicht, wenn die bereits mit den Sinnen erkennbaren Unterschiede möglichst optimal erfasst und in ihrem besten Zustand erfahren werden. Dieses Stadium hat daher eine eigene Form des Glücks, die keineswegs abgelehnt wird. Zum Problem wird die Suche nach diesen Glückserfahrungen aber, wenn sie eindimensional ist, d. h. wenn sie zum alleinigen Gut wird, das ein Mensch oder eine Gemeinschaft erstrebt. Denn ihre Bindung an das jeweils sinnlich 76 S. Homer, Ilias 23, 566–611. 77 S. Platon, Politeia IX 580d–587a; Aristoteles, Nikomachische Ethik X 4–7, v. a. 1174b14–33; 1176a3– 29; 1177a13–25.

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präsente Einzelne bringt es mit sich, dass in dieser Lebensform gewissermaßen kein Auge für das Ganze des für die menschliche Selbstverwirklichung Wichtigen vorhanden ist. Die Zunge und die Nase sind kompetent und erwünscht zur Beurteilung und zum Genuss eines guten Weins, ob und in welchem Maß dieser Genuss für den ganzen Menschen (medizinisch wie psychisch) gut ist, weiß die Zunge nicht. Eine mögliche Regelung des sinnlich-materiellen Lebensbereichs kann daher nicht in der eigenen Dimension gesucht werden. Nötig ist vielmehr ein Dimensionswechsel, der nach Platons Überzeugung mit dem beginnt, was er das „Sich-Ereifernde“ (thymoeidés) nennt. Für das Erkennen, Fühlen und Wollen dieses Bereichs gelten nicht mehr die Rationalität und die Methoden, die für das „Begehrende“ geeignet waren. Platon – und Aristoteles – weisen ihm eigene Gegenstände, Methoden und Ziele zu. Da Platon zeigen kann, dass es dem thymós um die Verwirklichung, Durchsetzung und Anerkennung der eigenen Fähigkeiten geht, ist das Rationale in dieser Dimension von der Erkenntnis des Könnens, der dynámeis, über die die Menschen verfügen, abhängig. Für die Verwirklichung dieser Fähigkeiten hat das materiell Sinnliche eine notwendige, aber dienende Funktion. Für den, der sich gegen ein großes Unrecht ereifert, hat das Angebot einer materiellen Wiedergutmachung bestenfalls eine akzidentelle, hinzukommende Bedeutung, genauso wie etwa die Frage, ob man von einem schönen oder häßlichen Menschen beschämt wird, für einen beschämten Menschen ziemlich zweitrangig ist. Die Freiheit, die durch die Konzentration auf diese Lebensform entsteht, wird allerdings noch dadurch eingeschränkt, dass sie sich meistens auf einen oder mehrere Einzelfälle ausrichtet. Das ist beim Einzelmenschen so, aber auch in der politischen Gemeinschaft, dort, wo es um den Kampf um Macht und Einfluss oder auch um die Organisation einer militärischen Strategie geht, usw. Die Frage, die den Strategen als Strategen oder den Betriebswirt als Betriebswirt nicht beschäftigt, ist die Frage, ob das von ihm Geplante gut für die ganze Gemeinschaft ist. Diese Fragestellung ist erst einer Form der Rationalität möglich, der es nicht nur um einzelne Verwirklichungen einzelner Fähigkeiten geht, sondern um die Erkenntnis der menschlichen Fähigkeiten im allgemeinen und um die Wege und Methoden, sie auszubilden und auszuüben.78 Das, was dafür gut ist – für den Einzelnen im Blick auf seine Fähigkeiten, und für die Gemeinschaft im Blick auf die Bereitstellung aller Bedingungen, die allen ihren Mitgliedern eine optimale Entfaltung möglich machen –, ist Gegenstand der Vernunft von ihr selbst her. Die Lust, die mit dieser Erkenntnis verbunden ist, gilt Platon wie Aristoteles als die größte und zugleich als die, die in allen Seelenbereichen für die Optimierung ihrer jeweiligen Lüste sorgt: Wenn die ganze Seele der Liebe zur Vernunft folgt und nicht einzelne Teile sich gegen sie verselbständigen, dann gelingt es jedem Teil, das Seine zu tun und (dadurch) gerecht zu sein, und ganz offenbar erntet so auch ein jeder (Teil) die ihm eigentümlichen Lüste in ihrer vollendeten Form, die, soweit dies möglich ist, auch die wahrhaftesten sind.79

78 Dieser Bildung ist bei Platon v. a. das 7. Buch der Politeia gewidmet mit der Entwicklung des Grundkonzepts einer „communis mathematica scientia“ (koinḗ mathēmatikḗ epistḗmē). 79 Platon, Politeia IX 586e3–587a1.

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Ordnungsethik und ihre ethischen Quellen Christoph Lütge

Abstract This article examines the ethical sources and roots of the Order Ethics approach. First, I have a thorough look at the concept of “order”, and second, I discuss fundamental ideas of the philosophical ancestors of Order Ethics, namely Hume, Hobbes, Spinoza and Kant. After that, Order Ethics is presented on the basis of a science fiction thought experiment, which Bruce Ackerman originally developed, although in a slightly different way and for a different purpose. My use of this thought experiment focuses on the implementation of norms as opposed to their mere justification. Finally, a number of other theoretical elements, problems and normative claims of the Order Ethics approach are presented and several counter arguments rebutted. 1 Einleitung Die Konzeption einer Ordnungsethik ist mittlerweile seit mehr als zwanzig Jahren in der Diskussion.1 Unter dem Begriff Ordnungsethik verstehe ich eine ethische Position, die auf die philosophische Vertragstheorie zurückgreift und bei der Implementierung ethischer Normen besonderen Wert auf die Rolle der Rahmenbedingungen legt, unter denen menschliches Handeln steht – nämlich auf Ordnungen. In der Literatur werden unterschiedliche Namen verwendet; so wird etwa auch von einer „Bedingungsethik“2 gesprochen. Dabei kommt zum Ausdruck, dass eine solche Ethik ihr Ziel in der Änderung der Rahmenbedingungen für das individuelle Handeln sieht und nur mittelbar, nicht direkt, in der Änderung des Verhaltens der Akteure selbst. Eine Bedingungsethik richtet ihre Forderungen – paradigmatisch – nicht an das Individuum und verlangt eine Änderung seiner Handlungen, Motive und Gründe, sondern versucht, institutionelle Änderungen zu erreichen. Daher wird auch der Begriff Institutionenethik3 verwendet, in Absetzung von einer Individualethik (wie dargestellt).4 Wenn der Investitionscharakter moralischer Handlungen betont werden soll (durch moralisches Handeln investiere ich in die soziale Ordnung),5 wird von einer „Investitionsethik“6 gesprochen. Und schließlich kann eine solche

1 Vgl. ursprünglich Homann/Kirchner 1995, 189–211 sowie Lütge 2007, 2012, 2014, 2015, 2016 und Lütge/Armbrüster/Müller 2016, 687–697. 2 Homann 2002, 100; Hervorhebung im Original. 3 Vgl. etwa Homann 2002, Kap. 7 und 9, Apel 1997, 167–209 (hier als „Institutionsethik“). 4 Der Gegenbegriff zu ‚Individualethik‘ lautet eigentlich ‚Sozialethik‘. Letzterer ist m. E. jedoch zu eng mit der Katholischen Soziallehre verbunden und entsprechend institutionalisiert. 5 Vgl. Suchanek 2001. 6 Homann 2003, 18; Hervorhebung im Original.

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Ethik auch als „Ethik auf naturalistischer Basis“7 verstanden werden: In diesem Sinne handelt es sich um ein Forschungsprogramm, das wesentlich einzelwissenschaftliche Methoden und Ergebnisse – nicht nur der Natur-, sondern auch der Sozialwissenschaften – verwendet, und zwar nicht nur allgemein zur zusätzlichen Stützung oder nachträglichen Durchsetzung der aufgestellten Normen, sondern systematisch in der Normenbegründung selbst, d. h. im ‚Herzstück‘ der Ethik.8 Durchgesetzt hat sich aber die Bezeichnung „Ordnungsethik“. Der Begriff ‚Ordnung‘ wird im philosophischen Sinn in (mindestens) vier unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet: Von Ordnungen spricht man in ontischer, in methodologischer, in politischer und in mathematischer Hinsicht. 9 Nur der politische Begriff von Ordnung ist hier relevant, er bezeichnet die „Gesamtheit aller das menschliche Zusammenleben gestaltenden Vorschriften, Normen, Verhältnisse, Gesetze etc.“10 Es geht somit um Bedingungen von Handlungen. Für den vorliegenden Zusammenhang ist die Unterscheidung zwischen Handlungen und Handlungsbedingungen vorrangig. Menschliche Handlungen stehen unter (Rand-)Bedingungen, zu denen neben den natürlichen, durch die Naturgesetze beschriebenen Bedingungen auch soziale zählen. Zu diesen sozialen Bedingungen zählen wiederum Ordnungen unterschiedlicher Art: Rechtliche Ordnungen, wie Verfassungen, Gesetze und Verträge, aber auch informelle Ordnungen wie soziale Normen, mündliche Vereinbarungen, Sitten und Gebräuche. Die Ordnungsethik untersucht vor allem, welche Rolle diese Ordnungen spielen, wenn Normen nicht nur begründet, sondern auch – in der sozialen Welt – implementiert werden. Insofern betrachtet Ordnungsethik nicht nur das Verhältnis von Normen oder Normsystemen untereinander, sondern deren Verhältnis zur Welt. Die philosophischen Grundlagen der Ordnungsethik liegen in der Theorie des Gesellschaftsvertrags. Die Vertragstheorie eignet sich – bereits in ihren klassischen Vertretern11– in besonderem Maße dazu, die Frage der Implementierbarkeit von Normen angesichts sozialer Strukturen zu behandeln. Allerdings kann direkt weder auf die klassischen Konzeptionen noch auf moderne Vertreter der Vertragstheorie zurückgegriffen werden: Die meisten dieser Ansätze begehen den Fehler, die Vertragskonzeption in ungeeigneter Weise einzusetzen, etwa unter Verwendung zu starker Prämissen oder zur Lösung von Problemen, für welche die Vertragstheorie nicht geeignet ist.12 Im Folgenden ziehe ich den Entwurf eines Vertragstheoretikers, des Sozialphilosophen B. Ackerman, heran, um auf einen wesentlichen Schwachpunkt solcher Konzeptionen aufmerksam zu machen, gleichzeitig aber auch zu zeigen, wie die Ordnungsethik diesen Fehler vermeiden kann. Grundsätzlich lässt sich Ackermans konzeptioneller Rahmen, der die Vertragstheorie auf ein Gedankenexperiment stützt, konstruktiv verwenden, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

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Vgl. Lütge 2004, 114–124. Zur Ethik auf naturalistischer Basis vgl. ausführlicher Lütge und Vollmer 2004. Vgl. Wolters 1984. Wolters 1984, 1081. Vgl. etwa Kersting 1994. Dies gilt m. E. auch für die Position P. Stemmers (2000; 2002), welche die institutionelle Perspektive der Vertragstheorie unzureichend beleuchtet und eine ökonomische Grundlage vermissen lässt. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit Stemmer würde allerdings den vorliegenden Rahmen sprengen und muss an anderer Stelle erfolgen.

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Ordnungsethik und ihre ethischen Quellen

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Zuvor skizziere ich jedoch kurz in Abschnitt 1 einige historische Vorläufer der Ordnungsethik. Abschnitt 2 stellt die Grundlagen der Ordnungsethik anhand von Ackermans modifiziertem Gedankenexperiment vor. Abschnitt 3 geht auf Einwände von Kritikern ein. Abschnitt 4 macht deutlich, dass Ordnungsethik mehr ist als eine ‚nur‘ ökonomische Theorie, und der abschließende Abschnitt 5 stellt die zukunftsweisende Dimension der Ordnungsethik in den Vordergrund – die Weiterentwicklung der Ordnungen und Regeln. 2 Historische Perspektive: Vorläufer der Ordnungsethik Die Ordnungsethik hat Vorläufer in der philosophischen Tradition: (1) Der wohl wichtigste Vorläufer einer Ordnungsethik aus der philosophischen Tradition dürfte Thomas Hobbes sein. Über Jahrhunderte lieferte Hobbes für viele Autoren aus Ethik, Rechts- und Staatsphilosophie einen der wichtigsten Punkte der Auseinandersetzung. Es erschien oft geradezu als Pflicht, ihn zu widerlegen oder sich von ihm zu distanzieren. Dies liegt sicherlich in erster Linie – sieht man davon ab, dass Hobbes oft ein bestimmtes negatives Menschenbild13 unterstellt wurde – daran, dass Hobbes’ Konzeption, hierin der Ordnungsethik verwandt, auf jegliche (sympathieheischende) Annahme einer gesellschaftsstabilisierenden Vernunftbegabung der Mitglieder einer Gesellschaft verzichtet. Der sich aus allen Mitgliedern zusammensetzende, genauer: mit diesen identische 14 Leviathan stellt gesellschaftliche Stabilität vielmehr allein durch Anreize und Sanktionen her. (2) David Hume, der einigen Autoren sogar als wichtigster Vertreter der europäischen Aufklärung gilt,15 wendet sich in seiner gesamten Philosophie, theoretischer wie praktischer, gegen metaphysische Ansätze. Dies findet seinen wohl drastischsten Ausdruck in den Schlusssätzen der „Enquiry Concerning Human Understanding“, die dazu aufrufen, jedes Buch, das weder der Mathematik noch der Erfahrungswissenschaft zuzuordnen sei, (metaphorisch) „den Flammen“16 zu übergeben. Humes Ethik ist ganz in diesem Geist konzipiert. Konsequent versucht er, metaphysische Bestände aus der Ethik (und auch aus der Sozialphilosophie) zu verbannen. Hume begründet Moral systematisch mit ihrer gesellschaftserhaltenden und -stabilisierenden Funktion. Moral dient nach Hume weder göttlichen Geboten noch denen der Vernunft, sondern den Wünschen der Menschen. Diese Wünsche sind jedoch nicht allein durch eigene Interessen, sondern auch durch Sympathiegefühle bestimmt: Weite Teile der „Enquiry Concerning the Principles of Morals“17 bestehen in der deskriptiven Untersuchung der Art und Weise, wie Moral unser Leben steuert. Hume analysiert die unterschiedlichen Typen von Affekten (insbesondere ‚Wohlwollen‘ und ‚Gerechtigkeit‘), auf deren Wirken er eine funktionierende Gesellschaft

13 Vgl. etwa Dießelhorst 1970/1995, 319–320 und Mohrs 1995, 32–41. 14 Der Leviathan ist nicht eindeutig mit einem Herrscher gleichzusetzen. Hobbes selbst schreibt an der entscheidenden Stelle, dass jeder „alle seine Macht oder Kraft einem oder mehreren Menschen übertragen“ (Hobbes 1651/1995, 155; Hervorhebungen von mir) muss. 15 Vgl. etwa Streminger 1995, 33–34. 16 Hume 1748/1990, 207. 17 Hume 1751/1972.

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aufgebaut sieht. Die Gesellschaft soll dabei dem Wohl aller dienen, auch derer, die ihre Handlungen aufgrund dieser Affekte Beschränkungen unterwerfen. Hume versucht zu zeigen, dass es für jeden Einzelnen generell vorteilhaft ist, sich moralisch zu verhalten. 18 Der Band 3 der „Treatise on Human Nature“ liefert hierfür die theoretischen Grundlagen. Wie Hobbes erkennt Hume die theoretischen Implikationen des Gefangenendilemmas; er sieht, dass die Kooperation der Akteure im Gefangenendilemma aufgrund der situationellen Anreize nicht zustande kommen kann: Grundsätzlich sind die Akteure eigeninteressiert oder besitzen nur eine beschränkte Großmut; deshalb kommen sie nicht leicht dazu, eine Handlung zum Vorteil anderer zu tun, es sei denn mit der Aussicht auf einen eigenen Vorteil, den sie nur durch solche Leistung zu erreichen hoffen können. Nun geschieht es häufig, daß die gegenseitigen Leistungen nicht im selben Augenblick vollzogen werden können [...]. 19 Derjenige, der in Vorleistung geht, setzt sich der Gefahr der Ausbeutung aus, und daher unterbleibt die Vorleistung:20 Ich strenge mich daher nicht um deinetwillen an; und würde ich um meinetwillen, d. h. in Erwartung einer Erwiderung bei dir arbeiten, so weiß ich, daß ich enttäuscht werden und vergeblich auf deine Dankbarkeit rechnen würde. Also lasse ich dich bei deiner Arbeit allein. Und du behandelst mich in gleicher Weise.21 Angesichts dieser Logik entwirft Hume eine Begründung für gemeinsame Regeln: Appelle helfen nicht, denn eine „Korrektur der Selbstsucht und Undankbarkeit der Menschen“22 könnte nur eine „Allmacht“ bewirken, die „allein imstande [wäre], den menschlichen Geist umzumodeln und seinen Charakter von Grund aus zu verändern“.23 Das Eigeninteresse sei nicht abzuschaffen, sondern wir müssten lediglich den „natürlichen Affekten eine neue Richtung geben“24 und lernen, „daß wir unsere Bedürfnisse auf indirekte und künstliche Weise besser befriedigen können, als wenn wir ihnen ganz die Zügel schießen lassen“.25 Nur die (eigennützige) Neigung selbst hält die (eigennützige) Neigung im Zaum, „wenn man ihr nämlich eine neue Richtung gibt“.26 Das heißt, es muss ein System von Regeln entworfen werden, das – als Ganzes – zum gegenseitigen Vorteil ist27 und das – als künstliches, nicht natürliches Werk28 – auf einer „Übereinkunft“ beruht. Hume lehnt die Vertragstheorie nicht kategorisch ab, unter der Bedingung, dass die Idee eines ursprünglichen Vertrags ausdrücklich als (nützliche) Fiktion angesehen werde.29 Dann gebe die wechselseitige Übereinkunft eine verlässliche Basis für

18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29

Hume 1751/1972, 128–134. Hume 1739–40/1989, Teil 2, 267. Vgl. ebd. Hume 1739–40/1989, Teil 2, 268; Hervorhebungen im Original. Vgl. ebd. Ebd. Hume 1739–40/1989, Teil 2, 269. Ebd. Hume 1739–40/1989, Teil 2, 236. Hume 1739–40/1989, Teil 2, 333. Vgl. zu diesem Gegensatz Hume 1739–40/1989, Teil 2, 241–242 sowie 282–283. Vgl. Hume 1739–40/1989, Teil 2, 236–237.

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Ordnungsethik und ihre ethischen Quellen

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Regeln ab.30 Auf dieser Basis könnten Versprechen gehalten werden, 31 und es kann sich ein staatliches Gebilde entwickeln. Ein Problem für Hume ist die Frage, ob er nicht Interessenkonflikte vernachlässigt und zu sehr von einer – anders als Smith verstandenen32 – Harmonie der Einzelinteressen ausgeht. Tatsächlich erkennt Hume dieses Problem selbst: Seine „Enquiry Concerning the Principles of Morals“ endet nahezu in einer Aporie, als er die Schwierigkeit sieht, dass manche Menschen wünschen könnten, alle anderen befolgten die moralischen Regeln, sie selbst aber nicht. Diese Schwierigkeit ist das Trittbrettfahrerproblem, das dem Gefangenendilemma weitgehend entspricht. Die einzige Hoffnung auf Lösung des Problems sieht Hume darin, dass diese Menschen irgendwann die Fruchtlosigkeit einer solchen Strategie einsähen. 33 Die Trittbrettfahrer müssten erkennen, dass auf lange Sicht jeder Regelbrecher gefasst und bestraft würde und dass sie sich somit (auf lange Sicht) besser stellen würden, wenn sie auf das Trittbrettfahren verzichteten. Dieser Lösungsversuch trägt jedoch deutlich ad hoc-Charakter und kann letztlich nicht befriedigen. Hume steht damit am Ende seiner „Untersuchung“ vor einem Problem, das seine gesamte Konzeption zu Fall zu bringen droht. Trotz dieser Schwierigkeiten stellt Humes Ansatz einen bedeutenden Versuch einer funktionalen Begründung von Moral dar. Und er ist insofern als Vorläufer einer Ordnungsethik anzusehen, als er versucht, in seiner normativen Konzeption mit möglichst ‚wenig‘ auszukommen, nämlich letztlich primär nur mit den Wünschen (den passions oder Affekten) der Menschen und nur sekundär mit möglichen Verstandes-Fähigkeiten (understanding oder auch – bei Hume nicht getrennt – reason). (3) Baruch Spinozas politische Konzeption im „Tractatus theologico-politicus“34 und im – unvollendet gebliebenen – „Tractatus politicus“35 versucht ebenfalls, die Stabilität von Gesellschaften ohne die Annahme zusätzlicher gesellschaftsstabilisierender Vernunft-Fähigkeiten der Menschen zu begründen. Spinoza geht wie Hobbes explizit davon aus, dass nur die eigeninteressierte Zustimmung aller Basis von Normativität sein kann. 36 Diese Position findet sich insbesondere im „Tractatus politicus“: ... der Mensch handelt im Natur- wie im Gesellschaftszustand nach den Gesetzen seiner Natur und ist auf seinen Vorteil bedacht. In beiden Fällen wird er von Hoffnung oder Furcht veranlaßt, bestimmte Dinge zu tun oder zu unterlassen. 37

30 Hume entwickelt sein Zustimmungskonzept in Hume 1739–40/1989, Teil 2, 232–245. 31 Hume 1739–40/1989, Teil 2, 262–263. 32 Adam Smith (1776/1990, 54, 104–108, 499–509, 587–612, 645–669) diskutiert ja gerade Möglichkeiten, diese Harmonie durch Regeln herbeizuführen. Sein „Wealth of Nations“ erschien allerdings auch erst 1776, 25 Jahre nach Veröffentlichung der „Enquiry Concerning the Principles of Morals“. 33 Vgl. Hume 1751/1972, 133–134. 34 Spinoza 1670/1994. 35 Spinoza 1677/1988. 36 Eine enge Verwandtschaft besteht zudem zu Rousseau, der zu Anfang des „Contrat Social“ schreibt: „Bei dieser Untersuchung werde ich mich bemühen, stets das, was das Recht zuläßt, mit dem zu vereinen, was das Interesse vorschreibt, damit Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit nicht auseinanderstreben.“ (Rousseau 1762/1948, 45; im Original: „Je tâcherai d’allier toujours dans cette recherche ce que le droit permet avec ce que l’intérêt prescrit, afin que la justice et l’utilité ne se trouvent point divisées.“). 37 Spinoza 1677/1988, 24; 3. Kap., § 3.

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Christoph Lütge

Im Folgenden wird diese Position auf (Gesellschafts-)Verträge als Grundlage des Staates ausgedehnt. Parteien, die einen Vertrag schließen, werden sich nach Spinoza nur dann an diesen Vertrag auch tatsächlich gebunden fühlen, wenn sie damit die „Hoffnung auf ein größeres Gut“ oder die „Furcht vor einem größeren Schaden“38 verbinden. Andere Bindungswirkungen, etwa durch Vernunft oder durch göttliche Weisungen, akzeptiert Spinoza nicht. (4) In den Schriften I. Kants finden sich (mindestens) an zwei Stellen Anknüpfungspunkte für die hier vertretene Konzeption:39 Zum einen äußert Kant, dass auch ausschließlich eigeninteressierte Wesen einen stabilen Staat bilden können: Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar. 40 Diese Bemerkung impliziert, dass ein Staat nicht zwingend auf Werte, Tugenden, moralische Motivation o. ä. angewiesen ist. Die „Privatgesinnungen“41 der Einzelnen reichen aus; zu ihrer moralischen Besserung ist der Staat nicht da. Zum anderen kann hier auf die im Opus Postumum vertretene Selbstsetzungslehre verwiesen werden.42 Förster rekonstruiert folgende Entwicklung: 43 Das Problem der Einhaltung von Moral44 verfolgt Kant fortwährend: 1781 (Kritik der reinen Vernunft) verweist er noch auf Gott als Garanten von Moral. 1785 (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten) verwendet Kant den Begriff der Pflicht, um die Einhaltung von Normen aus Achtung fürs Gesetz zu begründen, aber dies erscheint nur als Zwischenlösung. 1788 (Kritik der praktischen Vernunft; teilweise auch 1790 in der Kritik der Urteilskraft) wird der Verweis auf Gott wieder aufgegriffen. Keine diese Lösungen scheint Kant jedoch zu befriedigen. Erst im Opus Postumum geht er zur Selbstsetzungslehre über: Danach ist Gott eine von uns gesetzte Idee. Wir haben eine Idee erfunden, um die Einhaltung von Moral zu sichern. Weitere metaphysische Voraussetzungen sind nicht erforderlich. (5) Ich weise an dieser Stelle auf einen Philosophen hin, der bei oberflächlicher Betrachtung als Vorläufer einer Ordnungsethik angesehen werden mag. Tatsächlich kann eine solche Einordnung jedoch nicht aufrechterhalten werden. Es handelt sich um Max Stirner, der in seinem Hauptwerk „Der Einzige und sein Eigentum“45 als zentralen philosophischen Satz formuliert: „Ich hab’ mein Sach’ auf Nichts gestellt“.46 Diese dramatische Absage nicht nur an Auffassungen des deutschen Idealismus verlangt, die philosophische Arbeit mit möglichst wenig (möglichst mit gar keinen) Voraussetzungen zu beginnen, was sich auf den ersten Blick mit

38 Spinoza 1670/1994, 235. 39 Meine Ausführungen hierzu können selbstverständlich nur sehr rudimentäre Hinweise sein. 40 Kant 1978, 224. Interessanterweise verwendet Höffe (1988, 56) dieses Zitat in einem etwas anderen Sinn: Für ihn ist diese Stelle (eher) ein Beleg dafür, dass der Staat – dessen allmähliches Absterben in der Moderne manche Autoren behaupten – doch auch in Zukunft wichtig bleiben wird. 41 Kant 1978, 224. 42 Vgl. dazu ausführlich Förster 1992 und 2000. 43 Vgl. Förster 1992. 44 Ich verkürze die Fragestellung Försters auf das hier relevante Einhaltungsproblem. 45 Stirner 1845/1972. 46 Stirner 1845/1972, 3. Bekanntlich handelt es sich um ein Zitat aus Goethes Gedicht „Vanitas! Vanitatum vanitas!“ (Gesellige Lieder, Goethe 1991, Bd. 6.1, 93).

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Ordnungsethik und ihre ethischen Quellen

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einer der Intentionen der Ordnungsethik deckt. Allerdings muss demgegenüber – ohne diesem im Detail hier nachzugehen – festgehalten werden: Stirner verfügt über einen Lockeschen Freiheitsbegriff, der Freiheitsrechte nicht im Sinne von Hobbes als gesellschaftlich festgelegt, sondern als außergesellschaftlich vorgegeben ansieht. Hierbei handelt es sich um eine starke Voraussetzung, die für die Ordnungsethik nicht annehmbar ist. Stirner verfügt – als anarchistischer Denker – über keine hinreichende Theorie der Institutionen.47 Er verlangt also gerade nicht, Institutionen auf möglichst schwachen Voraussetzungen (etwa Anreizen) aufzubauen, da bei ihm eher die Gedankenwelt, nicht aber Institutionen (weder staatliche noch nicht-staatliche) im Fokus stehen. Zwar soll mit Vollendung der Aufklärung eine Entwicklung der Menschheit hin zu einem Stadium der Selbststeuerung erfolgen, dieses Stadium wird von Stirner institutionell jedoch kaum umrissen. Stirner erhebt den Anspruch, den Menschen ‚wie er ist‘ zu betrachten, d. h. im Sinne eines phänomenalistischen Zugriffs, nicht im Sinne einer modellhaften Rekonstruktion. (6) Am konsequentesten verzichtet die von Ken Binmore in „Game Theory and the Social Contract“48 vorgelegte Konzeption auf stabilisierende Vernunft-Fähigkeiten. Binmore drückt dies pointiert so aus: „Just saying yes“ hält heute die Gesellschaft zusammen, sonst nichts. Allerdings nimmt auch Binmore eine gesellschaftsstabilisierende Anlage an, nämlich empathische Präferenzen. Deren Status unterscheidet sich jedoch von dem der von anderen Autoren postulierten Fähigkeiten. Insbesondere sind die empathischen Präferenzen nicht ausbeutbar.49 Soweit einige Vorläufer der Ordnungsethik. 50 Der theoretische Grundgedanke wird im Folgenden anhand eines Gedankenexperiments deutlich. 3 Grundzüge der Ordnungsethik Die Ordnungsethik ist andernorts auf unterschiedliche Weise dargestellt worden. 51 Im Folgenden werde ich die Darstellung der Ordnungsethik etwas anders zuschneiden, mit Hilfe eines Gedankenexperiments. Zuvor jedoch noch einige Begriffsklärungen: Nicht völlig synonym, aber weitgehend deckungsgleich mit der Ordnungsethik ist der Begriff „Ökonomische Ethik“.52 Eine Ordnungsethik in der hier vorgestellten Version wird in der Tat stark auf Ergebnisse der Ökonomik zurückgreifen; kann aber bei Bedarf – methodisch reflektiert – auch andere Disziplinen heranziehen.53 47 48 49 50

Obwohl er nach Abfassung des „Einzigen“ noch Smiths „Wealth of Nations“ und J. B. Say übersetzte. Binmore 1994; Binmore 1998. Vgl. ausführlich Lütge 2007, Kap. 3.8.4. Diese Aufzählung erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ein weiterer Kandidat sei hier nur kurz genannt: Der Soziologe J.-M. Guéhenno entwickelt in seinem Buch „Das Ende der Demokratie“ (1993/1996) die These, dass der Staat der Zukunft nur noch ein Staat des Privatrechts sein werde (von Guéhennos weiteren Thesen sehe ich hier ab). Das Privatrecht sei für die zukünftige Gesellschaft das einzig relevante Recht, da nur noch Einzelinteressen aufeinander träfen. Ein solcher Ansatz trifft sich mit der Ordnungsethik insofern, als die Voraussetzungen für eine funktionierende Gesellschaft sehr schwach gehalten werden. 51 Vgl. vor allem Homann 2002; Homann und Lütge 2013. 52 Suchanek 2001. 53 Einige solcher Möglichkeiten finden sich in Lütge und Vollmer 2004.

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Christoph Lütge

Der Begriff „Ordnungsethik“ bezieht sich auf das Ziel, der Begriff „Ethik der Vorteile und Anreize“ oder „Vorteils- und Anreizethik“ auf die Mittel einer solchen Konzeption. Im Begriff der Ordnungsethik berühren sich die Problemkreise der Ethik und der Sozialphilosophie. Die – insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich – sozialen Bedingungen der Implementierung von Normen, die die Ethik aufstellt, sind Gegenstand der Sozialphilosophie, die sich wiederum auf Ökonomik und andere Sozialwissenschaften stützt. Auch in dieser Arbeit berühren sich beide Problemkreise ständig, worin sich eine grundsätzliche Auffassung ausdrückt: M. E. ist die Trennung zwischen Ethik und Sozialphilosophie nicht nur künstlich, sondern auch heuristisch unfruchtbar. Der Begriff „Ordnung“ ist keineswegs als Plädoyer für mehr Verrechtlichung oder Regulierung intendiert. Institutionelle Regelungen können gerade auch Regulierungen abbauen und Freiräume für die Wirkungen von Moral eröffnen. 54 Und: Auch der kalkulierte Regelbruch kann unter bestimmten Bedingungen für ökonomischen und gesellschaftlichen Fortschritt förderlich sein.55 3.1 Ein Gedankenexperiment Ackerman beginnt sein „Social Justice in the Liberal State“56 mit einem Gedankenexperiment, das der Science-Fiction-Literatur entnommen zu sein scheint. Um die Rechtfertigung staatlicher Regeln konzipieren zu können, geht er gerade nicht den Weg der klassischen und modernen Vertragstheorie, einen Urzustand oder eine original position hier auf der Erde zu postulieren. Stattdessen stellt er die Frage, wie, d. h. nach welchen Prinzipien, wir eine Gesellschaft aufbauen würden, wenn wir – oder zumindest eine hinreichend große Gruppe von Menschen – auf einem fernen Planeten landeten. 57 Dieser Planet ist unbewohnt und bietet eine Menge von Nahrungsmitteln („manna“),58 die beliebig teilbar, allerdings nicht in unbegrenztem Maße vorhanden sind. Das Problem der Verteilung der Ressource Manna ist nicht zu vermeiden. Die Landung auf dem Planeten steht in Ackermans fiktiver Situation unmittelbar bevor, und das Raumschiff mit den Menschen an Bord befindet sich in einer Umlaufbahn. Vor der Landung jedoch müssen die Prinzipien der zu gründenden Gesellschaft von den Insassen des Schiffs festgelegt werden, um eine Anarchie zu verhindern. Der Captain des Schiffs wird nach einer solchen Festlegung dafür sorgen, dass mit Hilfe der Waffentechnologie des Schiffs (Laserkanonen u. ä.) diese Prinzipien tatsächlich von allen Teilnehmern befolgt werden. Gegen diese Technologie ist keine wirksame Gegenwehr möglich, d. h. alle Gesellschaftsmitglieder müssen sich den einmal zugestimmten Regeln ohne Defektionsoption unterwerfen. Auf diese Weise kann sich der Theoretiker – unter ausdrücklicher Ausblendung der

54 Vgl. dazu etwa Homann 2003, Kap. 12 und 14. 55 Dieses Argument, das auf F. A. von Hayek zurückgeht, wird insbesondere von A. Söllner (2000) ausgebaut. 56 Ackerman 1980. 57 Vgl. Ackerman 1980, 31–34. Ich vereinfache das Gedankenexperiment hier stark. Ackerman verwendet es in weitaus mehr Zusammenhängen und zieht noch deutlich mehr Schlussfolgerungen daraus. 58 Ebd.

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Ordnungsethik und ihre ethischen Quellen

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Probleme der Durchsetzung von Regeln – auf die Probleme der Begründung und Rechtfertigung dieser Regeln konzentrieren. Ackerman betont dies explizit und sieht hierin gerade den Vorteil seiner Vorgehensweise. 59 Ich sehe hierin jedoch gerade die Schwierigkeit, den Pferdefuß, in Ackermans Konzept. Es kann – auch und gerade in einem Gedankenexperiment – nicht sinnvoll sein, Umsetzungsprobleme erst nachträglich und sekundär, quasi mit Hilfe eines deus ex machina (Laserkanonen), zu behandeln. Jedenfalls ist dies nicht sinnvoll, wenn man davon ausgeht, dass die Frage der Implementierbarkeit einer Regel R systematisch bei der Begründung von R mitgedacht sein muss. Wenn man in der Weise Ackermans vorgeht, konstruiert man zunächst ein ideales Modell, dessen Umsetzungschancen dann erst im Nachhinein – scheibchenweise – berücksichtigt werden (sollen). Dabei handelt man sich systematisch einen ‚Abgrund‘ zwischen Modell und Umsetzung ein, der nicht nachträglich beseitigt, sondern höchstens – mit Hilfe waghalsiger Brücken-Konstruktionen – notdürftig überspannt werden kann. Bezogen auf Ackermans Beispiel: Wie soll in dessen Konzeption noch der Gedanke gedacht werden können, dass sich die Zuerkennung von (Menschen-)Rechten mit Hilfe des Eigeninteresses (aller) begründen lässt? Erkennt man diese Rechte nicht jedem Einzelnen zu, so werden die Benachteiligten – aufgrund der Dilemmastrukturen in modernen Gesellschaften – für alle produktive Kooperationen blockieren. Menschenrechte sind also produktiv. Eine solche Begründung kann jedoch nur von der Implementierbarkeit her gedacht werden. Ackerman begibt sich dieser Möglichkeit. Dennoch halte ich sein Gedankenexperiment für grundsätzlich weiterentwicklungswürdig, aus zwei Gründen: Zum einen vermeidet das Szenario die Urzustands-Modelle der Vertragstheorie, die bewusst einen rein fiktiven Zustand konstruieren. Auch wenn klar ist, dass es sich nicht um einen historischen Zustand handelt, bleibt immer die Schwierigkeit, den einzelnen Akteuren transparent zu machen, weshalb sie mit Hilfe einer solchen Fiktion argumentieren sollten. Die Begründung der avancierten Theorien60 lautet, dass das Eigeninteresse der Akteure in Verbindung mit einer Vorstellung möglicher Kooperationsgewinne den Einsatz der originalposition-Fiktion begründet, wenn nicht erzwingt. Dieser Gedanke soll im vorliegenden Gedankenexperiment erhalten bleiben. Nur: Wenn die original-position-Fiktion als Argumentationshilfe, im Diskurs, mit praktischer Absicht verwendet werden soll, dann halte ich die Science-Fiction-Assoziationen – jedenfalls heute – für mindestens ebenso geeignet, wenn nicht geeigneter. Science Fiction ist seit Jahrzehnten im öffentlichen Bewusstsein anerkannt, und zwar gerade auch zur Präzisierung von Intuition oder zur Verdeutlichung von Konsequenzen philosophischer Ideen.61 Sie knüpft – wiewohl natürlich ebenfalls Fiktion – an wesentliche Gegebenheiten moderner Gesellschaften an und überspitzt sie zur Verdeutlichung. Der mit der Globalisierung noch weiter zunehmende Pluralismus in modernen Gesellschaften kommt im Science-Fiction-Gedankenexperiment deutlicher zum Ausdruck als in

59 Vgl. Ackerman 1980, 34. 60 Vgl. etwa Homann 2003, Kap. 2 und 3. 61 Ich denke hier etwa an Filme wie „A. I.“ (2001), „Contact“ (1997), „Blade Runner“ (1982) oder auch „Terminator 2“ (1991), die philosophische Fragestellungen in durchaus unoberflächlicher Weise thematisieren.

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den Urzustands-Modellen. Auch Rawls62 muss in seine – ausdrücklich als Konstrukt verstandene – original position den Pluralismus gewissermaßen erst nachträglich einbauen. Wie im Folgenden deutlich wird, sehe ich jedoch in Ackermans Modell die Möglichkeit, ihn systematisch an den Anfang zu setzen. Der Umriss des Gedankenexperiments lautet nun wie folgt: Angenommen, eine große Zahl von Menschen steht – in einer fernen Zukunft – kurz vor der Landung auf einem fernen Planeten. Diese Menschen stammen von der Erde; sie befinden sich an Bord eines Raumschiffs, das den Planeten umkreist. Auf dem Planeten steht – wie in Ackermans Ansatz – Manna zur Verfügung, das jedoch verteilt werden muss. Vor der Landung haben die Menschen den Willen, 63 sich auf Regeln für die künftige Gesellschaft zu einigen. Wichtig sind nun gegenüber Ackerman folgende Änderungen: Die Technologie zur Sicherstellung der Durchsetzung von einmal getroffenen Arrangements steht nicht zur Verfügung. Es gibt keine Waffentechnologie, keine Laserkanonen, die garantieren, dass die im Konsens gefundenen Regeln auch eingehalten werden. Dies bedeutet, dass sich die Raumschiffinsassen schon bei der Einigung auch über Durchsetzungsmechanismen Gedanken machen müssen. Diese Mechanismen müssen nach der Landung zur Verfügung stehen und robust gegenüber den Handlungen der (eigeninteressierten) Akteure sein. Auch an Bord des Schiffes gelten bereits Regeln für das Zusammenleben. Der Entwurf der neuen Gesellschaftsordnung ist keine Stunde Null. Die Raumschiffinsassen verfügen vielmehr bereits über eingespielte Konventionen und Institutionen. Diese sind allerdings bisher auf eine enge Welt bezogen, nämlich auf die des Schiffes. Sie sind nicht angepasst an eine größere Welt. Entweder müssen die alten Regeln an die veränderte Umgebung angepasst werden, oder es müssen völlig neue Regeln entworfen werden. In jedem Fall müssen die bisherigen Regeln der – bereits lange – auf dem Raumschiff Lebenden beim Vertragsschluss berücksichtigt werden, um einen von allen akzeptierbaren Vertrag schließen zu können. Außerdem verfügen die Raumschiffinsassen über unterschiedliche kulturelle Hintergründe. Sie kommen von der Erde – aber aus allen ihren Teilen. Sie tragen ihre kulturelle Geschichte mit sich, ihre unterschiedlichen Wertvorstellungen und Normen. Das heißt: Nicht nur im Hinblick auf die Regeln, sondern auch im Hinblick auf die „mental models“64 der Akteure, handelt es sich nicht um eine Stunde Null. Obwohl es um die Gestaltung der Ordnung einer neuen Gesellschaft geht, müssen Relikte einer alten Ordnung berücksichtigt werden. Eine gemeinsame Moralkonzeption etwa kann nicht als vorhanden oder als in Sicht angenommen werden. Die Insassen haben unterschiedliche und mit großer Wahrscheinlichkeit auch konfligierende Moralvorstellungen. 65 62 Rawls 1993/1998. 63 Allerdings kann sie auch niemand zwingen, sich zu einigen. Die Frage eines möglichen zeitlichen Limits für den Prozess der Einigung soll hier allerdings ausgeblendet werden, um das Problem nicht noch weiter zu komplizieren. 64 Denzau und North 1994, 3–31. 65 Dieser veränderte – und sicherlich mindestens z. T. durch die Globalisierung erzwungene – Umgang mit anderen Kulturen wird auch in der Science-Fiction-Literatur anhand der Entwicklung der Serie Star Trek sichtbar, die die unterschiedlichen Gesellschaftsvorstellungen der 60er bzw. der 80er und 90er Jahre widerspiegelt. Vgl. Gregory 2000 sowie zur philosophischen Dimension von Star Trek Barad und

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Ordnungsethik und ihre ethischen Quellen

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Es erscheint sinnvoll, ein Gedankenexperiment in dieser Weise aufzubauen, da die Konzeption eines Urzustands als völliger Neuanfang ständige Kritik auf sich gezogen hat. So hat bereits J. M. Buchanan gegen Rawls die Ansicht vertreten, dass eine Vertragstheorie immer vom Status Quo ausgehen müsse, um Wirkung erzielen zu können.66 Nur so ließen sich die Vertragschließenden auch zu Handlungen motivieren. Das heißt: In der Situation des Vertragsschlusses können die Parteien wechselseitig Einigkeit weder über Ziele noch über Werte noch über kulturelle Normen erwarten. 3.2 Rationalität Dies ist die Konstruktion der Situation des Vertragsschlusses. Zu einer Vertragstheorie gehört weiterhin eine Konzeption der Rationalität der vertragschließenden Akteure. Ich werde hier – in Übereinstimmung mit Binmore67– nur (ökonomische) Standard-Rationalität voraussetzen. Zur Begründung möchte ich – angesichts der völlig unüberschaubaren Menge an Literatur68 – vorläufig anführen: Bisher wurde keine überzeugende alternative Konzeption von Rationalität vorgelegt. Die Maximin-Konzeption etwa hat sich als äußerst unplausibel erwiesen und wird auch nur von wenigen Autoren verteidigt.69 „Bounded Rationality“70 lässt sich prinzipiell zurückführen auf Standard-Rationalität unter bestimmten Bedingungen, insbesondere Informationsbeschränkungen. Die ökonomische Standard-Rationalität ist die einfachste Konzeption. Mit ihr sollte man beginnen. Wenn es gelingt, einen tragfähigen Ansatz auf der Standard-Rationalität aufzubauen, dann wäre dies auch mit anderen Rationalitäten möglich. Wenn wir alle eigeninteressiert im klassischen Sinn handeln und unsere Institutionen trotzdem – im Großen und Ganzen – stabil bleiben, so bleiben sie – im Großen und Ganzen – auch stabil, wenn wir stärker altruistisch oder (häufig) nach dem Zufallsprinzip 71 handeln. 3.3 Der Schleier des Nichtwissens Für eine Vertragstheorie stellt sich drittens die Frage nach dem Wissenstand der Akteure. Wie viel wissen sie über die Struktur der zukünftigen Gesellschaft und über ihre eigene Position darin? Ein Rawlsscher „Schleier des Nichtwissens“,72 der den Akteuren überhaupt keine Informationen über ihre künftige Stellung zugesteht, lässt sich in der hier geschilderten Situation nicht einführen. Die Akteure kennen ihre persönlichen Fähigkeiten und die ihrer Mitmenschen aus ihrem bisherigen Leben auf der Erde und an Bord des Schiffes. Von diesem Robertson 2000. Buchanan 1972, 123–128. Binmore 1994; Binmore 1998. Vgl. stellvertretend Kirchgässner 1991. Etwa Chu und Liu 2001, 255–272. Selten 1990, 649–658; Simon 1983/1993. Hierzu muss zweierlei ergänzt werden: a) Es kann manchmal im Rahmen von Standard-Rationalität sinnvoll sein, nach dem Zufallsprinzip zu handeln, etwa unter Unsicherheit oder zur Brechung einer symmetrischen Anreizstruktur (wie im Falle von Buridans Esel). b) Wenn wir allerdings ständig, systematisch und auf Dauer unsere Handlungen nach einem – vielleicht sogar ‚absoluten‘ (Quanten-) – Zufallssystem ausrichten würden, wäre gar keine Gesellschaft möglich. Dann wären aber wohl auch keine Erkenntnis der Natur, keine Sozialtheorie und keine Ethik möglich. 72 Rawls 1971/1993, 36. 66 67 68 69 70 71

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Status Quo müssen sie ausgehen. In dieser Hinsicht schließe ich mich Buchanan an, der betont: „‚We start from here,‘ and not from some place else.“73 Allerdings geht die alte Situation nicht – wie in Buchanans Konzeption – nahtlos in die neue über. Es geht um eine neue Situation mit neuen natürlichen Randbedingungen, denen neue soziale Rahmenbedingungen zur Seite gestellt werden müssen. Und über die Funktionsweise der künftigen Gesellschaft ist – hier analog zu Rawls – bei Vertragsschluss einiges bekannt. Die Vorteile bestimmter Regelsysteme gegenüber anderen lassen sich theoretisch – mit Hilfe einer gut entwickelten Ökonomik – belegen. Die gesellschaftlichen Regeln, auf die sich die Akteure in der beschriebenen Situation einigen würden, könnten Gegenstand einer eigenen Abhandlung sein. An dieser Stelle geht es mir nur um die Umrisse einer veränderten Situation des Vertragsschlusses, die der theoretischen Einführung der Ordnungsethik dienen. 3.4 Das Grundproblem der Ordnungsethik Die Ordnungsethik geht von einem zu lösenden (praktischen) Problem aus, nämlich dem Problem der sozialen Ordnung. Im Hinblick darauf werden auch die Werkzeuge der Ethik gewählt, insbesondere sozialwissenschaftliche Theorien, Methoden und Ergebnisse (andere sind natürlich nicht ausgeschlossen). Im Gedankenexperiment geht es genau um dieses Problem: die Bildung einer sozialen Ordnung auf einem neuen Planeten, und zwar nicht auf der Basis einer ‚tabula rasa‘, sondern unter Berücksichtigung bereits vorhandener Regeln und Wertvorstellungen der Raumschiffinsassen von der Erde. Für die neue Situation müssen die Regeln allerdings neu zugeschnitten werden. Indem die Ordnungsethik vom Problem der sozialen Ordnung ausgeht, setzt sie sich explizit von einer Individualethik ab. Individualethik richtet ihre Forderungen primär an die Individuen. Sie kann – natürlich nur idealtypisch – durch eine These und eine Forderung charakterisiert werden: These IE: An moralisch fragwürdigen Zuständen sind die unmoralischen Motive oder Präferenzen der Akteure schuld. Forderung IE: Diese Zustände sollen dadurch behoben werden, dass man moralische Forderungen an die Akteure stellt und sie zu einem Bewusstseinswandel, zu einer Änderung ihrer Motive, auffordert. Die moralische Steuerung einer Gesellschaft erfolgt somit durch Appelle, evtl. auch durch Erziehung. Wenn jedoch soziale Strukturen von der Art des Gefangenendilemmas vorliegen, dann kann eine Ethik, die primär das Individuum zum Adressaten moralischer Forderungen macht, keine dauerhafte Wirkung entfalten. Eine Individualethik ist grundsätzlich ein Versuch, bestehende Anreizstrukturen außer Kraft zu setzen, was praktisch erfolglos bleibt. 74 Aufforderungen zu einem Bewusstseinswandel und moralische Appelle, die eine Korrektur der 73 Buchanan 1975, 78; Vgl. auch Brennan und Buchanan 1985/1993, 90. 74 Es ist durchaus legitim, sich auf Frage abstrakter Ethikbegründungen zu konzentrieren – man muss sich

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Ordnungsethik und ihre ethischen Quellen

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individuellen Präferenzen verlangen, laufen ins Leere. Ordnungsethik stellt gerade dies in Rechnung. Sie kann analog zur Individualethik – und natürlich ebenfalls idealtypisch – durch eine These und eine Forderung charakterisiert werden: These OE: An moralisch fragwürdigen Zuständen sind nicht unmoralische Präferenzen oder Ziele, sondern bestimmte Interaktionsstrukturen schuld. Forderung OE: Daher müssen moralische Forderungen – jedenfalls dann, wenn ihre praktische Umsetzung angestrebt wird – darauf gerichtet sein, die für alle Akteure geltenden Bedingungen, d. h. Regeln zu ändern. Die moralische Steuerung einer Gesellschaft geschieht somit durch Veränderung von Anreizstrukturen. Im Gedankenexperiment gehen die Raumschiffinsassen – sozialwissenschaftlich informiert – ebenfalls davon aus, dass Dilemmastrukturen in der neu zu gründenden Gesellschaft vorherrschen werden.75 Aufgrund der Interaktionen in einer mit Knappheitsproblemen kämpfenden Welt werden sich zwangsläufig solche Strukturen ergeben. Die Insassen werden sich also, vor das Problem der sozialen Ordnung in einer Welt von Dilemmastrukturen gestellt, entsprechende Anreizstrukturen und Sanktionen zuschneiden müssen. Sie können nicht dauerhaft und systematisch auf Gesinnungs- oder Bewusstseinswandel hoffen. Hierüber muss allerdings erst ein Konsens der Vertragschließenden zustande kommen. Doch falls die Individuen übereinstimmen, ihre Situation verbessern zu wollen, kommen sie schließlich nicht umhin, die Perspektive der Ordnungsethik anzunehmen. Die Sanktionierung kann dann – da aufgrund des bereits vorhandenen Wertpluralismus und aufgrund der angenommenen Größe der Raumschiffbesatzung nicht mit einer Face-to-Face-Gesellschaft zu rechnen ist – nur auf dem Wege der Institutionen erfolgen. Diese können durch Theoretiker entworfen und den Vertragschließenden vorgeschlagen werden. 4 Kritik an der Ordnungsethik Um einige Standardeinwände gegen die Ordnungsethik zu entkräften, sind mehrere Klarstellungen erforderlich: a) Die Ordnungsethik setzt auf Verbesserungen für alle, d. h. auf (strikte oder starke) Pareto-Verbesserungen, die alle beteiligten und betroffenen Individuen besser stellen. Wichtig ist: Paretosuperiorität ist als Kriterium nur für Regeln, nicht für einzelne Maßnahmen bzw. Handlungen zu fordern. Einzelne Maßnahmen, die durch Regeln zustande kommen, können immer Einzelne oder Gruppen schlechter stellen. Aber Paretosuperiorität von Regeln heißt, dass diese kurzfristigen ‚Verlierer‘ – in einem überschaubaren Zeitrahmen – nicht nur kompensiert werden, sondern sich gegenüber ihrer Ausgangsposition auch explizit verbessern.

jedoch bewusst sein, dass man auf diese Weise noch keine Ethik unter modernen Bedingungen konzipieren kann. 75 Diesen Punkt macht Rawls (1971/1993) zumindest nicht explizit, obwohl er davon ausgeht, dass sich die Vertragschließenden in der original position über die allgemeinen Funktionsprinzipien der künftigen Gesellschaft im Klaren sind.

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Christoph Lütge

b) Individuen können – sowohl in unternehmerischer als auch in ethischer Hinsicht – in die Zukunft investieren. Der Einwand, viele Menschen handelten doch moralisch, ohne auf ihren Vorteil bedacht zu sein, lässt sich in vielen Fällen durch den Hinweis entkräften, dass man diese Handlungen als Vorleistungen in der Hoffnung auf zukünftige Kooperation, also als Investitionen mit der Hoffnung auf zukünftige Auszahlungen, betrachten kann. 76 Da Menschen und Unternehmen in jeder Hinsicht investieren können, warum nicht auch in Moral? Gerade besonders raffiniert auf ihren (u. U. sehr) langfristigen Vorteil bedachte Akteure müssen moralische Investitionen tätigen. c) Bei der Bestimmung paretosuperiorer Maßnahmen müssen adäquate Vergleichsregeln gewählt werden. Es darf – im Sinne von H. Demsetz77 – kein ‚Nirwana-Vergleich‘ angestellt, sondern es müssen die relevanten Alternativen herangezogen werden. Relevant sind vor allem alternative Zukunftsszenarien, die ohne Regeländerungen eingetreten wären oder eintreten würden. Dies ist besonders dann entscheidend, wenn sich durch eine vorgeschlagene Regeländerung für Partei A eine – zumindest prima facie – Schlechterstellung aus dem Anfangszustand Z0 ergäbe. A landete im Zustand Z1 < Z078 und würde einer solchen Änderung offenbar nicht zustimmen. Wenn jedoch damit zu rechnen ist, dass sich die Situation für A ohne Änderung im Vergleich zu Z1 noch weiter verschlechtern würde, das heißt zu Z2 < Z1, dann ließe sich doch mit einer Zustimmung von Seiten des A rechnen. A käme damit einer faktischen Schlechterstellung in einem alternativen, empirisch plausiblen, Zukunftsszenario zuvor. Auf diese Weise dürften sich viele empirisch beobachtbare Zustimmungen zu Primafacie-Schlechterstellungen erklären lassen. Solche scheinbaren Schlechterstellungen, die von manchen Autoren79 als Belege dafür gewertet werden, dass bei jeder Regeländerung faktisch immer Einzelne oder Gruppen schlechter gestellt würden, können dennoch in dem erörterten Sinn paretosuperior sein. Als Beispiel kann die Zustimmung der weißen Bevölkerung zu den demokratischen Reformen in Südafrika seit 1994 dienen, ohne die diese Bevölkerungsanteile mit noch wesentlich schlechteren Zuständen (gewaltsame Revolution o. ä.) rechnen mussten. Für die Entwicklungspolitik insgesamt (und für die diesbezüglichen ethischen Probleme) ist dieser Punkt von großer Bedeutung: In vielen Ländern müssen korrupte Eliten davon überzeugt werden, dass sie sich durch Abgabe von Macht gegenüber alternativen Szenarien immer noch vergleichsweise besser stellen. d) Nicht selten wird gegen vertragstheoretische Entwürfe der Einwand vorgebracht, die Individuen würden ihre eigenen Interessen ja gar nicht kennen. Nur auf der Basis ihrer ‚wahren‘ Interessen wären sie bereit, Regeln zuzustimmen, die – zumindest im Einzelfall – gegen die eigenen Interessen verstießen. Vertragstheorien führen an dieser Stelle Argumente wie das des „Schleiers des Nichtwissens“80 oder des „Schleiers der Unsicherheit“81 an. Die Individuen werden in eine Situation versetzt, in der ihnen bestimmte Informationen fehlen, um

76 77 78 79 80 81

Für Beispiele vgl. Suchanek 2001, der den Gedanken der ständigen Investition in Moral stark betont. Demsetz 1969, 1–22; vgl. entsprechend Homann 1988, 101. Die Relation „