Die Philosophie der Oberfläche: Medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Äußerlichkeiten und ihre tiefere Bedeutung 9783839450840

Die Oberfläche hat keinen guten Ruf. Wer sich mit ihr beschäftigt, so die Warnung, lasse sich von trügerischem Schein ve

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German Pages 286 Year 2020

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Inhalt
Einleitung
1 Begriffsgeschichte
2 Aktueller Forschungsstand und historischer Diskurs
Wie Oberflächen erscheinen
3 Die Oberfläche als ambivalentes Phänomen zwischen Innen und Außen.Zum Erscheinungsbegriff Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Martin Heideggers unter Berücksichtigung der Theorie des Verdachts
4 Nur ein Randphänomen?Zur materiellen Faktizität der Oberfläche
5 Zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz– oder: ist die Oberfläche ein Medium?
5.1 Materialität und aisthesis. Zur medialen Vermittlung von Präsenz
5.2 Materialität und semiosis. Zur medialen Vermittlung von Sinn
5.3 Die mediale Ambivalenz der Oberfläche zwischen Opazität und Transparenz
Wie wir Oberflächen wahrnehmen
6 Der Blick des Verdachts. Über das Verhältnis von unmittelbarer und transzendenter Wahrnehmung
6.1 Zwischen Draufblick und Durchblick. Wie wir Oberflächen lesen
6.2 Verdächtige Anzeichen. Die Oberfläche im Visier des Ermittlers
6.3 Das perfekte Verbrechen der Oberfläche: die Tiefe
7 Zur ästhetischen Wahrnehmung der Oberfläche
7.1 Aisthetische und ästhetische Wahrnehmung
7.2 Ästhetik als Wahrnehmung unterbestimmter Realität
7.3 Die Imagination der verlorenen Zeit
7.4 Zwischen Faktizität und Fiktion.Über die Wahrnehmung von Erscheinungsdimensionen
Wie sich uns Oberflächen darstellen
8 Die »zweite Haut« des Menschen. Über die Hüllen der Bekleidung
8.1 Kleidung als textile Schutzhülle
8.2 Kleidung als inszenatorisches Mittel zwischen Ver- und Enthüllung.Über die nackte Wahrheit und die Strategie der Verführung
8.3 Die dekorativen Hüllen der Kleidermode. Zur Semiotik des Schmucks
9 Die »dritte Haut« des Menschen. Über die Hüllen der Architektur
9.1 Das schützende Kleid der Architektur
9.2 Inside, outside – inside out. Vom Ver- und Enthüllen des Raumes
9.3 Oberflächlicher Putz. Die Wand als Schmuck- und Zeichenträger
9.3.1 Ornament als Oberflächenkunst– oder: das Blümchenkleid des Jugendstils
9.3.2 Das Ornament als schmückendes Zeichen.Zur Modearchitektur der Postmoderne
Fazit
Literaturverzeichnis
Aufsätze und Monografien
Wörterbücher
Sonstige Quellen
Abbildungsverzeichnis
Danksagung
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Die Philosophie der Oberfläche: Medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Äußerlichkeiten und ihre tiefere Bedeutung
 9783839450840

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Clemens Rathe Die Philosophie der Oberfläche

Edition Medienwissenschaft  | Band 71

Clemens Rathe (Dr. phil.) hat Medien- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf studiert und forscht zum Phänomen der Oberfläche in Philosophie, Literatur, Mode und Architektur.

Clemens Rathe

Die Philosophie der Oberfläche Medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Äußerlichkeiten und ihre tiefere Bedeutung

Die Dissertation wurde unter dem Titel »Die Philosophie der Oberfläche« bei der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität eingereicht. D61

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Grab bars ladder in the blue swimming pool. 3d render, spf/Adobe Stock Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5084-6 PDF-ISBN 978-3-8394-5084-0 https://doi.org/10.14361/9783839450840 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Einleitung .............................................................................................. 9 1

Begriffsgeschichte .............................................................................19

2

Aktueller Forschungsstand und historischer Diskurs .................................... 27

Wie Oberflächen erscheinen 3

Die Oberfläche als ambivalentes Phänomen zwischen Innen und Außen. Zum Erscheinungsbegriff Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Martin Heideggers unter Berücksichtigung der Theorie des Verdachts ...................................... 49

4

Nur ein Randphänomen? Zur materiellen Faktizität der Oberfläche .................................................. 61

5

Zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz – oder: ist die Oberfläche ein Medium?..................................................... 69 5.1 Materialität und aisthesis. Zur medialen Vermittlung von Präsenz ............................ 71 5.2 Materialität und semiosis. Zur medialen Vermittlung von Sinn ................................. 76 5.3 Die mediale Ambivalenz der Oberfläche zwischen Opazität und Transparenz............. 80

Wie wir Oberflächen wahrnehmen 6

Der Blick des Verdachts. Über das Verhältnis von unmittelbarer und transzendenter Wahrnehmung .............................................................. 93 6.1 Zwischen Draufblick und Durchblick. Wie wir Oberflächen lesen ..............................95 6.2 Verdächtige Anzeichen. Die Oberfläche im Visier des Ermittlers .............................. 99 6.3 Das perfekte Verbrechen der Oberfläche: die Tiefe .............................................. 110

7 7.1 7.2 7.3 7.4

Zur ästhetischen Wahrnehmung der Oberfläche .......................................... 117 Aisthetische und ästhetische Wahrnehmung ...................................................... 118 Ästhetik als Wahrnehmung unterbestimmter Realität ...........................................120 Die Imagination der verlorenen Zeit ................................................................ 123 Zwischen Faktizität und Fiktion. Über die Wahrnehmung von Erscheinungsdimensionen......................................... 129

Wie sich uns Oberflächen darstellen 8 Die »zweite Haut« des Menschen. Über die Hüllen der Bekleidung ................... 143 8.1 Kleidung als textile Schutzhülle........................................................................ 144 8.2 Kleidung als inszenatorisches Mittel zwischen Ver- und Enthüllung. Über die nackte Wahrheit und die Strategie der Verführung .................................. 152 8.3 Die dekorativen Hüllen der Kleidermode. Zur Semiotik des Schmucks ...................... 174 9 9.1 9.2 9.3

Die »dritte Haut« des Menschen. Über die Hüllen der Architektur .................... 189 Das schützende Kleid der Architektur................................................................ 192 Inside, outside – inside out. Vom Ver- und Enthüllen des Raumes............................198 Oberflächlicher Putz. Die Wand als Schmuck- und Zeichenträger ........................... 223 9.3.1 Ornament als Oberflächenkunst – oder: das Blümchenkleid des Jugendstils .............................................. 224 9.3.2 Das Ornament als schmückendes Zeichen. Zur Modearchitektur der Postmoderne .................................................... 238

Fazit.................................................................................................. 249 Literaturverzeichnis ................................................................................ 261 Aufsätze und Monografien ...................................................................................... 261 Wörterbücher ..................................................................................................... 277 Sonstige Quellen.................................................................................................. 278 Abbildungsverzeichnis ............................................................................. 279 Danksagung......................................................................................... 283

Surface Is Illusion but So Is Depth. David Hockney I never said I was deep But I am profoundly shallow. Jarvis Cocker

Einleitung

Erschöpft von der Jagd lässt sich Narziss am Rande einer Quelle nieder, um zu trinken. Als seine Lippen sich der Wasseroberfläche nähern, erblickt er jedoch sein Spiegelbild und erschrickt. Narziss ist von seinem Äußeren so eingenommen, dass er die täuschende Erscheinung nicht durchschaut: »[…] was Wasser ist, hält er für Körper«1 . Sehnsüchtig greift Narziss immer wieder nach der Oberfläche des Wassers, bis er schließlich bei dem Versuch, sein Spiegelbild zu umarmen, stirbt. Der Mythos von Narziss in Ovids Metamorphosen warnt nicht nur vor selbstsüchtiger Eigenliebe oder der Illusion von ewiger Jugend und Schönheit. Der Mythos von Narziss warnt auch vor der Oberfläche. Denn die Oberfläche, so die Moral der Geschichte, trügt. Was sie uns zeigt, ist nur eine Täuschung – sichtbar zwar, aber doch nicht echt.2 Wann immer also Narziss die Erscheinungen an der Wasseroberfläche zu ergreifen versucht, verschwinden sie. Denn die Oberfläche verspricht viel, hält aber nur wenig. Sie ist sprichwörtlich »mehr Schein als Sein«.3 Dieser Vorwurf des Trügerischen, welcher der Oberfläche bis heute anhaftet und sie zu einem defizitären Phänomen herabsetzt, soll in hier hinterfragt werden. Dabei geht es jedoch weder darum, die Oberfläche als ein ganz und gar unverfängliches Phänomen zu beschreiben, noch ihr eine Tiefe zuzusprechen, die sie nicht hat. Dieser Band macht den Vorschlag, die Oberfläche als ein ambivalentes Phänomen zwischen Innen und Außen zu begreifen, welches von Inhalten nicht ablenkt, 1 Ovidius Naso, Publius: Metamorphosen. 1964, S. 189. 2 Vgl. Ringleben, Joachim: Woran stirbt Narziß? Widerhall und Spiegelbild als tödlicher Schein. 2004, S. 363-364. 3 Vgl. Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik. 1953, S. 75: »Sein und Schein besagt: Wirkliches im Unterschied und Gegensatz zum Unwirklichen; Echtes entgegen dem Unechten. In dieser Unterscheidung liegt zugleich eine Abschätzung, bei der das Sein den Vorzug erhält. […] Das Scheinbare ist das zuweilen Auftauchende und ebenso flüchtig und haltlos wieder Verschwindende gegenüber dem Sein als dem Ständigen. Die Unterscheidung von Sein und Schein ist uns geläufig, auch eine der vielen abgegriffenen Münzen, die wir im flach gewordenen Alltag unbesehen von Hand zu Hand reichen. Wenn es hochkommt, gebrauchen wir die Unterscheidung als eine moralische Anweisung und Lebensregel, den Schein zu meiden und statt seiner das Sein anzustreben: ›mehr sein als scheinen‹.«

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Die Philosophie der Oberfläche

sondern den Zugang zu diesen überhaupt erst ermöglicht.4 Die Bestimmung der Oberfläche als »oberflächlich« soll also infrage gestellt und der weitverbreitete Vorwurf des Trügerischen relativiert werden. Schließlich begegnen wir diesem Vorwurf nicht nur in der Geschichte von Narziss. Die Vorstellung einer trügerischen Oberfläche ist ein zentraler Gedanke der antiken Philosophie, der das abendländische Denken entscheidend geprägt hat. Vor allem Platons Philosophie hat hierauf starken Einfluss ausgeübt. In seiner Ideenlehre unterteilt Platon die Wirklichkeit in sichtbare Objekte und deren verborgene Ideen.5 Während die Ideen für ihn absolute und unveränderliche Wahrheiten sind, stellen die Objekte dagegen nur vergängliche Gestalten dar.6 Platon vollzieht mit diesem Schritt die folgenreiche Trennung zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit. So bestimmt er die Idee (oder das Wesen) als das Innere der Wirklichkeit, deren Wahrheit hier – wie in einem Kern – enthalten ist. Die sichtbare Erscheinung der Objekte definiert er dagegen als das Äußere der Wirklichkeit, die jedoch wie eine undurchdringliche Hülle die darunter befindliche Wahrheit verdeckt. Auch und gerade die Oberfläche steht damit in größtmöglicher Distanz zur Wahrheit. Da nun aber die Wahrheit das erklärte Ziel des philosophischen Erkenntnisstrebens darstellt, verlangt es die Moral jener Denktradition, sich nur auf die Kehrseite der Oberfläche – sprich: die Tiefe – zu konzentrieren. »Denn«, so Demokrit, »in der Tiefe liegt die Wahrheit.«7 Eine der wichtigsten Aufgaben der antiken Philosophie bestand folglich darin, die trügerischen Erscheinungen der Oberfläche zu durchschauen, um der darunter verborgenen Wahrheit näherzukommen.8 So bezeichnete auch der Begriff der Wahrheit (ά ληϑειᾶ ) ursprünglich das Offenbare, dasjenige, was nicht verborgen ist.9 Seither – die Metapher der »nackten Wahrheit« deutet dies an – scheint uns offensichtlich immer nur das als »wahr«, was sich uns tief ergründet, nackt und hüllenlos präsentiert. Die Oberfläche, die diese Wahrheit vermeintlich umhüllt, gilt dagegen als unwahr und verdächtig. Von dieser Annahme ausgehend wird menschliches Denken, Fühlen und Urteilen allgemein gering geschätzt, solange es sich nur auf die Oberfläche bezieht.10 Im Unterschied zum vermeintlich »tiefen« Denken und Handeln gilt das Vertrauen in 4 Vgl. Arburg, Hans-Georg von: Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater. 2008, S. 7. 5 Vgl. Platon: Phaidon. In: Eigler, Gunther (Hg.): Werke in acht Bänden. Bd. 3, 2001, 79 a-e, S. 73-75. 6 Vgl. Platon: Politeia. In: Eigler, Gunther (Hg.): Werke in acht Bänden. Bd. 4, 2001, 514a, S. 555ff. 7 Demokritos: Fragmente. In: Diels, Hermann; Kranz, Walter (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Bd. 2, 1960, S. 166. 8 Vgl. Heraclitus, Ephesius: Fragmente. Hg. von Bruno Senell. 1944, B 123, S. 37: »Das Wesen der Dinge versteckt sich gern.« 9 Vgl. Frisk, Hjalmar: Griechisches Etymologisches Wörterbuch. Bd. 1, 1960, S. 71. 10 Vgl. Rolf, Thomas: Tiefe. In: Konersmann, Ralf (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern. 2011, S. 466.

Einleitung

die Oberfläche als eine unkritische Rezeptionsweise, die sich nur mit dem Offensichtlichen begnügt.11 Häufig wird mit dem Konzept der Oberfläche aber auch der Vorwurf laut, sie stünde in Verbindung zu einer rein konsumorientierten Lebensweise, die anstelle von spiritueller und geistiger Tiefe nur von weltlichen Begierden geleitet sei. Während also der »oberflächliche Zustand der Weltbegegnung […] als eine flüchtige Berührung mit Menschen und Dingen aufgefasst«12 wird, könne nur das tiefe Denken die banale Schauseite der Welt überwinden. Wenn auch das Misstrauen gegenüber den Oberflächen scheinbar als eine moralische Pflicht gilt, so ist der Mensch doch tagtäglich von Oberflächen umgeben. Unweigerlich muss er sich mit ihnen auseinandersetzen; er benötigt sie, um seine Umwelt zu erfahren und sich in der Welt zurechtzufinden. Ganz gleich ob nun ein Dermatologe die Haut eines Patienten begutachtet, ein Polizist einen Tatort nach Spuren absucht, wir ein Bild betrachten oder uns durch einen Raum bewegen: Oberflächen umgrenzen die Objekte unserer Umwelt und verleihen ihnen eine sinnliche Präsenz. Damit prägen Oberflächen jedoch nicht nur unsere Umwelt, sondern bieten uns überhaupt erst die Möglichkeit, diese wahrzunehmen. Wann immer wir uns also mit der Welt und ihren Objekten auseinandersetzen, befassen wir uns auch mit ihren Oberflächen. Unablässig sind wir damit beschäftigt, diese zu betrachten, zu fühlen, zu lesen oder zu deuten.13 Selbst die gedankliche, tiefe Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, wie sie in der Tradition der abendländischen Philosophie beschrieben wird, beginnt zunächst an der Oberfläche. Schließlich muss der Mensch seine Umwelt zuallererst wahrgenommen haben, damit sich sein Denken von ihr lösen und neue Bereiche erschließen kann: »Die in die Tiefe drängende Neugierde«, so beschreibt es der Philosoph Thomas Rolf, »kann nicht bei Nichts beginnen, sondern muß an der Oberfläche ihren Ausgang nehmen.«14 Oberflächen bilden jedoch nicht allein deshalb den Anfang für eine tiefergehende Beschäftigung mit der Wirklichkeit, weil sie den Objekten eine wahrnehmbare Erscheinung verleihen. Sie sind gerade auch dadurch Auslöser tiefer Denkprozesse, insofern sie uns über die Hintergründe unserer Umwelt sowie deren Erscheinungen im Unklaren lassen. Die an der Oberfläche wahrnehmbare Diskrepanz von erkennbarem Vorder- und vermutetem Hintergrund weckt unsere Neugierde und treibt uns dazu, dem Gesehenen auf den Grund zu gehen. Unser Verstand wird durch die Erscheinungen der Oberfläche dazu animiert, ihren Widersprüchlichkeiten nachzuforschen und das Rätsel des Davor und 11 Vgl. Gracian, Balthasar: Handorakel und Kunst der Weltklugheit. 1980, S. 73: »Der Trug ist etwas sehr Oberflächliches: daher treffen, die es selbst sind, gleich auf ihn.« 12 Rolf: Tiefe, S. 466. 13 Vgl. Assmann, Aleida: Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose. In: Gumbrecht, Hans Ulrich; Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.): Materialität der Kommunikation. 1988, S. 240. 14 Rolf: Tiefe, S. 464.

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Die Philosophie der Oberfläche

Dahinter zu lösen.15 Indem Oberflächen sowohl zeigen als auch verbergen, verleihen sie Sachverhalten eine gleichermaßen wahrnehmbare wie geheimnisvolle Erscheinung. Das Wissen von der Wirklichkeit und ihren Objekten entwickelt sich somit stets, wie es Michel Foucault formuliert, »in einem Spiel von Einhüllungen und Enthüllungen«.16 Wenngleich eine Philosophie im Sinne Platons auch dazu aufruft, der Oberfläche zu misstrauen und stattdessen »tief« zu forschen, so weist sie unserem Erkenntnisstreben damit zwar eine Richtung, aber kein konkretes Ziel. Was sie als gangbaren Weg der Vernunft und tiefergehenden Einsicht propagiert, erweist sich in der Realität doch meist als vages Tasten an der Oberfläche der Dinge. Denn Erkenntnisse entwickeln sich immer nur zögerlich, in einem Bereich zwischen Oberfläche und Tiefe, zwischen Bekanntem und (noch) Unbekanntem.17 Darüber hinaus muss der lange und unbekannte Weg in die Tiefe immer wieder durch objektive Erkenntnisbegriffe gesichert werden.18 Damit sich die in der Tiefe gewonnenen Erkenntnisse auch nachvollziehen lassen, müssen diese zur Verdeutlichung sprichwörtlich »an die Oberfläche geholt« werden. Auf dem Weg in die Tiefe bilden sich so unaufhörlich neue Oberflächen, die als »Basislager« für weitere, noch tiefere Erkundungen dienen. Ohne Oberflächen, so scheint es, können wir keine Tiefen erreichen – wie auch umgekehrt sich keine Tiefe ohne Oberfläche vermitteln lässt. Ungeachtet dessen bleibt das Misstrauen gegenüber der Oberfläche – das in der Antike beginnt, zur Zeit der Aufklärung durch erkenntnistheoretischen Ehrgeiz verstärkt wird und sich bis in unsere Gegenwart zieht – scheinbar weiterhin bestehen. Gleichzeitig sieht es nicht danach aus, als ob man den Vorstellungen einer nackten, allumfassenden Wahrheit hierdurch entscheidend näher gekommen wäre. Die erheblichen wissenschaftlichen Anstrengungen, die aufgebracht wurden, um die Oberflächen unserer Welt zu durchschauen, haben neben vielen Antworten stets eine Unzahl an neuen Fragen aufgeworfen. Dies gilt auch für die enormen technischen Entwicklungen, die seit dem 20. Jahrhundert vorangetrieben wurden und die es uns ermöglichen, Oberflächen – etwa mittels Röntgenstrahlungen oder Ultraschall – buchstäblich zu »durchleuchten«. Sie ermöglichen zwar einen tiefergehenden Einblick in die von der Oberfläche verborgenen Tiefenschichten, führen deshalb aber nicht automatisch zu »tiefen« Erkenntnissen. »Erst wenn man die Oberfläche der Dinge kennengelernt hat«, so lässt Italo Calvino sein Alter Ego Herr Palomar im gleichnamigen Roman feststellen, »[…] kann man sich aufmachen, um herauszufinden, was darunter sein mag. Doch die 15 Vgl. Goller, Miriam; Heldt Guido: Exposé zum Thema des Heftes: Oberflächen. In: Plurale. Zeitschrift für Denkversionen. Heft 0, S. 9. 16 Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. 1988, S. 179. 17 Vgl. Rolf: Tiefe, S. 464. 18 Vgl. ebd., S. 465.

Einleitung

Oberfläche der Dinge ist unerschöpflich.«19 So sehr wir uns also auch bemühen mögen, die Erscheinungen der Oberfläche zu durchschauen, um deren Geheimnis auf den Grund zu gehen, erweisen sie sich in letzter Konsequenz doch immer wieder als undurchschaubar. »Ist es möglich«, so fragt Rainer Maria Rilke in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, »daß man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist? […] Ja, es ist möglich.«20 Unser Streben nach Erkenntnis ist somit nicht als ein abschließbares Projekt zu begreifen, sondern stellt sich als ein Prozess von permanenten Enthüllungen dar. Ausgangspunkt für jede neue Enthüllung ist und bleibt aber die Oberfläche. Oder, wie es der Fotograf Richard Avedon formuliert: »The surface is all you’ve got. You can only get beyond the surface by working with the surface.«21 Allen Vorbehalten zum Trotz ist die Oberfläche doch zwangsläufig das zentrale Medium, um sich mit der Welt und ihren Phänomenen auseinanderzusetzen. Als eine Grenzfläche zwischen dem Inneren und Äußeren von Objekten bildet die Oberfläche einen Schauplatz für das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Zustände und Eigenschaften. Sie vereint damit nicht nur Gegensätze wie die von sichtbar und unsichtbar oder materiell und immateriell, sondern gibt zugleich die Wirklichkeit in all ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit wieder. Wer nun die Oberfläche allein in der Hoffnung auf verlässliche und transparente Einblicke betrachtet, wird diese Widersprüchlichkeit als trügerisch und unberechenbar erfahren. Denn Oberflächen sind unweigerlich trügerisch, solange sie nach dem platonischen Dualismus von wesenlosem Äußeren und wahrhaftem Inneren beurteilt werden.22 Geht man jedoch davon aus, »dass die Wirklichkeit sich«, wie es Bernhard Waldenfels beschreibt, »immer nur in variablen Gestalten, Strukturen, Regelungen und Ordnungsgefügen darstellt«,23 so verlieren sie ihren trügerischen Charakter. Die Oberfläche steht dann nicht mehr im Kontrast zur Tiefe, sondern ermöglicht vielmehr aufgrund ihrer ambivalenten Erscheinung einen komplexen und beziehungsreichen Zugang zur Wirklichkeit. Eine vorurteilsfreie Betrachtung ihrer Erscheinungen ist dafür jedoch unerlässlich. Nur wenn wir die Oberfläche mit einem Bewusstsein betrachten, das für die Vielzahl an unterschiedlichen Eindrücken offen ist, kann sich ihr Potential erst entfalten. Dies bestätigt 19 20 21 22

Calvino, Italo: Herr Palomar. 1987, S. 64. Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. 2000, S. 24. Avedon, Richard: Richard Avedon Photographs 1946-2004. 2007, S. 178. Vgl. Waldenfels, Bernhard: Fiktion und Realität. In: Oelmüller, Willi (Hg.): Ästhetischer Schein. Kolloquium: Kunst und Philosophie. Bd. 2, 1982, S. 99. 23 Ebd., S. 99.

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Die Philosophie der Oberfläche

auch Oscar Wilde, wenn er beklagt: »Heutzutage sind die Menschen so vollendet oberflächlich, daß sie die Philosophie des Oberflächlichen nicht begreifen.«24 Dieses Zitat Wildes ist für den vorliegenden Band nicht nur namensgebend, sondern auch in konzeptioneller Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Anders als es vielleicht zu erwarten wäre, handelt es sich hierbei allerdings nicht um eine philosophische, sondern um eine medien- und kulturwissenschaftliche Arbeit. Doch warum, so die berechtigte Frage, ist im Titel dann von einer »Philosophie der Oberfläche« die Rede? Um diese Frage genauer beantworten zu können und zugleich das Ziel dieses Buches zu erläutern, lohnt es sich an dieser Stelle kurz auf das Zitat Oscar Wildes einzugehen. Wie im Folgenden noch ausführlicher beschrieben wird, taucht der Begriff »Oberfläche« erst im 20. Jahrhundert in der Philosophie auf. Bis dahin richtet sich das Interesse der Philosophie bekanntlich nur auf die Tiefe. »Die Metapher der Tiefe«, so formuliert es Thomas Rolf, »ist seit den Anfängen im Diskurs der Philosophie verankert – so fest, dass man beinahe von einer Wahlverwandschaft zwischen philosophischer Reflexion und geistigem Tiefgang […] sprechen kann«25 . »Tiefe«, so Rolf weiter, »ist […] eine umfassende bildliche Angabe der Richtungen und Zielorte einer Praxis, die im ganzen Philosophieren heißt.«26 Eine Beschäftigung mit der Oberfläche wäre im Sinne dieser Vorstellung geradezu un-philosophisch. Dies erklärt nun auch, weshalb der Begriff »Oberfläche« in der Philosophie – mit Ausnahme einiger Aphorismen Friedrich Nietzsches – erst im 20. Jahrhundert Erwähnung findet. Im Hinblick auf das obige Zitat lässt sich somit festhalten, dass es jene »Philosophie des Oberflächlichen«, von der Oscar Wilde hier spricht, überhaupt nicht gegeben hat. Was manchen heutigen Lesern entgehen mag, ist also der nihilistische Impetus, der sich hinter Wildes spöttisch leichtem Ton verbirgt. Wilde war nicht nur ein Zeitgenosse von Nietzsche sondern auch eine Art Bruder im Geiste.27 Wie der Anglist und Schriftsteller Joachim Zelter in seiner Dissertation »Sinnhafte Fiktion und Wahrheit«28 überzeugend darlegt, so ist auch Wilde als ein »Umwerter der Werte« zu begreifen. Auch er suchte die bürgerlichen Moral- und Wertevorstellungen seiner Zeit, mit ihrem Glauben an vermeintlich gültige Konzepte wie »Wahrheit«, 24 Wilde, Oscar: Eine Frau ohne Bedeutung. In: Kohl, Norbert (Hg.): Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 3, 1982, S. 119. 25 Rolf: Tiefe, S. 463. 26 Ebd., S. 463-464. 27 Oscar Wilde (*16.10.1854; †30.11.1900) ist fast auf den Tag genau zehn Jahre jünger als Friedrich Nietzsche (*15.10.1844; †25.08.1900). 28 Vgl. Zelter, Joachim: Sinnhafte Fiktion und Wahrheit. Untersuchungen zur ästhetischen und epistemologischen Problematik des Fiktionsbegriffs im Kontext europäischer Ideen- und englischer Literaturgeschichte. 1994.

Einleitung

»Natur« oder »Erkenntnis« auf den Kopf zu stellen.29 Anders als Nietzsche philosophierte er nun jedoch nicht mit dem Hammer, sondern mit unterhaltensamen – um nicht zu sagen: oberflächlichen – Theaterstücken. Die bittere Medizin Nietzsches verabreichte er seinem Publikum so auf einem Stück Zucker. Wenn Wilde nun also von einer »Philosophie« der Oberfläche spricht, so tut er dies um die Ideale des viktorianischen Zeitalters sowie das Gebot der Ernst- und Wahrhaftigkeit (die Importance of Being Ernest) herauszufordern. Er kritisiert daher auch nicht die Oberfläche selbst, sondern nur die gewohnheitsmäßige Abwertung derselben. Indem er die abschätzige Haltung gegenüber der Oberfläche verurteilt, verweist er damit aber doch implizit auf ein mögliches Konzept – oder eben eine »Philosophie« – der Oberfläche, die mehr ist als nur »oberflächlich«. Im Kontext der üblichen Herabsetzung der Oberfläche wurde einer derartigen »Philosophie« bislang jedoch kaum Beachtung geschenkt. Gleichzeitig lassen sich allerdings immer wieder einzelne Beispiele und Umschreibungen ausmachen, die – parallel zum Narrativ der trügerischen Oberfläche – eine vielschichtigere Vorstellung von der Oberfläche andeuten. Diese verborgene oder apokryphe »Philosophie« der Oberfläche nun genauer zu beschreiben, um zugleich einen Eindruck von der Erscheinungs- und Bedeutungsvielfalt der Oberfläche zu geben, ist das Ziel des vorliegenden Bandes. Im Zentrum stehen dabei drei Fragen, die jeweils in separaten, aufeinander aufbauenden Abschnitten erörtert werden: Wie erscheinen Oberflächen? Wie nehmen wir Oberflächen wahr? Und: Wie stellen sich uns Oberflächen dar? Die Unterteilung in diese drei Abschnitte geschieht jedoch allein aus heuristischen Gründen. Zweifelsohne bilden das Erscheinen, Wahrnehmen und Darstellen von Oberflächen eine Einheit und sind daher stets zusammenzudenken. In Kapitel 1 und Kapitel 2 werden mit der Begriffsgeschichte sowie dem aktuellen Forschungsstand und dem historischen Diskurs über die Oberfläche zunächst die theoretischen Grundlagen gelegt, die für das Verständnis der weiteren Untersuchung vonnöten sind. Der erste Abschnitt beschäftigt sich dann mit der Frage, wie Oberflächen erscheinen. Einen zentralen Ausgangspunkt bildet hierfür der Begriff der Erscheinung in der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Martin Heideggers, der in Kapitel 3 ausführlich beschrieben wird. Sowohl bei Hegel als auch bei Heidegger lässt sich ein Erscheinungsbegriff ausmachen, mit dessen Hilfe die Oberfläche als ein ambivalentes Phänomen zwischen Innen und Außen bestimmt werden kann. Diese Ambivalenz, so wird unter Zuhilfenahme von Boris Groys’ Theorie des Verdachts verdeutlicht, macht einen »verdächtigen« Eindruck auf uns und lässt uns wiederholt einen verborgenen Bereich hinter der Oberfläche vermuten. In Kapitel 4 wird die Oberfläche noch einmal gesondert im Hinblick auf ihre materielle Faktizität und Eigenschaft als äußere Objektgrenze erörtert. Dabei wird zum einen verdeutlicht, wie sich die Bestimmung der Oberfläche, als 29 Vgl. ebd. S. 113-114.

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Die Philosophie der Oberfläche

eines ambivalenten Phänomens zwischen Innen und Außen, auch in naturwissenschaftlicher Hinsicht bestätigt. Zum anderen wird hier gezeigt, dass die Oberfläche in ihrer materiellen Präsenz und unmittelbaren Gegenwärtigkeit eine essentielle Voraussetzung darstellt, um unsere Umgebung wahrzunehmen. In Kapitel 5 wird dann schließlich der Frage nachgegangen, ob die Oberfläche aufgrund ihrer Zwischenposition zwischen Innen und Außen nicht auch als ein Medium zu begreifen ist. Zwei medientheoretische Ansätze stehen dabei im Vordergrund: ein materialitätsbezogener und ein semiotischer Medienbegriff. Im Sinne eines materialitätsbezogenen Medienbegriffs lassen sich Oberflächen als Wahrnehmungsmedien zwischen Objekt und Subjekt begreifen, die in ihrer materiellen Präsenz sinnlich wahrnehmbare Effekte vermitteln. Der Fokus liegt hierbei auf dem Bereich diesseits der Oberfläche. Im Sinne eines semiotischen Medienbegriffs dagegen lassen sich Oberflächen als Trägermedien für Zeichen begreifen, die Sinngehalte vermitteln. Da diese Sinngehalte jedoch – im Sinne der Semiotik – hinter der Oberfläche verborgen liegen, liegt der Schwerpunkt hier wiederum auf dem Bereich jenseits der Oberfläche. Folgt man nun der negativen Medientheorie, so lassen sich die von der Oberfläche verborgenen Sinndimensionen nur dann vermitteln, wenn die Oberfläche – metaphorisch ausgedrückt – ihre opake Materialität ausblendet bzw. transparent werden lässt. Der materialitätsbezogene und der semiotische Medienbegriff scheinen sich mit ihren unterschiedlichen Fokussierungen, auf Präsenzeffekte einerseits und Sinneffekte anderseits, somit zunächst zu widersprechen. Wie jedoch gezeigt werden soll, schließen sich beide medientheoretischen Ansätze nicht aus. Mit ihren Fokussierungen auf materielle Opazität und semiotische Transparenz skizzieren sie vielmehr zwei Pole eines Spannungsverhältnisses, das für das mediale Erscheinen der Oberfläche sowie deren »Verdächtigkeit« konstitutiv ist. Der zweite Abschnitt geht der Frage nach, wie wir Oberflächen wahrnehmen. Zur Beantwortung werden in Kapitel 6 zwei Wahrnehmungsweisen identifiziert, die kongruent sind zur medialen Ambivalenz der Oberfläche zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz: zum einen ein unmittelbarer Blick auf die Oberfläche, um ihre materielle Präsenz zu erfassen; zum anderen ein – metaphorischer – Blick durch die Oberfläche hindurch, um ihre verborgenen Sinndimensionen zu erfassen. Beide Wahrnehmungsweisen, so wird verdeutlicht, bringen sich wechselseitig hervor und sind als ein Prozess zu begreifen, der – solange es wir mit Oberflächen zu tun haben – zu keinem definitiven Ende kommt. In Kapitel 7 wird dann wiederum gezeigt, wie der Wechsel von einem unmittelbaren Blick auf und einem vermittelten Blick durch die Oberfläche im Rahmen einer ästhetischen Wahrnehmung gewissermaßen verlangsamt und bewusst nachvollzogen werden kann. Der dritte und letzte Abschnitt widmet sich dann schließlich der Frage, wie sich uns Oberflächen darstellen. Dabei steht die These im Vordergrund, dass sich uns

Einleitung

Oberflächen, aufgrund ihrer ambivalenten Position zwischen Innen und Außen, meist als Hüllen präsentieren. Um diese These zu belegen, werden drei charakteristische Eigenschaften der Hülle genannt und in Bezug zur Oberfläche gesetzt. Erstens: Hüllen schirmen das Objekt der Verhüllung nach außen hin ab und bieten dadurch Schutz. Auf den Betrachter macht dies jedoch häufig einen verdächtigen Eindruck und lenkt dessen Aufmerksamkeit überhaupt erst auf das Verhüllte. Da die Hülle seinem Blick als Hindernis entgegentritt, wird das Verhüllte für ihn zu einem verheißungsvollen Geheimnis. Hüllen schützen das Verhüllte somit nicht nur, sondern prägen es zugleich und können – zweitens – als ein Mittel zur Inszenierung verwendet werden. Die Korrelation von ostentativer Verhüllung und angedeuteter Enthüllung, von Zeigen und Verbergen, spielt dabei eine wichtige Rolle. Hüllen können – drittens – aber auch als materielle Träger für Zeichen und Symbole fungieren und das Objekt der Verhüllung dadurch schmücken. Diese drei Eigenschaften der Hülle (Schutz, Inszenierung, Schmuck) werden in den Kapiteln 8 und 9 anhand von zwei Beispielen veranschaulicht: den Oberflächen der Bekleidung und den Oberflächen der Architektur. Bei der Beschreibung dieser Beispiele werden jedoch nicht allein die charakteristischen Eigenschaften der Hülle erläutert, sondern zugleich spezifische Besonderheiten erwähnt, die den jeweiligen Hüllen zu eigen sind. So wird in Bezug auf die Bekleidung gezeigt, wie sich im Wechselspiel von Ver- und Enthüllung bisweilen erotische und erkenntnismäßige Aspekte vereinen. In Bezug auf die Architektur wird hingegen verdeutlicht, wie durch die Akte des Ver- und Enthüllens das architektonisch-räumliche Verhältnis von Innen und Außen nicht nur strukturiert, sondern überhaupt erst hergestellt wird.

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Begriffsgeschichte

Der Begriff »Oberfläche« geht etymologisch auf den lateinischen Ausdruck superficies1 zurück, der sich aus den Wörtern super 2 (»oben« oder »darüber«) und facies3 (»das Äußere«, »das Aussehen« oder »die äußere Erscheinung«) zusammensetzt. Seiner etymologischen Herkunft nach bezeichnet der Begriff »Oberfläche« somit die äußere Begrenzungsfläche bzw. den oberen Teil – sprich: die »Ober-Fläche« – eines Objektes. Wie sich der Begriff »Oberfläche« im deutschen Sprachgebrauch genau entwickelt hat, hat der Germanist Hans-Georg von Arburg in seiner 2008 veröffentlichten Monographie Alles Fassade ausführlich herausgearbeitet.4 Dieses Kapitel bezieht sich daher im Wesentlichen auf die Schilderungen Arburgs und dessen Quellen. Folgt man einschlägigen Wörterbüchern, so wird das Wort »Oberfläche« im Deutschen erstmals im 17. Jahrhundert verwendet.5 Der Begriff taucht hier aber zunächst nur als Übersetzung des lateinischen superficies auf und bleibt ohne weitere inhaltliche Bestimmung.6 Für eine ausführlichere Beschreibung des Begriffs »Oberfläche« sorgte erst der Philosoph Christian Wolff, der das Wort im frühen 18. Jahrhundert in die mathematische Fachsprache einführte.7 Wolff bestimmt die »Oberfläche« dabei als die Außenfläche eines Körpers und unterscheidet sie sogleich von der »Fläche« als einem zweidimensionalen Gebilde.8 1 Vgl. Georges, Karl Ernst: Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Bd. 2, 1967, S. 2936. 2 Vgl. ebd., S. 2928. 3 Vgl. Georges: Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Bd. 1, S. 2656. 4 Vgl. Arburg, Hans-Georg von: Alles Fassade. »Oberfläche« in der deutschsprachigen Literaturund Architekturästhetik 1770-1870. 2008, S. 20-24. 5 Trübners Deutsches Wörterbuch. Hg. von Walther Mitzka, Bd. 5, 1954, S. 5. Trübners Deutschem Wörterbuch zufolge benutzt der Dichter und Autor Philipp von Zesen das Wort »Oberfläche« bereits im Jahr 1648 in einem Werk über Kriegsbaukunst. Vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 7, 1889, S. 1084. Nach dem Grimm’schen Wörterbuch wird der Begriff erst im Jahr 1663 in dem Wörterbuch Ausführliche Arbeit von der Teutschen Haubt Sprache von Justus Georg Schottel erstmalig erwähnt. 6 Vgl. Arburg: Alles Fassade, S. 21. 7 Vgl. Trübners Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, S. 5. 8 Vgl. ebd., S. 5.

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Die Philosophie der Oberfläche

Im allgemeinen Sprachgebrauch kommt der Ausdruck »Oberfläche« erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf.9 Die Oberfläche wird dabei in erster Linie als die obere bzw. äußere Fläche eines dreidimensionalen Körpers bestimmt.10 Joachim Heinrich Campes Wörterbuch der Deutschen Sprache aus dem Jahr 1809 definiert die Oberfläche so z.B. als »[…] die obere Fläche eines Dinges, zum Unterschiede von der Unter- oder Grundfläche und den Seitenflächen. Dann auch die äußere Fläche, das Äußere überhaupt in Gegensatz des Innern, des Mittelpunktes.«11 Wie Hans-Georg von Arburg verdeutlicht hat, ist bereits bei der frühen Verwendung des Wortes »Oberfläche« dessen optische Qualität maßgebend gewesen; eine Eigenschaft die bis heute charakteristisch ist.12 »›Oberfläche‹«, so schreibt er, »ist das, was sich dem Auge eines Betrachters unmittelbar darbietet.«13 Zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert wird der Begriff »Oberfläche« vor allem in den Bereichen der Geographie, Mathematik, Technik, Mineralogie, sowie der Montan- und Agrarwissenschaft verwendet.14 Darüber hinaus taucht der Begriff regelmäßig in den Bereichen von Kunst und Ästhetik auf. Der Ausdruck »Oberfläche« wird hier aber nicht nur in einem materiell-räumlichen,15 sondern auch in einem übertragenen, ideellen Sinne gebraucht.16 Dem Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm zufolge steht »Oberfläche« dann für »die auszenseite (der äuszere schein) als gegensatz des inneren, der tiefe«17 . Wie Arburg verdeutlicht, erhält der Oberflächenbegriff in dieser übertragenen Verwendung jedoch schon relativ bald eine negative Konnotation, die sich vor allem durch den Relationsbegriff der »Tiefe« erklärt. Auch Thomas Rolf weist darauf in dem von Ralf Konersmann herausgegebenen Wörterbuch der philosophischen Metaphern hin. In seinem Eintrag zur »Tiefe« erläutert er, dass der Begriff »Tiefe« auf das lateinische Wort profunditas18 zurückgeht und zunächst eine räumliche Ausdehnungsdimension beschreibt.19 Die Tiefe eines Abgrunds, eines Grabens oder eines Brunnens ließen sich hierfür als Beispiel nennen. Wie das Wort »Oberfläche« lässt sich aber auch das Wort »Tiefe« in einem übertragenen Sinne verwenden. In metaphorischer Umschreibung meine »Tiefe« dann 9 Vgl. ebd., S. 5. Vgl. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 7, S. 1084-1085. 10 Vgl. Arburg: Alles Fassade, S. 21. 11 Campe, Joachim Heinrich: Wörterbuch der Deutschen Sprache. Bd. 3 (L-R), 1809, S. 533. 12 Vgl. Arburg: Alles Fassade, S. 21. 13 Ebd., S. 21. 14 Vgl. ebd., S. 22. 15 Vgl. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 7, S. 1084: »die bildhauerei und malerei stellt oberflächen von körpern dar«. 16 Vgl. Arburg: Alles Fassade, S. 21. 17 Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 7, S. 1084. 18 Vgl. Georges: Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Bd. 2, S. 1969. 19 Vgl. Rolf: Tiefe, S. 467.

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einen verborgenen und schwer zu erforschenden Sachverhalt, der in der Regel jedoch als bedeutsam erachtet werde.20 Bereits seit der Antike spielt »Tiefe« in dieser metaphorischen Verwendung eine zentrale Rolle in der Philosophie. Mit dem Begriff »Tiefe« werden hier allgemein Prinzipien wie Wahrheit, Wesen, Erkenntnis, Sinn oder Bedeutung verknüpft – Prinzipien also, die das ursprüngliche Ziel des philosophischen Denkens definieren. Wie eingangs bereits erwähnt wurde, bestimmt die Metapher der Tiefe den Diskurs der Philosophie von Beginn an und gibt lange Zeit die Richtung der philosophischen Denkwege vor. In Kontrast zu dieser eindeutig positiven Bestimmung der Tiefe fällt jene der Oberfläche nun deutlich negativer aus. Wie Rolf beschreibt, »dient die Metapher der Oberfläche zur Veranschaulichung derjenigen Ausgangssituation, die der Philosoph […] aufgibt, von der er sich losreißt oder aus der es ihn aufgrund seiner besonderen philosophischen Natur fortzieht«.21 Die Oberfläche ist demnach die unbedeutende – bisweilen aber auch trügerische – Gegenseite der Tiefe, die es in dem philosophischen Streben nach Wahrheit und Erkenntnis zu überwinden gilt. Im Laufe der Zeit spitzt sich diese Polarisierung von Oberfläche und Tiefe immer stärker zu, bis zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert die negative Bestimmung der Oberfläche schließlich Eingang in deutsche Wörterbücher findet.22 In Campes Wörterbuch der Deutschen Sprache wird die Oberfläche etwa in ihrer übertragenen Bedeutung folgendermaßen definiert: »Die Oberfläche: […] Uneigentlich, das zuerst und am leichtesten in die Augen Fallende, in Gegensatz des tiefer oder im Innern Liegenden, welches erst gesucht und untersucht werden muß. Bei der Oberfläche stehen bleiben, nicht auf den Grund gehen, nicht genauer und tiefer untersuchen.«23 20 Vgl. Meyer-Sickendiek, Burkhard: Tiefe. Über die Faszination des Grübelns. 2010, S. 86: »Tief kann nicht nur ›weit unten‹, sondern auch ›weit innen‹ bedeuten; ›tief‹ ist, was und wer bis in das sonst verborgene Innere vordringt. Insofern steht das Adjektiv auch für ›schwer erkennbar‹ und – da es nicht einfach ist, das schwer Erkennbare sprachlich einfach darzustellen – für ›schwer verständlich‹, aber auch prägnant in der eigentlichen Bedeutung von ›bedeutungsschwanger‹.« 21 Rolf: Tiefe, S. 464. 22 Vgl. Arburg: Alles Fassade, S. 24: »Diese negative Codierung der Oberfläche ist im Deutschen im Vergleich etwa zum Französischen oder Englischen besonders markant, wenngleich auch dort ähnliche Tendenzen zu beobachten sind.« Vgl. Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10, 1998, S. 1192: Wie Ritters Wörterbuch der Philosophie unter dem Eintrag »Tiefe/Tiefsinn« aufführt, entsteht gerade in Deutschland »im Verlauf des 19. Jh. das Stereotyp des ›tiefen Denkers‹, ›des Philosophen‹ schlechthin, der in geheimnisvolle T.en der Wirklichkeit eindringt und in dunkler Sprache von seiner Erkenntnis kündet.« 23 Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. 3, S. 533.

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Die Philosophie der Oberfläche

Besonders deutlich wird die negative Bestimmung der Oberfläche in den Ableitungen »oberflächlich« und »Oberflächlichkeit«.24 Beide Begriffe tauchen nahezu zeitgleich mit dem Stammwort »Oberfläche« gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf.25 Die adjektivische Ableitung »oberflächlich« bezieht sich einerseits auf die konkrete Oberfläche eines Körpers, kann andererseits aber auch in einem übertragenen Sinne verwendet werden.26 »Oberflächlich« bezeichnet dann eine flüchtige und eher zu vermeidende Art des Erlebens, Denkens oder Handelns. Während tiefe Gedanken, tiefe Trauer und tiefe Freude als Merkmale einer intensiven und wahrhaftigen Lebensweise aufgefasst werden, so gilt für oberflächliches Wissen, oberflächliches Mitgefühl und oberflächliche Begierde das genaue Gegenteil. Campes Wörterbuch der Deutschen Sprache zufolge steht »oberflächlich« dann für: »[…] nicht gründlich, ohne genau und tief einzudringen, zu untersuchen oder untersucht zu haben; wie auch, keinen tiefen Eindruck machend. Etwas oberflächlich behandeln, verstehen, beurtheilen. Eine oberflächliche Kenntniß, Gelehrsamkeit, die nicht tief eindringt, nicht genau nicht gründlich ist.«27 Von dieser negativen Bestimmung des Adjektivs »oberflächlich« leitet sich wiederum das Substantiv »Oberflächlichkeit« ab.28 Dieses wird in erster Linie zur Beschreibung einer fehlenden oder mangelnden Geisteskraft menschlicher Individuen verwendet (»das oberflächlichsein«29 ). Laut Campe steht der Begriff »Oberflächlichkeit« so z.B. für »die Eigenschaft oder Beschaffenheit einer Person oder Sache, da sie oberflächlich ist. Die Oberflächlichkeit eines Gelehrten, eines Urtheiles.«30 Im Unterschied zum »tiefen Denker«, der sich darum bemüht, das Unbegreifliche und Geheimnisvolle zu ergründen, beschäftigt sich der »oberflächliche Mensch« bevorzugt mit dem Offensichtlichen und Trivialen, dem Unterhaltsamen, Sinnenfreudigen und leicht Verständlichen.31 Friedrich Nietzsche fasste diese Gegenüber24 Vgl. Arburg: Alles Fassade, S. 23: »Wie das Stammwort ›Oberfläche‹ findet sich auch die adjektivische Ableitung ›oberflächlich‹ in deutschen Wörterbüchern erstmals gegen Ende des 18. Jahrhunderts verbucht.« 25 Vgl. ebd., S. 23. 26 Vgl. Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. 3, S. 533: »Oberflächlich: […] auf der Oberfläche befindlich. In der Pflanzenlehre heißt eine Decke, welche die Häutchen der Farnkräuter umgiebt, oberflächlich (Indusium superficiarium), wenn sie von der Oberhaut des Blattes entstehet.« Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Wittgenstein’s Nachlass. The Bergen Electronic Edition. 2000, MS 137, 73b: »Die Probleme des Lebens sind an der Oberfläche unlösbar, & nur in der Tiefe zu lösen. In den Dimensionen der Oberfläche sind sie unlösbar.« 27 Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. 3, S. 533. 28 Vgl. ebd., S. 533. 29 Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 7, S. 1085. 30 Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. 3, S. 533. 31 Vgl. Wittgenstein: Wittgenstein’s Nachlass, MS 125, 42r: »Förmlich wie es einen tiefen & einen seichten Schlaf gibt, so gibt es Gedanken die tief im Innern vor sich gehen & Gedanken die sich an der Oberfläche herumtummeln.«

1 Begriffsgeschichte

stellung von tiefschürfendem Denken und oberflächlichem Erleben in einem seiner Aphorismen pointiert zusammen und wies zugleich auf die Holzschnittartigkeit – um nicht zu sagen Oberflächlichkeit – dieses Verhältnisses hin: »Tief sein und tief scheinen. – Wer sich tief weiss, bemüht sich um Klarheit; wer der Menge tief scheinen möchte, bemüht sich um Dunkelheit. Denn die Menge hält Alles für tief, dessen Grund sie nicht sehen kann: sie ist so furchtsam und geht so ungern in’s Wasser.«32 Wird das Stammwort »Oberfläche« vorwiegend in einem materiell-räumlichen Sinne zur Beschreibung der Außenfläche eines Objektes verwendet, so dominiert bei den Begriffen »oberflächlich« und »Oberflächlichkeit« dagegen ein moralischpsychologischer Sinn.33 Laut Arburg entwickeln sich beide Bedeutungshorizonte grundsätzlich zwar konträr zueinander, beeinflussen sich jedoch immer wieder auch gegenseitig.34 Gerade in der Umgangssprache würden die verschiedenen Bedeutungsdimensionen von »Oberfläche«, »oberflächlich« und »Oberflächlichkeit« wiederholt durchmischt und vertauscht. »Dabei«, so schreibt er, »verbinden oder vielmehr verwirren sich die konkrete und die ideelle Dimension des Konzepts ›Oberfläche‹ zu einem Ideenkomplex, in dessen sprachlicher Thematisierung ›eigentliche‹ und ›uneigentliche‹ Redeweisen nur schwer voneinander zu trennen sind.«35 Wenn wir z.B. ein Gemälde als »oberflächlich« beurteilen, kritisieren wir selbstverständlich nicht dessen materiell-räumliche Zweidimensionalität, sondern meinen dies in einem übertragenen Sinne. Gleichzeitig stützen wir unser Urteil aber auch auf Merkmale, die materiell auf der Oberfläche in Erscheinung treten, wie z.B. eine unsichere Pinselführung, eine platte Symbolik oder effektheischende Motive. Zwischen einer konkreten und übertragenen Bedeutung des Wortes »oberflächlich« lässt sich hierbei nicht eindeutig unterscheiden. Erschwerend kommt hinzu, dass das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe sich, mehr oder weniger deutlich, auch in anderen dichotomen Denkmodellen wiederfinden lässt. Während dieser Übertragung auf andere Denkmodelle wird der Oberflächenbegriff stets um weitere Bedeutungsdimensionen ergänzt. So begegnen wir dem Verhältnis von Oberfläche und Tiefe etwa in der räumlichen Gegenüberstellung von »Außen und Innen«, »Vorne und Hinten« oder »Oben und Unten«. Zum anderen taucht das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe aber auch in metaphorischen und/oder materiell-räumlichen Rede- und Denkfiguren auf, wie etwa denen von »Hülle und Kern«, »Erscheinung und Wesen«, »Diesseits und Jenseits«, »Sichtbar und Unsichtbar« oder »Form und Inhalt«. Wie in den Kapiteln 8 und 9 noch 32 Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 12, 1924, S. 178, Nr. 173. 33 Vgl. Arburg: Alles Fassade, S. 24. 34 Vgl. ebd., S. 24. 35 Ebd., S. 16.

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Die Philosophie der Oberfläche

ausführlich erörtert wird, lässt sich bei nahezu all diesen dichotomen Beziehungen etwas Gegenwärtiges und unmittelbar Wahrnehmbares von etwas Verborgenem unterscheiden, das nicht oder nur vermittelt zu erfahren ist. Der Begriff »Oberfläche« scheint aufgrund seiner Bildlichkeit also ein geeignetes Mittel zu sein, um komplexe Gegensatzverhältnisse zu versinnbildlichen. Dies mag nicht zuletzt auch der Grund dafür sein, weshalb der Begriff – trotz seiner weitgehend negativen Konnotation – über die Jahre und Jahrhunderte hinweg in den unterschiedlichsten Zusammenhängen verwendet wurde. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass der Begriff »Oberfläche« ein überaus schwammiger und widersprüchlicher Begriff ist – und dies nicht allein, wegen der alltagssprachlichen Durchmischung von »eigentlichen« und »uneigentlichen« Redeweisen. Auch im konkreten, materiell-räumlichen Sinne ist der Begriff »Oberfläche« missverständlich und ungenau. Der amerikanische Philosoph Avrum Stroll hat sich in seiner 1988 veröffentlichten Monographie Surfaces ausführlich mit den unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen des Oberflächenbegriffs beschäftigt. Stroll hat dazu wissenschaftliche und alltagsprachliche Konzepte zur Oberfläche miteinander verglichen und auf Widersprüche und Unstimmigkeiten hingewiesen. Ein Beispiel hierfür: Bestimmen wir die Oberfläche als eine zweidimensionale Fläche, so mag dies noch plausibel erscheinen, wenn wir etwa an die Oberfläche eines Tisches denken. Vergegenwärtigen wir uns allerdings die Oberfläche einer Billardkugel, so scheint diese Definition fraglich. Bestimmen wir die Oberfläche nun dagegen als die äußere Grenze eines Objektes und denken erneut an die Oberfläche eines Tisches, so haben wir dabei vermutlich die Tischplatte im Sinn, die uns als Ablagefläche dient.36 Doch besitzen die Kanten, Ränder sowie die Unterseite der Tischplatte nicht auch eine Oberfläche, ebenso wie die Beine des Tisches? Und wie verhält es sich, wenn auf dieser Tischplatte eine Tischdecke liegt? Ist die Definition der Oberfläche als einer äußeren Objektgrenze dann nicht ungenau? Haben wir es hier nicht viel eher mit einer Schichtung oder Konstellation von verdeckten wie sichtbaren Oberflächen zu tun, die räumlich unterschiedlich gelagert sind und sich sowohl innen als auch außen befinden können? Betrachten wir die Oberfläche der Tischplatte dann einmal genauer, so entdecken wir vermutlich einige Kratzer, Schrammen und Einkerbungen im Material. Inwiefern ist die Oberfläche hier noch als Ober-Fläche zu begreifen? Oder anders gefragt: Sind diese Kratzer, Schrammen und Einkerbungen lediglich Unebenheiten der Oberfläche oder schon Bestandteile der Tiefe? Und wovon machen wir diese Entscheidung abhängig: von der Tiefe der Einkerbung oder von der Tiefe und Dicke der Tischplatte? Ein anderes Beispiel: Denken wir an ein Gemälde in einer Galerie oder in einem Museum. Was würden wir hier als »Oberfläche« bezeichnen? Nur die Farbfläche 36 Vgl. Stroll, Avrum: Surfaces. 1988, S. 30.

1 Begriffsgeschichte

oder auch die darunter befindliche Leinwand? Den Bildvordergrund oder auch die zentralperspektivisch erzeugte Tiefe des Bildhintergrunds, auch wenn beide auf derselben Ebene liegen? Hat die Rückseite des Bildes nicht auch eine Oberfläche, genauso wie der Rahmen des Bildes, der die innliegende Leinwand überragt? Die »Oberfläche«, so wird deutlich, ist kein eindeutiger Begriff. Er ist viel eher ein, wie Arburg schreibt, »Komplex aus heterogenen Phänomen, Phantasien und Phantasmen«,37 die sich wechselseitig überschneiden, durchdringen und/oder widersprechen. Diese Widersprüche aufzulösen und eine allgemeingültige Definition der Oberfläche zu entwickeln, ist nicht das Ziel dieses Buchs. Im Gegenteil soll hier ein Konzept, ein Modell oder eben eine »Philosophie« der Oberfläche skizziert werden, der die Widersprüchlichkeit immanent ist, um so der Vielschichtigkeit und Komplexität dieses Phänomens gerecht zu werden. Lediglich als Anfangs- oder Ausgangspunkt für die vorliegende Untersuchung soll daher die Bestimmung der Oberfläche als einer äußeren Grenze dienen. Wie jede Definition der Oberfläche, so ist auch diese Bestimmung bekanntermaßen widersprüchlich und unzureichend. Gleichwohl kann sie jedoch, wie auch Avrum Stroll betont, einen ersten Ansatz bieten, von welchem sich die Oberfläche weiter untersuchen lässt.38 Grundsätzlich soll die Oberfläche allerdings – ganz im Sinne Arburgs – »nicht als Leitbegriff, sondern als Suchbegriff«39 verstanden werden.

37 Vgl. Arburg: Alles Fassade, S. 19. 38 Vgl. Stroll: Surfaces, S. 208-209: »In general, the description of a surface as a thin spread that forms the upper or outer aspects, or both, of objects is a good working definition, but these various qualifications should be kept in mind.« 39 Arburg: Alles Fassade, S. 19.

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2 Aktueller Forschungsstand und historischer Diskurs

Im Rahmen von wissenschaftlichen Publikationen stellt die Oberfläche ein häufig erwähntes und doch zugleich relativ vernachlässigtes Phänomen dar. So gibt es auf der einen Seite eine ganze Reihe von Beiträgen, die sich auf das Phänomen der Oberfläche beziehen, dieses allerdings nur am Rande erörtern. Auf der anderen Seite existieren wiederum zahlreiche Arbeiten, die sich zwar eingehender mit der Oberfläche auseinandersetzen, dabei aber weitestgehend auf ihren Fachbereich beschränkt bleiben. Als Forschungsgegenstand wird die Oberfläche hier größtenteils isoliert in Bezug auf einzelne Wissenschaftsbereiche, wie Physik1 , Chemie2 ,

1 Vgl. Henzler, Martin; Göpel, Wolfgang: Oberflächenphysik des Festkörpers. 1994; Davison, Sydney G.; Stęślick, Maria: Basic Theory of Surface States. 1996. 2 Vgl. Ertl, Gerhard; Küppers, Jürgen: Low energy electrons and surface chemistry. 1985; Ibach, Harald: Zur Physik und Chemie der Festkörperoberfläche. 1982.

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Die Philosophie der Oberfläche

Wahrnehmungstheorie3 , Ethnologie4 , Architektur5 , Kunstgeschichte6 , Linguistik7 sowie Literatur-8 , Bild-9 und Medienwissenschaft10 erörtert. Eine allgemeine, fachübergreifende Auseinandersetzung mit dem Phänomen »Oberfläche« findet dabei jedoch kaum statt. Sechs Veröffentlichungen haben sich dem Thema Oberfläche bislang mit einem interdisziplinären Ansatz genähert. Die erste davon ist die bereits erwähnte Monographie Surfaces von Avrum Stroll aus dem Jahr 1988. Stroll vergleicht darin verschiedene wissenschaftliche und alltagssprachliche Konzepte zur Oberfläche miteinander und vermittelt einen überaus interessanten Überblick über die Komplexität des Oberflächenbegriffs. Seine fundierte Analyse ist für diese Untersuchung 3 Vgl. Gibson, James J.: Die Wahrnehmung der visuellen Welt. 1973; ders.: Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung. 1982. 4 Vgl. Heimerdinger, Timo; Meyer, Silke (Hg.): Äußerungen. Die Oberfläche als Gegenstand und Perspektive der Europäischen Ethnologie. 2013. 5 Vgl. Leatherbarrow, David; Mostafavi, Mohsen: Surface architecture. 2002; Imperiale, Alicia: New Flatness: Surface Tension in Digital Architecture. 2000; Caspary, Uta: Ornamente der Fassade in der europäischen Architektur seit den 1990er Jahren. 2013; Harather, Karin: HAUS-KLEIDER. Zum Phänomen der Bekleidung in der Architektur. 1995; Pell, Ben: Modulierte Oberflächen: Ornament und Technologie in der Gegenwartsarchitektur. 2010. 6 Vgl. Greenberg, Clement: Modernistische Malerei. In: Ders.: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken. 1997, S. 265-278; Körner, Hans: »Die Epidermis der Statue«. Oberflächen der Skulptur vom späten 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert. In: Bohden, Daniela; Fend, Mechthild (Hg.): Weder Haut noch Fleisch. Das Inkarnat in der Kunstgeschichte. 2007, S. 105132; Finke, Marcel: Materialität der Oberfläche. Abstraktion und Figuration in Francis Bacons Reclining Figures. In: Moskatova, Olga u.a. (Hg.): Jenseits der Repräsentation. Körperlichkeiten der Abstraktion in moderner und zeitgenössischer Kunst. 2013, S. 109-124; Fend, Mechthild: Die Substanz der Oberfläche. Haut und Fleisch in der französischen Kunsttheorie des 17. bis 19. Jahrhunderts. In: Bohde, Daniela; Fend, Mechthild (Hg.): Weder Haut noch Fleisch. Das Inkarnat in der Kunstgeschichte. 2007, S. 87-105; Sommer, Manfred: Von der Bildfläche. Eine Archäologie der Lineatur. 2016. 7 Vgl. Linke, Angelika; Feilke, Helmuth (Hg.): Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestalt. 2009; Lieb, Hans-Heinrich u.a. (Hg.): Oberflächensyntax und Semantik. 1980. 8 Vgl. Han, Chol: Ästhetik der Oberfläche: Die Medialitätskonzeption Goethes. 2007; Bachmann, Vera: Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts. 2013; Baßler, Moritz: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916. 1994; Eder, Thomas (Hg.): Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfride Jelinek. 2010; Gann, Thomas; Schuller, Marianne (Hg.): Fleck, Glanz, Finsternis. Zur Poetik der Oberfläche bei Adalbert Stifter. 2017. 9 Vgl. Alloa, Emmanuel: Das durchscheinende Bild. Konturen einer medialen Phänomenologie. 2010; Finke, Marcel: Prekäre Oberflächen: Zur Materialität des Bildes und des Körpers am Beispiel der künstlerischen Praxis Francis Bacons. 2015. 10 Vgl. Flusser, Vilém: Lob der Oberflächlichkeit. Oder: Das Abstraktionsspiel. In: Bollmann, Stefan (Hg.): Schriften. Bd. 1, 1995, S. 9-59; Groys, Boris: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien. 2000.

2 Aktueller Forschungsstand und historischer Diskurs

letztlich jedoch nur wenig relevant, da sich Stroll in erster Linie mit sprachlichen Ungenauigkeiten beschäftigt. Anders verhält es sich dagegen bei dem im Jahr 2008 veröffentlichten Sammelband Mehr als Schein, der von dem Germanisten Hans-Georg von Arburg herausgegeben wurde. Arburg hat parallel dazu noch im selben Jahr die Monographie Alles Fassade veröffentlicht, die sich ebenfalls mit dem Phänomen der Oberfläche auseinandersetzt. Seine ausführliche und überaus aufschlussreiche Analyse der Oberfläche konzentriert sich jedoch in erster Linie auf das 19. Jahrhundert und die Bereiche von Literatur und Architektur. Im Gegensatz dazu versucht nun der Sammelband Mehr als Schein einen breiteren und interdisziplinären Überblick über das Thema der Oberfläche zu geben. Besonders zu erwähnen ist dabei vor allem die von Isabelle Stauffer und Ursula von Keitz verfasste Einleitung Lob der Oberfläche, die wichtige Anregungen für dieses Buch geliefert hat.11 Die Autorinnen geben darin einen Überblick über einige zentrale Theorien, die sich implizit oder explizit mit der Oberfläche auseinandersetzen, und verdeutlichen, inwiefern diese das Phänomen Oberfläche interpretieren. Zu den jüngsten Veröffentlichungen zum Thema zählt zum einen die im Jahr 2014 erschienene Monographie Surface. Matters of aesthetics, materiality, and media von Giuliana Bruno. Bruno konzentriert sich bei ihrer Analyse der Oberfläche vor allem auf den Aspekt der Materialität. Anders als es vielleicht zu erwarten wäre, geht sie dabei jedoch nicht der Frage nach, inwieweit die Oberfläche von der materiellen Substanz eines Objektes bestimmt wird. Bruno schlägt vielmehr den umgekehrten Weg ein und fragt, inwieweit die Oberfläche unseren Eindruck von Materialität beeinflusst. Ihrer Auffassung nach ist Materialität somit nicht allein von der Substanz eines Objektes abhängig, sondern ist zugleich eine »[…] surface condition.«12 »Materiality«, so schreibt sie, […] manifests itself on the surface.«13 Auf diesen Gedanken aufbauend, bestimmt sie die Oberfläche schließlich als ein Medium bzw. einen »Screen«14 , der uns Transformationen und Erscheinungsweisen von Materialität vermittelt.15 Um dies zu verdeutlichen, führt sie verschiedene Beispiele aus den Bereichen Kunst, Mode, Film und Architektur an. Wie und unter welchen Voraussetzungen Oberflächen uns als Wissensquellen dienen können, sucht der im Jahr 2015 von Christina Lechtermann und Stefan Rieger herausgegebene Sammelband Das Wissen der Oberfläche zu erörtern. In Beiträ11 Vgl. Staufer, Isabelle; Keitz, Ursula von: Lob der Oberfläche. Eine Einleitung. In: Arburg, HansGeorg von (Hg.): Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater. 2008, S. 13-31. 12 Bruno, Giuliana: Surface. Matters of aesthetic, materiality, and media. 2014, S. 3. 13 Ebd., S. 2. 14 Vgl. ebd., S. 14: »In doing so, I mean to establish a material way in which we can theoretically begin to think of the surface as a screen.« 15 Ebd., S. 5

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Die Philosophie der Oberfläche

gen aus Bereichen wie Literaturwissenschaft, Philosophie oder Kunstgeschichte werden dazu verschiedene Formen und Medien des Wissens untersucht, die auf besondere Weise mit der Oberfläche in Beziehung stehen. Die überaus interessanten Beiträge bleiben dabei allerdings meist auf ihren Fachbereich und den jeweiligen Untersuchungsgegenstand beschränkt. Einen allgemeineren, fachübergreifenderen Ansatz verfolgt dagegen der Philosoph und Theologe Ingo Reuter in seiner 2019 veröffentlichten Monographie Surfaces | Oberflächen. Reuter widmet sich darin sechs unterschiedlichen Darstellungsformen der Oberfläche. Dies sind: Haut, Spiegel, Kleidung, Wasser, Bildschirm und Erde. Bei seiner Analyse beschäftigt sich Reuter jedoch mehr mit den Darstellungsformen selbst, anstatt näher auf deren spezifische »Oberflächlichkeit« einzugehen. Was die Oberflächen von Haut, Spiegel, Kleidung, Wasser, Bildschirm und Erde also miteinander gemeinsam haben, und was sich anhand dieser über die Oberfläche im Allgemeinen sagen lässt, bleibt dabei weitestgehend unbeantwortet. Vergleicht man die bisherigen Veröffentlichungen zum Thema, so fällt auf, dass sich die meisten davon auf Oberflächen-Konzepte des 20. Jahrhunderts stützen. Eine Übersicht über historische Konzeptionen der Oberfläche und deren Entwicklung bleibt größtenteils aus. Dieses Buch geht nun jedoch von der Annahme aus, dass selbst moderne Konzepte der Oberfläche noch latent von historischen Vorstellungen geprägt sind und sich erst über diese wirklich erklären lassen. Entsprechend sollen in diesem Kapitel die wesentlichen Wegmarken im historischen Diskurs zur Oberfläche kurz benannt werden. Dabei soll zum einen deutlich werden, dass die Oberfläche seit der Antike wiederholt Gegenstand zahlreicher philosophischer Reflexionen gewesen ist – auch wenn, wie eingangs bereits erwähnt wurde, vor dem 20. Jahrhundert keine »Philosophie der Oberfläche« im eigentlichen Sinne existierte. Zum anderen soll mit diesem Überblick aber auch eine erste Grundlage geschaffen werden, von der aus in den folgenden Kapiteln eine Bestimmung der Oberfläche im Sinne der Zielsetzung dieses Bandes entwickelt werden kann. In der Geschichte des abendländischen Denkens wird die Oberfläche vorwiegend anhand ihres Gegensatzes zur Tiefe definiert. Während man die Tiefe allgemein mit metaphysischen Idealen wie Wahrheit oder semantischen Werten wie Bedeutung und Inhalt verknüpft, wird die Oberfläche dagegen meist als defizitäres Phänomen verstanden. Die Dichotomie von Oberfläche und Tiefe spielt insbesondere in der Philosophie des Abendlandes eine wichtige Rolle. Als eigenständiger Terminus taucht der Begriff »Oberfläche« hier jedoch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit medienphilosophischen Fragestellungen auf. Bis dahin findet in der Philosophie das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe vor allem in dem Gegensatz von Erscheinung und Wesen seine Entsprechung. Die Erscheinung wird dabei als etwas Äußeres, d.h. unmittelbar Gegebenes bestimmt, das in keinem oder keinem ersichtlichen Verhältnis zum Wesen der Wirklichkeit steht. Das Wesen, so die Vermutung, befindet sich ausschließlich unterhalb der

2 Aktueller Forschungsstand und historischer Diskurs

Erscheinungen, in einer tiefverborgenen Innenwelt. Innerhalb dieses Spannungsfelds von äußerer Erscheinung und innerem Wesen entwickelt sich dann im Laufe der Zeit eine ganze Reihe von philosophischen Konzepten, mit deren Hilfe sich die Oberfläche unterschiedlich interpretieren lässt. Aus der Vielzahl an möglichen philosophischen Konzeptionen zur Oberfläche sollen nun im Folgenden vier zentrale Konzepte voneinander unterschieden und grob umrissen werden. Diese Konzepte dürfen jedoch keinesfalls als eigenständige Theorien oder Gedanken zur Oberfläche verstanden werden. Keiner der im Folgenden genannten Philosophen – mit Ausnahme vielleicht von Vilém Flusser – hatte eine Beschreibung oder theoretische Konzipierung der Oberfläche im Sinn. Wenn im Folgenden also von »Konzepten« die Rede ist, so sind diese lediglich als mögliche Zugänge oder (Denk-)Ansätze zur Oberfläche zu verstehen, die es erlauben, unterschiedliche Diskurse zur Oberfläche zu benennen und voneinander zu unterscheiden. Das erste dieser Konzepte begreift die Oberfläche vorwiegend als ein negatives Phänomen, das in deutlichem Gegensatz zur Tiefe steht. Wir begegnen diesem Konzept – bei allen Unterschieden im Einzelnen – u.a. in der Philosophie Platons sowie in der Philosophie Immanuel Kants. Ein zweites, dazu völlig konträres Konzept der Oberfläche lässt sich wiederum in der frühen Neuzeit ausmachen. Die Oberfläche wird hier hauptsächlich als ein positives Phänomen aufgefasst, das in einer mehr oder weniger direkten Beziehung zur Tiefe steht. Gleichsam zwischen diesen ersten beiden Konzepten lässt sich wiederum das dritte Konzept der Oberfläche ansiedeln. Die Oberfläche wird hier weder als ein ausschließlich negatives noch als gänzlich positives Phänomen gedeutet, sondern weitgehend neutral definiert. Beschrieben werden soll dieses dritte Konzept der Oberfläche anhand der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels sowie der Philosophie Martin Heideggers. Beide vertreten in ihren philosophischen Schriften einen Erscheinungsbegriff, mit dessen Hilfe sich die Oberfläche als ein ambivalentes Phänomen zwischen sichtbarer Außen- und verborgener Innenwelt bestimmen lässt. Innerhalb dieser Zwischenposition, so wird zu zeigen sein, kann die Oberfläche nun entweder einen Zugang zur Tiefe vermitteln oder verhindern. Jene Bestimmung der Oberfläche als einem ambivalenten Phänomen zwischen Innen und Außen stellt für diesen Band eine entscheidende Grundlage dar und wird in Kapitel 3 noch ausführlicher zu beschreiben sein. Als viertes und letztes Konzept soll dann schließlich zum Ende dieses Kapitels noch das Konzept der tiefenlosen Oberfläche nähergebracht werden. Die Oberfläche ist hier in erster Linie als Ausdruck einer Weltanschauung zu verstehen, die den Glauben an die metaphysische Idee der Tiefe weitgehend aufgegeben hat. Entsprechend ist die Oberfläche im Sinne dieses Konzeptes als eine »bloße«, d.h. tiefenlose, Oberfläche zu begreifen. Die Idee einer tiefenlosen Oberfläche taucht erstmals in der Philosophie Friedrich Nietzsches am Ende des 19. Jahrhunderts auf. Wie zu zeigen sein wird, lässt sich jenes Konzept aber auch zum Ende des 20. Jahrhunderts

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in den postmodernen bzw. medienphilosophischen Theorien von Fredric Jameson oder Vilém Flusser wiederfinden. Zu Beginn dieses Kapitels soll nun jedoch zunächst einmal das erste und zugleich einflussreichste Konzept der Oberfläche beschrieben werden, das Platon im Rahmen seiner Ideenlehre angedeutet hat. Im Sinne Platons ist die Oberfläche als eine trügerische Erscheinung zu begreifen, die das Wesen der Wirklichkeit verbirgt. Grund für Platons negatives Konzept der Oberfläche ist seine Unterteilung der Wirklichkeit in zwei Welten: Er unterscheidet eine äußere Welt der sichtbaren Erscheinungen von einer inneren Welt der verborgenen Ideen. Während die Ideen für ihn feststehende und objektive Größen darstellen, bestimmt er die Erscheinungen dagegen als vergängliche Phänomene.16 Platon zufolge ermöglichen Erscheinungen zwar die unmittelbare Wahrnehmung der Wirklichkeit, sagen jedoch nichts über deren eigentliches Wesen aus. Das Wesen der Wirklichkeit befinde sich vielmehr hinter den Erscheinungen, in der verborgenen Welt der Ideen, und lasse sich ausschließlich geistig erfahren. Besonders deutlich wird das Verhältnis von Erscheinung und Wesen bei Platon anhand des Höhlengleichnisses, das er in seiner Politeia beschreibt.17 Platon erzählt darin die Geschichte von einer Gruppe von Menschen, die seit ihrer Kindheit in einer Höhle gefangen gehalten werden. Die Gefangenen sind sowohl an Hals und Schenkeln gefesselt und können weder ihre Körper noch ihre Köpfe nach hinten wenden. Ihr Blick ist stets geradeaus auf eine der Höhlenwände gerichtet. Hinter den Gefangenen, am Eingang zur Höhle, verläuft ein kleiner Weg, auf dem Menschen die verschiedensten Gegenstände und Waren vorbeitragen. Die Gefangenen, die ihre Köpfe bekanntlich nicht wenden können, sind deshalb nicht in der Lage die Gegenstände zu betrachten. Was sie von den Gegenständen zu sehen bekommen, sind allein deren Schatten, die sich auf den Höhlenwänden abzeichnen. Ihr Bild von der Wirklichkeit entspricht somit nicht den tatsächlichen Verhältnissen, sondern basiert ausschließlich auf verzehrten Eindrücken. Was Platon mit diesem Gleichnis nun zu verdeutlichen versucht, ist der Umstand, dass unsere sinnlichen Wahrnehmungen nichts über das Wesen der Wirklichkeit vermitteln können, da diese sich ausschließlich auf äußere Erscheinungen beziehen. Wer das Wesen der Wirklichkeit erkennen möchte, darf sich Platon zufolge also nicht auf die Oberfläche konzentrieren, sondern muss diese gleichsam überwinden, um in die Tiefe vorzudringen. Nur in der Tiefe ließe sich das Wesen der Wirklichkeit finden; die Oberfläche dagegen trüge. Jene deutlich negative Bestimmung der Oberfläche, die Platon in seinem Höhlengleichnis andeutet, ist 16 Vgl. Platon: Phaidon, 79 a-e, S. 73-75: »Sollen wir also, sprach er, zwei Arten der Dinge setzen, sichtbar die eine und die andere unsichtbar? […] Und die unsichtbare als immer auf gleiche Weise sich verhaltend, die sichtbare aber niemals gleich?" 17 Vgl. Platon: Politeia, 514aff., S. 555ff.

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nicht nur eines der ersten, sondern zugleich eines der einflussreichsten Konzepte der Oberfläche. Zusammen mit Platons Zweiweltentheorie dient es in der Folgezeit als eine Art Blaupause für alle weiteren Konzepte der Oberfläche; selbst für diejenigen Konzepte, die Platons Oberflächenbegriff vehement widersprechen.18 Nicht zuletzt im alltäglichen Sprachgebrauch hat sich Platons negative Auslegung der Oberfläche als einem trügerischen Phänomen bis heute erhalten. Ein zweites Konzept der Oberfläche, das dem Platons deutlich entgegengesetzt ist, lässt sich wiederum in der frühen Neuzeit ausmachen. Oberfläche und Tiefe werden hier nicht länger als Gegensätze wahrgenommen, sondern fast schon als Einheit begriffen. Die Oberfläche wird dabei als ein positives Phänomen bestimmt, das in unmittelbarer Beziehung zur Tiefe steht. Hans Ulrich Gumbrecht macht darauf u.a. in Diesseits der Hermeneutik aufmerksam. Seiner Auffassung nach ist jenes frühneuzeitliche Oberflächenkonzept das Ergebnis eines veränderten Selbstbezugs des Menschen. Wie Gumbrecht beschreibt, emanzipiert sich die europäische Gesellschaft im Laufe des 16. Jahrhunderts allmählich vom christlich-dogmatischen Weltbild des Mittelalters und entwickelt dabei ein neues, säkularisiertes Verhältnis zur Wirklichkeit. Als epochemachendes Beispiel kann hierfür etwa die von Kopernikus eingeleitete Wende vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild genannt werden. So bringt die Erkenntnis, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, das bis dahin vorherrschende Weltbild vom göttlichen Universum mit der Erde in ihrem Zentrum entscheidend ins Wanken. Laut Gumbrecht, gewinnt der Mensch durch derlei Ereignisse einen veränderten Blick auf die Welt wie auch auf sich selbst.19 Verstand der Mensch sich im Mittelalter noch ausnahmslos als Teil des göttlichen Universums, so räumt er sich in der frühen Neuzeit allmählich eine exzentrische Sonderstellung ein. Er begreift sich jetzt erstmals als eigenständiges und erkenntnisfähiges Subjekt, das sich in der Lage wähnt, Wissen über die Wirklichkeit zu erlangen.20 Im Lauf dieses veränderten Selbstbezugs betrachtet der Mensch fortan die Welt und ihre Erscheinungen nicht länger als das Werk Gottes, sondern als eine, so Gumbrecht, »materielle Oberfläche, die interpretiert werden muß«.21 »Daß man die Welt interpretiert«, so fährt 18 Vgl. Rolf: Tiefe, S. 465: »Die entscheidende metaphorologische Weichenstellung besteht darin, daß Platon im Höhlengleichnis die Begriffe Tiefe und Oberfläche mit einer Wertpolarität ausstattet, die für den nachplatonischen Diskurs der theoretischen Philosophie über weite Strecken maßgeblich sein wird.« 19 Vgl. Gumbrecht, Hans-Ulrich: Diesseits der Hermeneutik: Über die Produktion von Präsenz. 2004, S. 41. 20 Vgl. ebd., S. 43-44: »In den Jahrhunderten des Mittelalters hat sich die Menschheit […] nie als aktive Wissensproduzentin verstanden. Man glaubte, Wissen über die Einzelheiten und über die überwölbenden Merkmale der göttlichen Schöpfung stünde nur durch göttliche Offenbarung zu Gebote […], und die Offenbarung hielt man natürlich für unabhängig von jedem menschlichen Wunsch oder Bedürfnis.« 21 Ebd., S. 42.

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Gumbrecht fort, »heißt, daß man über ihre materielle Oberfläche hinausgeht oder diese Oberfläche durchdringt, um einen Sinn (d.h. etwas Geistiges) zu ermitteln, das hinter oder unter dieser Oberfläche liegen soll.«22 Anders als in der Ideenlehre Platons verhindert die Oberfläche hier jedoch nicht die Erkenntnis von Wirklichkeit, sondern ermöglicht diese viel eher. »Weltinterpretation«, so beschreibt es Gumbrecht, »wird allmählich als aktive Produktion von Wissen über die Welt verstanden. Hauptsächlich wird sie als ein ›Herausholen der inhärenten Bedeutungen‹ aus den Gegenständen der Welt aufgefasst.«23 Zu einer zentralen Bedingung dieses frühneuzeitlichen Weltbezugs zählt nun selbstverständlich die Auffassung, dass die inhärente Bedeutung eines Gegenstandes auch tatsächlich über seine äußere Erscheinung erfahrbar ist. Nur durch den erkenntnisoptimistischen Glauben an eine erreichbare Tiefe kann sich die Oberfläche in den Wissensdiskursen des 16. Jahrhunderts zu einem positiven Phänomen wandeln. Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann beschreibt dies folgendermaßen: »Alles Wissen ging von der Prämisse aus, dass sich die Ordnung der Welt und der Zeichen in Korrespondenzen, Analogien und Sympathien ausdrückte und sich das verborgene Innere dabei auf der Oberfläche der Dinge manifestierte.«24 Besonders anschaulich wird jenes frühneuzeitliche Oberflächenkonzept anhand eines Holzschnitts, der vermutlich um 1530 angefertigt wurde und mit dem Titel Wanderer am Weltenrand umschrieben wird (vgl. Abb. 1).25 Zu sehen ist darauf ein Mensch, der die Grenzen der Erscheinungswelt durchbricht, um die verborgenen Geheimnisse der Wirklichkeit zu ergründen. Seiner gottesfürchtigen Passivität entrissen, wird der Mensch hier als ebenso wissbegieriges wie erkenntnisfähiges Subjekt dargestellt, das kraft seines Verstandes das Geheimnis der Welt entschlüsselt. Das Wesen der Wirklichkeit, so die Auffassung der Neuzeit, ist dem Menschen nicht länger entzogen, sondern kann über die Oberfläche der Dinge erfahren werden. Jene frühneuzeitliche Positivierung der Oberfläche findet jedoch spätestens zum Ende des 18. Jahrhunderts ihr definitives Ende. Der Glaube an die Einheit von Oberfläche und Tiefe weicht nun wieder der allgemeinen Überzeugung, dass sich das Wesen der Wirklichkeit nicht über die äußeren Erscheinungen erfahren lässt. Michel Foucault macht darauf u.a. in Die Ordnung der Dinge aufmerksam. Wie Foucault beschreibt, wird sich die Menschheit zum Ende des 18. Jahrhunderts allmählich der Grenzen der Erkenntnis bewusst und entwickelt dabei erneut die 22 23 24 25

Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 42-43. Ebd., S. 43. Assmann, Aleida: Im Dickicht der Zeichen. 2015, S. 13. Vgl. Senger, Hans Gerhard: Der »Wanderer am Weltenrand«. Ein alter oder altertümelnder Weltaufriss? In: Markschies, Christoph u.a. (Hg.): Altlas der Weltbilder. 2011, S. 343: Wie Senger erwähnt, ist der Künstler jenes Holzschnitts unbekannt und eine genaue Datierung im 16. Jahrhundert nicht näher möglich.

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Abb. 1: Anonym, Wanderer am Weltenrand

Vorstellung einer tiefverborgenen und unzugänglichen Wahrheit.26 Foucault zufolge »erfindet sich die europäische Kultur« auf diese Weise »eine Tiefe, in der […] von großen verborgenen Kräften […] die Rede sein wird«.27 Im Zuge dieses wiedererwachten Dualismus von Oberfläche und Tiefe wird die Oberfläche erneut zu einem negativen Phänomen, das ausschließlich mit großer Skepsis zu betrachten ist.28 26 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. 1971, S. 292: Foucault macht dies anhand des Tableaus deutlich, das im 18. Jahrhundert als universelles Mittel zur Repräsentation und Erkenntnis von Wirklichkeit eingesetzt wurde: »Was die Charakterisierung eines natürlichen Wesens gestattet, sind nicht mehr die Elemente, die man an den Repräsentationen analysieren kann, die man sich von ihm und den anderen macht, sondern ist ein bestimmtes diesem Wesen inneres Verhältnis, das man seinen Bau (organisation) nennt.« Vgl. ebenso, S. 308: »Künftig bildet das Tabelau, das aufhört, der Ort aller möglichen Ordnungen, die Matrix aller Beziehungen, die Distributionsform aller Wesen in ihrer besonderen Individualität zu sein, für das Wissen nur noch eine dünne Oberflächenschicht. […] Die Ordnung, die sich dem Blick mit dem permanenten Raster der Unterscheidungen bietet, ist nur noch ein oberflächliches Glitzern über einer Tiefe.« 27 Ebd., S. 308. 28 Vgl. ebd., S. 308-309: »Künftig werden die Dinge nur noch aus der Tiefe jener in sich zurückgezogenen Dicke, vielleicht unklar und durch deren Dunkelheit verfinstert, aber stark mit sich selbst verknüpft, gesammelt und aufgeteilt, durch die Strenge, die sich da unten in dieser Tiefe verbirgt, hilflos gruppiert, zur Repräsentation gelangen.«

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Greifbar wird jene philosophische Abwertung der Oberfläche bei gleichzeitiger Aufwertung der Tiefe u.a. in der Erkenntnistheorie Immanuel Kants.29 Kant vertritt in seiner 1781 veröffentlichten Kritik der reinen Vernunft ein überwiegend negatives Oberflächenkonzept, das dem Platons in einigen zentralen Punkten ähnelt. Seine Auslegung der Oberfläche knüpft daher wesentlich an jenes erste Konzept der Oberfläche an, das eingangs bereits beschrieben wurde. Wie Platon, so unterscheidet auch Kant grundsätzlich zwischen einer sinnlich wahrnehmbaren Erscheinung und ihrem zugrundeliegenden Wesen, dem sogenannten »Ding an sich«.30 Kant geht also davon aus, »daß man hinter den Erscheinungen doch noch etwas anderes, was nicht Erscheinung ist, nämlich die Dinge an sich einräumen und annehmen müsse«.31 Seiner Auffassung nach ist das Ding an sich dem menschlichen Erkenntnisvermögen jedoch grundsätzlich entzogen und somit auch nicht über die äußeren Erscheinungen erfahrbar.32 Obwohl sich die Oberflächenkonzepte von Kant und Platon in dieser Hinsicht durchaus ähneln, unterscheiden sie sich an anderer Stelle wiederum deutlich voneinander. Hatte Platon die äußere Erscheinung, aufgrund ihrer Differenz zur tiefen Wahrheit, noch ausschließlich als trügerisches Phänomen bestimmt, so gesteht Kant ihr nun immerhin eine empirische Wahrheit zu.33 Kant zufolge können Erscheinungen insofern wahr sein, als sie den empirischen Gesetzen der Natur entsprechen.34 Im Vergleich zu Platon erfährt die Oberfläche bei Kant so doch zu29 Vgl. ebd., S. 299: Foucault beschreibt die Auswirkungen, die Kants Philosophie auf das abendländische Denken nehmen sollte, wie folgt: »Sie sanktioniert so zum ersten Mal jenes Ereignis der europäischen Kultur, das dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts zeitgenössisch ist: den Rückzug des Denkens (pensée) und des Wissens (savoir) aus dem Raum der Repräsentation.« 30 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (1). In: Weischedel, Wilhelm (Hg.): Werke in zwölf Bänden. Bd. 3, 1997, S. 78. Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Weischedel, Wilhelm (Hg.): Werke in zwölf Bänden. Bd. 7, 1977, S. 87: »Dieses muß eine, obzwahr rohe Unterscheidung einer Sinnenwelt von der Verstandeswelt abgeben, davon die erstere nach Verschiedenheit der Sinnlichkeit in mancherlei Weltbeschauern, auch sehr verschieden sein kann, indessen die zweite, die ihr zum Grunde liegt, immer dieselbe bleibt.« 31 Vgl. ebd., S. 86-87. 32 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft (1), S. 156: »Allein Erscheinungen sind nur Vorstellungen von den Dingen, die nach dem, was sie an sich sein mögen, unerkannt da sind.« 33 Vgl. Kant, Immanuel: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik (2). In: Weischedel, Wilhelm (Hg.): Werke in zwölf Bänden. Bd. 12, 1977, S. 430: »Erscheinung ist […] bloß empirische Anschauung, die durch Reflexion, und den daraus entspringenden Verstandsbegriff zur inneren Erfahrung und hiemit Wahrheit wird.« 34 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (2). In: Weischedel, Wilhelm (Hg.): Werke in zwölf Bänden. Bd. 4, 1977, S. 461: »In dem Raume aber und der Zeit ist die empirische Wahrheit der Erscheinungen genugsam gesichert, und von der Verwandtschaft mit dem Traume hinreichend unterschieden, wenn beide nach empirischen Gesetzen in einer Erfahrung richtig und durchgängig zusammenhängen.«

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mindest eine gewisse Aufwertung, auch wenn Kant prinzipiell einem negativen Konzept der Oberfläche verhaftet bleibt. Ein drittes Konzept der Oberfläche, das sich gewissermaßen zwischen der frühneuzeitlichen Aufwertung und erkenntnistheoretischen Abwertung der Oberfläche positioniert, lässt sich u.a. in der Philosophie Hegels erkennen. Hegel entwickelt in seiner zwischen 1812 und 1816 publizierten Wissenschaft der Logik einen Erscheinungsbegriff, mit dessen Hilfe sich die Oberfläche als ein vermittelndes Phänomen zwischen Innen und Außen begreifen lässt. Da jenes dritte Konzept der Oberfläche in Kapitel 3 jedoch noch ausführlicher erläutert wird, soll dieses hier nur kurz beschrieben werden. Hegels Erscheinungsbegriff erschließt sich uns vor allem über seine Kritik an der Philosophie Kants. Wie bereits erwähnt wurde, besteht nach Auffassung Kants eine unüberwindbare Grenze zwischen dem inneren Wesen und der äußeren Erscheinung. Hegel löst diese Gegenüberstellung von Erscheinung und Wesen nun dialektisch auf, ohne dabei jedoch deren Unterschiedlichkeit grundsätzlich aufzuheben. Auch bei Hegel verbirgt sich das Wesen zunächst im Inneren, kann aber mit der Erscheinung bisweilen auch ins äußere Dasein treten. Die Erscheinung steht bei ihm dadurch nicht mehr in Kontrast zum Wesen, sondern nimmt vielmehr eine vermittelnde Position zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit ein. Dass dieses dritte Konzept der Oberfläche nun jedoch nicht mit der frühneuzeitlichen Auffassung der Oberfläche gleichgesetzt werden darf, wird wiederum anhand der Philosophie von Martin Heidegger deutlich. Heidegger vertritt in seinen philosophischen Schriften ein Oberflächenkonzept, das dem Hegels durchaus in gewisser Hinsicht ähnelt. Wie Hegel, so geht auch Heidegger davon aus, dass die Erscheinung eine Zwischenposition zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit einnimmt. Innerhalb dieser Zwischenstellung, so macht Heidegger deutlich, kann die Erscheinung jedoch nicht nur einen Zugang zur Tiefe ermöglichen, sondern diesen immer wieder auch verhindern. Die Erscheinung kann sich, im Sinne Heideggers, durchaus auch als ein trügerischer Anschein präsentieren, der uns in die Irre führt. Im Unterschied zur frühneuzeitlichen Auffassung der Oberfläche bleibt das trügerische Potential der Oberfläche hier also enthalten. Die Oberfläche, so wird noch zu zeigen sein, ist im Sinne dieses dritten Konzeptes weder als positives noch als negatives, sondern als ein ambivalentes Phänomen zwischen Innen und Außen, zwischen Wahrheit und Täuschung zu begreifen. Ein viertes und letztes Konzept der Oberfläche stellt schließlich die »tiefenlose« Oberfläche dar. Wir begegnen diesem Oberflächenkonzept sowohl in der Philosophie Nietzsches als auch im Zusammenhang von postmodernen und medienphilosophischen Fragestellungen zum Ende des 20. Jahrhunderts. Kern dieses Konzeptes ist die Auffassung, dass eine Tiefe unterhalb der Oberfläche nicht (oder nicht mehr) existiert und die unmittelbare Erscheinung der Oberfläche das einzige ist, was dem Menschen zur Verfügung steht. Erstmals umschrieben wird das

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Konzept der tiefenlosen Oberfläche am Ende des 19. Jahrhunderts in der Philosophie Nietzsches. Dieser widerspricht darin metaphysischen Erklärungsmodellen, die eine vermeintlich trügerische Oberfläche von einer wahren Tiefe abzugrenzen versuchen. Seiner Auffassung nach ist die Wirklichkeit insgesamt als eine trügerische Illusion zu begreifen, in der keinerlei Erkenntnis möglich ist. »Wahrheit« und »Tiefe« sind in seinen Augen lediglich Vorstellungen des Menschen, denen jedoch keine objektive Realität zukommt. In seiner 1872 veröffentlichten Schrift Über das Pathos der Wahrheit fasst Nietzsche diesen Gedanken u.a. in einer Parabel zusammen, in der er die Menschen als »kluge Thiere« bezeichnet, die auf einem Planeten »das Erkennen«35 erfanden: »Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte, aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. Es war auch an der Zeit: denn ob sie schon zu viel erkannt zu haben sich brüsteten, waren sie doch zuletzt, zu grosser Verdrossenheit dahintergekommen, dass sie alles falsch erkannt hatten. Sie starben und fluchten im Sterben der Wahrheit. Das war die Art dieser verzweifelten Thiere, die das Erkennen erfunden hatten.«36 Die Wirklichkeit des Menschen, so versucht Nietzsche mit seiner Parabel zu verdeutlichen, ist als eine Scheinwelt zu begreifen, in der keinerlei Wahrheit existiert. Nicht der Schein, sondern vielmehr der Anspruch auf Wahrheit und Erkenntnis stellt in seinen Augen daher eine Täuschung dar.37 »Die »scheinbare« Welt«, so schreibt er, »ist die einzige [Welt; C.R.]: die ›wahre Welt‹ ist nur hinzugelogen…«.38 Um nun der Illusion von Wahrheit nicht anheimzufallen, darf der Mensch nach Nietzsche nicht mehr nach einer Tiefe hinter den Erscheinungen suchen, sondern muss sich stattdessen radikal auf den Schein der Oberfläche beschränken: »Oh diese Griechen! sie verstanden sich darauf zu leben! Dazu thut noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehn zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe«39 Statt also weiterhin an den uneinlösbaren Idealen von Wahrheit und Tiefe festzuhalten, plädiert Nietzsche im Zuge seiner Metaphysikkritik dafür, den Schein sowie 35 Nietzsche, Friedrich: Über das Pathos der Wahrheit. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 4, 1921, S. 146. 36 Ebd., S. 146. 37 Vgl. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, S. 117: »Ernst um die Wahrheit! Wie Verschiedenes verstehen die Menschen bei diesen Worten!«. 38 Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 17, 1926, S. 70. 39 Nietzsche, Friedrich: Nietzsche contra Wagner. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 17, 1926, S. 300.

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die Oberfläche bedingungslos zu bejahen. Der Mensch müsse lernen, die Scheinhaftigkeit der Realität zu akzeptieren, und aufhören, eine nicht existierende Tiefe unterhalb der Oberfläche zu suchen.40 Wurde die Oberfläche in der Philosophie bis dahin noch ausnahmslos über ein wie auch immer geartetes Verhältnis zur Tiefe definiert, so koppelt Nietzsche diese nun erstmals von ihrem Relationsbegriff ab.41 Die Oberfläche steht bei ihm in keinerlei Beziehung mehr zur Tiefe, sondern existiert ausschließlich für sich. Sie ist Ausdruck und Kennzeichen eines tiefenlosen Wirklichkeitsmodells und als »reine« Oberfläche zu verstehen. Eine weitere Variante jenes tiefenlosen Oberflächenkonzeptes lässt sich nun ebenfalls zum Ende des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit postmodernen bzw. medienphilosophischen Fragestellungen ausmachen. Die Oberfläche wird hier in erster Linie aus dem Blickwinkel der poststrukturalistischen Theorie erörtert und als Zeichenträger für (meist elektronische) Kommunikations- und Unterhaltungsmedien beschrieben. Der These des Poststrukturalismus folgend, sind die auf der Oberfläche befindlichen Zeichen jedoch in dynamische Signifikationsprozesse eingebunden und verweisen auf keinen tieferen Sinn, sondern lediglich auf andere Zeichen.42 Folgt man dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Fredric Jameson, so führt dieser Umstand in der Kultur der Postmoderne zu einem allgemeinen »Verlust der ›Tiefendimension‹«43 . Jameson beschreibt dies u.a. in seinem 1984 erschienen Essay Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. Laut seiner Auffassung geht die Auflösung des semiotischen Verhältnisses von Zeichen und Bezeichnetem – von Signifikant und Signifikat – mit einer endgültigen Auflösung 40 Nietzsche ordnet so auch in seiner Ästhetiktheorie die vermeintlich naturgegebene Wirklichkeit der fiktiven und scheinhaften Welt der Kunst unter. Phantasien, Fiktionen und Illusionen sind für ihn essentielle Bestandteile ästhetischer Erfahrung, die in ihrer Scheinhaftigkeit »realer« sind als die Realität. Vgl. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, S. 84-85. »Das Bewusstsein vom Scheine. […] Ich habe für mich entdeckt, dass die alte Mensch- und Thierheit […] in mir fortdichtet, fortliebt, forthasst, fortschliesst, – ich bin plötzlich mitten in diesem Traume erwacht, aber nur zum Bewusstsein, dass ich eben träume und dass ich weiterträumen muss, um nicht zu Grunde zu gehn: wie der Nachtwandler weiterträumen muss, um nicht hinabzustürzen. Was ist mir jetzt ›Schein‹! Wahrlich nicht der Gegensatz irgend eines Wesens […] Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber, das so weit in seiner Selbstverspottung geht, mich fühlen zu lassen, dass hier Schein und Irrlicht und Geistertanz und nichts Mehr ist, – dass unter allen diesen Träumenden auch ich, der ›Erkennende‹, meinen Tanz tanze […].« 41 Vgl. Arburg: Alles Fassade, S. 423. 42 Michel Foucault geht so z.B. davon aus, »daß der ›Sinn‹ wahrscheinlich nur eine Art Oberflächeneffekt, eine Spiegelung […] ist«. (Zitiert nach: Eribon, Didier: Michel Foucault. Eine Biographie. 1991, S. 250). 43 Jameson, Fredric: Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. In: Huyssen; Andreas (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. 1997, S. 50.

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der jahrtausendealten Dichotomie von Innen und Außen einher. Da Zeichen kontinuierlichen Sinnverschiebungen unterworfen wären, sei jeglicher Versuch einer hermeneutischen Erschließung von tieferem Sinn hinfällig. »Die neuere Theorie«, so schreibt Jameson im Hinblick auf den Poststrukturalismus, »hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieses hermeneutische Modell von ›Innen und Außen‹ anzugreifen und zu verwerfen, es als ideologisch und metaphysisch zu stigmatisieren.«44 Sämtliche Konzepte des Inneren und der Tiefe, wie Sinn, Inhalt oder Bedeutung, würden nun durch Praktiken und Diskurse abgelöst, die sich ausschließlich auf der (Zeichen-)Oberfläche bewegten.45 Das einzige, was nach dem Verlust der Tiefendimension noch übrig bleibe, sei lediglich die Oberfläche selbst.46 Jameson konstatiert so »das Hervortreten einer neuen Flachheit oder Seichtheit, einer neuen Oberflächlichkeit im wortwörtlichsten Sinne, die das vielleicht auffälligste Charakteristikum aller Spielarten der Postmoderne ist«.47 Einen Eindruck dieses postmodernen Konzeptes tiefenloser Oberflächen liefert u.a. Vilém Flusser in seiner 1983 verfassten Schrift Lob der Oberflächlichkeit. Wie Jameson, so stellt auch Flusser darin zum Ende des 20. Jahrhunderts eine Tiefenlosigkeit der Oberfläche fest, beschränkt diese jedoch ausschließlich auf technische Oberflächen. Laut Flusser sind technische Oberflächen sowohl in ihrem Aufbau wie auch in ihrer Verwendung fundamental von traditionellen Oberflächen zu unterscheiden.48 Zu den traditionellen Oberflächen zählt er konkret-materielle Grenzflächen von Objekten, wie sie uns z.B. in Form von Wandmalereien oder Buchtexten begegnen. Traditionelle Oberflächen versuchten mit Hilfe von Zeichen einen Sachverhalt darzustellen und Bedeutungen hervorzubringen. Zu den neuartigen, technischen Oberflächen zählt er wiederum die projizierten Oberflächen von Computer- und Fernsehbildschirmen, die sich aus einzelnen Bildpunkten bzw. Pixeln zusammensetzen.49 Technische Oberflächen dienen, seiner Meinung nach, nicht dem Zweck Sinn zu produzieren, sondern vielmehr das immanente System 44 Ebd., S. 56. 45 Vgl. ebd., S. 58. Vgl. ebenso, S. 56: »Was man jedoch heute zeitgenössische Theorie bzw. theoretischen Diskurs nennt, ist – so möchte ich behaupten – selbst ein Phänomen der Postmoderne. Unangemessen wäre es, den Wahrheitsgehalt theoretischer Erkenntnisse zu einer Zeit zu verteidigen, in der der Begriff ›Wahrheit‹ selbst als metaphysischer Ballast gilt, den die Poststrukturalisten abwerfen wollen. Zumindest können wir festhalten, daß die Kritik der Poststrukturalisten an der Hermeneutik, d.h. an dem, was ich als ›Tiefenmodell‹ bezeichne, ein signifikantes Symptom der postmodernen Kultur ist, um die es hier geht.« 46 Vgl. ebd., S. 58: »An dieser Stelle mag der Hinweis genügen, daß hier […] Tiefe durch Oberfläche bzw. eine Vielzahl von Oberflächen ersetzt wird. Auch das, was man ›Intertextualität‹ nennt, hat nichts mehr mit Tiefe im eigentlichen Sinne zu tun.« 47 Ebd., S. 54 48 Vgl. Flusser: Lob der Oberflächlichkeit, S. 47. 49 Vgl. ebd., S. 58: »Flächen sind Oberflächen von etwas: Es sind Häute. Die traditionellen Flächen sind Oberflächen von Körpern. Die neuen Flächen sind Oberflächen von Begriffen.«

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der technischen Maschine handhabbar zu machen.50 Statt auf tiefere Bedeutungen zu verweisen, würden technische Oberflächen lediglich Simulationen darstellen, die aus abstrakten Datenintervallen generiert würden. Im Sinne Flussers sind die »neuen« Oberflächen somit als Träger von Zeichen zu verstehen, die nicht mehr in die Tiefe verweisen, sondern ausschließlich auf der Oberfläche bleiben.51 Anders als Jameson beklagt Flusser jene Tiefenlosigkeit der Oberfläche jedoch nicht. Gerade im Hinblick auf digitale Medien verknüpft er mit der Oberfläche vor allem die Hoffnung, neue, virtuelle Welten darstellen und gestalten zu können. Für Flusser stellt die Oberfläche eine Art Ausweg aus einer Wirklichkeit dar, der metaphysische Konzepte wie Wahrheit, Sinn und Tiefe abhanden gekommen sind. Flusser beschreibt dies wie folgt: »Wir suchen nicht mehr Erklärungen, sondern Sensationen, und wir wollen nicht mehr hinter den scheinbaren Flächen die Wahrheit finden, […] Wir suchen […] Bilder aus Punkten mosaikartig herzustellen; nicht mehr die Oberflächlichkeit zu überwinden, sondern aus der gähnenden Lücke in die Oberfläche zu dringen. Wir versuchen, diese Oberfläche wie eine Haut über den Abgrund zu spannen. Die Oberfläche, die Haut, ist nicht mehr unser Ausgangspunkt, sondern sie ist unser nie tatsächlich erreichbares Ziel: Unser ›Ideal‹ ist epidermisch.«52 Eine völlig andere Position innerhalb der postmodernen bzw. medienphilosophischen Oberflächenkonzepte, die für diese Untersuchung ebenfalls von großer Bedeutung ist, nimmt dagegen Boris Groys ein. In seiner im Jahr 2000 publizierten Schrift Unter Verdacht widerspricht Groys u.a. der Vorstellung, dass die Oberflächen von Kommunikations- und Unterhaltungsmedien keinerlei Tiefe besitzen. Mit diesem Schritt versucht Groys nun jedoch keinesfalls an historische Oberflächenkonzepte anzuknüpfen oder die Idee einer »tiefen« Wahrheit erneut zu rehabilitieren. Für Groys existiert die Tiefe weniger hinter der Oberfläche, sondern vielmehr – Nietzsche folgend – in deren Betrachtern selbst. Seiner Auffassung nach sind 50 Vgl. ebd., S. 48. 51 Vgl. ebd., S. 42-43: »Wir können nicht mehr fragen ›Ist dieses Modell mehr oder weniger wahr?‹, sondern wir müssen fragen ›Wieviel Information enthält es?‹. […] Ein Blick auf den Fernsehschirm enthält die Antwort. Die dort projizierten Gestalten sind zu Formen geballte Punkte. Die projizierten Modelle sind Ballungen von Punkten, die erlebt werden, als ob sie ein uns angehendes Etwas wären. Die projizierten Modelle sind Ballungen von nichts, die ein konkretes Etwas simulieren.« 52 Ebd., S. 46. Vgl. Bolz, Norbert: Die Konformisten des Andersseins: Ende der Kritik. 1999, S. 153: »Keine der postmodernen Inszenierungen verläßt die Oberfläche. Heute lehren uns die tiefenlosen Oberflächen, wieder den Sinnen zu trauen. Das moderne Erkennen ging in die Tiefe, war entlarvend, hat die Schleier des Scheins zerrissen. Heute sucht man den Sinn der Oberfläche und den Sinn auf der Oberfläche.«

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Oberflächen also insofern tief, als ihre Betrachter kontinuierlich verborgene Geheimnisse oder manipulative Kräfte unterhalb der Oberfläche vermuten. Der Verdacht, dass die Dinge hinter der Oberfläche anders liegen könnten, als es auf der Oberfläche zunächst scheinen mag, ist für Groys eine Betrachtungsweise, die für die Oberfläche konstitutiv ist: »Alles, was uns die mediale Oberfläche zeigt«, so schreibt er, »steht automatisch unter Verdacht. […] Wir können nicht betrachten, ohne zu verdächtigen.«53 Laut Groys setzen wir aufgrund der jahrtausendalten Dichotomie von Erscheinung und Wesen nach wie vor jede Oberfläche unweigerlich in Beziehung zu einer imaginierten Tiefe, in der wir dann verborgene Sachverhalte vermuten. Groys bezeichnet jene imaginierte Tiefe des Verdachtes auch als den »submedialen Raum«.54 Der submediale Raum sei der Ort, auf den sich alle unsere Verdächtigungen konzentrierten, da dort – so zumindest die Vermutung – sich Entscheidendes ereigne.55 Wie Groys beschreibt, hoffe man »als Betrachter der medialen Oberfläche« daher nun unablässig darauf, »dass sich der dunkle, verborgene submediale Raum irgendwann preisgibt, verrät, offenbart. Eine freiwillige oder erzwungene Aufrichtigkeit des submedialen Raums ist das, worauf der Betrachter der medialen Oberfläche wartet.«56 Seiner Auffassung nach ist der submediale Raum dem Betrachter jedoch grundsätzlich entzogen und kann niemals dingfest gemacht werden. Da alles, was auf der medialen Oberfläche in Erscheinung trete, potentiell anders sein könne als es zunächst erscheint – so die Logik des Betrachters –, ist alles, was auf der Oberfläche erscheint, potentiell verdächtig.57 In diesem grenzenlosen Misstrauen und nie zu stillenden Zweifel projiziere der Betrachter unablässig neue Hinterwelten und verborgene Tiefen hinter die mediale Oberfläche.58 Groys beschreibt die Beziehung zwischen Betrachter und Oberfläche daher nicht zuletzt auch als »ein notwendigerweise paranoides Verhältnis«.59 Der Verdacht, der den 53 Groys: Unter Verdacht, S. 218. 54 Vgl. ebd., S. 21. 55 Vgl. ebd., S. 43-44: »Denn es ist dieser dunkle, durch die opake Zeichenschicht verborgene Raum, in dem wir als Medien- und Weltbetrachter eine drohende Gefahr für uns ahnen […].« 56 Ebd., S. 21-22. 57 Vgl. ebd., S. 24-25: »Wenn die Moderne einerseits alle alten Grundlagen zerstört hat, weil sie sich allesamt als zu endlich, zu unstabil, zu fragil erwiesen haben, so hat die Moderne den kulturellen Werten andererseits eine neue, viel stabilere Grundlage gegeben – den Verdacht selbst.« 58 Groys’ Konzept des Verdachtes ähnelt an dieser Stelle einem Aphorismus von Georg Christoph Lichtenberg: »Alles hat seine Tiefen. Wer Augen hat der sieht [alles] in allem.« (Lichtenberg, Georg: Sudelbücher, Fragmente, Fabeln, Verse. In: Mautner, Franz [Hg.]: Schriften und Briefe. Bd. 1, 1983, S. 289, F 366). 59 Groys: Unter Verdacht, S. 19-20.

2 Aktueller Forschungsstand und historischer Diskurs

Betrachter beim Anblick der Oberfläche beschleicht, ist also systemisch und kann weder jemals bestätigt noch widerlegt werden: »Der Verdacht kann […] niemals entkräftet, abgeschafft oder untergraben werden, denn der Verdacht ist für die Betrachtung der medialen Oberfläche konstitutiv: Alles, was sich zeigt, macht sich automatisch verdächtig – und der Verdacht trägt, indem er vermuten lässt, dass sich hinter allem Sichtbaren etwas Unsichtbares verbirgt, das als Medium des Sichtbaren fungiert.«60 Der Blick des Verdachts muss jedoch nicht zwangsläufig negativ sein. Wie Groys erwähnt, können wir ebenso gut mit Interesse, Neugierde, Begehren oder Hoffnung auf die Oberfläche blicken.61 Der submediale Raum ist dann nicht mehr ein Ort der Manipulation, der Bedrohung und Gefahr, sondern ein Ort der Freude, des Vergnügens, der Erleuchtung oder einer beglückenden Einsicht. Allerdings bleiben auch diese positiven Vermutungen, angesichts der strukturellen Verborgenheit des submedialen Raums, immer hypothetisch. Ferner macht Groys darauf aufmerksam, dass sich der Verdacht nicht ausschließlich auf (massen-)mediale Oberflächen beschränkt, sondern prinzipiell für alle Oberflächen gilt. In seinen Augen ist das Konzept des Verdachts letztlich »bloß eine Neuformulierung der alten ontologischen Frage nach der Substanz, dem Wesen oder dem Subjekt, die sich hinter dem Bild der Welt möglicherweise verbergen«.62 Der Verdacht erweist sich demnach als ein Wahrnehmungsphänomen, das zum Ende des 20. Jahrhunderts mit der Allgegenwärtigkeit medialer Oberflächen zwar erneut evident wird, im Grunde jedoch bereits seit der Antike besteht:63 »Die klassische Ontologie fragt danach, was sich hinter den Erscheinungen der Natur verbirgt. Die Medienontologie fragt danach, was sich hinter den medialen Zeichen verbirgt – und zwar gerade dann, wenn diese Zeichen – wie auch ihre Zeichenträger – nicht ›natürlich‹, sondern ›künstlich‹ sind.«64 Der Verdacht, so wird an dieser Stelle deutlich, ist untrennbar mit der Oberfläche verknüpft und verleiht ihr erst ihren vermeintlich trügerischen Beigeschmack. Wenn auch die Oberfläche in ihrer unmittelbaren Materialität für uns einen wichtigen Zugang zur Wirklichkeit darstellt, bleibt scheinbar doch stets das Gefühl zurück, dass sie uns Wesentliches vorenthält und in einem ambivalenten Verhältnis zu einer, wie auch immer gefassten, Tiefe steht. Gleichzeitig kann aus unserem 60 Ebd., S. 25. 61 Vgl. ebd., S. 57. 62 Ebd., S. 20. 63 Vgl. ebd., S. 20: »Die Medientheorie, insofern sie die Frage nach dem Medienträger stellen muss, ist somit nichts anderes als die Fortsetzung der Ontologie unter den neuen Bedingungen der Weltbetrachtung.« 64 Ebd., S. 20.

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Die Philosophie der Oberfläche

Misstrauen gegenüber der Oberfläche jedoch nicht ohne weiteres die Annahme abgeleitet werden, dass Oberflächen grundsätzlich trügerische Phänomene sind, die keinerlei Erkenntnis für uns bereithalten. Der Verdacht, dass die Dinge unterhalb der Oberfläche anders liegen, als es uns zunächst scheinen mag, kann schließlich weder gänzlich bestätigt noch entkräftet werden. Wie im Laufe dieses Buches gezeigt werden soll, können uns Oberflächen paradoxerweise gerade aufgrund ihrer vermeintlich ambivalenten Erscheinung die Möglichkeit eröffnen, uns »tiefergehend« mit der Welt auseinanderzusetzen. Oberflächen, so soll deutlich werden, machen uns Wahrnehmungsangebote, die uns verdächtig erscheinen. Sie können in uns dadurch das Verlangen wecken, uns intensiver mit den Dingen unserer Umgebung zu beschäftigen und sie zu hinterfragen. Ob es sich bei unseren Wahrnehmungen der Oberfläche dann jedoch um »oberflächliche« Betrachtungen oder »tiefergehende« Einblicke, d.h. um subjektive Mutmaßungen oder objektivierbare Erkenntnisse handelt, kann – nach der Logik des Verdachts – niemals eindeutig geklärt werden. Schließlich wäre die Oberfläche für uns sonst kein ambivalentes und verdächtiges Phänomen mehr.

Wie Oberflächen erscheinen

Nachdem bereits ein kurzer Überblick über die Begriffsgeschichte und die wesentlichsten Konzepte im historischen Diskurs zur Oberfläche gegeben wurde, gilt es im folgenden Abschnitt das Erscheinen der Oberfläche – im Sinne dieses Bandes – ausführlicher zu beschreiben. Einen wichtigen Ausgangspunkt stellt hierfür bekanntlich der Begriff der Erscheinung in der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Martin Heideggers dar. Wie in Kapitel 3 zu zeigen sein wird, entwickeln beide in ihren philosophischen Schriften jeweils einen Erscheinungsbegriff, mit dessen Hilfe sich die Oberfläche als ein ambivalentes Phänomen zwischen Innen und Außen bestimmen lässt. Dabei soll es jedoch keinesfalls darum gehen, die Rolle der Erscheinung innerhalb der Philosophie Hegels und Heideggers zu beschreiben. Vielmehr soll anhand jenes Erscheinungsbegriffs eine Definition der Oberfläche skizziert werden, die für diese Untersuchung zweckdienlich ist. Gleichzeitig wird hierbei aber auch zu erläutern sein, warum insbesondere die Oberfläche, aufgrund ihres ambivalenten Erscheinens, bevorzugt Gegenstand des »Verdachts« – im Sinne von Boris Groys – ist. Im Anschluss daran soll in Kapitel 4 dann noch einmal gesondert auf die materielle Faktizität der Oberfläche und ihre Eigenschaft als äußere Objektgrenze eingegangen werden. Dabei soll einerseits deutlich werden, dass die Bestimmung der Oberfläche, als einem ambivalenten Phänomen zwischen Innen und Außen, sich auch in naturwissenschaftlicher Hinsicht bestätigt. In ihrer Eigenschaft als Objektgrenze, so wird zu zeigen sein, steht die Oberfläche sowohl in Beziehung zum Inneren als auch zum Äußeren eines Objektes und vermittelt in dieser Zwischenposition eine ganze Reihe von chemischen und physikalischen Austauschprozessen. Des Weiteren soll in diesem Kapitel veranschaulicht werden, wie die konkrete Faktizität und materielle Präsenz der Oberfläche unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit in ganz entscheidendem Maße bestimmt. In Kapitel 5 wird wiederum zu erörtern sein, ob und inwieweit sich nun die Oberfläche aufgrund ihrer vermittelnden Position zwischen Innen und Außen nicht auch als ein Medium begreifen lässt. Zwei Medienbegriffe stehen dabei im Zentrum: Zum einen ist dies ein materialitätsbezogener Medienbegriff, nach dem Oberflächen als Wahrnehmungsmedien zwischen Subjekt und Objekt bestimmt werden können, die sinnlich wahrnehmbare Qualitäten vermitteln. Zum anderen handelt es sich um einen semiotischen Medienbegriff, demzufolge Oberflächen als Trägermedien für Zeichen fungieren, die wiederum Sinngehalte vermitteln. Obwohl man in der Medientheorie den wahrnehmungstheoretischen und semiotischen Medienbegriff meist gegeneinander ausspielt, soll in diesem Kapitel gezeigt werden, dass sich beide Ansätze nicht zwangsläufig widersprechen. Sie stellen vielmehr zwei Pole eines Spannungsverhältnisses dar, das für Medien konstitutiv ist. Im Laufe dieses Kapitels soll die Oberfläche deshalb schließlich als ein Medium nähergebracht werden, das uns sowohl materielle Präsenz- als auch immaterielle

Sinneffekte vermittelt. Diese Bestimmung der Oberfläche, so wird zu zeigen sein, macht nicht zuletzt ihre »Verdächtigkeit« aus.

3 Die Oberfläche als ambivalentes Phänomen zwischen Innen und Außen. Zum Erscheinungsbegriff Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Martin Heideggers unter Berücksichtigung der Theorie des Verdachts

In der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Martin Heideggers, so wurde bereits erwähnt, findet sich ein Begriff von Erscheinung, der es erlaubt, die Oberfläche als ein ambivalentes Phänomen zwischen Innen und Außen zu bestimmen. Die Grundlage für dieses hier nun ausführlicher zu beschreibende Oberflächenkonzept bereitet Hegel mit seiner Kritik an der Philosophie Immanuel Kants und dem bis auf Platon zurückreichenden Dualismus von Innen und Außen. Hegel löst diesen Dualismus dialektisch auf und entwickelt dabei einen Erscheinungsbegriff, der nicht länger in Konkurrenz zu einer tieferliegenden Wahrheit steht, sondern vielmehr an deren Offenbarung teilhat. Besonders deutlich wird dies in seiner Wissenschaft der Logik, die zwischen 1812 und 1816 erschien. In dessen zweitem Buch über Die Lehre vom Wesen1 (in der Forschung auch kurz Wesenslogik genannt) überwindet Hegel die Kluft zwischen innerem Wesen und äußerer Erscheinung – ohne dabei jedoch deren Unterschiedlichkeit gänzlich aufzuheben. So behält auch Hegel die Idee eines inneren Wesens bei: mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, dass sich dessen Wahrheit nicht allein im Inneren verbirgt, sondern sich ebenso im Äußeren zeigt.2 Hegel zufolge verhüllt sich die Wahrheit zunächst im Wesen, tritt dann jedoch mit der Erscheinung ins Dasein, um sich schließlich in der Wirklichkeit zu offenbaren.3 Nach der Auffassung von Hegel hat die Erkenntnis von Wahrheit somit einen prozessualen Charakter. Der Vorgang der Erkenntnis 1 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik (2). In: Moldenhauer, Eva (Hg.): Werke. Bd. 6, 1986, S. 13-240. 2 Vgl. Hoffmann, Thomas Sören: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. 2004, S. 47: »Das Hegelsche Absolute ist dagegen ausdrücklich ›erkennbar‹, es fällt in letzter Instanz mit dem Erkennen zusammen.« 3 Vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik (2), S. 16.

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Die Philosophie der Oberfläche

vollzieht sich dabei von Innen nach Außen in drei voneinander zu differenzierenden Phasen: dem Wesen, der Erscheinung und der Wirklichkeit. Bildet bei Hegel das Wesen in der ersten Phase noch den zugrundeliegenden Kern für die Erkenntnis der Wahrheit, so spricht er der Phase der Erscheinung eine nicht minder bedeutsame Rolle zu. Seiner Auffassung nach hätten unsere Erkenntnisse über die Wirklichkeit schließlich keinerlei Bestand, wenn nicht auch das Wesen der Wirklichkeit bisweilen zur Erscheinung käme.4 Die Wahrheit bliebe schlicht und ergreifend unerkannt, »wenn sie nicht schiene und erschiene, wenn sie nicht für Eines wäre«.5 Hegels viel zitierter Satz »Das Wesen muss erscheinen«6 bringt dies deutlich zum Ausdruck. Von dieser Feststellung ausgehend, soll im Folgenden ein Oberflächenkonzept veranschaulicht werden, das eine wichtige Basis für dieses Buch darstellt. Dazu gilt es zunächst einmal die für die Wesenslogik bedeutsamen Phasen von Wesen, Erscheinung und Wirklichkeit zu beleuchten, um anschließend die Oberfläche als eine Erscheinung im Sinne Hegels erläutern zu können. Dabei soll von der These ausgegangen werden, dass die Oberfläche – wie die Erscheinung – eine vermittelnde Position zwischen Innen und Außen einnimmt. Ergänzend zu Hegels Erscheinungsbegriff sollen bei der Charakterisierung der Oberfläche ebenfalls einige Erörterungen Martin Heideggers miteinbezogen werden. Heidegger wird aus zweierlei Gründen berücksichtigt: zum einen, da er die Trias aus Wesen, Erscheinung und Wirklichkeit um den Begriff des Anscheins erweitert und so auch die Dimension des Trügerischen aufgreift. Zum anderen da Heidegger (anschaulicher als Hegel) den für die Erscheinung – wie für die Oberfläche – charakteristischen Zusammenhang von »Schein und Sein« erörtert. In Anlehnung an Hegels und Heideggers Erscheinungsbegriff soll die Oberfläche dann schließlich als eine Erscheinung bestimmt werden, die eine ambivalente Position zwischen Innen und Außen einnimmt. In dieser Zwischenposition, so wird zu zeigen sein, kann die Oberfläche entweder einen Austausch zwischen Innen und Außen begünstigen oder verhindern. Einem Schleier vergleichbar, soll die Oberfläche als ein wechselvolles Phänomen nähergebracht werden, das sich über die Prozesse des Zeigens und Verbergens vermittelt. Gleichzeitig soll zum Ende dieses Kapitels aber auch eine Brücke zu Boris Groys und seiner Theorie des Verdachts geschlagen werden. Dabei wird vor allem zu zeigen sein, weshalb uns gerade die Oberfläche aufgrund ihrer ambivalenten – oder: schleierhaften – Stellung zwischen Innen und Außen als ein »verdächtiges« Phänomen begegnet. 4 Vgl. Bolz, Norbert: Die Wirklichkeit des Scheins. In: Rötzer, Florian; Weibel, Peter (Hg.): Strategien des Scheins. Kunst, Computer, Medien. 1991, S. 115. 5 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik (1). In: Moldenhauer, Eva (Hg.): Werke. Bd. 13, 1986, S. 21. 6 Hegel: Wissenschaft der Logik (2), S. 124.

3 Die Oberfläche als ambivalentes Phänomen zwischen Innen und Außen

Zunächst einmal ist jedoch die Wesenslogik Hegels genauer zu beschreiben. Betrachtet man sich das Verhältnis von Innen und Außen bei Hegel zuerst einmal nur flüchtig, hat es den Anschein, als ob dieses noch ganz der platonischen Zweiweltenlehre entspricht: Im Inneren der Wirklichkeit verbirgt sich das Wesen der Dinge, während die Erscheinung wiederum ihr Äußeres darstellt.7 Das Wesen bestimmt Hegel als »das Absolute«8 oder als »die Wahrheit des Seins«.9 Für ihn stellt es den Ursprung und die Essenz allen unmittelbaren Seins unserer Wirklichkeit dar.10 Da sich das Wesen der Dinge allerdings tief im Inneren der Wirklichkeit verbirgt, ist es für den Menschen zunächst nicht wahrzunehmen. Hegel zufolge ist das Wesen erst dann zu erkennen, wenn es aus seiner Verborgenheit heraustritt und sich in der Wirklichkeit zeigt. Dafür muss das Wesen jedoch erscheinen, d.h. es muss vom Inneren ins Äußere übergehen.11 Nach Hegels Auffassung ist das Erscheinen des Wesens eine zentrale Voraussetzung zur Erkenntnis von Wahrheit. Anders als Platon oder Kant geht er nicht davon aus, dass sich die Wahrheit der Dinge stets hinter den Erscheinungen verborgen hält.12 In seiner Wissenschaft der Logik vertritt er die geradezu entgegengesetzte These, nach der sich das Wesen der Dinge durchaus anhand der Erscheinungen der Außenwelt erschließen lässt. Innen und Außen sind bei Hegel somit nicht mehr strikt voneinander getrennt, sondern potentiell durchlässig.13 Tritt das Wesen der Dinge nun aus dem Inneren hervor und zeigt sich in der äußeren Wirklichkeit, so erreicht es nach Hegel die zweite Phase der Wesenslogik: die Erscheinung. Mit der Erscheinung werden die Dinge unserer unmittelbaren Umgebung für uns zum ersten Mal wahrnehmbar. Das Wesen ist mit der Erscheinung ins Dasein getreten und »in die Existenz übergegangen.«14 Den Begriff »Existenz« 7 Vgl. ebd., S. 181-182. 8 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. In: Moldenhauer, Eva (Hg.): Werke. Bd. 8, 1986, S. 231. 9 Hegel: Wissenschaft der Logik (2), S. 13. 10 Vgl. ebd., S. 13: »Das Sein ist das Unmittelbare. Indem das Wissen das Wahre erkennen will, was das Sein an und für sich ist, so bleibt es nicht beim Unmittelbaren und dessen Bestimmungen stehen, sondern dringt durch dasselbe hindurch, mit der Voraussetzung, daß hinter diesem Sein noch etwas anderes ist als das Sein selbst, daß dieser Hintergrund die Wahrheit des Seins ausmacht.« 11 Vgl. Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. 2002, S. 140: »Das Wesen entkleidet sich erst als Erscheinendes; es muß zur Welt kommen, ins Dasein treten und Wirklichkeit werden«. 12 Vgl. Hackenesch, Christa: Die Wissenschaft der Logik (§§ 19-244). In: Schnädelbach, Herbert (Hg.): Hegels Philosophie. Kommentare zu den Hauptwerken. Bd. 3, 2000, S. 114-115 13 Dies ist nun auch der wesentliche Punkt von Hegels berühmter Kant-Kritik. Liegt bei Kant das Wesen – bzw. das Ding an sich – noch ausschließlich im Inneren verborgen, so zeigt es sich bei Hegel in der Erscheinung: »Die Erscheinung ist das was das Ding an sich ist, oder seine Wahrheit.« Hegel: Wissenschaft der Logik (2), S. 124-125. 14 Hegel: Wissenschaft der Logik (2), S. 128.

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Die Philosophie der Oberfläche

benutzt Hegel hier im wörtlichen Sinne, abgeleitet vom lateinischen Verb existere: »heraus-« bzw. »hervortreten«.15 Wenn das Wesen also mit der Erscheinung in die Existenz übergeht, so meint dies buchstäblich ein »Herausgegangensein aus der […] Innerlichkeit«.16 Das Wesen ist jetzt nicht mehr »hinter oder jenseits der Erscheinung«,17 sondern bereits in ihr enthalten: »Das Äußere ist daher fürs erste derselbe Inhalt als das Innere.«18 Wie die Einschränkung »fürs erste« im obigen Zitat bereits erahnen lässt, ist mit der Erscheinung in Hegels Wesenslogik der Offenbarungsprozess der Wahrheit allerdings noch nicht abgeschlossen. Denn obschon das Wesen mit der Erscheinung in die Wirklichkeit eintritt, ist die Erscheinung nach Hegel noch nicht in einem umfassenden Sinne »wirklich«. Hegel macht hier auf den phänomenologischen Unterschied von »erscheinen« und »offenbaren« aufmerksam. Den Begriff der Erscheinung versteht er dementsprechend nur als ein erstes Sichtbarwerden der Dinge oder als den Vorschein, zu dem die Dinge kommen, ohne dass sich dabei zugleich deren Wesen offenbart. Hegel zufolge können wir die Dinge in den Momenten ihres Erscheinens somit lediglich wahrnehmen. Erkennen und umfassend begreifen können wir sie zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht. Das Hervortreten der Dinge in ihrer Erscheinung bezeichnet Hegel daher auch als die »noch unvollkommene Durchdringung«19 von Innen und Außen. Wirklich erschließen lässt sich das Wesen der Dinge erst mit der dritten und letzten Stufe der Wesenslogik: der Wirklichkeit. Mit ihr kommt der Offenbarungsprozess der Wahrheit nun zu seinem vorläufigen Ende. Das Wesen der Dinge verbirgt sich nun nicht mehr im Inneren (Wesen), noch kommt es nur partiell im Äußeren zum Vorschein (Erscheinung), sondern offenbart sich jetzt restlos in der Wirklichkeit. »Das wesentliche Verhältnis«, so schreibt Hegel, »hat sich in dieser Identität der Erscheinung mit dem Inneren oder dem Wesen zur Wirklichkeit bestimmt.«20 Die Phase der Wirklichkeit stellt somit »das unmittelbare Sichübersetzen des Inneren ins Äußere«21 dar; sie beschreibt die »Einheit des Inneren und Äußeren«.22 Hegel spricht der Phase der Wirklichkeit daher auch eine höhere Realität zu als jener Wirklichkeit, die sich noch im Moment des Erscheinens zeigte: Sie ist die »absolute Wirklichkeit«.23 Sie ist in einem umfassenderen Sinne »wirklich« und wahr. 15 Vgl. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 253; Georges: Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Bd. 1, S. 2612. 16 Hegel: Wissenschaft der Logik (2), S. 128. 17 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 261. 18 Ebd., S. 274. 19 Hegel: Wissenschaft der Logik (2), S. 125. 20 Ebd., S. 185. 21 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 288. 22 Hegel: Wissenschaft der Logik (2), S. 186. 23 Ebd., S. 186.

3 Die Oberfläche als ambivalentes Phänomen zwischen Innen und Außen

Was genau sagt dies jedoch nun über den Erscheinungsbegriff bei Hegel und seinen Stellenwert in der Wesenslogik aus? Zunächst einmal wird mit der letzten Stufe der Wesenslogik deutlich, dass die Phase der Erscheinung eine Zwischenposition in der Abfolge von Wesen, Erscheinung und Wirklichkeit einnimmt. Die Erscheinung bildet so eine Art Schwelle oder Schnittstelle zwischen dem Wesen und der Wirklichkeit – zwischen der verborgenen und der offenbarten Wahrheit. Auf der einen Seite ist das Wesen in der Erscheinung nicht länger verborgen, sondern bereits in die Existenz übergegangen. Auf der anderen Seite hat sich das Wesen in der Erscheinung aber noch nicht insoweit offenbart, als dass die Dialektik von Innen und Außen vollständig übereinstimmen würde. In den Momenten ihres Erscheinens sind die Dinge somit zwar wahrnehmbar, dadurch aber noch nicht zwangsläufig wahr. Die Erscheinung bringt lediglich etwas zum Vorschein, von dem wir zunächst nicht entscheiden können, ob es dem Wesen der Dinge entspricht. Wir können nur das Äußere der Erscheinung wahrnehmen, während uns ihr Inneres vorerst verborgen bleibt. In seiner Studie zu Hegel mit dem Titel Sein und Schein umschreibt Michael Theunissen die Erscheinung daher auch als die »Oberfläche des realen Daseins«.24 Obwohl Hegel in seiner Wesenslogik den Begriff der Erscheinung nicht mit dem der Oberfläche gleichsetzt, tritt deren gedankliche Nähe dennoch deutlich zutage. Schließlich stellen sowohl die Erscheinung als auch die Oberfläche äußere Grenzen dar, die in einem wie auch immer gearteten Verhältnis zu einer verborgenen Tiefe stehen. Die Begriffe Erscheinung und Oberfläche können somit durchaus miteinander in Beziehung gesetzt werden. Auch Theunissen spricht wiederholt von der Erscheinung als der »Erscheinungsoberfläche«.25 Um nun die Gemeinsamkeiten und Eigenschaften von Erscheinung und Oberfläche stärker herausarbeiten zu können, soll der Erscheinungsbegriff Hegels um einige Erläuterungen Martin Heideggers ergänzt werden. Heidegger vertritt in seinen philosophischen Schriften ein Oberflächenkonzept, das dem Hegels durchaus ähnelt. Obwohl sich Heidegger in den hier verwendeten Texten nicht explizit auf Hegel bezieht, sind die Parallelen dennoch offensichtlich. Ebenso wie Hegel geht auch Heidegger davon aus, dass die Wahrheit aus ihrer Verborgenheit heraustreten und erscheinen muss, um sich in der Wirklichkeit zu offenbaren. Darüber hinaus lässt sich auch bei Heidegger eine dreistufige Abfolge von Offenbarungsmomenten erkennen, die jener von Hegel ähnelt – auch wenn sich die verwendeten Termini voneinander unterscheiden. Vollzieht sich die dreistufige Abfolge der Wahrheitserkenntnis bei Hegel bekanntlich entlang der Phasen Wesen, Erscheinung und Wirklichkeit, so verwendet Heidegger dagegen die Begriffe Verborgenheit, Erscheinung und Unverborgenheit. 24 Theunissen, Michael: Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik. 1994, S. 143. 25 Vgl. ebd., S. 143, 164, 165, sowie S. 343.

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Die Philosophie der Oberfläche

Nach der Auffassung von Heidegger ist das Wesen der Dinge zunächst einmal verborgen, tritt dann jedoch mit der Erscheinung ins Dasein, um sich schließlich in der Unverborgenheit zu offenbaren. Den Begriff Unverborgenheit entlehnt er dem griechischen Begriff aletheia (άληϑειᾶ),26 der sowohl »Wahrheit« bedeutet als auch dasjenige bezeichnet, was »nicht verborgen ist«.27 In der Unverborgenheit kommt die Wahrheit somit gänzlich aus ihrer Verborgenheit hervor und zeigt sich als das, was sie ist. Für die Unverborgenheit verwendet Heidegger in Sein und Zeit auch den Begriff »Phänomen«.28 Dieser bezeichnet in seiner ursprünglichen Bedeutung, gr. phainomenon (φαινομενον), nämlich nicht nur die »Erscheinung«, sondern auch »das, was sich zeigt, das Sichzeigende, das Offenbare«.29 Wie Hegel es mit der Phase der (absoluten) Wirklichkeit tut, so umschreibt Heidegger nun seinerseits mit der Unverborgenheit eine wahre Erscheinung – eine Erscheinung, die ihr Inneres offenbart hat und sich selbst zeigt.30 In der Philosophie Heideggers ist der Moment der Unverborgenheit allerdings nicht einfach nur ein »vorhandener Zustand, sondern ein Geschehnis«.31 Für Heidegger wie für Hegel ist Wahrheit ein Prozess, der sich gleichzeitig mit seiner an der Oberfläche zutage tretenden Erscheinung vollzieht. So ist auch Heidegger der Auffassung, dass Seiendes zuerst aus der Verborgenheit heraustreten und erscheinen muss, bevor es sich überhaupt offenbaren kann.32 Den in der Form des Erscheinens bestehenden Zusammenhang von Sein und Schein verdeutlicht Heidegger ausführlich in seiner Einführung in die Metaphysik. Heidegger führt den Begriff des Seins darin zunächst auf den griechischen Begriff physis (φύσις)33 zurück, der sowohl den »Ursprung« und die »Natur«, aber auch das »Wesen einer Sache« beschreiben kann.34 Zusätzlich weist er aber auch darauf hin, dass der Begriff der physis in direktem Zusammenhang mit den griechischen Begriffen physein (Φύειν) – »wachsen«, »erzeugen«, »hervorbringen« – und phainesthai 26 Vgl. Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 77. 27 Vgl. Frisk: Griechisches Etymologisches Wörterbuch, Bd. 1, S. 71. 28 Heidegger, Martin: Sein und Zeit. In: Husserl, Edmund (Hg.): Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. Bd. 8, 1972, S. 28. 29 Ebd., S. 28. 30 Vgl. Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes. In: Ders.: Holzwege. 1950, S. 40: »Wie soll sie [die Wahrheit; C.R.] sich zeigen, wenn sie selbst nicht aus der Verborgenheit herausstehen kann, wenn sie selbst nicht im Unverborgenen steht?" 31 Ebd., S. 42. 32 Vgl. Heidegger, Martin: Aletheia. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 7, 2000, S. 267: »Unverborgenheit ist der Grundzug dessen, was schon zum Vorschein gekommen ist und die Verborgenheit hinter sich gelassen hat.« 33 Vgl. Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 76-77. 34 Vgl. Menge, Hermann; Güthling, Otto: Langenscheidts Großwörterbuch der griechischen und deutschen Sprache. 1967, S. 739.

3 Die Oberfläche als ambivalentes Phänomen zwischen Innen und Außen

(φαίνεσϑαι) – »Aufleuchten«, »Sich-Zeigen«, »Erscheinen« – steht.35 Der Schein, so folgert Heidegger daraus, ist als Erscheinen schon von Anbeginn im Sein enthalten, mit ihm tritt das Seiende aus der Verborgenheit hervor.36 Darauf deute bereits die implizite Nähe zwischen dem Schein und dem Licht hin. So bezeichne der Schein nicht etwa nur das Leuchten des Sonnen- und Kerzenscheins, sondern stehe auch im übertragenen Sinne für den Glanz des Ruhmes.37 Nach der Auffassung von Heidegger tritt das Sein also mit seiner Erscheinung hell und sichtbar in die äußere Wirklichkeit ein.38 »Seiendes sein«, so schreibt er, »– darin liegt: Zum Vorschein kommen, erscheinend-auftretend, sich hin-stellen«.39 Und an anderer Stelle: »Das Wesen des Scheins liegt im Erscheinen. Es ist das Sich-zeigen, Sich-darstellen, Anstehen und Vor-liegen. Das lang erwartete Buch erscheint jetzt, d.h. es liegt vor, ist vorhanden und deshalb zu haben.«40 Die Erscheinung darf – trotz ihrer unmittelbaren Wahrnehmbarkeit – zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht als eine gänzlich unverborgene Erscheinung verstanden werden. Der Auffassung Hegels nicht unähnlich, geht auch Heidegger davon aus, dass die Dinge in ihrer Erscheinung zwar zum Vorschein kommen, ihr eigentliches Wesen allerdings noch verborgen ist.41 Der Begriff der Erscheinung, so sagt Heidegger selbst, ist »doppeldeutig«:42 »Erscheinen besagt einmal: das sich sammelnde, in der Gesammeltheit Sichzum Stand-bringen und so Stehen. Dann aber heißt Erscheinen: als schon Da35 Vgl. Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 77: »Die Wortstämme φυ- und φα- nennen dasselbe.« 36 Vgl. ebd., S. 83: »Zum Sein selbst als Erscheinen gehört der Schein.« 37 Vgl. ebd., S. 76-79; Santel, Gabriele: Schein. In: Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried (Hg.) : Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8, 1992, S. 1230: Wie Gabriele Santel verdeutlicht, ist Schein im Sinne eines Lichtes oder Glanzes seit dem frühen Mittelalter in der deutschen Umgangsprache gebräuchlich. Als lat. ›splendor‹ (Schmuck, Zierde) oder ›lumen‹ (Glanz, Schimmer) bzw. als griech. ›αυγή ‹ (Licht, Schein) oder ›φῶ ς‹ (Schein des Lichts) steht Schein »für das Leuchten von Gestirnen, für diese selbst, dann aber auch in überträgener Bedeutung für Ruhm, Glück oder Schönheit.« 38 Vgl. Heidegger: Aleithea, S. 266: »Das Wort ›licht‹ bedeutet: leuchtend, strahlend, hellend. Das Lichten gewährt das Scheinen, gibt Scheinendes in ein Erscheinen frei.« Vgl. Theunissen: Sein und Schein, S. 144: »Eingelassen in die Erscheinung macht der Schein einen Bestandteil der Realität aus, wenn auch nur jenen, den der metaphorische Begriff der Oberfläche veranschaulichen möchte.« 39 Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 78. 40 Ebd., S. 76. 41 Vgl. ebd., S. 87: »Weil Sein heißt: aufgehendes Erscheinen, aus der Verborgenheit heraustreten, deshalb gehört zu ihm wesenhaft die Verborgenheit, die Herkunft aus ihr.« Heidegger erwähnt ebenfalls, dass das Seiende in dem Moment seines Erscheinens noch in die Verborgenheit »zurückgeneigt« ist (Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 87). 42 Ebd., S. 139.

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Stehendes eine Vorderfläche, Oberfläche darbieten, ein Aussehen als Angebot für das Hinsehen.«43 Die Erscheinungen der Dinge vermitteln uns somit zunächst einmal nur einen ersten, wahrnehmbaren Eindruck von der Welt. Ob und inwieweit sich die Dinge in ihren Erscheinungen dann tatsächlich offenbaren, erfahren wir laut Heidegger, bestenfalls erst im Nachhinein. In den Momenten ihres Erscheinens selbst liegen die generelle Wahrnehmbarkeit der Dinge, ihre Verborgenheit sowie ihre Offenbarung allesamt noch dicht beieinander. »Jegliches Seinende«, so schreibt er, »das begegnet […], hält diese seltsame Gegnerschaft des Anwesens inne, indem es sich zugleich immer in einer Verborgenheit zurückhält. Die Lichtung, in die das Seiende hereinsteht, ist in sich zugleich Verbergung.«44 Erschwerend kommt für Heidegger hierbei noch hinzu, dass die Dinge mitunter sogar anders scheinen können als sie sind. Das Wesen der Dinge ist in solchen Fällen nicht nur verborgen, sondern zusätzlich durch einen irreführenden Schein »verstellt«45 . Im Unterschied zu Hegel erwähnt Heidegger damit noch eine dritte Form grundlegenden Erscheinens: Neben der allgemeinen Erscheinung der Dinge und der offenbarten Erscheinung der Wahrheit besteht seiner Auffassung nach noch die Möglichkeit eines irreführenden »Anschein[s]«46 . Auch im Anschein der Dinge kommt laut Heidegger Seiendes zur Erscheinung, allerdings, »gibt [es] sich anders, als es ist«.47 Das Sein zeige sich im Anschein nicht selbst, sondern sehe nur »›so aus wie…‹«.48 Heidegger zufolge ist die Möglichkeit der Existenz eines Anscheins der wesentliche Grund dafür, dass wir uns in den Erscheinungen der Dinge bisweilen täuschen können.49 Mitunter täuschten wir uns in den Erscheinungen aber auch deshalb, da sich eine ganze Gruppe oder eine ganze Gesellschaft in ihrem Urteil über die Dinge irre. Wie Heidegger verdeutlicht, wächst der Mensch schließlich nicht isoliert von 43 Ebd., S. 139. 44 Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 42 45 Ebd., S. 42. Heidegger unterscheidet zwei Arten. in denen das Wesen der Dinge verborgen sein kann: einmal die Verbergung des Wesens als »versagen« (Erscheinung) und einmal die Verbergung des Wesens als »verstellen« (Anschein). 46 Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 76. Damit sind nun auch alle grundlegenden Formen des Scheins erwähnt, die Heidegger und Santel gleichermaßen definieren: 1. Der Schein als Glanz, 2. Der Schein als Erscheinen und 3. Der Schein als Anschein. (Vgl. Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 76; Santel: Schein, S. 1230). 47 Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 42. Als Beispiele eines Anscheins können etwa Spiegelbilder, eine Fata Morgana oder die täuschend echten Erscheinungen der illusionistischen Malerei genannt werden. 48 Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 28-29: »Die Möglichkeit besteht sogar, daß Seiendes sich als das zeigt, was es an ihm selbst nicht ist. In diesem Sichzeigen ›sieht‹ das Seiende ›so aus wie…‹. Solches Sichzeigen nennen wir Scheinen.« 49 Vgl. Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 42.

3 Die Oberfläche als ambivalentes Phänomen zwischen Innen und Außen

anderen Menschen auf, sondern ist stets in eine Gemeinschaft und eine Epoche eingebettet, die seinen Blick auf die Welt bestimmt.50 Unser Urteil über die Erscheinungen der Dinge bleibe davon nicht unbeeinflusst, selbst wenn wir den vorherrschenden Wissensdiskursen kritisch gegenüberstehen.51 Obschon die Dinge unserer Umgebung also eine materielle und vermeintliche reale Erscheinungsoberfläche besitzen, muss diese deshalb noch lange nicht »der Wahrheit« entsprechen. Wie sowohl Hegel als auch Heidegger in ihrer Philosophie zu Bedenken geben, darf eine Erscheinung nicht ohne weiteres als wahr und umfassend wirklich aufgefasst werden. Eine Erscheinung bringe lediglich etwas zum Vorschein, von dem wir – ohne kritisches Überprüfen – vorerst nicht entscheiden könnten, inwiefern es der Wahrheit entspricht. Ob sich dem Betrachter das Wesen also in der Erscheinung offenbart und damit zur Wirklichkeit wird, ob es sich noch in der Verborgenheit zurückhält oder gar durch einen täuschenden Anschein verstellt wird, bleibt – nach Auffassung von Hegel und Heidegger – zunächst unentschieden.52 Im Gegensatz zur unverborgenen Erscheinung der Wahrheit würden uns die Erscheinungen der Dinge somit zunächst keine verlässlichen und eindeutigen Einblicke in ihr Inneres gewähren.53 Die Objekte unserer Umgebung sind, wie Heidegger es formuliert, »niemals eine starre Bühne mit ständig aufgezogenem Vorhang«.54 Ihre Erscheinungsoberflächen gilt es dementsprechend auch nicht als ein50 Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 127: »Sie [die Öffentlichkeit] regelt zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Recht.« 51 Vgl. ebd., S. 126-127. Heidegger umschreibt die Einflussnahme der Allgemeinheit auf den Einzelnen auch als die »Diktatur« des »man«: »Wir genießen und vergnügen uns wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wie ziehen uns aber auch vom ›großen Haufen‹ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden ›empörend‹, was man empörend findet.« 52 Jene vorläufige Unbestimmbarkeit der Dinge angesichts der Anzahl an möglichen Erscheinungsweisen beschreibt Georges Didi-Huberman wie folgt: »Was macht diesen Moment aus, den Moment gerade bevor das, was in Erscheinung tritt, sein vermutlich dauerhaftes, sein hoffentlich definitives Aussehen annimmt? Es ist eine Offenheit, eine einmalige, nur in diesem Moment gegebene Offenheit, die das Erscheinen auszeichnet. In diesem Moment bricht eine Paradoxie auf, weil das, was in Erscheinung tritt, während es sich der sichtbaren Welt öffnet, sich zugleich in gewisser Weise zu verbergen beginnt.« (Didi-Huberman, Georges: Das Paradox der Phasmiden. In: Ders.: Phasmes. Essays über Erscheinungen von Photographien, Spielzeug, mystischen Texten, Bildausschnitten, Insekten, Tintenflecken, Traumerzählungen, Alltäglichkeiten, Skulpturen, Filmbildern. 2001, S. 15). 53 Die Phase der Erscheinung beschreibt einen Moment vor der offenbarten Wahrheit und vor der umfassenden Wirklichkeit. Im Sinne von Bernhard Waldenfels lässt sich die Phase der Erscheinung daher auch als »eine neutrale Sphäre des Prä-realen […]« bestimmen, »wo noch nicht streng geschieden ist zwischen Realem und Irrealem, Wirklichkeit und Schein […]«. (Waldenfels: Fiktion und Realität, S. 99-100). 54 Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 42.

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Die Philosophie der Oberfläche

deutige, sondern als überaus flexible und wandelbare Erscheinungen zu begreifen. Die Oberfläche muss – trotz ihrer konkreten Faktizität – als eine variable Schnittstelle verstanden werden, die zwischen Außen und Innen, zwischen Sichtbarem und Verborgenem vermittelt. In dieser ihrer prozessualen Beschaffenheit kann die Oberfläche wie eine Art Schleier den Blick auf das Dahinterliegende abwechselnd ver- oder enthüllen und von Moment zu Moment ein jeweils anderes Erscheinen annehmen. Heidegger beschreibt diese schleierartige Ambivalenz wie folgt: »Im Wesen der Erscheinung liegt das Auf- und Abtreten, das Hin- und Her- in dem echt demonstrativen zeigenden Sinne. Das Sein ist so in das mannigfaltige Seiende verstreut.«55 Und auch Hegel weist auf jene Schleierhaftigkeit der Erscheinung hin, wenn er schreibt: »Die Erscheinung aber ist die seiende vielfache Verschiedenheit, die sich in unwesentlicher Mannigfaltigkeit herumwirft.«56 Im Sinne Hegels und Heideggers sind wir bei der Wahrnehmung unserer Umgebung deshalb stets mit einer Vielzahl an Eindrücken konfrontiert, deren eigentliche Natur uns bei aller Sichtbarkeit doch weitestgehend unbekannt ist. »Durch das Sein«, so fasst es Heidegger zusammen, »geht ein verhülltes Verhängnis […]. Vieles am Seienden vermag der Mensch nicht zu bewältigen. Weniges nur wird erkannt. Das Bekannte bleibt ein Ungefähres, das Gemeisterte ein Unsicheres.«57 Trotz dieser grundlegenden Rätselhaftigkeit der Welt und ihrer Oberflächen schreiben allerdings weder Hegel noch Heidegger der Erscheinung jemals eine ausschließlich negative oder trügerische Position zu. Viel eher bewertet Hegel die Erscheinung als »eine sehr wichtige Stufe« im Offenbarungsprozess von Wahrheit, es komme nur darauf an, »daß die Bedeutung der Erscheinung gehörig aufgefasst wird«.58 Auch wenn die Erscheinung nicht mit dem Wesen gleichgesetzt werden dürfe, sei sie doch ein unerlässlicher Bestandteil zur Erkenntnis von Wahrheit. »Die Erscheinung«, so folgert er, »ist somit nicht unwesentlich, sondern wahrhaft notwendig«.59 Dies bestätigt auch Heidegger, wenn er die Erscheinung nicht allein als »die jedesmalige Grenze der Erkenntnis« bestimmt, sondern ebenso als den möglichen »Anfang der Lichtung«,60 sprich: der Wahrheit. Auch die Oberfläche kann als eine Erscheinung in diesem Sinne verstanden werden. Die Oberfläche stellt dabei weder ein eindeutig positives noch ein eindeutig negatives, sondern vielmehr ein überaus wechselvolles und widersprüchliches Phänomen dar. 55 56 57 58 59

Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 78. Hegel: Wissenschaft der Logik (2), S. 151. Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 41. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, S. 262 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Philosophie der Kunst oder Ästhetik. Nach Hegel. Im Sommer 1826. Mitschrift Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler. Hg. von Annemarie GethmannSeifert, 2004, S. 37 60 Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 42

3 Die Oberfläche als ambivalentes Phänomen zwischen Innen und Außen

Folgt man Boris Groys und seiner medienphilosophischen Theorie des Verdachts, so ist es gerade diese Ambivalenz der Oberfläche, die sie für uns zu einem Objekt von besonderem Interesse macht. Groys beschreibt dies ausführlich in seiner im Jahr 2000 veröffentlichten Schrift Unter Verdacht. Wie in Kapitel 2 bereits erläutert wurde, geht Groys darin von dem Gedanken aus, dass Oberflächen – hier vor allem (massen-)mediale Oberflächen – uns verdächtig erscheinen und wir diese stets mit einer gewissen Voreingenommenheit betrachten. So betrachten wir die Erscheinungen der Oberfläche beispielsweise unter der Annahme, dass diese trügen und uns die Wahrheit vorenthalten, dass sie eine große Leere verbergen, oder dass sie auf essentielle Wahrheiten hindeuten. »Alles was uns die [mediale] Oberfläche zeigt«, so sei Groys hier erneut zitiert, »steht automatisch unter Verdacht. […] Wir können nicht betrachten, ohne zu verdächtigen.«61 Getragen werde dieser Verdacht im Wesentlichen von der Hoffnung auf erkenntnistheoretische Einsicht. Groys zufolge wartet der Betrachter darauf, dass sich die Oberfläche offenbart und ihr eigentliches Wesen preisgibt:62 »Jeder Verdacht ist zugleich ein Warten auf Offenbarung. Der Verdacht nämlich ist überhaupt erst dann gegeben, wenn eine Offenbarung des Verborgenen als möglich gedacht und angestrebt wird – und sei dieses Verborgene dabei auch als das große Nichts gedacht.«63 Doch zu welchem Verdacht auch immer wir uns von den Erscheinungen der Oberfläche verleiten lassen, wirklich beweisen oder entkräften lässt sich dieser Verdacht laut Groys jedoch nicht. Den Grund dafür sieht er in dem grenzlosen Misstrauen, das dem Verdacht inhärent ist: Da alles, was sich zeige, unter dem Verdacht stehe, hinter der Oberfläche anders zu sein, als es zunächst scheine, sei alles, was sich zeige, potentiell verdächtig. »Und in der Tat«, so Groys, »steht alles, was sich zeigt, automatisch unter dem Verdacht, dass es, indem es sich zeigt, etwas anderes hinter sich verbirgt – wobei dieser Verdacht, wie gesagt, weder bestätigt noch wiederlegt werden kann.«64 »Der Verdacht«, so folgert er, »ist […] gerade deswegen ein Verdacht, weil sein Gegenstand nicht erkannt, sondern nur vermutet werden kann.«65 Auch bei Groys wird die Oberfläche somit weder als ein wahres noch als ein trügerisches Phänomen bestimmt. Im Rahmen seiner Theorie des Verdachts beschreibt er die Oberfläche vielmehr als eine Erscheinung, die gerade aufgrund ihrer Ambivalenz und Vielschichtigkeit für uns von besonderem Interesse ist – und bleiben wird. Denn im Unterschied zu Hegel und Heidegger geht Groys, wie gesagt, 61 62 63 64 65

Groys: Unter Verdacht, S. 218 Vgl. ebd., S. 21-22 Ebd., S. 220 Ebd., S. 222 Ebd., S. 55

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Die Philosophie der Oberfläche

nicht davon aus, dass sich die Ambivalenz der Oberfläche jemals auflösen lässt. Ob es sich bei den Erscheinungen der Oberfläche um einen täuschenden Anschein oder um die offenbarte Wahrheit handelt, bleibt seiner Auffassung nach fraglich. Ihre widersprüchliche Stellung zwischen Innen und Außen wird die Oberfläche hier niemals aufgeben.

4 Nur ein Randphänomen? Zur materiellen Faktizität der Oberfläche

Nachdem im vorangegangenen Kapitel bereits ein erster Eindruck vom Erscheinen der Oberfläche vermittelt wurde, soll in diesem Kapitel noch einmal dezidiert auf die materielle Präsenz und Faktizität der Oberfläche eingegangen werden. Dabei wird einerseits zu zeigen sein, dass Oberflächen nicht allein aus philosophischer, sondern auch aus naturwissenschaftlicher Perspektive als ambivalente Phänomene zwischen Innen und Außen bestimmt werden können. Des Weiteren soll in diesem Kapitel aber auch deutlich werden, dass Oberflächen in ihrer Eigenschaft als materielle Grenzflächen eine unabdingbare Voraussetzung zur Wahrnehmung unserer Umgebung darstellen. Theoretische Grundlagen bilden hierfür die Überlegungen des amerikanischen Psychologen James J. Gibson, so wie er sie in seinen Schriften Die Wahrnehmung der visuellen Welt sowie in Wahrnehmung und Umwelt beschreibt. Gibson entwirft darin einen ökologischen Ansatz der Wahrnehmungspsychologie, der die chemischen und physikalischen Prozesse der Natur hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Menschen untersucht. Seine Theorien sind für dieses Kapitel von besonderer Bedeutung, da Gibson wiederholt auf Oberflächen eingeht und diese ausführlich in ihrer Eigenschaft als materielle Rand- und Grenzflächen erörtert. Dazu wählt er einen breiten, interdisziplinären Zugang und verknüpft Erkenntnisse aus den Bereichen wie der Physik, Chemie, Gestaltpsychologie und Ästhetik. Auf diese Weise gelingt ihm ein umfassender Blick auf die materielle Faktizität der Oberfläche sowie deren Stellenwert für die Vorgänge der Natur und die Wahrnehmungsprozesse des Menschen. Eine Voraussetzung zum Verständnis von Gibsons Theorie stellt zunächst seine Unterscheidung der Umwelt in Medium, Substanzen und Oberflächen dar. Als Medium bestimmt Gibson die gasförmige Atmosphäre der Erde, die aufgrund ihres geringen Widerstands u.a. für Licht, Schallwellen und Gerüche durchlässig ist.1 Zu 1 Vgl. Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, S. 17. Gibson zufolge ermöglicht die hohe Durchlässigkeit der Erdatmosphäre damit nicht zuletzt auch, dass wir uns in unserer Umgebung orientieren und fortbewegen können.

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Die Philosophie der Oberfläche

den Substanzen zählt er die stofflichen Bestandteile der Umwelt, wie z.B. Holz, Erde oder Mineralien.2 Substanzen seien größtenteils lichtundurchlässig, mehr oder weniger fest und in ihrer chemischen wie physikalischen Zusammensetzung meist heterogen.3 Nach außen hin umgrenzt würden Substanzen von ihren Oberflächen. Gibson zufolge verleihen Oberflächen der Welt und ihren Objekten eine sinnliche Präsenz und prägen damit maßgeblich die Umgebung des Menschen. »Die beständigen Oberflächen der Umwelt«, so schreibt er, »sind dasjenige, was den Rahmen der Realität abgibt.«4 Zu den charakteristischen Eigenschaften der Oberfläche zählt er ihre Flächenanordnung, ihre materielle Textur sowie ihr Reflexionsvermögen.5 Wie die Naturwissenschaftler Martin Henzler und Wolfgang Göpel in ihrem Standardwerk zur Oberflächenphysik des Festkörpers beschreiben, ist eine eindeutige Abgrenzung der Oberfläche nach innen – also zur Substanz – allerdings nicht ohne weiteres möglich.6 Die Oberfläche, als oberste atomare Schicht eines Objektes, sei kein flächenhaftes Gebilde, sondern weise vielmehr eine endliche Dicke auf, innerhalb derer der Übergang zum Festkörpervolumen sukzessive erfolge.7 »Diese Schicht«, so die Autoren, »kann sich über viele Atomlagen erstrecken, wenn sie nicht nur die oberste, sondern auch die zweite und weiter innen liegenden Atomlagen noch meßbar vom ›Inneren‹ des Festkörpers unterscheiden.«8 Was im allgemeinen Sprachgebrauch als die Oberfläche eines Körpers bezeichnet werde, sei »häufig die Randschicht mit einer typischen Dicke zwischen 1 µm und 1 mm. Diese Randschicht bestimmt Griffigkeit, Farbe und Glanz.«9 Für die naturwissenschaftliche Forschung stelle das äquivoke Verhältnis der Oberfläche zur Substanz eine besondere Herausforderung dar. Denn auch wenn 2 Vgl. Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, S. 19. Ein Sonderfall ist hierbei die Substanz des Wassers, da Wasser zugleich als Medium aufgefasst werden könne. Wie Gibson betont, ist z.B. für die Physik »jede Substanz, die Wellen weiterleitet, auch wenn es sich dabei um einen festen Stoff handelt, ein Medium«. (ebd., S. 17) Da der Mensch – im Unterschied zu den Fischen – das Element des Wasser jedoch mehr als Substanz denn als Medium erfahre, ordnet Gibson das Wasser den Substanzen zu. »Für uns gehört Wasser in die Kategorie der Substanzen, nicht in die der Medien.« (Vgl. ebd., S. 22). 3 Vgl. ebd., S. 23. 4 Ebd., S. 107. 5 Vgl. ebd., S. 33. 6 Vgl. Henzler/Göpel: Oberflächenphysik des Festkörpers, S. 16-17. 7 Vgl. ebd. S. 18. 8 Ebd., S. 18. Für Henzler und Göpel stellt dies nun auch eine Basis zur Definition der Oberflächenphysik dar: »In Analogie zur Festkörperphysik, in der physikalische Eigenschaften eines festen Körpers über den dreidimensionalen Aufbau aus Atomen beschrieben werden, versteht man als Oberflächenphysik die Wissenschaft, in der Eigenschaften in der obersten atomaren Schicht und alle damit zusammenhängenden mittelbaren und unmittelbaren Änderungen von Volumeneigenschaften beschrieben werden.« (ebd., S. 18). 9 Ebd., S. 17.

4 Nur ein Randphänomen?

»Oberflächen mit ihren zwei Dimensionen oft viel einfacher zu verstehen sind als Festkörper mit ihren drei Dimensionen«, so könnten an der Oberfläche doch »[…] Effekte auftreten […], die in der Tat viel komplizierter zu beschreiben und experimentell zu erfassen sind als Volumenphänomene«.10 Der österreichische Physiker und Nobelpreisträger Wolfgang Pauli soll aus diesem Grund gesagt haben: »Das Volumen des Festkörpers schuf Gott, ihre Oberfläche wurde vom Teufel gemacht.«11 Das Verhältnis der Oberfläche erweist sich jedoch nicht nur nach innen als überaus komplex, sondern ebenso nach außen, d.h. zum Medium oder zu anderen Substanzen. Schließlich, so betont Gibson, ist die Oberfläche in ihrer Eigenschaft als Rand- und Grenzfläche sowohl in Beziehung nach innen als auch nach außen zu betrachten.12 So bilde die Oberfläche des Wassers z.B. eine Grenze zwischen Wasser und Luft, während die Oberfläche des Meeresbodens sich als Grenze zwischen Erde und Wasser erweise.13 Wie Gibson hervorhebt, markiert die Oberfläche dabei zum einen den Unterschied zwischen Innen und Außen, ermöglicht zum anderen aber auch deren Austausch. Die Oberfläche ist demnach nicht nur als eine trennende Grenze, sondern ebenso als eine Schnittstelle oder »äußere Umschlagszone«14 verstehen, die chemische wie physikalische Austauschprozesse zwischen Innen und Außen vermittelt.15 So kann z.B. die Oberfläche der menschlichen Haut als semipermeable Membran gleichermaßen Feuchtigkeit von außen aufnehmen wie auch Feuchtigkeit von innen abgeben. Goethe, der sich bekanntlich viel mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen auseinandergesetzt hat, scheint auf diese vermittelnde Zwischenposition der Oberflächen anzuspielen, wenn er etwa in seinem Gedicht Epirrhema schreibt: »Müsset im Naturbetrachten Immer eins wie alles achten; 10 Henzler/Göpel: Oberflächenphysik des Festkörpers, S. 3. 11 Zitiert nach: Henzler/Göpel: Oberflächenphysik des Festkörpers, S. 3. 12 Vgl. Gibson: Die Wahrnehmung der visuellen Welt, S. 76: »Die häufigsten Oberflächen sind die an der Grenze zwischen festen Körpern und Luft. Von zweitrangiger Bedeutung sind die zwischen Wasser und Luft.« Vgl. ebenso Davison; Stęślick: Basic Theory of Surface States, S. VI: »Surfaces are not just here or there/For surfaces are everywhere/Splitting nature into phases/Solids, liquids and the gases.« 13 Vgl. Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, S. 16. 14 Teschke, Henning: Unendlichkeit. In: Plurale. Zeitschrift für Denkversionen. Heft 0, 2001, S. 160. 15 Dieser Umstand hat in den Naturwissenschaften zur Bildung von Teilbereichen wie der Oberflächenphysik und Oberflächenchemie geführt, die u.a. in den Gebieten der Nanotechnologie forschen. Vgl. Davison; Stęślick: Basic Theory of Surface States, S. X: »Surfaces are the boundaries between the different phases of matter and as such, are the meeting places for a host of phenomena and processes at both the micro- and macro-scopic levels. From the study of this vast and complex world of surfaces has envolved the multi- and inter-disciplinary subject known as Surface Science.«

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Die Philosophie der Oberfläche

Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: Denn was innen das ist außen.«16 Auch in naturwissenschaftlicher Hinsicht ist die Oberfläche somit weniger als Grenzmarkierung denn als Schwellenphänomen zu begreifen, das eine ambivalente Zwischenposition innehat. Gibson spricht ihr deshalb eine signifikante Rolle innerhalb der Trias von Medium, Substanzen und Oberflächen zu. Schließlich sei gerade die Oberfläche aufgrund ihrer exponierten Stellung zwischen Innen und Außen an zahlreichen Austauschprozessen der Natur beteiligt: »Warum sind nun […] gerade die Oberflächen so wichtig? Es ist die Oberfläche, an der am meisten geschieht. Es ist die Oberfläche, nicht das Innere der Substanz, an der Licht reflektiert oder absorbiert wird. Es ist die Oberfläche, die mit den Lebewesen in Berührung kommt, nicht das Innere. Es ist die Oberfläche, an der chemische Reaktionen vorherrschend ablaufen. Es ist die Oberfläche, an der die Verdampfung oder die Diffusion von Substanzen in das Medium stattfindet. Und es ist die Oberfläche, an der die Vibrationen in das Medium übertragen werden.«17 Wie Gibson verdeutlicht, vermittelt die Oberfläche allerdings nicht nur Austauschprozesse zwischen angrenzenden Bereichen, sondern ist dabei selbst etlichen Einwirkungen ausgesetzt. Trotz ihrer vermeintlich starren Gegenständlichkeit sei sie ein überaus wandelbarer und keinesfalls eindeutiger Bestandteil unserer Umwelt. Wenn beispielsweise eine Substanz durch Krafteinwirkungen in ihrer Form verändert würde oder von einem Aggregatzustand in einen anderen übergehe, so habe dies zwangsläufig auch Auswirkungen auf die Existenz der Oberfläche.18 Schmelze etwa ein Eiswürfel zu einer Pfütze, bliebe dies nicht ohne Folgen für die Flächenanordnung, die Textur und das Reflexionsvermögen der Oberfläche.19 Gibson zufolge kann eine Oberfläche sogar dann von ihrer Umgebung beeinflusst werden, wenn diese keinen direkten Einfluss auf die Substanz eines Gegenstandes ausübt.20 In solchen Fällen verändern sich zwar nicht die Eigenschaften der Oberfläche, doch kann die Oberfläche hierdurch immerhin ein anderes Erscheinen annehmen. So hat eine Oberfläche am Tag beispielsweise ein anderes Erscheinen als am Abend, auch wenn sich an der materiellen Beschaffenheit der 16 Goethe, Johann Wolfgang: Epirrhema. In: Heinemann, Karl (Hg.): Goethes Werke. Bd. 2, 1900, S. 133. 17 Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, S. 24. 18 Vgl. ebd., S. 106. 19 Vgl. ebd., S. 106: »Wenn Eis oder Schnee schmilzt, dann werden deren Oberflächen so radikal verändert, daß sie als zerstört gelten können.« 20 Vgl. ebd., S. 31: »Daß der Beleuchtungszustand einer gegebenen Oberfläche tagtäglich zwischen Beleuchtung und Beschattung wechselt, ist ein wichtiger, aber wenig beachteter Sachverhalt der Umwelt.«

4 Nur ein Randphänomen?

Oberfläche selbst nichts verändert hat. Auf diesen Umstand macht vor allem Giuliana Bruno aufmerksam, wenn sie die Oberfläche als einen »Screen« bestimmt, welcher uns unterschiedliche Erscheinungsweisen von Materialität vermittelt. Laut Bruno werden Substanzen nicht nur von außen durch Oberflächen umgrenzt, sondern von diesen gewissermaßen auch »eingekleidet« und so in ihrem Erscheinen bestimmt. »On the surface«, so schreibt sie, »patterns of visual tailoring show in a material way.«21 Das Erscheinen einer Materialität ist für sie daher weniger von der Substanz als von der Oberfläche sowie deren Beziehung zum umgebenden Licht oder zu anderen (Material-)Oberflächen bestimmt.22 Unabhängig von ihrer Substanz kann so z.B. eine Betonoberfläche ein leichtes oder warmes Erscheinen annehmen, während eine Oberfläche aus Holz dagegen kalt und abweisend wirken kann. Ebenso gut kann aber auch eine Oberfläche aus dünnem Papier auf uns einen harten und robusten Eindruck machen, wie die Oberfläche eines natürlichen Pflanzenblattes uns künstlich erscheinen kann. Wenn auch die Oberfläche sich uns in derlei Fällen als ein scheinbar unabhängiges und völlig eigenständiges Phänomen präsentiert, so wird doch deutlich, dass die Oberfläche wiederholt inneren wie äußeren Veränderungen ausgesetzt ist.23 Bei der von Gibson beschriebenen Trias aus Substanz, Oberfläche und Medium handelt es sich daher nicht um vollständig autonome Entitäten, sondern vielmehr um einzelne Bestandteile eines netzwerkartigen Geflechts, die sich wechselseitig beeinflussen. Die Tatsache, dass gerade Oberflächen innerhalb dieser netzwerkartigen Struktur aufgrund ihrer exponierten Stellung mannigfaltige Austauschprozesse vermitteln und beeinflussen, ist für Gibson jedoch nicht allein entscheidend. In ihrer Funktion als Rand- und Grenzflächen stellen sie zugleich eine elementare Voraussetzung zur Wahrnehmung unserer Umgebung dar. Schließlich ist der Mensch fortwährend von Oberflächen umgeben und zwangsläufig auf diese angewiesen. Oberflächen helfen dem Menschen dabei, sich in der Welt zu orientieren und seine Umwelt zu erfahren. Für Gibson sind Oberflächen somit »von höchster Wichtigkeit 21 Bruno: Surface, S. 4. 22 Vgl. ebd., S. 2-3: »[…] materiality is not a question of materials but rather concerns the substance of material relations. […] I am particularly interested in the play of materiality that is brought together in light on different ›screens‹.« 23 Vgl. Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, S. 330: »Oberflächen […] zeigen beides, Beständigkeit und Änderung […]; Beständigkeit in einigen Hinsichten und Änderungen in anderen. […] Eine Oberfläche hört auf zu existieren […], wenn sich ihre Substanz verflüchtigt (verdampft, verdunstet) oder wenn sie zerfällt. Sie beginnt zu existieren […], wenn ihre Substanz kondensiert oder auskristallisiert.« Auf eine gänzliche Weise beschreibt dies der Kunstkritiker John Berger: »Alle Erscheinungen verändern einander unausgesetzt: visuell hängt eins mit dem anderen zusammen. […] Das Ziel: die Erscheinung eines Dings (sogar eines unbelebten Dings) als Wachstumsstufe zu sehen – oder als Wachstumsstufe an der es teilhat. Seine Sichtbarkeit zu erkennen, ist eine Art von Blühen.« (Berger, John: Über Sichtbarkeit. In: Ders.: Das Sichtbare & Das Verborgene. 2007, S. 235).

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für unsere Wahrnehmung der Welt, weil durch sie ganz offensichtlich bestimmt wird, was wir als Gegenstände oder Dinge erkennen«.24 Obgleich wir die Oberflächen unserer Umgebung mit nahezu allen Sinnen wahrnehmen würden, erweise sich unser visueller Sinn doch meist als eine Art »Leitsinn«.25 Gibson zufolge nimmt der Mensch – wie auch die Mehrzahl aller anderen Lebewesen – die Welt vorrangig »durch visuelles Abtasten«26 wahr. Zu den Voraussetzungen hierfür zählt er das Licht der Sonne (oder einer anderen Lichtquelle), die lichtdurchlässige Atmosphäre der Erde sowie die Oberflächen unserer Umwelt, die das auftreffende Licht unterschiedlich reflektieren.27 Wie stark eine Oberfläche das Licht nun im Einzelnen reflektiert oder durchlässt, richte sich nach ihrem Aufbau (Zellen, Kristalle etc.) sowie der chemischen Zusammensetzung der Substanz.28 Oberflächen ließen sich hinsichtlich ihrer optischen Eigenschaften in opak, transluzent und transparent unterscheiden. Opake Oberflächen, wie die von Steinen etwa, haben einen hohen Reflexionsgrad und sind weitestgehend undurchlässig für das auftreffende Licht. Gibson zufolge trifft dies auf die Mehrzahl der uns umgebenden Oberflächen zu.29 Transluzente Oberflächen, wie Papier oder Milchglas, haben einen etwas geringeren Reflexionsgrad und sind daher partiell lichtdurchlässig. Den weitaus größten Teil des auftreffenden Lichts lassen jedoch transparente Oberflächen durch; zu ihnen zählen klares Wasser oder geschliffenes Glas.30 Wie Gibson herausarbeitet, stellt nun gerade das Reflexionsvermögen der Oberfläche eine wichtige Voraussetzung dar, um unsere Umwelt visuell und räumlich wahrzunehmen. Gibson versteht unsere Umwelt allerdings nicht als einen abstrakten Raum, sondern begreift sie stattdessen »als eine kontinuierliche Oberfläche oder eine Abfolge aneinanderstoßender Oberflächen«.31 Für Gibson beruht das Sehen einer visuellen Welt demnach auf der Verteilung materieller 24 Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, S. 76. 25 Hegger, Manfred; Drexler, Hans; Zeumer, Martin: Materialität. 2007, S. 16. Wie in Kapitel 1 bereits erwähnt wurde, wird die Oberfläche auch begriffsgeschichtlich in erster Linie als visuelles Phänomen verstanden. 26 Gibson: Die Wahrnehmung der visuellen Welt, S. 55. 27 Vgl. Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, S. 76: »Wenn die Oberflächen der Gegenstände beleuchtet werden, dann reflektieren sie Licht; das ist für die visuelle Wahrnehmung der grundlegende Sachverhalt. Luft reflektiert Licht im allgemeinen nicht, sie läßt es durch; […].« 28 Vgl. Gibson: Die Wahrnehmung der visuellen Welt, S. 76. 29 Vgl. Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, S. 83. 30 Vgl. ebd. S. 31: Wie Gibson verdeutlicht, ist allerdings keine Substanz jemals »völlig lichtdurchlässig«. Nur das Medium selbst sei »stets, wenigstens annähernd, vollkommen lichtdurchlässig«. 31 Gibson: Die Wahrnehmung der visuellen Welt, S. 25. Gibsons Vorschlag, den Raum als eine Ansammlung von unterschiedlichen Oberflächen zu begreifen, wird in Kapitel 9.2 bei der Beschreibung der modernen Architektur noch eine wichtige Rolle spielen.

4 Nur ein Randphänomen?

Oberflächen, die Licht reflektieren und auf die Netzhaut des Menschen projizieren.32 Gäbe es keine Oberflächen, so blieben Entfernungen unbestimmt und unsere Umgebung bestünde lediglich aus einem »homogenen Lichtmeer«:33 so wie wir es etwa von dichtem Nebel her kennen. Obschon für die räumliche Wahrnehmung des Menschen sämtliche Arten von Oberflächen entscheidend sind, hebt Gibson hier zwei Arten noch einmal besonders hervor: die frontalen und die longitudinalen Oberflächen. Frontale Oberflächen (wie z.B. eine frontal gelegene Wand) liegen quer zur Sichtlinie des Menschen, während longitudinale Oberflächen (wie Böden, Decken und Wände) parallel zur Sichtlinie des Menschen liegen.34 Ausschlaggebend für unseren Eindruck von räumlicher Entfernung und Tiefe sind nach Gibson vor allem die longitudinalen Oberflächen. Für ihn sind Oberflächen jedoch nicht nur für die räumliche Wahrnehmung unserer Umgebung von Bedeutung. Oberflächen seien, in Abhängigkeit zu ihrer jeweiligen Substanz, auch für die Helligkeit und Farbigkeit unserer Umgebung verantwortlich. Durch unterschiedliche Reflexions- und Absorptionsgrade beeinflussten Oberflächen die Wellenlängen und Intensitäten des einfallenden Lichtes ganz unterschiedlich und bestimmten so, wie hell oder farbig ein Objekt für uns erscheine.35 Die Oberfläche von Kalk absorbiere beispielsweise weitaus weniger Licht als die Oberfläche von Kohle und erscheine uns dementsprechend nicht schwarz, sondern weiß.36 Eng verbunden mit der Farbe einer Oberfläche ist nach Gibson zugleich die Textur einer Oberfläche, da bestimmte Farben häufig mit bestimmten Oberflächentexturen einhergehen.37 Überdies sorge die heterogene Strukturierung der Textur dafür, dass wir Oberflächen überhaupt als Oberflächen wahrnehmen würden und »nicht […] als bloße substanzlose Flächenfarbe«.38 Die stofflichen Unregelmäßigkeiten der Textur verliehen der Oberfläche ein charakteristisches Äußeres und eine visuelle Struktur.39 Nach der Auffassung von Gibson sind Oberflächentexturen aber auch für unsere haptische Wahrnehmung von Bedeutung. Textuelle Eigenschaften – wie rau, glatt, scharf oder stumpf – würden den Menschen wiederholt dazu verleiten, Oberflächen zu berühren: nicht zuletzt auch, um seine visuellen 32 33 34 35 36 37 38 39

Vgl. ebd., S. 121. Ebd., S. 87. Vgl. ebd., S. 121. Vgl. Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, S. 32. Vgl. ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 32. Gibson: Die Wahrnehmung der visuellen Welt, S. 87-88. Vgl. ebd., S. 87: »Eine winzige Senkung der Oberfläche wird zum Beispiel als ein dunkler Fleck, eine leichte Erhöhung als kleiner Glanzpunkt und eine Verteilung solcher Oberflächenelemente als Verteilung dunkler und heller Flecken in den Brennpunkt gebracht. Durch diese Art der Reizung entsteht das, was wir die Qualität einer visuellen Textur nennen werden.«

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Eindrücke zu ergänzen oder zu korrigieren.40 Oftmals ziehe die haptische Wahrnehmung eines Gegenstandes zugleich weitere Wahrnehmungen nach sich, wie etwa die olfaktorische oder auditive Wahrnehmung.41 Im Zusammenspiel mit unseren Sinnen können Oberflächentexturen uns somit Aufschluss darüber geben, um welche Substanz es sich handelt, woraus eine Oberfläche besteht und wie sie sich zusammensetzt.42 Oberflächen sind insofern nicht nur Objekte unserer Wahrnehmung, sondern ermöglichen zugleich die Bestimmung und Unterscheidung unserer Umwelt. Diese Tatsache ist nach der Auffassung Gibsons von großer Bedeutung für den Menschen.43 Schließlich habe der Mensch sein Überleben vor allem dadurch sichern können, dass er die Objekte seiner Umgebung anhand ihrer Oberflächen bestimmen und voneinander unterscheiden konnte.44 So habe der Mensch mit Hilfe der Oberfläche etwa den Reifegrad einer Frucht bestimmen oder einen Feuerstein von einem gewöhnlichen Stein unterscheiden können. Oberflächen sind für das menschliche Wahrnehmen, Orientieren und Handeln also von entscheidender Bedeutung. Als Grenz- und Schwellenphänomene zwischen Innen und Außen sind sie an einer Vielzahl von Austauschprozessen in der Natur beteiligt und bestimmen in ihrer materiellen Präsenz maßgeblich, wie wir unsere Umwelt erfahren. Inwieweit Oberflächen aufgrund ihrer vermittelnden Stellung zwischen Subjekt und Objekt nicht zuletzt auch als Medien zu begreifen sind, wird im folgenden Kapitel zu erörtern sein.

40 Vgl. Hegger/Drexler/Zeumer: Materialität, S. 16: »Wahrnehmungskanäle können einerseits mit kontrastierenden Erfahrungen bedient werden, etwa durch eine unerwartete taktile Wahrnehmung im Kontrast zur visuellen. Die erwartete Wahrnehmung tritt nicht ein, die Irritation wird zum Erlebnis.« 41 Vgl. ebd., S. 16: »Je mehr Sinne vom Material angesprochen sind, desto eher kann sich eine schlüssige Gesamterfahrung mit einem Material oder einem Raum entwickeln.« 42 Vgl. Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, S. 27. 43 Vgl. ebd., S. 33: »Es ist notwendig, die Substanzen der Umwelt voneinander zu unterscheiden. Ein wirkungsvoller Weg dazu führt über das Sehen ihrer Oberflächen.« 44 Vgl. ebd., S. 20: »Warum Lebewesen in der Lage sein müssen, zwischen den verschiedenen Substanzen der Umwelt zu unterscheiden, ist offensichtlich. Die Substanzen haben unterschiedliche biochemische und physiologische Wirkungen auf das Lebewesen und beeinflussen auch sein Verhalten unterschiedlich. Einige sind nahrhaft, andere nicht und wieder andere sind giftig.«

5 Zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz – oder: ist die Oberfläche ein Medium?

Denken wir an Medien, so denken wir gewöhnlich an klassische Massenmedien wie das Fernsehen, das Radio, die Zeitung oder das Internet. Im Gegensatz zum allgemeinen Sprachgebrauch ist der Begriff »Medium« in der Medientheorie selbst jedoch keineswegs so klar und einheitlich festgelegt. Mehr noch sind die Ansätze, mit denen man hier dem Begriff beizukommen versucht, derart divergent, dass eine allgemeingültige Definition des Medienbegriffs nicht existiert. Etymologisch geht der Begriff »Medium« auf die lateinischen Wörter medium oder medius zurück und bezeichnet »die Mitte« oder das »in der Mitte befindliche«.1 Seiner etymologischen Herkunft nach, kann ein Medium allgemein als »Mitte« oder als ein »Mittleres« aufgefasst werden, das zwischen zwei heterogenen Bereichen situiert ist.2 Innerhalb dieser Zwischenposition überbrückt das Medium die Distanz zwischen den Bereichen und stiftet auf diese Weise Austauschprozesse.3 Dieses Kapitel geht nun der Frage nach, ob und inwieweit sich nicht auch die Oberfläche – aufgrund ihrer ambivalenten Position zwischen Innen und Außen – als ein Medium begreifen lässt. Zwei medientheoretische Ansätze – ein materialitätsbezogener und ein semiotischer – sollen dazu voneinander differenziert und in Beziehung zur Oberfläche gesetzt werden. In Kapitel 5.1 wird zunächst einmal der Frage nachzuspüren sein, wie die Oberfläche aus einer materialitätstheoretischen Perspektive als ein Wahrnehmungsmedium bestimmt werden kann. Die Wahrnehmungslehre von Aristoteles dient dabei als Grundlage. Aristoteles zufolge sind sinnliche bzw. »aisthetische« Wahrnehmungen (gr. aisthesis/αἴσϑησις für »Sinneseindruck« oder »Wahrnehmung«4 ) das Ergebnis eines Vermittlungsprozesses zwi1 Georges: Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Bd. 2, S. 847. 2 Vgl. Roesler, Alexander: Medienphilosophie und Zeichentheorie. In: Münker, Stefan; Roesler, Alexander; Sandbothe, Mike (Hg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs. 2003, S. 39: »Die grundlegendste Bestimmung des Mediums ist, dass es ein ›Dazwischen‹ ist.« 3 Vgl. ebd., S. 39. 4 Menge/Güthling: Langenscheidts Großwörterbuch der griechischen und deutschen Sprache, S. 23.

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Die Philosophie der Oberfläche

schen Subjekt und Objekt, der erst durch Medien zustande kommt. Medien sind seiner Auffassung nach stoffliche Phänomene, die Verbindungen zwischen Subjekt und Objekt herstellen und darüber Wahrnehmungen ermöglichen. Wie im vergangenem Kapitel bereits gezeigt wurde, lässt sich diese Bestimmung durchaus auf die Oberfläche übertragen. Schließlich nimmt auch die Oberfläche eine Position zwischen Subjekt und Objekt ein und bestimmt darüber, wie wir unsere Umwelt erfahren. Durch ihre konkrete materielle Präsenz gibt sie uns Aufschluss über die sinnliche Verfasstheit unserer Umgebung und die darin enthaltenen Objekte. Wie in Kapitel 5.2 wiederum darzustellen sein wird, vermitteln uns Oberflächen nicht allein sinnlich wahrnehmbare Effekte. Als Träger von Zeichen und Symbolen können sie zugleich auf Sachverhalte verweisen, die außerhalb unserer unmittelbaren Wahrnehmung liegen. Von einer semiotischen Perspektive aus lassen sich Oberflächen daher als Trägermedien begreifen, die durch die auf ihnen inskribierten Zeichen und Symbole wiederum immaterielle Sinngehalte vermitteln. Besonders deutlich wird dies, wenn wir uns Oberflächen zuwenden, die uns im Zusammenhang mit visuellen Kommunikations- und Unterhaltungsmedien wie Zeitungen, Büchern oder Filmen begegnen. Hier haben wir es jeweils mit materiellen Oberflächen aus Papier, Leinwand oder Zelluloid zu tun, die mithilfe von Zeichen und Symbolen Sinneffekte erzeugen. In ihrer Funktion als materielle Träger sorgen sie nicht nur für die visuelle Wahrnehmbarkeit von Zeichen, sondern ermöglichen damit überhaupt erst das Zustandekommen von semiotischen Vermittlungsprozessen. Vergleicht man nun beide medientheoretischen Ansätze miteinander, den materialitätsbezogenen und den semiotischen, so fällt auf, dass diese von jeweils unterschiedlichen Interessen geleitet sind. Die semiotische Perspektive konzentriert sich vornehmlich auf die Sinndimensionen der Zeichen, die sie jenseits der Oberfläche vermutet. Ihr Anliegen ist es, die materielle Präsenz der Oberfläche zugunsten des Sinns zu überwinden oder – metaphorisch ausgedrückt – transparent werden zu lassen. Die materialitätstheoretische Perspektive schlägt nun wiederum die Gegenrichtung ein. Sie beschäftigt sich ausschließlich mit dem Diesseits der Oberfläche, also mit den Effekten ihrer materiellen Präsenz, die sinnlich verfasst, aber nicht unmittelbar sinnstiftend sind. Das Interesse der materialitätstheoretischen Perspektive richtet sich also auf die nicht-semiotische Ebene der Oberfläche, auf ihre referenzlose, mithin opake Materialität. Trotz ihrer prinzipiellen Gegensätzlichkeit, so soll in Kapitel 5.3 deutlich werden, schließen sich die materialitätstheoretische und die semiotische Perspektive aber nicht zwangsläufig aus. Mit ihrer unterschiedlichen Fokussierung auf Präsenz- oder Sinneffekte – auf aisthesis und semiosis – skizzieren sie vielmehr zwei Pole eines Spannungsverhältnisses, das für Medien konstitutiv ist. Die sogenannte »negative Medientheorie«, wie sie etwa von Dieter Mersch oder Sybille Krämer vertreten wird, macht u.a. darauf aufmerksam. Im Sinne der negativen Medien-

5 Zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz

theorie sind Medien stets aisthetisch verfasst, blenden ihre Stofflichkeit jedoch aus, sobald sie anderes vergegenwärtigen. Nur wenn das Medium in seiner opaken, materiellen Präsenz zurücktritt und tendenziell verschwindet (d.h. transparent wird), so der Gedanke, kann es seiner vermittelnden Aufgabe nachkommen. »Das Sinnliche«, so formuliert es Sybille Krämer, ist »in ein durchsichtiges Medium zu verwandeln, welches […] den Blick auf einen dahinterliegenden immateriellen Sinn erlaubt.«5 Gleichzeitig sei diese Form der Sinnvermittlung jedoch nur möglich dank der sinnlichen Vernehmbarkeit des Mediums – und damit nicht zuletzt dank seiner materiellen Opazität. »Sinn«, so gibt Krämer zu bedenken, »[…] ist immer sinnlich verkörperter Sinn.«6 Vor diesem Hintergrund sind materielle Opazität und semiotische Transparenz sowie Sinnlichkeit und Sinn – kurzum: aisthesis und semiosis – nicht als gegensätzliche, sondern als wechselseitig verwobene Phänomene zu begreifen, die medial vermittelt sind.7 »Medien«, so Krämer, »bilden die […] Grammatik des Verhältnisses von Sinn und Sinnlichem.«8 Sie bewegten sich daher stets in einem »Spannungsfeld zwischen der Ordnung der Zeichen (Transparenz) und der Ordnung der Dinge (Opazität)«.9 Auf diese Überlegungen aufbauend, soll die Oberfläche zum Ende dieses Kapitels schließlich als ein Medium bestimmt werden, dass – eingebettet in jenes paradoxale Wechselverhältnis von Opazität und Transparenz – sowohl Präsenz- als auch Sinneffekte erzeugt.

5.1

Materialität und aisthesis. Zur medialen Vermittlung von Präsenz

Bevor die mediale Paradoxalität der Oberfläche näher erörtert werden kann, gilt es zunächst einmal ihre Funktion als sinnliches Wahrnehmungsmedium zu beschreiben. Eine erste und zentrale Grundlage hierfür findet sich in der Wahrnehmungslehre von Aristoteles, wie er sie u.a. in seiner Schrift Über die Seele beschreibt. 5 Krämer, Sybille: Sinnlichkeit, Denken, Medien: Von der ,Sinnlichkeit als Erkenntnisform zur »Sinnlichkeit als Performanz«. In: Neumann, Claudia (Hg.): Der Sinn der Sinne. 1998, S. 28. 6 Ebd., S. 34. 7 Vgl. ebd., S. 35. In Anlehnung an Maurice Merleau-Ponty schreibt Krämer dazu: »Der Sinn ist nicht mehr das Gegenteil des Sinnlichen, sondern eine Falte, ein Einrollen des Sinns in das Sinnliche.« 8 Ebd., S. 34. 9 Krämer, Sybille: Medien zwischen Transparenz und Opazität. Reflexionen über eine medienkritische Epistemologie im Ausgang von der Karte. In: Rautzenberg, Markus; Wolfsteiner, Andreas (Hg.): Hide and Seek. Das Spiel von Transparenz und Opazität. 2010, S. 215-216. Vgl. auch Krämer: Sinnlichkeit, Denken, Medien, S. 33-34: »Beim Betrachten von Bildern […] oder beim Lesen von Texten haben wir es nicht mit zwei Arten von Objekten zu tun, einmal mit den materialen Zeichenträgern, die Bewohner der Welt körperlicher Dinge sind, und sodann mit den hermeneutischen Bedeutungsentitäten, welche die Welt als ideelle Gegenstände bevölkern. Sinn gibt es vielmehr nur im sinnlichen Umgang mit etwas, das in Raum und Zeit gegeben ist.«

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Die Philosophie der Oberfläche

Aristoteles geht darin von der Annahme aus, dass unsere Wahrnehmung von Objekten niemals direkt, sondern immer nur vermittelt möglich ist. Zwischen Wahrnehmungsobjekt und Wahrnehmungssubjekt existiert seiner Auffassung nach eine Art Zwischenraum, der überbrückt werden muss, damit sinnliche Wahrnehmung überhaupt erst möglich werden kann.10 Aristoteles zufolge bedarf es hierzu eines durchlässigen Stoffes bzw. etwas Stofflichem, das als Mittler zwischen Subjekt und Objekt agiert und einen kontinuierlichen Zusammenhang herstellt. Zur Umschreibung dieses Mittlers wählt er u.a. den griechischen Ausdruck metaxy11 (μεταξύ ), der sich mit der Präposition »zwischen«12 übersetzen lässt und der später als medium im Lateinischen gebräuchlich werden sollte.13 Im Sinne von Aristoteles ist ein Medium also etwas Dazwischenliegendes, das zwischen Subjekt und Objekt vermittelt und darüber Wahrnehmungen ermöglicht. Die Distanz zwischen Subjekt und Objekt wird dabei allerdings nicht aufgehoben, sondern lediglich überbrückt. Das Medium, als Dazwischenliegendes, vermittelt also nur zwischen beiden Bereichen – der Abstand selbst bleibt erhalten. Der Philosoph Emmanuel Alloa weist darauf u.a. in seiner 2011 veröffentlichten Monographie Das durchscheinende Bild hin. Zum aristotelischen Medienbegriff schreibt er: »Das Medium ist […] dasjenige, was einen kontinuierlichen Zusammenhang […] zwischen Wahrgenommenem und Wahrnehmungsorgan herstellt […], die hergestellte Berührung aber ist eine vermittelte, eine Berührung also, die den Abstand zwischen dem Vermittelten bestehen lässt.«14 Für Aristoteles fällt die mediale Vermittlung von Subjekt und Objekt in erster Linie in den Gegenstandsbereich der Physik. Unter Physik versteht er jedoch weniger die mathematische Auseinandersetzung mit Naturphänomenen, sondern zunächst einmal nur die Beschreibung von sinnlich wahrnehmbaren Objekten und Prozessen.15 Der aristotelische Medienbegriff wird daher bisweilen auch als physikalischer Medienbegriff bezeichnet.16 Ein Beispiel für ein sogenanntes physikali10 Vgl. Aristoteles: Über die Seele. De anima. Hg. von Horst Seidl, 1995, 418aff., S. 95ff. 11 Ebd., 419a, S. 100. 12 Vgl. Menge/Güthling: Langenscheidts Großwörterbuch der griechischen und deutschen Sprache, S. 449. 13 Vgl. Seitter, Walter: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen. 2002, S. 23. 14 Alloa: Das durchscheinende Bild, S. 96. 15 Vgl. Aristoteles: Metaphysik. Bücher VII und VIII. Hg. von Wolfgang Detel, 2009, 1037a, S. 53. 16 Vgl. Mersch, Dieter: Medientheorien zur Einführung. 2006, S. 12. Mersch zufolge ist jener wahrnehmungstheoretische bzw. physikalische Medienbegriff des Aristoteles von der Antike bis ins 18. Jahrhundert tonangebend. »Bis ins 18. Jahrhundert dominierte durchweg ein ›aisthetischer‹, d.h. wahrnehmungstheoretischer Medienbegriff, der unter ›Medium‹ den Stoff verstand, worin Anschauung geschieht; es handelte sich vor allem um unbestimmte ›Materialitäten‹, wie sie ebenfalls für physikalische Untersuchungen maßgeblich bleiben.« Vgl. ebenso, S. 20: »Von hier aus schreibt sich eine Linie des Medienbegriffs fort, wie sie für die gesamte Naturphilosophie

5 Zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz

sches Medium wurde bereits im vergangenen Kapitel mit der Luft, im Rahmen der wahrnehmungspsychologischen Überlegungen von James Gibson, erwähnt. Gibson zufolge stellt die Luft ein Medium zur Übertragung von Gerüchen sowie von Licht- und Schallwellen dar, mit deren Hilfe wir uns in unserer Umgebung orientieren.17 »Das Medium«, so schreibt er, »enthält […] Informationen über Dinge […]. Durch Herausfinden dieser Information steuert und kontrolliert das Lebewesen seine Fortbewegung.«18 Da Gibson seine Theorie nun jedoch allein im Hinblick auf die räumliche Wahrnehmung der menschlichen Umgebung entwickelt, bestimmt er ausschließlich die Luft als Medium, da der Mensch sich in ihr ungehindert fortbewegen könne. »Das Medium (medium) für terrestrische […] Lebewesen«, so Gibson, »ist Luft. Luft ist kein fester Stoff und erlaubt daher Fortbewegung in ihr. Gesteuert wird die Fortbewegung durch Information im Medium.«19 Oberflächen sowie feste und flüssige Substanzen sind im Rahmen seiner wahrnehmungspsychologischen Erörterungen daher nicht als Medien zu begreifen.20 Betrachten wir physikalische Medien allerdings in ihrem ursprünglichen, d.h. aristotelischen Sinne, so wird deutlich, dass sich nicht nur die Luft, sondern auch die Oberfläche als ein Medium begreifen lässt. Schließlich nimmt die Oberfläche in ihrer Eigenschaft als äußere Grenze nicht nur eine Position zwischen innen und außen, sondern ebenso eine Position zwischen Objekt und Subjekt ein.21 Die Oberfläche vermittelt uns dabei eine Vielzahl an sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten und bestimmt maßgeblich, wie wir unsere Umgebung erfahren. In ihrer materiellen Präsenz gibt sie uns u.a. Aufschluss über die Größe und Form eines Objektes, aus welcher Substanz es besteht, welche Farbe es besitzt, ob es glatt oder rau ist, warm oder kalt, fest oder flüssig. Unsere Wahrnehmung der Umwelt ist entscheidend und klassische Physik bedeutsam wird. […] Immer geht es dabei um die Verbindung zwischen einem ebenso Stofflichen wie Konstituierenden, dessen Materialität freilich fraglich bleibt, vergleichbar jenem elastischen Äther oder ›Fluidum‹, dessen phantomhafte Existenz Isaac Newton angenommen hatte.« 17 Vgl. Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, S. 17: »Die Beleuchtung ermöglicht, daß das Lebewesen Dinge sehen kann, der Schall, daß es Dinge hören kann und die Diffusion, daß es Dinge riechen kann.« 18 Ebd. S. 17. 19 Ebd., S. 330. 20 Vgl. ebd., S. 22. Für Gibson zählt auch die Substanz des Wassers nicht zu einem Medium, obwohl wir uns zweifellos auch im Wasser fortbewegen können: »Für Wasserlebewesen ist es ein Medium, keine Substanz, für Landlebewesen aber ist es eine Substanz und kein Medium. […] Für uns gehört Wasser in die Kategorie der Substanzen, nicht in die der Medien.« 21 Vgl. Seitter: Physik der Medien, S. 21: »Da Medien immer etwas Äußeres sind, das jemandem – diese Instanz nenne ich den Medienherren oder Mediennutznießer – etwas vermittelt, wird diesem Äußeren, wenn ihm überhaupt eine eigene Seinsweise zukommt, eine äußerliche Seinsweise zukommen.«

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von Oberflächen geprägt. Objekte erhalten durch Oberflächen ein ebenso charakteristisches wie wahrnehmbares Äußeres und lassen sich damit überhaupt erst in ihrer, wie Heidegger es nennt, »Dinghaftigkeit«22 erfahren. Von einem materialitätstheoretischen Blickwinkel aus lassen sich Oberflächen also durchaus als sinnliche Wahrnehmungsmedien begreifen. Dies betont nicht zuletzt auch Giuliana Bruno, wenn sie die Oberfläche als einen »Screen« bestimmt, welcher uns Eigenschaften und Erscheinungsweisen materieller Substanz vermittle. Auch sie spricht der Oberfläche dabei eine wichtige Mittlerrolle zwischen Innen und Außen sowie Subjekt und Objekt zu. »This«, so schreibt sie, »means emphasizing the etymological root of medium, which refers to a condition of ›betweenness‹ and a quality of ›becoming‹ as a connective, pervasive, or enveloping substance.«23 Und weiter: »As an intertwining matter through which impressions are conveyed to the senses a medium is a living environment of expression, transmission, and storage.«24 In ihrer Funktion als Wahrnehmungsmedium ist die Oberfläche allerdings nicht einfach nur als ein passiver Mittler zwischen Mensch und Umwelt zu begreifen. Oberflächen sind in diesen Prozess zugleich aktiv miteingebunden. Als Randund Grenzflächen besitzen sie stets eine materielle Widerständigkeit, die sich im Vermittlungsprozess nicht auflöst. Was die Oberfläche vermittelt, wird also nicht einfach nur weitergeleitet, sondern von ihr zugleich geprägt und geformt. Oberflächen zeigen dabei eine Eigenmächtigkeit, die sich nicht allein auf die zugrundeliegende Substanz oder das umgebende Licht, sondern auch auf uns – als Wahrnehmungssubjekte – auswirkt. Etwas deutlicher wird dies anhand eines erweiterten Objektbegriffs, wie er u.a. in der sogenannten »Akteur-Netzwerk-Theorie« bei Bruno Latour, Michel Serres oder Gilbert Simondon verwendet wird. Das Ziel jener sozialwissenschaftlich geprägten Theorie ist es, tradierte Dichotomien, wie Natur/Kultur, Aktivität/Passivität oder Gesellschaft/Individuum, aus ihrer starren Gegenüberstellung zu lösen und in einen beziehungsreicheren Zusammenhang zu stellen.25 Anstatt jene vermeintlich gegensätzlichen Konzepte als getrennte Einheiten zu begreifen, werden diese vielmehr als netzwerkartige Verbindungen konzipiert, die sich wechselseitig beeinflussen. In diesem Sinne wird in der Akteur-Netzwerk-Theorie auch die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt hinterfragt. Objekte werden – so das Anliegen – nicht mehr nur vom Menschen als handelndem Subjekt aus begriffen, 22 Heidegger, Martin: Vorlesungen. Zur Bestimmung der Philosophie. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 56/57, 1987, S. 89. 23 Bruno: Surface, S. 4-5. 24 Ebd., S. 5. 25 Vgl. Cuntz, Michael: Agency. In: Bartz, Christina u.a. (Hg.): Handbuch der Mediologie. Signaturen des Medialen. 2012, S. 28-29.

5 Zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz

sondern es wird zugleich den Objekten eine gewisse Souveränität und Eigenmächtigkeit zugesprochen.26 So bestimme nicht nur das Subjekt das Objekt und hantiere mit diesem – umgekehrt werde auch das Subjekt vom Objekt affiziert und in seinem Handeln beeinflusst.27 Michel Serres versucht dies mit dem Begriff des »Quasi-Objekts« zum Ausdruck zu bringen.28 Als Beispiel für ein »Quasi-Objekt« nennt er u.a. einen Fußball. Ein Fußball sei nicht nur das Mittel eines Spiels, sondern bilde zugleich dessen Zentrum, insofern alle Spieler dem Ball hinterherrennen würden und dieser die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zöge. »Der Spieler«, so Serres, »folgt ihm und bedient ihn, weit davon entfernt, ihn folgen zu lassen und sich seiner zu bedienen.«29 Im ständigen Austausch innerhalb der Gemeinschaft der Spieler entfalte der Ball eine eigene Wirkungsmacht und weise den Subjekten eine spezifische Rolle zu.30 »So macht der Ball uns alle zu möglichen Opfern«, schreibt Serres, »wir setzen uns dem aus und wir entrinnen wieder, und je mehr der Ball läuft desto rascher der Wechsel in der Stellvertretung und desto gespannter die Emotionen.«31 Das Quasi-Objekt steht dem Subjekt also nicht passiv gegenüber. Es verfügt durchaus über ein eigenes Handlungspotential und unterläuft damit die tradierte Unterscheidung von »handelndem« Subjekt und »behandeltem« Objekt.32 Auch die Oberfläche besitzt nun in ihrer Rolle als Wahrnehmungsmedium eine derartige Souveränität und Eigenmächtigkeit. So vermitteln uns Oberflächen nicht einfach nur sinnlich wahrnehmbare Qualitäten über unsere Umgebung, sondern beeinflussen und lenken uns zugleich in diesem Wahrnehmungsprozess. Wir vermeiden es so z.B. bestimmte Gegenstände zu berühren, da ein Kontakt mit ihrer Oberfläche Gefühle wie Ekel, Abneigung oder Widerwille in uns hervorruft. Die stumpfe Haptik eines Kreidestücks, die Kälte eines metallischen Objekts oder die 26 Vgl. ebd., S. 35-36. 27 Vgl. Cuntz, Michael: Mésalliances – die Restitution a-moderner Relationen bei Gilbert Simondon, Michel Serres, Bruno Latour und Gabriel Tarde. In: Zaiser, Rainer (Hg.): Literaturtheorie und sciences humaines. Frankreichs Beitrag zur Methodik der Literaturwissenschaft. 2008, S. 87: »Es geht, kurz gesagt, nicht nur darum, was Menschensubjekte miteinander mittels Dingen als Objekten tun, sondern auch darum, was Menschen und Dinge miteinander tun, wie sie gemeinsam Relationen bilden […] in denen auch die klare Unterscheidung zwischen Subjekten und Objekten hinfällig wird.« 28 Vgl. Serres, Michel: Der Parasit. 1987, S. 346. 29 Ebd., S. 346. 30 Vgl. ebd., S. 348: »Durch dieses Quasi-Objekt wissen wir, wie und wann wir Subjekte sind, wann und wie wir es nicht mehr sind. […] Das Ich ist eine Spielmarke im Spiel, die man austauscht. Und dieses Wandern, dieses Netz von Übergängen, diese Stellvertretungen des Subjekts weben das Kollektiv.« 31 Ebd., S. 348. 32 Vgl. Roßler, Gustav: Kleine Galerie neuer Dingbegriffe: Hybriden, Quasi-Objekte, Grenzobjekte, epistemische Dinge. 2008, S. 87: »›Quasi‹ markiert hier eine Differenz zu rein gegen-ständlichen Objekten als beherrschbaren, losgelösten oder kontemplativ betrachteten.«

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Berührung mit einer Oberfläche, von der wir bereits ahnen, dass diese elektronisch aufgeladen ist, können unser Tun und Handeln beeinflussen. Bei anderen Oberflächen reizt es uns wiederum, diese unbedingt berühren zu wollen: entweder weil uns deren Erscheinungen geradezu magisch anziehen oder weil es sich z.B. um Oberflächen von Gegenständen handelt, die uns seit langem vertraut sind und in uns ein behagliches Gefühl auslösen. In einigen Fällen – denken wir etwa an Fetischobjekte aus Latex oder Lack – können Oberflächen sogar sexuelles Begehren wecken. Oberflächen, so zeigt sich, besitzen in ihrer materiellen Präsenz eine spezifische Eigensinnlichkeit und Souveränität, die uns affiziert und bisweilen sogar diszipliniert. Unsere Beziehung zur Oberfläche ist daher nicht als ein oppositionelles, sondern als ein koalitionäres Verhältnis zu begreifen. Vor diesem Hintergrund wird auch noch einmal besonders deutlich, weshalb die Unterteilung in die Abschnitte zum Erscheinen, Wahrnehmen und Darstellen der Oberfläche ausschließlich aus heuristischen Gründen vorgenommen wurde. Was in jenen drei Abschnitten zur besseren Verdeutlichung noch separat untersucht und beschrieben wird, erweist sich im tatsächlichen Umgang mit der Oberfläche schließlich als wechselseitig verwoben. Das Erscheinen, Wahrnehmen und Darstellen der Oberfläche ist nichts, was entweder auf Seiten des Subjekts oder der Oberfläche stattfindet, sondern sich stattdessen im netzwerkartigen Austausch zwischen beiden ereignet.

5.2

Materialität und semiosis. Zur medialen Vermittlung von Sinn

Die Bestimmung der Oberfläche als einem Wahrnehmungsmedium, das uns in seiner Materialität einen sinnlichen Zugang zu unserer Umgebung vermittelt, gilt grundsätzlich für alle Oberflächen. Sie gilt selbstverständlich auch für jene Oberflächen, die uns in Verbindung mit visuellen Kommunikations- und Darstellungsmedien begegnen. Ob als Buch- oder Zeitungsseite, ob als Kinoleinwand, Straßenkarte oder Infotafel – auch hier haben wir es zunächst mit materiellen Oberflächen zu tun, die uns sinnlich wahrnehmbare Qualitäten vermitteln. Von einer semiotischen Perspektive aus betrachtet, stellen die Oberflächen von Zeitungen, Büchern oder Infotafeln jedoch mehr dar als nur die äußeren Grenzen von Objekten. Sie präsentiert sich zugleich als Träger für Zeichen und Symbole, die über die Faktizität der Oberfläche hinaus auf immaterielle Sinngehalte verweisen. So können uns Oberflächen in ihrer Funktion als Zeichenträger z.B. über tagesaktuelle Geschehnisse informieren, die Handlung eines Romans vermitteln oder den Weg zur nächsten Tankstelle anzeigen. Neben sinnlichen Qualitäten vermitteln uns Oberflächen dann zugleich semiotische Informationen. James Gibson hat darauf in Wahrnehmung und Umwelt aufmerksam gemacht. Er unterscheidet darin »natürliche« (oder besser: zeichenlose) Oberflächen von sol-

5 Zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz

chen, die Zeichen tragen. Letztere bestimmt Gibson auch als »Informationsanzeiger«:33 »Unter Informationsanzeiger […] soll eine Oberfläche verstanden werden, die so geformt oder behandelt worden ist, daß sie mehr Information liefert als die reine Oberfläche selbst. So ist etwa eine Oberfläche aus Ton eben nur Ton; wenn diese Oberfläche aber zur Gestalt einer Kuh geformt oder auf sie das Profil einer Kuh geritzt oder gemalt wird, oder wenn in sie die Keilschriftzeichen für ›Kuh‹ geschnitten werden, dann ist sie mehr als nur eine Oberfläche aus Ton.«34 Oberflächen, so macht Gibson mit dem Begriff des Informationsanzeigers deutlich, vermitteln uns bisweilen also mehr als nur objektspezifische Eigenschaften. Als Träger von Zeichen und Symbolen können Oberflächen auch auf Sachverhalte verweisen, die nicht gegenwärtig sind, sondern nur über Zahlen, Bilder oder Worte erfahren werden können. Selbstverständlich könnte an dieser Stelle nun eingewendet werden, dass weniger die Oberfläche, sondern vielmehr die auf der Oberfläche befindlichen Zeichen diese semiotische Vermittlungsleistung vollziehen. Auf der anderen Seite garantiert jedoch erst die Oberfläche in ihrer konkreten Materialität das Zustandekommen von Zeichenprozessen. Schließlich müssen Zeichen auf irgendeine Weise sinnlich gegeben sein, um in ihrem konkreten Erscheinen abwesende Sachverhalte vergegenwärtigen zu können. Der semiotische Informationsgehalt eines Zeichens ist somit immer an die Bedingung seiner Wahrnehmbarkeit geknüpft. Wir müssen Zeichen entweder sehen, hören, riechen, schmecken oder fühlen können. Der Philosoph Alexander Roesler hat dies in seinem Aufsatz Medienphilosophie und Zeichentheorie zu bedenken gegeben: »Das Zeichen«, so schreibt er, »muss zur Erfüllung seiner Aufgabe an etwas konkretem Materiellen festgemacht werden können: Dieses konkrete Materielle, dieser Zeichenträger, die ›Verkörperung‹ ist das Medium.«35 Ganz im Sinne Roeslers bestimmt so auch Sybille Krämer den Übertragungsvorgang des Mediums als einen »Akt der Verkörperung«36 bzw. als einen »Vorgang des Wahrnehmbarmachens«.37 Insbesondere bei visuellen Darstellungsmedien wie Filmen, Büchern oder Bildern ist die Verkörperung und Wahrnehmbarkeit von Zeichen jedoch nicht ohne Oberflächen denkbar. Visuelle Zeichen benötigen stets eine materielle Grundlage und einen Ort, um in Erscheinung treten zu können. Sie sind erst dann für uns 33 34 35 36

Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, S. 44-45. Im Originaltext: display. Ebd., S. 44-45. Roesler: Medienphilosophie und Zeichentheorie, S. 44. Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. 2008, S. 106107. 37 Ebd., S. 267.

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darstell- und erfahrbar, wenn materielle Träger (aus Papier, Leinwand oder Zelluloid) ihnen zu einer wahrnehmbaren Präsenz verholfen haben.38 Dieter Mersch weist auf diese »oberflächliche« Existenzweise von Zeichen in seiner 2002 erschienenen Monographie Was sich zeigt hin. Auch im Sinne Merschs können Zeichen ihre Verweisfunktion nur auf der Grundlage einer wahrnehmbaren Materialität ausüben. Er schreibt: »Daß die Zeichen auf einer Körperlichkeit beruhen, auf einem Substrat, die der Signifikation eine Gestalt und Ortschaft verleiht und ihre Lektüre gleichwie ihre Kommunikation erst gestattet, scheint so selbstverständlich, daß kaum mehr eine Reflexion sie einer Erwähnung würdig fände; […].«39 Zeichen enthalten nach Mersch somit »ein Doppeltes: Sie be-zeichnen etwas […]« und »sie haben eine sinnliche Präsenz, sie beruhen auf einer Materialität, die ihren Sinn, ihre Ordnung allererst austrägt«.40 Wann immer wir also etwas visuell zu vermitteln suchen – sei es in Form einer Zeichnung oder eines Textes –, müssen wir unsere Gedanken und Ideen nicht nur in Bild- und Schriftzeichen übersetzen, sondern diese zugleich auf einem materiellen Träger physisch bannen.41 Erst wenn unsere Einfälle auf eine Oberfläche graviert, geschrieben, gedruckt, gemalt oder projiziert wurden, sind diese auch für andere visuell erfahrbar. Seit der Mensch vor fast 40.000 Jahren damit begonnen hat, seine Beobachtungen nicht mehr nur sprachlich zu kommunizieren, sondern auch auf Felswänden zu fixieren, sind Oberflächen als Zeichenträger für dessen soziokulturelle Entwicklung von immenser Bedeutung.42 Angefangen von den ersten Höhlenmalereien über die Verwendung von Papyrus bis hin zu computerbasierten Interfaces der Gegenwart sind Oberflächen für den Menschen ein wichtiges Mittel zur visuellen Darstellung und Kommunikation. Sie ermöglichen es ihm, seine Gedanken, Sinneseindrücke oder Berechnungen physisch zu bannen und visuell zu vermitteln. 38 Der Maler Maurice Denis weist auf diesen Umstand u.a. hin, wenn er sagt: »Vergeßt nie, daß ein Bild, bevor es ein Schlachtroß, ein weiblicher Akt oder die Illustration einer Anekdote sein kann, vor allem anderen eine ebene Fläche ist, auf der Farben in bestimmter Anordnung aufgetragen sind.« Zitiert nach: Gombrich, Ernst H.: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung. 2004, S. 236. 39 Mersch: Was sich zeigt, S. 12. 40 Ebd., S. 133. 41 Vgl. ebd., S. 134: »Was jeweils sich ereignet, zeigt sich an seiner Oberfläche: daher der Verweis auf Materialität: an ihm ist eine Oberflächlichkeit markiert, an der sich das Symbolische allererst abzeichnet.« 42 Vgl. Gibson: Die Sinne und der Prozeß der Wahrnehmung, S. 284: »Mit dem ›Abbilden‹ hatten die Menschen etwas – vielleicht plötzlich – entdeckt, das auf ihre psychologische Entwicklung einen bedeutenden Einfluß ausübte. […] Der Künstler, der sich mit der Technik des Darstellens befaßte, lernte auch eine neue Art zu kommunizieren, nämlich ohne Worte auf eine neue Art seine Umwelt zu betrachten.«

5 Zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz

»Die Fläche«, so beschreibt es Sybille Krämer, wird für uns auf diese Weise »zum Denkzeug und Gedankenlabor. Wir denken auf dem Papier, mit dem Papier«.43 Der Umstand, dass unsere Gedanken durch die konkrete Materialität der Oberfläche jedoch nicht nur dargestellt, sondern zugleich gespeichert und bewahrt werden können, ist dabei ebenfalls von großer Bedeutung. Wie etwa die Erfindung des Buchdrucks belegt, lassen sich durch tragfähige Oberflächen Erkenntnisse und Ideen über zeitliche und räumliche Distanzen hinweg zahlreichen Menschen zugänglich machen. »Materialisierung«, so Krämer, »ist also kein Gegenspieler des Ideellen, sondern dessen einzig mögliche Gegebenheitsweise, wenn es darum geht, Ideen in den Entfernungen von Raum und Zeit zirkulieren zu lassen.«44 Diesen Gedanken formulierte sie in ihrem 2013 veröffentlichten Essay Gedanken sichtbar machen weiter aus; dort schreibt sie: »Denken verstanden als ein Bewusstseinsphänomen ist ein überaus flüchtiges mentales Ereignis; Gedanken selbst gelten als unsinnliche, nichträumliche Entitäten. Doch auf der kleinen, überschaubaren Fläche einer Papierseite oder Tafel bekommen Gedanken einen Ort im buchstäblichen Sinne: Raum-zeitlich situiert, werden sie eben nicht nur denkbar, sondern zugleich auch artikuliert, sichtbar und handhabbar gemacht. In einem Medium verkörpert, können sie fixiert, beobachtet, umgeformt, umgestellt und gelöscht werden. […] Die Fläche der Inskription erzeugt nicht nur einen Darstellungsraum, sondern auch einen Operationsraum des Denkens.«45 Krämer wirft aus diesem Anlass nicht zuletzt die Frage auf, ob »die Erfindung zweidimensionaler Flächigkeit für die Mobilität und Produktivität des Geistes vielleicht so folgenreich [war], wie […] die Erfindung des Rads für die Mobilität und Produktivität des Körpers […]«.46 Wie auch immer man diese Frage im Einzelnen beantworten mag, lässt sich doch zweifelsohne feststellen, dass Oberflächen eine zentrale Rolle für die Darstellung und Vermittlung von Wissen spielen. In ihrer formbaren und tragfähigen Materialität verhelfen sie visuellen Zeichen zu einer wahrnehmbaren Präsenz und garantieren damit erst das Wirksamwerden von Zeichenprozessen.47 Von einer semiotischen Perspektive aus betrachtet, können Oberflächen 43 Krämer, Sybille: Punkt, Strich, Fläche. Von der Schriftbildlichkeit zur Diagrammatik. In: CancikKirschbaum, Eva; Krämer, Sybille; Totzke, Rainer (Hg.): Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. 2012, S. 79. 44 Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 107. 45 Krämer, Sybille: Gedanken sichtbar machen. Platon: Eine diagrammatologische Rekonstruktion. Ein Essay. In: Möller, Jan-Henrik; Sternagel, Jörg; Hipper, Leonore (Hg.): Paradoxalität des Medialen. 2013, S. 176. 46 Krämer: Punkt, Strich, Fläche, S. 86. 47 Vgl. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 294: »Materielle Zeichenträger müssen wahrnehmbar sein, denn in dieser ihrer sinnlichen Erscheinung liegt das Versprechen einer Imma-

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somit als Trägermedien bestimmt werden, die uns mithilfe von Zeichen und Symbolen Sinneffekte vermitteln. Oberflächen treten dabei in ihrer materiellen Präsenz ein Stück weit nach hinten, um gleichsam transparent zu werden für die Sinn- und Bedeutungsebenen der Zeichen, die – im Sinne der Semiotik – hinter der Oberfläche verborgen liegen.

5.3

Die mediale Ambivalenz der Oberfläche zwischen Opazität und Transparenz

Eine Theorie, die auf die Erfahrung von semiotischer Transparenz im Medienumgang aufmerksam macht, ist – wie bereits erwähnt – die negative Medientheorie. Im Sinne der negativen Medientheorie müssen Medien in ihrer eigenen Materialität und Stofflichkeit tendenziell verschwinden, um ihrer vermittelnden Aufgabe nachkommen zu können. Erst wenn das Medium selbst in den Hintergrund tritt, so der Gedanke, kann es etwas anderes vergegenwärtigen. »›Medien‹«, so beschreibt es Dieter Mersch, »büßen, indem sie etwas zur Erscheinung bringen, ihr eigenes Erscheinen ein.«48 Im Sinne der negativen Medientheorie machen Medien also etwas sichtbar, indem sie sich selbst wiederum unsichtbar machen.49 Dieser Gedanke mag vielleicht paradox erscheinen, er verdeutlicht sich jedoch, wenn wir z.B. an die Vorführung eines Kinofilms denken, bei dem die Leinwand als Medium fungiert: Hierbei sehen wir in der Regel nur die Projektion des Films, die Leinwand selbst jedoch nicht. Die Leinwand tritt in ihrer materiellen Präsenz für die Dauer der Vorführung zurück und wird transparent für das, was sie als Medium zu vermitteln sucht. Sybille Krämer beschreibt dieses Phänomen auch als »Fremdartikulierung durch Selbstneutralisierung«.50 »Selbstneutralisierung«, so Krämer, »bedeutet, die Eigenstruktur und Eigensinnlichkeit auszublenden, um eben dadurch und im gleichen Zuge eine Fremdstruktur, ein Fremdsinnliches sichtbar werden zu lassen.«51 Je stärker also die Leinwand in ihrer charakteristischen Erscheinung verschwindet, umso besser eignet sie sich als Projektionsfläche für den Film. Die

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terialisierbarkeit und Transparenz des Sinnlichen zugunsten des zu erschließenden (nichtsinnlichen) Zeichensinns.« Mersch, Dieter: Tertium datur. Einleitung in eine negative Medientheorie. In: Münker, Stefan; Roesler, Alexander (Hg.): Was ist ein Medium? 2008, S. 304. Vgl. Rautzenberg, Markus; Wolfsteiner, Andreas: Einleitung. In: Dies.: Hide and Seek. Das Spiel von Transparenz und Opazität. 2010, S. 11: »Ein Medium erfüllt seine Funktion […] erst dann, wenn es selbst im medialen Vollzug verschwindet.« Krämer, Sybille: Medien, Boten, Spuren. Wenig mehr als ein Literaturbericht. In: Münker, Stefan; Roesler, Alexander (Hg.): Was ist ein Medium? 2008, S. 83. Ebd., S. 83.

5 Zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz

Leinwand kann im besten Fall sogar derart hinter der Projektion zurücktreten, dass wir ihre Anwesenheit völlig vergessen und das Gefühl haben, in die Bilderwelt einzutauchen. Im ungehinderten Durchblick durch die Oberfläche erleben wir dann das Gefühl der Immersion und haben den Eindruck, dass sich die Personen und Gegenstände auf der Leinwand auf uns zu bewegen. Wenn wir uns im Sog der Bilder bisweilen auch reflexartig vor herannahenden Objekten auf der Leinwand wegducken, so verlassen wir deswegen jedoch nicht mehr fluchtartig den Kinosaal, wie dies die Zuschauer bei den ersten Filmvorführungen am Ende des 19. Jahrhunderts taten. Der Eindruck, der hierbei entsteht, lässt sich mit Roland Barthes vielmehr als ein Realitätseffekt oder »Effekt des Realen«52 beschreiben. So vergessen wir im Laufe der Filmvorführung die Künstlichkeit der Situation und gewinnen den Eindruck, dass es sich bei den fiktionalen Darstellungen auf der Kinoleinwand um reale Ereignisse handelt, denen wir als Beobachter beiwohnen. »Medien«, so beschreibt es Sybille Krämer, »an-aisthetisieren sich im störungsfreien Gebrauch.«53 Sie, so Krämer weiter, »machen etwas wahrnehmbar, indem sie selbst dabei zurücktreten und unterhalb der Schwelle des Wahrnehmens für den Rezipienten verbleiben. Im gelungenen Medienumgang lassen Medien daher den Eindruck einer ›Unmittelbarkeit‹ […] entstehen.«54 In Anlehnung an Niklas Luhmann wird dieses Phänomen oft auch als die »Unbeobachtbarkeit des Mediums« beschrieben. Wie Dieter Mersch allerdings zu bedenken gibt, gehen Medien nicht allein in ihrer sinnvermittelnden Funktion auf. Seiner Auffassung nach besitzen Medien in ihrer aisthetischen Verfasstheit stets einen materiellen Eigensinn, der sich einer Semiotisierung (und Transzendierung) entzieht. Auch die Oberfläche darf in ihrer Eigenschaft als Trägermedium nicht bloß als ein Erfüllungsgehilfe für semiotische Verweisungsprozesse verstanden werden. Wie bereits erwähnt wurde, besitzen Oberflächen in ihrer Materialität stets eine gewisse Widerständigkeit und Souveränität, die sich im medialen Vermittlungsprozess nicht auflöst. Diese Widerständigkeit der Oberfläche macht sich nun auch in ihrer Funktion als Trägermedium bemerkbar. So steht der materielle Eigensinn der Oberfläche hier nicht für etwas oder verweist auf etwas, sondern präsentiert einzig und allein die Stofflichkeit der Oberfläche selbst. Im Sinne Merschs ist er als etwas zu begreifen, »das der Signifikation […] vorweggeht, ohne selbst signifizierbar zu sein«.55 Mersch bestimmt den materiellen Eigensinn daher auch als ein zwar wahrnehmbares, jedoch nicht näher definierbares »Sichzeigen«56 der Oberfläche. »Das Sichzeigen«, so schreibt er, 52 Barthes, Roland: Historie und ihr Diskurs. In: Brenner, Hildegard (Hg.): Alternative. Zeitschrift für Literatur und Diskussion. 11, Nr. 62/63, 1968, S. 180. 53 Krämer: Medien zwischen Transparenz und Opazität, S. 217. 54 Ebd., S. 217. 55 Mersch: Was sich zeigt, S. 19. 56 Ebd., S. 9.

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»[…] ist da, ohne Tiefe oder Verborgenheit, an der Oberfläche, seinem reinen Außen.«57 Es stelle ausschließlich die Präsenz und Gegenwärtigkeit der Materie zur Schau, ohne dabei irgendwelche Sinneffekte erzeugen:58 »Das Sichzeigen ist schlicht; es ist ohne Tiefe; […] Das will sagen: Es ist ohne Verborgenheit oder Mysterium, vielmehr ›da‹, als die seine einfache Oberfläche oder Blöße seiner reinen Gegenwärtigkeit. […] Es ist an Wahrnehmungen gebunden, nicht an Verstehen.«59 Laut Mersch repräsentiert die Oberfläche in ihrer materiellen Eigensinnlichkeit also nichts als sich selbst. Der materielle Eigensinn der Oberfläche lässt sich nicht transzendieren und zugunsten eines verborgenen Sinns auflösen. Er ist nicht transparent und durchscheinend, sondern radikal opak. Der Philosoph und Kunsthistoriker Stefan Majetschak beschreibt diesen Effekt von materieller Opazität in seinem 2005 erschienenen Aufsatz Opazität und ikonischer Sinn am Beispiel des Bildes. Er schreibt: »Die Rede von einer ›Opazität‹ des Bildes meint […], dass jedes Bild mit allem Sichtbar-Machen von etwas stets auch sich selbst zeigt – sozusagen seine medialen Eigenschaften als solche in den Blick rückt – und in dieser Hinsicht gerade nicht transparent und durchblickseröffnend, sondern für das Betrachterauge opak, d.h. durchblicksverweigernd, erscheint. Mit dem jeweils Gesehenen nehmen wir in dieser Dimension der Bildwahrnehmung immer auch bestimmte Eigenschaften der medialen Präsenz des Bildes wahr, etwa seine Flächigkeit oder – wie oftmals in Kunstbildern – Eigenschaften der Pinselführung oder das hervorstechende Leuchten bestimmter Farben.«60 Jene materielle Opazität und Eigensinnlichkeit der Oberfläche, die Majetschak hier am Beispiel des Bildes erläutert, lässt sich mit Roland Barthes zugleich als »stumpfer Sinn«61 beschreiben. Barthes verwendet diesen Begriff in seinem 1970 veröffentlichten Essay Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, in dem er sich mit den nichtsemiotischen Effekten von materieller Präsenz beschäftigt. Auch im Sinne von Barthes lassen sich – jenseits von Signifikationsprozessen – materielle Erscheinung ausmachen, die nicht unmittelbar sinnstiftend sind. Barthes verdeutlicht dies u.a. 57 Ebd., S. 71-72. 58 Vgl. ebd., S. 37. So schreibt Mersch etwa zur »Blöße oder Einfachheit des Sichzeigenden«: »Es enthüllt sich nicht in der Tiefe dessen, was gedacht oder wahrgenommen werden kann, sondern befindet sich an der Oberfläche dessen, was (sich) gibt.« 59 Ebd., S. 206. 60 Majetschak, Stefan: Opazität und ikonischer Sinn. Versuch, ein Gedankenmotiv Heideggers für die Bildtheorie fruchtbar zu machen. In: Sachs-Hombach, Klaus (Hg.): Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung. 2005, S. 179. 61 Barthes, Roland: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. 2001, S. 50.

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anhand eines Film-Stills aus Sergej M. Eisensteins Iwan der Schreckliche. Zu sehen ist darauf Zar Iwan, der von zwei Bediensteten mit Gold überschüttet wird (vgl. Abb. 2).

 

Abb. 2: Sergej M. Eisenstein, Iwan der Schreckliche

Barthes unterscheidet an dieser Szene zunächst zwei Sinnebenen: die informative und die symbolische Ebene. Auf der informativen Ebene erschließt sich nach Barthes alles, was sich über die Kostüme, die Figuren, ihre Beziehungen sowie ihre Eingliederung in die Handlung erkennen lässt.62 Barthes bestimmt die informative Ebene daher auch als die Ebene der Kommunikation. Auf der symbolischen Ebene wiederum vermittelt sich nach Barthes die Bedeutung des ausgeschütteten Goldes als Symbol für Reichtum und Macht. Die symbolische Ebene ergebe sich über den allgemeinen Wortschatz des Symbols und vollziehe sich in einem geschlossenen Sender-Empfänger-System.63 Barthes bezeichnet den symbolischen Sinn deshalb auch als den »entgegenkommenden Sinn«.64 Schließlich erkennt Barthes in der Szene allerdings noch weitere Merkmale, die sich keiner der beiden Ebenen zuordnen lassen. Hierzu zählt er etwa die Kompaktheit der Schminke, den eigenwilligen Glanz und Schimmer der Haare oder den besonderen Teint der Figuren.65 Was diese rein materiellen Erscheinungen der 62 63 64 65

Vgl. ebd., S. 47. Vgl. ebd., S. 49. Ebd., S. 50. Vgl. ebd., S. 49-50: »Es ist eine gewisse Kompaktheit der Schminke der Höflinge, die hier dick und auffallend, dort glatt und sorgsam aufgetragen ist, es ist die ›dumme‹ Nase des einen, die fein nachgezeichneten Augenbrauen des anderen, sein fades blondes Haar, sein weißer

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Oberfläche vermitteln, bezeichnet Barthes als den »stumpfen Sinn«.66 Der stumpfe Sinn habe keinerlei Bedeutung, verleihe der Szene jedoch »eine Art kaum greifbarer Rundheit«.67 Er vollziehe sich außerhalb des vertrauten Symbolvokabulars und sei daher kaum in Worte zu fassen.68 »Wenn man den stumpfen Sinn nicht beschreiben kann«, schreibt Barthes, »so deshalb, weil er im Gegensatz zum entgegenkommenden Sinn nichts nachbildet: Wie soll man beschreiben, was nichts darstellt?«69 Ganz im Sinne Merschs zeigt der stumpfe Sinn also nichts als sich selbst. Er verkörpert nichts, er verweist auf nichts und ist in seiner materiellen Opazität begrifflich nur schwer zu fixieren.70 »Ein malerisches ›Wiedergeben‹ mit Wörtern«, so Barthes, »ist hier unmöglich.«71 Wie nun auch Barthes’ Erörterungen zum stumpfen Sinn zeigen, darf die materielle Verfasstheit und aisthetische Eigenqualität der Oberfläche also nicht zugunsten einer semiotischen Bedeutungsebene marginalisiert werden. In ihrer konkreten Faktizität besitzt die Oberfläche immer auch etwas Widerständiges, das sich nicht sinnhaft auflösen lässt. Darüber hinaus wird anhand der von Barthes beschriebenen Szenerie aber auch deutlich, dass die Effekte von materieller Opazität und semiotischer Transparenz – von Präsenz und Sinn – durchaus nebeneinander bestehen können. Im Rahmen medientheoretischer Debatten werden diese Effekte jedoch häufig voneinander isoliert und/oder zugunsten eines eher materialitätsbezogenen oder semiotischen Medienansatzes gegeneinander ausgespielt.72 Dass Präsenz- und Sinneffekte trotz ihr Verschiedenartigkeit aber nicht nur nebeneinander koexistieren können, sondern zugleich für die Gegebenheitsweise und das Funktionieren von Medien konstitutiv sind, verdeutlicht wiederum der Philosoph und Medientheoretiker Markus Rautzenberg. In seiner 2009 veröffentlichten Monographie Die Gegenwendigkeit der Störung bestimmt Rautzenberg die Effekte von materieller Opazität und semiotischer Transparenz als zwei Modi medialen Erscheinens, die sich wechselseitig ergänzen. Diese Doppelstellung des Mediums zwischen aisthesis und semiosis sei im gelungenen Mediengebrauch jedoch nicht beobachtbar, sondern werde erst im Moment der Störung bewusst. Rautzenberg

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und welker Teint, die platt hergerichtete Frisur, die nach Toupet aussieht, das mit Reispuder aufgefrischte Make-up.« Ebd., S. 50: »Was den anderen Sinn betrifft, den dritten, der ›überzählig‹ ist, wie ein Zusatz, den meine intellektuelle Erkenntnis nicht aufzufassen vermag, zugleich hartnäckig und flüchtig, glatt und entwichen, so schlage ich vor, ihn den stumpfen Sinn zu nennen.« Ebd., S. 50. Vgl. ebd., S. 60. Ebd., S. 60. Vgl. ebd., S. 50: »Er bewirkt, scheint mir, eine totale, das heißt endlose Öffnung des Sinnfeldes.« Ebd., S. 60. Vgl. Krämer: Medien zwischen Transparenz und Opazität, S. 215-217; Rautzenberg, Markus: Die Gegenwendigkeit der Störung. Aspekte einer postmetaphysischen Präsenztheorie. 2009, S. 7ff.

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bezieht sich dabei im Wesentlichen auf die Überlegungen der negativen Medientheorie. Auch er geht also zunächst davon aus, dass Medien ihre Materialität und Eigensinnlichkeit im gelungenen Gebrauch ausblenden, um etwas anderes vergegenwärtigen zu können. »In der Störung« ist jedoch nach Rautzenberg »[…] diese Dynamik durchkreuzt, wodurch die Materialität des Mediums in eine Präsenz getrieben wird. Die Transparenz, die für das Funktionieren von Medien scheinbar unabdingbar ist, wird getrübt.«73 Greifen wir zur Veranschaulichung hierzu noch einmal das Beispiel der Kinoleinwand auf: Bei einer störungsfreien Filmvorführung, so wurde deutlich, achten wir in der Regel nicht auf die materielle Präsenz der Leinwand, sondern schauen durch diese hindurch. Der Faktizität der Leinwand werden wir uns erst in dem Moment wieder bewusst, wenn der Film endet oder eine Störung, wie z.B. helles Umgebungslicht, die Projektion beeinträchtigt. Der materielle Eigenwert der Leinwand rückt dann erneut in den Vordergrund, und der Blick wird auf die Oberfläche zurückgeworfen. In seinem Aufsatz Bildstörung beschreibt der Kunstwissenschaftler Hans Dieter Huber diesen Moment wie folgt: »Normalerweise achtet man als Beobachter nicht auf die Oberfläche einer Filmprojektion, sondern man sieht durch die Projektionsleinwand ›hindurch‹. Erst bei auftretenden Störungen wie Staubfusseln, Telegraphendrähten, Flecken oder einem Perforationsfehler wird die Präsenz der medialen Oberfläche als solche beobachtbar. Man könnte daraus vielleicht verallgemeinern, dass erst in der Störung die Oberfläche eines Mediums präsent wird.«74 Auch im Sinne Hubers stellt die Störung somit ein Ereignis dar, bei dem uns das zwiespältige Wesen eines Mediums erstmals vor Augen geführt wird. Erst im Moment der Störung erfahren wir, so wiederum Rautzenberg, »die Liminalität [d.i. die Schwellenhaftigkeit; C.R.] des Mediums zwischen Wahrnehmungs- und Zeichenprozessen, zwischen aisthesis und semiosis«.75 Vor diesem Hintergrund seien nun auch die Erscheinungen von materieller Opazität und semiotischer Transparenz nicht gegeneinander auszuspielen, sondern vielmehr als zwei Pole eines Spannungsverhältnisses zu begreifen, das Medien wesentlich ist.76 »In mediale Vollzüge«, so schreibt Rautzenberg, »sind ein ›Streit‹ und eine Interdependenz von Transparenz und Opazität […] konstitutiv eingeschrieben, die auf Anerkennung von Alterität drängen. Transparenz und Opazität sind jene Modi, zwischen denen mediale Voll73 Rautzenberg: Die Gegenwendigkeit der Störung, S. 14. 74 Huber, Hans Dieter: Bildstörung. In: Weibel, Peter (Hg.): Vom Tafelbild zum globalen Datenraum. Neue Möglichkeiten der Bildproduktion und bildgebender Verfahren. 2001, S. 135. 75 Rautzenberg: Die Gegenwendigkeit der Störung, S. 8. 76 Vgl. ebd., S. 198: »Transparenz und Opazität […] sind nicht dichotomische Oppositionen, sondern verschiedene Formen desselben Vorgangs.«

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züge oszillieren.«77 »Denn das Spezifikum des Medialen«, so Rautzenberg an anderer Stelle, »ist es […], dass sich Medialität einer paradoxalen Gleichzeitigkeit von Anwesenheit und Abwesenheit verdankt.«78 Im Sinne des Philosophen Michael Mayer können Medien aufgrund dieses paradoxalen Wechselspiels von Opazität und Transparenz nicht zuletzt auch als eine Art Schleier verstanden werden. In seinem 2013 veröffentlichten Essay Schleier Medium vergleicht Mayer beide Phänomene miteinander und unterstreicht deren funktionelle Gemeinsamkeit. »Der Schleier«, so schreibt er, »ist ein Medium, weil das Medium ein Schleier ist.«79 Denn für ihn ist sowohl dem Schleier als auch dem Medium eine »visuelle Dialektik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit«80 zu eigen. So wie der Schleier aufgrund seines transluzenten Stoffes den Blick auf den verschleierten Körper abwechselnd verhindere und ermögliche, so oszilliere auch das Medium abwechselnd zwischen (materieller) Opazität und (semiotischer) Transparenz. Mayer zufolge fällt jene funktionelle Ähnlichkeit von Medium und Schleier im gelungenen Mediengebrauch jedoch nicht weiter auf. Sie wird erst – und hier knüpft er an Rautzenberg sowie den Gedanken von der prinzipiellen Unbeobachtbarkeit des Mediums an – in den Momenten der Störung bewusst:81 »Zur Normalität dieses Normalfalls gehört, dass mediale Prozesse, insofern sie ihre eigene Medialität verbergen, jene Schleiereffekte ihrerseits verschleiern. Der Störfall tritt ein, wenn die Schleiereffekte als solche in Erscheinung treten und damit anzeigen, was immer schon der Fall ist. Dieser Störfall ist der Schleier, die ›Wahrheit‹ des Medialen. Am Schleier also ließe sich studieren, was Medien sind; besser: wie sie, wenn sie funktionieren, funktionieren.«82 Michael Mayer ist nun jedoch nicht der Einzige, der auf die funktionelle Gemeinsamkeit von Schleier und Medium hinweist. Auch die Kulturwissenschaftlerin Susanne Stemmler unterstreicht deren Ähnlichkeit in ihrer 2004 erschienen Monographie Topografien des Blicks, wenn sie etwa über den Schleier schreibt: »Der Schleier hat eine Zwischenposition, die sich als seine mediale Funktion bezeichnen lässt: Er ist opak und transparent zugleich, so dass er zum einen dem 77 Ebd., S. 15. 78 Ebd., S. 14. 79 Mayer, Michael: Schleier Medium. In: Möller, Jan-Henrik; Sternagel, Jörg; Hipper, Leonore (Hg.): Paradoxalität des Medialen. 2013, S. 197. 80 Ebd. S. 198. 81 Vgl. ebd., S. 197. 82 Ebd., S. 198; sowie S. 198: »Und Medienwissenschaft wäre Schleierwissenschaft: Aufklärung im emphatischen Sinne jener Schleiereffekte, die keinen Stör-, sondern den Normalfall des Medialen charakterisieren.«

5 Zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz

Sehen ein Hindernis ist, weil er es unterbricht und zum anderen etwas zu Sehen gibt.«83 Dieser Dualismus von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ist es nun auch, der den Schleier nach Auffassung Stemmlers zu einem Objekt von besonderem Interesse macht. Weder vollständig opak noch gänzlich transparent erzeuge der Schleier eine eingeschränkte Sichtbarkeit, die uns verdächtig erscheine und eine geradezu verführerische Anziehungskraft ausübe. Doch was genau sagt dies nun über den Status der Oberfläche als Medium aus? Die Oberfläche, so wurde zu Beginn dieses Kapitels deutlich, kann aufgrund ihrer ambivalenten Position zwischen Innen und Außen in zweierlei Hinsicht als ein Medium bestimmt werden: zum einen als ein Medium zwischen Subjekt und Objekt, das aisthetische Qualitäten vermittelt, zum anderen als ein Medium zwischen materieller Zeichen- und immaterieller Bedeutungsebene, das wiederum semiotische Qualitäten vermittelt. Die über die Oberfläche erfahrbaren Effekte, von Präsenz einerseits und Sinn andererseits, sind aller Dichotomisierung zum Trotz jedoch nicht als unvereinbare Gegensätze zu verstehen. Wie u.a. anhand der Erörterungen von Markus Rautzenberg gezeigt wurde, stellen sie vielmehr zwei sich wechselseitig ergänzende Modi des medialen Erscheinens dar. Die Oberfläche ist demnach als ein Medium zu begreifen, bei dem Präsenz- und Sinneffekte – aistehsis und semiosis – abwechselnd im Vordergrund stehen. Der ständige Wechsel der Oberfläche zwischen Präsenz- und Sinnebene, so wurde zuletzt erläutert, steht in Analogie zum Ver- und Enthüllen des Schleiers. Gerade diese Schleierhaftigkeit der Oberfläche ist es nun auch, die uns – im Sinne von Boris Groys – »verdächtig« erscheint und uns einen verborgenen submedialen Raum hinter der Oberfläche annehmen lässt. Der Musikwissenschaftler Guido Heldt und die Kunst- und Medientheoretikerin Mirjam Goller beschreiben die »verdächtige« Erscheinung der Oberfläche zwischen Präsenz- und Sinneffekten wie folgt: »Sie [die Oberflächen; C.R.] provozieren die Suche nach Prozessen der Symbolisierung und Signifikation, die das Kreuzworträtsel des Dahinter und Darunter zu entschlüsseln vermögen; sie richten den Blick aber auch zur Erfassung der Objektspezifik auf das Darauf. Der Reiz einer Beschäftigung mit Oberflächen kann darin liegen, beide Modelle nicht gegeneinander auszuspielen, sondern in divergenten Fokussierungen den Aspekten ihrer Materialität, ihrer Metaphorik und ihrer Medialität nachzuspüren. Hier fächern sich Potentiale der Wahrnehmbarkeit auf, die 83 Stemmler, Susanne: Topografien des Blicks. Eine Phänomenologie literarischer Orientalismen des 19. Jahrhunderts in Frankreich. 2004, S. 95.

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den Rezipienten (um)positionieren, sensorisch affizieren, imaginierend treiben und dechiffrierend interaktiv werden lassen.«84 Wie Groys zu bedenken gibt, wird der Verdacht des submedialen Raums jedoch nicht allein durch die verborgene Sinnebene der Zeichen erzeugt.85 Er ist vielmehr das Ergebnis eben jener medialen Unbeobachtbarkeit, die sich aus dem Wechselverhältnis von materieller Opazität und semiotischer Transparenz ergibt – dem, wie es Miriam Goller und Guido Heldt formulieren, »Kreuzworträtsel des Dahinter und Darunter«.86 Dieses Wechselverhältnis ist für das mediale Erscheinen der Oberfläche jedoch bekanntlich konstitutiv und lässt sich daher nicht auflösen, ebenso wenig wie sich der Verdacht jemals beweisen oder widerlegen lässt. »Im Angesicht der Medien«, so Groys, »ist man sich der verborgenen Präsenz des submedialen Raums ständig bewusst, aber man kann diesen Raum […] strukturell nicht durchschauen, solange man mit der Betrachtung der medialen Oberfläche beschäftigt ist.«87 Solange wir es also mit Oberflächen zu tun haben, handelt es sich um äußere Begrenzungsflächen, die eine ambivalente Position zwischen Außen und Innen – zwischen Sinnlichkeit und Sinn – einnehmen und die uns, aufgrund dieser Ambivalenz, verdächtig erscheinen. Inwieweit nun die verdächtige Erscheinung der Oberfläche unsere Wahrnehmung affiziert und wie umgekehrt unsere Wahrnehmung wiederum das Erscheinen der Oberfläche beeinflusst, soll im zweiten Teil näher erläutert werden.

84 Goller/Heldt: Exposé zum Thema des Heftes: Oberflächen, S. 9-11. 85 Vgl. Groys: Unter Verdacht, S. 48: »In diesem submedialen Raum spielt der Sinn der Zeichen, wie er sich auf der medialen Oberfläche konstituiert, keine so große Rolle.« 86 Goller/Heldt: Exposé zum Thema des Heftes: Oberflächen, S. 9-11. 87 Groys: Unter Verdacht, S. 49.

Wie wir Oberflächen wahrnehmen

Wie Oberflächen erscheinen, hängt nicht allein von ihrer konkreten Materialität ab, sondern auch von der Art und Weise unserer Wahrnehmung. Wenn wir also danach fragen, wie Oberflächen erscheinen, so müssen wir uns dabei immer auch die Frage stellen, wie wir Oberflächen wahrnehmen. Die Wahrnehmung der Oberfläche wird im Folgenden allerdings in erster Linie als visuelle Wahrnehmung beschrieben. Selbstverständlich nehmen wir Oberflächen keinesfalls nur visuell, sondern ebenso haptisch, thermisch oder olfaktorisch wahr. Weshalb nun jedoch hauptsächlich die visuelle Wahrnehmung der Oberfläche im Zentrum stehen soll, hat verschiedenerlei Gründe: Wie in Kapitel 1 bereits erwähnt wurde, sind beim Begriff »Oberfläche« vor allem optische Qualitäten entscheidend. Ferner handelt es sich bei dem für die Oberfläche charakteristischen Wechselverhältnis von Opazität und Transparenz um Eigenschaften, die der Mensch nur visuell erfahren kann. Darüber hinaus ist der visuelle Sinn – zumindest nach Auffassung Gibsons – bekanntlich ein »Leitsinn«, der unsere Wahrnehmung der Umwelt und ihrer Oberflächen entscheidend bestimmt. Und auch das Phänomen des Verdachts beruht – wie wir noch sehen werden – maßgeblich auf der visuellen Diskrepanz von sichtbaren Qualitäten und unsichtbaren, lediglich vermuteten Eigenschaften.1 Im Allgemeinen ist unsere visuelle Wahrnehmung der Oberfläche von der ganz banalen Tatsache bestimmt, dass wir mit der Oberfläche stets nur eine äußere Begrenzungsfläche wahrnehmen. Die Bereiche hinter, unter oder jenseits der Oberfläche sind uns in der Regel verborgen, da die Mehrzahl der uns umgebenden Oberflächen bekanntlich opak, also blickundurchlässig, ist. Mit Ausnahme von transparenten Oberflächen, wie etwa jenen aus Fensterglas, sind wir bei der Wahrnehmung von Oberflächen somit zunächst einmal auf das angewiesen, was auf der Oberfläche zur Erscheinung kommt. Gleichzeitig können wir von der konkreten Faktizität der Oberfläche aber auch – buchstäblich – ab-sehen und uns darauf konzentrieren, worauf ihre Erscheinungen jeweils hindeuten könnten. Im Sinne der Semiotik schauen wir dann nicht mehr nur auf die Oberfläche, sondern durchschauen sie zugleich hinsichtlich ihrer möglichen Bedeutungen. Unsere Wahrnehmung der Oberfläche ist demnach von zwei unterschiedlichen Blickrichtungen bestimmt: zum einen von einem unmittelbaren Blick auf die Oberfläche, bei dem wir uns auf die materielle Präsenz der Oberfläche konzentrieren; und zum anderen von einem – metaphorischen – Blick durch die Oberfläche, bei dem wir darauf achten, worauf ihre Erscheinungen hindeuten oder hindeuten könnten. 1 Dies bedeutet jedoch nicht, dass uns nicht auch Töne »verdächtig« vorkommen könnten. Allerdings ist auch hierbei wieder eine Diskrepanz von unmittelbar wahrnehmbaren und nicht wahrnehmbaren, sondern nur vermuteten Eigenschaften von Bedeutung. So kann uns etwa ein Schrei verdächtig vorkommen, wenn wir nicht hören oder eben sehen können, ob jener Schrei von einem spielenden Kind stammt oder ob es sich bei diesem Schrei um einen Hilfeschrei handelt.

In Kapitel 6 soll auf dieses widersprüchliche Verhältnis von Drauf- und Durchblick näher eingegangen werden. Dabei wird vor allem zu zeigen sein, dass sich der unmittelbare Blick auf und der metaphorische Blick durch die Oberfläche nicht widersprechen. Sie stellen vielmehr zwei Wahrnehmungsmodi dar, die sich zum medialen Erscheinen der Oberfläche kongruent verhalten und sich wechselseitig hervorbringen. So wie die Oberfläche in ihrer ambivalenten Medialität stets zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz oszilliert, so wandert auch unser Blick unablässig zwischen den Bereichen dies- und jenseits der Oberfläche hin und her. Unsere Wahrnehmung der Oberfläche soll demnach schließlich als ein Prozess nähergebracht werden, bei dem wir permanent die Faktizität der Oberfläche zu überwinden suchen – und doch nie über diese hinausgelangen. Dass dieser Prozess trotz seiner buchstäblichen »Oberflächlichkeit« aber durchaus als »tiefgründig« bezeichnet werden kann, wird dabei ebenfalls zu erläutern sein. In Kapitel 7 soll dann wiederum geschildert werden, wie wir Oberflächen in einem ästhetischen Modus wahrnehmen. Eine wichtige Grundlage stellen hierfür die Überlegungen des Philosophen Martin Seel dar. Dieser bestimmt die ästhetische Wahrnehmung als eine besondere Form der sinnlichen Wahrnehmung, die den Erscheinungen der Wirklichkeit mit selbstzweckhaftem Interesse begegnet. Wie in Anlehnung an Seel herauszuarbeiten sein wird, achten wir in ästhetischen Wahrnehmungskontexten verstärkt auf das augenblickhafte Erscheinen der Oberfläche und registrieren dabei Merkmale, die in der Flüchtigkeit unserer alltäglichen Wahrnehmung oft untergehen. Die ästhetische Wahrnehmung unterscheidet sich jedoch nicht wesentlich von dem in Kapitel 6 zu beschreibenden Wahrnehmungsmodus zwischen Drauf- und Durchblick. Sie, so wird zu zeigen sein, stellt vielmehr eine spezielle Ausprägung desselben dar. Wie zum Ende des Kapitels dann deutlich werden soll, ändert die Art und Weise unserer Wahrnehmung zwar nichts an der konkreten Faktizität der Oberfläche, doch können sich uns hierdurch doch immerhin unterschiedliche Erscheinungsdimensionen eröffnen.

6 Der Blick des Verdachts. Über das Verhältnis von unmittelbarer und transzendenter Wahrnehmung

Oberflächen lassen sich bekanntlich als Medien begreifen, die uns in ihrer Materialität und semiotischen Verfasstheit sowohl Präsenz- als auch Sinneffekte vermitteln können. Analog dazu sollen in diesem Kapitel nun zwei Wahrnehmungsweisen beschrieben werden, die mit dem medialen Erscheinen der Oberfläche – zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz – einhergehen: Dies ist zum einen ein unmittelbarer Blick auf und zum anderen ein metaphorischer Blick durch die Oberfläche. Wann immer wir Objekte in unserer Umgebung visuell wahrnehmen, lenken wir unseren Blick zunächst einmal auf deren Oberflächen. Wir erfassen dabei materielle Merkmale wie z.B. die Größe, Ausdehnung oder Farbe eines Objektes. Gleichzeitig können wir die Faktizität der Oberfläche aber auch zum Anlass nehmen, um von materiellen Erscheinungen auf immaterielle Sinndimensionen zu schließen. In diesen Momenten richten wir unsere Aufmerksamkeit nicht mehr nur auf die sinnliche Erscheinung der Oberfläche, sondern gehen zugleich über diese hinaus. Bei dem unmittelbaren Blick auf und dem metaphorischen Blick durch die Oberfläche handelt es sich nun jedoch nicht allein um eine Betrachtungsweise, die für unsere visuelle Wahrnehmung der Oberfläche charakteristisch ist. Wie Sybille Krämer betont, stellt sie zugleich eine spezifische Blicktradition dar, die tief in der abendländischen Philosophie verankert ist und unser negatives Verhältnis zur Oberfläche entscheidend geprägt hat. Krämer zufolge nimmt sie ihren Anfang in der Ideenlehre Platons und der Gegenüberstellung einer sinnlichen und einer intelligiblen Welt, wie sie in Kapitel 2 erläutert wurde.1 Im Sinne dieser Vorstellung lässt sich die Wirklichkeit nicht nur in zwei Bereiche – diesseits und jenseits der Oberfläche – unterteilen. Zusätzlich verlangt jeder Bereich nach einer eigenen Form der Rezeption. So seien die sinnlichen Bereiche diesseits der Oberfläche körperlich erfahrbar; die sinnhaften Bereiche jenseits der Oberfläche erforderten jedoch eine besondere geistige Kompetenz. Während der Blick unseres physischen Auges nur bis zu den Erscheinungen der Dinge reiche, könne das »innere Auge« 1 Vgl. Krämer: Sinnlichkeit, Denken, Medien, S. 25.

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Die Philosophie der Oberfläche

unseres Geistes wiederum deren Oberfläche – wie ein Fenster – durchschauen und den darunter verborgenen Sinn erfahren. Sybille Krämer bezeichnet diese Vorstellung daher auch als das »Fenstermodell«: »Das Sinnliche«, so schreibt sie, »ist ein Fenster, durch das hindurch sich dem Auge des Geistes ein Sinn ›zeigt‹, der jenseits des Sinnlichen postiert ist. Ich möchte diese Auffassung das ›Fenstermodell‹ des Verhältnisses von Sinn und Sinnlichkeit nennen.«2 Jene im Fenstermodell angedeutete Richtung oder Abfolge von einem unmittelbaren Blick auf hin zu einem interpretativ-deutenden Blick durch die Oberfläche hat unsere Wahrnehmung und Bewertung der Oberfläche maßgeblich geprägt und bestimmt diese bis heute. Schon allein in sprachlicher Hinsicht unterscheiden wir nach wie vor zwischen einem sinnlichen Vordergrund und einem sinnhaften Hintergrund, der ausschließlich geistig erfahrbar ist. So beschäftigen wir uns z.B. mit Phänomenen oder Sachverhalten, denen wahlweise eine bestimmte Bedeutung zugrunde liegt oder in die wir etwas hineininterpretieren. Ebenso werden Erscheinungen und Phänomene von uns niemals befragt, sondern immer nur hinterfragt.3 Aufgabe dieses Kapitels soll es nun sein, das Verhältnis und den Wechsel zwischen einem Blick auf und einem Blick durch die Oberfläche genauer zu erörtern. Ein Vorgang, der dies besonders treffend veranschaulicht und der in Kapitel 6.1 bespielhaft beschrieben werden soll, ist der des Lesens. Beim Lesen richten wir unseren Blick zunächst auf die Oberfläche der Zeichen, durchschauen diese jedoch, insofern wir deren Bedeutungen zu erfassen suchen, die – im Sinne der Semiotik – hinter der Oberfläche verborgen liegen. Dass wir allerdings nicht nur Zeichen, sondern in einem erweiterten Sinne auch Anzeichen, wie z.B. Spuren oder Symptome, lesen können, wird wiederum in Kapitel 6.2 zu zeigen sein. Darüber hinaus soll mit Hilfe dieses erweiterten Lesebegriffs verdeutlicht werden, dass es sich bei dem Blick auf und durch die Oberfläche um gegenläufige Wahrnehmungsweisen handelt, die sich jedoch – anders als es das Fenstermodell nahelegt – wechselseitig ergänzen. Sie, so die Annahme, stellen zwei Wahrnehmungsmodi dar, die sich zur medialen Ambivalenz der Oberfläche zwischen materieller Opazität und semiotischen Transparenz – zwischen Sinnlichkeit und Sinn – kongruent verhalten. Wie bereits dargestellt wurde, ist dieses paradoxale Wechselverhältnis für das mediale Erscheinen der Oberfläche allerdings konstitutiv und lässt sich – solange wir es mit Oberflächen zu tun haben – nicht auflösen. Folglich soll auch unsere Wahrnehmung der Oberfläche als ein Prozess nähergebracht werden, bei dem wir unablässig versuchen, die opake Materialität der Oberfläche zu durchschauen – 2 Ebd., S. 24-25. 3 Ebd., S. 33: »Das klassische Fenstermodell folgt den Markierungen einer Zwei-Welten-Theorie, die zwischen Körper und Geist unterscheidet. Sinnliches und Sinn haben dabei einen je unterschiedlichen Ort, deren Lageverhältnis mit Metaphern wie ›oben‹ und ›unten‹, ›vorne‹ und ›hinten‹, bevorzugt aber mit › außen‹ und ›innen‹ zum Ausdruck gebracht wird.«

6 Der Blick des Verdachts

und doch niemals über diese hinausgelangen. Wie zum Ende dieses Kapitels dann zu zeigen sein wird, kann diese »oberflächliche« Wahrnehmung aber durchaus als »tiefgründig« bezeichnet werden.

6.1

Zwischen Draufblick und Durchblick. Wie wir Oberflächen lesen

In unserem Alltag nehmen wir unsere Umwelt und die darin befindlichen Objekte in sekundenschnelle durch visuelles Abscannen ihrer Oberflächen wahr. Im unmittelbaren Blick auf die Oberfläche erfahren wir etwas über die Ausdehnung, die Substanz oder die Farbigkeit eines Objektes – und nicht zuletzt auch um welches Objekt es sich handelt. So identifizieren wir z.B. einen Stein anhand seiner Oberfläche als Stein oder ein Stück Holz als Holz. »Es ist notwendig«, so schreibt Gibson, »die Substanzen der Umwelt voneinander zu unterscheiden. Ein wirkungsvoller Weg dazu führt über das Sehen ihrer Oberflächen.«4 Bereits in diesem Moment nehmen wir die Objekte unserer Umgebung jedoch nicht mehr nur in ihrer sinnlichen Präsenz, sondern zugleich in ihrem sinnhaften Erscheinen wahr. Eine Wahrnehmung von Oberflächen unter Absehung von jeglicher Art von Sinn ist nämlich keine gewöhnliche, sondern eine überaus spezielle Form der Wahrnehmung.5 Hans-Ulrich Gumbrecht macht darauf u.a. aufmerksam, wenn er schreibt: »Für uns kommen Präsenzphänomene stets als ›Präsenzeffekte‹ daher, denn sie werden notwendig von Wolken und Polstern des Sinns umgeben, umfangen und vielleicht sogar vermittelt. Für uns ist es überaus schwierig – wenn nicht gar unmöglich –, das ›Deuten‹ zu unterlassen und keinen Versuch zu machen […] Sinn zuzuschreiben.«6 Neben der Identifizierung von Objekten können wir Oberflächen auch dazu nutzen, um etwas über die spezifische Beschaffenheit eines Objektes zu erfahren. So können wir z.B. den Reifegrad einer Frucht anhand ihrer Farbe oder die Beständigkeit eines Holzes anhand seiner Maserung bestimmen. Darüber hinaus können wir anhand von Oberflächen aber auch etwas über Vorgänge in Erfahrung bringen, die nicht unmittelbar wahrnehmbar sind. So lässt sich z.B. beim Anblick einer dunkelgefärbten Straße darauf schließen, dass es vor nicht allzu langer Zeit geregnet haben muss, oder es lassen sich anhand des Mooswuchses an einem Baum die Himmelsrichtungen ermitteln. In all diesen Fällen nehmen wir die Oberflächen 4 Gibson: Wahrnehmung und Umwelt, S. 33. 5 Diese spezielle Form der Wahrnehmung wird in Kapitel 7.4 anhand des »bloßen Erscheinens« noch ausführlicher beschrieben. 6 Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 127.

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unserer Umgebung nicht mehr nur in ihrer konkreten Materialität wahr, sondern versuchen diese sogleich in einen kausalen Sinnzusammenhang zu rücken. Unser Blick geht dann von einer unmittelbaren Drauf- in eine metaphorische Durchsicht über. Besonders augenfällig wird dieser Übergang von einem Blick auf zu einem interpretativen Blick durch die Oberfläche anhand des Lesens. Aleida Assmann schildert diesen Vorgang ausführlich in ihrer 2015 erschienenen Monographie Im Dickicht der Zeichen sowie in dem Aufsatz Die Sprache der Dinge aus dem Jahr 1988. Demnach nehmen wir im Akt des Lesens nicht nur die Zeichen auf der Textoberfläche wahr, sondern durchschauen diese sogleich hinsichtlich ihrer jeweiligen Bedeutung.7 Im Sinne der Semiotik schließen wir von materiellen Signifikanten auf immaterielle Signifikate, die hinter der Textoberfläche verborgen liegen.8 Assmann bestimmt den Akt des Lesens daher zunächst als »ein referentielles Verfahren«:9 »Es bewegt sich vom materiellen Signifikanten zum immateriellen Signifikat, wobei der Erstere dem Letzteren im gedankenschnellen Prozess des Verstehens zum Opfer fällt.«10 »Dieses Fortschreiten vom gegenwärtigen Zeichen zur abwesenden Bedeutung«11 sei – ganz im Sinne der negativen Medientheorie – jedoch nur möglich, wenn die Eigensinnlichkeit der Textoberfläche ausgeblendet werden würde. Der Blick des Lesers müsse dafür »die (gegenwärtige) Materialität des Zeichens durchstoßen, um zur (abwesenden) Bedeutungsschicht gelangen zu können«:12 »In der Evolution der Schriftgeschichte und der Sozialisationsgeschichte des Lesens wird das materielle Medium zugunsten einer anderen, höheren Ebene des Verstehens […] transzendiert. Dabei muss die Präsenz der Buchstaben, die sich diesem Prozess des Durchdringens als ein Widerstand entgegenstellen, zum Verschwinden gebracht werden.«13 Ohne diese Art des Durchdringens bzw. Durchschauens der Textoberfläche ließe sich keine Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat herstellen. Der Akt des Lesens sei daher nicht nur als ein referentielles, sondern auch als »ein transitorisches Verfahren«14 zu begreifen: »Es erfordert die schnelle Bewegung des Intellekts vom 7 Vgl. Heidegger, Martin: Was heisst Lesen? In: Ders.: Denkerfahrungen: 1910-1976, 1983, S. 61: »Was heißt Lesen? Das Tragende und Leitende im Lesen ist die Sammlung. Worauf sammelt sie? Auf das Geschriebene, auf das in der Schrift Gesagte. […] Ohne das eigentliche Lesen vermögen wir auch nicht das uns Anblickende zu sehen und das Erscheinende und Scheinende zu schauen.« 8 Vgl. Assmann: Die Sprache der Dinge, S. 241. 9 Assmann: Im Dickicht der Zeichen, S. 25. 10 Ebd., S. 25. 11 Ebd., S. 20. 12 Assmann: Die Sprache der Dinge, S. 238. 13 Assmann: Im Dickicht der Zeichen, S. 219. 14 Ebd., S. 25.

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Buchstaben zum Geist, […] von der Oberfläche zur Tiefe. Die Kraft des Verstandes zeigt sich in der Geschwindigkeit, mit der man sich vom einen zum anderen bewegt.«15 Jene sich im Akt des Lesens vollziehende Bewegung von der Oberfläche zur Tiefe ist kongruent zur medialen Ambivalenz der Oberfläche, die im vergangenen Kapitel bereits erläutert wurde. So wie die Oberfläche in ihrer Medialität permanent zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz oszilliert, so bewegt sich auch der Blick des Lesers zwischen der Materialität des Zeichens und der Immaterialität der Bedeutung hin und her.16 Aleida Assmann vergleicht dieses Wechselverhältnis von Opazität und Transparenz, von Drauf- und Durchblick, mit einer Kippfigur. Sie schreibt: »Eine Kippfigur ist ein Bild, in dem man zwei Figuren erkennen kann, jedoch mit der Einschränkung, dass man diese beiden Figuren jeweils nur nacheinander und nie gleichzeitig sehen kann. Das bedeutet, dass der Moment des Umschlags entzogen bleibt und deshalb der Wendepunkt selbst nicht beobachtbar ist. […] Das Umkippen vom Lesen zum Sehen [im Sinne des Durchblicks; C.R.] […] ist zugleich der Umschlag von der Intransparenz zur Transparenz des Mediums, das mit einem Akt der Umperspektivierung einhergeht. In diesem Moment wird der Vorhang der Buchstaben aufgezogen.«17 Wie bedeutsam ein durchschauender Blick für das Lesen tatsächlich ist, wird uns laut Assmann immer dann bewusst, wenn ein Blick durch die Textoberfläche misslingt.18 Dies kann verschiedene Gründe haben: entweder weil ein Text in einer uns unbekannten Sprache verfasst ist,19 weil wir müde sind und unser Blick wieder15 Ebd., S. 25. In diesem Sinne ist nun auch »das oberflächliche lesen« (Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 7, S. 1085) als ein Lesevorgang zu begreifen, der mangels Zeit, intellektueller Kompetenz oder Konzentrationsvermögen einen Text nicht oder nicht tief genug zu durchdringen versteht. 16 Wie Aleida Assmann, so stellt auch Sybille Krämer in ihrer Beschreibung des Fenstermodells und dessen historischer Entwicklung die These auf, dass sich mit der Schriftgeschichte die Gegenüberstellung von Sinnlichkeit und Sinn verhärtet. Auch »die Verwandlung opaker Materialität in ein transparentes Medium« (Krämer: Sinnlichkeit, Denken, Medien, S. 27) bestimmt sie als einen Gestus, welcher in der neuzeitlichen Textinterpretation aufscheint. »Interpretation gilt dabei als ein Verfahren, das ausgeht von der sinnlichen Gestalt eines Textes, um diese dann hin auf einen hinter dieser Oberfläche lokalisierten Sinn zu durchdringen […] Das Schriftbild wird dabei zur nur noch materiell verstandenen Oberfläche, die wir durchdringen müssen, um in ihrer Tiefe den Sinn zu entbergen.« (Krämer: Sinnlichkeit, Denken, Medien, S. 27-28). 17 Assmann: Im Dickicht der Zeichen, S. 218. 18 Dies erweist sich als eine weitere Entsprechung zwischen der Medialität und der Wahrnehmung von Oberflächen. Denn die Ambivalenz medialer Oberflächen zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz wird uns bekanntlich erst im Moment der Störung bewusst. 19 Vgl. Rautzenberg, Markus: Jenseits medialer Unmittelbarkeit. In: Brandstetter, Gabriele (Hg.): Grenzen und Schwellenerfahrungen. Sprache und Literatur. Bd. 95, 2005, S. 144: »Wer einer

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holt an der Textoberfläche abgleitet oder weil wir an etwas anderes denken und in Gedanken abschweifen. Unser Blick verharrt in derlei Fällen ausschließlich auf der Textoberfläche und kann dessen materielle Faktizität nicht überwinden. Wie Assmann erläutert, lässt sich Ähnliches auch bei kalligrafisch ausgestalteten Schriften beobachten, bei denen die ornamentalen Verzierungen der Buchstaben die Konzentration auf den Text erschweren.20 »Der flüssige und behände Duktus«, so Assmann, »wird gehemmt, ja unter Umständen ganz zum Stillstand gebracht, wenn die Buchstaben als resistente Materialität in Erscheinung treten.«21 Die Bedeutungen der Wörter blieben dann gleichsam hinter der Textoberfläche verschlossen. »Wer sich in die Materialität der Zeichen verstrickt«, so Assmann, »kann sie nicht verstehen, so wenig der stumpfe Blick des übermüdeten oder unkundigen Lesers es vermag, den Vorhang der Buchstaben aufzuziehen.«22 Dem Akt des Lesens stellt Assmann daraufhin den Modus des Starrens gegenüber.23 »Denn«, so schreibt sie, »neben dem schnellen schlauen Blick durch die Oberfläche gibt es den langen faszinierten Blick, der sich von der Dichte der Oberfläche nicht abzulösen vermag.«24 Ihrer Auffassung nach wird im Modus des Starrens die Oberfläche nicht durchschaut, sondern allein in ihrer materiellen Opazität und Eigensinnlichkeit betrachtet. Der in Kapitel 5 beschriebene »stumpfe Sinn« der Oberfläche korreliert hier mit einem »stumpfen Blick« des Betrachters. Dieser stumpfe Blick ist nicht transgressiv, sondern kontemplativ. In verträumter, bisweilen geistesabwesender Haltung verharrt er ausschließlich auf der Oberfläche der Dinge und ist gleichsam blind für das sinnstiftende Potential ihrer Erscheinungen.25 »Starren«, so schreibt Aleida Assmann, »ist anhaltende Aufmerksamkeit in dem Doppelsinne, daß hier der Blick zum Halten und Verweilen gebracht wird. Er haftet am Objekt.«26

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Sprache nicht mächtig ist, dem bleibt deren Sinndimension auf pragmatisch-semantischer Ebene verschlossen, die mediale Oberfläche verschließt sich zur Opazität.« Vgl. Assmann: Im Dickicht der Zeichen, S. 231: »Durch Hervorhebung, Umgestaltung und Verbildlichung der Buchstaben entsteht eine Form der Verdichtung, die das Medium […] opak macht«. Vgl. ebenso, S. 25: »Je minimaler die Ablenkung durch die Materialität des Zeichens, desto gesicherter die Konzentration.« Ebd., S. 24. Assmann: Die Sprache der Dinge, S. 238. Vgl. ebd., S. 241. Ebd., S. 240-241. Vgl. Krämer, Sybille: Das Medium als Spur und als Apparat. In: Dies. (Hg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. 2003, S. 74: »Wo dieses Schema nicht erfüllt wird, wo etwa an die Stelle des transitorischen Blickes, der die Oberfläche durchdringt, indem er liest, beobachtet oder anschaut, ein auf die Oberfläche ungeniert starrender Blick tritt, ist Pathologisierung nicht selten die Folge.« Assmann: Die Sprache der Dinge, S. 242.

6 Der Blick des Verdachts

6.2

Verdächtige Anzeichen. Die Oberfläche im Visier des Ermittlers

Der Akt des Lesens beschränkt sich jedoch nicht nur auf das Entziffern von (Schrift-)Zeichen. In einem erweiterten Sinne kann sich der Lesevorgang auch auf Anzeichen wie z.B. Indizien, Spuren oder Symptome beziehen. Hierbei werden Oberflächenerscheinungen wie etwa Abschürfungen, leichte Rötungen, Risse oder Schrammen von uns gelesen und in einen semiotischen Verweisungszusammenhang gesetzt. Sybille Krämer hat diesen Vorgang des »Anzeichenlesens« am Beispiel der Spur beschrieben.27 Spuren sind ihrer Auffassung nach Anzeichen, die ausschließlich auf vergangene Begebenheiten hindeuten.28 Sie seien Überreste eines Geschehens, die in Form von Ab- oder Eindrücken auf den Oberflächen der Dinge erhalten geblieben sind.29 Als Beispiel für Spuren lassen sich etwa Fingerabdrücke nennen, die auf einen zurückliegenden Einbruch aufmerksam machen, oder Beulen im Lack eines Autos, die auf einen früheren Verkehrsunfall schließen lassen. »Das Vorhandensein einer Spur«, so Krämer, »ist immer verknüpft mit dem Hinweis auf die faktische Abwesenheit desjenigen, was die Spur hinterlassen hat.«30 Eine Spur könne uns daher auch nicht den Inhalt eines Geschehens vermitteln, sondern nur dessen zeitliche Abgeschlossenheit.31 Den 27 Vgl. Krämer: Medien, Boten, Spuren. 2008; Krämer: Medium, Bote, Übertragung. 2008; Krämer, Sybille: Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme. In: Dies.; Kogge, Werner; Grube, Gernot (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. 2007, S. 11-33; Krämer, Sybille: Immanenz und Transzendenz der Spur. In: Dies.; Kogge, Werner; Grube, Gernot (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. 2007, S. 155-181; Krämer: Das Medium als Spur und Apparat, 2003. 28 Laut Krämer unterscheidet genau dies die Spur von anderen Anzeichen wie Symptomen oder Indizien. Diese würde nämlich nicht auf vergangene, sondern auf aktuelle Begebenheiten verweisen: »Die anzeigende Funktion des Index beruht […] auf der räumlichen und zeitlichen Simultaneität von Objekten (oder Geschehnissen).« (Krämer: Immanenz und Transzendenz der Spur, S. 163) So können z.B. dunkle Stellen an einer Zimmerdecke auf einen Wasserschaden hindeuten oder Hautrötungen eine akute Lebensmittelunverträglichkeit signalisieren. 29 Vgl. Krämer: Was also ist eine Spur?, S. 15: »Spuren treten gegenständlich vor Augen; ohne physische Signatur auch keine Spur. Spuren entstehen durch Berührung, also durchaus ›stofflich‹: Sie zeigen sich im und am Material. Spuren gehören der Welt der Dinge an.« Im Sinne Giuliana Brunos erzählen uns Spuren eine Geschichte, die in Form eines visuellen Textes auf der Oberfläche der Dinge erscheint: »The visual text is fundamentally textural, and in many different ways. Its form has real substance. […] It is constituted as an imprint, which always leaves behind a trace. A visual text is also textural for the ways in which it can show the patterns of history, in the form of a coating, a film, or a stain. One can say that a visual text can even wear its own history, inscribed as an imprint onto its textural surface.« (Bruno: Surface, S. 5). 30 Krämer: Medien, Boten, Spuren, S. 86. 31 Vgl. Krämer: Was also ist eine Spur?, S. 14-15: »Die Anwesenheit der Spur zeugt von der Abwesenheit dessen, was sie hervorgerufen hat. In der Sichtbarkeit der Spur bleibt dasjenige, was sie erzeugte, gerade entzogen und unsichtbar.«

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Inhalt des Geschehens müsse der Betrachter vielmehr selbst anhand der Spur rekonstruieren.32 Sybille Krämer unterscheidet daraufhin zwischen einer Semiotik des Zeichens und einer Semiotik des Anzeichens. Während Zeichen nicht nur auf abwesende Sachverhalte hindeuten, sondern sie sogleich vergegenwärtigen würden, würden Anzeichen lediglich die Abwesenheit eines Sachverhaltes zur Schau stellen.33 Krämer spricht diesbezüglich auch von der »Dingsemantik«34 der Spur.35 »Die Materialität der Spur«, so schreibt sie, »[…] subordiniert sich nicht der Repräsentation. Spuren repräsentieren nicht, sondern präsentieren.«36 Stärker noch als Zeichen müssten Anzeichen von uns daher nicht nur gelesen, sondern überhaupt erst als Anzeichen für etwas erkannt und identifiziert werden. Auch dies verdeutlicht Krämer wieder am Beispiel der Spur. »Spuren«, so betont sie, »entstehen im Auge des Betrachters. Spur ist nur das, was als Spur betrachtet und verfolgt wird.«37 Erst im Rahmen einer selektiven und gerichteten Wahrnehmung der Oberfläche könnten Erscheinungen von uns als Spuren für etwas bestimmt und gelesen werden:38 »Spurenlesen ist ein oft mühevoller, komplizierter Prozess, in dem vorfindliche Dinge überhaupt erst in Spuren für etwas verwandelt werden. Der Spürsinn, der 32 Vgl. Krämer: Medien, Boten, Spuren, S. 87-88: »Der Spurenleser verhält sich als Adressat von etwas, dessen Absender er allererst zu rekonstruieren hat. Darin besteht der Witz des Spurenlesens.« 33 Vgl. Krämer: Was also ist eine Spur?, S. 14-15: »Die Spur macht das Abwesende niemals präsent, sondern vergegenwärtigt seine Nichtpräsenz; Spuren zeigen nicht das Abwesende, sondern vielmehr dessen Abwesenheit.« 34 Ebd., S. 12-13. 35 Vgl. ebd., S. 12-13: »Im Nachdenken über die Spur knüpfen wir nun einerseits an den semiologisch-repräsentationalen Diskurs an, doch halten wir mit dem Spurenlesen zugleich einen Ariadnefaden in der Hand, der uns aus der ›reinen‹ Zeichenwelt hinausführt und mit der Dinghaftigkeit, Körperlichkeit und Materialität der Welt verbindet, welche die conditio sine qua non der Genese und der Deutbarkeit von Spuren sind.« 36 Ebd., S. 16. Vgl. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 285: Trotz ihrer semiotischen Unterschiedlichkeit geht Krämer davon aus, dass sich Zeichen und Anzeichen jedoch prinzipiell ähneln. Sie stützt sich dabei u.a. auf Emmanuel Lévinas. In Die Spur des Anderen schreibt dieser: »Die Spur ist nicht ein Zeichen wie jedes andere. Aber sie hat auch die Funktion des Zeichens. Sie kann als Zeichen gelten.« (Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Hg. von Wolfgang Nikolaus Krewani, 1983, S. 230). 37 Krämer: Was also ist eine Spur?, S. 16-17; und ebenso, S. 16: »Etwas ist nicht Spur, sondern wird als Spur gelesen.« 38 Vgl. ebd., S. 16-17. Folgt man Sybille Krämer, so kann uns gerade die Spur angesichts ihrer radikalen Opazität, die bei entsprechender Wahrnehmung wiederum in semiotische Transparenz umschlägt, die Medialität der Oberfläche vor Augen führen. Ganz im Sinne Rautzenbergs schreibt sie: »Und es ist diese ›störende‹ Funktion der Spur, die im Namen des Spurkonzeptes für uns dann eine Medialität jenseits des Übertragens aufscheinen lässt.« (Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 286).

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bei dieser Umwandlung von Dingen in Spuren vonnöten ist, macht deutlich, dass es um eine Suchbewegung geht, die ein intensives praktisches und theoretisches Beschäftigen mit dem Material, das als mögliche Spur infrage kommt, voraussetzt.«39 Laut Krämer beruht ein Großteil unserer alltäglichen Wissenspraktiken auf dem Identifizieren, Lesen und Deuten von Anzeichen, ohne dass wir uns dessen häufig bewusst wären.40 »Es«, so führt sie aus, »bildet eine Grundform im erkennenden Umgang mit der Welt.«41 Auch Aleida Assmann macht darauf aufmerksam, wenn sie schreibt: »Ohne die Fähigkeit, auch bestimmte Erscheinungen der Umwelt zeichenhaft zu lesen, könnten Menschen nicht überleben. Was ihnen an Instinktsicherheit abgeht, müssen sie durch Merkvermögen in Gestalt geschärfter Wahrnehmung und permanenter Deutungsbereitschaft wettmachen. Sie sind angewiesen auf die ständige und schnelle Entzifferung von Signalen zur Weltorientierung, zur Kenntnis ihrer Umwelt, zur Einschätzung von Gefahren.«42 In der Entwicklungsgeschichte des Menschen habe das Anzeichenlesen daher stets eine zentrale Rolle gespielt. So hätten Jäger z.B. versucht, mithilfe von Spuren die Fährte eines Wildes zu verfolgen, Heiler und Ärzte anhand von Symptomen sich bemüht, die Ursachen einer Krankheit zu ermitteln und Wahrsager Anstrengungen unternommen, die Zukunft aus den Eingeweiden eines Opfertieres, den Resten des Kaffeesatzes oder den Handfalten eines Menschen herauszulesen.43 In all diesen Fällen identifizierten geübte Leser Anzeichen auf den Oberflächen der Dinge, die auf vergangene, gegenwärtige oder künftige Geschehnisse hinzudeuten schienen. Zu jener Zeit habe allerdings noch keinerlei Zweifel darüber geherrscht, ob ein Zusammenhang zwischen den Anzeichen und den davon abgeleiteten Sachverhalten überhaupt existierte. Die Welt und ihre Oberflächen schienen den frühen Anzeichenlesern prinzipiell les- und entzifferbar. »In einem spezifischen Ausschnitt«, so fasst Assmann jenes Weltbild zusammen, »erscheint die Welt als Text, der in diesem Fall nicht in Schrift und Buchstaben, sondern in konkreten Erscheinungen codiert ist.«44 »Für das Lesen selbst«, so ergänzt sie, »macht das aber keinen Unterschied: ebenso wie die Buchstaben-Signifikanten werden die gegenständlichen Signifikaten transzendiert und überwunden.«45 39 Krämer: Medien, Boten, Spuren, S. 86-87. 40 Vgl. Krämer: Immanenz und Transzendenz der Spur, S. 156. 41 Krämer: Medien, Boten, Spuren, S. 88-89. 42 Assmann: Im Dickicht der Zeichen, S. 22-23. 43 Vgl. ebd., S. 23. 44 Ebd., S. 23. 45 Ebd., S. 23.

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Im Laufe der Jahrtausende sei das epistemologische Verfahren des Anzeichenlesens jedoch mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt und schließlich durch andere Erkenntnismethoden ersetzt worden. Vor allem das Entstehen der modernen Wissenschaft im 18. Jahrhundert habe sich vernichtend auf die scheinbar archaische Technik des Anzeichenlesens ausgewirkt. Wie in Kapitel 2 bereits beschrieben wurde, entwickelte sich zu jener Zeit eine weltanschauliche Konzeption, die auf der Suche nach »tiefen« Wahrheiten den wechselvollen Erscheinungen der Oberfläche misstraute. Fortan wurden allein diejenigen Erkenntnismethoden als gültig erachtet, die auf vermeintlich objektiv nachweisbaren Grundlagen beruhten. Andere epistemologische Verfahren, die sich im Wesentlichen auf subjektive Mutmaßungen stützten, widersprachen den Prinzipen dieser modernen, empirischen Wissenschaft. Insbesondere das Anzeichenlesen, das allein auf Beobachtungen der Natur beruhte, wurde als anachronistisch und schlichtweg unwissenschaftlich aufgefasst.46 Assmann schreibt dazu: »In dieser Kultur, in der man es vorzog, kosmische Erscheinungen genau auszumessen, anstatt sie auf unmittelbare Botschaften hin zu befragen, sind die Zeichendeuter nicht verschwunden, aber sie rückten vom Zentrum an die Peripherie der Gesellschaft. Die Fähigkeit, in der Umwelt Zeichen zu lesen, wurde in ihrer kulturellen Wertung herabgestuft, marginalisiert und sogar pathologisiert. Sie wurde im Selbstverständnis der Neuzeit und Aufklärung als Lüge und Trugbild entzaubert und allenfalls noch der künstlerischen Imagination zugeordnet.«47 Wenngleich die Technik des Anzeichenlesens mit der Entstehung der modernen Wissenschaft nahezu vollständig verdrängt wurde, habe sie sich allerdings – wie Assmann schreibt – »in periodischen Wiederentdeckungen und kreativen Verwandlungen«48 bis in die Moderne und ins 21. Jahrhundert hinüberretten können.49 Der Historiker Carlo Ginzburg machte darauf bereits in seinem 1979 veröffentlichten Aufsatz Spurensicherung aufmerksam. Ginzburg vertritt darin die These, gegen Ende des 19. Jahrhunderts habe sich in den Humanwissenschaften ein epistemologisches Verfahren entwickelt, das an die jahrtausendalte Technik des Anzei46 Vgl. ebd., S. 31: »Jene Welt, die es zu deuten, zu entziffern, zu verstehen gilt, gehört nach dieser Argumentation einer vorwissenschaftlichen, archaischen Denkart an. Der neuzeitliche Mensch zeichnet sich demnach dadurch aus, dass er gelernt hat, keine Sinnansprüche an seine Umwelt zu stellen.« 47 Ebd., S. 235. 48 Ebd., S. 16. 49 Vgl. ebd., S. 16: »Es zeigt sich dabei auch, dass die Lesbarkeit der Welt einem tiefen menschlichen Wunsch und Bedürfnis entspricht, das nicht ein für alle Mal in der Moderne begraben wurde, sondern eine kontinuierliche Energie des Denkens und Schaffens darstellt, die sich in immer neuen Manifestationen äußert.«

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chenlesens anknüpfte.50 Das Besondere dieses Verfahrens, welches er als das »Indizienparadigma«51 bezeichnet, habe darin bestanden, dass es sich nicht wie andere wissenschaftliche Methoden ausschließlich auf objektivierbare Erscheinungen konzentrierte. Wie der Name bereits andeutet, beschäftigte sich das Indizienparadigma stattdessen mit den vermeintlich unbedeutsamen Anzeichen der Oberflächen – sprich: Indizien –, die jedoch auf beachtenswerte Sachverhalte hinzuweisen schienen. Ginzburg zufolge hat sich diese buchstäbliche »Oberflächenwissenschaft« des Indizienparadigmas aus dem Bereich der Medizin entwickelt, da hier die Technik des Anzeichenlesens noch am stärksten überdauert hatte. Michel Foucault hat darauf bekanntlich schon in seiner 1966 veröffentlichten Schrift Die Geburt der Klinik hingewiesen. Demnach stand die Wissenschaft der Medizin ursprünglich in der Tradition des Anzeichenlesens und blieb dieser archaischen Erkenntnismethode lange Zeit treu. Als Beispiel dafür nennt Foucault u.a. die Idee der medizinischen Anamnese, wonach ein Arzt zunächst die oberflächlichen Symptome eines Patienten erfasst, um anschließend eine Diagnose über die Erkrankung im Inneren des Körpers zu stellen.52 »Das Symptom«, so schreibt Foucault, »ist die Form, in der sich die Krankheit präsentiert […]. Die Symptome lassen die unveränderliche sichtbar-unsichtbare Figur der Krankheit, die dahinterliegt, durchscheinen.«53 Neben Foucault bestimmte auch Roland Barthes in seiner 1972 veröffentlichten Schrift Semiologie und Medizin die medizinische Diagnostik als eine Form der »Lektüre«,54 die in der Tradition des Anzeichenlesens stehe. In Anlehnung an Foucault schreibt er: »Die Krankheit wird im Grunde als Person intelligibilisiert, die zunächst hinter der Haut in das Geheimnis des Körpers eingeweiht ist und Zeichen, Mitteilungen aussendet, die der Arzt empfangen und interpretieren muß, etwa so wie ein Seher entziffert.«55 Nach Auffassung Ginzburgs ging das Indizienparadigma gegen Ende des 19. Jahrhunderts von der Medizin auch auf andere Wissenschaftsbereiche, wie etwa die 50 Vgl. Ginzburg, Carlo: Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. In: Ders.: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis. 1983, S. 61. 51 Ebd., S. 69. 52 Vgl. Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 104. 53 Ebd., S. 104. In der Geschichte der Medizin lässt sich eine Vielzahl von Methoden und Verfahren ausmachen, die einen Zusammenhang von äußeren Anzeichen und inneren Erkrankungen herzustellen versuchen. Mitunter zählen dazu auch so fragwürdige Methoden wie die Physiognomik (die sog. »Gesichtslesekunst«) oder die Phrenologie (die sog. »Schädellehre«), die eine vermeintlich wissenschaftliche Grundlage für diverse Rassentheorien bildeten. 54 Barthes, Roland: Semiologie und Medizin. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. 1988, S. 218. 55 Ebd., S. 220.

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Kriminalistik, die Psychoanalyse und die Kunstgeschichte, über. Als Vertreter und entscheidende Wegbereiter dieser modernen Form des Anzeichenlesens nennt er drei Personen: Sigmund Freud, den italienischen Kunstkenner Giovanni Morelli und die von Arthur Conan Doyle entwickelte Romanfigur des Sherlock Holmes. Was diese Personen oder viel eher deren Arbeitsweise miteinander vereine, sei der Umstand, dass alle drei anhand von oberflächlichen Anzeichen auf tieferliegende Sachverhalte schließen würden.56 So versuche Sherlock Holmes mithilfe von Spuren wie Fuß- oder Fingerabdrücken Verbrechen aufzuklären.57 Giovanni Morelli wiederum unternehme den Versuch, mit dem Blick des sachverständigen Kunstkenners anhand von kleinen malerischen Details die Echtheit eines Kunstwerkes festzustellen.58 »Der Kunstsachverständige«, so Ginzburg, »ist dem Detektiv vergleichbar: er entdeckt den Täter (der am Bild schuldig ist) mittels Indizien, die dem Außenstehenden unsichtbar bleiben.«59 Dies gelte nicht zuletzt auch für Sigmund Freud, der – wie ein Detektiv – den scheinbar nebensächlichen Äußerungen seiner Patienten nachgehe, um verdrängte Emotionen und verborgene Ängste aufzuspüren.60 Um diese These zu untermauern, erwähnt Ginzburg Details aus dem Leben Sigmund Freuds, die sowohl Bezüge zu Holmes als auch zu Morelli herstellen. Wie Ginzburg verdeutlicht, war Freud nämlich nicht nur ein begeisterter Leser von Sherlock Holmes-Romanen.61 In einem Brief an C. G. Jung, in dem Freud 56 Vgl. Ginzburg: Spurensicherung, S. 69. Ginzburg weist hier u.a. auch auf biographische Übereinstimmungen hin, um seine These zu untermauern: »Freud war Arzt; Morelli promovierte in Medizin, Conan Doyle hatte als Arzt gearbeitet, bevor er sich der Literatur widmete. In allen drei Fällen erahnt man das Modell der medizinischen Semiotik.« 57 Vgl. ebd., S. 64. 58 Vgl. ebd., S. 63. 59 Ebd., S. 64. 60 Vgl. ebd., S. 68. Eine wissenschaftliche Publikation die ebenfalls auf Gemeinsamkeiten zwischen der Arbeitsweise Sigmund Freuds und Sherlock Holmes hinweist, ist Michael Shepherds Essay Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud aus dem Jahr 1985 (Vgl. Shepherd, Michael: Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud. 1986). Dass die psychoanalytische Methode Freuds nicht nur detektivische Kompetenz erfordert, sondern bisweilen auch zur Aufklärung von Kriminalfällen befähigt, scheinen folgende populärkulturellen Beispiele nahezulegen: So hat zum einen der Autor Heiko Martens eine mehrteilige Hörspielreihe konzipiert, in der Sigmund Freud selbst als Detektiv aktiv wird (Vgl. Martens, Heiko: Prof. Sigmund Freud. Das zweite Gesicht. 2011). Zum anderen lässt der Schriftsteller Nicholas Meyer in seinem Roman Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud beide Figuren aufeinandertreffen und gemeinsam einen Fall lösen (Vgl. Meyer, Nicholas: Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud. 1995). Und auch in dem Hörspiel In Sachen Sherlock H. gegen Sigmund F. von Cecil Jenkins treffen Holmes und Freud aufeinander, wobei letzterer feststellt: »Wir gehen beide nach der gleichen wissenschaftlichen Methode vor; wir versuchen von Oberflächensymptomen auf das versteckte Ganze zu schließen.« (Jenkins, Cecil: In Sachen Sherlock H. gegen Sigmund F. 2013, 41:17-41:26 Min). 61 Vgl. Ginzburg: Spurensicherung, S. 68.

6 Der Blick des Verdachts

seine psychoanalytische Behandlungsmethode beschreibt, weist dieser selbst auf die Ähnlichkeit zu Sherlock Holmes hin. »Ich habe«, so Freud, »[…] außerordentlich weise und scharfsinnig geantwortet, indem ich aus leisen Anzeichen Sherlock Holmes-artig den Sachverhalt zu erraten schien.«62 Darüber hinaus war Freud aber auch mit der Methode Giovanni Morellis bestens vertraut. In seinem Essay Der Moses des Michelangelo aus dem Jahr 1914 geht Freud auf die Forschungsmethoden Morellis ein und zieht Rückschlüsse auf seine eigene Arbeitsweise: »Ich glaube, sein Verfahren ist mit der Technik der ärztlichen Psychoanalyse nahe verwandt. Auch diese ist gewöhnt, aus geringgeschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub – dem ›refuse‹ – der Beobachtung, Geheimes und Verborgenes zu erraten.«63 Im Sinne Freuds ist das Bewusstsein des Patienten somit als ein, wie er schreibt, »Oberflächenwesen«64 zu begreifen, dessen Äußerungen der Psychoanalytiker zu lesen und zu deuten habe.65 Für Ginzburg ist dies nun Anlass, das Anzeichenlesen als eine Methode herauszustellen, die den unterschiedlichen Berufsfeldern 62 Freud, Sigmund; Jung, Carl Gustav: Briefwechsel. Hg. von William MacGuire, 1974, S. 259, 147 F. 63 Freud, Sigmund: Der Moses des Michelangelo. In: Ders.: Schriften zur Kunst und Literatur. 1987, S. 207. 64 Freud, Sigmund: Das Ich und das Es. In: Freud, Anna (Hg.): Gesammelte Werke. Bd. 13, 1967, S. 246. 65 Vgl. ebd., S. 246: »Wir haben gesagt, das Bewusstsein ist die Oberfläche des seelischen Apparates, das heißt wir haben es einem System als Funktion zugeschrieben, welches räumlich das erste von der Außenwelt her ist […] Auch unser Forschen muß diese wahrnehmende Oberfläche zum Ausgang nehmen.« Wie es Beschreibungen in Romanen und Darstellungen in Filmen zumindest nahelegen, können nicht zuletzt auch die Erscheinungen der Gesichtsoberfläche eine wichtige Rolle für die Arbeit des Psychoanalytikers und Detektivs spielen. So lassen sich z.B. ein nervöses Zucken der Gesichtsmuskeln, ein Erröten der Haut oder Schweißtropfen auf der Stirn als äußere Anzeichen interpretieren, die eine innere Unruhe des Patienten bzw. des Verdächtigen anzudeuten scheinen. Wie »Freud’sche Versprecher« oder widersprüchliche Aussagen, sind sie entlarvende Äußerungen von verborgenen Motiven, Geheimnissen oder Beweggründen. In klassischen Kriminalfilmen leuchtet man so etwa in Verhörsituationen den Verdächtigen mit einer Schreibtischlampe ins Gesicht, um diese unter Druck zu setzen und zu Geständnissen zu bewegen. Die »verschlossene Miene« des Verdächtigen soll gebrochen und seine »falsche Maskerade« heruntergerissen werden, um dessen »wahres Gesicht« ans Licht zu zerren. Inwiefern nun auch bei der Gesichtsoberfläche das Verhältnis von Außen und Innen sowie von Opazität und Transparenz zum Tragen kommt, verdeutlicht u.a. ein Zitat Wittgensteins: »Wenn Miene, Gebärde und Umstände eindeutig sind, dann scheint das Innere das Äußere zu sein; erst wenn wir das Äußere nicht lesen können, scheint ein Inneres hinter ihm versteckt.« (Wittgenstein: Wittgenstein’s Nachlass, MS 173, 36r). Auch bei Gilles Deleuzes und Felix Guattaris erweiterter Verwendung des Begriffs »Gesicht« als einer Schauseite und Oberfläche (sur-facis) der Dinge, lassen sich mit dem System »Weiße Wand–Schwarzes Loch« Anklänge an das Verhältnis von Opazität und Transparenz wiederfinden. (Vgl. Deleuze, Gilles; Guattari, Felix: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus. 1992, S. 233ff.).

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von Freud, Morelli und Holmes wesentlich zugrunde liegt. »In allen drei Fällen«, so schreibt er, »erlauben es unendlich feine Spuren, eine tiefere, sonst nicht erreichbare Realität einzufangen. Spuren, genauer gesagt: Symptome (bei Freud), Indizien (bei Sherlock Holmes) und malerische Details (bei Morelli).«66 Wie Ginzburg ergänzt, erfordert die »Oberflächenwissenschaft« des Anzeichenlesens jedoch eine besondere, individuelle Kompetenz. Anders als die empirische Wissenschaft verfahre die Technik des Anzeichenlesens nämlich nicht nach allgemeingültigen und somit erlernbaren Regeln. Für das Anzeichenlesen seien eine spezielle Beobachtungsgabe und ein elaboriertes Gespür für scheinbar nebensächliche Details entscheidend: »Es handelt sich hier um Formen eines tendenziell stummen Wissens – und zwar deswegen, weil sich seine Regeln nicht dazu eignen, ausgesprochen oder gar formalisiert zu werden. Niemand erlernt den Beruf des Kenners oder Diagnostikers, wenn er sich darauf beschränkt, schon vorformulierte Regeln in der Praxis anzuwenden. Bei diesem Wissenstyp spielen unwägbare Elemente, spielen Imponderabilien eine Rolle: Spürsinn, Augenmaß und Intuition.«67 Folgt man Aleida Assmann, so verbirgt sich hinter dem ausgeprägten Instinkt des Anzeichenlesers eine tendenziell skeptische Geisteshaltung. Der Anzeichenleser betrachte mit Argwohn die Erscheinungen seiner Umgebung, um verborgene Prozesse zu entlarven und unvorhersehbare Gefahren zu bannen. »Die Grundhaltung dieses Anzeichen-Lesens«, so schreibt sie, »ist das Misstrauen. Das Interesse, durch induktive Kombinatorik hinter die Oberfläche der Erscheinungen zu gelangen, ist motiviert durch den Drang, die Umwelt sicherer zu machen.«68 Als Prototyp des ebenso versierten wie misstrauischen Anzeichenlesers sticht vor allem die Figur des Detektivs hervor. Sein ausgeprägter Spürsinn scheint selbst die kompliziertesten Verbrechen lösen zu können und die Welt damit sicherer zu machen. Auch Aleida Assmann weist auf die »Deutungskompetenz des Detektivs«69 hin. »Seine Fähigkeit, Spuren zu entdecken und zu lesen«, so schreibt sie, »geht weit über die allgemeinen Grundlagen induktiver Semiotik hinaus.«70 Unter dem scharfsinnigen Blick des Detektivs werde jedes noch so kleine Detail zu einem bedeutsamen Indiz, das die Rekonstruierung des Tathergangs erlaube.71 »Für den 66 Ginzburg: Spurensicherung, S. 68-69. 67 Ebd., S. 91. 68 Assmann: Im Dickicht der Zeichen, S. 37. Vgl. Krämer: Was also ist eine Spur?, S. 21: »Das Spurenlesen ist eine alltägliche Wissenskunst des Umgangs mit Situationen von Ungewissheit, wo aus dem Sichtbaren Unsichtbares erschlossen und für unsere Lebensvollzüge orientierend wirksam gemacht wird.« 69 Assmann: Im Dickicht der Zeichen, S. 36. 70 Ebd., S. 36. 71 Vgl. ebd., S. 37.

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Detektiv«, so Assmann, »gibt es am Tatort keine Nebensachen, alles ist ein potentielles Zeichen.«72 Ihm, so ließe sich ergänzen, scheint alles potentiell verdächtig. Entsprechend geht auch Boris Groys in Unter Verdacht auf den Detektiv ein. Er erklärt diesen darin – wie übrigens auch Vilém Flusser – zu einer zentralen Figur der Moderne und des 21. Jahrhunderts.73 »Der eigentliche Held der medialen Kultur«, so schreibt er, »ist der Privatdetektiv, der ständig nach neuen Indizien sucht, die seine Verdächtigungen bestätigen könnten. Der Privatdetektiv ist der symbolische Vertreter der medialen Öffentlichkeit – er verkörpert den Verdacht.«74 Der investigative Blick des Detektivs – so zumindest die Hoffnung – könne die (massenmedialen) Oberflächen der Welt durchschauen und die darunter verborgenen Missstände aufdecken.75 Denn, so Groys: »Die Wahrheit des Submedialen, Inneren, Verborgenen kann sich nur im Phänomen der Aufrichtigkeit, des Geständnisses, der Selbstpreisgabe manifestieren 72 Ebd., S. 36. 73 Vgl. Flusser, Vilém: Hintergründe. In: Bollmann, Stefan (Hg.): Schriften. Bd. 1, 1995, S. 320: »Das Misstrauen gegenüber den Erscheinungen wurde […] als eine Art disziplinierter Fortsetzung der griechischen Wahrheitssuche gedeutet. Man behauptete, in die Hintergründe vorzustoßen, um die verbergenden Zusammenhänge zwischen den Erscheinungen ans Tageslicht zu fördern und somit die wahren Sachverhalte aufzudecken. Und doch ist auch in dieser beschönigenden Formulierung das Detektivische der modernen Einstellung zur Welt nicht zu verkennen. Die Welt ist verbrecherisch, und dem Verbrechen hat man nachzuspüren.« 74 Groys: Unter Verdacht, S. 226. Vgl. Boltanski, Luc: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft. 2013: Luc Boltanski zeichnet anhand des Detektivs und des Kriminalromans das Bild einer modernen Gesellschaft, die von Rätseln und Komplotten – kurz: vom Verdacht – wesentlich geprägt ist. Seiner Auffassung nach entsteht gegen Ende des 19. Jahrhunderts – nahezu zeitgleich mit dem Aufkommen des Kriminalromans – innerhalb der Gesellschaft die Idee einer zweigeteilten Realität: »Einer vordergründig sichtbaren, aber trotz ihres offiziellen Status trügerischen Oberflächenrealität steht eine tiefe, verdeckte, bedrohliche, inoffizielle, aber sehr viel realere Realität gegenüber.« (ebd., S. 15) Auch Boltanski geht davon aus, dass der moderne Spurenleser – wie er nun mit dem Detektiv im Kriminalroman aufscheint – erst mit der Entwicklung der modernen Wissenschaft und der damit einhergehenden Zurückdrängung des Übersinnlichen möglich wird: »Der Kriminalroman wurde erst möglich, nachdem eine klare Trennungslinie zwischen der natürlichen Realität und der so genannten übernatürlichen Welt gezogen war.« (ebd., S. 28) Und: »Alles Mögliche, eine Fußspur, ein umgeknickter Grashalm, eine zeitliche Abweichung von fünf Minuten in zwei Zeugenaussagen kann als Indiz oder Beweis verwendet werden. Vor dem Auftreten des Kriminalromans sind so verbissene, sorgfältige und den gewöhnlichen Praktiken so fremde Überprüfungen der Realität niemals in einem Roman geschildert worden.« (ebd., S. 45) 75 Vgl. Groys: Unter Verdacht, S. 225-226: »Die ganze Welt der Medien steht für uns unter dem Verdacht der Manipulation. Ihre Zeichen werden von uns notwendigerweise als Indizien interpretiert, die auf ein verborgenes Verbrechen hindeuten. Nicht zufällig ist der Krimi das eindeutig führende Genre der Gegenwartskultur – sei es in Literatur, Film oder Fernsehen. Nur ein Kunstwerk, das wie ein Krimi aufgebaut ist, hat heute Erfolg.«

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– als Blick durch die Zeichenschicht hindurch, die die mediale Oberfläche bedeckt.«76 Wie Groys zu bedenken gibt, geht es bei diesem Blick durch die Zeichenschicht der Oberfläche jedoch »nicht um die Wahrheit der Zeichen, sondern um die Wahrheit des Medialen«.77 Jedes Zeichen oder Anzeichen bezeichne nicht nur etwas und weise auf etwas hin, sondern verberge zugleich ein Stück der medialen Oberfläche. »Damit«, so Groys, »verstellt das Zeichen den Blick auf den medialen Träger, der dieses Zeichen trägt.«78 Und er ergänzt: »Die mediale Wahrheit des Zeichens zeigt sich daher erst dann, wenn dieses Zeichen eliminiert, entfernt wird – und auf diese Weise ein Einblick in der Beschaffenheit des Trägers möglich wird. Die mediale Wahrheit des Zeichens zu erfahren bedeutet, dieses Zeichen abzuschaffen, wegzutragen – es wie ein Stück Schmutz von der medialen Oberfläche wegzuwischen. Die medienontologische Fragestellung strebt nach einer Lichtung, nach einer leeren Stelle, einem Intervall in der Zeichenschicht, die die ganze mediale Oberfläche bedeckt – nach einer Demaskierung, Entlarvung, Entbergung der medialen Oberfläche.«79 Exemplarisch dargestellt finden wir dieses Ideal des vollständig entlarvenden Blicks in dem Science-Fiction-Film Sie leben von John Carpenter aus dem Jahr 1988. Die Hauptfigur John Nada findet darin durch Zufall eine Sonnenbrille, die es ihm möglich macht, die Hinweisschilder, Reklametafeln und Zeitschriftencover seiner Umgebung buchstäblich zu durchschauen. Nada erkennt nun plötzlich die wahren Absichten, die hinter den bunten, vermeintlich harmlosen Oberflächen der Werbeund Medienindustrie lauern. Wo andere nur Werbeanzeigen, Zeitungsartikel und Grafiken erblicken, sieht er eine Verschwörung am Werk, die ahnungslose Menschen einer Gehirnwäsche unterzieht und zu gehorsamen Sklaven abzurichten versucht (vgl. Abb. 3-6).80 Im Gegensatz zu John Nada kann unser Blick die Erscheinungen der Oberfläche jedoch niemals wirklich durchdringen. Unser Blick durch die Oberfläche bleibt stets metaphorisch. Er ist nur ein verdächtigender Blick – eine Vermutung, die niemals gänzlich bestätigt noch widerlegt werden kann. Denn wann immer wir es mit 76 77 78 79 80

Groys: Unter Verdacht, S. 64. Ebd., S. 22. Ebd., S. 22. Ebd., S. 22. Die Sonnenbrille, die John Nada durch Zufall findet, ist eine von vielen Sonnenbrillen, die von einer Art Untergrundorganisation vertrieben werden, um die Bevölkerung aufzuklären. Angeführt wird diese Untergrundorganisation von einem blinden Pfarrer, der scheinbar allein deshalb um das »wahre« Wesen der Wirklichkeit weiß, da er deren trügerische Oberflächen nicht sieht. Die Figur des Pfarrers steht in der antiken Tradition des »blinden Sehers«, als deren Prototyp der Priester Teiresias gilt.

6 Der Blick des Verdachts

 

 

Abb. 3-6: John Carpenter, Sie leben

lesbaren, d.h. mit materiell-opaken Oberflächen zu tun haben –, so lautet die ganz banale Begründung – haben wir es mit Oberflächen zu tun, die einen dahinterliegenden Bereich verbergen und uns Anlass zu Verdächtigungen geben. »Ich sehe das Äußere und stelle mir dazu ein Inneres vor«,81 wie Wittgenstein schreibt. Dieser grundlegenden Undurchschaubarkeit der Oberfläche und der damit einhergehenden Grenzenlosigkeit des Verdachts fallen letzten Endes auch jene Oberflächen zum Opfer, die John Nada vermeintlich durchschaut. Wer kann schließlich garantieren, dass sich hinter den durchschauten Oberflächen nicht noch eine weitere, »wirklichere« Wirklichkeit verbirgt? Das Verhältnis des Betrachters zur Oberfläche – so wird erneut deutlich – ist »ein notwendigerweise paranoides Verhältnis«.82

81 Wittgenstein: Wittgenstein’s Nachlass, MS 173, 36r. 82 Groys: Unter Verdacht, S. 19-20. Nach Auffassung von Byung-Chul Han, spitzt sich dieses paranoide Verhältnis, zwischen dem Verdacht einerseits und der Sehnsucht nach transparenter Einsicht anderseits, im 21. Jahrhundert mit den Möglichkeiten der Digitalisierung weiter zu. Han zufolge leben wir in einer postkapitalistischen »Transparenzgesellschaft«, die im Namen von Wissen, Freiheit und Demokratie stets vollständige Transparenz einfordert, dabei aber in einer Art digitaler Überwachungsgesellschaft zu gipfeln droht. »Der Imperativ der Transparenz

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Die Philosophie der Oberfläche

Gleichzeitig sei an dieser Stelle aber auch noch einmal daran erinnert, dass der Verdacht nicht zwangsläufig negativ sein muss. Unser Blick auf die Oberfläche kann genauso gut von wissenschaftlichem Interesse, ästhetischer Faszination, religiöser Ergriffenheit oder einem spezifischen Begehren geleitet sein. Der Moment der Offenbarung wird dann nicht als eine Bestätigung unser dunkelsten Befürchtungen erwartet, sondern als ein erhellendes, beglückendes – oder auf sonstige Weise positives – Ereignis herbeigesehnt. Unter dem Begriff des Verdachts sollen in diesem Band daher sämtliche Formen der Befürchtung und Hoffnung, der Beobachtung, Neugierde, Vermutung, Unterstellung, des Interesses, Begehrens oder etwa des Misstrauens zusammengefasst werden, die – in positiver oder negativer Absicht – von einem verborgenen Bereich hinter der Oberfläche ausgehen. Doch wie auch immer der Verdacht nun jeweils beschaffen sein mag, die tatsächliche Existenz des submedialen Raums bleibt in allen Fällen ungewiss.

6.3

Das perfekte Verbrechen der Oberfläche: die Tiefe

So sehr wir uns auch bemühen mögen, die Oberflächen unserer Umgebung zu durchschauen, erweisen sie sich in letzter Konsequenz doch immer wieder als undurchsichtig. »Erst wenn man die Oberfläche der Dinge kennengelernt hat«, so sei erneut Italo Calvino zitiert, »[…] kann man sich aufmachen, um herauszufinden, was darunter sein mag. Doch die Oberfläche der Dinge ist unerschöpflich.«83 In ganz ähnlicher Formulierung weist auch Sybille Krämer auf dieses Dilemma hin: »Spuren lesen heißt, ›Dinge zum Sprechen zu bringen‹; doch die Dinge sind

verdächtigt alles, was sich nicht der Sichtbarkeit unterwirft.« (Han, Byung-Chul: Transparenzgesellschaft. 2013, S. 24). Diese »Tyrannei der Sichtbarkeit« (ebd.), die in allem Unbekannten, Verborgenen und Privaten eine drohende Gefahr ahne, zersetze auf Dauer das moralische Fundament der Gesellschaft: »Statt ›Transparenz schafft Vertrauen‹ sollte es eigentlich heißen: ›Transparenz schafft Vertrauen ab‹. Die Forderung nach Transparenz wird gerade dann laut, wenn es kein Vertrauen mehr gibt.« (ebd., S. 79) 83 Calvino: Herr Palomar, S. 64. Das Zitat stammt aus dem Kapitel »Blick über die Dächer der Stadt«, in dem sich Italo Calvinos Alter Ego Herr Palomar den Blick auf die eigene Stadt aus der Vogelperspektive ausmalt: »Dafür hat man umgekehrt von hier oben den Eindruck, dies sei die wahre Kruste der Erde, uneben, aber kompakt, wenn auch zerfurcht von Spalten, deren Tiefe man nicht erkennt, von Rissen und Gräben und Kratern, deren Ränder im perspektivischen Blick zusammengerückt erscheinen wie Schuppen an einem Tannenzapfen, und man kommt gar nicht auf die Idee, sich zu fragen, was sie auf ihrem Grunde verbergen, da schon die Ansicht der Oberfläche so unendlich reich und vielfältig ist, daß sie vollauf genügt, den Geist mit Informationen und Signifikaten zu füllen.« (Ebd., S. 64)

6 Der Blick des Verdachts

stumm.«84 Für Krämer ist es daher ein wichtiges Anliegen, mit ihren Überlegungen zur Spur gleichzeitig auch »[…] die Fragwürdigkeiten, Interpretationsnöte und Ungewissheiten zu thematisieren, die jedem Spurenlesen eigen sind, und den Bruch vorstellig zu machen – zwischen dem Anwesenden und Abwesenden«.85 Denn zwischen dem Anwesenden und Abwesenden – sprich: der Materialität der Oberfläche und den davon abgeleiteten Mutmaßungen – klafft eine Lücke, in die sich stets Zweifel und Unsicherheiten einnisten. Sybille Krämer begreift die Spur somit nicht zuletzt auch als eine Art »[…] Chiffre nicht für die Möglichkeit, sondern für die Unmöglichkeit von sicherem Wissen und definiter Erkenntnis; sie gilt als Inkarnation dessen, was für uns unerreichbar ist – und bleibt«.86 Doch wenn der Versuch, die Oberfläche durchschauen zu wollen, auch vergeblich ist, so kann dieser Vorgang trotz allem als »tiefergehend« bezeichnet werden. Hierzu müssen wir uns nur einmal der Prozesshaftigkeit tiefergehender Denkbewegungen bewusst werden. In seinem Eintrag zur Tiefe im Wörterbuch der philosophischen Metaphern macht Thomas Rolf darauf aufmerksam, dass die geistige Dimension der Tiefe lediglich eine »Richtungsvorgabe«87 sei. Genau darin liege ihre Krux: Denn der Gang in die Tiefe kenne mit der Oberfläche zwar stets einen konkreten Ausgangspunkt, ein wirkliches Ziel dagegen nicht. »Der Gang in die Tiefe«, so Rolf, »soll dem Denken einen neuen Stand und eine neue Bleibe sichern. Doch muß das Denken zu diesem Zweck die vertrauten Oberflächen des Gewohnten und bis dato Gewissen verlassen und zu einem neuen oder anderen Grund vorstoßen.«88 Dieser Weg von der Oberfläche weg und hinein in das unbekannte Reich der Tiefe spiele sich »[…] zu weiten Teilen in einem Zwischenreich ab«.89 »Der Denker«, so ergänzt Rolf, »stellt vertraute Denkwege und normale Lebenspraktiken in Frage, ohne daß er sogleich festen Boden unter die Füße bekommt.«90 Das Einzige, was wir also von der Tiefe wissen – oder zu wissen glauben –, ist, dass sie nicht an der Oberfläche zu finden ist. Die Tiefe ist damit nicht mehr als ein Verdacht – ein Verdacht, der von der Oberfläche erzeugt wird: »Die in die Tiefe drängende theoretische Neugierde kann nicht bei Nichts beginnen, sondern muß an der Oberfläche ihren Ausgang nehmen.«91 Wenn diese Tiefe nun allerdings nicht von vornherein als ein »erkenntnismäßig positivierbares Feld«92 bestimmt werde, 84 Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 281. Auch sie geht also davon aus, dass wir Sinnzusammenhänge jenseits der Oberfläche immer nur anhand von Zeichen und Anzeichen vermuten können. Ob diese tatsächlich existieren oder nicht, bleibt ungewiss. 85 Krämer: Was also ist eine Spur?, S. 20. 86 Krämer: Immanenz und Transzendenz der Spur, S. 157. 87 Rolf: Tiefe, S. 464. 88 Ebd., S. 464. 89 Ebd., S. 464. 90 Ebd., S. 464. 91 Ebd., S. 464. 92 Ebd., S. 465.

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so werde sie – mangels eines konkreten Ziels – als »eine imaginäre Dunkelheit oder ein bodenloser Abgrund«93 erlebt.94 »Tiefsinn«, so schreibt Edmund Husserl, »ist ein Anzeichen des Chaos«.95 Und Oscar Wilde wiederum warnt: »Wer unter die Oberfläche dringt, tut dies auf eigene Gefahr.«96 Denn anders als bei räumlichen Verhältnissen, umschreibt das Adjektiv tief bei gedanklichen Bewegungen keinen Zustand, sondern zunächst einmal nur eine Vermutung oder Absicht, von der wir nicht wissen, ob diese überhaupt erfüllt wird. In Menschliches, Allzumenschliches schreibt Nietzsche dazu: »Kein Innen und Aussen in der Welt. – Wie Demokrit die Begriffe Oben und Unten auf den unendlichen Raum übertrug, wo sie keinen Sinn haben, so die Philosophen überhaupt den Begriff ›Innen und Aussen‹ auf Wesen und Erscheinung der Welt; sie meinen, mit tiefen Gefühlen komme man tief in’s Innre, nahe man sich dem Herzen der Natur. Aber diese Gefühle sind nur insofern tief, als mit ihnen, kaum bemerkbar, gewisse complicierte Gedankengruppen regelmässig erregt werden, welche wir tief nennen; ein Gefühl ist tief, weil wir den begleitenden Gedanken für tief halten. Aber der ›tiefe‹ Gedanke kann dennoch der Wahrheit sehr ferne sein, wie zum Beispiel jeder metaphysische; rechnet man vom tiefen Gefühle die beigemischten Gedankenelemente ab, so bleibt das starke Gefühl übrig und dieses verbürgt Nichts für die Erkenntniss als sich selbst, ebenso wie der starke Glaube nur seine Stärke, nicht die Wahrheit des Geglaubten beweist.«97 Auch der Germanist Burkhard Meyer-Sickendiek weist in seiner 2010 veröffentlichten Monographie Tiefe auf die Ungewissheit und Widersprüchlichkeit tiefergehender Denkbewegungen hin. Seiner Auffassung nach werden diese vor allem in dem Begriff des »Grübelns« evident. Folgt man einschlägigen Wörterbüchern, so steht »grübeln« ursprünglich in enger Beziehung zum Verb »graben« und meint so viel

93 Ebd., S. 465. 94 Selbst wenn das Ziel des in die Tiefe strebenden Denkens von Beginn an feststeht, ist dabei weder klar, ob dieses Ziel auch tatsächlich erreicht wird, noch ob dieses Ziel auch wirklich tief ist. Vgl. Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 2: »Das Fragen sucht den Grund für das Seiende, sofern es seiend ist. Den Grund suchen, das heißt: ergründen. Was in Frage gestellt wird, rückt in den Bezug zu Grund. Allein, weil gefragt wird, bleibt offen, ob der Grund ein wahrhaft gründender, Gründung erwirkender, Ur-grund ist; ob der Grund eine Gründung versagt, Ab-grund ist; ob der Grund weder das Eine noch das Andere ist, sondern nur einen vielleicht notwendigen Schein von Gründung vorgibt und so ein Un-grund ist.« 95 Husserl, Edmund: Philosophie als strenge Wissenschaft. Hg. von Wilhem Szilasi, 1965, S. 69. 96 Wilde, Oscar: Das Bildnis des Dorian Gray. 2000, S. 6. 97 Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches I. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 8, 1923, S. 30.

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wie ausgraben, in die Tiefe graben – oder auch: in der Nase bohren.98 Bereits im Althochdeutschen wird »grübeln« aber auch in einem übertragenen Sinne verwendet. Das Wort »grübeln« bezeichnet dann zunächst eine gründliche, gedankliche Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema oder Sachverhalt.99 »Grübeln« meint aber nicht bloß »forschen« oder »über etwas nachdenken«.100 Es kann auch so viel heißen wie: »mühsame aber unnütze, vergeblich Betrachtungen und Untersuchungen anstellen.«101 »Mancher«, so heißt es, »grübelt den ganzen Tag, und stiftet nicht den geringsten Nutzen damit.«102 Diese Ambivalenz des Grübelns sieht Meyer-Sieckendiek vor allem in den Werken der deutschen Romantik zum Vorschein kommen. Als Beispiel führt er dazu u.a. eine Strophe aus Clemens Brentanos Gedicht Frühlingsschrei eines Knechtes aus der Tiefe an. Darin heißt es: »Ach, wie ich auch tiefer wühle, Wie ich schöpfe, wie ich weine, Nimmer ich den Schwall erspüle Zum Kristallgrund fest und reine.«103 Der Grübelnde, so zeigt sich hier, will in den »Kristallgrund« der Tiefe vorstoßen, verstrickt sich jedoch angesichts eines fehlenden Ziels in seinen eigenen Überlegungen. Er versucht etwas zu finden, was nicht zu finden ist. »Wir«, so formuliert es Meyer-Sickendiek, »sind angezogen von der Idee, über das Grübeln in die Tiefe und auf den Grund […] zu gelangen, und wir sind abgestoßen, wenn sich diese Tiefe als reine Erstreckung in die Weite bzw. als bloße Kreisbewegung, als riesige Schleife entpuppt.«104 Der Grübelnde lässt sich davon allerdings nicht – oder zumindest nicht dauerhaft – entmutigen. Mehr noch, die Ergebnislosigkeit seiner Denkanstrengung wird für ihn zum Anreiz, weiter zu forschen und noch stärker in die Tiefe vorzudringen. Was Thomas Rolf und Burkhard Meyer-Sickendiek nun wahlweise als »Sogkraft«105 der Tiefe oder »Faszinosum des Grübelns«106 bezeichnen, ist letztlich jedoch nichts anderes als der verführerische Reiz des Verdachts, den die Oberflä98 Vgl. Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Bd. 2, 1970. S. 822. 99 Vgl. Trübners Deutsches Wörterbuch. Bd. 3, S. 248. 100 Vgl. ebd., S. 248. 101 Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Bd. 2, S. 822. 102 Ebd., S. 822. 103 Brentano, Clemens: Frühlingsschrei eines Knechtes aus der Tiefe. In: Hahn, Karl-Heinz (Hg.): Brentanos Werke in einem Band. 1991, S. 59-60. 104 Meyer-Sickendiek: Tiefe, S. 19. 105 Rolf: Tiefe, S. 464. 106 Meyer-Sickendiek: Tiefe, S. 19.

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che beharrlich auf uns ausübt. In ihrer medialen Ambivalenz zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz macht die Oberfläche bekanntlich einen verdächtigen Eindruck auf uns und lässt uns einen submedialen Raum hinter ihrer Erscheinung vermuten. Um diesen erfahren zu können, suchen wir die Faktizität der Oberfläche wiederholt zu durchschauen und stoßen dabei in jenes »Zwischenreich« zwischen vertrauter Oberfläche und unbekannter Tiefe vor. Der amerikanische Philosoph und Religionswissenschaftler Mark C. Taylor beschreibt diesen erkenntnisversprechenden Wahrnehmungs- und Deutungsprozess zwischen unmittelbarem Drauf- und metaphorischen Durchblick folgendermaßen: »True knowledge, it seems, is never superficial or insubstantial but appears when surface gives way to depth. The search of knowledge always involves something like a game of hide-and-seek in which every investigator is a private eye and every investigation becomes a detective story. […] The drama of investigation is set in motion by tensions between surface/depth, outer/inner, appearance/reality, pretext/text and so forth.«107 Und tatsächlich, so arbeitet Groys heraus, meinen wir in der intensiven Beschäftigung mit Oberflächen bisweilen tatsächlich einen kurzen Einblick in die verborgenen Bereiche jenseits der Oberfläche zu gewinnen. »In diesem Fall«, so schreibt er, »entsteht beim Betrachter der Eindruck, dass er endlich einen Einblick ins Innere […] gewonnen – und eine Bestätigung seiner Vermutungen […] gefunden hat.« Groys bezeichnet diese vermeintlichen Einblicke auch als »Momente der Aufrichtigkeit«.108 »Immer«, so schreibt er, »[…] wird gerade durch diesen kritischen, durchschauenden Blick eine tiefere Ebene hinter der Oberfläche […] entdeckt, auf der dieser Blick vorläufig ruhen kann – und schon stellt sich der Effekt der medialen Aufrichtigkeit ein.«109 Die Effekte der medialen Aufrichtigkeit seien letzten Endes aber nur Teil der Strategie des Verdachts, um das Interesse und die Neugierde des Betrachters weiter aufrechtzuerhalten würden.110 107 Taylor, Mark C.: Hiding. 1997, S. 17. Taylor erwähnt ebenfalls das bereits beschriebene Ideal des vollständig durchschauenden Blicks, wenn er schreibt: »For knowledge to be possible, the world must be a ›city of glass‹ in which appearances are transparent.« (Taylor: Hiding, S. 17) Und auch Luc Boltanski spielt bei seiner Beschreibung des Verdachts auf die Idee des transparenten Durchblicks an: »Das Rätsel ist das Indiz für das Verbrechen, weil es sich ihm gegenüber wie die Ursache gegenüber der Wirkung verhält. Denn in einer wohlgeordneten Realität sollte nichts Rätselhaftes geschehen, wenn kein Verbrechen vorliegt. Daraus kann man einerseits ableiten, dass eine absolut unschuldige Welt in sich stimmig wäre und nichts Rätselhaftes hätte. Die Realität wäre darin durchsichtig wie klares Wasser.« (Boltanski: Rätsel und Komplotte, S. 69) 108 Groys: Unter Verdacht, S. 111. 109 Ebd., S. 111. 110 Vgl. ebd., S. 106-107: »Jeder Ausnahmefall steht nämlich seinerseits unter dem medienontologischen Verdacht, bloß ein Zeichen unter anderen Zeichen, ein Fall unter anderen Fällen auf der medialen Oberfläche zu sein und keinen direkten Einblick in die innere Beschaffenheit

6 Der Blick des Verdachts

»Damit«, so Groys weiter, »spielen diese Momente der Aufrichtigkeit die Rolle vorläufiger Enthüllungen, die – wie in einem Krimi – ständig erneut dargeboten werden, um den suspense durch das Versprechen der endgültigen Enthüllung aufrechtzuerhalten.«111 Diese endgültige Enthüllung wird es – wie gesagt – aber nicht geben, da die verborgene Tiefe, die der Betrachter unter der Oberfläche zu finden hofft, nur ein Verdacht ist, der von der »Undurchschaubarkeit« der Oberfläche erzeugt wird. Der Betrachter mag sich deshalb noch so sehr bemühen, die Materialität der Oberfläche zu durchschauen – am Ende wird sein Blick doch immer wieder auf einer Oberfläche landen.112 Dass dieser Prozess aber trotz allem als »tiefgründig« bezeichnet werden kann, darauf weist auch Mark Taylor hin, wenn er schreibt: »If depth is nothing but another surface, nothing is profound […] This does not mean that everything is simply superficial; to the contrary, in the absence of depth, everything becomes endlessly complex.«113 Entsprechend richtet sich auch die Erkenntnistiefe unseres Denkens nicht nach der kulturkritischen Emphase und dem bildungsbürgerlichen Snobismus, mit welchem wir die Erscheinungen der Oberfläche abqualifizieren. »So ist es möglich«, schreibt Nietzsche, »dass Einer gerade mit seinem Pathos von Ernsthaftigkeit verräth, wie oberflächlich und genügsam sein Geist bisher im Reiche der Erkenntniss gespielt hat«.114 Die Tiefe unseres Denkens richtet sich vielmehr nach der Aufmerksamkeit und Neugierde, mit welcher wir uns den Erscheinungen der Oberfläche zuwenden und über das Gesehene nachdenken. Denn, so formuliert es der englische Schriftsteller Edward Bulwer-Lytton: »Dem tiefen Betrachter erscheint nichts oberflächlich!«115

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des submedialen Raums zu gewähren. Dieser Verdacht lässt sich, wie gesagt, auch niemals widerlegen.« Ebd., S. 111. Vgl. Calvino: Herr Palomar, S. 7-13: In diesem Sinne lässt sich auch das Kapitel »Versuch, eine Welle zu lesen« in Herr Palomar als eine Allegorie auf das Lesen selbst begreifen. Herr Palomar versucht darin eine einzelne Welle in den Blick zu bekommen, was ihm aufgrund der Wellenbewegung und dem ständigen Hin und Her des Meeres jedoch misslingt: »Jetzt, in diesem Durcheinander verschieden gerichteter Wellenkämme, erscheint das Gesamtbild zerstückelt in lauter Einzelbilder, die auftauchen und verschwinden. […] Nur wenn es ihm gelingt, alle Aspekte gleichermaßen im Blick zu behalten, kann er die zweite Phase seiner Operation in Angriff nehmen: die Ausweitung dieser Erkenntnis auf das ganze Universum. Es würde genügen, nicht die Geduld zu verlieren, was aber bald geschieht. Herr Palomar geht weiter den Strand entlang, nervös wie zuvor und noch ungewisser in allem.« (ebd., S. 12-13) Taylor: Hiding, S. 18. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, S. 118. Bulwer-Lytton, Edward: Die Dandy-Maximen Pelhams. In: Grundmann, Melanie (Hg.): Der Dandy. Wie er wurde, was er war. Eine Anthologie. 2007, S. 21.

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7 Zur ästhetischen Wahrnehmung der Oberfläche

Unsere Wahrnehmung der Oberfläche, so wurde deutlich, bewegt sich kontinuierlich zwischen den Bereichen diesseits und jenseits der Oberfläche hin und her. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, kann dieser Prozess in ästhetischen Wahrnehmungssituationen aber auch verlangsamt und bewusst nachvollzogen werden. In ästhetischen Wahrnehmungskontexten lassen wir uns gezielt auf das augenblickhafte Erscheinen der Oberfläche ein und achten auf Bezüge, die angesichts der Schnelligkeit unserer gewohnten Wahrnehmung bisweilen untergehen. Aufgabe dieses Kapitels soll es nun sein, die Grundzüge der ästhetischen Wahrnehmung zu beschreiben und deren Besonderheiten herauszuarbeiten. Als Grundlage dienen dazu vor allem die Überlegungen Martin Seels aus seiner 2003 veröffentlichten Monographie Ästhetik des Erscheinens. Seel bestimmt die ästhetische Wahrnehmung darin als eine spezielle Form der sinnlichen Wahrnehmung, die für die Augenblickhaftigkeit und Potentialität von Erscheinungen besonders empfänglich ist. In Kapitel 7.1 wird so zunächst einmal zu erläutern sein, inwieweit die ästhetische Wahrnehmung eine besondere Akzentuierung des sinnlichen Empfindens darstellt und welches ihre wesentlichsten Eigenschaften sind. Im Anschluss daran soll in Kapitel 7.2 wiederum beschrieben werden, wie wir in der ästhetischen Wahrnehmung der Oberfläche ein komplexes Zusammenspiel simultaner Erscheinungsmomente beobachten, das sich nicht oder nur schwer begrifflich fixieren lässt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die ästhetische Wahrnehmung gänzlich ohne begriffliche Fixierung auskommt. In Anlehnung an Seel soll veranschaulicht werden, dass sich die ästhetische Wahrnehmung vielmehr erst in einem Spannungsfeld von begrifflicher Eingrenzung und selbstzweckhafter Betrachtung entfaltet. In der ästhetischen Wahrnehmung der Oberfläche, so wird schließlich zu zeigen sein, werden wir uns der prinzipiellen »Unterbestimmtheit« des Wirklichen bewusst. Dass im Rahmen einer ästhetischen Wahrnehmung der Oberfläche häufig auch Akte der Imagination mit eingeschlossen sind, wird wiederum in Kapitel 7.3 zu verdeutlichen sein. Dabei soll beschrieben werden, wie wir in ästhetischen Wahrnehmungskontexten die Erscheinungen der Oberfläche mit subjektiven Vorstellungen verknüpfen und imaginativ erweitern. Ferner wird anhand der Imagination zu zeigen sein, dass sich auch die ästhetischen Wahrnehmungsvorgänge dies-

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Die Philosophie der Oberfläche

und jenseits der Oberfläche vollziehen. Wie wir durch die Art und Weise unserer Wahrnehmung das Erscheinen der Oberfläche mitbestimmen, soll dann in Kapitel 7.4 untersucht werden. An der konkreten Faktizität der Oberfläche ändert sich durch die Art unserer Wahrnehmung zwar nichts, doch kann sie für uns immerhin ein anderes Erscheinen gewinnen.

7.1

Aisthetische und ästhetische Wahrnehmung

Wie in Kapitel 5 bereits erwähnt wurde, bedeutet der griechische Begriff aisthesis (αἴσϑησις) soviel wie »Empfindung«, »Wahrnehmung« oder »Sinneseindruck«.1 Sinnliche bzw. aisthetische Wahrnehmung ist demzufolge nichts anderes als die grundsätzliche Form menschlicher Wahrnehmung.2 Wie Martin Seel in seinem Aufsatz Ästhetik und Aisthetik beschreibt, lasse sich daher nun auch die ästhetische Wahrnehmung nicht grundlegend von der aisthetischen Wahrnehmung trennen. Die ästhetische Wahrnehmung stelle lediglich eine spezielle Ausprägung unseres allgemeinen sinnlichen Empfindens dar: »Ist Aisthetik eine Lehre von dem menschlichen Wahrnehmungsvermögen überhaupt, so handelt Ästhetik von einem bestimmten Gebrauch dieses allgemeinen Vermögens.«3 Während die aisthetische Wahrnehmung Objekte in ihrer konkreten Faktizität erfasse, konzentriere sich die ästhetische Wahrnehmung wiederum mehr auf die Besonderheiten ihrer Erscheinungen.4 Als Beispiel ließen sich hierfür etwa materielle Qualitäten, wie besondere Farbnuancen, oder zeitliche Phänomene, wie etwa bestimmte Lichtverhältnisse, nennen. Nach Auffassung Seels richtet sich das Interesse der ästhetischen Wahrnehmung bevorzugt »auf bestimmte, traditionell ›schön‹ genannte Objekte«,5 wie z.B. die Objekte der Kunst. Dies bedeute allerdings nicht, dass ästhetische Wahrnehmungen ausschließlich in Theatern, Museen oder Kinosälen möglich wären. Ästhetische Wahrnehmungen seien durchaus Erlebnisse unseres Alltags und könnten ebenso gut an Gebrauchsgegenständen oder Objek1 Vgl. Menge/Güthling: Langenscheidts Großwörterbuch der griechischen und deutschen Sprache, S. 23. 2 Vgl. Seel, Martin: Ästhetik und Aisthetik. In: Recki, Birgit; Wiesing, Lambert (Hg.): Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik. 1997, S. 17. 3 Ebd., S. 17. 4 Vgl. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. 2003, S. 96: »Nichtästhetische und ästhetische Wahrnehmung unterscheiden sich durch eine andersartige Fokussierung. Während die eine auf das gerichtet ist, was an ihren Objekten der Fall ist, achtet die andere auf die Simultaneität und Momentaneität ihrer phänomenalen Zustände.« 5 Seel: Ästhetik und Aisthetik, S. 17.

7 Zur ästhetischen Wahrnehmung der Oberfläche

ten der Natur vollzogen werden.6 Entscheidend sei lediglich, dass wir die betreffenden Gegenstände mit einem Bewusstsein betrachteten, das für die Besonderheiten ihrer Erscheinungen empfänglich sei.7 Was die ästhetische Wahrnehmung auszeichne, sei ein besonderes Gespür für die, wie Seel schreibt, »Unwiederholbarkeit, Potentialität und Augenblicklichkeit«8 von Erscheinungssituationen. In der ästhetischen Wahrnehmung würden wir verstärkt auf die phänomenale Vielfalt von Objekten achten und häufig über konkrete, sachbezogene Beobachtungen hinausgehen.9 Die ästhetische Wahrnehmung verfolge kein besonderes Ziel oder eine bestimmte Absicht sondern sei weitgehend zweckfrei.10 »Denn«, wie Seel betont, »die Betrachtung des Spiels der Erscheinungen an einem Gegenstand kommt nur zustande, wenn wir in seiner Gegenwart verweilen und ihm in selbstzweckhafter Aufmerksamkeit begegnen.«11 In der ästhetischen Wahrnehmung konzentrieren wir uns also weniger auf einzelne Objektmerkmale, die für unser Erkennen und Handeln relevant sind, sondern vielmehr auf das komplexe Zusammenspiel von unterschiedlichen Erscheinungsqualitäten. »Ästhetische Wahrnehmung«, so Seel, »nimmt sich Zeit für den Augenblick – für das Erscheinen des jeweils Erscheinenden.«12 Hierbei darf (wie gesagt) jedoch nicht vergessen werden, dass sich die ästhetische Wahrnehmung nicht grundsätzlich von der sinnlichen Wahrnehmung unterscheidet, sondern nur eine besondere Akzentuierung derselben darstellt. Entsprechend sind nun auch aisthetische Wahrnehmungsakte – wie etwa der im vorangegangenen Kapitel beschriebene Vorgang des Lesens – nicht wesentlich von der ästhetischen Wahrnehmung zu trennen. In der Tat sind viele sinnliche Wahrnehmungsvollzüge, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, ästhetisch gefärbt. Was die ästhetische Wahrnehmung von der aisthetischen Wahrnehmung unterscheidet, ist lediglich ein anders gelagertes Interesse: In ästhetischen Wahrnehmungssituationen ist unser Blick auf die Oberfläche weniger vollzugsorientiert, sondern 6 Vgl. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 44: »Ästhetische Wahrnehmung ist eine weitverbreitete Form des menschlichen Verhaltens. Wir vollziehen sie im alltäglichen wie im außeralltäglichen Leben, häufig ohne dass dies weiter auffällig wäre.« 7 Vgl. ebd., S. 56. 8 Ebd., S. 166. 9 Vgl. ebd., S. 38: »Etwas um seines Erscheinens willen in seinem Erscheinen zu vernehmen – das ist Schwerpunkt aller ästhetischen Wahrnehmung. Freilich reicht diese Wahrnehmung meist weit über ein bloßes vollzugsorientiertes Vernehmen hinaus.« 10 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie (2). In: Weischedel, Wilhelm (Hg.): Werke in zwölf Bänden. Bd. 10, 1968, S. 288: Auch im Sinne Kants ist ein ästhetischer Gegenstand als ein Gegenstand »des Wohlgefallens ohne alles Interesse« zu begreifen. 11 Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 56. 12 Seel, Martin: Die Macht des Erscheinens. 2007, S. 83.

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Die Philosophie der Oberfläche

vielmehr auf den besonderen Moment und die Individualität ihres Erscheinens gerichtet. Wir nehmen Oberflächen dann in einer selbstzweckhaften Art und Weise wahr, die uns einen veränderten Zugang zu unserer Umgebung eröffnen kann.

7.2

Ästhetik als Wahrnehmung unterbestimmter Realität

Ästhetische Wahrnehmung ist eine zweckfreie Aufmerksamkeit für die Erscheinungen unserer Umgebung. Anders als z.B. in den Bereichen der Wissenschaft sind wir in ästhetischen Wahrnehmungskontexten von objektiven Erkenntniskriterien entbunden, die nach einer begrifflichen Eingrenzung des Wahrgenommenen verlangen. »In der ästhetischen Begegnung«, so fasst es Seel zusammen, »sind wir nicht auf Festlegungen festgelegt.«13 Versuchen wir dennoch einmal das ästhetisch Wahrgenommene begrifflich zu fixieren, so bemerken wir schnell, dass sich dieses nur schwer in Worte fassen lässt. Die unermessliche Anzahl an unterschiedlichen Eindrücken und Bezügen, die sich an einem Gegenstand wahrnehmen lassen, machen eine präzise, allgemeingültige Bestimmung unmöglich.14 Jede Beschreibung, mit der wir eine Erscheinung zu erfassen suchen, lässt gewisse Aspekte unberücksichtigt oder gibt diese nur ungenügend wieder.15 Ästhetische Erscheinungen entziehen sich so wiederholt unseren Bestimmungsversuchen und scheinen nahezu unbestimmbar. Wie Seel ausführt, benötigen wir in ästhetischen Wahrnehmungssituationen aber durchaus begriffliche Eingrenzungen, um Objekte überhaupt erst in der Individualität und Besonderheit ihres Erscheinens erkennen zu können. In der Diskrepanz und vermeintlichen Unvereinbarkeit von ästhetischer Wahrnehmung und begrifflicher Bestimmung erblickt er ein Spannungsverhältnis, welches uns für die Potentialität von Erscheinungen in besonderem Maße empfänglich macht. Um dies zu verdeutlichen, bezieht sich Seel zunächst auf Immanuel Kant, der in seiner 1781 erschienenen Kritik der reinen Vernunft das Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung und begrifflicher Erkenntnis grundlegend erörtert. Kant bestimmt die sinnliche Wahrnehmung darin als eine bewusste Anschauung der Welt und ihrer Objekte. »Das erste, was uns gegeben ist«, so schreibt er, 13 Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 58. 14 Vgl. ebd., S. 93: »Der ästhetische Gegenstand wird in einer Gleichzeitigkeit und einem Zusammenwirken seiner Erscheinungen wahrgenommen, die jeder Beschreibung spotten. […] Das Spiel von Erscheinungen macht eine kognitive Verfügung unmöglich – nicht allein wegen der Vielzahl von Aspekten, die an ihm unterschieden, und Interessen, die auf ihn gerichtet werden können, sondern wegen der Gleichzeitigkeit und Augenblicklichkeit von Facetten und Nuancen, in der er hier zur Beachtung kommt.« 15 Vgl. Mersch: Was sich zeigt, S. 148: »Etwas ist an der Erscheinung, was im Begriff nicht aufgeht, ein Irritierendes oder Unvermittelbares, aber auch Unmitteilbares […].«

7 Zur ästhetischen Wahrnehmung der Oberfläche

»ist Erscheinung, welche, wenn sie mit Bewusstsein verbunden ist, Wahrnehmung heißt.«16 Nach Auffassung Kants lassen sich aus der bloßen Wahrnehmung von Erscheinungen jedoch noch keine Erkenntnisse gewinnen, sondern erst durch den logischen Gebrauch unseres Verstandes. Dazu gelte es die Erscheinungen miteinander zu vergleichen, um an diesen objektivierbare Merkmale und Gesetzmäßigkeiten festzustellen.17» Sinnlichkeit«, so Kant, »gibt uns Formen (der Anschauung), der Verstand aber Regeln. Dieser ist jederzeit geschäftig, die Erscheinung in der Absicht durchzuspähen, um an ihnen irgend eine Regel aufzufinden.«18 Um Regeln und Gesetzmäßigkeiten jedoch feststellen zu können, bedürfe es allgemeingültiger Begriffe, die es erlaubten, bestimmte Erscheinungsmerkmale zu kennzeichnen und miteinander zu vergleichen.19 Ohne eine begriffliche Fixierung von Erscheinungen ist Kant zufolge also kein Erkenntnisgewinn möglich. Diese Auffassung stellt nun eine zentrale Grundlage für die moderne, empirische Wissenschaft dar. Entsprechend hat sich die empirische Forschung an Gegenständen auch stets auf objektivierbare Merkmale zu konzentrieren und darf keinerlei Rücksicht auf deren Besonderheiten nehmen. »Propositionales Erkennen«, so fasst Seel zusammen, »kann und darf keine Rücksicht auf das Besondere nehmen. Diese […] Rücksichtslosigkeit ist nichts weniger als eine notwendige Bedingung empirischen Wissens.«20 Zweckfreie, ästhetische Wahrnehmung und zweckorientierte begriffliche Erkenntnis scheinen sich demnach grundlegend zu widersprechen. Wie Seel beschreibt, schließen ästhetische Wahrnehmungsakte jedoch begriffliche Bestimmungen nicht aus, sondern sind vielmehr erst aufgrund derselben möglich. Seiner Auffassung nach können wir nämlich nur dann auf die Besonderheiten eines Gegenstandes achten, wenn dieser bereits in seiner Allgemeinheit charakterisiert wurde. Dafür benötigten wir jedoch Begriffe, die den betreffenden Gegenstand als bestimmten Gegenstand klassifizierten (z.B. als Baum, als Auto oder

16 Kant: Kritik der reinen Vernunft (1), S. 176. 17 Vgl. Kant, Immanuel: Schriften zur Metaphysik und Logik (1). In: Weischedel, Wilhelm (Hg.): Werke in zwölf Bänden. Bd. 5, 1968, S. 33: »Bei den Sinneserkenntnissen aber und den Phaenomena nennt man das, was dem logischen Gebrauch des Verstandes vorhergeht, Erscheinung, die Erkenntnis durch Überlegung aber, die daraus entspringt, daß mehrere Erscheinungen durch den Verstand verglichen werden, heißt Erfahrung. Von der Erscheinung führt demnach kein Weg zur Erfahrung als nur durch Überlegung gemäß dem logischen Gebrauch des Verstandes.« 18 Kant: Kritik der reinen Vernunft (1), S. 180. 19 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft (2), S. 620: »Jener heißt der Vernunftgebrauch nach Begriffen, indem wir nichts weiter tun können, als Erscheinungen dem realen Inhalte nach unter Begriffe zu bringen.« 20 Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 93-94.

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als Bild).21 Erst wenn ein Gegenstand begrifflich fixiert sei, könnten wir von dieser Bestimmung wiederum absehen.22 Im Sinne Seels sind ästhetische Wahrnehmungen somit nur auf Basis von verallgemeinernden Zuschreibungen möglich.23 Nur im Kontext von begrifflichen Fixierungen seien wir empfänglich für Erscheinungsmerkmale, die sich begrifflich nicht fixieren ließen.24 Ästhetische Wahrnehmungen stehen unseren Bestimmungsversuchen daher nicht entgegen, sondern beruhen vielmehr auf deren Unzulänglichkeiten.25 Für Seel ist dies nun Anlass, unsere gesamte Wirklichkeit weder als gänzlich bestimmbar noch als völlig unbestimmbar zu begreifen. Stattdessen geht er von einer generellen »Unterbestimmtheit des Wirklichen«26 aus. Denn auf der einen Seite ließe sich an Objekten durchaus eine ganze Reihe von Eigenschaften und Merkmalen begrifflich fixieren. Auf der anderen Seite käme es an Objekten aber immer wieder auch zu einem Spiel von Erscheinungen, das eben nicht erkennend festgehalten werden könne.27 Oberflächen spielen bei der Erfahrung jener Unterbestimmtheit des Wirklichen eine entscheidende Rolle. Schließlich sind sie als äußerste Objektgrenzen nicht nur ein zentraler Faktor unserer aisthetischen Wahrnehmung. Aufgrund ihrer ambivalenten Position zwischen Außen und Innen, zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz, lässt sich auf der Oberfläche ein irritierendes Wechselspiel von divergierenden Erscheinungen wahrnehmen. »Aesthetic encounters«, so schreibt Giuliana Bruno, »are actually ›mediated‹ on the surface and […] such mediated encounters engage forms of projection, transmission, and transmuta21 Vgl. ebd., S. 51: »Jedes Lebewesen, das wahrnehmen kann, besitzt die Fähigkeit einer Wahrnehmung-von etwas. Aber nur begrifflich erkennende Wesen verfügen über eine Wahrnehmungdaß, wie sie allein zusammen mit der Fähigkeit einer Wahrnehmung-als gegeben ist.« 22 Vgl. ebd., S. 51-52: »Denn nur wer etwas Bestimmtes vernehmen kann, kann von dieser Bestimmtheit, oder genauer: kann von der Fixierung auf dieses Bestimmen auch absehen.« 23 Vgl. ebd., S. 51: »Eine Voraussetzung der ästhetischen Wahrnehmung ist die Fähigkeit, etwas begrifflich Bestimmtes wahrzunehmen.« 24 Auf die Notwendigkeit von begrifflichen Bestimmungen im Rahmen ästhetischer Wahrnehmungen wies bereits Friedrich Schiller hin. Schiller bezeichnet die menschliche Wahrnehmung ohne Begriffe als ein »leeres Vermögen« bzw. eine »leere Unendlichkeit«. Erst begriffliche Eingrenzungen ließen uns die Welt als eine »erfüllte Unendlichkeit« erleben. »Wir gelangen«, so folgert Schiller schließlich, »[…] nur durch den Teil zum Ganzen, nur durch die Grenze zum Unbegrenzten; […].« (Vgl. Schiller, Friedrich: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Hg. von Albert Reble, 1960, S. 48ff.) 25 Vgl. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 47: »Ästhetisch sind Objekte, die sich in ihrem Erscheinen von ihrem begrifflich fixierbaren Aussehen, Sichanhören oder Sichanfühlen mehr oder weniger radikal abheben. 26 Ebd., S. 30. 27 Vgl. ebd., S. 93: »Wir können zwar gelegentlich alles jeweils Relevante, aber niemals alles Mögliche an ihm [dem Objekt der Wahrnehmung; C.R.] bestimmen.«

7 Zur ästhetischen Wahrnehmung der Oberfläche

tion.«28 Während man im Rahmen der empirischen Wissenschaft diese Vielzahl an mehrdeutigen und wandelbaren Formen des Erscheinens in bestimmbare und unbestimmbare Merkmale zu unterteilen versucht, schlägt die Ästhetik bekanntlich einen anderen Weg ein. Sie versucht die Erscheinungen der Oberfläche nicht gegeneinander auszuspielen, sondern nimmt deren ambivalente Verschränkung zum Anlass, sich der prinzipiellen Unterbestimmtheit des Wirklichen bewusst zu werden. Die ästhetische, selbstzweckhafte Wahrnehmung der Oberfläche ist insofern als eine Möglichkeit zu begreifen, unsere Gegenwart in gesteigertem Maße zu erleben.

7.3

Die Imagination der verlorenen Zeit

In ästhetischen Wahrnehmungskontexten entwickeln wir bisweilen einen Zugang zur Wirklichkeit, der uns bei einer aisthetischen Wahrnehmung allein wohl verborgen geblieben wäre. Wie Martin Seel beschreibt, geht unsere Aufmerksamkeit dabei häufig über die konkrete Erscheinung der Oberfläche hinaus und erstreckt sich bis in die Bereiche der Phantasie. Sinnliche Wahrnehmungen vereinigen sich dabei mit gedanklichen Vorstellungen und gehen eine Verbindung ein, die Seel als »Imagination«29 bestimmt. Im Unterschied zu reinen Vorstellungen seien die Akte der Imagination jedoch immer an die Wahrnehmung eines konkreten Objektes gebunden.30 Objekte der Imagination werden demnach sowohl in der Fülle ihrer sinnlichen Erscheinungsmerkmale wahrgenommen als auch mit den subjektiven Vorstellungen des Betrachters verknüpft. »An den Objekten, an denen es zu dieser Verbindung kommt«, so Seel, »haben wir beides: eine gesteigerte Hinwendung zur Gegenwart und ein gesteigertes Hinausgehen aus ihr, oft sogar: eine intensivierte Anschauung der momentanen und zugleich einer imaginären Gegenwart.«31 Der Theaterwissenschaftler Benjamin Wihstutz verwendet anstelle der »Imagination« auch den Begriff der »Einbildung«.32 Genau wie die Imagination bei Seel bedeutet auch die Einbildung bei Wihstutz zweierlei: einerseits das »Aufnehmen von ›äußeren‹ Bildern der Wahrnehmung […]« und anderseits das »Entstehen und Projizieren von ›inneren‹ Bildern«.33 Für welchen Begriff wir uns auch immer ent28 Bruno: Surface, S. 3. 29 Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 119. 30 Vgl. ebd., S. 123: »Objekte der […] Vorstellung hingegen sind Gegenstände, die zum Zeitpunkt ihrer Auffassung nicht anwesend sind, sondern in einem erinnernden, erwartenden oder phantasierenden Ausgriff vergegenwärtigt werden.« 31 Ebd., S. 119. 32 Wihstutz, Benjamin: Theater der Einbildung. Zur Wahrnehmung und Imagination des Zuschauers. 2007, S. 11. 33 Ebd., S. 11.

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scheiden mögen – wichtig ist in beiden Fällen die Erkenntnis, dass ästhetische Wahrnehmungen mit objektgebundenen Vorstellungen einhergehen können.34 Bestimmte Erscheinungen der Oberfläche können unser Bewusstsein mitunter dergestalt inspirieren, dass wir zu imaginativen Erweiterungen dessen verleitet werden, was tatsächlich sichtbar ist. Ästhetische Wahrnehmungen nehmen deshalb zwar an der Oberfläche der Dinge ihren Anfang, können sich durch imaginative Ausgriffe aber auch von deren Faktizität lösen. Elias Canetti veranschaulicht den Akt der Imagination in einer kurzen Episode seiner 1977 veröffentlichten Autobiographie Die gerettete Zunge. Canetti schildert darin, wie er sich als kleiner Junge in seinem Kinderzimmer die Muster und Strukturen der Tapeten als Spielkameraden, sogenannte »Tapetenleute«,35 imaginierte. Er schreibt: »Zuhause im Kinderzimmer spielte ich meist allein. Eigentlich spielte ich wenig, ich sprach zu den Tapeten. Die vielen dunklen Kreise im Tapetenmuster erschienen mir als Leute. Ich erfand Geschichten, in denen sie vorkamen, teils erzählte ich ihnen, teils spielten sie mit, ich hatte nie genug von den Tapetenleuten und konnte mich stundenlang mit ihnen unterhalten. […] Ich munterte sie auf, ich beschimpfte sie, allein hatte ich immer ein wenig Angst, und was ich selber empfand, schrieb ich ihnen zu, sie waren die Feigen. Aber sie spielten auch mit und gaben einige Sätze von sich. Ein Kreis an einer besonders auffälligen Stelle widersetzte sich mir mit eigener Beredsamkeit, und es war ein kleiner Triumph, wenn es mir gelang, ihn zu überreden. […] Nur die Gouvernante, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, mir diese ungesunden Neigungen ganz abzugewöhnen, lähmte mich, in ihrer Gegenwart verstummten die Tapeten.«36 Wie Canetti in dieser Szene schildert, nahm er im freien Spiel seiner Einbildungskräfte die Wände des Kinderzimmers nicht länger in ihrer spröden Faktizität wahr, sondern erweiterte sie um gedankliche Vorstellungen. Er identifizierte in den Oberflächenstrukturen der Tapeten einzelne Figuren, die er mittels imaginativer Erweiterungen zum Leben erweckte. Anhand seiner Beschreibungen lassen sich jedoch noch zwei weitere Merkmale der Imagination erkennen: So zeigt sich zum einen, dass auch der imaginative Blick im Wesentlichen ein die Oberfläche durchdringender Blick ist. Dies wird deutlich, wenn Canetti ausführt, wie »ein Kreis an einer besonderes auffälligen Stelle« sich »mit eigener Beredsamkeit«37 seinem Einbildungsspiel widersetzt. 34 Vgl. ebd., S. 50-51: Wihstutz erwähnt eine Reihe weiterer Begriffe, die sich mehr oder weniger auf das Vermögen der Imagination bzw. Einbildung beziehen, wie z.B. Phantasie, Eingebung, Assoziation, Inspiration oder Schöpferkraft. 35 Canetti, Elias: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. In: Ders.: Werke. Bd. 7, 1994, S. 51. 36 Ebd., S. 51. 37 Ebd., S. 51.

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Denn erst nachdem es dem kleinen Elias gelingt, den Kreis zu transzendieren – ihn also in seiner materiellen Präsenz und opaken Dinglichkeit aufzulösen –, kann er ihn dazu »überreden«,38 sich am Spiel zu beteiligen. Ferner macht Canetti in dieser Szene deutlich, dass der Akt der Imagination ein höchst subjektiver Vorgang ist, der nur selten von Außenstehenden nachvollzogen werden kann und daher meist pathologisiert wird. Entsprechend versuchte auch die Gouvernante Canettis, dessen imaginative Träumereien zu unterbinden und ihm »diese ungesunden Neigungen ganz abzugewöhnen«.39 Auf jenen vermeintlich pathologischen Zug der imaginativen Wahrnehmung weist auch Aleida Assmann hin und führt dazu eine Zeile aus Shakespeares Sommernachtstraum an: »Wahnwitzige, Poeten und Verliebte«, so heißt es darin, »Bestehn aus Einbildung.«40 Laut Assmann, erklärt Shakespeare mit dieser Sentenz die Figuren des Wahnwitzigen, des Poeten und des Verliebten zu gesellschaftlichen Außenseitern, die einen anders gearteten Blick auf die Wirklichkeit werfen: »Dem schizophrenen, ästhetischen, erotischen Blick ist die Welt neu, anders, fremd, beängstigend, faszinierend, unselbstverständlich.«41 »Indem er durch die Routine des Gewöhnlichen und die ewige Wiederkehr des Bekannten hindurchdringt«, so Assmann weiter, »wird er der Dinge auf neue Weise ansichtig.«42 Die Welt werde nicht mehr nur in ihrer gegenständlichen Faktizität erfasst, sondern um Einbildungen und Vorstellungsbilder ergänzt, die neuartige Sinnverknüpfungen eröffnen: »Dem Schizophrenen (wie dem Künstler, dem Liebenden, und man kann noch hinzufügen: dem Mystiker) wird der Gegenstand der Betrachtung prä-sent, das heißt, er wird aufdringlich und bleibt vor seinen Sinnen stehen. Solche Umperspektivierungen, die mit plötzlichen Einblicken und Durchblicken verbunden sind, haben […] eine stark affizierende Wirkung.«43 In der Bewertung Außenstehender schwanke dieser nicht-normative Wahrnehmungsvorgang meist irgendwo »zwischen den Polen des Pathologischen und des Kreativen«.44 »Der erregte Blick [des Schizophrenen, Künstlers und Liebenden,

38 Ebd., S. 51. 39 Ebd., S. 51. 40 Shakespeare, William: Ein Sommernachtstraum. In: Matter, Hans (Hg.): Shakespeares Dramatische Werke. Bd. 5, 1943, S. 57. 41 Assmann: Im Dickicht der Zeichen, S. 18. 42 Ebd., S. 18. 43 Ebd., S. 19. 44 Ebd., S. 18.

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C.R.]«, so schreibt Assmann, »projiziert Bilder in die Welt, die der kühle Verstand dort niemals erkennen würde.«45 Doch wenngleich imaginative Betrachtungsweisen von Außenstehenden nicht immer geteilt und unter Umständen sogar pathologisiert werden, bedeutet dies nicht, dass diese von anderen generell nicht nachempfunden werden können. Wie Martin Seel beschreibt, tragen imaginative Wahrnehmungsakte zwar deutlich subjektive Züge, doch seien die Objekte der Imagination – anders als die Objekte der reinen Vorstellung – durchaus intersubjektiv nachvollziehbar.46 Voraussetzung sei dafür allerdings ein, wie Seel es nennt, »imaginatives Mitgehen«47 des Anderen. Marcel Proust verdeutlicht diesen imaginativen Mitvollzug – oder besser: dessen Verweigerung – in einer kurzen Episode seines Romans Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die Romanfigur Marcel beschreibt darin die verliebten Blicke, mit denen sein Freund Robert de Saint-Loup das Gesicht seiner Geliebten Rachel betrachtet. Marcel kann die Projektionen seines Freundes jedoch nicht teilen und stellt die Unterschiede zu seinem eigenen Blick auf die Oberfläche ihres Gesichtes heraus: »Ich machte mir klar, was alles die menschliche Einbildungskraft in ein kleines Stückchen Gesicht wie das dieser Frau hineinlegen kann […]. Zweifellos sahen Robert und ich das gleiche feine, schmale Gesicht. Aber wir waren zu ihm auf den beiden entgegengesetzten Wegen gelangt, die niemals miteinander in Verbindung treten würden, und wir würden es niemals von der gleichen Seite sehen. Dieses Gesicht mit seinen Blicken, seinem Lächeln, den Bewegungen seines Mundes, dieses hatte ich von außen als das irgendeiner Frau gekannt, die für zwanzig Franc alles tun würde, was ich wollte. Daher waren mir die Blicke, das Lächeln, die Bewegungen des Mundes lediglich als bezeichnend für Handlungen allgemeiner Art, ohne alles Individuelle erschienen, und um hinter ihnen eine Persönlichkeit zu suchen, hätte mir die Neugierde gefehlt. Aber was mir gewissermaßen als Startpunkt geboten worden war, dieses willige Gesicht, das war für Robert das Ziel einer Reise gewesen, auf das er durch wer weiß viele Hoffnungen, Zweifel, Verdächtigungen, Träume zugesteuert war.«48 45 Ebd., S. 18. Vgl Shakespeare: Ein Sommernachtstraum, S. 57. So heißt es denn auch bei Shakespeare: »Verliebte und Verrückte/Sind beide von so brausendem Gehirn,/So bildungsreicher Phantasie, die wahrnimmt,/Was nie die kühlere Vernunft begreift.« 46 Vgl. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 132: »Wie imaginativ die Wahrnehmung dieser Objekte sein mag, auch ihre Vollzüge sind subjektiv. Aber das, was hier wahrgenommen wird, ist es nicht.« 47 Ebd., S. 132. 48 Proust, Marcel: Der Weg nach Guermantes. In: Ders.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 3, 2014, S. 212-213.

7 Zur ästhetischen Wahrnehmung der Oberfläche

Die Figur Marcel teilt den verliebten Blick seines Freundes Robert somit zwar nicht, kann dessen Imaginationen aber doch insofern nachvollziehen, als er sich in seinen Freund hineinversetzen und dessen Betrachtungsweise beschreiben kann. Obwohl Akte der Imagination also nicht immer von allen geteilt werden, handelt es sich hierbei nicht um eine Fähigkeit, die ausschließlich »Wahnwitzige, Poeten und Verliebte« besitzen. Im Gegenteil sind Akte der Imagination oft Bestandteil unserer alltäglichen Wahrnehmung. Auch dies beschreibt Marcel Proust. In seinem Essay Chardin und Rembrandt schildert er, wie unsere alltäglichen Wahrnehmungen bisweilen ästhetisch gefärbt sind und sich durch imaginative Betrachtungen z.B. die Bereiche von Alltag und Kunst verschränken können. So erwähnt er an einer Stelle seines Essays, wie sich uns beim Anblick eines Messers oder eines aufgeworfenen Tischtuchs durch imaginative Vergegenwärtigungen Bezüge zu den Gemälden des Künstlers Jean Siméon Chardin eröffnen können und umgekehrt: »Wenn Sie sich bei der Betrachtung eines Chardin sagen können: das ist intim, gemütlich, das ist lebendig wie eine Küche, dann werden Sie beim Gang durch eine Küche sagen: das ist bemerkenswert, das ist großartig, das ist schön wie ein Chardin.«49 Wie Proust hier verdeutlicht, können sich uns durch einen imaginativen Blick auf die Oberfläche der Dinge, Sinnbezüge eröffnen die am Objekt selbst nicht zur Erscheinung kommen. Wir können so z.B. Kunstwerke im Verhältnis zu unserer persönlichen Erfahrungswelt betrachten oder etwa an Alltagsgegenständen Ähnlichkeiten zu Kunstwerken feststellen.50 Diese imaginativen Übergänge von gegenwärtigen Wahrnehmungserlebnissen zu lediglich vorgestellten Situationen oder Objekten vollziehen wir im Alltag häufiger, etwa dann wenn wir in Tagträumereien versinken. Welche gedanklichen Verknüpfungen wir im Rahmen imaginativer Wahrnehmungen jeweils herstellen, bestimmt sich häufig anhand unserer persönlichen Erinnerungen.51 Manche Erscheinungen der Oberfläche sprechen unser Bewusstsein mitunter auf eine so spezifische Weise an, dass wir sie mit den Bildern und Erlebnissen unserer Vergangenheit verknüpfen. Seel zufolge bedeutet imaginative Wahrnehmung daher nicht zuletzt auch, »sich an ein sichtbares, hörbares, fühlbares, schmeckendes, riechendes Objekt in seinem Erscheinen zu erinnern […]«.52 Im 49 Proust, Marcel: Chardin und Rembrandt. In: Keller, Luzius (Hg.): Werke. Bd. 3, 1992, S. 92. 50 Vgl. ebd., S. 92: Proust beschreibt anhand von Chardins Gemälden u.a. auch, wie nachhaltig uns ästhetische Wahrnehmungen prägen können und wie sie uns zu imaginativen Erweiterungen animieren: »Wie die lebenden werden die toten Dinge Ihnen immer etwas Neues zu sagen haben, einen Reiz aufleuchten lassen, ein Geheimnis enthüllen; das Alltagsleben wird Sie bezaubern, wenn Sie einige Tage lang seiner Malerei wie einer Belehrung gelauscht haben; […].« 51 Vgl. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 126: »Ein wichtiges Medium der Imagination ist die Erinnerung.« 52 Ebd., S. 125.

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Die Philosophie der Oberfläche

Akt der Imagination schweifen wir so oft unweigerlich von der Betrachtung der Oberfläche ab und erinnern uns an Begebenheiten, die bereits weit in unserer Vergangenheit liegen. Siegfried Kracauer schildert diesen Vorgang am Beispiel der Fotografie. In seinem Essay über Die Photographie spricht er u.a. von »Gedächtnisbildern«,53 die bei der Betrachtung einer Fotografie heraufbeschworen werden. Fotografische Abbildungen sind seiner Auffassung nach also nicht nur Objekte unserer Wahrnehmung, sondern bisweilen auch Auslöser für imaginative Vergegenwärtigungen von vergangenen Erlebnissen. So erinnern wir uns beim Betrachten einer Fotografie z.B. an bestimmte Orte oder Landschaften, die Charakterzüge einzelner Personen oder an die Umstände, unter denen die jeweiligen Aufnahmen entstanden sind. »Unter der Photographie eines Menschen«, so schreibt Kracauer, »ist seine Geschichte wie unter einer Schneedecke begraben.«54 Diese Fotografie zu betrachten, hieße laut Kracauer also nicht bloß, die darauf abgebildete Person wahrzunehmen, sondern zugleich ihre Geschichte und ihr Wesen gedanklich heraufzubeschwören. Erst ein imaginativer Blick auf und durch die Oberfläche der Fotografie, kann jene Schneedecke, von der Kracauer spricht, zum Schmelzen bringen und die darunter befindlichen Erinnerungen freilegen.55 Die Fotografie ist für uns dann nicht mehr nur ein Objekt der Betrachtung, sondern auch ein Objekt von persönlicher Bedeutung. Grundsätzlich ist jede Oberfläche für eine imaginative Erweiterung ihrer Erscheinungen offen. Entscheidend ist dafür lediglich, dass wir im Zuge ihrer Betrachtung zu gedanklichen Vorstellungen verleitet werden. Die Erscheinungen der Oberfläche müssen uns also auf eine Art und Weise ansprechen, damit wir sie mit Sachverhalten verknüpfen, die außerhalb unserer unmittelbaren Wahrnehmung liegen. An dem konkreten Aussehen der Oberfläche ändert sich dadurch nichts, doch kann die Oberfläche durch die Art unserer Wahrnehmung ein anderes Erscheinen annehmen.

53 Vgl. Kracauer, Siegfried: Die Photographie. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. 1963, S. 25: »Sie [die Gedächtnisbilder] organisieren sich also nach einem Prinzip, das sich von dem der Photographie seinem Wesen nach unterscheidet. Die Photographie erfasst das Gegebene als ein räumliches (oder zeitliches) Kontinuum, die Gedächtnisbilder bewahren es, insofern es etwas meint.« 54 Ebd., S. 26. 55 Vgl. Gombrich: Kunst und Illusion, S. 168-169. Gombrich zufolge müssen wir so etwa bei der Wahrnehmung impressionistischer Gemälde unsere »Erinnerungsbilder« aktivieren, um die dargestellten Szenen wirklich erfahren zu können: »Der Betrachter muß ohne jede Hilfe vom Strukturellen her seine Erinnerungsbilder mobilisieren und sie in das Mosaik von farbigen Strichen und Punkten auf der Leinwand hineinprojizieren.«

7 Zur ästhetischen Wahrnehmung der Oberfläche

7.4

Zwischen Faktizität und Fiktion. Über die Wahrnehmung von Erscheinungsdimensionen

Oberflächen bieten uns stets eine Vielzahl an Wahrnehmungsmöglichkeiten. Wir können Oberflächen so z.B. allein in ihrer Materialität wahrnehmen oder diese zugleich imaginativ überschreiten, sie als Phänomene einer unterbestimmten Realität begreifen oder sie etwa im Hinblick auf objektivierbare Eigenschaften betrachten. Für welche Art der Wahrnehmung wir uns auch immer entscheiden mögen, an der konkreten Faktizität der Oberfläche ändert sich dadurch nichts. Wie Seel beschreibt, können die Erscheinungen der Oberfläche durch die Art unserer Wahrnehmung aber immerhin eine andere Dimension bekommen. Seel unterscheidet zwischen drei Dimensionen des Erscheinens: das bloße Erscheinen, das atmosphärische Erscheinen und das artistische Erscheinen.56 Seiner Auffassung nach vollziehen sich diese Erscheinungsdimensionen jedoch nicht getrennt voneinander, sondern können sich durchaus überschneiden und abwechseln. Als bloßes Erscheinen bestimmt er zunächst das »sinnliche Gegenwärtigsein«57 eines Objektes. Der Betrachter nehme die Erscheinungen der Oberfläche dabei ausschließlich in ihrer materiellen Präsenz wahr und blende sämtliche Sinnpotentiale radikal aus. Dies sei allerdings keine gewöhnliche, sondern eine überaus spezielle Form der menschlichen Wahrnehmung.58 In der Regel, so wurde bereits erwähnt, nehmen wir Oberflächen sowohl in ihrem sinnlichen als auch in ihrem sinnhaften Erscheinen wahr. Betrachten wir Oberflächen nun aber in ihrem bloßen Erscheinen, so konzentrieren wir uns allein auf ihre materielle Eigensinnlichkeit. Unser Blick wird dann zu einem starrenden Blick, der sich von der Faktizität der Oberfläche nicht lösen mag und kontemplativ verharrt. »Die ästhetische Kontemplation«, so schreibt Seel, »verweilt bei den Phänomenen – ohne Imagination und ohne Reflexion. Sie geht in keiner Weise über die Gegenwart hinaus«.59 Anders verhält es sich dagegen in den Momenten eines atmosphärischen Erscheinens. Für Seel handelt es sich dabei maßgeblich um ein »artikuliertes Erscheinen«.60 Es kommt dann zustande, wenn wir die Erscheinungen der Oberfläche als Ausdruck von etwas begreifen. Als Beispiel nennt er hierfür etwa die Erscheinungen der Kleidung, die uns einen bestimmten Eindruck von einem Menschen vermitteln.61 In der Wahrnehmung eines atmosphärischen Erscheinens geht es also darum, Sinnzusammenhänge zu erkennen und herzustellen. Nach der Auffassung Seels spielt Wissen dabei eine ganz entscheidende Rolle. Schließlich lassen sich 56 Vgl. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 148-149. 57 Ebd., S. 148. 58 Vgl. ebd., S. 150. 59 Ebd., S. 150. 60 Ebd., S. 152. 61 Vgl. ebd., S. 152.

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Die Philosophie der Oberfläche

gewisse Sinnzusammenhänge nicht nachvollziehen, wenn das nötige Wissen um deren Hintergründe fehlt. Viele Gegenstände eines atmosphärischen Erscheinens erschließen sich uns erst, wenn wir deren historische oder biografische Zusammenhänge kennen.62 Objekte eines atmosphärischen Erscheinens spiegeln somit nicht nur bestimmte Geschmacksvorstellungen oder Denkweisen wider, sondern aktivieren zugleich »ein Wissen um kulturelle Bezüge, in denen ihre Wahrnehmung steht«.63 Akte der Imagination sind dabei häufig miteingeschlossen.64 So verknüpfen wir atmosphärische Erscheinungen bisweilen mit persönlichen Erinnerungen oder stellen Bezüge zu fernliegenden Sachverhalten her. Atmosphärische Erscheinungen zeigen hierbei eine gewisse Nähe zu den Objekten eines artistischen Erscheinens. Nach Auffassung Seels entfaltet sich das artistische Erscheinen einer Oberfläche »grundsätzlich im Kontext einer interpretativen, imaginativen und manchmal reflexiven Erschließung«.65 Objekte eines artistischen Erscheinens verlangen geradezu nach einer umfangreichen und tiefgreifenden Wahrnehmung. Sie sind explizit auf einen interpretativen Mitvollzug ihrer Betrachter angelegt. Laut Seel zählen daher vor allem Kunstwerke zu den Objekten eines artistischen Erscheinens.66 Kunstwerke müssten von ihren Betrachtern interpretiert und »in ihrem performativen Kalkül verstanden«67 werden. Entsprechendes Hintergrundwissen sowie die Bereitschaft zu imaginativer und reflexiver Wahrnehmung seien hierfür zentral.68 Die Möglichkeiten, sich den Erscheinungen von Kunstwerken anzunähern, seien jedoch zahlreich. Gerade Objekte der Kunst dürften nicht allein in ihrem artistischen Erscheinen, sondern ebenso in ihrem bloßen wie atmosphärischen Erscheinen wahrgenommen werden.69 Der Übergang von einer Erscheinungsdimension zur anderen, so wurde bereits erläutert, ist fließend und geschieht häufig, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Die Möglichkeiten der ästhetischen Wahrnehmung vollziehen sich nicht getrennt voneinander, sondern stehen in Erscheinungssituationen mehr oder weniger stark im Vordergrund. Sie können ineinander übergehen, miteinander koexistieren oder zueinander in Spannung stehen. In jedem Fall ist die Oberfläche nicht nur für eine bestimmte Wahrnehmungsweise offen, sondern ruft stets unterschiedliche, mitunter sogar widersprüchliche Formen der Wahrnehmung hervor. 62 63 64 65 66

Vgl. ebd., S. 154. Ebd., S. 154. Vgl. ebd., S. 154. Ebd., S. 158. Vgl. ebd., S. 158: »Diejenigen Gegenstände […] denen wir den Status von Kunstwerken zuweisen, sind von vornherein interpretierte und auf Interpretation angelegte Objekte.« 67 Ebd., S. 158. 68 Vgl. ebd., S. 159. 69 Vgl. ebd., S. 169-170.

7 Zur ästhetischen Wahrnehmung der Oberfläche

Giuliana Bruno umschreibt die Oberfläche daher auch als einen Ort dynamischer Projektionen: »This means that the surface holds what we project into. It is an active site of exchange between subject and object. […] It is a plane that makes possible forms of connectivity, relatedness, and exchange. Such surface, far from being superficial, is a sizable entity: it is a space of real dimension and deep transformation. Conceived as such a space of relations, the surface can contain even our most intimate projections.«70 Doch auf welche Weise auch immer wir die Oberfläche wahrnehmen, ob in ihrem bloßen, atmosphärischen oder artistischen Erscheinen, an ihrer materiellen Präsenz ändert sich dadurch nichts. »Vielmehr«, so verdeutlicht Seel, »entdeckt jede Begegnungsweise andere Qualitäten und andere Prozesse an ihrem Gegenstand.«71

70 Bruno: Surface, S. 8. 71 Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 190.

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Wie sich uns Oberflächen darstellen

Oberflächen können sich uns bekanntlich auf verschiedenerlei Weise darstellen. So können uns Oberflächen z.B. als undurchlässige Grenzen begegnen, die heterogene Bereiche voneinander abschirmen, dann wieder als semipermeable Membranen zwischen Innen und Außen oder als vermittelnde Medien zwischen Subjekt und Objekt sowie Sinn und Sinnlichkeit. Eine der zahlreichen Darstellungsformen der Oberfläche, die für diese Untersuchung jedoch besonders zentral ist, ist die der Hülle. Wie zu zeigen sein wird, versinnbildlicht gerade die Bestimmung der Oberfläche als einer Hülle besonders nachdrücklich, deren ambivalente Position zwischen Innen und Außen. Darüber hinaus lässt sich anhand der Hülle noch einmal das Zustandekommen eben jenes Verdachts verdeutlichen, demzufolge Oberflächen Bedeutsames verbergen und unseren Sinnen vorenthalten. Dieser Teil des Buches geht also von dem ebenso banalen wie naheliegenden Gedanken aus, dass alles was ein Außen – sprich: eine Oberfläche – hat, in Beziehung zu einem Innen steht und damit der Dialektik von Hülle und Verhülltem folgt. Jede Oberfläche, so die Idee, stellt sich uns als eine Hülle dar, die etwas nach außen hin umschließt und damit unserer unmittelbaren Wahrnehmung entzieht. Oder, wie es Nietzsche formuliert: »[…] jede Oberfläche ist ein Mantel«.1 Etymologisch geht der Begriff »Hülle« auf den althochdeutschen Ausdruck hulla zurück, der soviel wie »Obergewand« bedeutet.2 Hulla ist aber auch das Verbalabstraktum zu hehlen, das sich wiederum mit »verbergen« übersetzen lässt.3 Folgt man dem Grimmschen Wörterbuch, so kann »Hülle« allgemein als »ein den körper schützendes stück zeug, als theil der kleidung oder als decke«4 verstanden werden. Die »Hülle« als körperumschließendes Gewebe steht damit grundsätzlich in enger Beziehung zu anderen textilen Phänomenen. So kann »Hülle« mal einen Umhang, ein Gewand, ein Kleid oder eine Tracht bezeichnen, mal im Sinne einer Decke, eines Vorhangs oder eines Überwurfs verwendet werden oder etwa eine Kopfbedeckung in der Art eines Schleiers5 oder Kopftuchs meinen.6 In all ihren unterschiedlichen Verwendungsformen begegnet uns die »Hülle« als ein textiles Objekt, das einen Körper nach außen hin ver-deckt bzw. verhüllt. Die Bestimmung der Hülle als einer materiellen »Außenseite«7 – respektive Oberfläche – ist sogar in den wenigen 1 Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 15, 1925, S. 179, Nr. 230. 2 Vgl. Kluge, Friedrich; Seebold, Elmar (Hg.): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 2011, S. 429. 3 Vgl. ebd., S. 429. 4 Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 4, S. 1896. 5 Vgl. Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 9, S. 577: »der schleier umgibt das haupt und verhüllt das gesicht«. 6 Vgl. Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 4, S. 1896. Das Grimmsche Wörterbuch führt als Beispiele für Hüllen u.a. den »mantel«, den »nonnenschleier«, das »frauenkopftuch«, die »haarhaube«, die »kirchentracht«, die »mütze«, oder das »deckbett« und »oberbett« an. 7 Trübners Deutsches Wörterbuch. Bd. 3, S. 489.

Verwendungsformen maßgebend, in denen die Hülle nicht als textiles Gewebe oder Stoff verstanden wird. In der Anatomie etwa stand der Ausdruck »Hülle« für »die sackförmige umkleidung eines innern körpertheils«8 , während er in der Botanik wiederum »eine art umschlag« bezeichnete, »welcher eine oder mehrere blumen umgibt«,9 bzw. allgemein als eine »äuszere hülle«10 verstanden wird, die einen inneren Kern umschließt (wie z.B. die »Hülse«). Wie der Begriff »Oberfläche«, so kann auch der Begriff »Hülle« nicht nur in einem materiell-räumlichen Sinne, sondern zugleich in einem poetischübertragenen Sinne verwendet werden. Man umschreibt die Hülle dann z.B. als »Schleier der Nacht«, der alles in Dunkelheit hüllt, oder spricht von der »grünen Hülle« der Natur, die unsere Erde umgibt.11 Besonders häufig wird der Begriffe »Hülle« jedoch als eine Metapher verwendet, um Grenzen der Erkenntnis zu versinnbildlichen.12 Die Hülle wird dabei meistens als eine opake, undurchdringliche, nicht selten sogar trügerische Begrenzung gefasst, die eine tieferliegende Wahrheit verbirgt. Greifbar wird dies vor allem anhand des Schleiers.13 So verhüllt z.B. der »Schleier der Wahrheit« die nackte Wahrheit von außen und verhindert damit jegliche Form der (erkenntnistheoretischen) Ein-sicht. Dies kann aber auch für Personen gelten, die über ein bestimmtes Wissen verfügen und sich »in Schweigen hüllen«. Neben dem Schleier können aber auch viele andere textile Erzeugnisse zur Verhüllung von Wahrheiten dienen: So werden Informationen und Geheimnisse wahlweise »be-mäntelt«, »ver-deckt« oder einfach »unter den Teppich gekehrt«. Erkenntnisverbergende Hüllen spielen oftmals aber auch in religiösen Kontexten eine wichtige Rolle, wo sie als Grenzen zwischen Menschlichem und Göttlichem, zwischen Profanem und Sakralem unmittelbare Gotteserkenntnis verhindern. Im Hinduismus versucht so z.B. die Göttin Maya mithilfe diverser Tricks und Kniffe, Einblicke in ihr göttliches Wesen abzuwehren, die Arthur Schoppenhauer dann allesamt als »Schleier der Maja«14 zusammenfasst.15 Gleichzeitig bedient sich aber auch der Gott der christlich-jüdischen Mythologie wiederholt verschiedener Hüllen, um vor den Menschen verborgen erscheinen zu können.16 In vielen Fällen, in denen essentielle Wahrheiten von Hüllen verdeckt und dadurch den Menschen entzogen werden, ist die Hülle negativ besetzt. Eine eindeutig 8 Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 4, S. 1898. 9 Ebd., S. 1898. 10 Ebd., S. 1898. 11 Vgl. ebd., S. 1897. 12 Vgl. ebd., S. 1899. 13 Vgl. Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 9, S. 582. 14 Vgl. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung (1). In Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1, 1961, S. 481ff. 15 Vgl. Zimmer, Heinrich Robert: Mythen und Symbole in indischer Kunst und Kultur. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 1, 1951, S. 29ff. 16 Siehe dazu Kap. 8.2.

positive Konnotation besitzt die Hülle jedoch, wenn es um Fragen der Unvoreingenommenheit und Überparteilichkeit geht. So spricht z.B. der Philosoph John Rawls in seiner Gerechtigkeitstheorie vom »Schleier des Nichtwissens«,17 der – ähnlich wie der Schleier der Justitia – gerade dadurch zu gerechten und »wahren« Entscheidungen führt, weil er den Blick auf persönliche Interessen und Vorurteile verdeckt. Wie komplex und vielschichtig das Phänomen »Hülle« jedoch tatsächlich ist, lässt sich besonders deutlich anhand der Haut bzw. anhand des Körpers aufzeigen. Denn auf der einen Seite werden Haut und Körper des Menschen als etwas wahrgenommen, das mithilfe von Kleidung verdeckt und verhüllt werden muss.18 Körper und Haut sind demnach Verhülltes. Auf der anderen Seite werden Haut und Körper aber auch ihrerseits wieder als Hüllen verstanden, die das menschliche Subjekt umschließen. Etymologisch geht der Begriff »Haut« auf das althochdeutsche Wort hût zurück.19 Das Wort hût ist urverwandt mit den lateinischen Ausdrücken cutis (»Haut«, aber auch: »Oberfläche«, »Hülle«) und scutum (»Schild«, »Schirm«) und gehört zur sanskrit-Wurzel sku, die sowohl »bedecken« als auch »verhüllen« meint.20 Mitunter wird die Haut aber auch als eine Membran beschrieben. Der Begriff »Membran« geht auf das lateinische Wort membrana zurück, das »Haut« oder »Häutchen« bedeutet.21 Während der Begriff »Haut« – im Sinne von cutis – jedoch in erster Linie zur Bezeichnung des (menschlichen) Organs Haut dient, bezeichnet der Begriff »Membran« wiederum vor allem die äußere, zarte Haut von menschlichen, tierischen oder pflanzlichen Zellkörpern. Das Phänomen »Haut« lässt sich somit insgesamt als eine bedeckende oder verbergende, äußere Hülle begreifen. Deutlich wird dies gerade in religiösen Kontexten, wo man die menschliche Haut nicht nur als eine »Körperhülle« oder als ein »Körperkleid« bezeichnet, sondern auch den Körper insgesamt als eine irdische und sterbliche Hülle bzw. als »Hülle der Seele« versteht. Folgt man der Kulturwissenschaftlerin Claudia Benthien, so vollzieht sich die Deutung der Haut als einer den Menschen umgebenden Hülle jedoch erst im 18. Jahrhundert. Bis dahin, so schildert Benthien in ihren Monographien Im Leibe wohnen und Haut, habe man die Haut noch überwiegend als eine weitgehend durchlässige Schicht verstanden, die in ständigem Austausch mit der Umwelt steht.22 Die Haut war nicht nur Sinnesorgan und Teil des menschlichen Körpers, sondern 17 Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. 1975, S. 159ff. 18 Vgl. Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 4, S. 710: »HAUTBEKLEIDUNG«. 19 Vgl. ebd., S. 701. 20 Vgl. ebd., S. 701. 21 Vgl. Georges: Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Bd. 2, S. 862. 22 Vgl. Benthien, Claudia: Im Leibe wohnen. Literarische Imagologie und historische Anthropologie der Haut. 1998, S. 88.

zugleich Teil der äußeren Umgebung. »Die Oberfläche des Körpers«, so fasst Benthien zusammen, war eine »[…] mit der Welt verwobene Schicht«.23 Ganz im Sinne dieses Körper- und Weltkonzeptes, verbirgt sich nun auch das menschliche Subjekt »nicht unter der Haut, sondern ist die Haut, welche metonymisch für das ganze Individuum inklusive seines geistig-seelischen Anteils steht«.24 Im späten 18. Jahrhundert habe sich die Vorstellung des mit der Welt verbundenen Körpers aufgrund diverser Umwälzungen, wie etwa neuen Hygienekonzepten, jedoch allmählich »zum abgeschlossenen, begrenzten Einzelkörper entwickelt […], dessen finale Grenze die Haut markiert«.25 Redewendungen wie »Ich möchte nicht in deiner Haut stecken« bauen auf diesem Körperkonzept auf. »›Haut‹«, so schreibt Claudia Benthien, »wird hier als Differenz zum Subjekt gedacht.«26 Sie wird nicht länger als eine durchlässige Schicht zwischen Subjekt und Objekt verstanden, sondern als »eine zum Teil schützende, bergende […], aber auch verbergende und täuschende Hülle«27 begriffen.28 Eine Ahnung davon vermittelt uns u.a. das Wort hŷd – die angelsächsische Übersetzung von Haut –, die zugleich die Wurzel für den englischen Ausdruck »to hide« bildet.29 Gleichzeitig kann, wie bereits erwähnt, aber auch die Haut wieder von Kleidung verdeckt und so selbst zum Gegenstand der Verhüllung werden. Hülle und Verhülltes, so wird am Beispiel der Haut deutlich, sind weniger als Gegensätze, sondern vielmehr als zwei unterschiedliche Phänomene zu begreifen, die sich wechselseitig hervorbringen. Was eben noch Hülle war, kann zum Verhüllten werden, wie auch umgekehrt sich das Verhüllte wiederum seinerseits als eine verbergende Hülle erweisen kann. Betrachten wir die verschiedenen Darstellungsformen der Hülle insgesamt, so wird deutlich, dass im Laufe dieses Buches wiederholt metaphorische Umschreibungen genannt wurden, die eine Nähe von Oberfläche und Hülle andeuten. So wurde etwa im ersten Teil die Oberfläche als eine Erscheinung im Sinne Heideggers beschrieben, die zwischen Verborgenheit und Unverborgenheit oszilliert. Dass die Oberfläche in ihrer Medialität zugleich als Schleier begriffen werden kann, wurde wiederum anhand des Medienbegriffs von Michael Mayer erläutert. Und wie u.a. Aleida Assmann gezeigt hat, wird uns diese Schleierhaftigkeit der Oberfläche vor allem im Akt des Lesens bewusst, wenn unser Blick den »Vorhang der Buch23 24 25 26 27 28

Benthien: Im Leibe wohnen, S. 88. Ebd., S. 88. Ebd., S. 88. Ebd., S. 40. Ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 47: Claudia Benthien bezeichnet die konträren Haut- bzw. Subjektkonzepte auch als »Selbst als Haut« und »Selbst als in der Haut«. 29 Vgl. Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 4, S. 701.

staben«30 emporhebt. »Surfaces«, so beschreibt es Giuliana Bruno, »[…] clothe the material of our objects«.31 Um in diesem Teil nun ausführlicher beschreiben zu können, wie sich uns Oberflächen als Hüllen darstellen, sollen zwei Arten von Hüllen präsentiert werden, die in enger Beziehung zum Menschen stehen und die sein Verhältnis zur Welt maßgeblich bestimmen. Dies sind zum einen die Hüllen der Bekleidung und zum anderen die Hüllen der Architektur.32 Dass die Hülle vorrangig als ein textiles Phänomen zu begreifen ist und insofern in enger Beziehung zur Bekleidung steht, wurde bereits geschildert. Für den Menschen ist die Kleidung eine Hülle, die seinen Körper bedeckt und nach außen hin umschließt. Sie ist seine – sprichwörtlich – »zweite Haut«. Weshalb die Bekleidung in diesem Teil des Buches Erwähnung findet, ist deshalb offensichtlich. Es soll hier aber auch die Architektur erwähnt werden, da sie eine Hülle oder Form der Verhüllung ist, die uns nach der Kleidung am nächsten ist. Nicht ohne Grund wird sie daher auch als »dritte Haut« bzw. »dritte Hülle«33 des Menschen umschrieben. Denn so wie im Begriff »Hülle« bereits die Nähe zur Bekleidung angelegt ist, besteht diese auch im Hinblick auf die Architektur. Der Begriff »Hülle« bezeichnet nämlich nicht nur ein textiles Phänomen, sondern kann auch im Sinne eines Gehäuses verwendet werden.34 Dem Grimm’schen Wörterbuch zufolge bezeichnete man etwa im Kärnter Raum »schutzgebäude für garben«35 als Hüllen. Gleichzeitig geht das Wort »Haus« wiederum auf den althochdeutschen Begriff hûs zurück, der in enger Verwandtschaft zu hût (»Haut«) steht und ebenfalls in dem sanskrit-Ausdruck sku (»bedecken«, »verhüllen«) wurzelt.36 »[…] hiernach«, so lässt sich dem Grimmschen Wörterbuch entnehmen, »hat ›haus‹ den allgemeinsten sinn eines mittels zum bergen, eines unterschlupfs, einen sinn den wir auch an dem gleicher wurzel entstammenden ›hü-tte‹ hervortreten sehen«.37 Neben dieser Analogie von »Haus« 30 Assmann: Im Dickicht der Zeichen, S. 218. 31 Bruno: Surface, S. 3. 32 Vgl. Bruno: Surface, S. 4: Auch wenn Giuliana Bruno den Zusammenhang von Oberfläche, Hülle, Bekleidung und Architektur nicht explizit betont, so deutet sie die verhüllende bzw. bekleidende Funktion der Oberfläche doch immer wieder an. So schreibt sie etwa: »Surface condition has emerged as a textural form of fashioning […]. Such wearing of surface is an important phenomenon that art and architecture also share with cinema.« 33 Vgl. Gliemann, Katrin: Vom Reiz des Zeigens und Verbergens in städtischen Räumen. In: Meyer, Anne-Rose; Sielka, Sabine (Hg.): Verschleierungstaktiken. Strategien von eingeschränkter Sichtbarkeit, Tarnung und Täuschung in Natur und Kultur. 2011, S. 37. 34 Vgl. Pfeiffer, Wolfgang: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 2005, S. 411. 35 Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 4, S. 1898. 36 Vgl. ebd., S. 640. 37 Ebd., S. 640-641. Wie die Haut im übertragenen Sinne als eine Hülle für den menschlichen Körper beschrieben wird, so wird wiederum der Körper bisweilen als Haus oder Wohnung für die menschliche Seele bezeichnet. Freuds Feststellung, »[…] daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus« (Freud, Sigmund: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In: Freud, Anna [Hg.]:

und »Haut« lassen sich – wie wir noch sehen werden – im Bereich der Architektur zahlreiche Begriffe und architekturtheoretische Konzepte ausmachen, die wiederum eine Verwandtschaft zu textilen Phänomen andeuten. Architektonische Termini wie Zimmerdecke, Wandbedeckung oder Gebäudeverkleidung sowie metaphorische Umschreibungen wie »Curtain-Wall« seien hier als Beispiele erwähnt. Im Zuge der Auseinandersetzung mit den Hüllen von Kleidung und Architektur sollen jeweils drei Eigenschaften oder Parameter der Hülle im Zentrum stehen: So soll zum einen untersucht werden, wie Hüllen Körper und Objekte nach außen hin abschirmen und dadurch Schutz gewähren. Der Begriff »Schutzhülle« deutet dies bereits an. In ihrem 2011 veröffentlichten Aufsatz Sicht – Schutz – Sichtschutz weisen Katrin Gliemann, Marita Bombek und Anne-Rose Meyer ebenfalls auf den schützenden Aspekt der Hülle hin und schreiben: »Wir bedürfen als Menschen der Kleidung und der Behausung, um unser Überleben zu sichern. Als ›Mängelwesen‹ im Sinn Arnold Gehlens […] verfügen wir weder über natürlich gegebene Angriffswaffen wie Klauen, Krallen, ein gefährliches Gebiss noch über Schutzmittel wie Panzer oder Fell. Doch kann sich der Mensch durch kulturelle Techniken flexibler als alle anderen höher entwickelte Lebewesen auch an widrige Umweltbedingungen anpassen, kann Schwachstellen ausgleichen und Gefahren abwehren: Das Haus – die Höhle, das Zelt, das Appartement usw. – und Bekleidung dienen als schützende ›Hüllen‹.«38 Hüllen bieten in ihrer Stofflichkeit jedoch nicht nur Schutz, sondern lenken immer wieder auch – ob gewollt oder nicht – die Aufmerksamkeit auf den Gegenstand der Verhüllung. Hüllen, so die zweite These, können als inszenatorische Mittel verwendet werden, die über die Bewegung des Ver- und Enthüllens Interesse und Spannung erzeugen. In enger Verbindung mit dieser Verwendungsform der Hülle steht wiederum – drittens – ihr Gebrauch als Schmuck. Hüllen, so wird zu zeigen

Gesammelte Werke. Bd. 12, 1966, S. 11), kann hierfür als Beispiel dienen. Wie eng u.a. in der christlichen Mythologie der Zusammenhang zwischen dem architektonischen Haus, dem Körper als dem »Haus der Seele«, dem Himmel als dem »Haus des Herren« sowie der verhüllenden Bekleidung und der enthüllten Nacktheit ist, wird deutlich in 2 Kor 5, 1-5: »Denn wir wissen, dass, wenn unser irdisches Zelthaus zerstört wird, wir einen Bau von Gott haben, ein nicht mit Händen gemachtes, ewiges Haus in den Himmeln. Denn in diesem freilich seufzen wir und sehnen uns danach, mit unserer Behausung aus dem Himmel überkleidet zu werden, insofern wir ja bekleidet, nicht nackt befunden werden. Denn wir freilich, die in dem Zelt sind, seufzen beschwert, weil wir nicht entkleidet, sondern überkleidet werden möchten.« 38 Gliemann, Katrin; Bombek, Marita; Meyer, Anne-Rose: Sicht – Schutz – Sichtschutz: Perspektiven der Raumplanung, Textilwissenschaft und Literaturwissenschaft. In: Meyer, Anne-Rose; Sielka, Sabine (Hg.): Verschleierungstaktiken. Strategien von eingeschränkter Sichtbarkeit, Tarnung und Täuschung in Natur und Kultur. 2011, S. 25.

sein, verzieren und schmücken jedoch nicht allein das Verhüllte, sondern laden es zugleich durch Zeichen und Ornamente semiotisch auf. Die drei genannten Parameter der Hülle (Schutz, Inszenierung und Schmuck) sollen in den nun folgenden Kapiteln näher erläutert und ausführlich veranschaulicht werden. Gleichzeitig werden aber auch immer wieder Besonderheiten erwähnt, die für die jeweiligen Bespiele charakteristisch sind. So werden am Beispiel der Bekleidung etwa die erotisch-inszenatorischen Implikationen des Prozesses von Ver- und Enthüllen verstärkt zu beschreiben sein, während anhand der Architektur vor allem die räumlichen Dimensionen dieses Prozesses herausgearbeitet werden sollen.

8 Die »zweite Haut« des Menschen. Über die Hüllen der Bekleidung

Der Mensch ist bekanntlich von einer Vielzahl von Oberflächen umgeben. Während er zu den meisten dieser Oberflächen in einem distanzierten Verhältnis steht, begreift er manche durchaus als »seine« Oberflächen. Neben der – buchstäblich – eigenen Oberfläche der Haut können hierzu auch die textilen Oberflächen der Bekleidung zählen. Wie Marshall McLuhan beschreibt, kann die Kleidung als ein Medium verstanden werden, das die »Außenfläche unseres Körpers«1 nach außen hin erweitert. Die unmittelbar am Körper getragenen Oberflächen der Bekleidung hüllen uns ein und werden von uns als externalisierte Teile unseres Selbst – sprich: als unsere »zweite Haut« – wahrgenommen.2 Wenn nun im Folgenden die textilen Hüllen der Bekleidung genauer beschrieben werden sollen, so wird dabei selbstverständlich auch zur Sprache kommen, wie wir mit diesen Hüllen umgehen. Unser spezifischer Umgang mit Kleidung soll jedoch weniger im Hinblick auf unseren eigenen Körper, sondern vielmehr in Bezug auf unser Gegenüber, den Betrachter, analysiert werden. Dabei soll erklärt werden, wie wir über textile Verhüllungen das Erscheinen unseres Körpers beeinflussen und zugleich eine Distanz zur Umwelt aufbauen, die dem Betrachter verdächtig erscheint. In Kapitel 8.1 wird daher zunächst einmal zu zeigen sein, wie wir uns mittels Kleidung nach außen hin abschirmen und schützen. Dass die schützende Distanz zur Außenwelt durch Enthüllung aber auch immer wieder abgebaut werden kann, soll dabei ebenfalls thematisiert werden. In Kapitel 8.2 wird das Verhältnis von textiler Ver- und Enthüllung – bzw. von Be- und Entkleidung – dann genauer zu untersuchen sein. Ver- und Enthüllung sollen hier als gegenläufige Bewegungen charakterisiert werden, die stets aufeinander verweisen und sich wechselseitig hervorbringen. Im Anschluss daran wird zu zeigen sein, wie die Akte des Ver- und Enthüllens, durch das abwechselnde Zeigen und Verbergen des Körpers, Spannung 1 McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. 1968, S. 130. 2 Dies schließt allerdings nicht aus, dass der Mensch auch zu diesen Oberflächen in einem distanzierten Verhältnis stehen kann – z.B. dann, wenn wir uns »fremd« in unserer eigenen Haut fühlen oder wenn wir glauben, die äußeren Hüllen der Kleidung nicht ausfüllen zu können.

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erzeugen und damit zugleich Möglichkeiten der Inszenierung darstellen. Im Rahmen dieser Inszenierung, so soll ebenfalls erwähnt werden, tauchen wiederholt Fragen nach Wahrheit und Täuschung, Hülle und Verhülltem sowie Kleidung und Nacktheit auf, die die Grenzen dieser Gegensatzpaare brüchig werden lassen. Dass sich die Hüllen der Bekleidung aber auch als Schmuckträger erweisen können, die neben dekorativen auch semantische Aufgaben wahrnehmen, soll schließlich in Kapitel 8.3 ausgeführt werden. Am Beispiel der Mode – oder genauer: der Kleidermode – soll veranschaulicht werden, wie wir unseren Körper mit modischen Zeichen umhüllen und in eine ebenso dekorative wie lesbare Oberfläche verwandeln.

8.1

Kleidung als textile Schutzhülle

Bevor die verschiedenen Verwendungsformen und Bedeutungspotentiale der Kleidung näher beschrieben werden, soll in diesem Kapitel zunächst auf eine Grundfunktion der Kleidung eingegangen werden: und zwar die des Schutzes. Seit die ersten Menschen vor mehr als 100.000 Jahren damit begonnen haben, ihre Körper mit Tierfellen zu umhüllen, nutzen wir Kleidung als sprichwörtlich »zweite Haut«, um unseren Körper nach außen hin zu schützen. Wurde der menschliche Körper von den frühen Formen der Bekleidung zunächst noch eher spärlich bedeckt, sind wir mittlerweile von einer Vielzahl an Kleidungsschichten umgeben. Angefangen von der Unterwäsche bis hin zu den äußersten Hüllen der Ober- und Überbekleidung, können wir uns heute der verschiedensten Kleidungsstücke bedienen, um unseren Körper so gut wie möglich zu schützen. Das Ziel dieses Kapitels ist es nun, einen kurzen Überblick über die zahlreichen Schutzfunktionen der Kleidung zu geben. Dies soll nicht nur einen Eindruck davon vermitteln, auf welch vielfältige Weise wir unseren Körper mittels Kleidung zum Zwecke des Schutzes verhüllen. Es soll damit ebenso eine Basis geschaffen werden, von der aus im nächsten Kapitel das komplexe Verhältnis von Ver- und Enthüllen analysiert werden kann. Als theoretische Grundlage hierfür dienen vor allem die Betrachtungen des englischen Psychologen John Carl Flügel. Flügel geht in seiner 1930 veröffentlichten Schrift zur Psychologie der Kleidung ausführlich auf die schützende Funktion von Kleidung ein und bestimmt sie als eine der wesentlichsten Aufgaben von Kleidung überhaupt. Kleidung kann uns in vielerlei Hinsicht als Schutz dienen. So bedienen wir uns z.B. beim Sport oder bei bestimmten Arbeiten der Kleidung, um uns vor Unfällen oder Verletzungen zu schützen.3 Schutzkleidungen zeichnen sich vor allem 3 Vgl. Flügel, John Carl: Psychologie der Kleidung. In: Bovenschen, Silvia (Hg.): Über die Listen der Mode. 1986, S. 248.

8 Die »zweite Haut« des Menschen

dadurch aus, dass sie schwere Erschütterungen abschwächen oder den Kontakt mit körperschädigenden Substanzen verhindern. Zu ihnen zählen u.a. Schutzhelme, -anzüge, -handschuhe, -masken und -brillen sowie Schulterpolster oder Knieund Ellenbogenschoner. Kleidungen können aber auch insofern vor Verletzungen schützen, als sie Angriffe von Menschen oder Tieren abwehren.4 Der menschliche Körper wird dabei von besonders widerstandsfähigen Stoffen und Materialien umgeben, die ihn, wie eine Art Rüstung oder Panzer, vor feindlichen Übergriffen schützen. Neben mittelalterlichen Ritterrüstungen und Kettenhemden können hierzu auch Stahlhelme, Gasmasken und schusssichere Westen zählen und – im übertragenen Sinne – sogar Kriegsbemalungen. Obschon Körperbemalungen wie Tätowierungen, Henna, Schminke oder Make-up strenggenommen nicht in den Bereich der textilen Bekleidung fallen, können sie doch durchaus als Kleidung fungieren.5 Schließlich können auch Körperbemalungen in ihrer Farbigkeit den nackten Körper verdecken und dabei eine schützende Funktion übernehmen. Wie Flügel beschreibt, verwendeten so z.B. indigene Kulturen Kriegsbemalungen in kämpferischen Auseinandersetzungen, um sich auch auf einer spirituellen Ebene vor feindlichen Attacken zu schützen.6 Kleidung kann also nicht nur als Schutz vor physischen, sondern auch vor psychischen Angriffen verwendet werden. So sollen z.B. Geister oder spirituelle Mächte, die in dem Ruf stehen, Unglück, Krankheit und Tod über die Menschheit zu bringen, durch das Tragen bestimmter Kleidungsstücke abgewehrt werden. Neben Kleidungsstücken wie Stirnbändern, Armreifen, Talismanen, Amuletten oder Kreuzen können hier eben auch Körperbemalungen zum Einsatz kommen. Eng verbunden mit dem Schutz vor bösen Mächten ist zugleich der Schutz vor moralischen Gefahren und Ablenkungen.7 In dieser Gebrauchsweise dient Kleidung wiederum dazu, Verführungen und Versuchungen zu widerstehen, die vom Pfad der Tugend wegführen.8 Weite, schwere Kutten oder tiefsitzende Mützen und Kapuzen sollen ablenkende Einflüsse der Umgebung ausblenden und den Blick wie Scheuklappen auf das Wesentliche lenken. Eine zweite und für unseren Alltag wohl entscheidendere Schutzfunktion der Kleidung liegt in der Abwehr von klimatisch-meteorologischen Einwirkungen. Wir 4 Vgl. Flügel: Psychologie der Kleidung, S. 247. 5 Vgl. Serres, Michel: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. 1993, S. 34. Wie Michel Serres beschreibt, wird die menschliche Haut durch die Körperbemalung zunächst »zur Leinwand, dann zur Hülle«. »Die nackte Frau vor dem Spiegel geht an ihre Toilette nicht anders heran als der Maler an seine Palette […]. Sie schminkt ihre Haut, legt Make-up und Rouge auf, wie der Maler Farbschichten auf die Leinwand aufträgt. Die Haut setzt sich hier der Leinwand gleich.« (Serres: Die fünf Sinne, S. 33) 6 Vgl. Flügel: Psychologie der Kleidung, S. 248-249. 7 Vgl. ebd., S. 251. 8 Vgl. ebd., S. 251.

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verfügen dazu mittlerweile über verschiedene Formen der Funktionskleidung, bei der einzelne Kleidungsstücke jeweils einen spezifischen Zweck erfüllen. So gebrauchen wir z.B. Windjacken und sogenannte hard-shells als Schutz vor Wind, Sonnenhüte und leichte Gewänder aus Leinen als Schutz vor Hitze, dicke Pullover, Winterjacken, Handschuhe und Mützen als Schutz vor Kälte sowie Gummistiefel, Regenmäntel und Anglerhosen als Schutz vor Feuchtigkeit. In unserem Bedürfnis nach Schutz greifen wir tagtäglich auf die verschiedensten Kleidungsstücke zurück, um unseren Körper so gut wie möglich nach außen hin abzuschirmen. Über den Kontakt mit unserer Haut erfahren wir Kleidung dann als eine, sprichwörtlich, »zweite Haut«, die uns schützt und das Gefühl von Sicherheit vermittelt. Ein Gefühl, das diesem deutlich entgegengesetzt ist und das wir mithilfe von Kleidung zu vermeiden suchen, ist das Gefühl der Nacktheit bzw. der Hüllenlosigkeit. Nackt, so die Befürchtung, sind wir den Gefahren und Einwirkungen unserer Umgebung schonungslos ausgeliefert. Darüber hinaus ist körperliche Nacktheit ebenfalls mit den Gefühlen der Scham und der Sünde verknüpft. Besonders deutlich wird diese Verknüpfung in der christlich-jüdischen Mythologie, und zwar anhand der Geschichte von Adam und Eva, so wie sie uns die Genesis vermittelt:9 Im Paradies waren Adam und Eva bekanntlich nackt und hüllenlos. Ihrer körperlichen Blöße waren sich beide zunächst jedoch nicht bewusst. Dies änderte sich erst, nachdem sie – entgegen dem Verbot Gottes – vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, denn plötzlich »wurden ihrer beider Augen aufgetan, und sie erkannten, daß sie nackt waren«.10 Adam und Eva begannen sich ihrer nun erkannten Nacktheit zu schämen und flochten sich aus Feigenblättern einen Schurz um ihre Geschlechtsteile. Zur Strafe ihres Ungehorsams gegenüber Gott wurden beide aus dem Paradies vertrieben und mussten fortan ihr Leben auf der Erde verbringen. Zuvor jedoch machte Gott »Adam und seiner Frau Leibröcke aus Fell und bekleidete sie«.11 Kleidung, so wird mit der Vertreibung aus dem Paradies deutlich, dient im Sinne der christlich-jüdischen Mythologie dazu, die Scham über die verlorene Unschuld zu verhüllen. Sie wird erst nach dem Sündenfall, und der damit einhergehenden Erkenntnis von Nacktheit, notwendig.12 Claudia Benthien schreibt dazu: 9 Vgl. Agamben, Giorgio: Nacktheiten. 2010, S. 97: »In unserer Kultur trägt die Nacktheit eine unauslöschliche theologische Signatur.« 10 Gen 3,7. Vgl. Agamben: Nacktheiten, S. 98: Wie Giorgio Agamben erwähnt, gehen zahlreiche Theologen davon aus, dass Adam und Eva vor dem Sündenfall nicht im eigentlichen Sinne nackt waren, sondern von der Gnade Gottes umhüllt wurden: »Ein Kleid der Gnade bedeckte sie, die Glorie umhüllte sie wie mit einem Gewand (in der jüdischen Version dieser Lesart, die man beispielsweise im Zohar finden kann, ist von einem ›Lichtkleid‹ die Rede). Dieses übernatürlichen Kleides wurden sie durch die Sünde beraubt.« 11 Gen 3, 21. 12 Vgl. Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. In: Rothacker, Erich (Hg.): Archiv für Begriffsgeschichte. Bausteine zu einem historischen Wörterbuch der Philosophie. Bd.

8 Die »zweite Haut« des Menschen

»Diese nun erkannte Nacktheit, die mit dem Sterblichwerden und der Vertreibung aus dem Paradies einhergeht, wird als conditio humana gesetzt: Im Gegensatz zu den Tieren müssen die Menschen ihre bloße Haut verhüllen. […] Was den Tieren bei der Geburt gegeben ist, müssen Eva und Adam sich erst als ›zweite Haut‹ aneignen, um in diesem ursprünglichen Kulturakt der entstehenden Körperscham Menschen zu werden.«13 Der Mensch, als Nachfahre Adams und Evas, hat im Sinne der Erbsünde an der Schuld von Adam und Eva teil und wird erst nach seinem Tod von dieser Schuld befreit. Den Zustand paradiesischer Hüllenlosigkeit kann er erst im Sterben wieder erfahren, wenn seine Seele sich der irdischen Körperhülle entledigt und in den Himmel aufsteigt. Harmut Böhme beschreibt dies in seinem 1997 veröffentlichten Essay Enthüllen und Verhüllen des Körpers in Bibel, Mythos und Kunst folgendermaßen: »In der Tradition dualistischer Anthropologie nämlich ist der Körper insgesamt eine Verhüllung, Hülle der Seele. Der Abstieg der Seele ins Fleisch ist gleichbedeutend mit deren Verdunkelung. Ihr Aufstieg aus dem Fleisch […] bedeutet das Freiwerden der Seele zu ihrer unverhüllten Gestalt. Die Trennung von Seele und Körper im Tod befreit die Seele aus ihrem verhüllenden Haus und läßt sie in jene Sphäre wechseln, in der alles offenbar ist: wo nichts Hülle ist und nichts Hüllen trägt.«14 Bis dahin sei der Mensch jedoch gezwungen, seine Nacktheit, als Zeichen der Fehlbarkeit und Sünde, mittels Kleidung zu verbergen. Jenes schicksalhafte Dasein des Menschen auf Erden – oder heideggerianisch formuliert: seine »Geworfenheit« – fasst Böhme im Sinne der christlichen Lehre wie folgt zusammen: »Es heißt […], sich entblößt zu erfahren und damit angewiesen zu sein auf Verhüllung.«15 Der nackte Körper, als Beleg für die tiefe Schuld gegenüber Gott, werde hier als etwas Schamhaftes und Sündiges bewertet, dessen unmittelbare Sichtbarkeit man mithilfe von Kleidung so weit als möglich zu bedecken versuche.16 »In der Scham«, so

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6, 1960, S. 48: »Ursprünglich scheint Nacktheit der Modus zu sein, in dem sich die Wesen nur Gott darbieten, nur von ihm ›ertragen‹ werden können.« Benthien, Claudia: Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse. 1999, S. 114. Böhme, Hartmut: Enthüllen und Verhüllen des Körpers in Bibel, Mythos und Kunst (mit besonderer Rücksicht auf Albrecht Dürers »Selbstbildnis als Akt«). In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für historische Anthropologie. 6 (1997), S. 219. Ebd., S. 224. Vgl. Serres: Die fünf Sinne, S. 41: »Wir hüllen uns in Umhänge oder Mäntel, weil wir uns schämen, unsere Vergangenheit und unsere Passivität zu zeigen; um unsere gezeichnete Haut zu verbergen, diese ganz private, chaotische Botschaft, diese unaussprechliche Sprache, die zu wenig Ordnung hat, als daß man sie verstehen könnte; um sie durch den konventionellen oder austauschbaren Eindruck der Kleidung zu ersetzen, durch die vereinfachte Ordnung der Kosmetik.«

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Böhme, »ängstigt man sich vor dem Angeblicktwerden, insbesondere durch eine höhere Instanz.«17 Eigene Nacktheit zu zeigen wie auch fremde Nacktheit zu sehen, gelten im Sinne der christlichen Lehre somit als Akte der Schamlosigkeit.18 Insbesondere das sexuelle Verlangen, das an der Nacktheit sogar Lust und Freude empfindet, wird als höchster Akt der Schamlosigkeit missbilligt. Das Tragen von Kleidung gilt hier also nicht nur als Mittel zur Verdeckung der Scham, sondern soll auch der Unterdrückung sexueller Begierden dienen. Kleidung soll die aufreizende Nacktheit unseres Gegenübers bedecken wie auch unsere Nacktheit vor den schamlosen Blicken unseres Gegenübers schützen; eines Gegenübers, das uns womöglich »mit Blicken auszuziehen« versucht.19 Wie Flügel verdeutlicht, lässt sich die Angst des Menschen vor sexuell übergriffigen Blicken jedoch in zahlreichen Kulturen wiederfinden und beschränkt sich keineswegs nur auf die christlich-jüdische Kultur. Als Beispiel führt er etwa die spirituelle Macht des »bösen Blicks« an, die in vielen Regionen Europas, Asiens, Afrikas und Südamerikas gefürchtet wurde.20 Laut Flügel wurde dem »bösen Blick« die Fähigkeit zugesprochen, »seinen Opfern hauptsächlich dadurch Schaden zuzufügen, daß er ihre Zeugungsfähigkeit und Zeugungsorgane zerstört«.21 »Die meisten Amulette, die als Schutz gegen den ›bösen Blick‹ getragen« wurden, so Flügel weiter, seien daher »[…] Symbole der – männlichen oder weiblichen – Zeugungsorgane«22 gewesen.23 Auch Claudia Benthien geht auf jene tiefverwurzelte Angst des Menschen vor schamlosen Blicken ein und spielt ebenfalls auf die Macht des »bösen Blicks« an: »Der Mensch muß sich, ›um sich seiner Haut zu erwehren‹, vor den penetrierenden Blicken der anderen schützen. Dazu ist es notwendig, sich zu verhüllen […]. Es 17 Böhme: Enthüllen und Verhüllen des Körpers, S. 222. Vgl. Gen 3,10: So flüchtet auch Adam vor dem strafenden Blick Gottes (dem »allsehenden« Gott) zunächst unter einen Baum und spricht: »Ich hörte deine Stimme im Garten, und ich fürchtete mich, weil ich nackt bin, und ich versteckte mich.« 18 Vgl. Flügel: Psychologie der Kleidung, S. 235: »Das Christentum stellte Körper und Seele einander strikt gegenüber und lehrte, daß jegliche dem Körper gewidmete Aufmerksamkeit der Seelenrettung schade. Eines der naheliegendsten Mittel, den Körper aus den Gedanken zu verbannen, bestand natürlich darin, ihn zu verbergen, und folgerichtig wurde jede Neigung, den nackten Körper zu zeigen, als schamlos gebrandmarkt.« 19 Vgl. Groys: Unter Verdacht, S. 80: »Unter dem Blick des Anderen schämen wir uns unseres Körpers, unseres Aussehens, unseres Benehmens – des ganzen Bildes, mit dem wir uns der Welt zeigen. Der bloße Verdacht, dass der fremde Blick mich beobachtet, genügt, um diese allumfassende Scham hervorzurufen.« 20 Vgl. Flügel: Psychologie der Kleidung, S. 250. 21 Ebd., S. 250. 22 Ebd., S. 250. 23 Vgl. ebd., S. 250. Für Flügel scheint die spirituelle Kraft des »bösen Blicks« daher vermutlich auch eng mit dem Kastrationskomplex in Verbindung zu stehen.

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geht um die archaische Furcht vor dem magischen, besitzergreifenden Blick des anderen, vor einem Sehen, das ›mir etwas abgucken‹ kann, wenn ich nicht achtgebe – und zugleich um die Angst vor dem Fasziniert- und Geblendetsein durch das Gesehene, dem Wunsch nach Besitz und Inkorporatian.«24 In vielen islamischen Ländern gilt daher bekanntlich auch das Gebot, dass Frauen sich nur verhüllt in der Öffentlichkeit zeigen dürfen, um keine allzu große offene Bewunderung bei fremden Männern hervorzurufen. Die körperlichen Reize der Frau, die ausschließlich den Ehemännern vorbehalten sein sollen, werden hier von verschiedenen Kleidungsstücken umhüllt und so vor den Blicken der Öffentlichkeit geschützt.25 Die Möglichkeiten der Körperbedeckung können dabei vom einfachen Tragen eines Kopftuchs bis hin zur nahezu vollständigen Verschleierung des Körpers mittels eines Tschador oder einer Burka reichen. Gerade die Burka als die wohl radikalste Form der Körperverhüllung veranschaulicht besonders deutlich, inwiefern Kleidung als Sichtschutz vor schamlosen Blicken verwendet wird. Mit Ausnahme der Hände und Füße schirmt die Burka in ihrer opaken und blickdichten Stofflichkeit den gesamten Körper vor den Blicken der Außenwelt ab und garantiert ihrer Trägerin die Wahrung von Keuschheit und Intimität. »Kleidung«, so Flügel, »soll den Körper bedecken und damit unser Schamgefühl zufriedenstellen.«26 Das Zeigen und Enthüllen körperlicher Nacktheit wird in vielen Teilen der Welt als ein überaus privater und intimer Akt aufgefasst, den wir nur in Gegenwart von Menschen vollziehen, die uns sympathisch sind und zu denen eine gewisse Nähe besteht. Das Ablegen von Kleidung – als Ablegen von »Schutzhüllen« – spielt daher nicht nur auf einer sexuellen, sondern auch auf einer sozialen Ebene eine wichtige Rolle. In vielen sozialen Situationen wird das Ablegen von Kleidung als Geste des Vertrauens bewertet, die zwischenmenschliche Sympathie ausdrückt.27 So galten z.B. das Abstreifen eines Handschuhs zum Händedruck oder das Heben eines Hutes zum Gruß allgemein als Zeichen der Achtung und der Höflichkeit. Im Gegensatz dazu kann nun das bewusste Anbehalten von Kleidung unter gewissen Voraussetzungen als eine Geste der Missachtung und Ablehnung interpretiert werden. Das Tragen einer Sonnenbrille in einem persönlichen Gespräch oder das Anbehalten eines Mantels in gelockerter Atmosphäre werden so mitunter als grobe Zurückweisungen empfunden. Die betreffende Person macht auf ihr Gegenüber dann wohlmöglich einen »zugeknöpften« und reservierten Eindruck und vermittelt über die Geschlossenheit der Kleidung zugleich eine emotionale Verschlossenheit. Sie signalisiert durch das Anbehalten der Kleidung, dass sie sich in 24 25 26 27

Benthien: Haut, S. 115. Vgl. Flügel: Psychologie der Kleidung, S. 239. Ebd., S. 214. Vgl. ebd., S. 220.

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der gegenwärtigen Situation nicht wohlfühlt und/oder in keinen näheren Kontakt mit ihrer sozialen Umgebung treten möchte. Nach Auffassung Flügels kann Kleidung somit auch auf einer sozialen Ebene eine Schutzfunktion ausüben. Kleidung dient hier als Mittel, um Distanz zu wahren und als Schutz vor einem Zuviel an körperlicher oder emotionaler Nähe: »Wenn wir uns unter unsympathischen Menschen befinden – etwa Menschen, denen wir uns überlegen fühlen, mit denen wir nichts gemeinsam oder vor denen wir Angst haben –, neigen wir […] dazu, unsere Kleidung eng an uns zu schmiegen, als würde sie uns die Menschen, mit denen wir keinen engen Kontakt aufnehmen wollen, auf Distanz halten oder vor ihnen schützen.«28 Die rigorose Verhüllung des Körpers darf in sozialen Situationen jedoch nicht allein als ein Zeichen der Zurückweisung und Ablehnung verstanden werden. Gerade in der Zeit der Pubertät versucht der Mensch häufig mithilfe von Kleidung, persönliche Unsicherheiten sowie Gefühle der Zuneigung zu verbergen.29 Aus dem gleichen Grund beginnt der Mensch etwa zur selben Zeit erstmals auch gezielt Körperpartien zu verdecken, die er als unschön und unvollkommen erachtet. Kleidung wird dabei weniger als ein Mittel zur Zurückweisung, sondern vielmehr als ein Schutz vor Zurückweisung verwendet. Sie soll Körperpartien verdecken, von denen der Mensch annimmt, dass sie seine sexuelle Attraktivität beeinträchtigen und deren Sichtbarkeit womöglich Ablehnung hervorrufen würde. Kleidung kann uns demnach in vielerlei Hinsicht Schutz gewähren. Sie schützt uns vor Unfällen und Verletzungen, vor Angriffen von Menschen, Tieren oder spirituellen Mächten, vor moralischen Gefahren und Ablenkungen, vor Witterungsbedingungen, vor übergriffigen Blicken sowie vor einem Zuviel an körperlicher oder emotionaler Nähe. In all diesen Formen des Schutzes gebrauchen wir Kleidung als Hüllen, um unseren Körper zu verbergen und vor den Einwirkungen von außen abzuschirmen. Kleidung erweitert dabei unsere Körpergrenzen nach außen und vermittelt uns das Gefühl von Sicherheit. »Die in Wirklichkeit durch die Kleidung hervorgerufene Ausdehnung der gesamten (menschlichen) Gestalt«, so beschreibt es Flügel, wird hierbei »unbewußt dem Körper selbst zugeschrieben«.30 Kleidung schützt und stärkt damit nicht nur unseren Körper, sondern wirkt zugleich auf unser Inneres zurück. »Indem Kleidung die offenkundige Größe des Körpers in der einen oder anderen Weise steigert«, so Flügel, »vermittelt sie uns ein erhöhtes 28 Ebd., S. 254. 29 Vgl. Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe. 1988, S. 226: »VERBERGEN. Abwägende Figur: der Liebende fragt sich nicht, ob er dem geliebten Wesen erklären soll, daß er es liebt (es handelt sich hier nicht um eine Figur des Geständnisses), sondern in welchem Maße er ihm die ›Unruhen‹ (die Turbulenzen) seiner Leidenschaft verbergen soll: seine Begierden, seine Ängste, kurz: seine Exzesse.« 30 Flügel: Psychologie der Kleidung, S. 228.

8 Die »zweite Haut« des Menschen

Machtgefühl, ein Gefühl der Erweiterung unseres Körper-Ichs.«31 Der Philosoph Hermann Lotze beschreibt dies wiederum wie folgt: »Die größere oder geringere Spannung und Festigkeit, welche die Stoffe der Gewänder an sich oder durch ihren Zuschnitt besitzen, [über]trägt sich auf uns wie ein Verdienst unserer eigenen Haltung […]; bei jeder Berührung dieser steifen Umhüllung wird die Spannung und Festigkeit ihres Gefüges durchaus so empfunden, als gehörten beide Eigenschaften unserem eigenen Körper an; ohne Zweifel erhalten wir also durch dieses Mittel das Gefühl einer gekräftigten und elastischen Existenz.«32 Die spezifische Dicke, Widerstandsfähigkeit oder Elastizität eines Kleidungsstücks vermittelt uns also nicht nur das Gefühl von Sicherheit, sondern wirkt sich zugleich positiv auf unser Selbstbewusstsein aus. Eine dicke Jacke, ein Schutzhelm, aber auch ein Geschäftsanzug oder ein schönes Kleid können unserem Auftreten bisweilen eine größere Sicherheit verleihen, als wir sie in manchen Situationen vielleicht haben. Auf der anderen Seite kann Kleidung unser Selbstbewusstsein aber auch mindern und das Gefühl der Unsicherheit hervorrufen. So kann z.B. ein kratziger und mottendurchlöcherter Wollpullover in uns Ekelgefühle auslösen, während eine zu enge Hose uns wiederum derart in unserer Bewegungsfreiheit einschränken kann, dass wir uns unwohl fühlen. Kleidung wird von uns dann nicht länger als »zweite Haut«, sondern stattdessen als störender Fremdkörper erfahren.33 In unserem Bedürfnis nach Schutz und Zufriedenheit versuchen wir uns daher in der Regel so zu kleiden, dass wir uns wohlfühlen. Wir greifen dabei auf die unterschiedlichsten Kleidungsstücke zurück und hüllen uns in eine Vielzahl von Schichten und Lagen ein, die unseren Körper nach außen hin erweitern. Die Modedesigner Viktor & Rolf haben dieses sogenannte »Zwiebelprinzip« in ihrer Kollektion aus dem Jahr 2003/04 aufgegriffen und auf einzelne Kleidungsstücke übertragen. Eine Bluse besteht hier etwa nicht mehr nur aus einer, sondern aus einer Vielzahl von Stofflagen, die sich hintereinander auffächern und den Körper Schicht um Schicht erweitern (vgl. Abb. 7). Viktor & Rolf versinnbildlichen den Akt der Bekleidung damit als einen Vorgang, bei dem der menschliche Körper von mehreren Kleidungsschichten umhüllt und stufenweise von der Außenwelt abgeschirmt wird. Umgekehrt können diese textilen Schutzschichten in einem als sicher empfundenen Umfeld aber auch wieder sukzessive entfernt werden. Wie bereits erwähnt, 31 Ebd., S. 224. 32 Lotze, Hermann: Der Geist. In: Ders.: Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Bd. 2, 1858, S. 204. 33 Vgl. Flügel: Psychologie der Kleidung, S. 230.

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Abb. 7: Viktor & Rolf, 2003/04

versuchen wir in vielen sozialen Situationen durch das bewusste Ablegen von Kleidung Sympathie, Zuneigung oder Begehren zum Ausdruck zu bringen und Intimität herzustellen. Das Entkleiden des Körpers soll unserem Gegenüber Aufgeschlossenheit und Interesse signalisieren, Annäherung ermöglichen und/oder körperliche Reize zur Schau stellen. Was dieses, für die Kleidung programmatische Wechselverhältnis von Ver- und Enthüllung wiederum beim Betrachter auslöst, soll nun im nächsten Kapitel erörtert werden.

8.2

Kleidung als inszenatorisches Mittel zwischen Ver- und Enthüllung. Über die nackte Wahrheit und die Strategie der Verführung

Kleidung erlaubt es uns offenbar, unseren Körper nach außen zu verbergen und vor Bedrohungen zu schützen. Gleichzeitig kann die durch Kleidung geschaffene Distanz zur Außenwelt aber immer wieder auch abgebaut und rückgängig gemacht werden. Durch den Akt der Entkleidung können wir einzelne Kleidungsstücke entfernen und erneut in Kontakt mit unserer Umgebung treten.

8 Die »zweite Haut« des Menschen

Wie sich zeigt, versuchen wir mithilfe von Kleidung also zwei einander entgegengesetzte Neigungen zu befriedigen: einerseits den Wunsch nach Schutz und Zurückgezogenheit, zum anderen den Wunsch nach Nähe und Interaktion.34 John Flügel bestimmt unser Verhältnis zur Kleidung daher als ambivalent. »Kleider«, so schreibt er, »haben […] als Objekte, die der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienen […], den Charakter eines Kompromisses; sie sind ein raffiniertes Mittel zum Erzielen eines gewissen Ausgleiches zwischen einander widerstrebenden Interessen.«35 In diesem Sinne be- und entkleiden wir uns je nach Situation und Anlass, um unseren jeweiligen Neigungen nachzukommen und unser Verhältnis zur Umwelt zu regulieren. Häufig sind dabei auch sexuelle Motive ausschlaggebend: So beund entkleiden wir unseren Körper abwechselnd, um unsere Nacktheit und Scham zu verbergen oder um unsere körperlichen Reize zur Schau zu stellen. Das Ziel dieses Kapitels ist es nun, das für die Kleidung programmatische Wechselverhältnis von Ver- und Enthüllen genauer zu untersuchen und dessen Wirkung auf den Betrachter zu beschreiben. Zwei Punkte sollen dabei im Zentrum stehen: Zum einen soll gezeigt werden, wie Kleidung über die Akte des Verund Enthüllens als ein inszenatorisches Mittel verwendet werden kann, um das Interesse des Gegenübers zu wecken. Der permanente Wechsel aus Zeigen und Verbergen, so soll deutlich werden, erzeugt Spannung und macht einen »verdächtigen« Eindruck auf den Betrachter. Zum anderen wird im Folgenden zu erläutern sein, dass die Akte des Ver- und Enthüllens nicht als Gegensätze zu begreifen sind, sondern vielmehr zwei Prozesse darstellen, die sich stets wechselseitig hervorbringen. Innerhalb dieses Prozesses tauchen wiederholt Fragen nach Täuschung und Wahrheit, Oberfläche und Tiefe, Nacktheit und Blöße sowie nach Verborgenheit und Offenbarung auf. Ein Kleidungsstück, das geradezu paradigmatisch für das Wechselverhältnis von Ver- und Enthüllen steht, ist der Schleier. Beim Schleier handelt es sich um einen leichten, dünngewebten Stoff aus Organza, Gaze oder Seide der zur Verhüllung von Gesicht und Körper verwendet werden kann. Zu den bekanntesten Formen zählen u.a. der Kopf- und Gesichtsschleier, der Brautschleier, der Nonnenschleier sowie der Leichen- und Trauerschleier. Durch den Schleier werden wahlweise der gesamte Körper oder nur einzelne Partien des Körpers bedeckt und vor den Blicken der Mitmenschen verborgen. Der Schleier fungiert somit zunächst einmal als ein Mittel der Abschirmung, um Distanz zwischen Körper und äußerer Umgebung zu schaffen. Darüber hinaus kann mit der Verwendung des Schleiers aber auch eine besondere Absicht oder ein gewisser Hintergedanke verknüpft sein, der Außenstehenden 34 Vgl. Flügel: Psychologie der Kleidung, S. 213. 35 Ebd., S. 213.

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verborgen ist bzw. bleiben soll. Der Schleier wird dann nicht mehr nur funktional, sondern auch intentional eingesetzt. So kann der Schleier z.B. als Mittel der Täuschung und Irreführung dienen, um hinterlistige Absichten und Vorhaben zu verbergen bzw. zu verschleiern.36 Ebenso kann der Schleier aber auch als ein Mittel der Inszenierung und Darstellung eingesetzt werden, um durch das ostentative Verbergen des Körpers die Aufmerksamkeit des Gegenübers zu erregen. Der im Akt des Verschleierns unverkennbare Versuch einer Geheimhaltung soll dem Betrachter verdächtig erscheinen und seine Neugierde für das wecken, was sich unterhalb des Schleiers befindet. Die Verhüllung des Körpers soll hier das Bedürfnis nach Enthüllung hervorrufen. »Die Anziehungskraft des Verhüllten«, so schreibt Susanne Stemmler, »ergibt sich aus dem Begehren, gerade das Nicht-Zugängliche, Unerreichbare mit allen Mitteln wahrnehmen zu wollen.«37 Michel de Montaigne wies darauf bereits in seinem Essay Daß unsere Begierde durch die Schwierigkeit wächset aus dem Jahr 1580 hin. Wie der Titel bereits verrät, beschreibt Montaigne darin ganz allgemein, wie unsere Interessen und Begierden durch Hindernisse und Widerstände vergrößert werden. »Es ist offenbar«, so führt er aus, »daß unser Wille durch den Widerstand verstärket wird, eben so wie das Feuer bey der Kälte heftiger wird.«38 Und er fährt fort: »So geht es allezeit: die Schwierigkeit giebt den Sachen einigen Werth. […] Uns eine Sache verbiethen, heißt uns Lust dazu machen.«39 Im Zuge dieser Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Widerstand und Begehren geht Montaigne u.a. auch auf den Schleier der Poppäa ein. Poppäa war die Ehefrau des römischen Kaisers Nero, die trotz ihrer Schönheit ihr Gesicht stets hinter einem Schleier verborgen gehalten haben soll. Nach Auffassung Montaignes diente Poppäas Schleier aber nicht dazu, das Interesse an ihrer Schönheit zu mindern. Im Gegenteil habe die Verhüllung ihres Gesichtes vielmehr das Ziel verfolgt, den Blicken ihrer Verehrer ein Hindernis entgegenzusetzen, das das Verlangen nach ihrer Schönheit noch steigern sollte.40 »Warum«, so schreibt er, »kam Poppäa auf den Einfall, ihr schönes Gesicht unter

36 Shakespeare, William: Othello, der Mohr von Venedig. Ein Trauerspiel. In: Radspieler, Hans (Hg.): Theatralische Werke in 21 Einzelbänden. Bd. 18, 1995, S. 9: In Shakespeares Drama Othello verschleiert so z.B. der Intrigant Jargo im übertragenen Sinne sein eigentliches Wesen: »[…] ich stelle mich zwar so, aber das hat seine Absichten – – denn wahrhaftig, wenn mein Gesicht, und meine äusserlichen Handlungen die wahre innerliche Gestalt meines Herzens zeigten, so würde mein Herz in kurzem den Krähen zum Futter dienen – – Mein guter Freund, ich bin nicht, was ich scheine.« 37 Stemmler: Topografien des Blicks, S. 96. 38 Montaigne, Michel de: Daß unsere Begierde durch die Schwierigkeit wächset. In: Ders.: Essais. Nebst des Verfassers Leben nach der Ausgabe von Pierre Coste. Bd. 2, 1992, S. 401. 39 Ebd., S. 403-404. 40 Vgl. ebd., S. 405.

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einer Maske zu verbergen, als um dasselbe ihren Liebhabern desto angenehmer zu machen?«41 Wie Montaigne am Beispiel der Poppäa verdeutlicht, kann der Schleier also nicht nur als ein Mittel zum Schutz, sondern auch ganz gezielt als ein Mittel zur Inszenierung eingesetzt werden. Die Aufgabe des Schleiers ist es dabei zunächst, Körper oder Objekte so zu verhüllen, dass diese eine geheimnisvolle Erscheinung erhalten. Dem Betrachter präsentiert sich der Schleier dadurch als eine Sichtgrenze, die seine Wahrnehmung einschränkt und ihm scheinbar Bedeutsames vorenthält. Die Distanz zum Verhüllten weckt seine Neugierde und erzeugt das Verlangen, dem visuell Entzogenen näherzukommen.42 Indem der Schleier den Blick des Betrachters behindert, animiert er ihn aber auch immer wieder dazu, dem Verborgenen imaginativ nachzuspüren. Die entzogene Sichtbarkeit wird für ihn zum Anlass, das Verhüllte in seiner Phantasie zu vervollständigen. Der Betrachter versucht dann in den Faltungen und Raffungen des Stoffes Indizien zu erkennen, die es ihm ermöglichen, Rückschlüsse auf den verhüllten Körper zu ziehen. »Der Blick, welcher etwas Anderes begehrt als das, was zu sehen gegeben ist«, so beschreibt es Susanne Stemmler, »konzentriert sich auf die Oberflächen, auf deren Gestaltung und Form, auf das also, was als Reflex von ihnen zurückgeworfen wird.«43 Selbst kleinste Erhebungen des Stoffes können den Betrachter mitunter dazu bewegen, die Materialität des Schleiers imaginativ zu überwinden und den verborgenen Körper gedanklich heraufzubeschwören. Die Literaturwissenschaftlerin Patricia Oster meint dazu: »Der Schleier ist im elementaren Sinne eine Anschauungsform. Der Blick auf den Gegenstand bricht sich an dem Widerstand seiner Textur und erschafft ein Bild aus Wahrnehmung, Wahrnehmungsirritationen und imaginären Supplementen der entzogenen Wahrnehmung. Daraus geht ein Faszinosum hervor.«44 41 Ebd., S. 405. 42 In seinen Lebenserinnerungen Die Welt von Gestern widmet Stefan Zweig diesem Phänomen ein ganzes Kapitel. Er beschreibt darin, wie die prüden Sexual- und Moralvorstellungen in der »vorfreudianischen Zeit« (Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. 2013, S. 97) des 19. Jahrhunderts die voyeuristische Lust der Menschen umso stärker entfesselte, je mehr sie diese dazu anhielt, sich »bedeckt« zu geben: »[…] und so erreichte dank ihrer unpsychologischen Methode des Verhüllens und Verschweigens die Gesellschaft von damals genau das Gegenteil. Denn da sie in ihrer unablässigen Angst und Prüderie dem Unsittlichen in allen Formen des Lebens, Literatur, Kunst, Kleidung ständig nachspürte, um jede Anreizung zu verhüten, war sie eigentlich gezwungen, unablässig an das Unsittliche zu denken.« (ebd., S. 93) Ganz im Sinne Montaignes gelangt Zweig so zu dem Schluss: »Denn nur das Versagte beschäftigt das Gelüst, nur das Verbotene irritiert das Verlangen, und je weniger die Augen zu sehen, die Ohren zu hören bekamen, um so mehr träumten die Gedanken.« (ebd., S. 96) 43 Stemmler: Topografien des Blicks, S. 96. 44 Oster, Patricia: Schleier. In: Konersmann, Ralf (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern. 2011, S. 335-336.

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Besonders deutlich wird die imaginative Wirkung des Schleiers u.a. anhand eines Gemäldes des antiken Malers Timanthes, das die Opferung der Iphigenie darstellt. Das Gemälde selbst ist nicht mehr erhalten, doch existiert ein römisches Fresko, dessen Motiv auf das Gemälde von Timanthes zurückgeht (vgl Abb. 8).45

 

Abb. 8: Anonym, Opferung der Iphigenie

Zu sehen sind darauf die zum Tode verurteilte Iphigenie, die von Odysseus und Menelaos getragen wird, sowie Calchas, der – wie die anderen auch – in tiefer Trauer und Bestürzung gen Himmel blickt. Ein wenig abseits der Szene, vor dem Opferaltar am linken Bildrand, steht Agamemnon, der Vater von Iphigenie, der sein schmerzerfülltes Gesicht wiederum hinter einem Schleier verbirgt. Wie nun der römische Gelehrte Plinius der Ältere berichtet, soll Timanthes das Gesicht Agamemnons verhüllt haben, »da er es nicht würdig darstellen konnte«.46 Timanthes habe sein gesamtes künstlerisches Talent bereits in die Darstellung der übrigen Figuren gelegt, so dass er die unermessliche Trauer des Vaters nicht mehr 45 Vgl. Deckers, Regina: Die Testa velata in der Barockplastik: zur Bedeutung von Schleier und Verhüllung zwischen Trauer, Allegorie und Sinnlichkeit. 2010, S. 11. 46 Plinius Secundus, Gaius: Farben, Malerei, Plastik. In König, Roderich (Hg.): Naturkunde. Bd. 35, 1978, S. 61.

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darzustellen vermochte. Eine etwas andere Interpretation des Bildes gibt uns wiederum der italienische Architekt und Kunstkritiker Leon Battista Alberti in seinem um 1435 veröffentlichten Traktat über Die Malkunst. Alberti zufolge handelt es sich bei der Verhüllung Agamemnons weniger um ein künstlerisches Unvermögen, sondern vielmehr um eine kalkulierte Strategie, die den Betrachter zu imaginativer Wahrnehmung animieren soll. Demnach habe Timanthes das Gesicht Agamemnons bewusst verhüllt, »um jedem Betrachter noch etwas übrigzulassen, was er sich bezüglich des väterlichen Schmerzes ausdenken konnte – jenseits dessen, was er mit dem Blick wahrzunehmen vermochte«.47 Mit der Verhüllung Agamemnons, so legt uns zumindest Alberti nahe, setzt Timanthes also ganz gezielt auf die imaginative Wirkung des Schleiers, um den Betrachter zu subjektiven Spekulationen zu verleiten. Das gesenkte Haupt sowie die niedergeschlagene Körperhaltung, die sich durch den Schleier vermittelt, sollen einen Eindruck von Agamemnons Trauer geben und zugleich Raum für persönliche Emotionen lassen. Der Schleier entzieht dem Betrachter also nicht nur das Verhüllte, sondern gibt es immer wieder auch in Andeutungen zu erkennen. Sein leichter und flexibler Stoff passt sich wiederholt den Formen des verhüllten Körpers an und gibt diese über die Erhebungen und Vertiefungen seiner Oberfläche wieder. Im zeitweiligen Verschmelzen von Körper und Stoff prägen sich so die Konturen des Verborgenen in den Schleier ein und treten in Form von Abdrücken, Umrisslinien oder Faltenwürfen hervor. Die Skulpturen und Büsten des italienischen Rokoko-Bildhauers Giuseppe Sanmartino führen uns dies in geradezu übertriebener Art und Weise vor Augen (vgl. Abb. 9). Hier werden Körper derart eng von Schleiern umschmiegt, dass sich selbst feinste Körperpartien wie Augenlieder, Fingerglieder und -knöchel an der Oberfläche abzeichnen. Gerade diese eingeschränkte Sichtbarkeit des Verborgenen, die der Schleier bisweilen zulässt, übt auf den Betrachter eine ganz besondere Anziehungskraft aus, da sie nicht nur dessen Vorstellungskraft beflügelt, sondern zugleich den Moment der Enthüllung in Aussicht stellt. Zwar wird auch noch die schwache Verhüllung vom Betrachter als Grenze wahrgenommen, doch führt sie ihm zugleich vor Augen, dass es nur eine Handbewegung kostet, die Distanz zum Verborgenen zu überwinden. Das Verhüllte erscheint buchstäblich »zum Greifen nah«. In der angedeuteten Enthüllung wird das inszenatorische Potential des Schleiers auf die Spitze getrieben und es zeigt sich erneut, dass die Geste des Schleiers eine doppelte ist: nämlich eine zwischen Zeigen und Verbergen, zwischen Aufforderung und

47 Alberti, Leon Battista: Die Malkunst. In: Bätschmann, Oskar (Hg.): Das Standbild. Die Malkunst [u.a.]. 2000, S. 273.

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Abb. 9: Giuseppe Sanmartino, Il Cristo velato

Abwehr, zwischen Preisgabe und Zurückweisung.48 Konrad Schüttauf und Michael Wetzel beschreiben dies wie folgt: »Die Idee der Verschleierung ist […] durch eine grundsätzliche Doppeldeutigkeit gekennzeichnet. Verschleierung ist zunächst (in einem sehr weiten Sinn) Bewahrung von Schaden. Dahinter aber erscheint, oft wenig verhüllt, ein inszenatorisches, ein provokatorisches Element, das ebenso zu ihrem Wesen gehört, ja dieses erst vervollständigt. […] Verhüllung ist auf der einen Seite keusch, auf der anderen kokett.«49 Diese Feststellung gilt jedoch nicht nur für den Schleier allein, sondern für Kleidung insgesamt. Der österreichische Journalist Karl Hauer beschreibt dies ausführlich in seinem Essay Erotik der Kleidung, der im Jahr 1906 in der von Karl Kraus herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel erschienen ist. Hauer geht darin von der Annahme aus, dass sich die Anziehungskraft der Erotik überhaupt erst im Zusammenhang mit der Kleidung entfaltet. »Die Erotik«, so schreibt er, »hat durch die Erfindung der Kleidung erst ihren wesentlichen Inhalt bekommen.«50 Kleidung und Erotik seien eng im Unbewussten des Menschen miteinander verbunden und nicht voneinander zu trennen. Dies sei im Wesentlichen darauf zurückführen, dass 48 Vgl. Petraschek-Heim, Ingeborg: Die Sprache der Kleidung. Wesen und Wandel von Tracht, Mode, Kostüm und Uniform. 1966, S. 48: »So kann das Verhüllen, das in seinem Grundprinzip den sexuellen Reiz negiert, diesen durch Kontrast hervorrufen.« 49 Schüttauf, Konrad; Wetzel, Michael: Scham oder Schein? Strategien von Ver- und Enthüllung. In: Meyer, Anne-Rose; Sielka, Sabine (Hg.): Verschleierungstaktiken. Strategien von eingeschränkter Sichtbarkeit, Tarnung und Täuschung in Natur und Kultur. 2011, S. 125. 50 Hauer, Karl: Erotik der Kleidung. In: Die Fackel. 7, Nr. 198 (1906), S. 14.

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selbst unsere Vorstellung von Nacktheit von Kleidung beeinflusst sei.51 »Wir empfinden«, so Hauer, »das Bekleidetsein als den natürlichen Zustand und das Nackte ist für uns in erster Linie das Entkleidete und erscheint uns als Blöße als Nudität.«52 Seiner Auffassung nach besitzt eine gänzlich unverhüllte Nacktheit für uns daher auch nur wenig an erotischer Anziehungskraft. Der erotische Reiz des Nackten entfalte sich vielmehr erst im Akt der Entblößung, bei dem der Körper entkleidet und die verborgene Nacktheit sukzessive zum Vorschein kommen würde:53 »Das Erregende einer Entblößung besteht darin, daß ein Körperteil durch die bekleidete Umgebung isoliert zur Schau gestellt wird. Während die Harmonie des völlig nackten Körpers das Auge zur synthetischen Erfassung eines Organismus zwingt, lenkt der entblößte Körperteil den Blick hypnotisch auf sich und wird zum Träger einer erotischen Idee.«54 Die im Akt der Entblößung aufscheinende Nacktheit, so macht Hauer hier deutlich, weckt die voyeuristische Lust des Betrachters und treibt ihn dazu, die noch verdeckten Körperteile imaginativ zu entkleiden.55 Gerade transluzente Kleidungsstücke wie Schleier oder Spitzenwäsche übten daher eine besondere Faszination auf ihre Betrachter aus. »Sie«, so Hauer, »verwischen oder verwirren die Konturen des Körpers, um die erotische Phantasie zu ihrer kühneren Nachbildung anzuregen, sie lassen die Nacktheit aus einem zarten Nebel hervorschimmern, um sie dem Verlangen begehrlicher zu machen.«56 Nicht die hüllenlose, sondern die verdeckte und nur zum Teil entkleidete Nacktheit erscheint dem Betrachter daher als reizvoll. Sie fesselt seine Aufmerksamkeit, beflügelt seine Phantasie und steigert das Verlangen nach weiterer Entblößung. »Wie das Schamgefühl eine Entblößung stärker empfindet als völlige Nacktheit«, so schreibt Hauer, »so wird auch das direkte erotische Empfinden durch die Blöße ungleich heftiger erregt als durch die Nacktheit.«57 Nacktheit und Blöße sind im Sinne Hausers demnach als zwei verwandte, aber nicht identische Phänomene zu begreifen. Bei der Nacktheit, so lässt sich dem 51 Vgl. ebd., S. 14. 52 Ebd., S. 14. 53 Vgl. ebd., S. 14: »Die Erotik der Nacktheit ist für uns zum allergrößten Teile eine Erotik der Entblößung.« 54 Ebd., S. 14. 55 Vgl. Kittler, Friedrich: Mode/Ausziehbarkeit. In: Hron, Tania; Khaled-Lustig, Sandrina (Hg.): Baggersee. Frühe Schriften aus dem Nachlass. 2015, S. 102: »Ausziehbarkeit besagt dabei auch, dass die betreffenden Kleidungsstücke (partiell zumindest) auf der nackten Haut getragen werden und dieser Eindruck suggeriert wird. Wo nacktes Fleisch erscheint, kann der Handlungen phantasierende Blick sein Werk beginnen.« 56 Hauer: Erotik der Kleidung, S. 17. 57 Ebd., S. 14.

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obigen Zitat entnehmen, handelt es sich um einen anthropologischen Grundzustand des Menschen, der, jenseits aller Scham- und Moralvorstellungen, im Grunde nichts Außergewöhnliches ist. »Das Nackte«, so beschreibt es etwa der Philosoph Gert Mattenklott, »macht stumm. Sei es daß wir erschauern in einer begriffslosen Betroffenheit […], sei es, daß wir es als etwas Kahles empfinden, zu dem uns nichts mehr einfällt.«58 Im Gegensatz zu dieser kreatürlichen Form der Nacktheit ist die Blöße in erster Linie eine entkleidete Nacktheit. Entblößt zeigt sich uns also immer nur das, was zuvor noch verhüllt und bedeckt war.59 Blöße kann aber auch in einem übertragenen Sinne verwendet werden. Mit der Blöße verknüpfen wir dann die Idee einer radikalen und restlosen Enthüllung ohne Ausweg und Zuflucht. Das Entblößte – so zumindest die Idee – wurde seiner verbergenden und täuschenden Hüllen beraubt und muss nun sein eigentliches Wesen zu erkennen geben. Das Gefühl des Entblößt-seins ist dabei aber nicht zwangsläufig an Nacktheit gebunden. So können wir uns auch im bekleideten Zustand entblößt oder bloßgestellt fühlen – etwa dann, wenn wir beim Lügen erwischt wurden. Blöße beschreibt hier also weniger einen körperlichen Zustand als vielmehr ein ideelles Konzept. Getragen wird dieses Konzept von dem Verdacht, dass alles, was Hüllen trägt, eine tieferliegende, »nackte« Wahrheit unter der Oberfläche verbirgt. Die Nacktheit, die die metaphorische Blöße suggeriert, ist somit eine totale Nacktheit. Sie ist nackter als nackt. Anders als die tatsächliche Blöße lässt sie sich daher auch nicht auf den nackten Körper begrenzen, sondern reicht tiefer. Die Blöße im metaphorischen Sinne ist subkutan. Dies ist zugleich ihr wesentliches Dilemma: Denn wir können diese Form der Blöße zwar unterstellen und vermuten, jedoch niemals beobachten. Das Einzige, was wir sehen können, sind vermeintliche Anzeichen, die auf eine tieferliegende, »nackte« Wahrheit hindeuten könnten. Tatsächlich ist es jedoch häufig so, dass der Betrachter beim Anblick einer Entblößung zu imaginativen Vorstellungen verleitet wird, die die Grenzen zwischen tatsächlicher und metaphorischer Blöße verwischen. Das erotisch-amouröse Interesse am nackten Körper geht dann zugleich mit einem Verlangen nach »nackter« Wahrheit einher. Und an den Moment der Entkleidung knüpft sich die Hoffnung

58 Mattenklott, Gert: Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers. 1983, S. 15. 59 Vgl. Petraschek-Heim: Die Sprache der Kleidung, S. 48: »Die reine Nacktheit ist Natur und fordert durch ihre Selbstverständlichkeit nicht die Begierde heraus. (Das Prinzip der Nacktkultur beruht auf dieser Einstellung). Sie wirkt nur dort aufreizend, wo sie im Gegensatz zur allgemeinen Bekleidung steht. Diese aber ist allgemein üblich. Als Gegensatz zum Verhüllen ergibt sich das stellenweise Entblößen des Körpers, so daß einige Teile nicht mit in die Kleidung einbezogen werden.«

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auf eine Art Offenbarungserlebnis, das sich in »wahrer« Liebe, »echten« Gefühlen, »unverstellter« Lust oder »authentischer« Hingabe äußert.60 Um dieses für die Entblößung charakteristische Verschmelzen von erotischer und erkenntnistheoretischer Begierde ausführlicher verdeutlichen zu können, ist hier ein kurzer Exkurs über das Verhältnis von nacktem Körper und nackter Wahrheit notwendig. Folgt man Harmut Böhme, so lässt sich dieses Verhältnis über den jahrtausendealten Glauben an die Verborgenheit Gottes erklären, der uns in zahlreichen Religionen und Mythen begegnet. Kern dieses Glaubens ist die Auffassung, dass eine unmittelbare Gotteserkenntnis erst nach dem Tode möglich ist. Sowohl in den drei Weltreligionen – Judentum, Christentum und Islam – als auch in der klassischen Mythologie ist Gott bzw. die Götter den Menschen im Diesseits grundsätzlich verborgen. Das göttliche Wesen kann der Mensch auf Erden – wenn überhaupt – nur vermittelt erfahren.61 Im Christen- und Judentum etwa erscheint Gott den Menschen in der verborgenen Gestalt eines brennenden Dornbuschs62 oder versteckt hinter einer Wolke.63 »Wahrlich«, so steht es im Alten Testament, »du bist ein Gott, der sich verborgen hält«64 . Die rückhaltlose Offenbarung Gottes vollzieht sich hier, wie auch im Islam, erst am Tag des jüngsten Gerichts, der Apokalypse. Der Begriff »Apokalypse« geht auf das griechische Wort apokalypsis (ά ποκά λυψις) zurück und bedeutet »Enthüllung« bzw. »Entschleierung« (ά πο-κά λυψις, von: ά πό »ab, weg« und καλύ πτω »verhüllen, verdecken«).65 Am Tag der Apokalypse, wenn das Reich Gottes beginnt und die Toten auferstehen, so die Vorstellung, enthüllt sich dem Mensch die göttliche Wahrheit.66 Bis dahin kann er jedoch immerhin Trost in der Gnade der Liebe finden. Gerade die eheliche Vereinigung von Mann 60 Die These, dass auch die Körperbemalung als eine Form der Bekleidung zu begreifen ist, scheint sich auch hier zu bestätigen, wenn wir etwa an die sprichwörtliche Redensart von der »ungeschminkten Wahrheit« denken. 61 So schreibt Paulus im Brief an die Römer: »Welche Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unaufspürbar seine Wege!« (Röm 11, 33) Und im Buch Hiob wird die rhetorische Frage gestellt: »Kannst du die Tiefen Gottes erreichen oder die Vollkommenheit des Allmächtigen ergründen?« (Hi 11, 7) 62 Vgl. Ex 2,3-2,7. 63 Vgl. Ex 33,8-11. 64 Jes 45, 15. Im Koran heißt es z.B. in Sure 6, 103: »Die Blicke (der Menschen) erreichen ihn nicht, werden aber von ihm erreicht.« Und in Sure 7, 143 spricht Gott zu Mose: »Du wirst mich nicht sehen.« 65 Vgl. Menge/Güthling: Langenscheidts Großwörterbuch der griechischen und deutschen Sprache, S. 90. 66 Vgl. Apk 21,1-4: »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde waren vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, aus dem Himmel von Gott herabkommen, bereitet wie eine für ihren Mann geschmückte Braut. Und ich hörte eine laute Stimme vom Thron her sagen: Siehe, das Zelt Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und Gott selbst wird bei ihnen sein, ihr Gott.«

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und Frau wird als ein quasi-paradiesischer Zustand propagiert, der an jene Einheit von Adam und Eva anknüpft, bevor beide unerlaubterweise vom Baum der Erkenntnis (!) gegessen hatten. In seiner 1795 veröffentlichten Ballade Das verschleierte Bild zu Sais griff Friedrich Schiller nun das Motiv von der verborgenen Göttlichkeit auf. Er schildert darin, dass eine Enthüllung der göttlichen Wahrheit im Diesseits – also noch vor der Zeit – zwangsläufig zum Tode führen muss. Schiller lässt in der Ballade einen wissbegierigen Jüngling in einem Tempel der altägyptischen Stadt Sais auf eine verhüllte Statue der Göttin Isis treffen. Bewacht wird die Statue von einem Priester, einem sogenannten Hierophanten (griech. ιεροφά ντης; sinngemäß »Enthüller der heiligen Geheimnisse«).67 Auf die Nachfrage des Jünglings, was sich denn hinter dem Schleier der Statue verberge, gibt der Priester zur Antwort: »die Wahrheit«.68 »›Wie?‹ ruft jener, ›Nach Wahrheit streb ich ja allein, und diese Gerade ist es, die man mir verhüllt?‹ ›Das mache mit der Gottheit aus‹, versetzt Der Hierophant. ›Kein Sterblicher, sagt sie, Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe. Und wer mit ungeweihter schuld’ger Hand Den heiligen verbotnen früher hebt, Der, so spricht die Gottheit – › ›Nun‹? ›Der sieht die Wahrheit‹.«69 Der Versuchung, den Schleier der Gottesstatue zu lüften, um der verborgenen Wahrheit teilhaftig zu werden, kann der Jüngling selbstverständlich nicht widerstehen. »›Das faß ich nicht«, so ruft er, »[…] wenn von der Wahrheit/Nur diese dünne Scheidewand mich trennte‹.«70 Um Mitternacht verschafft er sich erneut Zutritt zum Tempel und enthüllt verbotenerweise die verschleierte Gottheit: »Nun, fragt ihr, und was zeigte sich ihm hier? Ich weiß es nicht. Besinnungslos und bleich, So fanden ihn am andern Tag die Priester Am Fußgestell der Isis ausgestreckt.«71 67 Zusammengesetzt aus ιερος für »heilig«, »einem Gott geweiht«, »göttlich« (vgl. Frisk: Griechisches Etymologisches Wörterbuch, Bd. 1, S. 712) und φαινειν für »sichtbar machen«, »ans Licht bringen« (vgl. Frisk: Griechisches Etymologisches Wörterbuch, Bd. 2, S. 982). 68 Schiller, Friedrich: Das verschleierte Bild zu Sais. In: Thalheim, Hans Günther (Hg.): Sämtliche Werke in zehn Bänden. Bd. 1, 2005, S. 250. 69 Ebd., S. 250. 70 Ebd., S. 250. 71 Ebd., S. 252.

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Die göttliche Wahrheit, so die Moral der Geschichte, ist dem Menschen auf Erden grundsätzlich entzogen und kann nur im Tod erfahren werden.72 Wie Böhme darlegt, ist die Verborgenheit Gottes im Sinne religiöser Vorstellungen daher auch weniger als ein Hindernis auf dem Weg zur Erkenntnis, sondern vielmehr als eine lebenserhaltende Maßnahme zu verstehen.73 Die enthüllte und unmittelbare Sichtbarkeit Gottes wirke sich vernichtend auf den Menschen aus. »Die Verhüllung«, so Böhme, »hat hier die schützende Funktion, Göttliches und Menschliches zu trennen, weil ihre Konfundierung zerstörerisch ist.«74 »Den nackten Gott und die nackte Wahrheit zu sehen«, so Böhme weiter, »[…] – das gehört zwar zum Kern des menschlichen Begehrungsvermögens, übersteigt jedoch das Maß dessen, was zu ertragen er vermag.«75 Noch einmal etwas deutlicher wird dies anhand der Sage von Diana und Aktaion, so wie sie Ovid in seinen Metamorphosen schildert. Die Sage beginnt damit, dass Aktaion auf der Jagd durch Zufall in eine Grotte gerät und dort die Göttin Diana beim Baden mit ihren Nymphen erblickt.76 Tizian hat diesen Moment in seinem Bild Diana und Aktaion festgehalten. Anders als Ovid fügt er der Szene jedoch noch einen Vorhang hinzu, den Aktaion begierig zur Seite schiebt (vgl. Abb. 10).

72 Schiller widmet sich diesem Thema auch in seiner Ballade Der Taucher aus dem Jahr 1797. Ein König wirft darin einen goldenen Becher ins Meer und fragt, wer mutig genug sei, diesen aus den unbekannten Tiefen des Meeres heraufzuholen. Wieder ist es ein ebenso wagemutiger wie leichtsinniger Jüngling, der diese Herausforderung annimmt. Der Jüngling springt ins tosende Meer hinab und taucht nach langer Zeit wieder auf. Er überreicht den Becher dem König und spricht: »Es freue sich,/Wer da atmet im rosichten Licht./Da unten aber ist’s fürchterlich,/Und der Mensch versuche die Götter nicht,/Und begehre nimmer und nimmer zu schauen,/Was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen.« (Schiller, Friedrich: Der Taucher. In: Thalheim, Hans Günther [Hg.]: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Bd. 1, 2005, S. 424) Der König missachtet aber diese Warnung. Er bittet den Jüngling noch einmal in die Tiefe hinabzutauchen und verspricht ihm dafür die Hand seiner Tochter: »Versuchst du’s noch einmal und bringst mir Kunde,/Was du sahst auf des Meeres tiefunterem Grunde?« (ebd., S. 425). Der Jüngling springt daraufhin erneut in die Tiefe des Meeres – taucht diesmal jedoch nicht wieder auf. Schillers Ballade spielt nicht nur erneut mit der Diskrepanz von menschlichem Erkenntnisstreben und tiefverborgener, göttlicher Wahrheit, sondern verdeutlicht zugleich die Nähe zwischen den dichotomen Verhältnissen von Hülle und Enthülltem sowie Oberfläche und Tiefe. 73 Vgl. Böhme: Enthüllen und Verhüllen des Körpers, S. 227-228. 74 Ebd., S. 228. Vgl. Dionysios, Areopagita: Die Hierarchien der Engel und der Kirche. Hg. von Hugo Ball, 1955, S. 100: »Denn es ist nicht möglich, daß der urgöttliche Strahl unmittelbar in uns hineinleuchte, anders als durch die bunte Fülle heiliger Umhüllungen verdeckt: doch diese sind in väterlicher Fürsorge unserer Fassungskraft naturgemäß angepaßt.« 75 Böhme: Enthüllen und Verhüllen des Körpers, S. 228. Vgl. Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 53: »[…] die Verhülltheit der Wahrheit scheint uns unser Lebenkönnen zu gewähren«. 76 Vgl. Ovidus Naso: Metamorphosen, S. 165-167.

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Abb. 10: Tizian, Diana und Aktaion

Tizian unterstreicht damit zwei Motive, die Aktaions Neugierde wesentlich zugrunde liegen und die in der Figur der nackten Göttin miteinander verschmelzen: zum einen das erotische Verlangen nach dem nackten Körper, zum anderen das epistemologische Verlangen nach der nackten Wahrheit. Dass zwischen beiden Motiven durchaus eine gewisse Nähe besteht, darauf weist bereits der Begriff »Philosophie« hin, der wörtlich übersetzt die »Liebe zur Weisheit« bedeutet. Darüber hinaus lässt sich – neben der verhüllten Isis-Statue oder der nackten Diana – eine ganze Reihe von Beschreibungen und Darstellungen ausmachen, die das Streben nach Erkenntnis als erotisch-amouröses Abenteuer charakterisieren. Als Beispiel lassen sich etwa die Skulpturen Die Natur enthüllt sich der Wissenschaft von Louis-Ernest Barrias (vgl Abb. 11) oder Antonio Corradinis Die verschleierte Wahrheit (vgl. Abb. 12) erwähnen. In beiden Fällen wird das Ziel unseres unstillbaren und begierigen Erkenntnisstrebens in der Gestalt eines verführerischen Körpers symbolisiert.77 77 Jener Vorstellung zufolge muss nicht nur der Körper seiner verschiedenen Umhüllungen entledigt werden, bevor er in seiner ganzen Blöße erscheinen kann. Auch unser Denken muss auf dem Weg zur »nackten Wahrheit« offensichtlich mehrere Hüllen und Schichten abstreifen. »An meinem Denken, wie an dem jedes Menschen hängen die verdorrten Hüllen meiner früheren (abgestorbenen) Gedanken.« (Wittgenstein: Wittgenstein’s Nachlass, MS 156a, 58v)

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Abb. 11: Louis-Ernest Barrias, Die Natur enthüllt sich der Wissenschaft Abb. 12: Antonio Corradini, Die verschleierte Wahrheit

Wie der Jüngling in Schillers Ballade Das verschleierte Bild zu Sais, so muss nun allerdings auch Aktaion für die Enthüllung der göttlichen Wahrheit mit dem Leben bezahlen. Wuterfüllt über Aktaions Schamlosigkeit, bespritzt Diana dessen Gesicht mit Wasser und ruft: »So, nun erzähle, du habest mich ohne Umhüllung gesehen,/Wenn du es noch zu erzählen vermagst!«78 Aktaion wird daraufhin in einen Hirsch verwandelt und ergreift vor lauter Schreck die Flucht. Dies weckt sogleich die Aufmerksamkeit seiner Jagdhunde, die dem aufgescheuchten Wild hinterherjagen. »Jener flieht«, so heißt es, »wo er oft verfolgender Jäger gewesen;/Ach! Er entflieht vor den eigenen Helfern!«79 Verzweifelt versucht sich Aktaion seinen Hunden gegenüber mitzuteilen, doch vergeblich: Aus seinem Mund ertönt nur das dumpfe Röhren des Hirsches. Aktaion wird so schließlich nach kurzer Jagd von

78 Ovidus Naso: Metamorphosen, S. 167. 79 Ebd., S. 171.

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seinen eigenen Hunden getötet, da sie ihn »in der falschen Gestalt«80 des Hirsches nicht erkannten.81 Die Wirklichkeit des Menschen, so scheint die Geschichte von Aktaion uns mitteilen zu wollen, ist fundamental verhüllt. Unsere gesamte Umwelt ist uns ein tiefverborgenes Rätsel, wie auch wir für unsere Mitmenschen (und häufig auch für uns selbst) wiederum ein Rätsel sind. Angesichts dieser totalen Verhüllung der menschlichen Wirklichkeit scheint jeder Versuch der Enthüllung, wenn nicht tödlich, so doch zumindest zwecklos.82 In Die fünf Sinne schreibt Michel Serres dazu: »Wir leben niemals vollkommen nackt, noch auch wirklich angezogen, niemals verhüllt, niemals enthüllt, genau wie die Welt. Das Gesetz zeigt sich stets zugleich mit einer ornamentalen Hülle. Geradeso, wie es bei den Phänomenen der Fall ist. Hüllen auf Hüllen, Häute auf Häuten, Mannigfaltigkeiten aus Impressionen.«83 In diesem Sinne – und hier endet unser Exkurs – erweist sich nun auch der Vorgang der Entblößung als ein unerfüllbares Unterfangen. Denn die totale Nacktheit, 80 Ebd., S. 173. 81 Vgl. Callimachos: Auf das Bad der Pallas. In: Asper, Markus (Hg.): Werke. 2004, S. 443: Eine weitere Figur der Antike, die eine nackte Gottheit erblickt und dafür bestraft wird, ist der in Kapitel 6.2 bereits erwähnte »blinde Seher« Teiresias. Wie der Dichter Callimachos in seiner Hymne Auf das Bad der Pallas beschreibt, erblickt Teiresias auf der Suche nach einer Quelle durch Zufall die Göttin Athene beim Baden: »Von geradezu unsäglichem Durst getrieben, kam er zum Quellwasser, der Unselige! Ohne es zu wollen, sah er, was man nicht sehen darf.« Wutentbrannt nimmt Athene daraufhin Teiresias das Augenlicht. Sie beruft sich dazu auf das Gesetz des Kronos, welches besage: »›Wer immer einen der Götter erblickt hat, wenn der Gott es nicht selbst gewählt hat, der soll es teuer bezahlen, diesen gesehen zu haben!‹«. 82 Das Wissen um die Unenthüllbarkeit der Welt und ihrer vermeintlichen Geheimnisse bildet schließlich die Grundlage für Nietzsches Oberflächenkonzept, welches in Kapitel 2 bereits erörtert wurde. In Anspielung auf Schillers Ballade Das verschleierte Bild zu Sais schreibt er: »[…] man wird uns schwerlich wieder auf den Pfaden jener ägyptischen Jünglinge finden, welche Nachts Tempel unsicher machen, Bildsäulen umarmen und durchaus Alles, was mit guten Gründen versteckt gehalten wird, entschleiern, aufdecken, in helles Licht stellen wollen. Nein, dieser schlechte Geschmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur ›Wahrheit um jeden Preis‹, dieser Jünglings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit – ist uns verleidet: dazu sind wir zu erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu tief … Wir glauben nicht mehr daran, dass die Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht, – wir haben genug gelebt, um dies zu glauben … Heute gilt es uns als eine Sache der Schicklichkeit, dass man nicht Alles nackt sehn, nicht bei Allem dabei sein, nicht Alles verstehn und »wissen« wolle. […] Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Räthsel und bunten Ungewissheiten versteckt hat. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu lassen? […] Oh diese Griechen! sie verstanden sich darauf zu leben! Dazu thut noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehn zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe!« (Nietzsche: Nietzsche contra Wagner, S. 299-300) 83 Serres: Die fünf Sinne, S. 41.

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die im Akt des Entblößens suggeriert wird, ist nur im Prozess der Entblößung real.84 Für den Betrachter geht die vollständige Entkleidung des Körpers daher meist mit Enttäuschung und Frustration einher. Die vormals verborgene Nacktheit erscheint ihm, im Vergleich zu den ausgeschmückten Bildern seiner Phantasie, plötzlich ärmlich und banal. Der Betrachter hatte die Offenbarung einer gänzlich unverhüllten Blöße und wahrhaftigen Nacktheit erhofft und sieht doch nichts weiter als nackte Haut. Federico Ferrari und Jean-Luc Nancy beschreiben diesen Moment wie folgt: »Die Wahrheit auf der Haut ist jene Wahrheit, die einzig in der Selbst-Ausstellung wahr ist: Angebot ohne Rückhalt, ohne Enthüllung. Denn der Akt enthüllt bloß, daß es nichts zu enthüllen gibt, er ist die Enthüllung selbst, das Enthüllende und das Enthüllbare. Der Akt ist so instabil und flüchtig: er scheint an der hauchdünnen Oberfläche der Haut auf, nur für den kurzen Augenblick der Entblößungsgeste.«85 In Hans Henny Jahnns Drama Pastor Ephraim Magnus wird die Figur Jakob durch diesen Umstand derart in Rage getrieben, dass er auf bestialische Weise eine Prostituierte ermordet, »[…] um zu sehen, was darinnen sei«.86 »Zuletzt«, so gesteht Jakob vor Gericht, »schälte ich die Haut vom Antlitz, weil ich meinte, es müsse ein Gesicht hinter diesem Prospekt verborgen sein; aber ich fand nur rohes, blutiges Fleisch.«87 Entsprechend zählt es nun auch zu den wichtigsten Aufgaben jeder Verführung, die vollständige Entkleidung des Körpers so lange wie möglich hinauszuzögern, um die Erwartungen des Betrachters nicht zu zerstören. Je weiter die Entklei84 Vgl. Han: Transparenzgesellschaft, S. 30: »Nicht nur der Raum des Heiligen, sondern auch der des Begehrens ist nicht transparent.« 85 Ferrari, Federico; Nancy, Jean-Luc: Die Haut der Bilder. 2006, S. 8. Vgl. Han: Transparenzgesellschaft, S. 43. Byung-Chul Han unterscheidet daher zwischen geheimnisloser Pornografie und geheimnisvoller Erotik: »Die Positivität der Ausstellung der hüllenlosen Nacktheit ist pornografisch. Ihr fehlt der erotische Glanz. Der pornografische Körper ist glatt. […] Das Erotische setzt ferner die Negativität des Geheimnisses und der Verborgenheit voraus. Es gibt keine Erotik der Transparenz. Gerade da, wo das Geheimnis zugunsten totaler Ausstellung und Entblößung verschwindet, beginnt die Pornografie.« 86 Jahnn, Hans Henny: Pastor Ephraim Magnus. In: Muschg, Walter (Hg.): Dramen. Bd. 1, 1963, S. 109. 87 Ebd., S. 112. Zu seiner Verteidigung bringt Jakob vor: »Wenn man aber nach Idealen suchte und sie nicht finden konnte, wenn man Lust fühlt und gewöhnliche Befriedigung nicht mag, dann beginnt man auf die Form der Dinge zu achten. Man muß einen Menschen durchwühlen, ob man auf etwas in ihm stößt. – Dieses nur habe ich getan, und es war mein Recht; ich nahm es mir, wie Lionardo da Vinci sich’s nahm oder dieser oder jener außerdem, denn ich glaubte ursprünglich an die Wonne und an die Geheimnisse aller Dinge. Ich hatte das große Recht, restlos enttäuscht und ernüchtert zu werden, den anderen gleich.« (Ebd., S. 111)

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dung voranschreitet, desto eher besteht die Gefahr, dass die anfängliche Euphorie des Betrachters in Desillusionierung umschlägt. Der Augenblick der vollständigen Enthüllung muss zwar permanent in Aussicht gestellt, letztlich aber doch immer wieder aufgeschoben werden. Der Akt der Verführung ist somit als ein Prozess des ständigen Ver- und Enthüllens zu verstehen, der mit den Erwartungen des Betrachters spielt und doch nie zu einem definitiven Ende gelangt. »Die Verführung«, so beschreibt es Jean Baudrillard, »[…] ist die Eklipse einer Anwesenheit. Ihre einzige Strategie ist: da sein/nicht da sein, um damit für eine Art kurzes Aufblinken zu sorgen.«88 Roland Barthes verdeutlicht diesen Effekt anhand des Striptease: jenem erotischen Schauspiel also, bei dem die Tänzerinnen oder Tänzer – so zumindest das Versprechen – sprichwörtlich »alle Hüllen fallen lassen«. In seinen 1957 veröffentlichten Mythen des Alltags beschreibt Barthes den Striptease dagegen als eine ritualisierte Inszenierung, bei der es mehr um die Geste der Entblößung als um die Zurschaustellung von Nacktheit geht. Demnach ist es das eigentliche Ziel des Striptease, im Entkleiden des Körpers die Illusion einer vollständigen Entblößung heraufzubeschwören und dadurch gleichzeitig zu bannen.89 Die Körper der Stripteasetänzerinnen würden dazu derart effektvoll in verschiedene Kleidungsstücke und Accessoires gehüllt, dass diese – auch im Zustand völliger Nacktheit – noch angezogen wirkten. »Denn«, so Barthes, »es ist ein offenkundiges Gesetz, daß die ganze Stripteasevorführung den Charakter der anfänglichen Kostümierung behält.«90 Als Mittel zur Verhüllung stünden den Tänzerinnen diverse Utensilien wie Palmwedel, Federn, Fächer, Handschuhe, Pelze, Netzstrümpfe oder Felle zur Verfügung.91 »Es gibt […]«, so fasst Barthes zusammen, »beim Striptease eine ganze Reihe von Hüllen, die in dem Maße um den Körper der Frau gelegt werden, in dem man ihn vermeintlich enthüllt.«92 Im langsamen und immer wieder hinausgezögerten Entkleiden des Körpers wird nun beim Betrachter die Hoffnung auf den Moment der vollständigen Entblößung geweckt und erotische Spannung aufgebaut. Die einzelnen Kleidungsstücke und Accessoires gewinnen dabei zunehmend an Bedeutung und werden vom Betrachter schließlich fetischisiert. Sie dienen ihm als Anzeichen und Ersatz für

88 Baudrillard, Jean: Von der Verführung. 1992, S. 118-119. 89 Vgl. Barthes, Roland: Striptease. In: Ders.: Mythen des Alltags. 2010, S. 191: »Ein paar Atome Erotik, von den Umständen des Spektakels zu solchen bestimmt, werden in Wirklichkeit von einem ruhigstellenden Ritual absorbiert, das das Fleisch ebenso sicher abtötet, wie der Impfstoff oder das Tabu die Krankheit oder Laster fixieren und eindämmen.« 90 Ebd., S. 192. 91 Vgl. ebd., S. 192. 92 Ebd., S. 191.

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die verborgene Nacktheit und werden zum eigentlichen Ziel seines Interesses.93 Was nunmehr zählt, ist allein die Geste der Entblößung; der Prozess selbst kommt dabei zum Erliegen. Sigmund Freud bestimmt dies in seinem 1927 veröffentlichten Aufsatz zum Fetischismus als einen entscheidenden Effekt von Fetischobjekten. »Die […] zum Fetisch erkorenen Wäschestücke«, so schreibt er, »halten den Moment der Entkleidung fest.«94 In diesem Sinne werden nun auch beim Striptease die verschiedenen Utensilien und Kleidungsstücke dazu verwendet, den Akt der Entblößung zu domestizieren und in eine leere Geste zu verwandeln.95 Sie, so beschreibt es Roland Barthes, zielen bereits »von vornherein darauf ab, die Frau zu einem verkleideten Objekt zu machen.«96 Eingehüllt in exotische Kostüme, wie das eines katzenhaften Vamps oder einer venezianischen Aristokratin, würden die Körper der Tänzerinnen ins Reich der Phantasie gerückt und damit vollständig entsexualisiert. »Der Striptease«, so Barthes, »beruht auf einem Widerspruch: die Frau in dem Augenblick zu desexualisieren, in dem man sie entkleidet.«97 Was beim Striptease an Nacktheit zum Vorschein käme, wirke daher »unwirklich, glatt und verschlossen wie ein schön polierter Gegenstand, der gerade durch seine Extravaganz dem menschlichen Gebrauch entzogen ist«.98 Friedrich Kittler wiederum verdeutlicht diesen Effekt anhand einer Szene aus Josef von Sternbergs Film Der Blaue Engel. In seinem postum veröffentlichten Essay Mode/Ausziehbarkeit schreibt Kittler: »Man denke an Marlene Dietrich im Blauen Engel. Das Herunterrollen des Strumpfes, den man, während er das Bein umhüllte, kaum wahrzunehmen vermochte, ist das wahrhaft transzendentale Ideal des Ein-Nichts-Ausziehens. Dass mit dem Strumpf nichts ausgezogen ist, der Strumpf aber die Farbe und das Wesen von Haut hat und in Wahrheit somit eine Schicht Haut ausgezogen ist, suggeriert, dass, wie bei einer Zwiebel, noch unendlich viele Häute auszuziehen und ausziehbar sind, bevor das (so unauffindliche wie nichtige) Wesen enthüllt werden kann.«99 93 Vgl. Hauer: Erotik der Kleidung, S. 14: »Fast immer ist der Fetischismus der Körperteile mit einem Fetischismus der Kleidungsstücke verbunden, denn er ist, wie das körperliche Schamgefühl, nur ein Produkt der Kleidung.« 94 Freud, Sigmund: Fetischismus. In: Freud, Anna (Hg.): Gesammelte Werke. Bd. 14. 1968, S. 315. 95 Vgl. Barthes: Striptease, S. 191: »Nur die Dauer des Entkleidens macht das Publikum zum Voyeur; doch wie bei jedem anderen mystifizierenden Schauspiel wird die ursprünglich beabsichtigte Provokation von der Bühnendekoration, den Requisiten und den Klischees durchkreuzt und schließlich in die Bedeutungslosigkeit gezogen.« 96 Ebd., S. 192. 97 Ebd., S. 191. 98 Ebd., S. 192. 99 Kittler: Mode/Ausziehbarkeit, S. 103.

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Wie die Geste der Entkleidung, so dienen laut Barthes auch die aufreizenden Bewegungen und der laszive Tanz des Striptease keinem erotischen Zweck, sondern sind ebenfalls als kalkulierte Strategien der Verführung zu begreifen. Ihre Aufgabe sei es, die ritualisierte Inszenierung vor der Erstarrung zu bewahren und den nackten Körper hinter hohlen und klischeehaften Bewegungen zu verstecken.100 »Der Tanz aus rituellen, tausendmal gesehenen Gesten«, so schreibt Barthes, »wirkt wie eine kosmetische Hülle aus Bewegungen, er verbirgt die Nacktheit, verbirgt das Schauspiel unter einer Lasur unnützer und trotzdem wichtiger Gebärden.«101 Die Verführung, so wird am Beispiel des Striptease noch einmal deutlich, ist eine wohlkalkulierte Technik, die mit der Illusion der Blöße spielt, um das Begehren ihrer Betrachter zu wecken. Im abwechselnden Ver- und Enthüllen des Körpers wird dabei die Verheißung entblößter Nacktheit ständig heraufbeschworen und doch niemals eingelöst.102 Schließlich verliert die Nacktheit an verführerischer Kraft, sobald das letzte Kleidungsstück fällt. Karl Hauer schreibt hierzu: »Die heilige Moral predigt das Gewand, und die unheiligste Lüsternheit guckt erst recht aus ihm hervor. ›Mehr Verhüllung!‹ schreit der Moralanwalt. ›Und ich mache aus jeder Hülle eine doppelt verführerische Blöße‹, kichert der Geist der Erotik.«103 Hauer zufolge wussten dies u.a. auch Illustratoren wie Félicien Rops und Aubrey Beardsley, die in ihren erotischen Zeichnungen Nacktheit meist leicht bekleidet darstellen. »Beardsley«, so schreibt Hauer, »hüllte die Sünde, die er zeichnete in durchschimmernde Gewänder […]. Denn er wußte, daß die Kleidung nackter ist als die Nacktheit, und daß wir hinter einem Schleier mehr sehen als im Unverhüllten.«104 Deutlich wird dies nicht zuletzt auch anhand der buchstäblichen »Haut«- bzw. »Körperkleider« der italienischen Künstlerin Alba D’Urbano. D’Urbano hat diese Kleider Mitte der 1990er Jahre im Rahmen ihre Projekte Hautnah und Il sarto im-

100 Vgl. Barthes: Striptease, S. 193: »Das schwach rhythmisierte Wiegen beschwört hier die Angst vor der Unbeweglichkeit.« 101 Ebd., S. 193. 102 Vgl. ebd., S. 193: »So sieht man, wie sich die professionellen Stripteasetänzerinnen in eine wunderbare Leichtigkeit hüllen, die sie unaufhörlich bekleidet, sie entrückt, ihnen die eisige Gleichgültigkeit raffinierter Praktikerinnen verleiht, die sich hochmütig in die Sicherheit ihrer Technik zurückziehen: Ihr Wissen kleidet sie wie ein Gewand.« Vgl. Agamben: Nacktheiten, S. 111: »Insofern ist der Striptease, also die Unmöglichkeit der Nacktheit, das Paradigma unserer Beziehung zu ihr. Als Ereignis, das nie zur Vollendung kommt, als Form, die sich in ihrem Geschehen nicht ganz erfassen lässt, ist die Nacktheit buchstäblich unendlich, hört niemals auf, sich zu ereignen.« 103 Hauer: Erotik der Kleidung, S. 16. 104 Ebd., S. 17.

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mortale (»Der unsterbliche Schneider«) angefertigt.105 Hierfür hat sie Fotografien ihres nackten Körpers digital bearbeitet, auf Stoff gedruckt und zu Kleidern, Blusen, Overalls oder Mänteln geschneidert (vgl. Abb. 13).

 

Abb. 13: Alba D’Urbano, Il sarto immortale

D’Urbano setzt sich in diesen Arbeiten in erster Linie mit dem grassierenden Körperkult der 1990er Jahre und den normativen Geschlechts- und Körperbildern auseinander, die durch die Werbe- und Modeindustrie erzeugt und propagiert werden.106 105 Vgl. Pape, Cora von: Kunstkleider. Die Präsenz des Körpers in textilen Kunst-Objekten des 20. Jahrhunderts. 2008, S. 121-123. 106 Vgl. Ebd., S. 121-123.

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Auf einer anderen Ebene thematisiert sie damit aber auch das Verhältnis von Kleidung und Nacktheit sowie das von Außen und Innen und führt uns erneut die Grenzenlosigkeit des verdächtigenden Blicks vor Augen. Auffällig an ihren Kleidern ist zunächst, dass das eigentlich Verhüllte nicht länger verborgen, sondern unmittelbar auf der Oberfläche präsentiert wird. D’Urbano durchkreuzt damit die vertraute Dialektik von Sichtbarkeit und Verborgenem. Zwar sind die Körper de facto noch bekleidet, doch kehren die textilen Oberflächen hier ihr Inneres nach Außen und sind – in einem übertragenen Sinne – transparent. Unseren Augen erscheint diese »angezogene Nacktheit« jedoch zweifelhaft. Denn indem die Oberflächen zeigen, was sie sonst eigentlich verbergen, bestätigen sie nur den Verdacht, dass sie etwas verbergen. Wir sehen, was wir üblicherweise nicht zu sehen bekommen, und wollen schließlich »mehr« sehen. Ganz im Sinne von Karl Hauer ist Nacktheit für uns somit offensichtlich nur als entblößte Nacktheit real. Anstatt die Verdächtigkeit der Oberfläche also einzudämmen oder gar zu beenden, verstärken D’Urbanos Kleider geradezu den Verdacht einer fundamental verhüllten Existenz. Oberfläche und Tiefe, Bekleidung und Nacktheit, Hülle und Verhülltes, so zeigt sich hier einmal mehr, verweisen stets wechselseitig aufeinander. Folgt man Walter Benjamin, so liegt in der dialektischen Einheit von Hülle und Verhülltem nicht zuletzt auch das Geheimnis der Schönheit, welche bekanntlich ebenfalls einen verführerischen Eindruck auf uns machen kann. »Denn weder die Hülle noch der verhüllte Gegenstand ist das Schöne, sondern dies ist der Gegenstand in seiner Hülle. Enthüllt aber würde er unendlich unscheinbar sich erweisen. Hier gründet die uralte Anschauung, daß in der Enthüllung das Verhüllte sich verwandelt, daß es ›sich selbst gleich‹ nur unter der Verhüllung bleiben wird. Also wird allem Schönen gegenüber die Idee der Enthüllung zu der der Unenthüllbarkeit.«107 Für Benjamin beschränkt sich die Idee der Unenthüllbarkeit jedoch ausschließlich auf das Schöne.108 Gert Mattenklott dagegen erklärt die Unenthüllbarkeit zu einem 107 Benjamin, Walter: Goethes Wahlverwandschaften. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1. 1977, S. 130. 108 Vgl. ebd., S. 130: »Weil nur das Schöne und außer ihm nichts verhüllend und verhüllt wesentlich zu sein vermag, liegt im Geheimnis der göttliche Seinsgrund der Schönheit. So ist denn der Schein in ihr eben dies: nicht die überflüssige Verhüllung zu Zeiten, wie denn göttlich bedingt ist, daß, zur Unzeit enthüllt, in nichts jenes Unscheinbare sich verflüchtigt, womit Offenbarung die Geheimnisse ablöst.« Der nackte Körper ist nach Auffassung Benjamins nicht als eine weitere Form der Verhüllung zu begreifen, sondern als Ausdruck des Erhabenen: »Um in jener Einheit willen, die Hülle und Verhülltes in ihr [der Schönheit; C.R.] bilden, kann sie wesentlich da allein gelten, wo die Zweiheit von Nacktheit und Verhüllung noch nicht besteht: in der Kunst und in den Erscheinungen der bloßen Natur. Je deutlicher hingegen diese Zweiheit sich ausspricht, um zuletzt im Menschen sich aufs höchste zu bekräftigen, desto mehr wird es klar: in der hüllenlosen Nacktheit ist das wesentlich Schöne gewichen und im nackten

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Phänomen des menschlichen Daseins schlechthin. So strebe der Mensch unablässig danach, die Oberfläche der Dinge zu überwinden, während diese letztlich doch das eigentliche Objekt seines Interesses sei: »Eine Hülle nach der anderen legt sich um den nackten Körper, und doch haben wir den Eindruck, daß wir der Wahrheit über diesen hier immer näher kommen. Je weiter diese Hüllen werden: die Kleidung, die Wohnung, die Familie, die Stadt, desto tiefer blicken wir ins Leben. Wir ahnen die verflossene Zeit, indem wir die Spuren auf den verschiedenen Lebensschalen lesen: einer modischen der Kleidung, die alltäglichen umhüllenden einer Wohnung oder des sozialen Milieus einer Familie und womöglich gar des kulturellen und geschichtlichen noch weiterer Räume oder Zeiten. Einerseits wollen wir die Wahrheit aus ihren Verkleidungen schälen, und andererseits stellen wir fest, daß wir sie reicher entfaltet auf der obersten Oberfläche und der äußersten Außenhaut buchstabieren können. Wir suchen sie innen und finden sie außen.«109 Jede Hülle, so betont es Mattenklott, weckt in uns den Verdacht einer verborgenen, aber wahrhaftigen Blöße, die es zu enthüllen gilt. Die Blöße, die die Hülle suggeriert, ist aber – wie gesagt – nur ein Verdacht, der sich nicht beweisen lässt. Entsprechend wird mit jeder Enthüllung nicht die Blöße, sondern nur eine weitere Hülle aufgedeckt, die ihrerseits wieder zu Verdächtigungen Anlass gibt. »Je mehr man enthüllt, d.h. aufdeckt«, so schreibt Susanne Stemmler, »desto mehr verhüllt sich der Gegenstand; das Enthüllen wird selbst zu einer verborgenen Tätigkeit.«110 Die Akte des Ver- und Enthüllens sind demzufolge nicht als Gegensätze zu begreifen, sondern stellen vielmehr zwei Prozesse dar, die sich wechselseitig ergänzen und zu keinem definitiven Ende gelangen.111 Sie sind essentielle Bestandteile eines Verführungsspiels, das an der Oberfläche beginnt und über Umwege zu dieser zurückführt.

Körper des Menschen ist ein Sein über aller Schönheit erreicht – das Erhabene, und ein Werk über allen Gebilden – das des Schöpfers.« (ebd., S. 130-131) 109 Mattenklott: Der übersinnliche Leib, S. 15. 110 Stemmler: Topgrafien des Blicks, S. 100. 111 Vgl. Baudrillard, Jean: Das Andere selbst. 1987, S. 59: »Die Besessenheit, die Wahrheit zu enthüllen, zur nackten Wahrheit vorzustoßen, […] die obszöne Besessenheit, das Geheimnis zu lüften, steht in genauer Entsprechung zur Unmöglichkeit, jemals dorthin vorzustoßen. Je mehr man sich ihr annähert, desto mehr zieht sich die Wahrheit auf einen Nullpunkt zurück, und desto stärker wird die Besessenheit, dahin zu gelangen. Aber diese Besessenheit zeugt nur von der Ewigkeit der Verführung und ihrer Unfähigkeit, ans Ziel zu gelangen.«

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Die dekorativen Hüllen der Kleidermode. Zur Semiotik des Schmucks

Neben ihrer Verwendung als Schutz und Mittel zur Inszenierung soll nun noch eine weitere, dritte Verwendungsform von Kleidung thematisiert werden. Kleidung, so wird zu zeigen sein, dient dazu, dem Äußeren eines Menschen eine ästhetisch reizvolle Gestalt zu geben, und zudem als Schmuck zur Verzierung des Körpers. »Der wesentliche Zweck des Schmückens«, so schreibt John Flügel, »besteht darin, den Körper zu verschönern, um die bewundernden Blicke anderer Menschen auf sich zu ziehen«.112 Seiner Auffassung nach spielen dekorative Aspekte bereits zu Beginn der Bekleidungsgeschichte eine zentrale Rolle.113 Flügel weist in diesem Zusammenhang u.a. auf steinzeitliche Jagdtrophäen aus Hörnern und Geweihen sowie Tierfellen und -häuten hin, die in Form von Kopfbedeckungen oder als Umhänge am Körper getragen wurden. Als Zeichen der Anerkennung für den Mut und die Tapferkeit des Jägers hätten sie den Körper des Einzelnen geschmückt und ihm zugleich eine gehobene Position innerhalb einer Gemeinschaft oder Gruppe gesichert.114 Je stärker sich dann in den frühen Hochkulturen gesellschaftliche Rangsysteme ausdifferenziert hätten, umso stärker hätten sich auch die Möglichkeiten zur Bekleidung und Verzierung des Körpers gemehrt. Ein komplexes System aus unterschiedlichen Kleidungsformen begann sich zu entwickeln, bei dem bestimmte Stoffe, Farben, Formen und Ornamente den Personen einzelner Stände vorbehalten waren.115 Vor allem die Personen höherer Stände konnten sich in besonders opulente und reich verzierte Gewänder kleiden. Wie schon in der Steinzeit diente Kleidung auch hier nicht nur einem dekorativen, sondern auch einem repräsentativen Zweck. Die mit Diamanten, Edelsteinen oder Gold geschmückten Kleidungsstücke sollten ihren Trägern ein imposantes Äußeres verleihen und ihren sozialen Rang symbolisch bekräftigen.116 Insofern die Verschiebung in einen symbolischen Raum immer einer artifiziellen Herangehensweise gleichkommt, lässt sich das Schmücken und Verzieren deshalb auch als eine Art der Inszenierung begreifen. Anders als beim Akt des Verund Enthüllens geht es hierbei jedoch weniger um das erotische wie räumliche Spannungsverhältnis von äußerer Bekleidung und verborgener Nacktheit. Bei der Verzierung geht es vielmehr um die Hüllen der Kleidung selbst, d.h. um ihren Stoff, 112 Flügel: Psychologie der Kleidung, S. 212. 113 Vgl. ebd., S. 219. 114 Vgl. u.a. auch Petraschek-Heim: Die Sprache der Kleidung, S. 47: »Mit dem Anlegen des Gewandes will sich der Mensch nicht nur schützen und schmücken. Es dient auch zur Befriedigung des Selbsterhaltungstriebes innerhalb einer Gemeinschaft.« 115 Vgl. Flügel: Psychologie der Kleidung, S. 221. 116 Vgl. ebd., S. 222.

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ihre Farben, ihre Muster – kurzum: um ihre Oberflächen.117 Die Oberflächen der Bekleidung, so wurde bereits angedeutet, sind stets eingebettet in gesellschaftliche Differenzierungsprozesse und übernehmen dabei semiotische Funktionen. Ihre dekorativen Elemente fungieren als Zeichen bzw. Codes, die Sinnbezüge herstellen sollen. Durch die Art und Weise, wie wir uns kleiden und jene Zeichen miteinander kombinieren, können wir wahlweise unsere persönlichen Interessen und Vorlieben zum Ausdruck bringen, Gefühlszustände kommunizieren oder unsere Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe kenntlich machen. Insbesondere die Mode mit ihrer Vielzahl an Kleidungsstilen erweist sich dabei als überaus hilfreich. Sie stellt uns einen Fundus an ständig wechselnden Kleidungsangeboten zur Verfügung, aus dem wir immer wieder schöpfen und uns nach Belieben inszenieren können. Mode und Kleidung sind zwei verwandte Phänomene, die jedoch nicht ohne weiteres miteinander gleichgesetzt werden dürfen. Kleidung stellt in erster Linie ein funktionales Mittel dar um unseren Körper zu verhüllen oder zu bedecken. Mode beschreibt dagegen ein zivilisatorisches Phänomen, das von Flüchtigkeit und periodischen Wechseln geprägt ist.118 Sie lässt sich als eine Strömung oder Tendenz definieren, die eine Gesellschaft oder Gruppe über einen gewissen Zeitraum hinweg favorisiert.119 Im unablässigen Zyklus von Werden und Vergehen bringt die Mode kontinuierlich Produkte, Auffassungen oder Lebens- und Verhaltensweisen hervor, die als neu und aktuell wahrgenommen werden.120 Da die Mode ihren Anfang jedoch im Bereich der Kleidung nimmt, wird der Begriff »Mode« häufig synonym verwendet, um eine Kleidungsart zu bezeichnen, die »mit der Mode« geht bzw. der neuesten Mode entspricht. Mode kommt – wie gesagt – aber nicht nur im Kleidungswesen zum Vorschein. Wir begegnen Moden ebenso in anderen Bereichen wie z.B. der Wirtschaft, dem Sport, in Kunst und Kultur sowie in Wissenschaft und Forschung.121 Es gibt Literaturmoden, Theoriemoden, Theatermoden, Modesportarten, Modedrogen, Modewörter und sogar Modehunde. Bevor nun im Folgenden die schmückende Funktion und Zeichenhaftigkeit von Kleidung im Allgemeinen sowie Kleidermode im Speziellen beschrieben werden 117 Vgl. Petraschek-Heim: Die Sprache der Kleidung, S. 47: »Es muß bei der Kleidung die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Reizwirkung gemacht werden. Die primäre Reizwirkung beruht auf bewußter Gestaltung der Geschlechtsanziehung, während die sekundäre als Folge der ästhetischen Formung der Kleidung, gewissermaßen als Nebenerscheinung, auftritt.« 118 Vgl. Lehnert, Gertrud: Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis. 2013, S. 16. 119 Vgl. Haberler, Veronika: Mode(n) als Zeitindikator. Die Kreation von textilen Modeprodukten. 2012, S. 24. 120 Vgl. ebd., S. 25. 121 Vgl. ebd., S. 24.

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kann, gilt es daher zunächst das Phänomen Mode genauer zu erläutern. Dazu soll die Geschichte der Mode in groben Zügen nachgezeichnet und ihr Einfluss auf das Kleidungswesen verdeutlicht werden. Zwei Thesen stehen dabei im Vordergrund: Einerseits ist Mode ein komplexes sozioökonomisches System, das von kontinuierlichen Wechseln geprägt ist und im Bereich der Kleidung ein bis dahin unbekanntes Angebot an verschiedenen »Looks« und Stilen hervorbringt. Andererseits steigt mit dem wachsenden Angebot an Kleidungsstilen zugleich die Möglichkeiten der Kombination und Sinnverknüpfung, so dass die Mode im Laufe der Zeit zu jenem komplexen Zeichensystem heranwächst, als welches wir sie heute kennen. Kleidermode, so soll deutlich werden, gibt uns die Möglichkeit, unseren Körper auf mannigfaltige Weise zu umhüllen und zu schmücken und ihn durch die Kombination modischer Zeichen in eine ästhetisch-dekorative Oberfläche zu verwandeln. Wie die Soziologin Elena Esposito in Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden: Paradoxien der Mode erläutert, geht der Begriff »Mode« etymologisch auf das lateinische Substantiv modus zurück. Modus lässt sich mit »Art und Weise« übersetzen und bezeichnet laut Esposito die Seinsweise von etwas.122 Kennzeichnend für den modus, sei vor allem sein nebensächlicher Charakter: So handle es sich beim Modus nicht um eine Wesenheit, sondern vielmehr um eine Seinsweise, die auf etwas anderes verweise.123 Modus sei keine primäre, sondern eine sekundäre, mithin veränderliche und wandelbare Eigenschaft des Seins.124 Seiner etymologischen Herkunft entsprechend, sei daher nun auch unter dem Begriff der »Mode« ein Phänomen des Wandels und der Kontingenz zu verstehen.125 Im Kleidungswesen kommt dies besonders deutlich zum Ausdruck. Denn wie uns Elena Esposito oder auch die Literaturwissenschaftlerin Gertrud Lehnert nahelegen, beginnt sich hier mit dem Entstehen der Mode ein überaus spielerischer und erfindungsreicher Umgang mit Kleidung zu entwickeln. Waren Kleider in erster Linie von ihrer Funktionalität bestimmt, so wird mit der Kleidermode erstmals eine bestimmte Art des Ver-Kleidens möglich.126 Schließlich sorgt die Mode im Kleidungswesen nicht nur für ein wachsendes Angebot an verschiedenen Kleidungsarten, sondern sie erhöht zugleich die Möglichkeiten der Kombination. Der Mensch kann nun aus einem Fundus von ständig wechselnden Kleidungsstilen wählen und sich seinen Vorstellungen entsprechend kleiden. Mehr noch als Kleidung ist Kleidermode somit auch ein Phänomen der Individuation und Selbstdarstellung. Durch die Art und Weise, wie wir Kleidungsstücke miteinander kombinie122 Vgl. Esposito, Elena: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden. Paradoxien der Mode. 2004, S. 53. 123 Vgl. ebd., S. 53. 124 Vgl. ebd., S. 53. 125 Vgl. ebd., S. 53. 126 Vgl. Lehnert: Mode, S. 19: »Mode im Sinne unseres Umgangs mit Kleidung ist Vollzug, Inszenierung, Spiel, theatrales Ereignis.«

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ren und tragen, machen wir heute weniger unsere soziale Rolle kenntlich, sondern bringen vielmehr unsere individuellen Ansichten zum Ausdruck. Im divergenten Umgang mit Kleidung können wir in verschiedenerlei Rollen schlüpfen und auf spielerische Art und Weise mit diversen Identitätskonzepten experimentieren. Wie alle Differenzierungen zwischen Kleidung und Kleidermode, so erweist sich allerdings auch diese in letzter Konsequenz als nicht ganz stichhaltig.127 Die Bestimmung der Kleidermode als ein Phänomen der Individuation scheint gerade dann fraglich, wenn wir an die Uniformität erzeugenden Modetrends des 20. Jahrhunderts denken. Auch wenn modische Inszenierungsweisen vom Versprechen nach Individuation getragen sind, finden sie doch weitgehend im Rahmen eines kollektiven Warenangebots statt.128 Wer sich also individuell kleiden möchte, sieht sich paradoxerweise dazu gezwungen, auf einen bestehenden Vorrat von modischen Zeichen zurückzugreifen.129 Gleichzeitig gewinnen modische Kleidungsweisen aber gerade erst durch dieses Spannungsverhältnis von Individuation und Kollektivierung ihren besonderen Reiz. »Das Individuum«, so schreibt Elena Esposito, »folgt der Mode, um die eigene Einzigartigkeit durchzusetzen und unter Beweis zu stellen, und es tut dies, indem es sich nach einer allgemeinen Tendenz ausrichtet.«130 »Das Individum«, so Esposito weiter, »macht […], was die anderen machen, um anders zu sein.«131 Die Herausforderung modischer Inszenierungsweisen besteht dementsprechend darin, durch die individuelle Kombination verschiedener Kleidungsstücke einen eigenen Stil zu kreieren. »In diesem Willen des Individuums, sich durch formale Änderungen bei der Kleidung vom anderen zu unterscheiden, ihm damit als Persönlichkeit überlegen zu sein«, so schreibt die Kunsthistorikerin Ingeborg Petraschek-Heim, »liegt ein Antriebsmoment der Mode.«132 Wann sich Kleidung und Kleidermode zu differenzieren begannen lässt sich nur schwer bestimmen. Nach Auffassung Lehnerts lässt sich von einem Beginn der Kleidermode frühestens ab dem 14. Jahrhundert sprechen, als sich Aristokratie und später auch das Bürgertum nicht mehr nur ständisch kleideten, sondern 127 Vgl. Petraschek-Heim: Die Sprache der Kleidung, S. 23: »Durch die verschiedenartigen Ausdrucksmöglichkeiten des Wortes Mode ist es kaum durchführbar eine kurze präzise Definition davon zu geben.« 128 Vgl. Böhme, Gernot: Schminken – die Person zwischen Natur und Maske. In: Janecke, Christian (Hg.): Gesichter auftragen. Argumente zum Schminken. 2006, S. 54. 129 Vgl. ebd., S. 56: »Jeder Signifikat, den man einsetzt, um seine Individualität zum Ausdruck zu bringen, jeder Lidstrich, jedes Kleidungs-, jedes Schmuckstück, ist als solches natürlich noch allgemein.« 130 Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden, S. 13. 131 Ebd., S. 13. 132 Petraschek-Heim: Die Sprache der Kleidung, S. 34; Vgl. auch ebd., S. 29: »Das Individuum richtet sich als Glied der Gesellschaft nach der Ordnung, in diesem Fall nach der Mode, und wiederum ist es zu ihrer Entstehung notwendig. Das Individuum ist Subjekt und Objekt zugleich.«

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sich allmählich auch als Individuen kenntlich machten.133 Esposito zufolge musste das Kleidungswesen jedoch zunächst noch eine Epoche gesteigerter Künstlichkeit durchlaufen, um das spielerische Potential der Kleidermode erst entfalten zu können. Als entscheidendes Zeitalter gibt sie dafür die Epoche des Barock an.134 Mit dem Barock entstand zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Bereichen wie Literatur, Malerei und Architektur eine Stilrichtung, die nach vollkommener Künstlichkeit strebte und alles »Natürliche« ablehnte.135 Durch prunkvolle und reichverzierte Darstellungen hoffte man einen Reichtum an Verweisen hervorrufen zu können, der die vermeintliche Wirklichkeit überragen und schließlich ins Wanken bringen sollte.136 Wie Esposito verdeutlicht, beschränkte sich die barocke Lust am Theatralen jedoch nicht nur auf die Bereiche von Literatur, Malerei und Architektur, sondern ging ebenfalls auf das Feld der Kleidung über.137 Zu den Ausdrucksmedien des Barockstils zählten nun auch Kleidermoden wie Korsetts, Reifröcke, Rüschen, Halskrausen, geschlitzte Ärmel und Schleifen. Sie dienten den Angehörigen der höheren Stände dazu, sich bei höfischen Anlässen möglichst kunstvoll zu präsentieren und ihre Individualität ostentativ zur Schau zu stellen.138 Zu Beginn des Barocks war dieser spielerische Umgang mit Kleidung zunächst noch ein Phänomen, das bei Frauen und Männern gleichermaßen zu beobachten war. Als Erklärung mag hierfür das »Ein-Geschlecht-Modell« dienen, das der Kulturhistoriker Thomas Laqueur in seinem Buch Auf den Leib geschrieben beschreibt.139 Laqueur zufolge ging man bis ins 17. Jahrhundert davon aus, dass die Geschlechtsteile von 133 Vgl. Lehnert, Gertrud: Mode, Weiblichkeit und Modernität. In: Dies. (Hg.): Mode, Weiblichkeit und Modernität. 1998, S. 7. 134 Vgl. Esposito: Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden, S. 54-55. 135 Vgl. ebd., S. 56: »Hier nimmt ein beinahe wildes Experimentieren mit den verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten reinen Scheins seinen Lauf, der den Eindruck von Oberflächlichkeit vermitteln kann und über die gesamte Epoche des Barock andauert.« 136 Vgl. ebd., S. 57: »Man sucht nach Erscheinungen, zu denen es keine Entsprechungen in der Realität geben kann und soll, wie im Fall der Anamorphosen oder der schiefen Perspektiven und des trompe-l’œil.« 137 Vgl. ebd., S. 23-24: »Als die Mode im 17. Jahrhundert aufgekommen ist, wurde sie nicht, wie dies heute meist der Fall ist, als oberflächliches und damit marginales Phänomen – im Sinne der typisch modernen Herabsetzung des Ornaments – betrachtet. Der Schein war damals nicht vom Wesen der Dinge entkoppelt und die Oberfläche wurde keineswegs als ›oberflächlich‹ und unerheblich angesehen.« 138 Vgl. Han: Transparenzgesellschaft, S. 70-71: »Die Welt des 18. Jahrhunderts war noch ein Theater. Sie war voller Szenen, Masken und Figuren. Theatralisch war die Mode selbst. Es bestand kein wesentlicher Unterscheid zwischen Straßenkleidung und Theaterkostüm. […] Der Körper war eine Kleiderpuppe […] die zu drapieren, zu schmücken, mit Zeichen und Bedeutungen auszustaffieren war.« 139 Vgl. Laqueur, Thomas Walter: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Making sex. 1992, S. 83.

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Mann und Frau grundsätzlich identisch seien – wenngleich man auch dazu tendierte, den weiblichen Körper als eine geringerwertige Version des männlichen zu betrachten.140 Im Laufe des 17. Jahrhunderts änderte sich diese Vorstellung jedoch allmählich und man gelangte immer stärker zu der Auffassung, dass es sich bei Mann und Frau um zwei physisch und psychisch zu unterscheidende Geschlechter handelte.141 Dieser Wandel in der Geschlechtervorstellung machte sich dann auch im Kleidungswesen bemerkbar. So wurde die Herrenmode im Laufe des Barock immer schlichter, während die Damenmode dagegen umso schmuckvoller ausfiel. Die Frau galt nun gänzlich als eine »mangelhafte« Version des Mannes, die ihren Körper durch auffallende Kleidermoden kaschieren und ihrem Mann als schmückendes Beiwerk zur Seite stehen musste. Wie Gertrud Lehnert erklärt, verfestigte sich die geschlechtliche Polarisierung von Mann und Frau schließlich im 18. Jahrhundert. Der Mann entwickelte sich zum dominanten Geschlecht einer bürgerlichen Gesellschaft und brachte seine anti-aristokratische Einstellung durch den stilistisch reduzierten Anzug zum Ausdruck. »Männer«, so schreibt Lehnert, »haben es nicht mehr nötig, sich prunkvoll aufzuputzen; sie zeigen ihren materiellen Erfolg gerade durch die nüchterne Schlichtheit und Funktionalität ihrer Kleidung. Sie sind.«142 Frauen, so fährt Lehnert fort, mussten dagegen durch »demonstrativen Konsum stellvertretend den Reichtum und den Erfolg ihrer Ehemänner oder Väter zur Schau zu stellen: Sie scheinen.«143 Zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert wurde Kleidermode somit maßgeblich zu einem weiblichen Phänomen. Während der Mann sich schlicht bekleidet hielt, musste die Frau ihren Körper mithilfe von Kleidermoden als eine »rein ornamentale, verführerische Oberfläche«144 präsentieren. Ungefähr ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Kleidermode durch veränderte Produktions- und Distributionsmethoden dann zu einem Massenphänomen.145 Die Menge der Konsumenten stieg rasant an, womit sich zugleich die Nachfrage nach immer neuen Kleidungsangeboten steigerte. Die Lust auf das »Neue«, die Menschen wiederholt dazu treibt, Vertrautes zu ersetzen, wurde zum 140 Vgl. ebd., S. 82: Im Sinne des Ein-Geschlecht-Modells galt so etwa die Vagina als ein nach innen gestülpter Penis. 141 Vgl. Lehnert, Gertrud: Wenn Frauen Männerkleider tragen. Geschlecht und Maskerade in Literatur und Geschichte. 1997, S. 27. 142 Lehnert, Gertrud: Der modische Körper als Raumskulptur. In: Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Theatralitat und die Krisen der Repräsentation. 2001, S. 539. 143 Ebd., S. 539. 144 Lehnert, Gertrud: Zweite Haut? Körper und Kleid. In: Arburg, Hans-Georg von (Hg.): Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater. 2008. S. 95. 145 Vgl. Lehnert: Mode, Weiblichkeit und Modernität, S. 12: »Das 19. Jahrhundert kann also als die Zeit gelten, in der die Mode im engeren Sinne beginnt.«

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konstitutiven Faktor der Mode wie auch zur treibenden Kraft für die industrielle Konsumgüterproduktion insgesamt.146 Seither beschreibt der Ausdruck Mode eine sozioökonomische Dynamik, die kontinuierlich neue Trends und Produkte hervorbringt.147 Mit jeder aufkommenden Mode wird etwas Neues und Gegenwärtiges verbunden, das sich durch seinen radikalen Bruch mit dem Vergangen auszeichnet. Erkennbar wird die »neueste« Mode jedoch erst über das Äußere. Der Philosoph und Soziologe Erich Rothacker schreibt hierzu: »[…] auf jeden Fall aber ist das jeweils Neue im wörtlichen Sinne stets nur ein Oberflächenphänomen, eine neue ›Haut‹, ein neuer ›Ring‹, unter dem der ganze Körper, dessen Oberfläche sich wandelt, zwar nicht völlig ›ruht‹, wohl aber, trotz der ständigen Modifikation durch diese Wandlungen, sich nur in einer langsamen, äußerst trägen Bewegung befindet.«148 Von einigen zentralen Erneuerungen einmal abgesehen, ist das Neue in den seltensten Fällen jedoch wirklich neu. Wie bereits Walter Benjamin in Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts verdeutlicht, ist das Neue hauptsächlich eine Zuschreibung des kollektiven Unbewussten, »dessen nimmermüde Agentin die Mode ist«.149 Benjamin zufolge ist »das Neue« keine konkrete Produkteigenschaft, sondern »eine vom Gebrauchswert der Ware unabhängige Qualität«.150 Das modisch Neue sei eine Erscheinung, die sich unweigerlich mit der Pflicht zur permanenten Erneuerung ergäbe, meist aber nur eine Modifikation von etwas Vertrautem sei.151 »Die Mode«, so stellt Benjamin fest, »ist die ewige Wiederkehr des Neuen.«152 Was sie an aktuellen Trends hervorbringt, sind Umwandlungen bereits vergangener Trends, die ihrerseits wieder aus der Mode geraten werden, um schließlich die 146 Vgl. Lehnert: Mode, S. 20. Vgl. Groys, Boris: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. 1992, S. 45: »Das Neue tritt in der Geschichte meist als Mode auf.« 147 Vgl. Arburg: Alles Fassade, S. 247. 148 Rothacker, Erich: Geschichtsphilosophie. 1971, S. 64. Vgl. Buck, Alex: Dominanz der Oberfläche. Betrachtungen zu einer neuen Bedeutsamkeit der Gegenstände. 1998, S. 124ff. Welchen Stellenwert der Oberfläche beim Wechsel der Moden im Bereich der Konsumgüter zukommt, verdeutlicht u.a. Alex Buck. Am Beispiel von Swatch-Uhren und Gläsern der Firma Ritzenhoff beschreibt er etwa, wie allein durch die grafische Veränderung von Oberflächen modische Wechsel erzeugt werden (bzw. wie auf diese reagiert werden kann). Als lediglich »äußeres« Merkmal ließe sich die Oberfläche eines Produktes problemlos umgestalten, so dass bei gleichbleibendem Produktionsablauf kostengünstig – zumindest äußerlich – unterschiedliche Produkte hergestellt werden könnten. Das neue Produkt sei das Vertraute in neuer Hülle. 149 Benjamin, Walter: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1. 1977, S. 180. 150 Ebd., S. 180. 151 Vgl. ebd., S. 180: »Dieser Schein des Neuen reflektiert sich, wie ein Spiegel im anderen, im Schein des immer wieder Gleichen.« 152 Benjamin, Walter: Zentralpark. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1. 1977, S. 243.

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Basis für zukünftige Trends zu bilden.153 Vermeintlich neue Trends entstammen somit weitestgehend dem Repertoire der Vergangenheit.154 Was nun jeweils als die neueste Mode gilt, wird jedoch nicht von einer einzelnen Instanz entschieden und diktiert, sondern entwickelt sich vielmehr diskursiv. Mode entsteht in einem wechselseitigen Prozess aus Produktion und Rezeption, der von ökonomischen und ästhetischen Faktoren ebenso geprägt ist wie von individuellen und kollektiven Geschmacksurteilen.155 So ist an der Konstitution von Mode erstens ein ganzes System aus verschiedenen Institutionen wie Produktion, Vermarktung, Werbung, Presse und Trendforschung – kurz: die Modeindustrie – beteiligt.156 Zweitens entscheiden aber auch die Konsumenten/innen selbst darüber, was modisch ist und was nicht (mehr). Schließlich können sich die von der Modeindustrie angepriesenen Kleidungsangebote erst durch die breite Akzeptanz der Konsumenten zu massenwirksamen Modetrends entwickeln.157 Was uns im Alltag also als »neueste« Kleidermode begegnet, wurde bereits durch vielerlei Zuschreibungen sowie durch die Akzeptanz und Inszenierungen von Einzelnen und Gruppen zur Mode erklärt.158 Möglich ist dies nicht zuletzt, weil die Kleidermode ein hochkomplexes Zeichensystem darstellt. Sie ist damit auch als ein visuelles Medium zu begreifen, das etwas zum Ausdruck bringt und von uns entsprechend rezipiert wird.159 Sämtliche Kleidungsmerkmale wie Stoffe, Farben, Formen, Muster oder Schnitte fungieren hierbei als Zeichen, die auf etwas anderes verweisen. Sie können etwa für bestimmte Lebensstile oder Geschlechtskonzepte stehen, die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Gruppe oder Subkultur signalisieren oder auf einen sozialen Status hindeuten.160 Jene modischen Codes entspringen einem weitestgehend vertrauten Zeichenvorrat, der international bekannt ist und nicht selten durch Massenmedien wie z.B. den Film geprägt wird. So stehen etwa Jeans und T-Shirts für Jugend- und Sportlichkeit, Lederjacken dagegen für Rebellentum und Freiheit, während Pullunder wiederum mit kleinbürgerlicher Spießigkeit assoziiert werden. Doch nicht nur Kleidungsstücke, sogar einzelne Materialien wie Cord, Wolle, Samt, Pelz, Polyester oder Seide können semantisch aufgeladen und mit unterschiedlichen Bedeutungen verknüpft sein. 153 Vgl. Arabatzis, Stavros: Versenkung ins Äußere. Elemente einer Theorie der Mode. 2004, S. 51: »Das neueste Design, das mit dem Versprechen des Neuen auftritt, sinkt zum Ältesten herab, während dieses zugleich den Humus für ein neues Design bildet: der ewige Anfang einer inflationären Annäherung.« 154 Vgl. ebd., S. 23. 155 Vgl. Lehnert: Zweite Haut?, S. 90. 156 Vgl. Lehnert: Mode, S. 25. 157 Vgl. ebd., S. 15. 158 Vgl. ebd., S. 15. 159 Vgl. Lehnert: Der modische Körper als Raumskulptur, S. 530. 160 Vgl. Haberler: Mode(n) als Zeitindikator, S. 84-85.

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Wann immer der Mensch sich mittels Kleidung verhüllt, greift er zwangsläufig auf jenes Repertoire an modischen Zeichen zurück und verleiht seinem Körper, bewusst wie unbewusst, eine bedeutsame Erscheinung. Schließlich hat die Mode unsere Gesellschaft auf eine Art und Weise durchdrungen, dass es kaum mehr möglich scheint, sich ihr tatsächlich zu entziehen.161 Selbst wenn wir der Mode interesselos bis ablehnend gegenüber stehen, bringen wir dies über unsere Kleidung zum Ausdruck. Ob wir wollen oder nicht – durch die Art und Weise, wie wir uns kleiden, nehmen wir Teil an einem komplexen Interaktionsprozess und positionieren uns »in bestimmten ästhetischen und soziokulturellen Kontexten«.162 Wir signalisieren unserer Umwelt so etwa, welche Vorlieben und Interessen wir haben, welchen Beruf wir ausüben oder welche politischen und ästhetischen Auffassungen wir vertreten. Goethe weist darauf in seinen Wahlverwandtschaften hin, wenn er u.a. schreibt: »Die neuen modischen Gewänder erhöhten ihre Gestalt; denn indem das Angenehme einer Person sich auch über ihre Hülle verbreitet, so glaubt man sie immer wieder von neuem und anmutiger zu sehen, wenn sie ihre Eigenschaften einer neuen Umgebung mitteilt.«163 Ganz im Sinne Martin Seels ist die Kleidermode somit auch ein Phänomen des atmosphärischen Erscheinens.164 Sie verleiht ihren Trägern eine mehr oder weniger intendierte Gestalt und ruft bei ihren Betrachtern eine ganze Reihe von Bezügen und Assoziationen hervor.165 Wir können so in den Kleidungsweisen der Mitmenschen etwas lesen und hineininterpretieren, wie auch diese wiederum unsere Kleidungswahl entsprechend deuten und verorten können.166 Wie bei allen Objekten eines atmosphärischen Erscheinens ist nun allerdings auch für das Verständnis von Kleidermode und ihrer ästhetischen Wirkungsweise ein spezifisches Wissen um kulturelle Bezüge erforderlich.167 Bestimmte Kleidungsstile werden uns nichts sagen, wenn wir nicht um deren ästhetische, soziale oder historische Hintergründe 161 Vgl. Lehnert: Zweite Haut?, S. 90. 162 Ebd., S. 93. 163 Goethe, Johann Wolfgang: Die Wahlverwandtschaften. In: Heinemann, Karl: (Hg.): Goethes Werke. Bd. 8, 1900, S. 214. 164 Vgl. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 152: »Man denke nur daran, wie eine bestimmte Kleidung den Eindruck einer Person […] verändern kann.« Vgl. auch Lehnert: Zweite Haut?, S. 92: »Mode, ganz gleich auf welcher Ebene ihrer Aufführung […], funktioniert vornehmlich über bzw. als die Erzeugung von Atmosphären.« 165 Vgl. Kurtz, Barbara: Mode und Identität. Transformationen des Selbst und seines vestimentären Ausdrucks. 2015, Kap. I.1: »Durch Kleidung wird der biologische Körper zu einem ästhetischen mit einem persönlichen Ausdruck und einer bestimmten Identität.« 166 Vgl. Haberler: Mode(n) als Zeitindikator, S. 85. 167 Vgl. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 154.

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wissen.168 Gertrud Lehnert zufolge gehört es mittlerweile »zur kulturellen Kompetenz, Moden lesen oder erspüren zu können […]« und »zu wissen, was bestimmte Kleidungsstile in bestimmten Momenten bedeuten«.169 Dies bekräftigt u.a. auch die Sozialwissenschaftlerin Veronika Haberler in ihrem 2012 erschienenen Buch Mode(n) als Zeitindikator. Demnach ist »Mode- und Bekleidungswissen […] Teil des Alltagswissens«, das – je nach Ausprägung – nicht nur die Interpretation von Mode, sondern auch »den Tiefgang der Interpretationsfähigkeit«170 mitbedingt.171 Was genau uns ein Kleidungsstil über einen Menschen verrät, lässt sich allerdings nie eindeutig bestimmen.172 Der kontinuierliche Wechsel von Moden und die damit einhergehende Bezugnahme auf vergangene Trends haben die Lesbarkeit von Kleidermoden erheblich erschwert. Durch zahlreiche Um- und Neucodierungen wurden bestehende Referenzen gelöst und mit unterschiedlichen, sich zum Teil widersprechenden, Bedeutungen verknüpft. Wie der Philosoph Gilles Lipovetsky in seiner 1994 erschienen Monographie The Empire of Fashion verdeutlicht, hat sich die Mode zum Ende des 20. Jahrhunderts in einen Flickenteppich aus vielen unterschiedlichen Stilen ausdifferenziert.173 An die Stelle eines einheitlichen Modekanons sei ein vielstimmiges Nebeneinander von mehr oder weniger gleichberechtigten Stilen getreten. Seiner Auffassung nach gibt es heute nicht mehr nur eine einzige, herrschende Mode, sondern viele verschiedene Moden.174 Der diktatorische Einfluss saisonal wechselnder Trends sei einem demokratischen Stilpluralismus gewichen.175 Grenzen zwischen in und out seien kaum zu erkennen, stattdessen herrsche nun eine Mode-Ära, »in which pretty much anything goes«.176 Gleichzeitig, so betont es Lipovetsky, haben modische Kleidungsweisen dadurch jedoch zunehmend an Aussagekraft verloren.177 Mit der Liberalisierung der Mode hätten sich modische Zeichen von ihren Referenzpunkten entfernt und seien nahezu bedeutungslos geworden. 168 Vgl. Haberler: Mode(n) als Zeitindikator, S. 84: »In Kleidung zeigt sich ein sinnhaft strukturierter Zeichenzusammenhang, der mittels spezifischen Wissens gedeutet werden kann.« 169 Lehnert: Mode, S. 18. 170 Haberler: Mode(n) als Zeitindikator, S. 95. 171 Vgl. Taylor: Hiding, S. 171-172: »The infrastructure that appears to form the foundation of fashion can be construed in psychological, sociological, economic, and linguistic terms. Interpretation, then, involves a process of translating the manifest (i.e., the superficial) into the latent (i.e., the profound) through an irreversible process of decoding.« 172 Vgl. Lehnert: Der modische Körper als Raumskulptur, S. 530; und Sykora, Katharina: Subtraktion – Addition. Von abgetragenen Hüllen und Stoffen, die auftragen. In: Anna, Susanne (Hg.): Untragbar. Mode als Skulptur. 2001, S. 91: »Es gibt kein ›gläsernes Gewand‹, das den Menschen restlos entzifferbar macht.« 173 Vgl. Lipovetsky, Gilles: The Empire of fashion. Dressing modern democracy. 1994, S. 103. 174 Vgl. ebd., S. 103: »There is no longer a fashion, there are fashions.« 175 Vgl. ebd., S. 106. 176 Ebd., S. 120. 177 Vgl. ebd., S. 106.

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Jean Baudrillard hat darauf bereits in Der symbolische Tausch und der Tod hingewiesen. Baudrillard vertritt darin die poststrukturalistische These, dass Zeichen keinem verbindlichen Bedeutungszusammenhang mehr unterliegen, sondern nur noch auf sich selbst verweisen und wahllos verwendet werden können.178 Als geradezu paradigmatisches Beispiel für die Flexibilität und Dynamik postmoderner Zeichenprozesse dient ihm u.a. das Phänomen der Mode. »In der Mode«, so schreibt er, »wird die Beschleunigung des einzigartigen differentiellen Signifikanten-Spiels deutlich sichtbar«.179 »Alle Kulturen und Zeichensysteme werden in der Mode ausgetauscht, kombinieren sich, gleichen sich einander an und gehen flüchtige Verbindungen ein, [….] deren Sinn nirgendwo liegt. Die Mode ist das rein spekulative Stadium der Ordnung der Zeichen – es gibt keinen Zwang zu irgendeiner bestimmten Kohärenz oder Referenz.«180 Wie Lipovetsky so sieht auch Baudrillard den Grund hierfür in der Selbstreferentialität der Mode, die durch die Dynamik des Neuen bedingt ist. »Mode«, so Baudrillard, »ist niemals aktuell: sie rekuriert auf tote, abgestorbene Formen und deren Aufbewahrung als Zeichen in einem zeitlosen Raum. Die Mode sammelt mit einer außerordentlichen Freiheit der Kombination von Jahr zu Jahr, was ›gewesen‹ ist.«181 Im Rahmen dieser permanenten Wiederverwertung vergangener Formen geriere sich die Mode zu einem geisterhaften Spiel von inhaltsleeren Zeichen.182 Modische Zeichen seien nur mehr »leichte« Zeichen, die mit dem Verlust ihrer referentiellen Gebundenheit beliebig eingesetzt und ausgetauscht werden könnten.183 Baudrillard zufolge ist das Zeichensystem der Mode daher schließlich als ein ebenso referenz- wie tiefenloser »Rausch an der bloßen Oberfläche«184 zu begreifen. Dass modische Zeichenprozesse in ihrer Oberflächlichkeit aber keinesfalls belanglos sind, verdeutlicht wiederum Mark C. Taylor. Demnach sind die Zeichenprozesse der Mode insofern bedeutungsvoll, als sie in ihrem beschleunigten Wechsel fluktuierende und mehrdeutige Oberflächeneffekte hervorbringen. »Fashion«, so schreibt er, »is profound in its superficiality. The profundity of fashion does not involve depth but reflects the infinite complexity of a play of surfaces that knows no end.«185 Taylor zufolge erschließt sich uns der Gehalt von Mode somit weniger über die inhaltliche Ebene als vielmehr über ihre Oberflächenerscheinungen, die 178 Vgl. Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. 1982, S. 133. 179 Ebd., S. 133. 180 Ebd., S. 140-141. 181 Ebd., S. 136. 182 Vgl. ebd., S. 134. 183 Vgl. ebd., S. 133. 184 Ebd., S. 135. 185 Taylor: Hiding, S. 167.

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zu weitverzweigten Interpretationsversuchen einladen. »In the absence of a depth that grounds«, so fährt Taylor fort, »fashion remains fraught with ambiguity – irreducible ambiguity. This ambiguity, which borders in the enigmatic, is what renders fashion simultaneously attractive and repulsive.«186 Ein Beispiel dafür, wie ambivalente Oberflächenerscheinungen das inszenatorische Spiel der Kleidermode prägen, ist die Kollektion Eat the rich des Modedesigners Jeremy Scott aus dem Jahr 2006 (vgl. Abb. 14).

 

Abb. 14: Jeremy Scott, Eat the rich

Scott bedruckte hierzu die Oberflächen seiner Kollektionsstücke mit Motiven aus dem Bereich der Nahrungsmittel und entwarf so u.a. ein Kostüm in Form eines Hamburgers. Jenes Burger-Outfit veranschaulicht nun in besonderem Maße die formale Ambivalenz und Mehrdeutigkeit der Kleidermode. Was es uns vermittelt, lässt sich nicht eindeutig sagen, sondern kann auf mehreren Ebenen zugleich gelesen und interpretiert werden: Wir können es u.a. als einen progressiven Entwurf verstehen, der die Affektiertheit der Kleidermode verdeutlichen soll, wir können es aber auch – gerade in Kombination mit dem Titel Eat the rich – als ein Symbol für den globalisierten Kapitalismus verstehen, welcher uns zugleich die Belanglosigkeit von Moden angesichts weltweiter Hungersnöte vor Augen führt. Oder wir können es ganz einfach als ein humorvolles Kleidungsstück betrachten. Für welche Interpretation auch immer wir uns nun entscheiden, so wird doch deutlich, dass 186 Ebd., S. 167.

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die Kleidermode ein Phänomen ist, welches sich maßgeblich über die mehrdeutigen Effekte ihrer Oberfläche vermittelt. Über die besondere Zusammenstellung von Mustern, Farben und Formen bringen modische Kleidungsweisen innovatorische Erscheinungen hervor, die unsere Aufmerksamkeit wecken und zu divergierenden Interpretationsversuchen einladen. Gleichzeitig sind diese Oberflächeneffekte jedoch nicht allein das Ergebnis von modischen Zeichenprozessen, sondern werden auch durch individuelle Inszenierungsweisen hervorgebracht. Durch die Art und Weise, wie wir verschiedene Kleidungsstile zusammenfügen und miteinander kombinieren, kreieren wir unseren eigenen Stil, der über die Oberfläche zum Ausdruck kommt.187 Die Kleidermode mit ihrem schier unerschöpflichen Angebot an Inszenierungsweisen bietet uns die Möglichkeit, verschiedene Identitätskonzepte an- und auszuprobieren, ihre Wirkung auf andere zu testen und uns darüber selbst zu erfahren.188 Wir können zeigen, wer wir sind oder sein möchten, wovon wir uns abgrenzen und mit was wir uns identifizieren. Denn auch wenn einzelne Kleidungstile nicht mehr eindeutig greifbar sind, heißt dies noch lange nicht, dass sich mithilfe von Kleidung nicht mehr kommunizieren ließe. Kleidungsweisen verraten uns zwar nur noch wenig über soziale oder kulturelle Hintergründe, betonen dafür aber umso mehr die Eigenständigkeit ihrer Träger. Schließlich müssen wir uns nicht länger auf einen bestimmten Stil beschränken, sondern können zwischen verschiedenen Kleidungsvarianten wählen. Wir können Stile beliebig miteinander kombinieren und diverse Identitätskonzepte spielerisch erproben. Gerade mit der von Lipovetsky beschriebenen postmodernen Mode – oder der »Mode nach der Mode«,189 wie es Barbara Vinken formuliert – wird Kleidung zu einem Medium, das uns dabei hilft, Identitätsentwürfe collagenhaft zusammenzusetzen und sichtbar zu machen.190 »Die Mode«, so schreibt Baudrillard, ist »auf eine theatralische Sozialität gerichtet und findet ihren Gefallen an sich selber. Daher wird sie für jeden zu einem Ort der Intensität – zu einem Spiegel für ein bestimmtes Wunschbild seiner selbst.«191 In ihrem 1988 veröffentlichen Buch Mode. Die Hüllen des Ichs formulieren Carlo Michael Sommer und Thomas Wind dies wiederum folgendermaßen: »Die Darstellung des 187 Vgl. Mentges, Gabriele: Für eine Kulturanthropologie des Textilen. Einige Überlegungen. In: Dies. (Hg.): Kulturanthropologie des Textilen. 2005, S. 22: »Der bekleidete Körper erzeugt unweigerlich ein Bild für sich und für andere. Diese Darstellungsleistung trägt zur Konstruktion des Selbst bei und macht dadurch den Körper kulturell kommunizierbar.« 188 Vgl. Sommer, Carlo Michael; Wind, Thomas: Mode. Die Hüllen des Ich. 1988, S. 18: »So ist die Identität und die sie vergegenständlichende äußere Erscheinung […] stets das Ergebnis eines fortwährenden Verhandlungsprozesses, ein Kompromiß zwischen eigenen und fremden Ansprüchen.« 189 Vgl. Vinken, Barbara: Mode nach der Mode. Kleid und Geist am Ende des 20. Jahrhunderts, 1993. 190 Vgl. Kurtz: Mode und Identität, Kap. I.1. 191 Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, S. 143-144.

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Selbst nach außen bedeutet nicht mehr ›Ich bin der und der‹ sondern ›Ich könnte der und der sein‹. Der Ausdruck wird zum bloßen Eindruck.«192 Mit der Liberalisierung der Mode, so wird erneut deutlich, ist es möglich geworden, an den unterschiedlichsten Stilen und Lebensmodellen flexibel zu partizipieren und diese – buchstäblich wie ein Hemd – nach gewisser Zeit wieder abzustreifen. Auf diese Weise können wir einen modischen Entwurf unserer Identität zur Erscheinung bringen, der, so Lehnert, »zwischen Ernst und Spiel oszilliert und sich nicht in die Grenzen einer endgültig definierten Identität pressen lässt, sondern das ungeheure Potential der Verkleidung ausschöpft«.193 Mode beschert uns die Gelegenheit, uns als Subjekte zu inszenieren und unsere persönlichen Ansichten, Wünsche und Emotionen auf der äußersten Hülle unserer Kleidung zur Schau zu tragen. Unser Körper wird dabei in eine ästhetisch gestaltete Oberfläche verwandelt, die uns schmückt und als Individuen nach außen erfahrbar macht. Wenn die Kleidermode auch zunächst oberflächlich scheinen mag, so ist sie letztlich doch ein komplexes Zeichen- und Bedeutungssystem, welches durch fortlaufenden Selbstbezug eine eigene Tiefe aus sich selbst erzeugt.

192 Vgl. Sommer/Wind: Mode. Die Hüllen des Ichs, S. 195. 193 Lehnert: Wenn Frauen Männerkleider tragen, S. 108.

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9 Die »dritte Haut« des Menschen. Über die Hüllen der Architektur

Nachdem erläutert wurde, wie sich die Oberflächen der Bekleidung als Hüllen begreifen lassen, die den Menschen wie eine »zweite Haut« umgeben, soll Selbiges nun am Beispiel der Architektur – der sogenannten »dritten Haut« des Menschen – herausgearbeitet werden. Die folgenden Überlegungen werden sich dazu ebenfalls an den drei Grundfunktionen der Hülle – Schutz, Inszenierung und Schmuck – orientieren. In der Architektur wird für gewöhnlich dasjenige als Hülle bezeichnet, was einem Gebäude äußerlich hinzugefügt wurde. Die Verhüllung eines Gebäudes bei Renovierungsarbeiten oder die Verhüllung des Berliner Reichstags im Jahr 1995 durch den sogenannten »Verpackungskünstler« Christo und dessen Frau JeanneClaude lassen sich hierfür als Beispiele nennen. In beiden Fällen werden Gebäude von textilen Geweben äußerlich umhüllt und erhalten dadurch eine neue Oberfläche. Dieses Kapitel setzt den Akzent jedoch anders. Denn wie zu zeigen sein wird, können nicht nur die Gebäude verhüllenden Stoffe, sondern mehr noch die Gebäude selbst als Hüllen verstanden werden. Die etymologische Verwandtschaft der Wörter »Hütte«, »Haus« und »Gehäuse« zum Begriff »Hülle«, die eingangs bereits erwähnt wurde, impliziert dies. Ein Gebäude ist demnach als eine gebaute oder bauliche Hülle zu begreifen, die einen Raum äußerlich umschließt bzw. diesen – im Sinne des Gehäuses – in sich birgt. Die »Raumhüllen« der Architektur unterscheiden sich dabei nicht wesentlich von den »Körperhüllen« der Bekleidung. So wie der menschliche Körper von den textilen Hüllen der Kleidung umgeben ist, so wird auch der architektonische Raum von den Grenzen des Gebäudes umhüllt. Die Kulturhistorikerin Gabriele Mentges weist auf diese funktionelle Gemeinsamkeit von Kleidung und Architektur hin, wenn sie schreibt: »Kleidung ist ein Medium, um den Raum kulturell zu konstruieren und zu organisieren. In dieser Hinsicht steht sie in einer Reihe mit der Architektur.«1 Oder wie es der deutsche Hygieniker Max von Pettenkofer in einem Vortrag im Jahr 1872 formulierte: 1 Mentges: Für eine Kulturanthropologie des Textilen, S. 29.

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Die Philosophie der Oberfläche

»Mantel und Zelt stehen sich sehr nahe. Den weiten schweren Radmantel, den man früher so häufig getragen hat, könnte man ein Zelt heissen, welches man mit sich herumträgt, und das Zelt einen feststehenden Mantel, mit welchem man sich einhüllt, in welchen man mit dem ganzen Leibe hineinschlieft, wie man etwa mit dem Arm in den Aermel eines Rockes hineinschlieft. Der Hut ist das Dach der Kleidung, und das Dach die Kopfbedeckung des Hauses.«2 Das Thema der architektonischen Verhüllung und Bekleidung wird zwar in den Schriften zahlreicher Architekten erwähnt – wissenschaftlich untersucht wurde dieses Phänomen bislang jedoch kaum. Neben Wolfgang Pehnts Aufsatz In der Vorratskammer der Kostüme ist hier vor allem Katrin Harathers Monographie HAUSKLEIDER aus dem Jahr 1995 zu nennen. Einer der ersten, der den tieferen Zusammenhang von Architektur und Bekleidung ausführlich herausgearbeitet hat, ist der Architekt Gottfried Semper. Dieser erklärte in seinen architekturtheoretischen Schriften des 19. Jahrhunderts sowohl den Ursprung als auch das gesamte Wesen der Architektur anhand des Prinzips der Bekleidung. In der Forschungsliteratur wird Sempers Architekturtheorie daher auch häufig als »Bekleidungstheorie« bezeichnet. Deren Kern ist die Auffassung, dass architektonische Räume ausschließlich über äußere Begrenzungen – sprich: »Bekleidungen« – konstituiert werden, die der räumlichen Abschirmung dienen. Nur auf dem Wege der Abschirmung ließe sich ein Innenbereich von einem Außenbereich unterscheiden und damit als eigenständiger Raum kenntlich machen. »Deckende Oberflächen«, so schreibt Wolfgang Pehnt im Hinblick auf Sempers Bekleidungstheorie, »ermöglichen die Ausgrenzung des Raumes, die Scheidung in Innen und Außen.«3 Neben horizontalen Raumgrenzen wie Decken und Böden bestimmt Semper vor allem die Wand, aufgrund ihrer vertikalen Ausdehnung und kaum zu übersehenden Flächigkeit, als das eigentliche Medium der architektonischen Abschirmung und Bekleidung. In Anlehnung an Sempers Bekleidungstheorie soll verdeutlicht werden, inwiefern uns die Oberflächen der Architektur – allen voran die Wandflächen – als raumumgrenzende Hüllen begegnen. In der Regel soll dabei nicht näher zwischen den Fassaden-, Innen-, Außen- oder Zwischenwänden differenziert werden. Jede Wand, so die These, dient als Mittel der architektonischen Abschirmung und hat eine raumbildendende Funktion. Zur Veranschaulichung sollen dazu Beispiele aus der Architektur des 20. Jahrhunderts herangezogen werden. Anhand der Epochen des Jugendstils sowie der modernen und postmodernen Architektur wird u.a. 2 Pettenkofer, Max von: Ueber das Verhalten der Luft zum bekleideten Körper des Menschen. In: Ders.: Beziehungen der Luft zu Kleidung, Wohnung und Boden. Drei Populäre Vorlesungen. 1872, S. 39. 3 Pehnt, Wolfgang: In der Vorratskammer der Kostüme. Architektur als Mode betrachtet. In: Ders.: Die Erfindung der Geschichte. Aufsätze und Gespräche zur Architektur unseres Jahrhunderts. 1989, S. 12.

9 Die »dritte Haut« des Menschen

zu beantworten sein, welche funktionalen und ästhetischen Bedeutungen Oberflächen für die architektonische Gestaltung haben. In Kapitel 9.1 soll dazu zunächst ausführlicher auf Sempers Bekleidungstheorie eingegangen werden. Neben einer Beschreibung des Abschirmungsprozesses und seiner raumbildenden Effekte soll hierbei auch ein weiterer, wichtiger Effekt zur Sprache kommen, und zwar der des Schutzes. Wie Semper erläutert, ist die Wand nämlich nicht nur ein sichtbarer Raumabschluss und ein zentrales Element der architektonischen Kleidung. Sie ist auch ein »vertikales Schutzmittel«.4 »Nach der eigenen Haut des Körpers und der textilen Haut der Kleidung«, so betont es wiederum die Architektin Susanne Krosse, »ist die gebaute Hülle die dritte Schicht, die unser intimes und privates Leben […] schützt.«5 In Kapitel 9.2 soll Sempers Bekleidungsbegriff wiederum erweitert und den modernen Raum- und Architekturkonzepten angepasst werden. Hierbei wird vor allem zu verdeutlichen sein, dass der Prozess der Abschirmung nicht allein als Abgrenzung zwischen Innen und Außen zu begreifen ist, sondern ebenso deren Verbindung miteinschließt. In Anlehnung an den Akt der Körperbekleidung soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass sich auch die architektonische Abschirmung in einem wechselseitigen Prozess von Ver- und Enthüllung – d.h. von Raumöffnung und Raumschließung – vollzieht. Der Vorgang des Ver- und Enthüllens ist, so die Annahme, ein essentieller Bestandteil der architektonischen Gestaltung, der es ermöglicht, Räume zu organisieren bzw. zu inszenieren. In Kapitel 9.3 soll dann der Prozess der architektonischen Verhüllung hinsichtlich seiner dekorativen Aspekte erörtert werden. Die Wand als Ornamentträger steht dabei im Zentrum. In Kapitel 9.3.1 wird so zunächst zu zeigen sein, wie man in der Epoche des Jugendstils die profan empfundene Materialität der Wand mithilfe von Ornamenten zu schmücken und ästhetisch zu beleben versuchte. Eine deutlich erweiterte Anwendung des Ornaments soll dann in Kapitel 9.3.2 anhand der postmodernen Architektur beschrieben werden. Dabei nutzte man Ornamente nicht allein zur Verzierung eines Gebäudes, sondern auch um dieses stärker in einen Darstellungs- und Informationszusammenhang einzubeziehen. Das postmoderne Ornament sollte über den Sinn und Zweck eines Gebäudes informieren und übernahm dabei eine zeichenhafte Funktion. In dieser überblicksartigen, punktuell vertieften Beschreibung der Verhüllungsund Bekleidungsthematik in der Architektur soll im Laufe des Kapitels nicht nur herausgearbeitet werden, inwiefern sich uns architektonische Oberflächen als 4 Semper, Gottfried: Die vier Elemente der Baukunst. Ein Beitrag zur vergleichenden Baukunde. 1851, S. 56. 5 Krosse, Susanne: »Inside out« – die gebaute Hülle als ,dritte Haut‹ des Menschen. Ein Architekturworkshop. In: Villigster Werkstatt Interdisziplinarität (Hg.): Haut – Zwischen Innen und Außen. 2009, S. 113.

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Die Philosophie der Oberfläche

Hüllen darstellen. Mehr noch soll in diesem Kapitel auch veranschaulicht werden, wie sich die Entwicklungen der Architektur vom Beginn bis zum Ende des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund unterschiedlicher Bewertungs- und Anwendungsweisen der Oberfläche erklären lassen.

9.1

Das schützende Kleid der Architektur

Wann immer wir Formen oder Spielarten der Architektur begegnen, begegnen wir Konstruktionen, die einen bestimmten Bereich nach außen hin abschirmen und dadurch einen mehr oder weniger geschützten Innenraum schaffen. Dies gilt sowohl für einfache Unterstände wie für Zelte, Wohnhäuser, Bunkeranlagen oder die aus Westernfilmen bekannten Wagenburgen. In all diesen Fällen haben wir es mit mehr oder weniger architektonischen Gebilden zu tun, die durch äußere Begrenzungen einen Ort des Schutzes schaffen. Sie schützen u.a. vor feindlichen Angriffen, vor Witterungsbedingungen wie Hitze, Kälte oder Regen und bilden Rückzugsmöglichkeiten für Intimität und Privatsphäre. Die Objekte der Architektur ähneln darin der menschlichen Bekleidung. Wie die Bekleidung, so bietet auch die Architektur dem menschlichen Körper Schutz, indem sie diesen (wenn auch mit größerem Abstand) von außen umhüllt. John Flügel weist auf diese »[…] Parallele zwischen der Schutzfunktion der Kleidung und derjenigen der Behausung«6 hin, wenn er u.a. schreibt: »Beide schützen vor Kälte und allen Unbilden der Witterung. Ihre Funktionen ergänzen sich bis zu einem gewissen Grad gegenseitig; bei kaltem Wetter legen wir unsere Überkleidung ab, wenn wir ein Haus betreten, und ziehen sie wieder an, wenn wir es verlassen. Kleider bieten wie Häuser Schutz, weil sie aber dem Körper näher sind und an ihm getragen werden, sind die im Gegensatz zu Häusern ›tragbar‹. Mit ihrer Hilfe tragen wir wie Schnecken und Schildkröten eine Art Haus auf dem Rücken, wobei wir die Vorteile des Schutzes ohne die Nachteile der Seßhaftigkeit wahrnehmen.«7 Gottfried Semper ist im Rahmen seiner Bekleidungstheorie bereits auf den schützenden Aspekt der textilen wie auch der architektonischen Bekleidung eingegangen. Er beschrieb dies hauptsächlich in seiner 1851 veröffentlichten Schrift Die vier Elemente der Baukunst sowie in dem zweibändigen Werk Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, welches ab 1860 erschien. Semper betrachtet darin den Akt des Bekleidens aus kulturhistorischer Sicht und stellt diesen als eine allgemeine anthropologische Konstante dar, die dem menschlichen Bedürfnis nach Schutz 6 Flügel: Psychologie der Kleidung, S. 258. 7 Ebd., S. 258.

9 Die »dritte Haut« des Menschen

und Geborgenheit entspringt.8 Mithilfe von Sempers Bekleidungstheorie soll nun zweierlei unternommen werden: Zum einen soll gezeigt werden, dass die architektonische Raumgestaltung als eine Form der Verhüllung – respektive der Bekleidung – verstanden werden kann, die nicht zuletzt eine schützende Funktion übernimmt. Zum anderen soll mit der Erörterung von Sempers Bekleidungstheorie sogleich eine theoretische Grundlage geschaffen werden, von der aus in den folgenden Kapiteln sich weitere Aspekte der architektonischen Verhüllung und Raumbekleidung beschreiben lassen. Laut Gottfried Semper hat sich der Mensch schon seit Anbeginn seines Daseins diverser Bekleidungen bedient, um seinen Körper nach außen hin abzuschirmen und entsprechend zu schützen. In archaischen Kulturen habe der Mensch dazu zunächst noch auf natürliche Materialien wie Tierhäute und Baumrinden zurückgegriffen.9 Im Laufe der Zeit habe der Mensch mit den Techniken des Verknotens, Flechtens, Spinnens und Webens jedoch gelernt, auch textile Formen der Bekleidung herzustellen und die Möglichkeiten der Abschirmung zu erweitern. Semper zufolge findet das Prinzip der textilen Abschirmung jedoch nicht nur im Bereich der Kleidung Anwendung, sondern wird schließlich auch zur architektonischen Umfriedung und Begrenzung von Räumen genutzt.10 So hätte man z.B. miteinander verbundene Tierfelle oder geflochtene Zäune dazu eingesetzt, ein Feld, eine Weidefläche oder eine Schlafstätte von der äußeren Umgebung abzugrenzen und als eigenständigen Raum kenntlich zu machen.11 Für Semper stellt dies nicht nur den Anfang, sondern auch den Kern des architektonischen Gestaltens schlechthin dar: die Konstituierung eines Raumes auf dem Wege der äußeren Abschirmung – 8 Vgl. Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten. In: Karge, Hendrik (Hg.): Gesammelte Schriften. Bd. 2, 2008, S. 231: »Ich meine das Bekleiden und Maskiren sei so alt wie die menschliche Civilisation.« 9 Vgl. Semper, Gottfried: Textile Kunst. In: Karge, Hendrik (Hg.): Gesammelte Schriften. Bd. 4, 2008, S. 3: »Die Tierhaut und das Netzwerk der Baumrinde sind die eigentlichen ersten Typen der textilen Stoffe und sie sind auch die ersten, welche vom Menschen in diesem Sinne benutzt worden sind.« 10 Vgl. Semper: Der Stil, S. 227: »Die Kunst des Bekleidens der Nacktheit des Leibes […] ist vermutlich eine jüngere Erfindung als die Benützung deckender Oberflächen zu […] räumlichen Abschlüssen.« 11 Vgl. Lévi-Strauss, Claude: Traurige Tropen. 1978, S. 207: Auch Claude Lévi-Strauss entdeckt Parallelen zwischen der textilen und architektonischen Bekleidung, wenn er nach dem Besuch eines Kuki-Dorfes an der birmanischen Grenze schreibt: »[…] diese Wohnungen sind weniger gebaut als geknüpft, geflochten, gewoben, gestickt […] statt den Bewohner in einer Masse gleichgültiger Steine zu erdrücken, passen sie sich seiner Anwesenheit und seinen Bewegungen an; anders als bei uns bleiben sie dem Menschen stets untertan. Wie eine leichte und elastische Rüstung umgibt das Dorf seine Bewohner eher den Hüten unserer Frauen vergleichbar als unseren Städten […]. Die Nacktheit der Bewohner scheint durch das samtene Gras der Wände und die Fasern der Palmblätter geschützt: sie schlüpfen aus ihren Wohnungen, als ob sie riesige Hausmäntel aus Straußenfedern ablegten.«

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Die Philosophie der Oberfläche

sprich: der Bekleidung. »Die Anfänge des Bauens« sieht er daher »mit den Anfängen der Textrin [d.h. der textilen Bekleidungskunst; C.R.] zusammenfallen.«12 Zu den frühesten Formen der architektonischen Raumbekleidung zählt er z.B. Pferche, Zäune, Bastmatten, Wandteppiche oder Schirmdächer.13 All diese gewebten, geflochtenen oder auf sonstige Weise hergestellten Arten der textilen Abschirmung hätten dazu gedient, einen Innenbereich von einem potentiell bedrohlichen Außenbereich abzugrenzen und als Schutzraum erfahrbar zu machen. Semper zufolge stellen diese frühen Spielarten »des sichtbaren Raumabschlusses«14 zugleich Urformen der Wand dar, die als das eigentliche Medium der architektonischen Abschirmung zu begreifen sei.15 »Die Wand«, so schreibt er, »ist dasjenige bauliche Element das den eingeschlossenen Raum als solchen gleichsam absolute und ohne Hinweis auf Seitenbegriffe formaliter vergegenwärtigt und äusserlich dem Auge kenntlich macht.«16 Der Begriff »Wand« habe, wie Semper betont, dieselbe etymologische Wurzel wie das Wort »Gewand« und weise damit bereits auf seinen textilen Ursprung hin:17 »Die Ausdrücke Wand und Gewand sind Einer Wurzel entsprossen. Sie bestimmen den gewebten oder gewirkten Stoff, der die Wand bildete.«18 Neben der sprachlichen Nähe von Wand und Gewand deuteten auch architektonische Termini wie »Decke, Beckleidung, Schranke, Zaun (gleich mit Saum) und viele andere technische Ausdrücke«19 auf eine funktionale und historische Gemeinsamkeit von Architektur und Bekleidung hin. Bei seinen Überlegungen zur architektonischen Bekleidung orientiert sich Semper maßgeblich an dem Konstruktionsprinzip der sogenannten Skelettbauweise, die in dem Archetyp des bekleideten Gestells evident wird. Wie der Name 12 Semper: Der Stil, S. 227. 13 Vgl. ebd., S. 228-229; und vgl. Semper, Gottfried: Ueber das Verhältnis der dekorativen Künste zur Architektur. In: Karge, Hendrik (Hg.): Gesammelte Schriften. Bd. 4, 2008, S. 348: »Die Matten und später die Teppiche und Drapperien waren die frühesten Materialien der Raumtrennung und jener Zimmereinteilung, welche die Menschen für ihren Schutz und ihre Bequemlichkeit für nötig fanden.« 14 Semper: Der Stil, S. 229. 15 Vgl. Semper: Die vier Elemente der Baukunst, S. 56; und vgl. Semper: Der Stil, S. 228: »Wie nun der allmähliche Entwicklungsgang dieser Erfindungen sein mochte, ob es so oder anders, worauf es hier wenig ankommt, so bleibt gewiss dass die Benützung grober Gewebe, vom Pferch ausgehend, als ein Mittel das ›home‹, das Innenleben, von dem Aussenleben zu trennen und als formale Gestaltung der Raumesidee, sicher der noch so einfach konstruirten Wand aus Stein oder irgend einem anderen Stoffe voranging.« Dass die Funktion der Abschirmung der Wand immanent ist, darauf verweisen nicht zuletzt Ausdrücke wie »Schirmwand« oder »Wandschirm«. 16 Semper: Der Stil, S. 227. 17 Vgl. ebd., S. 229. 18 Semper: Die vier Elemente der Baukunst, S. 57. 19 Semper: Der Stil, S. 229.

9 Die »dritte Haut« des Menschen

bereits andeutet, wird bei der Skelettbauweise ein Gebäude von einem inneren Gerüst gestützt und gehalten.20 Äußerlich verhüllt bzw. bekleidet wird der skelettartige Aufbau wiederum von Raumbegrenzungen wie Wänden, Decken und Böden.21 »In Form des bekleideten Gestells«, so fasst es Karin Harather zusammen, »wird diese Synthese von Tragkonstruktion und Hülle zu einem Archetypus des Bauens.«22 Im Sinne der Bekleidungstheorie sind dabei vor allem die äußeren Begrenzungen von Bedeutung, da sie die architektonische Raumgestaltung überhaupt erst möglich machen. »Die Gerüste«, so schreibt Semper, »welche dienen diese Raumesabschlüsse zu halten, zu befestigen und zu tragen sind Erfordernisse die mit Raum und Raumesabtheilung unmittelbar nichts zu thun haben.«23 »Sie«, so Semper weiter, »sind der ursprünglichsten architektonischen Idee fremd und zunächst keine formbestimmenden Elemente.«24 Nicht das innere Skelett, sondern vielmehr das äußere Gebäudekleid ist es also, was den Baukörper erzeugt.25 »In jedem Fall«, so Harather, »bildet erst die Bekleidung den eigentlichen Raumabschluß, die Raumhülle. Die wandartige Bekleidung schützt vor Witterungseinflüssen, vor allem vor Regen, ebenso vor allzu intensiver Sonneneinstrahlung, vor Wind und bedingt auch vor Kälte.«26 Eine Theorie, die noch etwas ausführlicher auf den raumbildenden Effekt von architektonischen Elementen wie Wänden, Decken und Böden eingeht, ist die Raumtheorie des Kunsthistorikers Kurt Badt. Er beschreibt diese in seiner 1963 veröffentlichten Schrift Raumphantasien und Raumillusionen. Raum, so Badts These, ist für uns als solcher nicht wahrnehmbar, sondern kann erst in der Gestaltung eines konkreten Ortes erfahren werden. Die kategorische Unterscheidung von »Raum« und »Ort« ist für seine Theorie somit zentral. Unter dem Begriff »Raum« versteht Badt ganz allgemein den offenen Raum der Welt. »Raum«, so schreibt 20 Die Skelettbauweise stellt eine Alternative zur sogenannten Massivbauweise dar. Bei der Massivbauweise wird die Last eines Gebäudes ausschließlich von dicken Mauern getragen. Nach Auffassung Sempers ist daher zwischen Wand und Mauer in funktionaler Hinsicht zu unterscheiden. Während die Wand einen raumbildenden Effekt habe, diene die Mauer lediglich statischen Zwecken. Sie stehe daher auch nicht in der Tradition der Bekleidungskunst, sondern in der des Terrassenbaus. (vgl. Semper: Die vier Elemente der Baukunst, S. 57) 21 Vgl. Harather: HAUS-KLEIDER, S. 10: »Wohl eine der grundsätzlichsten Parallelen in der Praxis des Bekleidens von menschlichen und architektonischen Körpern ist die Tatsache, daß jede Art der textilen Bekleidung eine Unterkonstruktion voraussetzt: in dem einen Fall bildet der menschliche Körper die Tragstruktur, in dem anderen Fall ist es der Archetyp des Gestells, der die Bekleidung trägt.« 22 Ebd., S. 54. 23 Semper: Der Stil, S. 228. 24 Ebd., S. 228. 25 Vgl. Harather: HAUS-KLEIDER, S. 54: »[…] in jedem Fall ist die Flächigkeit der textilen Wände für das Erscheinungsbild des bekleideten Gestells prägend.« 26 Ebd., S. 91.

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er, ist »die Leere in gewisser Ausdehnung.«27 Oder im Sinne des physikalischen Raumbegriffs: »[…] ein selbstständig ausgedehntes Etwas, in dem körperliche Objekte enthalten sind«.28 Im Gegensatz dazu bezeichne ein »Ort« wiederum einen konkreten, abgegrenzten Bereich innerhalb des Raumes.29 Badt zufolge wird ein Ort durch eine horizontale und/oder vertikale Anordnung von körperlichen Objekten erzeugt, die ein bestimmtes Areal abschirmen und damit dieses erst als Ort erfahrbar machen30 . »Ort«, so schreibt er, »ist […] ein Hervorbringen, das aus den Formen und den Anordnungen der dargestellten und dem Auge des Betrachters sich darstellenden Dinge (Körper) unmittelbar folgt […] und unmittelbar wahrgenommen werden kann.«31 Nach Badt erzeugen so z.B. eine bestimmte Anordnung von Steinen, ein eingezäuntes Gebiet oder die Wände einer Hütte jeweils einen eigenen Ort im Raum. Darüber hinaus könne aber auch eine Anzahl von Gebäuden einen Ort im umgangssprachlichen Sinne bilden, etwa in Form eines Dorfs oder einer Stadt.32 In all diesen Fällen werde die Ausdehnung und Weite des Raumes durch architektonische Gebilde unterbrochen, auf ein bestimmtes Areal begrenzt und als Ort konkret.33 Das Architektonische, so betont Badt, bildet »seinen eigenen Ort im Raume gerade dadurch, daß es ihn aufhebt. […] Der Ort einer Architektur gründet auf der Erde, ragt in die Luft, steht im Lichte des Himmels.«34 Dieser Effekt, den Badt auch als »Raumbildung durch […] Raumbegrenzung«35 beschreibt, ist jedoch nur aufgrund der abschirmenden Wirkung körperlicher Objekte möglich. Schließlich kann nur auf dem Wege der Abschirmung eine wahrnehmbare Unterscheidung zwischen einem Innen- und einem Außenbereich vorgenommen werden, die Voraussetzung jeglicher Raum- bzw. Ortsbildung ist. Architektur, so ließe sich im Sinne Badts formulieren, schafft Orte im Raum, indem sie diese nach innen eingrenzt und nach außen abgrenzt. Er selbst beschreibt dies folgendermaßen: »Die Architektur baut Körper aus Körpern, und zwar mit zwiefachem Ergebnis. Der Außenbau erscheint, in der konventionellen Sprache ausgedrückt, als Körper im Raum, konkret gesprochen, als Körper auf der Erde und in die Luft ragend […] Dagegen erscheint das Innere eines Baues als ein Raum oder mehrere Räume, welche 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Badt, Kurt: Raumphantasien und Raumillusionen: Wesen der Plastik. 1963, S. 69. Ebd., S. 71. Vgl. ebd., S. 91. Vgl. ebd., S. 93. Nach Auffassung Badts unterscheidet dies nun auch den Ort von der »Stelle«, die wiederum als ein einzelner Punkt im Raum zu begreifen ist. Ebd., S. 95. Vgl. ebd., S. 101: »Während es nur einen Raum gibt, gibt es unzählige Ortsbestimmungen.« Vgl. ebd., S. 95: »Raum als Ideenhaftes zur Wirklichkeit fortgestaltet, das ist Ort.« Ebd., S. 104. Ebd., S. 111.

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wiederum durch die gebauten Körpermassen verwirklicht sind, die sie umschließen. Auch hier […] ist das architektonisch Geschaffene nicht der Raum, sondern das gebaute Körperliche, welches den betreffenden Raum aus dem allgemeinen Raum der Welt herausgrenzt, ihn in seinen besonderen Formen begrenzt und damit bestimmt.«36 Wie Badt verdeutlicht, hebt sich der architektonische Ort somit allein durch seine bauliche Geschlossenheit von dem Raumkontinuum ab, das ihn umgibt. »Die Besonderheit des Innenraums«, so schreibt er, »ist, geschlossener Ort zu sein.«37 Gleichzeitig weist er aber auch darauf hin, dass diese Geschlossenheit des Ortes nur möglich ist »durch die Folge der ihn umgebenden, umschließenden, bildenden Körpermassen, ihrer Gliederung und ihrer Abstände auf der Erde und in der Luft.«38 »Denn an sich selbst, abgesehen von seinen ›Wänden‹«, so Badt weiter, »ist der Innenraum überhaupt nicht wahrnehmbar«.39 Wie Semper, so spricht also auch Kurt Badt der Wand eine zentrale Rolle bei der architektonischen Gestaltung zu. Als Mittel der Abschirmung ermöglicht sie eine wahrnehmbare Differenzierung von Innen und Außen und schafft damit erst die Bedingung zur Konstituierung von Räumen bzw. Orten.40 In Sempers Bekleidungstheorie wird die Wand nun jedoch nicht allein als Raumgrenze und »vertikales Schutzmittel«41 beschrieben. Neben ihrer abschirmenden Funktion spricht Semper der Wand auch dekorative Aufgaben zu. So hätten die Menschen schon früh damit begonnen, »die ersten rohen Behausungen gegen Wetter und feindliche Verfolgung auszuschmücken. […] Man übertünchte [dazu] die unscheinbare Oberfläche des rohen Stoffes, woraus die Behausung zusammengebaut wurde.«42 Eine Urform der Wand, die als erste sowohl schützende als auch schmückende Aufgaben erfüllen konnte, ist für Semper der Teppich bzw. der Wandteppich.43 Der Wandteppich habe einerseits als »sichtbare Raumbegrenzung«44 fungiert, andererseits mit seinem buntgewebten Muster aber auch zur Verschönerung des Raumes beigetragen. 36 Badt: Raumphantasien und Raumillusionen, S. 111. 37 Ebd., S. 108. 38 Ebd., S. 108. 39 Ebd., S. 110. 40 Vgl. ebd., S. 110. 41 Semper: Die vier Elemente der Baukunst, S. 56. 42 Semper, Gottfried: Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architektur und Plastik bei den Alten. In: Karge, Hendrik (Hg.): Gesammelte Schriften. Bd. 4, 2008, S. 223: »Dies geschah sehr frühe, denn zu den ersten Bedürfnissen der jugendlichen Menschheit gehört das Spiel und der Schmuck.« 43 Vgl. Semper: Ueber das Verhältnis der dekorativen Künste zur Architektur, S. 348: »Die Geschichte der Wanddekoration in allen ihren Phasen beginnt mit diesem Urmotiv der Teppichwirkerei und ist auf ihr begründet.« 44 Semper: Die vier Elemente der Baukunst, S. 58.

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Sempers Beschreibung und Metaphorisierung der architektonischen Gestaltung als einem Vorgang des Bekleidens von Räumen hat das Denken über Architektur nachhaltig geprägt. So hat seine Bekleidungstheorie wesentlich dazu beigetragen, dass sich der Vorgang der räumlichen Abschirmung als eine Grundbedingung der Architektur herauskristallisieren konnte. Zum anderen hat Semper aber auch die immense Bedeutung der Wand für die architektonische Raumbildung herausgearbeitet und damit bereits ein gedankliches Fundament geschaffen, von der aus in der Folgezeit das Verhältnis von zweidimensionaler (Ober-)Fläche und dreidimensionalem Raum erforscht werden konnte. Auch wenn Gottfried Sempers Bekleidungstheorie im Laufe der Zeit unterschiedlich stark gewichtet worden ist, bleibt sie – wie wir noch sehen werden – im Kern jedoch bis in unsere Gegenwart potentiell präsent.45

9.2

Inside, outside – inside out. Vom Ver- und Enthüllen des Raumes

Anhand von Sempers Bekleidungstheorie wurde gezeigt, wie architektonische Räume infolge des Prozesses der Abschirmung gebildet werden. Dass dieser Vorgang nun jedoch nicht allein als Trennung von Innen- und Außenraum zu begreifen ist, sondern ebenso deren Verbindung miteinschließt, verdeutlichte wiederum der Architekturtheoretiker Christoph Feldtkeller in seiner Schrift Der architektonische Raum: eine Fiktion aus dem Jahr 1989. Wie Gottfried Semper und Kurt Badt, so geht auch Feldtkeller darin zunächst von der Annahme aus, dass architektonische Räume mittels Abschirmungen konstituiert werden, die zwischen Innen und Außen unterscheiden. Nur auf dem Wege der Abschirmung ließe sich ein bestimmtes Areal von außen umgrenzen und als Raum kenntlich machen.46 »Ein Gebäude«, so Feldtkeller, »zeigt sich also in funktionaler Betrachtung […] als Gefüge von Abschirmungen in einer bestimmten Umgebung bzw. Umwelt.«47 Ebenfalls wie Semper und Badt, so bestimmt auch er die Wand als das eigentliche Medium der architektonischen Abschirmung. Seiner Auffassung nach ist »die Wand als entscheidendes 45 Vgl. Caspary: Ornament der Fassade, S. 55: »Sie [Sempers Architekturtheorie; C.R.] zeigt bis in den aktuellen Architekturdiskurs ihre Wirkung. Architekten der Gegenwart, so unterschiedlichen ›Lagern‹ sie auch angehören, ob Dekonstruktivismus oder Postmoderne, konservativ-kritische Rekonstruktion oder moderne Avantgarde, ob Philip Johnson, Hans Kollhoff oder Herzog & de Meuron, verweisen noch immer auf Sempers Schriften oder Bauten als Anregung und Vorbild.« 46 Vgl. Feldtkeller, Christoph: Der architektonische Raum: eine Fiktion. Annäherungen an eine funktionale Betrachtung. 1989, S. 88. Feldtkeller schlägt für den Begriff »Abschirmung« daher auch den englischen Begriff des »environmental control« vor. 47 Ebd., S. 92.

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architektonisches Element anzusehen und sozusagen zum Gegenstand der Entwurfstätigkeit zu machen«:48 »In der formalen Betrachtung existiert die Wand nur als Oberfläche […]. Funktional betrachtet ist aber gerade die Wand das Entscheidende. Sie – hier genannt als pars pro toto der Abschirmungen nach den Seiten, nach oben und nach unten – ist es, mit deren Errichtung die verschiedenen Areale überhaupt erst als brauchbare Areale gebildet, mit deren Errichtung die für die Durchführung der Tätigkeiten geeigneten Umweltverhältnisse geschaffen bzw. aufrechterhalten werden können.«49 Anders als Semper weist Feldtkeller jedoch darauf hin, dass die mit der Wand gesetzte Abschirmung nicht nur eine trennende Grenze zwischen Innen und Außen darstellt. Separate Wandöffnungen wie Türen oder Fenster würden immer wieder auch Verbindungen zwischen dem Innen und Außen ermöglichen und Austauschprozesse zwischen beiden Bereichen befördern. Sie, so gibt Feldkeller zu bedenken, machen es möglich, dass Licht und Luft zirkulieren können und Räume für uns überhaupt erst erfahrbar werden – wir können durch Wandöffnungen in Räume hinein – und aus Räumen hinausgehen. Zusätzlich ließen sich diese Öffnungen unseren Bedürfnissen entsprechend durch Elemente wie Vorhänge, Schiebetüren oder Rollläden graduell regulieren und in ihrer Durchlässigkeit beeinflussen. Selbst bei geschlossenen Wänden würden permanent Austauschprozesse zwischen innen und außen stattfinden. Je nach Material und Bauart seien Wände durchlässig für Licht, Schall, kosmische Strahlungen, Kälte, Wärme oder Feuchtigkeit.50 Die architektonische Abschirmung umfasst also sowohl die Trennung als auch die Verbindung von Innen- und Außenraum. Je nach Anordnung und materieller Gestaltung der Wände können Räume wahlweise geöffnet oder geschlossen und der Austausch zwischen innen und außen entsprechend begünstigt oder verhindert werden. Den Gedanken Christoph Feldtkellers folgend, soll Sempers Konzept der architektonischen Bekleidung in diesem Kapitel nun erweitert werden. In erster Linie wird dabei herauszuarbeiten sein, dass sich der Prozess der Abschirmung – ähnlich wie der Akt der Körperbekleidung – in einer dialektischen Wechselbewegung von Ver- und Enthüllung, bzw. von Raumöffnung und Raumschließung, vollzieht. Zu dessen Veranschaulichung sollen Beispiele aus der modernen Architektur des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts herangezogen werden. Denn wie zu zeigen sein wird, haben erstmals die Vertreter der modernen Architektur den Zeitgenossen vor Augen geführt, dass der Vorgang der Abschirmung eine Doppelbewegung ist, bei der das räumliche Verhältnis von innen und außen stets neu ausgehandelt 48 Ebd., S. 92. 49 Ebd., S. 83. 50 Vgl. ebd., S. 84.

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wird. Darüber hinaus haben sie den Stellenwert der Oberfläche für die architektonische Gestaltung explizit herausgearbeitet und gezeigt, inwieweit Oberflächen die Wahrnehmung und Atmosphäre von Räumen beeinflussen. Im Zuge dieser Auseinandersetzung mit den Grundlagen und Möglichkeiten der architektonischen Gestaltung hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts ein ebenso offener wie funktionaler Baustil herausgebildet, der sämtliche Strömungen der modernen Architektur vereinte: vom Neuen Bauen, der De Stijl-Bewegung, der Neuen Sachlichkeit und dem Bauhaus-Stil bis hin zum International Style. Am Anfang dieser Entwicklung stand zunächst das Bedürfnis, Gebäude stärker in ihre äußere Umgebung zu integrieren und nach außen hin zu öffnen, damit Licht und Luft ins Rauminnere dringen konnten. Die im Jahr 1929 von dem Schweizer Architekturhistoriker Sigfried Giedion verfasste Schrift Befreites Wohnen macht diese Bestrebung deutlich. »SCHÖN«, so schreibt Giedion darin »ist ein Haus, das unserem Lebensgefühl entspricht. Dieses verlangt: LICHT, LUFT, BEWEGUNG, ÖFFNUNG.«51 »SCHÖN«, so Giedion weiter, »ist ein Haus, dessen Räume kein Gefühl von EINGESPERRTSEIN aufkommen lassen.«52 Die architektonische Forderung nach mehr Licht, mehr Luft und mehr Transparenz wurde vor allem durch zwei entscheidende Neuerungen realisierbar. Einerseits geschah dies durch die Entwicklung der offenen Grundrissgestaltung, bei der Wände frei im Raum angeordnet wurden, andererseits durch den Einsatz von leichten, transparenten Wänden, deren Montage durch die in Stahlbeton ausgeführte Skelettbauweise möglich geworden war. Erstmals angewendet wurde die sogenannte »Stahlskelettbauweise« bereits Ende des 19. Jahrhunderts beim Bau von mehrgeschossigen Bürogebäuden in amerikanischen Großstädten. Technische Neuerungen in der Eisen- und Stahlindustrie hatten es damals möglich gemacht, äußerst robusten und widerstandsfähigen Stahlbeton herzustellen, der selbst großen Belastungen standhielt. Von ihren statischen Pflichten weitestgehend entbunden, konnten Wände nun in ihrer Dicke erheblich reduziert werden und aus dünneren, weniger belastbaren Materialien bestehen. Einzelne Wandflächen ließen sich z.B. als durchgehende Fensterreihen gestalten oder sogar ganz auflösen.53 Der amerikanische Architekt Philip C. Johnson fasste die Möglichkeiten des Stahlskelettbaus in einem Vortrag im Jahr 1931 folgendermaßen zusammen: »Früher waren dicke Wände aus Stein oder Backstein mit kleinen Fenstern eine statische Notwendigkeit. Jetzt tragen Stahlstützen die Last und verwandeln die Außenwand in einen bloßen Vorhang. Das ermöglicht Wände aus Glas, die in 51 Giedion, Sigfried: Befreites Wohnen. Hg. von Dorothee Huber, 1985, S. 6. 52 Ebd., S. 6. 53 Vgl. ebd., S. 25: »Der Skelettbau gestattet die Wand in Glas aufzulösen. Nur die Konstruktion bleibt stehen. Die Landschaft strömt herein.«

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Stahl gefaßt sind, leichte Wände aus Metall und Klinkern und, in einigen Fällen, gar keine Wände.«54 Die Stahlskelettbauweise, die im Wesentlichen aus dem Bauingenieurwesen hervorgegangen war, wurde im Laufe der Zeit zum Sinnbild für technischen Fortschritt, Modernität und Zweckrationalismus. »Die moderne Architektur«, so Johnson weiter, »entstand und existiert im Zeitalter der angewandten Wissenschaften. Sie bekämpft das Maschinenzeitalter nicht, sondern akzeptiert es.«55 Ein Motto, das den nüchternen und funktionalistischen Ansatz jener Zeit widerspiegelt, ist die ebenfalls von Johnson geprägte Devise des »Less is more«.56 Unter diesem Motto suchte man künftig auf alles Überflüssige zu verzichten und in der Beschränkung auf das Wesentliche die Architektur von Grund auf zu erneuern. Einen Eindruck davon vermittelt uns die Schrift Ausblick auf eine Architektur aus dem Jahr 1922, die der Schweizer Architekt Charles-Édouard Jeanneret-Gris, alias Le Corbusier, verfasst hatte und die als Manifest des modernen Bauens bezeichnet werden kann. Le Corbusier entwirft darin ein Architekturkonzept, das deutlich von den rationalen Gestaltungsprinzipien der Ingenieurwissenschaft beeinflusst ist. Wie der Ingenieur, so sollte künftig auch der Architekt nach mathematischtechnischen Grundsätzen handeln und dabei stets »das Gesetz der Sparsamkeit«57 befolgen. Als Beispiele für den Erfolg und die Innovationskraft des Ingenieurwesens nennt Le Corbusier u.a. das Flugzeug, den Ozeandampfer oder das Auto. Für ihn sind diese Beispiele nicht nur Errungenschaften des technischen Fortschritts, sondern auch das Ergebnis von standardisierten Herstellungsverfahren, nach denen sich künftig auch die Architektur zu richten habe. Wie genau standardisierte Verfahren in der Architektur verwirklicht werden konnten, hatte er bereits im Jahr 1915 mit dem sogenannten Dom-ino-System bewiesen, das er zusammen mit dem Ingenieur Max du Bois entwickelt hatte (vgl. Abb. 15). Auffällig an diesem Modell war zunächst dessen minimalistischer Aufbau und die streng geometrische Form. Horizontale Stockwerkplatten wurden hier von je sechs Pfeilern aus Stahlbeton getragen und über eine Treppe miteinander verbunden. Die einheitliche Strukturierung dieses Konstruktionssystems ermöglichte es, den Gebäudekern in separate Elemente mit einheitlichen Maßen zu untergliedern. Die standardisierten Bauelemente ließen sich kostengünstig von der Großindustrie in Serie herstellen und vor Ort leicht zusammenbauen. Die Stahlskelettbau54 Johnson, Philip: Gebaut, um darin zu leben. In: Ders.: Texte zur Architektur. 1982, S. 25. 55 Ebd., S. 25. 56 Zitiert nach: Neumeyer, Fritz (Hg.): Mies van der Rohe – das kunstlose Wort: Gedanken zur Baukunst. 1986, S. 15. Der Ausspruch »Less is more« wird häufig fälschlicherweise dem Architekten Ludwig Mies van der Rohe zugeschrieben. 57 Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur. 1963, S. 21.

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Abb. 15: Le Corbusier/Max du Bois, Dom-ino-System

weise, die bis dahin hauptsächlich bei Industrie- und Gewerbebauten eingesetzt wurde, fand mit dem Dom-ino-System nun auch bei Wohngebäuden ihre Verwendung. Wenn Walter Benjamin in Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts u.a. erwähnt, dass man zur Jahrhundertwende Fabrikgebäude noch architektonisch den Wohnhäusern anzugleichen versuchte,58 so lässt sich hier gleichsam des Gegenteil behaupten: Das Wohnhaus wurde jetzt zur Fabrik. Der von Le Corbusier geprägte Ausdruck der »Wohnmaschine«59 veranschaulicht dies treffend. Bemerkenswert ist das Dom-ino-System jedoch nicht nur wegen seiner seriellen Herstellungsweise, sondern gerade auch wegen seines formalen Aufbaus. So zeigt sich zum einen, dass durch die Stahlskelettbauweise die Wände im Innenraum des Gebäudes nach Belieben eingezogen und flexibel zur räumlichen Strukturierung verwendet werden konnten.60 Zum anderen war aber auch eine Neukonzeptionierung der Außenwände möglich geworden.61 Sie konnten künftig als sogenannte curtain walls, wie Vorhänge, an den leicht überstehenden Stockwerkplatten befestigt und z.B. als große Fensterflächen gestaltet werden. Die vormals massive Außenmauer wurde dadurch zu einer leichten, transparenten Hülle – zu einer, wie Le Corbusier schreibt, »Außenhaut«:62 »Die Außenhaut ist die Umhüllung des Baukörpers, die dessen Reizwirkung aufheben oder steigern kann.«63 58 Vgl. Benjamin: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, S. 171. 59 Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur, S. 88. 60 Vgl. Giedion, Sigfried: Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition. 1965, S. 329. 61 Vgl. Roth, Alfred: Zwei Wohnhäuser von Le Corbusier und Pierre Jeanneret. 1928, S. 9. 62 Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur, S. 22. 63 Ebd., S. 33.

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Die Metaphorisierung der Wand als einer leichten, durchlässigen »Haut« lässt sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrfach in architektonischen Veröffentlichungen wiederfinden. So spricht auch Sigfried Giedion abwechselnd von der »Innenhaut« und »Außenhaut«64 eines Gebäudes, während der Architekt Ludwig Mies van der Rohe die Stahlskelettbauten wiederum als »Haut- und Knochenbauten«65 bezeichnet. Mit dem Begriff der »Haut« wollte man zum einen den ästhetischen Wert der planen Wandfläche betonen, die sich in ihrer schnörkellosen Nacktheit radikal von den ornamentierten Wänden der Vergangenheit unterschied. Zum anderen wollte man damit aber auch die neugewonnene Transparenz und Durchlässigkeit der Wände unterstreichen.66 Der Architekturhistoriker Heinrich Klotz machte darauf u.a. in seiner 1984 veröffentlichten Schrift Moderne und Postmoderne aufmerksam. Wie Klotz beschreibt, zählte es zu den charakteristischen Merkmalen der klassischen Moderne, »die Wand als Fläche aufzufassen und […] sie als eine ausgespannte Membran zu verstehen, die die Körper begrenzt«.67 Deutlich wird dies nicht zuletzt anhand der Schrift Der Raum als Membran, die der BauhausStudent und spätere Architekt Siegfried Ebeling im Jahr 1926 veröffentlicht hatte. Ebeling deutet die Wand darin abwechselnd als »Haut« oder »Membran«, die den architektonischen Raum umgrenzt und in ihrer spezifischen Durchlässigkeit zwischen innen und außen vermittelt.68 »Die klassische Moderne«, so fasst Wolfgang Pehnt den entkleidenden Charakter jener Zeit zusammen, »war, salopp gesagt, der Versuch einer FKK-Architektur.«69 Doch wenn nun zunächst auch der Eindruck entstehen mag, dass das Sempersche Gebäudekleid hier gänzlich dem Diktat des Zweckrationalismus unterworfen und bis auf die nackte Haut ausgezogen wird, so ist die Bekleidungstheorie dadurch jedoch nicht obsolet geworden. Denn die architektonische Abschirmung und Bekleidung ist für die Raumbildung bekanntlich konstitutiv und kann nicht vollständig aufgehoben werden. Die totale Entkleidung eines Gebäudes käme seiner Vernichtung gleich. Eine Karikatur des amerikanischen Zeichners Alan Dunn, die 1974 in der Zeitschrift Architectural Record erschienen ist, führt dies vor Augen (vgl. Abb. 16). 64 Giedion: Befreites Wohnen, S. 9. 65 Mies van der Rohe, Ludwig: Arbeitsthesen. In: Conrads, Ulrich (Hg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. 1964, S. 70. 66 Vgl. Hitchcock, Henry-Russell; Johnson, Philip: Der Internationale Stil: 1932. 1985, S. 41: »Im traditionellen Mauerwerksbau waren diese Wände selbst die tragenden Bauteile. Jetzt sind die Wände eher untergeordnete Elemente, die wie dünne Scheiben in das Tragwerk eingepaßt sind oder es wie eine Haut umgeben.« 67 Klotz, Heinrich: Moderne und Postmoderne. Architektur der Gegenwart 1960-1980. 1984, S. 120. 68 Vgl. Ebeling, Siegfried: Der Raum als Membran ist ein analytisch-kritischer Beitrag zu Fragen zukünftiger Architektur, die über das nackte Bedürfnis hinausgeht und hiermit sich legen möchte in die gestaltende Hand der Wissenschaft. 1926, S. 10. 69 Pehnt: In der Vorratskammer der Kostüme, S. 13.

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Abb. 16: Alan Dunn, o.T.

Zu sehen ist darauf ein Ehepaar, das ein Haus im Stil des Neuen Bauens bewohnt und entsetzt feststellen muss, dass ihnen in Sachen Modernität ihr Nachbar weit voraus ist: Sein Haus treibt das Konzept des offenen und befreiten Wohnens derart auf die Spitze, dass am Ende nicht mehr als zwei Stockwerkplatten übrig bleiben. Die moderne Architektur mag das Semper’sche Gebäudekleid somit zwar in seiner stofflichen Dichte reduzieren, es stilistisch schlichter gestalten und im Schnitt verändern – gänzlich entkleiden wird es dieses jedoch nicht. Mehr noch tritt mit der Stahlskelettbauweise Sempers Unterscheidung zwischen einem inneren, tragenden Gerüst und einer äußeren, nichttragenden Bekleidung erst wirklich zutage. Karin Harather macht darauf in ihrer Schrift HAUS-KLEIDER aufmerksam. »Tragstruktur und Bekleidung«, so schreibt sie, »sind die Grundelemente der neuen Bauweise. Erst dieses Rückführen der Baukörper auf den Archetypus des bekleideten Gestells machte es möglich, die raumabschließende Wand selbst als Bekleidung, als Haut, als Hülle zu begreifen.«70 Im Zuge dieser Entwicklung wird die Wand mehr und mehr wie eine Art Schleier eingesetzt, der aufgrund seines leichten Stoffes nicht nur transparente Durchblicke zulässt, sondern auch flexibel zur Raumorganisation verwendet werden kann. Deutlich wird dies anhand des sogenannten »offenen Grundrisses«. Der offene Grundriss zählt zu den wesentlichsten Neuerungen der modernen Raumgestaltung und wurde durch die Möglichkeiten der Stahlskelettbauweise 70 Harather: HAUS-KLEIDER, S. 39.

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entscheidend vorangetrieben.71 Beim offenen Grundriss wird ein Raum nicht mehr statisch umgrenzt, sondern steht in einem deutlich flexibleren – sprich: »offeneren« – Verhältnis zur äußeren Umgebung. Obschon ähnliche Raumkonzepte bereits in der japanischen Architektur des 16. und 17. Jahrhundert existierten, fand der offene Grundriss in der westlichen Architektur erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts Einlass.72 Die bis dahin übliche Form der Raumgestaltung war die des geschlossenen Grundrisses gewesen. Hierbei wird ein rechteckiger Raum – wie eine Schachtel – von vier Wänden umschlossen, wobei ihm nur durch separate Öffnungen, wie Türen oder Fenster, der Kontakt nach draußen möglich ist.73 Entwickelt wurde der offene Grundriss im Jahr 1904 von dem amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright und seinem Prinzip der »Destruction of the box«.74 Wie der Titel bereits verrät, »destruiert« bzw. dekonstruiert Wright mit diesem Prinzip die enge Raumschachtel des geschlossenen Grundrisses. Durch das Verschieben der Wände sprengt er deren geschlossene Form und bewirkt damit eine Öffnung des Raumes nach außen (siehe Abb. 17).

 

Abb. 17: Theo van Doesburg, Skizze von Frank Lloyd Wright’s Destruction of the box

»In dieser einfachen Veränderung des Denkens«, so Wright, »liegt das Wesen des architektonischen Wandels von der Schachtel zum offenen Grundriß.«75 »Man 71 Vgl. Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur, S. 59: »Die Konstruktion aus Eisenbeton hat in der Ästhetik des Bauens eine Revolution ausgelöst. Durch Ausmerzen des Daches und seinen Ersatz durch Terrassen führt der Eisenbeton zu einer neuen, bisher unbekannten Ästhetik des Grundrisses.« 72 Vgl. u.a. Nitschke, Günther: en – Raum für Interaktionen. 1989, S. 64ff. 73 Die sprichwörtliche Rede von den »eigenen vier Wänden« macht die Bekanntheit dieses Raummodells deutlich. 74 Vgl. Wright, Frank Lloyd: Die Zerstörung der Schachtel. In: Ders.: Schriften und Bauten. 1963, S. 228. 75 Ebd., S. 229.

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kann jetzt«, so fährt er fort, »Einzelteile von vielerlei Art zum Abschirmen herstellen und diese Einzelteile um den Innenraum gruppieren, ohne daß das Gefühl entsteht, er sei eingeschachtelt.«76 Die Wand als Medium der Abschirmung und architektonischen Bekleidung tritt hier nicht mehr nur verhüllend, sondern auch enthüllend in Erscheinung.77 So wie der menschliche Körper von der textilen Bekleidung abwechselnd gezeigt und verborgen werden kann, so wird nun auch der Raum abwechselnd von Wänden geöffnet oder geschlossen. Besonders anschaulich wird die funktionale Nähe zum Akt des textilen Be- und Entkleidens anhand eines Messestands, den Ludwig Mies van der Rohe zusammen mit der Designerin Lilly Reich entworfen hatte. Anlässlich der 1927 in Berlin veranstalteten Messe »Die Mode der Dame« hatten sie im Auftrag des Vereins der deutschen Seidenwebereien einen Stand entworfen, der als Café für die Messebesucher diente.78 Das Café mit dem programmatischen Namen Samt und Seide war ganz im Sinne des offenen Grundrisses angelegt und fiel durch eine flexible Raumstruktur ins Auge (vgl. Abb. 18). Lange Vorhänge aus Samt- und Seidestoffen, die an Stahlrohren befestigt waren, zogen sich hier in weiten Bahnen durch die Messehalle und unterteilten diese in separate Bereiche.79 Mal gerade, mal geschwungen fungierten die Vorhänge als flexible Wandelemente, die ein mehrdeutiges Geflecht ineinander übergreifender und sich verschränkender Raumzonen herstellten. Mies van der Rohe und Reich veranschaulichten damit nicht nur den Akt des Ver- und Enthüllens als architektonisches Thema, sondern verwirklichten geradezu Wrights Kommentar zum offenen Grundriss:80 »Die Mauern sind nun eher als freundliche Vorhänge anzusehen. Sie bestimmen und differenzieren den Raum ohne ihn je zu beschränken.«81 Der Eindruck, der hierbei entsteht, kann auch als räumliche Transparenz beschrieben werden. Geprägt wurde dieser Begriff von dem Architekten Colin Rowe und dem Künstler Robert Slutzky in ihrer architekturtheoretischen Schrift Transparenz aus dem Jahr 1963. Für gewöhnlich verknüpfen wir mit dem Begriff Trans76 Ebd., S. 228. 77 Vgl. ebd., S. 229: »Diese unverbundenen Seitenwände werden etwas Unabhängiges; sie sind nicht mehr einschließende Wände.« 78 Vgl. Lange, Christiane: Ludwig Mies van der Rohe. Architektur für die Seidenindustrie. 2011, S. 71. 79 Vgl. ebd., S. 72. 80 Vgl. Harather: HAUS-KLEIDER, S. 105: »Dem Vorhang als traditionellem, flexiblem Architekturbekleidungselement kommen in Mies van der Rohes Bauten ganz allgemein wichtige Gestaltungsaufgaben zu. Mit dem Motiv des Vorhangs arbeitet er auf verschiedene Weise. Klassische frei hängende Stoffvorhänge und textile Abspannungen finden sich als Elemente der Innenraumbekleidung. Die Curtain-Wall, als bildhafte Übertragung und formal-konstruktive Entsprechung des Vorhangs, wird in vielen seiner Bauten als raumabschließende Hülle eingesetzt und zur hohen Kunst entfaltet.« 81 Wright, Frank Lloyd: Die neue Architektur: Leitsätze. In: Ders.: Schriften und Bauten. 1963, S. 252.

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Abb. 18: Mies van der Rohe und Lilly Reich, Café Samt und Seide

parenz die Lichtdurchlässigkeit eines Stoffs. Wie Rowe und Slutzky betonten, kann dieser Ausdruck aber auch in einem übertragenen Sinne verwendet werden.82 Nach Auffassung der Autoren kann Transparenz somit entweder »eine dem Material innewohnende Eigenschaft sein wie bei einer vorgehängten Glaswand (curtain wall) oder sie kann eine der Organisation innewohnende Eigenschaft sein«.83 Laut Rowe und Slutzky handelt es sich bei der Transparenz im übertragenen Sinne um eine Verschmelzung von verschiedenen räumlichen Lagen, so wie wir es bei einem offenen Grundriss beobachten können.84 Innen und Außen sind hier nicht mehr deutlich voneinander getrennt, sondern gehen fließend ineinander über. Der Architekt und spätere Direktor des Bauhauses, Walter Gropius, sollte dieses Phänomen daher auch als »fließendes Raumkontinuum« bezeichnen.85 82 Vgl. Rowe, Colin; Slutzky, Robert: Transparenz. 1974, S. 11: »Man kann somit zwischen einer wirklichen oder buchstäblichen Transparenz oder Transparenz im übertragenen Sinne unterscheiden.« 83 Ebd., S. 11. 84 Vgl. ebd., S. 10-11. 85 Vgl. Gropius, Walter: Gibt es eine Wissenschaft der Gestaltung? In: Ders.: Architektur: Wege zu einer optischen Kultur. 1982, S. 49.

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In seinem 1990 veröffentlichten Aufsatz Die Dekonstruktion der Schachtel geht Dirk Baecker näher auf das Raummodell des offenen Grundrisses ein. Baecker versucht darin aus soziologischer Perspektive zu erörtern, inwiefern die Unterscheidung von Innen und Außen für die Gestaltung von und die Kommunikation über Architektur generell konstitutiv ist.86 Seiner Auffassung nach handelt es sich bei dem Unterschied von Innen und Außen um ein dialektisches Spannungsverhältnis, innerhalb dessen Architektur überhaupt erst entstehen kann. Er schreibt: »Wie auch immer Architektur entworfen, dargestellt, benutzt und bewohnt werden mag, man weiß nur, daß es sich um Architektur handelt, wenn man hineingehen und wieder herauskommen kann und wenn sich bei diesem Hineingehenund-wieder-herauskommen-Können die Verhältnisse ändern, das heißt drinnen anderes geschieht und erwartet werden kann als draußen.«87 Innen und Außen sind für Baecker Unterscheidungen, die mit der Bewegung im Raum variieren können und vom jeweiligen Beobachterstandpunkt abhängen.88 Fest stehe dabei nur, dass Innen und Außen stets wechselseitig aufeinander verweisen würden und folglich als Einheit zu begreifen seien. Bis ins 20. Jahrhundert hinein sei es allerdings keiner Architekturtheorie gelungen, die Einheit der Differenz von Innen und Außen gedanklich zu fassen.89 Als entscheidenden Wendepunkt bestimmt Baecker nun Wrights Konzept der »Destruction of the box«. Wright setzte mit seinem Konzept die räumliche Trennung von Innen und Außen aufs Spiel, mache sie aber gerade dadurch als elementare Bedingung von Architektur bewusst.90 Erst mit der Dekonstruktion der Schachtel werde das Prinzip der Abschirmung als gestalterische Grundlage der Architektur offensichtlich.91 »Die Abschirmung ist es«, so Baecker, »die der Architektur ihre elementare Form gibt.«92 In Anlehnung an Christoph Feldtkeller weist Baecker aber ebenso darauf hin, dass die architektonische »Abschirmung […] nicht mit der Herstellung von Geschlossenheit«93 gleichgesetzt werden darf. »Im Gegenteil« käme die Abschirmung »[…] nur dann zur Geltung, wenn sie die Möglichkeit der Schließung gegen die Möglichkeit 86 Vgl. Baecker, Dirk: Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen in der Architektur. In: Luhmann, Niklas; Bunsen, Frederick D.; Baecker, Dirk (Hg.): Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur. 1990, S. 83. Innerhalb dieses Diskurses geht Baecker auch wiederholt auf Christoph Feldtkellers Konzept des architektonischen Raumes und den Vorgang der Abschirmung ein. 87 Ebd., S. 83. 88 Vgl. ebd., S. 88. 89 Vgl. ebd., S. 84. 90 Vgl. ebd., S. 88. 91 Vgl. ebd., S. 90. 92 Ebd., S. 90. 93 Ebd., S. 91.

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der Öffnung profiliert und beide Möglichkeiten präsent hält.«94 Nur dann ließen sich räumliche Abschirmungen – ließe sich Architektur überhaupt – realisieren. Architektur bedeutet also die wechselseitige Schließung und Öffnung von Räumen auf dem Wege der Abschirmung. Oder in Anlehnung an Semper: die wechselseitige Ver- und Enthüllung von Räumen auf dem Wege der Bekleidung. Bis Wrights neuartige Gedanken zur Raumgestaltung auch in Europa angewendet wurden, sollte es jedoch noch einige Jahre dauern. Auf besonders fruchtbaren Boden fielen seine Ideen zunächst bei der niederländischen De Stijl-Gruppe. Die De Stijl-Gruppe war eine 1917 gegründete Künstlervereinigung, die sich aus der Malerei heraus entwickelt hatte, ihre Prinzipien jedoch auch im Bereich der Architektur zu verwirklichen suchte. Entsprechend zählten zu ihren Mitgliedern nicht nur Maler wie Piet Mondrian oder Bart van der Leck, sondern ebenso Architekten wie Theo van Doesburg, Robert van t’Hoff, Cornelis van Eesteren oder J. J. P. Oud. Die De Stijl-Bewegung strebte danach eine neue, universelle Formensprache zu entwickeln, die für Malerei und Architektur gleichermaßen gelten sollte.95 »Durch die Einheit der neuen Ästhetik«, so schrieb Mondrian, sollten »[…] Baukunst und Malerei eine Kunst formen und ineinander aufgehen«.96 Zu deren Verwirklichung beschränkte man sich, in der malerischen wie der architektonischen Gestaltung, zum einen radikal auf geometrisch-abstrakte Formen und einheitliche Farben.97 Zum anderen suchte man, von der Malerei des Kubismus beeinflusst, dreidimensionale Objekte fortan in einer Anordnung von zweidimensionalen Flächen wiederzugeben.98 Sowohl in der Malerei als auch in der Architektur begriff man Raum nicht länger als Volumen, sondern als eine, so Mondrian, »Vielheit von Flächen«.99 Einen Eindruck von dieser Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Raum und Fläche vermitteln uns u.a. die Zeichnungen, die Theo van Doesburg und Cor94 Ebd., S. 91. 95 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lassen sich in zahlreichen Fällen Überschneidungen zwischen Kunst und Architektur beobachten. Nicht nur im De Stijl, auch im Konstruktivismus, Suprematismus oder im Purismus verschwimmen die Gattungsgrenzen von Malerei und Architektur. Persönlichkeiten. die beide Bereiche miteinander vereinen, sind u.a. Le Corbusier, El Lissitzky, Theo van Doesburg oder Friedrich Vordemberge-Gildewart. 96 Mondrian, Piet: Neue Gestaltung. Neoplastizismus. 1925, S. 66. 97 Vgl. Bächler, Hagen (Hg.): De Stijl: Schriften und Manifeste zu einem theoretischen Konzept ästhetischer Umweltgestaltung. 1984, S. 13-14. 98 Vgl. Mondrian: Neue Gestaltung, S. 12. Deutlich wird dies u.a. anhand des Konzeptes des »Neoplastizismus«, welches Mondrian 1925 wie folgt beschreibt: »In der neuen Gestaltung drückt sich die Malerei nicht mehr durch die scheinbare Körperlichkeit, welche den natürlichen Eindruck überträgt, aus. Im Gegenteil drückt sie sich gestaltend flach innerhalb der Fläche aus. Indem sie die dreidimensionale Körperlichkeit zur Fläche vereinfacht, drückt sie die reine Beziehung aus.« 99 Ebd., S. 62.

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nelis van Eesteren 1923 zur Konzeption ihres Gebäudetyps Maison particulière angefertigt hatten (siehe Abb. 19).

 

Abb. 19: Theo van Doesburg und Cornelis van Eesteren, Maison particulière

Auffällig an diesem Gebäudemodell ist die offene Grundrissgestaltung, die, stärker noch als bei Wright, abwechslungsreiche und ineinander übergehende Raumstrukturen ermöglicht.100 Wie bei einem Stecksystem können rechtwinklig zueinanderstehende Flächenelemente horizontal oder vertikal ineinander gefügt und je nach Bedarf zur räumlichen Organisation eingesetzt werden.101 Jede Fläche wird hier ganz bewusst als Mittel zur Abschirmung verwendet, um Raum herzustellen und in seinem Verhältnis nach außen entsprechend zu öffnen und/oder zu schließen. »Grundsätzlich«, so schrieb van Doesburg 1928 in einem 100 Vgl. Doesburg, Theo van: Auf dem Weg zu einer plastischen Architektur. In: Conrads, Ulrich (Hg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. 1964, S. 74: »Die neue Architektur hat die Wände geöffnet und so die Trennung von Innen und Außen aufgehoben […] Das Resultat ist ein neuer, offener Grundriß, der sich von der Klassik ganz und gar unterscheidet, da Innen und Außen ineinander übergehen.« 101 Vgl. ebd., S. 74.

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Aufsatz, sei »der architektonische Raum nur als gestaltlose und blinde Leere zu betrachten«.102 Erst die spezifische Organisation von Flächen gestattete es, architektonischen Raum herzustellen und als solchen wahrzunehmen. Van Doesburg zufolge kann der Stellenwert der Fläche für die Architektur deshalb gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er schreibt: »LETZTEN ENDES IST DOCH NUR DIE OBERFLAECHE FUER DIE ARCHITEKTUR ENTSCHEIDEND, der Mensch lebt nicht in der Konstruktion, sondern in der ATMOSPHAERE, welche durch die OBERFLAECHE hervorgerufen wird!«103 Wie anhand der Theorien des Wahrnehmungspsychologen James J. Gibson bereits beschrieben wurde, sind Oberflächen eine wichtige Voraussetzung für unsere visuelle und räumliche Wahrnehmung. Laut Gibson setzt sich unsere räumliche Umgebung aus einer »Abfolge aneinanderstoßender Oberflächen«104 zusammen, die Licht reflektieren und auf unsere Netzhaut projizieren. Ohne Oberflächen blieben Entfernungen unbestimmt, und unsere Umwelt bestünde lediglich aus einem diffusen Lichtmeer. Herbert Bayer, Fotograf, Maler und Lehrer am Bauhaus, hat für einen Katalog zur Ausstellung des Deutschen Werkbundes im Jahr 1930 in Paris eine Graphische Darstellung des Gesichtsfeldes angefertigt, die dies veranschaulicht (vgl. Abb. 20).

 

Abb. 20: Herbert Bayer, Graphische Darstellung des Gesichtsfeldes 102 Doesburg, Theo van: Farben in Raum und Zeit. In: Petersen, Ad (Hg.): De Stijl. 1921-1932. 1968, S. 626. 103 Doesburg: Farben in Raum und Zeit, S. 626. 104 Gibson: Die Wahrnehmung der visuellen Welt, S. 25.

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Die visuelle Umgebung des Menschen wird hier als ein Gefüge von unterschiedlich angeordneten Flächen dargestellt, die seine Wahrnehmung bestimmen. Wie bereits erwähnt wurde, ist der Reflexionsgrad einer Oberfläche auch für die Helligkeit und Farbigkeit unserer Umgebung ausschlaggebend. Je nachdem aus welcher Substanz eine Oberfläche besteht, reflektiert bzw. absorbiert sie das einfallende Licht unterschiedlich und bestimmt damit, wie hell und farbig wir unsere Umgebung wahrnehmen. Nichts anderes versucht nun auch Theo van Doesburg mit der oben zitierten Aussage zu verdeutlichen. Seiner Auffassung nach sind Oberflächen für die Architektur essentiell, da diese aufgrund ihrer Flächigkeit sowie ihrer reflektierenden Eigenschaften die Gestaltung und Wahrnehmung von Räumen überhaupt erst möglich machen. »Die Gestaltung des Raumes«, so schreibt er, »ist ohne Licht undenkbar. Licht und Raum ergänzen sich.«105 Im Sinne van Doesburgs sind Oberflächen aber auch insofern für die Architektur entscheidend, als ihre stofflichen Qualitäten die Wirkung oder – wie er schreibt – die »ATMOSPHAERE«106 eines Raumes beeinflussen. Schließlich gibt eine Fläche aus Beton das Licht anders wieder als eine Fläche aus Holz oder Glas. Die reflektierenden Eigenschaften der planen Fläche nicht nur zu erkennen, sondern auch ihrer jeweiligen atmosphärischen Wirkung nach einzusetzen, ist ein Anspruch, dem viele Architekten der Moderne gerecht zu werden versuchen. »Habt Achtung vor den Wänden […]«, so appelliert etwa Le Corbusier: »Das Licht übt die Vollkraft seiner Wirkung aus, wenn es zwischen Wänden flutet, die es reflektieren.«107 Und in ihrer 1932 veröffentlichten Schrift Der Internationale Stil warnten Philip C. Johnson und der Architekturhistoriker Henry-Russell Hitchcock: »Wie eine natürliche Folge des Prinzips des von Flächen umschlossenen Raums ergibt sich als weitere Forderung, daß die Oberflächen in ihrer Wirkung nicht unterbrochen sein sollten«.108 Vor diesem Hintergrund erklärt sich nicht zuletzt auch Le Corbusiers Aufforderung, keinerlei Bilder an die Wände seiner Gebäude zu hängen, sondern diese stattdessen in Schränken zu verwahren und nur bei Gelegenheit hervorzuholen.109 Die Bilder mit ihren eigenen zweidimensionalen Flächen, so sei105 Doesburg: Farben in Raum und Zeit, S. 621. 106 Ebd., S. 626. 107 Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur, S. 140. Vgl. Badt: Raumphantasien und Raumillusionen, S. 98: »Zum Raume als allgemeiner Vorstellung gehört kein Licht, aber zu jeder künstlerischen Darstellung von Räumlichem gehört es unbedingt. Diese Zusammengehörigkeit von Raum und Licht wird konkret im Ort der Dinge (Körper), an denen allein es sich zeigt und durch welches jene allein sichtbar werden.« 108 Hitchcock/Johnson: Der Internationale Stil, S. 44. Hitchock und Johnson widmen der Stofflichkeit von Oberflächen sogar ein ganzes Kapitel (ebd., S. 48-51). Darin heißt es: »Der Charakter des flächenumschlossenen Raums wird nicht nur von der Baukörperform eines modernen Gebäudes geprägt, auch die Materialien der Außenflächen selbst sind von größter Bedeutung.« 109 Vgl. Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur, S. 96.

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ne Sorge, würden die stoffliche Präsenz der Wand verdecken und die Wirkung auf die Raumatmosphäre beeinträchtigen. Wie stark unser Eindruck von einem Gebäude durch die räumliche Anordnung und Stofflichkeit seiner Oberflächen bestimmt wird, soll zum Abschluss noch einmal ausführlicher veranschaulicht werden. Als Beispiel dient dazu der Deutsche Pavillon, den Ludwig Mies van der Rohe für die Weltausstellung 1929 in Barcelona entworfen hatte. Mies van der Rohe, der im darauffolgenden Jahr die Leitung des Bauhauses übernehmen sollte, war sowohl von den Raumkonzeptionen Frank Lloyd Wrights als auch von jenen der De Stijl-Gruppe beeinflusst.110 Bei seinem als Barcelona-Pavillon umschriebenen Gebäude finden wir daher nun auch die wichtigsten Gestaltungsprinzipien der klassischen modernen Architektur verkörpert: eine Trennung von tragendem Gerüst und raumgestaltender Wand, eine offene und flexible Raumstruktur sowie ein sorgsam abgestimmtes Wechselspiel von verschiedenen Materialoberflächen. Der Pavillon wurde bereits kurz nach dem Ende der Weltausstellung wieder abgerissen, doch hat man das Gebäude im Jahr 1986 detailgetreu rekonstruiert. Der eingeschossige Bau ist horizontal angelegt und auf einer leicht erhöhten Plattform errichtet. Durch diese Art Podium gewinnt die überaus moderne Erscheinung des Gebäudes zugleich etwas Zeitloses und weckt beim herannahenden Besucher Assoziationen zur griechischen Tempelarchitektur sowie zur klassizistischen Architektur Friedrich Schinkels.111 Im Inneren des Gebäudes wiederum trägt ein System aus acht verchromten Stahlstützen die Last des Daches und gibt damit die Wände für eine offene Raumgestaltung frei.112 Die ehemals geschlossene Raumschachtel wird hier denn auch in einer bis dahin unbekannten Radikalität gesprengt. Durch eine Reihe von Verschiebungen löste Mies van der Rohe die Wände gänzlich aus ihrer geschlossenen Form und verteilte sie frei über die gesamte Plattform (vgl. Abb. 21). So gruppieren sich um ein kleines Wasserbassin im nördlichen Außenbereich drei Wände aus Marmor, von denen eine durch eine Glaswand nach vorne hin verlängert wird. Im südlichen Außenbereich befindet sich ein zweites, größeres Wasserbecken, das von zwei Wänden eingefasst wird: einer längeren Wand, die in einen angegliederten Annexraum übergeht, und einer kürzeren Wand, die die Vorderseite der Plattform nach außen hin öffnet (vgl. Abb. 22).113

110 Vgl. Giedion: Raum, Zeit, Architektur, S. 357. 111 Vgl. Pavel, Thomas: Resultat: Beste Ergänzung. Mies van der Rohe und Kolbe im ParcelonPavillon. In: Berger, Ursel; Pavel, Thomas (Hg.): Barcelona-Pavillon. Architektur & Plastik. Ludwig Mies van der Rohe & Kolbe. 2006, S. 20. 112 Vgl. Zimmermann, Claire: Mies van der Rohe. 1886-1969. Die Struktur des Raumes. 2006, S. 39. 113 Vgl. Pavel: Resultat: Beste Ergänzung, S. 22.

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Abb. 21: Mies van der Rohe, Barcelona-Pavillon (Grundriss)

 

Abb. 22: Mies van der Rohe, Barcelona-Pavillon

An der Rückseite der Plattform befindet sich wiederum eine große, freistehende Längswand, die eine Art Verbindung zwischen den auseinanderstrebenden Teilen der Raumschachtel herstellt.114 Würde man die einzelnen Wände wieder zusammenfügen und in ihrer Länge entsprechend anpassen, so gelänge man erneut zur ursprünglich geschlossenen 114 Vgl. Zimmermann: Mies van der Rohe, S. 39.

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Raumschachtel. Da Mies van der Rohe die rechteckige Anordnung der Wände jedoch sprengte, erzeugte er eine komplexe und beziehungsreichere Raumstruktur. Mit einer großen Geste stülpt er hier gewissermaßen den Innenraum nach außen und schlägt den Außenraum sogleich nach innen ein. Auf diese Weise gelingt es ihm, das räumliche Verhältnis von Innen und Außen in einer Reihe von nuancierten Faltungen zu organisieren.115 »Beim Barcelona-Pavillon«, so beschreiben es Hitchcock und Johnson, »sind die Wände Scheiben, aber sie definieren keinen fest umrissenen Körper. […] Die Wände sind voneinander unabhängige Scheiben, die so innerhalb des Gesamtraums angeordnet sind, daß durch sie wieder kleinere Räume gebildet werden.«116 Von großer Bedeutung ist hierbei vor allem eine freistehende Wand aus Onyx, die sich etwa in der Mitte des Gebäudes befindet. In der Interaktion mit den umliegenden Wand-, Boden- und Deckenflächen unterteilt sie den Innenraum in unterschiedlich abgeschirmte Zonen.117 Je nach Standort und Blickwinkel des Betrachters ist der Innenraum mal vom Außenbereich getrennt und/oder mit diesem verbunden (vgl. Abb. 23). Zusätzlich dazu bilden ein Teppich und ein roter Vorhang unmittelbar vor bzw. gegenüber der Onyx-Wand eine eigene, abgegrenzte Fläche, die wie eine Art Insel im Raum liegt und ursprünglich zeremoniellen Anlässen diente (vgl. Abb. 24).118 Diese Durchmischung unterschiedlich abgeschirmter Raumbereiche und -zonen bewirkt, dass sich der Besucher nicht lange an einem Punkt aufhält, sondern dazu verleitet wird das Gebäude in der Bewegung zu erkunden. »Man könnte«, so stellt der Architekt und Autor Klaus-Jürgen Sembach fest, »etwas mechanisch dargestellt […] die Passanten mit Billardkugeln vergleichen, die nach einmaligem Anstoß einen genau kalkulierten, aber sehr richtungsreichen und sich oftmals brechenden Weg vollführen.«119 Die aus ihrer starren Anordnung gelösten Wände treten dem Besucher dabei deutlich als einzelne Oberflächen entgegen, 115 Was hier am Barcelona-Pavillon zu beobachten ist, ähnelt jenem, was der Architekt Hugo Häring allgemein zur neuen Bauweise schreibt: »Der angriff setzt am kubus selbst an. In seinem inneren regen sich dynamische gewalten, die ihn aufreißen und in einzelne blöcke, schichten und kleine quader zerlegen, um die so gewonnenen bausteine zu einem neuen bau nach einer anderen ordnung zu verwenden, einer ordnung, die den ganzen bau mit bewegung erfüllt und über ihn hinausgreift, um nach außen zu stoßen und das außen in die welt des baues einzubeziehen. Die werdende gestalt zersprengt die hülle, in der sie herangereift ist.« (vgl. Häring, Hugo: neues bauen. 1947, S. 14) 116 Hitchcock/Johnson: Der Internationale Stil, S. 46-47. 117 Vgl. Zimmermann: Mies van der Rohe, S. 39. 118 Vgl. Pavel, Thomas: Der Barcelona-Pavillon als mediales Ereignis. In: Berger, Ursel; Pavel, Thomas (Hg.): Barcelona-Pavillon. Architektur & Plastik. Ludwig Mies van der Rohe & Kolbe. 2006, S. 70. 119 Sembach, Klaus-Jürgen: Ludwig Mies van der Rohe – Architektur zwischen Ideal und Wirklichkeit. 1972.

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Abb. 23-24: Mies van der Rohe, Barcelona-Pavillon

die seinen Blick und seine Bewegung unterschiedlich beeinlussen. So erscheinen sie mal als opake Sichtbarrieren, die einen bestimmten Bereich abschirmen und das Bedürfnis wecken, den dahinterliegenden Raum zu erfahren. Ein anderes Mal wieder lenken sie die Aufmerksamkeit auf ihre unmittelbare Erscheinung und präsentieren sich als Leinwände – oder »Screens« im Sinne Giuliana Brunos. Schattenlinien und Relexionen sowie die Farben, Strukturen und Maserungen des Materials treten dann wie ein Film auf der Oberläche in Erscheinung und verleiten zu kontemplativer oder imaginativer Betrachtung. Ebenso gut können aber auch die Glasscheiben z.B. durch Eintrübungen, Spiegelungen oder Lichtbrechungen die Wahrnehmung von Innen- und Außenraum ein ums andere Mal verändern (vgl. Abb. 25-26). Wie in einem Labyrinth verhindern und begünstigen die Oberlächen des Pavillons abwechselnd Lauf- und Blickrichtungen und führen den Besucher in mehreren Wendungen durch das Gebäude.120 Der Kunsthistoriker omas Pavel hält dazu fest: »Es wird deutlich, dass der ›ließende Raum‹ des Barcelona-Pavillons wesentlich auch auf der Inszenierung von Blickbeziehungen und Sichtachsen basiert und von diesen strukturiert wird. Sein ›Fluss‹ ist nicht kontinuierlich, sondern geprägt durch diferenzierte optische ›Geschwindigkeiten‹: Rasante Perspektiven in die Tiefe luchtender Linien wechseln mit diagonalen Flächenansichten, die den Blick in verschiedene Richtungen und Räume umlenken.«121 120 Vgl. Pavel: Resultat: Beste Ergänzung, S.22. 121 Pavel: Der Barcelona-Pavillon als mediales Ereignis, S.55-56.

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Abb. 25-26: Mies van der Rohe, Barcelona-Pavillon

Der beim Pavillon zu beobachtende Wechsel von Raumöffnung und -schließung erinnert deutlich an die flexible Raumgestaltung des von Mies van der Rohe und Reich entworfenen Cafés Samt und Seide. Gleichzeitig lassen sich jedoch auch Parallelen zu dem bereits beschriebenen Akt der Entblößung feststellen, wo durch abwechselndes Ver- und Entkleiden des Körpers Spannung erzeugt wird. In ähnlicher Weise wird hier nun auch der Raum von blickdichten Wänden umhüllt, dann wieder durch Öffnungen entkleidet oder von transluzenten Wänden aus Milchglas verschleiert, die den dahinter liegenden Bereich nur in Andeutungen zu erkennen geben. Dem Striptease nicht unähnlich wird durch das abwechselnde Zeigen und Verbergen unterschiedlich abgeschirmter Raumzonen eine geradezu voyeuristische Neugierde aufgebaut. Verstärkt wird diese Analogie nicht zuletzt durch Georg Kolbes Skulptur Der Morgen, die sich im nördlichen Außenbereich befindet. Durch Blickbezüge oder Reflexionen auf den glatten Oberflächen des Pavillons ist die nackte Frauengestalt im gesamten Gebäude permanent präsent.122 Sie bildet für den Besucher eine Art Bezugspunkt auf dem Weg durch den Pavillon (vgl. Abb. 27-29). Der Besucher kann sich der Skulptur jedoch niemals direkt, sondern immer nur auf mäanderndem Wege nähern.123 Wie beim Striptease, so wird auch hier der Anblick der Skulptur permanent angedeutet und in Aussicht gestellt und doch immer wieder aufgeschoben. Selbst wenn der Besucher im Außenbereich angelangt ist, bleibt die Skulptur in gewisser Hinsicht »unerreichbar«: Sie befindet sich in 122 Vgl. ebd., S. 57. 123 Vgl. Pavel: Resultat: Beste Ergänzung, S. 28.

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Abb. 27: Mies van der Rohe, Barcelona-Pavillon und Georg Kolbe, Der Morgen

der Mitte des kleinen Bassins und wird von einem Wassergraben umgeben, der die Distanz zum Objekt aufrecht erhält. Wie bereits angedeutet wurde, wecken die Oberflächen des Pavillons neben ihren abschirmenden Funktionen auch durch ihre materiellen Eigenschaften das Interesse und die Neugierde der Besucher.124 So erzeugen die Wände aus hellbraunem Travertin, flaschengrünem Marmor, geflecktem Vert antique und honiggelben Onyx in ihrer spezifischen Eigensinnlichkeit ein komplexes Zusammenspiel von unterschiedlichen Farben und Strukturen.125 Zusätzlich entstehen durch die polierten Glas- und Marmorwände sowie durch die Wasserflächen der Bassins zahl124 Vgl. Hitchcock/Johnson: Der Internationale Stil, S. 149. Auch Hitchcock und Johnson stellen bei ihrer Beurteilung des Barcelona-Pavillons fest: »Die verschiedenen Oberflächentexturen einschließlich derjenigen des Wassers entfalten eine schöne dekorative Wirkung.« 125 Vgl. Pavel: Der Barcelona-Pavillon als mediales Ereignis, S. 64. Wie Thomas Pavel erwähnt, sah man sich bei der Rekonstruktion des Barcelona-Pavillons im Jahr 1986 durch die verschiedenen verwendeten Materialoberflächen zu einem neuen Blick auf die klassische moderne Architek-

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Abb. 28: Mies van der Rohe, Barcelona-Pavillon und Georg Kolbe, Der Morgen

reiche Reflexionen, die das Ineinanderfließen von räumlichen Lagen zu potenzieren scheinen. So kann z.B. eine Glaswand, je nach Blickwinkel und Tageszeit, nicht tur veranlasst: »Es wurde entdeckt, dass die Moderne nicht nur weiß, sondern insbesondere die Version Mies van der Rohes sehr farbig gewesen war.«

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Abb. 29: Mies van der Rohe, Barcelona-Pavillon und Georg Kolbe, Der Morgen

nur den Blick auf den Außenbereich freigeben, sondern zugleich den Innenraum auf der Oberfläche widerspiegeln. Die visuelle Ambivalenz, die hier durch die Verwendung von Glasflächen erzeugt wird, setzte Mies van der Rohe in zahlreichen seiner Gebäude gezielt ein.126 So schreibt er u.a. im Jahr 1922 im Rückblick auf einen Entwurf für ein Glashochhaus am Berliner Bahnhof Friedrichstraße: »Meine Versuche an einem Glasmodell wiesen mir den Weg, und ich erkannte bald, daß es bei der Verwendung von Glas nicht auf eine Wirkung von Licht und Schatten, sondern auf ein reiches Spiel von 126 Vgl. Leatherbarrow; Mostafavi: Surface architecture, S. 201: »From the early period of his work onward, Mies remained preoccupied with the reflections produced by glazed surfaces.«

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Lichtreflexen ankam.«127 Aus diesem Grund benutzte Mies van der Rohe beim Bau des Barcelona-Pavillons auch Glasscheiben mit unterschiedlichen Färbungen. So sind die Scheiben zur Straße farblos, während die Scheiben zum Hof hin grau und die zum Garten grün eingefärbt sind.128 Die Querwand vor dem großen Wasserbecken besteht dagegen aus zwei opaken Glasscheiben, die von innen beleuchtet werden können. Sogar das kleine Wasserbassin ließ Mies van der Rohe ursprünglich mit schwarzen Platten auslegen, um die spiegelnden Effekte noch zu verstärken (vgl. Abb. 30).129

 

Abb. 30: Mies van der Rohe, Barcelona-Pavillon und Georg Kolbe, Der Morgen

Ludwig Mies van der Rohe begreift die Wand-, Decken- und Bodenflächen des Pavillons somit nicht nur als optische Raumgrenzen, sondern verwendet sie zugleich hinsichtlich ihrer stofflichen Eigenschaften, um die Atmosphäre des Raumes zu beeinflussen. Die Oberflächen des Gebäudes fungieren sowohl als Sichtbarrieren wie auch als Blickfänger, um die Neugierde des Betrachters unterschiedlich anzusprechen. Wie sorgsam Mies van der Rohe generell bei der Auswahl der Oberflächen vorging, verdeutlichen die Collagen, die er zur Planung von Gebäuden wie dem Resor House, der Concert Hall oder der Convention Hall angefertigt hatte. In der 127 Mies van der Rohe, Ludwig: Hochhäuser. In: Neumeyer, Fritz (Hg.): Mies van der Rohe – das kunstlose Wort: Gedanken zur Baukunst. 1986, S. 298. 128 Vgl. Pavel: Resultat: Beste Ergänzung, S. 26. 129 Vgl. Pavel: Der Barcelona-Pavillon als mediales Ereignis, S. 57; und ebd., S. 53: Pavel zufolge hat man noch im Jahr 1929 auf einigen Fotografien des Pavillons die durch Oberflächen hervorgerufenen Spiegeleffekte nachträglich retuschiert, um die Aufnahmen zu »versachlichen«.

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unterschiedlichen Zusammensetzung zweidimensionaler Flächen versuchte er deren materielle Eigenschaften miteinander abzustimmen und ihre Wirkung auf den Raum zu testen (vgl. Abb. 31).

 

Abb. 31: Mies van der Rohe, Collage zum Resor House

Wie bei einem Schneider werden hier die Stoffe, Farben und Muster des Gebäudekleides gegeneinander gehalten und entsprechend miteinander kombiniert. Mit seinem Barcelona-Pavillon versinnbildlicht Mies van der Rohe nun geradezu all jene Eigenschaften und Merkmale, die Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson der modernen Bauweise zuschreiben: »Die Wirkung von Masse, von statischer Festigkeit, eben noch die primäre Qualität von Architektur, ist verschwunden; an ihre Stelle tritt die Wirkung reiner Körper – oder genauer, von glatten Flächen, die einen Raum umschließen. Das vorherrschende architektonische Element ist nicht mehr der feste Stein, sondern der offene Behälter. In der Tat besteht die große Mehrheit der Gebäude sowohl in der Realität als auch in ihrer Wirkung nur noch aus einfachen Flächen, die einen Raum umschließen. Mit der lediglich durch eine Schutzhaut umhüllten Skelettkonstruktion kann es der Architekt kaum vermeiden, diese Wirkung des durch ebene Oberflächen umschlossenen Volumens zu erzielen.«130 130 Hitchcock/Johnson: Der Internationale Stil, S. 42.

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Je stärker also die Wand zu Beginn des 20. Jahrhunderts von ihren statischen Pflichten entbunden wird, umso deutlicher wird sie als Medium der Abschirmung und Raumbekleidung bewusst.

9.3

Oberflächlicher Putz. Die Wand als Schmuck- und Zeichenträger

In Kapitel 8.3 wurde anhand der Kleidung und Kleidermode bereits veranschaulicht, dass Hüllen auch in dekorativer Absicht verwendet werden können. Der Gegenstand der Verhüllung wird dabei von einer reichverzierten Hülle umspannt, die ihn schmückt und ästhetisch aufwertet. Dass auch die Hüllen der Architektur in dieser Hinsicht eingesetzt werden können, wird nun in diesem Kapitel zu zeigen sein. Gottfried Semper hat darauf bekanntlich schon in seiner Bekleidungstheorie hingewiesen. Nach seiner Auffassung, dient die architektonische Verhüllung – respektive Bekleidung – nicht nur dem Zweck des Schutzes und der Raumbildung, sondern auch dem des Schmucks. Über die dekorative Gestaltung der Wände mithilfe von Ornamenten und Symbolen wird die Hülle des Baukörpers äußerlich verziert und ästhetisch belebt. Die Kunsthistorikerin Uta Caspary beschreibt dies u.a. in ihrer architekturtheoretischen Monographie Ornamente der Fassade. »Das Ornament«, so Caspary, »kleidet den Baukörper ein und verschönert ihn wie die Haut das menschliche Knochengerüst.«131 Wie der Titel von Casparys Buch schon erahnen lässt, kommt der Fassade dabei eine nicht unwesentliche Rolle zu. Das Wort »Fassade« stammt von dem lateinischen Substantiv facies (»das Gesicht«) ab und bezeichnet die dem Außenraum zugewandte Fläche eines Bauwerks. Als Gesicht und buchstäbliche »Schauseite« des Gebäudes wird sie bevorzugt als Gegenstand ornamentaler Verzierungen genutzt. In ihrer Eigenschaft als Ornamentträger übernimmt die Fassade neben dekorativen aber auch kommunikativ-repräsentative Aufgaben.132 »Durchaus vergleichbar mit der Kommunikationsfunktion des menschlichen Gesichts«, so schreibt Caspary, »gehört es […] zu den Aufgaben der Fassade, mit dem Außenraum Verbindung aufzunehmen und Informationen über die Geschichte oder die Funktion des Gebäudes mitzuteilen.«133 Gleichzeitig darf hier jedoch nicht vergessen werden, dass neben den Fassadenwänden auch alle weiteren Außen-, Innen- und Zwischenwände eines Gebäudes als Ornamentträger fungieren können. Um einen Eindruck von den verschiedenen Funktionen und den damit verbundenen Absichten der ornamentalen Wandgestaltung (bzw. Wandbekleidung) 131 Caspary: Ornamente der Fassade, S. 42. 132 Vgl. Harather: HAUS-KLEIDER, S. 99: »Die Fassadenbekleidung ist hier als schmückend-dekoratives Element, als Garnierung des Baukörpers gut sichtbar.« 133 Caspary: Ornamente der Fassade, S. 46.

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Die Philosophie der Oberfläche

gewinnen zu können, sollen in diesem Kapitel Beispiele aus der Epoche des Jugendstils und der Postmoderne herangezogen werden. In Kapitel 9.3.1 wird zunächst einmal zu beschreiben sein, wie man zur Zeit des Jugendstils, an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die als kahl empfundene Oberfläche der Wand durch das Applizieren von Ornamenten ästhetisch zu beleben versuchte. Die ornamentale Gestaltung der Wand diente dabei jedoch nicht nur der Verzierung von Gebäuden und Räumen, sondern wurde auch als eine Möglichkeit zur Selbstdarstellung und -inszenierung begriffen. Wie die modische Bekleidung des Körpers, so wurde hier auch die architektonische Bekleidung erstmals als ein Mittel verwendet, um persönlichen Gefühlen und Ansichten Ausdruck zu verleihen. Dass diese modischen Inszenierungsweisen letztlich jedoch nur möglich sind, weil Ornamente neben ihrer schmückenden auch eine zeichenhafte Funktion haben, wird wiederum in Kapitel 9.3.2 zu erläutern sein. Im Zentrum steht dabei die Epoche der postmodernen Architektur, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts, gewissermaßen als Gegenreaktion auf die klassische Moderne, das Ornament wiedereinführte. Die postmoderne Architektur, so soll anhand einiger Beispiele gezeigt werden, vertrat einen doppelbödigen und ironisch-spielerischen Baustil, der mithilfe von Ornamenten fluktuierende und mehrdeutige Oberflächeneffekte hervorbrachte.

9.3.1

Ornament als Oberflächenkunst – oder: das Blümchenkleid des Jugendstils

Nachdem das neuartige Raumkonzept der modernen Architektur bereits erläutert wurde, geht es in diesem Kapitel mit der Beschreibung des Jugendstils wiederum einen Schritt zurück: in die Zeit, bevor das offene und befreite Wohnen entdeckt werden sollte. Der Begriff Jugendstil oder auch Art Nouveau umschreibt eine, gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa, unter unterschiedlichen Namen und in unterschiedlichen Ausprägungen, verbreitete Stilrichtung. Sie beginnt um das Jahr 1890 als Modern Style in England und tauchte dann nach und nach in anderen europäischen Ländern auf: in Frankreich und Belgien als Art Nouveau, in Spanien als Modernisme, in Österreich als Secessions- und in Deutschland als Jugendstil.134 Der Jugendstil ist in erster Linie als eine ästhetische Bewegung zu verstehen, die sich von allem Vergangenen abzugrenzen versuchte und eine radikale Erneuerung von Kunst und Leben anstrebte.135 Die Begriffe »Art Nouveau«, »Modern Style« und »Sezession« (zu Deutsch: »die Abspaltung«) deuten dies bereits an. 134 Vgl. Tschudi-Madsen, Stephan: Jugendstil. Europäische Kunst der Jahrhundertwende. Art nouveau. 1967, S. 27: Der Name »Jugendstil« wurde von der Münchener Kunstzeitschrift Jugend geprägt, die ab 1896 erschien. 135 Vgl. Schmutzler, Robert: Art nouveau – Jugendstil. 1962, S. 7.

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Mit dem Vergangenen verband man zu jener Zeit vor allem die vorangegangene Epoche des Historismus, die sich ausschließlich auf die Repetition vergangener Stilformen, wie z.B. Gotik, Barock oder Renaissance, beschränkte.136 »Alle wichtigen Bauten, von denen der Betrachter einen tieferen ästhetischen Eindruck gewinnen sollte«, so schreibt Siegfried Giedion im Hinblick auf den Historismus, »erschienen in historischem Kostüm.«137 Im Gegensatz dazu suchte der Jugendstil nun eine neue, eigenständige Formensprache zu entwickeln, die sich positiv auf das herannahende 20. Jahrhundert auswirken sollte. Eines der wesentlichsten Ziele des Jugendstils war es, das im Laufe der Industrialisierung verlorengeglaubte Verhältnis zwischen Mensch und Natur wiederherzustellen. Als wichtigstes Mittel hierzu betrachtete man das Handwerk bzw. das Kunsthandwerk.138 Das Kunsthandwerk wurde als eine jahrtausenddealte, technikferne Tätigkeit wahrgenommen, die den menschlichen Alltags verschönern sollte. Kunsthandwerkliche Erzeugnisse mit ihren ornamentalen Ausschmückungen sollten nicht nur die Beziehung von Mensch und Natur wieder harmonischer gestaltet, sondern auch die Kunst stärker in das gesellschaftliche Leben integrieren. Die Bewegung des Jugendstils kam daher auch in den unterschiedlichsten Bereichen des Lebens zum Ausdruck: Wir begegnen dem Jugendstil u.a. in der Architektur und Inneneinrichtung, in der Kunst, im Buchdruck, in der Glasbläserei sowie in der Möbelherstellung. Sämtliche Gegenstände, die dem Menschen in seinem Alltag begegneten, sollten durch künstlerische Bearbeitung aufgewertet werden und so das als inhaltsleer geltende Dasein des modernen Lebens bereichern. Da sich die industrielle Produktion jedoch gerade zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert auf ihrem Höhepunkt befand, stand auch der Jugendstil zunehmend unter dem Einfluss neuer Produktions- und Herstellungsverfahren.139 Immer häufiger griff man bei der Gestaltung von Gebäuden oder Gegenständen auch auf industriell gefertigte Materialien zurück. Besonders zum Ende hin schwankte der Jugendstil deshalb zwischen traditionellem Handwerk und maschineller Produktion, zwischen Technikfeindlichkeit und Fortschrittsoptimismus.140 Bei allen Erneuerungsbestrebungen des Jugendstils fällt rückblickend so doch vor allem dessen eskapistische Grundhaltung auf. Die Architektur und Wohnkultur des Jugendstils war noch stark von den bürgerlichen Wertvorstellungen des 19. Jahrhunderts geprägt, die eher zu Zurückgezogenheit als zu radikalem Aufbruch animierten. So versuchte man auf dem Wege der ästhetischen Verzierung nicht nur Gegenstände und Gebäude mittels dekorativer Ornamente zu be-decken, sondern gewissermaßen auch die Wirklichkeit zu ver-decken und aus der geschützten 136 137 138 139 140

Vgl. Tschudi-Madsen: Jugendstil, S. 30. Giedion: Raum, Zeit, Architektur, S. 138. Vgl. Tschudi-Madsen: Jugendstil, S. 45. Vgl. Schmutzler: Art Nouveau – Jugendstil, 1962, S. 276. Vgl. Tschudi-Madsen: Jugendstil, S. 46.

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Sphäre der eigenen vier Wände auszusperren. Der Akt des architektonischen Bekleidens präsentiert sich hier denn auch häufig als dekoratives Auskleiden der geschlossenen Raumschachtel. Anders als es die moderne Architektur nach ihr praktizierte, strebte die Architektur des Jugendstils also noch nicht danach, die engen Grenzen des Raumes zu sprengen, um eine stärkere Durchdringung von Innen und Außen zu erzielen. Sie hatte vielmehr räumliche Geschlossenheit und ästhetizistische Verpuppung im Sinn – und blieb so doch in gewisser Hinsicht dem Historismus verhaftet. Walter Benjamins Betrachtungen zur bürgerlichen Wohnkultur des 19. Jahrhunderts lassen sich somit durchaus auf den Jugendstil übertragen: »Die Urform allen Wohnens ist das Dasein nicht im Haus sondern im Gehäuse. Dieses trägt den Abdruck seines Bewohners. Wohnung wird im extremsten Falle zum Gehäuse. Das neunzehnte Jahrhundert war wie kein anderes wohnsüchtig. Es begriff die Wohnung als Futteral des Menschen und bettete ihn mit all seinem Zubehör so tief in sie ein, daß man ans Innere eines Zirkelkastens denken könnte, wo das Instrument mit allen Ersatzteilen in tiefe, meistens violette Sammethöhlen gebettet, daliegt. Für was nicht alles das neunzehnte Jahrhundert Gehäuse erfunden hat: für Taschenuhren, Pantoffeln, Eierbecher, Thermometer, Spielkarten – und in Ermangelung von Gehäusen Schoner, Läufer, Decken und Überzüge. Das zwanzigste Jahrhundert machte mit seiner Porosität, Transparenz, seinem Freilicht- und Freiluftwesen dem Wohnen im alten Sinne ein Ende.«141 Wie wir noch sehen werden, wird die Jugendstil-Bewegung an ihrem Ende zwar von der ornamentalen Umhüllung von Objekten und Gebäuden Abstand nehmen und damit sogleich den Weg für die moderne Architektur ebnen142 – in Summe bleibt sie aber doch ihr wesentlichstes Merkmal. Dolf Sternberger machte darauf in seinem 1934 veröffentlichten Essay Über den Jugendstil aufmerksam. Wie Sternberger beschreibt, brach der Jugendstil zwar in vielerlei Hinsicht mit den Gestaltungsprinzipen des Historismus, von der ornamentalen Verzierung konnte man sich allerdings noch nicht lösen. »Denn«, so schreibt er, »die Maskerade der historischen Stile hatte man zwar verworfen, aber nur, um sie gegen das Kleid des 141 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. In: Tiedemann, Rolf (Hg.): Gesammelte Schriften. Bd. 5, 1, 1982, S: 291-292. Von dem Wohnkonzept des Gehäuses ausgehend, entwirft Benjamin schließlich eine Typologie des Bürgers des 19. Jahrhunderts: dem »Etui-Menschen«. Siehe dazu u.a. Benjamin: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, S. 178: »Das Interieur ist nicht nur das Universum, sondern auch das Etui des Privatmanns«; sowie Benjamin, Walter: Der destruktive Charakter. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1. 1977, S. 290: »Der EtuiMensch sucht seine Bequemlichkeit, und das Gehäuse ist ihr Inbegriff. Das Innere des Gehäuses ist die mit Samt ausgeschlagene Spur, die er in die Welt gedrückt hat.« 142 Vor diesem Hintergrund erklärt es sich auch, weshalb Benjamin am Ende des obigen Zitat schreibt: »Der Jugendstil erschütterte das Gehäusewesen aufs tiefste.« (Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 292)

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neuen Stils auszutauschen, welches dem lebendigen Leib des Zeitgeistes wie eine zweite Haut angepaßt zu sein schien.«143 Statt Objekte und Gebäude also länger mit historischen Ornamenten zu verzieren, begann man deren Oberflächen nun vielmehr als ein Experimentierfeld für die Entwicklung einer neuen Formensprache zu begreifen. Die Ornamentik des Jugendstils präsentiert sich daher auch nicht in einem einheitlichen Stil, sondern in unterschiedlichen Ausprägungen: von ausladenden, floralen Verzierungen bis hin zu abstrakten, geometrischen Elementen. Folgt man dem Kunsthistoriker Robert Schmutzler, so ist – über alle Unterschiede hinweg – aber doch die intensive gestalterische Auseinandersetzung mit der Oberfläche ein verbindendes Merkmal der Jugendstil-Ornamentik. »Immer«, so schreibt er »tritt Art Nouveau zunächst in der Fläche auf.«144 »Wenn der Stil auch keineswegs überall flächenhaft bleibt, verwirklichen sich doch seine Stilprinzipien auch in Körper- und Raumgebilden fast ausnahmslos nur dort rein, wo sie vorher durch die Beschränkung auf das Zweidimensionale wie durch einen Filter hindurchgegangen sind. Am Anfang stehen die Fläche und die Bewegung in der Fläche.«145 Ähnlich schilderte dies auch der Kunsthistoriker Fritz Schmalenbach in seiner 1935 erschienenen Schrift Jugendstil. Ein Beitrag zu Theorie und Geschichte der Flächenkunst. Auch Schmalenbach bestimmt darin die gestalterische Konzentration auf die Oberfläche als entscheidendes Merkmal des Jungendstils.146 »Der Raum«, so schreibt er, »in dem die zu behandelnden Dinge und Vorgänge sich vorfinden und abspielen ist die Fläche, ob sie nun Oberfläche von Leinwänden und Buchblättern oder von Tapeten und Stoffen ist.«147 Ornamente würden hier nicht plastisch oder raumillusionistisch ausgebeult, sondern verharrten weitestgehend im zweidimensionalen Raum.148 Schmalenbach bezeichnet die Ornamente des Jugendstils daher auch als »Flächenkörper«.149 Unter dem Begriff des »Flächenkörpers« versteht er allgemein eine durch Umrisslinien begrenzte Fläche im zweidimensionalen Raum.150 Als Bei143 Sternberger, Dolf: Über den Jugendstil. In: Ders.: Über den Jugendstil und andere Essays. 1956, S. 19. 144 Schmutzler: Art Nouveau – Jugendstil, S. 29. 145 Ebd., S. 29. 146 Vgl. Schmalenbach, Fritz: Jugendstil. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte der Flächenkunst. 1935, S. 1. 147 Ebd., S. 1. 148 Vgl. ebd., S. 24. 149 Ebd., S. 4. 150 Vgl. ebd., S. 4: »Die Fläche hat eigene, flächige Körper, sie ist nicht allein Bildebene, welche die Darstellung des Raumes trägt, sondern selber Raum […] Ein gebräuchlicher, eindeutiger Gattungsname für diese Flächengebilde scheint überhaupt zu fehlen (Figur?, Silhouette?). Es sind zweidimensionale Körper und sie sollen als ›Körper‹ bezeichnet werden.«

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spiel dafür nennt er u.a. Kreis- und Quadratflächen oder die schwarzen Silhouetten von Druckbuchstaben. Flächenkörper seien im Gegensatz zu raumillusionistischen Körpern weder durch Schattierungen vertieft noch durch vielfarbige Gestaltung optisch gekrümmt.151 Neben ihrer Beschränkung auf den zweidimensionalen Raum stellt Schmalenbach in der Ornamentik des Jugendstils noch eine allgemeine Tendenz zu langgeschwungenen Bewegungen sowie eine Beschränkung auf wenige Formen und Motive fest.152 Diese formal-motivischen Merkmale in der Ornamentik nimmt Schmalenbach nun sogleich zum Anlass, um den Jugendstil insgesamt in zwei Phasen zu unterscheiden: eine florale Phase und eine abstrakte Phase.153 Als früheste Phase des Jugendstils benennt er die florale Phase, die sich maßgeblich in Frankreich, Belgien und Deutschland ausmachen lässt. Die florale Phase begann etwa um das Jahr 1894 und endete mit Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit ihr wird zumeist das verknüpft, was man landläufig unter dem Epochenbegriff Jugendstil versteht. Der florale Jugendstil äußerte sich u.a. im Bereich der Architektur – wie etwa bei den Bauten Victor Hortas –, prägte sich jedoch besonders stark im Kunsthandwerk aus. In langgezogenen und scheinbar endlosen Biegungen schlängelten sich Blütenkelche, Blätter, Pflanzenstengel sowie Äste und Wurzeln ornamental um die Oberflächen von Decken, Lampen und Möbeln.154 Schmalenbach zufolge verzichtete man zwar auch beim floralen Ornament bewusst auf Schattierungen, dennoch ließen sich gerade hier verstärkt raumillusionistische Tendenzen beobachten.155 Anders dagegen beim abstrakten Ornament: Hier wurden die Oberflächen von Wänden und Objekten meist mit voluminösen Flächenkörpern verziert, die sich in geometrisch-abstrakten Formen flächig über den zweidimensionalen Raum ausbreiteten.156 Das abstrakte Ornament wurde deutlich asketischer gestaltet und meistens nur sparsam verwendet. Jene abstrakte Phase des Jugendstils, die um das Jahr 1900 in Belgien begann, lässt sich hauptsächlich als eine Gegenbewegung zur floralen Phase begreifen. 151 Vgl. ebd., S. 27: Wie Schmalenbach erwähnt, lassen sich jedoch auch bei Flächenkörpern raumillusionistische Eindrücke nie ganz ausschalten. Der Grund hierfür seien die Umrisslinien und farblichen Markierungen des Flächenkörpers, die den zweidimensionalen Raum scheinbar in Vorder- und Hintergrund gliedern. So würden uns z.B. Buchstaben mitunter ein wenig von dem zugrundeliegenden Papier hervorgehoben erscheinen, obwohl sie strenggenommen auf ein und derselben Ebene liegen. Schmalenbach zufolge hat der Jugendstil daher auch kaum je »absolute Flächigkeit, d.h. Ausschaltung jeglicher Illusion dreidimensionaler Räumlichkeit« (ebd., S. 25-26), erzielen können. 152 Vgl. ebd., S. 25. 153 Vgl. ebd., S. 26. 154 In Belgien wurde der Jugendstil durch die flexible Liniengestaltung Victor Hortas u.a. auch als »Peitschenschlagstil« (Coup-de-Fouet-Stil) bezeichnet. 155 Vgl. Schmalenbach: Jugendstil, S. 27. 156 Vgl. ebd., S. 76.

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Was die florale und abstrakte Phase des Jugendstils jedoch miteinander vereint, ist die grundsätzliche Neubewertung und Neuausrichtung des Ornaments. Seit der Renaissance, spätestens jedoch seit dem 17. Jahrhundert war das Ornament immer wieder Gegenstand zahlreicher philosophischer und ästhetischer Debatten.157 Auslöser war dabei stets die Frage, ob das Ornament als etwas Substantielles oder lediglich als schmückendes Beiwerk zu begreifen sei. Innerhalb dieser Diskussionen schwankte das Ornament kontinuierlich zwischen höherer Wahrheit und dekorativem Schein, zwischen eigenständigem Kunstwerk und ergänzender Zutat.158 In dem allgemeinen Bestreben, Kunst und Leben wieder miteinander zu versöhnen, wollte die Jugendstil-Bewegung nun auch in der Ornamentik eine Brücke zwischen dekorativen Zwecken und ästhetischen Anforderungen schlagen. So sollte das Ornament auf der einen Seite Objekte beleben und verzieren, auf der anderen Seite aber nicht nur als etwas Hinzugefügtes verstanden werden. Der Mensch sollte durch die Wahrnehmung ornamental verzierter Oberflächen aus seinem Alltag emporgehoben werden und in deren Betrachtung derart versinken, dass sie zum eigentlichen Zentrum seines Interesses wurden. Unverkennbaren Einfluss auf diese Auffassung hatte das sogenannte Arts and Crafts Movement.159 Die »Arts and Crafts«-Bewegung war eine ästhetische und sozialreformerische Strömung, die in England zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert auftauchte. Sie verlief weitgehend parallel zur Epoche des Jugendstils und wirkte nachhaltig auf diese ein. Zu ihren bekanntesten Vertretern zählten der Kunsthistoriker John Ruskin sowie der Architekt und Sozialreformer William Morris. Kennzeichen der »Arts and Crafts«-Bewegung waren eine kritische Haltung gegenüber der Industrialisierung und die Sorge um die Lebenssituation der Arbeiter. Wie der Jugendstil nach ihr, so versuchte bereits die »Arts und Crafts«-Bewegung durch Belebung des Kunsthandwerks das Verhältnis zwischen Mensch und Natur wieder in Einklang zu bringen. William Morris schildert dies in seinem 1882 veröffentlichten Aufsatz Die niederen Künste (The Lesser Arts). Morris hebt darin die Bedeutung der vermeintlich niede157 Vgl. Raulet, Gérard (Hg.): Vom Parergon zum Labyrinth. Untersuchungen zur kritischen Theorie des Ornaments. 2001, S. 7. 158 Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 142ff.: Einen Eindruck dieser Doppelstellung des Ornaments liefert u.a. die Ornamenttheorie Immanuel Kants. Auch bei Kant – der anstelle des Begriffs Ornament den Ausdruck Zierrat verwendet – lassen sich zwei Arten unterscheiden: der Zierrat als eine zweckgebundene Zutat und der Zierrat als zweckfreie Schönheit. Kant zufolge wird der Zierrat zu einer zweckgebundenen Zutat, wenn er einem Gegenstand in dekorativer Absicht hinzugefügt wird. Als Beispiel nennt er u.a. die Rahmen von Gemälden oder die Gewänder an Statuen, Säulengängen und Gebäuden. Der zweckfreie Zierrat unterstehe dagegen keinerlei Pflicht, sondern sei eine »(für sich bestehende) Schönheit dieses oder jenes Dinges« (ebd., S. 146). Als Beispiele für diese Art des Zierrats nennt er Arabeske oder Tapetenmuster. 159 Vgl. Tschudi-Madsen: Jugendstil, S. 42-43.

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ren, d.h. dekorativen, Künste hervor und kritisiert deren Abspaltung von der sogenannten höheren Kunst. Die Trennung in höhere und niedere Kunst sei ein Irrweg, der beiden Künsten letztlich schade. Durch ihre Trennung würden die niederen Künste »alltäglich, mechanisch, sinnlos«, während die höheren Künste »ohne Unterstützung der geringeren […] ihre Würde als volkstümliche Künste verlieren«160 würden. Erst die dekorativen Künste würden das Leben mit der Kunst vereinen und dadurch den Alltag der Menschen bereichern: »Nun ist es einer der Hauptzwecke der Dekoration, und sie hat in der Hauptsache das mit der Natur gemein, unsere abgestumpften Sinne in dem Punkt zu schärfen: zu diesem Zweck sind jene Wunder von verschlungenen Mustern eingewoben, jene seltsamen Formen erfunden, an denen sich die Menschen so lange erfreut haben: Formen und Muster, die nicht unbedingt die Natur nachahmen, aber bei denen die Hand des Arbeiters in der Weise zu schaffen geleitet wird, wie sie es thut, bis das Gewebe, der Becher, das Messer so natürlich, ja so schön aussehen, wie das grüne Feld, das Flußufer oder der Bergkiesel.«161 Für Morris ist die Gestaltung und Verzierung von Gebrauchsgegenständen demnach ein wichtiges Mittel, um die entstandene Kluft zwischen Mensch und Natur wieder zu schließen. Die dekorativen Künste vereinten das Nützliche mit dem Schönen und seien in ihrer Auswirkung kaum zu unterschätzen. »Diese Kunst«, so schreibt Morris zum Ende seines Aufsatzes, »wird unsere Straßen so schön wie Wälder machen […] sie wird dem Geiste Erquickung und Rast gewähren […]; alle Werke des Menschen […] werden im Einklang mit der Natur stehen, vernunftgemäß und schön sein.«162 Die Jugendstil-Bewegung schloss sich Morris’ Auffassung vom Sinn und Zweck des Ornaments nun weitestgehend an. »Er [der Jugendstil; C.R.]« so schreibt Walter Benjamin, »stellt den letzten Ausfallversuch der in ihrem elfenbeinernen Turm von der Technik belagerten Kunst dar. […] Im Ornament bemüht er sich, diese Formen der Kunst zurückzugewinnen.«163 Einen Eindruck davon, wie der Jugendstil durch ornamentale Verzierungen den Menschen aus seiner alltäglichen Umgebung lösen wollte, vermittelt uns die von dem Kunsthistoriker Oskar Bie verfasste Schrift Die Wand und ihre künstlerische Behandlung aus dem Jahr 1904. Bie schildert darin die historische Entwicklung der Wanddekoration von der Antike bis zur Jahrhundertwende. Ein Merkmal, das sich dabei wie ein roter Faden durch alle Epochen hindurchzieht, ist seiner Ansicht nach das mit der Dekoration einhergehende Bedürfnis nach ästhetischer Weltflucht: 160 Morris, William: Die niederen Künste. In: Ders.: Kunsthoffnungen und Kunstsorgen. Bd. 1, 1901, S. 2. 161 Ebd., S. 4. 162 Ebd., S. 43. 163 Benjamin: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, S. 177-178.

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»DER GRUNDZUG aller Wanddekoration ist die Überwindung der Wand selbst. Diese Mauer, die am Boden ansetzt und das Dach trägt, ist ein kleines Gefängnis, auf das die internierten Menschen ihre Wünsche und Träume niedergeschrieben haben. Sie suchten sie sich wegzutäuschen.«164 Laut Bie entspringt die Kunst der Wanddekoration also wesentlich dem Wunsch nach ästhetischer Illusion und Täuschung. »Diese Täuschung«, so fährt er fort, »ist der Freiheitstraum, den der Mensch auf die Wand projiziert. Zu allen Zeiten spiegelt die Wand eine innere künstlerische Sehnsucht des Bewohners wider.«165 Nichtsdestotrotz ließen sich in den einzelnen Epochen aber auch unterschiedliche Motivationen bei der Verzierung von Wänden erkennen. Von der Renaissance bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hätte die Wanddekoration hauptsächlich dazu gedient, den sozialen Status ihrer Bewohner zu repräsentieren. Im Gegensatz dazu sei die moderne Wandgestaltung – sprich: die des Jugendstils – mehr von individuellen Interessen und Sehnsüchten geleitet.166 In dem Vorhaben des Jugendstils, eine moderne Ornamentsprache zu entwickeln, erkblickt Bie somit den Wunsch und Willen einer jungen Generation, dem eigenen Wesen Ausdruck zu verleihen. Die Fassade, als das »Gesicht« und die Schauseite eines Gebäudes, spielte dabei eine wichtige Rolle. Der Kleidermode nicht unähnlich, fungierte auch die Fassade als eine Schmuckhülle, die durch zeichenhafte Gestaltung die individuellen Stimmungen und Gefühle des Bewohners widerspiegeln sollte.167 »Die Fassade«, so kommentiert Bie den architektonischen Kleidungswandel zu Beginn des 20. Jahrhunderts, »wurde aus einer Repräsentation ein passender Einband für private Liebhabereien.«168 Und er prophezeit: »Die Häuser werden sich immer schärfer voneinander absetzen, immer persönlicher charakterisieren, immer häufiger Eigenarten des Bewohners und des Künstlers aussprechen dürfen, bis die Einför164 Bie, Oscar: Die Wand und ihre künstlerische Behandlung. 1904, S. 1. 165 Ebd., S. 2. 166 Vgl. ebd., S. 83: »Die moderne tektonische Kunst ist eine überhaupt private, wie die des Altertums es nur streckenweise, die der Renaissance es nur zur Hälfte war.« Vgl. auch Caspary: Ornamente der Fassade, S. 69: »Im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzog sich die Loslösung des Ornaments von seiner ›religiös-soziopolitischen Repräsentations- und Legitimationsfunktion‹, die es in den vorhergehenden feudalen Herrschaftssystemen innehatte. Vor allem das als aufgesetzt, beliebig und sinnentleert empfundene Ornamentschaffen des Historismus […] stieß auf immer breitere Ablehnung.« 167 Vgl. Hauer: Erotik der Kleidung, S. 12: Karl Hauers Beschreibungen zur Schmuckfunktion in Bekleidung und Architektur stehen somit noch ganz in der Tradition des 19. Jahrhunderts: »Und wenn die Kleidung und Wohnung des Menschen nicht mehr bloße Schutzmittel gegen Witterung und Schmutz sind, sondern Ausdrücke des Stolzes und der Macht, Abzeichen der sozialen Distanz, Betätigungen der Prachtliebe und des Kunsttriebes, dann erst sind sie ein Wertvolles, eine Emanation des Geistes, Symbole und Kunstwerke.« 168 Bie: Die Wand und ihre künstlerische Behandlung, S. 110.

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migkeit der früheren Strassenbilder […] zerstört ist.«169 Walter Benjamin scheint sich den Betrachtungen Bies anzuschließen, wenn er angesichts der Gebäude des belgischen Jugendstil-Architekten Henry van de Velde feststellte: »Bei Vandervelde erscheint das Haus als Ausdruck der Persönlichkeit. Das Ornament ist diesem Hause, was dem Gemälde die Signatur.«170 Wie Oskar Bie verdeutlicht, versuchte man die individuellen Sehnsüchte und Träume jedoch nicht nur auf den Außen-, sondern auch auf den Innenflächen der Gebäude zum Ausdruck zu bringen. Er schreibt: »Die moderne Wand kann den Menschen nun gar nicht mehr verleugnen; es giebt selbst keine Mietstapete mehr, auf welcher der Bewohner nicht ein noch so kümmerliches Erinnerungszeichen seiner Person angeheftet hätte, und es giebt Tausende von Wänden, die ganz persönlich nach eigenen Angaben mit eigenen Symbolen des Lebens hergerichtet sind. Dieser grosse Spiegel unseres Lebens, der die Wand ist, wirft nun das ganze Bild des Menschen zurück […].«171 Dolf Sternberger kennzeichnet jenen gestalterischen Impetus der JugendstilBewegung auch als ein »Herstellen von in sich totalen Sphären der Individualität«.172 Wie Walter Benjamin und Oskar Bie, so erblickt auch er im Jugendstil den Wunsch nach individueller Gestaltung des Wohn- und Lebensraums: »Die Idee des Jugendstils war es, die Menschen, ja die Epoche im ganzen als Individuum mit lauter Spiegelungen ihres eigenen Inneren zu umgeben, sie in diesen Formreigen einzuhüllen.«173 Und er fährt fort: »So entstand als reifstes Werk des Jugendstils das Heim. Genauer: das Einfamilienhaus. Das Heim als total durchgestaltetes Reich des individuellen Lebens, worin die Synthese der Kunst im Zusammenstimmen von Innen und Außen, von Dekoration, Mobiliar, Beleuchtung und allen handwerklichen Einzelarbeiten sich zu bewähren hatte. Man kann die Idee dieser totalen Heimkunst […] begreifen als eine universale Expansion des Ornaments.«174 Wie bereits zu Beginn des Kapitels, so werden auch hier wieder Parallelen zum Historismus erkennbar. Und erneut lässt sich eine Feststellung Walter Benjamins zur Wohnkultur des 19. Jahrhunderts auf die des Jugendstils übertragen: »Der Raum 169 Ebd., S. 112. 170 Benjamin: Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, S. 177. Vgl. Sternberger: Über den Jugendstil, S. 24: »Van de Velde entwirft einmal als ideales Ziel die Phantasie einer Stadt, in der jedes Haus der volle Ausdruck eines Charakters, eines Willens oder eines Wunsches sein werde.« 171 Bie: Die Wand und ihre künstlerische Behandlung, S. 84. 172 Sternberger: Über den Jugendstil, S. 24. 173 Ebd., S. 19-20. 174 Ebd., S. 20.

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verkleidet sich, nimmt wie ein lockendes Wesen die Kostüme der Stimmungen an.«175 Dolf Sternberger jedoch erkennt Unterschiede in der Art und Weise, wie Jugendstil und Historismus Räume »verkleiden«. Seiner Ansicht nach ließen sich in den bürgerlichen Wohnräumen des frühen 19. Jahrhunderts zwar vielerlei ornamentale Verzierungen entdecken, allerdings beschränkten sich diese noch weitgehend auf (bewegliche) Objekte. Zum Ende des 19. Jahrhunderts seien die Ornamente dann gewissermaßen wie Efeu die Wände emporgewachsen und hätten vom Gebäude Besitz ergriffen: »Diese derart festgefügten Wohnungen und Häuser rechnen mit einem ganz ebenso unauswechselbaren Bewohner, der für alle Ewigkeit dem Banne seines angewurzelten Eigentums ausgeliefert bleibt. Die Wohnung der Gründerzeit bestand aus Räumen, in denen sich vieles drängte, in denen wie in Museen, Herbarien oder künstliche Gärten ein ungehäurer Trophäenhaufe aus Natur und Historie angesammelt war, der die Räume füllte. Jedes einzelne Stück davon aber war beweglich […]. Der Jugendstil setzte den Akzent anders. Nicht die Füllung der Räume mehr, sondern diese selbst, als ornamentierte Hülse gleichsam, sind das Wesentliche der Wohnung.«176 Waren die Ornamente des Jugendstils zu Beginn jedoch noch Ergebnisse einer kunsthandwerklichen Tätigkeit, so entwickelten sie sich im Laufe der Zeit zu industriell gefertigten Massenprodukten.177 Neue technische Verfahren ermöglichten es jetzt, innerhalb kürzester Zeit massenhaft Objekte anzufertigen und ornamental zu gestalten. Die dekorative Bekleidung von Gegenständen und Gebäuden war zu einer Mode geworden. Nahezu alles in der Umgebung eines Menschen wurde nun mit Ornamenten bestückt. Die abstrakte Phase des Jugendstils wollte dieser, wie Schmalenbach schreibt, »Ornamentüberladenheit und -überbetonung«178 entgegentreten und das Ornament von seinem konventionellen Charakter befreien.179 Die floralen Auswüchse sollten gebändigt und streng geometrischen Regeln unterworfen werden. Einer der bekanntesten Vertreter des abstrakten Jugendstils, der sich in zahlreichen Reden und Aufsätzen für eine asketisch-reduzierte Ornamentik engagierte, war Henry van de Velde. Der belgische Architekt hatte zu Beginn seiner Karriere noch auf florale Ornamente zurückgegriffen, sich dann jedoch allmählich der abstrakten 175 176 177 178 179

Benjamin: Passagen-Werk, S. 286. Sternberger: Über den Jugendstil, S. 22. Vgl. Schmalenbach: Jugendstil, S. 17-18. Ebd., S. 76. Vgl. Rykwert, Joseph: Ornament ist kein Verbrechen. In: Ders.: Ornament ist kein Verbrechen. Architektur als Kunst. 1983, S. 164.

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Richtung zugewandt.180 In seinem 1901 veröffentlichten Aufsatz Das neue Ornament schrieb er etwa: »Ich will niemandem das Recht nehmen, jenes [das florale Ornament; C.R.] vorzuziehen, aber ich beabsichtige, überzeugend nachzuweisen, daß die von mir verkündigte Ornamentik der Zeit, in der wir leben, angepaßter ist, und daß ihre eine unendliche Abwechslung bergende Geschmeidigkeit besser als das ewige Blumenornament die Gewähr in sich schließt, sich den geistigen Forderungen kommender Jahrhunderte und den Stoffen, die sie uns bringen werden, anzuschmiegen.«181 Für van de Velde ist das florale Ornament ein Sinnbild für Rückständigkeit und kleinbürgerliche Verzierungslust. Das florale Ornament werde wahllos jedem sich bietenden Gegenstand aufgeklebt und verberge diesen unter einer Schicht überflüssigen Schnörkels. Es stünde in keinerlei Beziehung zu dem zugrundeliegenden Gegenstand und sei daher ebenso austauschbar wie sinnlos.182 Folglich zählte van de Velde es zu den wichtigsten Aufgaben der Zeit, die »Gebrauchsgegenstände von diesen Ornamenten zu befreien, die nichts bedeuten, denen keine wesentliche Daseinsberechtigung und infolgedessen keine Schönheit innewohnt«.183 Ornamente seien lediglich dort in abstrakt-sachlicher Manier anzubringen, wo die Erscheinung eines Gegenstandes nach Verzierung und ästhetischer Aufwertung verlange. In allen anderen Fällen sei die schlichte Schönheit der Materialität der sinnlosen Ornamentierung vorzuziehen. »Sobald man entdeckt haben wird«, schreibt er, »daß die Schönheit des Holzes in der Aderung und in der Zartheit seiner Füllung besteht, wird man nicht mehr daran denken, die großen, glatten Flächen mit Ornamenten zu bedecken.«184 Van de Velde will auf das Ornament somit nicht gänzlich verzichten, es allerdings nur noch dort anwenden, wo es seiner Ansicht nach erforderlich ist. Im Laufe der Jahre mehrten sich dann jedoch allmählich die Stimmen, die eine ornamentale Verzierung radikal ablehnten, und läuteten damit schließlich das Ende des Jugendstils ein. Da nun aber gerade mit dem Ende des Jugendstils erkennbar wird, wie sich der Übergang zur modernen Architektur über eine Neubewertung der Oberfläche vollzieht, soll dieses hier noch etwas ausführlicher beschrieben werden. Eine Figur, die sich im Kampf gegen das Ornament besonders hervortat, war 180 Vgl. Schmalenbach: Jugendstil, S. 73. 181 Velde, Henry van de: Das neue Ornament. In: Curjel, Hans (Hg.): Zum neuen Stil. 1955, S. 98. 182 Vgl. ebd., S. 85-86: »Jetzt verliert das Ornament jede bezeichnende Bedeutung, es ist nicht mehr auf seinem Platz und schöpft nicht mehr aus seinem Platze und aus dem Gegenstande, auf dem es sich befindet, Leben und Daseinsberechtigung.« 183 Velde: Das Ornament als Symbol, S. 90. 184 Velde, Henry van de: Prinzipielle Erklärungen. In: Curjel, Hans (Hg.): Zum neuen Stil. 1955, S. 127.

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der österreichische Architekt Adolf Loos. Für Loos war das Ornament eine anachronistische Erscheinung, die in offensichtlichem Widerspruch zu den Anforderungen des 20. Jahrhunderts stand. Besonders deutlich wird dies in seinem 1908 verfassten Vortrag mit dem ebenso bekannten wie programmatischen Titel Ornament und Verbrechen. Loos bezeichnet in diesem Vortrag, der sozialdarwinistische und triebpsychologische Einflüsse erkennen lässt, das Ornament als eine »Degenerationserscheinung«185 der modernen Zivilisation.186 Die Lust an der Verzierung sei ein »natürliches« Merkmal sogenannter primitiver Kulturen, stelle in der modernen Gesellschaft jedoch einen zivilisatorischen Rückschritt und ein Verbrechen dar.187 Kennzeichnend sei hierfür die in westlichen Nationen besonders hohe Anzahl an Häftlingen, die ihre Körper mit Tätowierungen verzierten.188 Eine moderne, aufgeklärte Gesellschaft zeichne sich jedoch durch Rationalismus und nüchterne Zweckmäßigkeit aus und nicht durch leidenschaftliche Gestaltungsfreude. »Evolution der Kultur«, so schreibt er, »ist gleichbedeutend mit dem Entfernen des Ornaments aus dem Gebrauchsgegenstande.«189 Eine ähnliche Auffassung wird später auch Le Corbusier vertreten. In Ausblick auf eine Architektur schreibt dieser: »Dekor gehört zu den sinnlichen und primären Dingen, wie auch die Farbe, und so entspricht er einfachen Völkern, Bauern und Wilden. Harmonie und Proportion sprechen den Intellekt an, den kultivierten Menschen. Der Bauer liebt das Ornament und bemalt seine Wände.«190 Der Kampf, den Adolf Loos gegen das Ornament führte, darf aber nicht als generelle Kritik an der Idee der architektonischen Bekleidung verstanden werden. Tatsächlich bauen viele seiner architekturtheoretischen Gedanken auf Sempers Bekleidungstheorie auf.191 Was Loos kritisiert, ist vielmehr die Auffassung, dass die 185 Loos, Adolf: Ornament und Verbrechen. In: Opel, Adolf (Hg.): Gesammelte Schriften. 2010, S. 364. 186 Vgl. Caspary: Ornamente der Fassade, S. 74. 187 Vgl. Loos, Adolf: Das Luxusfuhrwerk. In: Opel, Adolf (Hg.): Gesammelte Schriften. 2010, S. 99: Loos hatte Ähnliches bereits 1898 in einer seiner früheren Schriften behauptet: »Je tiefer ein Volk steht, desto verschwenderischer ist es mit seinem Ornament, seinem Schmuck. Der Indianer bedeckt jeden Gegenstand, jedes Boot, jedes Ruder, jeden Pfeil über und über mit Ornamenten. Im Schmuck einen Vorzug erblicken zu wollen, heißt auf dem Indianer-Standpunkt stehen.« 188 Vgl. Loos: Ornament und Verbrechen, S. 364: »Der Papua tätowiert seine Haut, sein Boot, sein Ruder, kurz alles, was ihm erreichbar ist. Er ist kein Verbrecher. Der moderne Mensch, der sich tätowiert, ist ein Verbrecher oder ein Degenerierter.« 189 Ebd., S. 364. 190 Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur, S. 113. 191 Vgl. Loos, Adolf: Das Princip der Bekleidung. In: Opel, Adolf (Hg.): Gesammelte Schriften. 2010, S. 138: »Denn auch die Menschheit hat in dieser Reihenfolge bauen gelernt. Im Anfange war die Bekleidung. Der Mensch suchte Schutz vor den Unbilden des Wetters, Schutz und Wärme während des Schlafes. Er suchte sich zu bedecken.« Anders als Adolf Loos stand Gottfried Semper

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Oberflächen von Objekten und Gebäuden erst durch ornamentale Verzierungen vervollständigt würden, wenngleich doch das Gegenteil zutreffe.192 Nur eine Oberfläche, die vom Ornament befreit sei, könne in ihrer kahlen Materialität Zweckmäßigkeit und zukunftsweisende Modernität ausstrahlen.193 In diesem Sinne sind auch seine zahlreichen Schriften zur Kleidung und Mode zu lesen.194 Loos schätzt den nüchternen, funktionellen Kleidungsstil des englischen Gentleman, lehnt die Kleidermode mit ihren zyklisch-wechselnden Verzierungen jedoch ab.195 Auch auf dem Gebiet der Architektur sucht er nun das Blümchenkleid des Jugendstils durch den stilistisch reduzierten Kittel des Ingenieurs zu ersetzen.196 »Bald«, so schreibt er, als würde er den funktionalen Baustil der Moderne bereits vorausahnen, »werden die Straßen der Städte wie weiße Mauern glänzen!«197 Was Loos in seinen Schriften propagiert, sollte sich im Laufe der Jahre schließlich zu einem ästhetischen Ideal entwickeln. Auch Pierre Bourdieu weist in Die feinen Unterschiede darauf hin, dass ein asketisch anmutender Lebensstil im 20. Jahrhundert zu einer Maßgabe für die gebildete Oberschicht wurde.198 Während das Kleinbürgertum mit seiner Vorliebe für alles Reichverzierte noch den ästhetischen

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der Tätowierung jedoch nicht ablehnend, sondern durchaus positiv gegenüber. In einer seiner Vorlesungen erwäog er sogar »den Ursprung gewisser überlieferter Flächenornamente in der Tätowierungskunst zu suchen«. (Semper, Gottfried: Ueber die formelle Gesetzmäßigkeit des Schmuckes und dessen Bedeutung als Kunstsymbol. In: Karge, Hendrik [Hg.]: Gesammelte Schriften. Bd. 4, 2008, S. 308) Vgl. Rykwert: Ornament ist kein Verbrechen, S. 165: Wie Joseph Rykwert überzeugend belegt, duldet Loos das Ornament durchaus in handwerklichen Bereichen, wo die Verzierung von Oberflächen ihren Produzenten Freude bereite. Hierzu zählt er z.B. das Polster-, das Teppichoder das Schuhhandwerk. Vgl. Loos, Adolf: Ornament und Erziehung. In: Opel, Adolf (Hg.): Gesammelte Schriften. 2010, S. 599: »Alle Gegenstände, die wir modern nennen, haben kein Ornament.« Vgl. hierzu u.a. die Aufsätze in: Opel, Adolf (Hg.): Gesammelte Schriften. 2010: Von der Herrentracht, S. 661-662; Damen Mode, S. 175-182; Die Herrenmode, S. 54-60; Die englische Uniform, S. 487-489. Vgl. Loos, Adolf: Die Herrenmode. In: Opel, Adolf (Hg.): Gesammelte Schriften. 2010, S. 55. Eine Ausnahme bildet hier allein die Damenmode. Loos vertritt damit noch jene in Kapitel 8.3 bereits erwähnte Vorstellung, nach der die Frau als schmückende Oberfläche den wirtschaftlichen Erfolg des Mannes zur Schau tragen solle. Vgl. Taylor: Hiding, S. 172: »Modern architecture was indeed explicitly launched against fashion, and it’s white surfaces played a key role in that attack.« In seinem Artikel Bemerkungen eines Architekten zur Mode schreibt der französische Architekt und Politiker Roger Ginsburger sowohl im Hinblick auf die Bekleidung als auch auf die Architektur: »Eine zweckbedingte Form dagegen wird viel weniger rasch aus der Mode kommen, weil sie […] immer noch sinnvoll und notwendig erscheinen wird.« (Ginsburger, Roger: Bemerkungen eines Architekten zur Mode. In: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit. 5, Nr. 16, 15.8.1930, S. 426) Loos: Ornament und Verbrechen, S. 365. Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 1982, S. 286ff.

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Vorstellungen des 19. Jahrhunderts nacheiferte und dadurch Wohlstand auszudrücken versuchte, tendierte die Oberschicht wiederum zu Mäßigung und freiwilligem Verzicht. »Im Namen der Reinheit und Reinigung, der Verschmähung aller protzigen Zurschaustellung und des bürgerlichen Hangs zum Dekorativen«,199 so Bourdieu, übte man sich in Nüchternheit und Asketismus. Dieses Ideal kam jedoch nicht nur im – wie Bordieu schreibt – athletischen Körperkult der 1920er Jahre zum Ausdruck.200 Es zeigt sich auch im funktionalen Bau- und Kleidungsstil der Zeit mit seinen glatten, technisch perfektionierten Oberflächen.201 Die ornamentkritischen Tendenzen, die sich zum Ende des Jugendstils immer stärker herauskristallisierten und die Aufmerksamkeit auf den materiellen Eigenwert der planen Fläche lenkten, lassen sich somit als entscheidende Wegbereiter der modernen Architektur begreifen. Sigfried Giedion machte darauf u.a. in seiner 1965 veröffentlichten Monographie Raum, Zeit, Architektur aufmerksam. »Die Wand als konstituierendes Element des Volumens«, so schreibt er, »mußte zuerst von den dekorativen Auswüchsen des 19. Jahrhunderts befreit werden. Der erste Schritt bestand darin, den ästhetischen Wert der reinen Fläche wiederzuentdecken.«202 Auch im Sinne Hitchcocks und Johnsons stellt dieser Schritt »eine Vorbereitung« dar »für die Entwicklung eines allgemeingültigeren Prinzips der modernen Architektur: das der Betonung der Fläche, sei sie nun undurchsichtig oder transparent.«203 Je vehementer also das Ornament zum Ende des Jugendstils bekämpft wurde, umso 199 Ebd., S. 287. 200 Vgl. ebd., S. 340. Vgl. hierzu u.a. auch Ginsburger: Bemerkungen eines Architekten zur Mode, S. 426: »Je mehr der korpulente oder ungeschmeidige Männertyp durch Körperkult und gesunde Lebensweise einem schlanken, elastischen Typ Platz machen wird, desto schneller wird eine Reform der Männerkleidung sich durchsetzen.« 201 In diesem Zusammenhang erscheint es geradezu als eine Ironie der Geschichte, dass je glatter und technisch perfektionierter die Oberflächen im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden, zugleich das Bedürfnis wuchs, diese durch Schutzhüllen, Schoner, Etuis oder Schuber vor Kratzern, Schmutz und Fingerabdrücken zu schützen. Dieses Phänomen erinnert nicht nur in gewisser Hinsicht an die Beschreibungen Walter Benjamins zur Wohnkultur des 19. Jahrhunderts. Es steht z.B. auch in krassem Gegensatz zu den Vorstellungen der traditionellen asiatischen Ästhetik, so wie sie der japanische Schriftseller Tanizaki Jun’ichiro in seiner Schrift Lob des Schattens beschreibt. Laut Jun’chiro empfand man Gegenstände gerade dann als schön, wenn deren Oberflächen eine Alterspatina aufwiesen und keine »unberührte« Glätte. In Japan habe man dieses Phänomen mit dem Ausdruck »Abgeriffensein« umschrieben, in China wiederum mit dem Wort »Handglanz«. (vgl. Jun’chiro, Tanizaki: Lob des Schattens. Entwurf einer japanischen Ästhetik. 1998, S. 22) 202 Giedion: Raum, Zeit, Architektur, S. 31. Vgl. Caspary: Ornamente der Fassade, S. 79: »So hieß es etwa im Hauptschlager einer humoristischen Weltschau-Revue, die 1928 in der Komödie auf dem Kurfürstendamm in Berlin gespielt wurde: ›Fort mit Schnörkel, Stuck und Schaden!/Glatt baut man die Hausfassaden./Nächstens baut man Häuser bloß, ganz und gar fassadenlos‹.« 203 Hitchcock/Johnson: Der Internationale Stil, S. 46.

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deutlicher konnte die plane Wandfläche im Laufe des 20. Jahrhunderts als Medium der Abschirmung in Erscheinung treten.204

9.3.2

Das Ornament als schmückendes Zeichen. Zur Modearchitektur der Postmoderne

Das Ornament, das mit dem Ende des Jugendstils nahezu vollständig verdrängt wurde, erlebte gegen Ende des 20. Jahrhunderts in der Epoche der Postmoderne205 eine Rehabilitierung und Neubewertung. Die postmoderne Architektur ist als eine Gegenreaktion auf die sachlich-kühle Maschinenästhetik der modernen Architektur zu begreifen, die im Laufe der 1960er Jahre allmählich zu ihrem Ende gelangt war. Hatte die moderne Architektur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch die Möglichkeiten des Bauens revolutioniert, setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein monotoner Funktionalismus durch, der schließlich zu kreativer Stagnation führte.206 Gebäude wurden meist als minimalistische Kuben konzipiert, die zwar zeit- und kostengünstig errichtet werden konnten, letztlich aber mehr durch technische Perfektion als durch innovative Gestaltung auffielen. »Das Unzureichende der reinen Zweckform«, so schrieb Theodor W. Adorno 1965 in einem Vortrag, »ist zutage gekommen, ein Eintöniges, dürftiges, borniert Praktisches.«207 Ernst Bloch wiederum brachte in seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung seine Kritik am Funktionalismus folgendermaßen zum Ausdruck: »Seit über einer Generation steht […] dieses Stahlmöbel-, Betonkuben-, Flachdach-Wesen geschichtslos da, hochmodern und langweilig, scheinbar kühn und echt trivial, voll Haß gegen die Floskel angeblich jedes Ornaments und doch mehr im Schema festgerannt als je eine Stilkopie im schlimmen neunzehnten Jahrhundert.«208 204 Vgl. Johnson: Gebaut, um darin zu leben, S. 26: »Der Architekt schafft bewußt ebene Flächen, bei denen er Metall- oder Glasplatten sowie Holz- und Marmortafeln anwenden kann. Er strebt eine schöne Ausführung mit der Maschine an statt der Imitation ursprünglich handwerklicher Ornamente durch die Maschine.« 205 Vgl. Jameson: Postmoderne, S. 46: Laut Frederic Jameson tauchte der Epochenbegriff »postmodern« erstmals im Rahmen von Architekturdebatten auf. Vgl. auch Jencks, Charles: Die Sprache der postmodernen Architektur. Entstehung und Entwicklung einer alternativen Tradition. 1988, S. 8. Wie Jencks wiederum schildert, wird der Begriff »postmodern« in der Architektur bereits im Jahr 1945 zum allerersten Mal verwendet. In dem Beitrag The Post Modern House des Architekten Joseph Hudnut tauche der Begriff im Titel auf, werde im Text selbst jedoch nicht näher erläutert. Im eigentlichen Sinne wird der Begriff »postmodern« dann erst im Jahr 1975 in Jencks eigener Veröffentlichung The Rise of Postmodern Architecture gebraucht. 206 Vgl. Joedicke, Jürgen: Architektur im Umbruch. Geschichte, Entwicklung, Ausblick. 1980, S. 22. 207 Adorno, Theodor W.: Funktionalismus heute. In: Tiedemann, Rolf; Adorno, Gretel (Hg.): Gesammelte Schriften. Bd. 10, 1, 1977, S. 383. 208 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 5, 2, 1959, S. 860.

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Gleichsam als Antwort auf den rigiden Funktionalismus entwickelte sich in den 1960er Jahren in den USA ein postmoderner Baustil, der zwischen 1978 und 1988 seine Hochphase erlebte.209 Ziel der postmodernen Architektur war es, den vereinheitlichten Konstruktionsprinzipen der modernen Architektur zu entsagen und einen lebendigeren Baustil voranzutreiben.210 Die im Jahr 1966 veröffentlichte Schrift Komplexität und Widerspruch in der Architektur des amerikanischen Architekten Robert Venturi erwies sich diesbezüglich als geradezu programmatisch. Venturi plädiert darin für einen – wie der Titel bereits sagt – komplexen und widerspruchsreicheren Baustil, der die Vielfalt und Wechselhaftigkeit moderner Lebensweisen widerspiegelt.211 Nach seiner Auffassung, spricht eine zeitgemäße Architektur stets mehrere Bedeutungsebenen gleichzeitig an und fordert zu intensiver Betrachtung auf. »Die gleichzeitige Wahrnehmung interdependenter Bedeutungsebenen«, so schreibt er, »zwingt den Betrachter in einen Konflikt der Wertung, läßt ihn zögern und seine ganze Betrachtungsweise lebendiger werden.«212 Anders als die Architekten der Moderne fordert Vernturi also keinen überschaubaren, einheitlich durchgebildeten Baustil, sondern eine Architektur, die, z.B. durch Stilbrüche oder unkonventionelle Raumstrukturen, verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zulässt.213 Der modernistischen Devise »Less is more« hält er sein Motto »Less is a bore«214 entgegen.215 Venturi fasst damit nicht nur sein eigenes Architekturkonzept pointiert zusammen, sondern legt zugleich den gedanklichen Grundstein für einen spielerischen, ausdrucksstarken und kommunikativen Baustil, der sich in den Folgejahren allmählich durchsetzen sollte. Mehr und mehr versuchte man jetzt, durch spannungsgeladene, nicht selten humorvolle Bauweisen Widersprüche zu erzeugen und Inhalte zu visualisieren216 Wichtige Anregungen lieferte dafür auch Robert Venturis zweite Schrift, Lernen von Las Vegas, die er zusammen mit seiner Frau, der Architektin Denise Scott 209 Vgl. Fischer, Volker: Ornament & Versprechen. Postmoderne und Memphis im Rückblick. 2005, S. 5. 210 Vgl. Jameson: Postmoderne, S. 46: »Entschiedener als in den anderen Künsten oder Medien sind in der Architektur die postmodernen Positionen mit einer unversöhnlichen Kritik an der Architektur der klassisch gewordenen Moderne und dem sogenannten ›International Style‹ (Frank Lloyd Wright, Le Corbusier, Mies van der Rohe) verbunden.« 211 Vgl. Venturi, Robert: Komplexität und Widerspruch in der Architektur. 1978, S. 23. 212 Ebd., S. 38. 213 Vgl. ebd., S. 25: »Die orthodoxen unter den modernen Architekten neigten dazu, Vielfalt als etwas Unbefriedigendes bzw. in sich Widersprüchliches zu betrachten. In ihrem Versuch, mit allen Traditionen zu brechen und von Grund auf neu zu beginnen, idealisierten sie das Primitive und Elementare auf Kosten des Gestaltungsreichen und Intellektuellen.« 214 Venturi, Robert: Complexity and Contradiction in Architecture. 1968, S. 25. 215 Vgl. Venturi: Komplexität und Widerspruch in der Architektur, S. 27: »Das marktschreierisch vorgetragene Konzept des Vereinfachens bedeutet dann eine Architektur, der der Atem ausgegangen ist: Weniger ist nur noch langweilig.« 216 Vgl. Klotz: Moderne und Postmoderne, S. 420.

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Brown, und dem Architekten Steven Izenour im Jahr 1972 verfasst hatte. Lernen von Las Vegas baut im Wesentlichen auf den Grundannahmen von Venturis erster Veröffentlichung auf, weshalb die Autoren darin auch den geringen Informationsgehalt sowie die mangelnde Ausdruckskraft moderner Bauten beklagen. Ihrer Auffassung nach sollte Architektur wieder mit Zeichen und Symbolen arbeiten und stärker als Kommunikationsmedium in Erscheinung treten. Noch radikaler als in Komplexität und Widerspruch legen Venturi und seine Mitautoren hierfür den Schwerpunkt auf die Alltagsästhetik des modernen Lebens.217 Von der Ästhetik der Pop-Art inspiriert, erklären sie das Triviale und Ordinäre – kurz: die Oberflächlichkeit – der Alltags- und Konsumwelt zur Maßgabe der ästhetischen Formentwicklung.218 So bestimmen sie in polemischer Zuspitzung die kommerzielle Gebrauchsarchitektur von Las Vegas als Leitbild für einen mitteilungsfähigen und ausdrucksstarken Baustil.219 Laut Venturi und seinen Kollegen sollten die Gebäude von Las Vegas nun auch »zu einer fruchtbaren Anregung für die Wiederentdeckung des Symbolischen in der Architektur«220 insgesamt dienen.221 Ihr Interesse gilt dabei vor allem den meterhohen Leucht- und Reklametafeln der Hotels und Casinos, die sich am Straßenrand des berühmten Las Vegas Strips aneinander reihen. Mithilfe von vertrauten, leicht verständlichen Zeichen machten die Werbetafeln auf die eher unscheinbaren Gebäude im Hintergrund aufmerksam und klärten den Betrachter über deren Sinn und Zweck auf. Der gesamte Las Vegas Strip sei auf diese Weise als eine räumliche Ansammlung von kommerziellen Images und Zeichen konzipiert, die auch noch von einem Auto aus zu rezipieren seien.222 217 Vgl. Caspary: Ornamente der Fassade, S. 88. 218 Vgl. Klotz: Moderne und Postmoderne, S. 157; und Jameson: Postmoderne, S. 46-47. Jameson nimmt Lernen von Las Vegas daher auch zum Anlass, um die Überwindung von E- und U-Kultur als charakteristisches Merkmal der Postmoderne hervorzuheben: »Die verschiedenen Richtungen der Postmoderne sind von eben dieser ›korrumpierten Welt‹ des Ramschs und des Kitsches fasziniert, von Fernsehserien und von der Readers’ Digest-Kultur, von Reklame und Motels, der late show und dem B-Movie Hollywoods, von der sogenannten Paraliteratur der Kiosk-Genres wie Gruselgeschichte, Liebesroman, Memoiren, Krimis, von Science-Fiction und Fantasy.« 219 Vgl. Venturi, Robert; Scott Brown, Denise; Izenour, Steven: Learning from Las Vegas. The forgotten symbolism of architectural form. 1977, S. 3-6: »Las Vegas is analyzed here only as a phenomenon of architectural communication. […] Las Vegas’s values are not questioned here.« 220 Venturi, Robert; Scott Brown, Denise; Izenour, Steven: Lernen von Las Vegas. Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt. 2001, S. 139. 221 Vgl. ebd., S. 25: »In der Wüstenstadt am Highway […] können wir eine neue und lebensnahe Lektion über eine nicht-puristische Architektur im Dienst von Kommunikation lernen.« 222 Vgl. ebd., S. 19: »Vertraute Stilformen und Zeichen stiften […] einen Zusammenhang zwischen vielen Einzelheiten, die weit von einander entfernt sind und im Vorbeifahren nur kurz gesehen werden. Die derart übermittelten Botschaften sind vor allem kommerziell, die Problemstellung ist wesentlich die unserer Zeit.«

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»Die großen Zeichen springen vor dem Fahrer auf, leiten ihn zum Supermarkt, während ein Stück weiter bereits Fertigkuchen und Waschmittel auf riesigen, in den Blickwinkel der Straße hineingeschwenkten Plakattafeln angerpriesen werden. Das graphisch-zweidimensionale Zeichen wird zur Architektur dieser Landschaft.«223 »Wenn man die Zeichen wegnimmt«, so die Autoren weiter, »gibt es keine Stadt mehr. Die Wüstenstadt Las Vegas besteht nur aus dieser verdichteten Kommunikation entlang dem Highway.«224 Besonders markant sehen sie diesen mitteilungsstarken Baustil in zwei Gebäudetypen verwirklicht: der »Ente« und dem »dekorierten Schuppen«.225 Der Gebäudetyp der »Ente« erhielt seinen Namen von einem bekannten Drive-in-Restaurant – das Long Island Duckling –, das in Form einer Ente erbaut war. Entsprechend bestimmen die Autoren jene Gebäude als »Enten«, bei denen architektonische Form und symbolische Bedeutung miteinander verschmelzen. Sie, so formuliert es der Architekturhistoriker Joseph Rykwert, sind »[…] dreidimensionale, volumetrische Hüllen für eine gegebene Funktion«.226 Im Sinne der Autoren kann der Gebäudetyp der »Ente« aber auch als »one big ornament«227 verstanden werden. Als »dekorierte Schuppen« bestimmen sie dagegen konventionelle Zweckbauten, bei denen die kommerziellen Symbole lediglich aufgesetzt sind: entweder direkt auf der Fassade des Gebäudekörpers oder auf einer vorgelagerten Reklametafel (vgl Abb. 32). Während nach Auffassung der Autoren die »Ente« noch in der Tradition der modernen Architektur stehe, sei der »dekorierte Schuppen« eine zeitgemäße Form von Architektur. Er spiegele am deutlichsten den ebenso unprätentiösen wie beiläufigen Umgang der Menschen mit kommerziellen Zeichen wider und sei daher dem Gebäudetyp der »Ente« eindeutig vorzuziehen.228 Charakteristisch für den dekorierten Schuppen ist vor allem dessen konzeptionelle Unterscheidung von Baukörper und Fassade.229 Dem Baukörper kommt hier allein die Aufgabe der architektonischen Raumerzeugung zu. Er kann im Grunde ein monolithischer Block oder eine schmucklose Halle sein: »fast unverblümt häßlich«.230 Die Fassade indes dient als Zeichenträger und hat nur eine darstellende Funktion. Sie soll mithilfe diverser Applikationen den eher unscheinbaren Baukörper verzieren und ihm eine individuelle Erscheinung verleihen.231 Wie der 223 224 225 226 227 228 229 230 231

Ebd., S. 20. Ebd, S. 25. Ebd., S. 103. Rykwert: Ornament ist kein Verbrechen, S. 174. Venturi et al.: Learning from Las Vegas, S. 103. Vgl. Venturi u.a: Lernen von Las Vegas, S. 105. Vgl. Klotz: Moderne und Postmoderne, S. 160. Venturi u.a.: Lernen von Las Vegas, S. 113. Vgl. Klotz: Moderne und Postmoderne, S. 160.

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Abb. 32: Robert Venturi, Dekorierter Schuppen

Name »dekorierter Schuppen« bereits nahelegt, führen Venturi und seine Kollegen mit diesem Gebäudetyp erneut das Element der Verzierung in die Architektur ein.232 Hatte die moderne Architektur des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts noch nahezu jegliches Ornament von der Fläche verbannt, kehrte es nun zum Ende des 20. Jahrhunderts mit der Rehabilitierung der Fassade als Zeichenträger wieder. »Denn«, so macht Klotz deutlich, »die Wiedereinführung der Fassade als Zeichenträger hieß auch, das Ornament wieder zuzulassen und die eben gewonnene Reinheit der Architektur erneut mit Fassadenschmuck und appliziertem Dekor zu beschmutzen.«233 Stärker noch als zur Zeit des Jugendstils erfüllte das Ornament in der Postmoderne jedoch eine semantisch-kommunikative Funktion.234 »Die Methode, nicht der Formschwulst dieser Dekorationskunst«, so beschreibt es Klotz, »wurde als Anreger zum Weiterdenken genutzt.«235 Dass das Prinzip des dekorierten Schuppens für Venturi nun nicht allein auf einer theoretischen Ebene von Bedeutung war, hatte er bereits im Jahr 1967 anhand eines Projekts bewiesen, das allerdings nie verwirklicht werden konnte. Für die National Football Hall of Fame, einer Versammlungs- und Ausstellungshalle, die der Geschichte des Footballs gewidmet sein sollte, hatte er einen Entwurf eingereicht, der unverkennbar als dekorierter Schuppen zu erkennen ist (vgl. Abb. 33).236 232 Vgl. Venturi u.a.: Learning from Las Vegas, S. 87: »The duck is the special building that is a symbol; the decorated shed is the conventional shelter that applies symbols.« 233 Klotz: Moderne und Postmoderne, S. 157. 234 Vgl. Caspary: Ornamente der Fassade, S. 96. 235 Klotz: Moderne und Postmoderne, S. 47. 236 Vgl. ebd., S. 162.

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Abb. 33: Robert Venturi, National Football Hall of Fame

Venturi hatte hierfür einen unscheinbaren Zweckbau geplant, dem eine überdimensionierte Leuchttafel als Fassade diente. Während es vorgesehen war, im Inneren des Gebäudes verschiedene Ausstellungsstücke aus der Geschichte des Footballs zu präsentieren, sollten auf der Fassade wiederum historische Footballspiele gezeigt werden. Venturi wollte mit diesem medialen Ornament nicht nur den Sinn und Zweck des Gebäudes veranschaulichen, sondern zugleich Information und Unterhaltung miteinander vereinen. Überhaupt ist sein Entwurf für die Football Hall of Fame auf eine geradezu provozierende Weise banal, dass ihm damit tatsächlich – gewissermaßen über die Hintertür – eine widerspruchsvolle und beziehungsreiche Architektur gelingt. So greift Venturi bei der Gestaltung seines Modells zwar auf Zeichen der Konsum- und Alltagswelt zurück; da er diese jedoch ästhetisch überhöht, hinterfragt er sie zugleich.237 Einerseits gebraucht er sie als Mittel zur visuellen Kommunikation, andererseits ironisiert er sie jedoch und stellt sie damit zur Debatte. Innerhalb dieses Spannungsverhältnisses zwischen Kritik und Affirmation gewinnt Venturis Modell eine komplexe und ambivalente Erscheinung. Trotz oder vielmehr gerade wegen seiner buchstäblichen »Fassadenhaftigkeit« weist das Modell über seine architektonische Form hinaus und ermöglicht weitere Assoziationen. Heinrich Klotz spricht diesbezüglich auch von einer »Fiktionalisierung der Architektur«,238 die charakteristisch für den postmodernen Baustil sei. So habe man mithilfe von zeichenhaften Ornamenten und Symbolen wiederholt versucht, 237 Vgl. Caspary: Ornamente der Fassade, S. 88. 238 Klotz: Moderne und Postmoderne, S. 17.

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die Monotonie der modernen Architektur zu brechen und Gebäude wieder stärker »in einen Darstellungs- und Informationszusammenhang einzubeziehen«.239 Oftmals haben sich postmoderne Architekten dabei auch gezielt historischer Formen bedient. Der Rückgriff auf die Vergangenheit geschah jedoch weniger, um an architektonische Traditionen anknüpfen zu können, sondern vielmehr um die Möglichkeiten der Sinnverknüpfung zu erweitern. So verwendete man historische Formen in erster Linie, um eine Spannung zwischen Vertrautem und Neuartigem, zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen zu können.240 Historischen Formen wurden dabei gezielt als »Bedeutungshülsen«241 verwendet, die durch ironische Brüche und Umwertungen mit neuen, weitreichenderen Inhalten gefüllt werden konnten.242 Jene Tendenz zum Eklektizismus entwickelte sich gerade in den späten 1970er Jahren zu einem hervorstechenden Merkmal der postmodernen Architektur. Ganz im etymologischen Sinne des Wortes (griechisch εκλεκτό ς:243 »auswählen«) schöpfte man nach Belieben aus dem reichhaltigen Fundus der Vergangenheit und vereinte die unterschiedlichsten Stile miteinander. »Der Stilpluralismus«, so Klotz, »ist […] die Voraussetzung dafür, eine neue Sprachfähigkeit der Architektur zu entwickeln, um die ästhetische Fiktion zu ermöglichen. Die ›Stile‹ stellen das Vokabular zur Verfügung, durch das die erzählende Gestaltung möglich wird.«244 Anders als die Architekten der Moderne schreckten die Architekten der Postmoderne somit nicht davor zurück, Elemente aus der Vergangenheit aufzugreifen. »Während die Moderne sich von aller Geschichte zu befreien suchte und Architektur zu einer Sache der reinen Gegenwart werden ließ«, so verdeutlicht Klotz, »haben wir mit der Postmoderne die Erinnerung zurückgewonnen.«245 Gleichzeitig dürfe der Eklektizismus der Postmoderne jedoch nicht als eine Art Wiedergänger des Historismus verstanden werden. Denn, so Klotz, »der Eklektiker [versucht], bei Orientierung am beliebig gewählten historischen Vorbild gleichzeitig der Moderne Tribut zu zollen. Er verneigt sich nach beiden Seiten hin.«246 »Der Historist« sei dagegen »radikaler, er läßt möglichst nur die eine Seite gelten, die historische.«247 In der postmodernen Architektur werden viele Ideen und Gestaltungsprinzipien der Moderne daher nicht einfach verworfen, sondern besitzen nach wie vor ihre Gültigkeit.248 Das Ver239 Ebd., S. 157. 240 Vgl. ebd., S. 83. 241 Ebd., S. 422. 242 Vgl. ebd., S. 47. 243 Vgl. Menge/Güthling: Langenscheidts Großwörterbuch der griechischen und deutschen Sprache, S. 219. 244 Klotz: Moderne und Postmoderne, S. 136. 245 Ebd., S. 423. 246 Ebd., S. 59. 247 Ebd., S. 59. 248 Vgl. ebd., S. 16.

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hältnis von moderner und postmoderner Architektur stellt sich mehr als ein fließender Übergang dar.249 »Der Protest gegen die Moderne«, so schreibt Klotz, »kleidet sich nicht in ein entschiedenes und starres Nein, sondern in ein ›Ja, aber‹.«250 Die postmoderne Architektur habe durchaus ein Bewusstsein dafür, was Architekten wie Le Corbusier und Mies van der Rohe in der architektonischen Gestaltung erreicht hätten.251 Gleichwohl tendiere die postmoderne Architektur zu einem mehrdeutigeren und spannungsreicheren Baustil, der weit über die Anforderungen der reinen Zweckerfüllung hinausgehe.252 Auch der amerikanische Architekt und Architekturtheoretiker Charles Jencks macht darauf in seinem 1977 veröffentlichten Buch Die Sprache der postmodernen Architektur aufmerksam. Laut Jencks, akzeptiert die postmoderne Architektur »die irreversible Natur der modernen Welt«, leugnet allerdings »die Abtrennung von der prämodernen Vergangenheit«.253 Die Postmoderne steht also durchaus in der Tradition der modernen Architektur, mit dem Unterschied jedoch, dass sie sich in ihrem Formenvokabular und den Möglichkeiten der Gestaltung nicht beschränken lässt. Statt eines einzigen Stils verfolgt die postmoderne Architektur ein Mit- und Nebeneinander vieler unterschiedlicher Stile.254 Vor diesem Hintergrund verwundert es denn auch kaum, dass man die postmoderne Architektur zu Beginn noch mit so gegensätzlichen Begriffen wie »Neo-Jugendstil« und »Neo-de-Stijl« zu definieren versuchte.255 Ein postmodernes Gebäude kann als modernistischer Kubus angelegt sein und doch gleichzeitig historische Elemente zitieren, wie z.B. das Portland Building des amerikanischen Architekten Michael Graves aus dem Jahr 1982 (vgl. Abb. 34).256 Die Art und Weise, wie Graves hier einen funktionalistischen Baukörper mit historisierenden Ornamenten einkleidet, lässt sich mit Heinrich Klotz als eine »Veredelung des Kastens zum Schmuckkästchen«257 beschreiben. So greift Graves zur Gestaltung 249 250 251 252

253 254 255 256

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Vgl. ebd., S. 133. Ebd., S. 133. Vgl. ebd., S. 133. Vgl. ebd., S. 162: So schreibt Klotz etwa bezüglich des »dekorierten Schuppens«: »Im Grunde hatte sich Venturi erneut Mies angenähert, indem er dessen Konzept eines neutralen Gebäudekörpers aufgriff, diesen nun aber mit Zeichen und Ornamenten besetzte, um die Neutralität aufzuheben.« Jencks: Die Sprache der postmodernen Architektur, S. 5. Vgl. Venturi: Komplexität und Widerspruch in der Architektur, S. 37: Venturi beschreibt diesen Stilpluralismus auch mit dem Prinzip des »Sowohl-als-auch«. Vgl. Jencks: Die Sprache der postmodernen Architektur, S. 81. Vgl. ebd., S. 8: »Aber das Portland ist immer noch das erste große Monument der Postmoderne, wie es das Bauhaus für die Moderne war, weil es […] doch als erstes gezeigt hat, daß man mit Kunst, Ornament und Symbolismus in großem Maßstab und in einer für die Bewohner verständlichen Sprache bauen kann.« Klotz, Heinrich: Die röhrenden Hirsche der Architektur. Kitsch in der modernen Baukunst. 1977, S. 59.

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seines Gebäudes auf vertraute Formen zurück, bettet sie jedoch in einen veränderten Bedeutungskontext ein und präsentiert sie dadurch in einem völlig neuen Licht. Er zitiert sowohl Elemente des Art déco wie auch der ägyptischen Architektur; und doch wird kein Betrachter daran zweifeln, dass es sich bei dem Portland Building um ein Gebäude des späten 20. Jahrhunderts handelt. Hatten die Architekten der Moderne das Semper’sche Gebäudekleid noch radikal auf seine wichtigsten Funktionen reduziert, so wird dieses nun wieder farbenfroher und beziehungsreicher gestaltet. Die ebenso ironische wie ungezwungene Art, mit der man in der Postmoderne Gebäude einkleidet, erinnert nicht zuletzt an die Inszenierungsweisen der Kleidermode. Wie dort, so kombiniert man auch in der postmodernen Architektur nach dem Prinzip des »anything goes« verschiedene Stile miteinander, um Gebäuden eine mehrdeutige und spannungsgeladene Erscheinung zu geben. Versinnbildlicht wird diese Nähe von modischer Inszenierung und architektonischer Gestaltung in der Collage The Fashion of architecture des dänischen Architekten und Künstlers Nils-Ole Lund aus dem Jahr 1986 (siehe Abb. 35).

 

Abb. 34: Michael Grave, Portland Building Abb. 35: Nils-Ole Lund: Fashion of Architecture

Der darauf abgebildete Baukörper erweist sich – buchstäblich – als ein »Hautund Knochenbau«, der von außen mit einem modisch-dekorativen Gebäudekleid umhüllt wird.

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Genau wie der Kleidermode, so haftet aber auch der postmodernen Bau-Mode das Stigma der Oberflächlichkeit und Prunksucht an. Wolfgang Pehnt macht darauf aufmerksam, wenn er schreibt: »Mit der Neubewertung der Fassade kehrte auch die Modemetapher in die Architekturpolemik zurück. In den Attacken gegen die schnell wechselnden Architekturmoden, vor allem aber gegen die Dekorationskünste der Postmoderne, findet sich der Vorwurf wieder, der gegen den Eklektizismus des 19. Jahrhunderts erhoben worden ist: Geltungsbedürfnis, willkürliche Formenwahl, ästhetische Ersatzbefriedigung.«258 Der Karikaturist Ironimus – hinter dem sich der österreichische Architekt Gustav Peichl verbirgt – hat diesen Vorwurf in einer Zeichnung mit dem Titel ModeArchitekt/nach Venturi veranschaulicht (vgl. Abb. 36).

 

Abb. 36: Gustav Peichl, Mode-Architekt/nach Ventrui

Zu sehen sind darauf verschiedenerlei postmoderne Fassaden, die man wie aktuelle Hutmoden auf Kleiderständern drapiert hat und die von einer dandyhaften Figur anprobiert werden. Ironimus verunglimpft den postmodernen Stil hier als modisches Kleidungsstück, das dem Baukörper achtlos übergeworfen wird und das, im Laufe der Zeit, zu einem sprichwörtlich »alten Hut« verkommen wird. Dass

258 Pehnt: In der Vorratskammer der Kostüme, S. 14

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zwischen funktionaler Architekturbekleidung und modischer Architekturverkleidung sorgsam zu unterscheiden ist, darauf weist schließlich auch Wolfgang Pehnt hin: »Jede Physis ist auf ihre Physiognomie angewiesen, wenn sie sich ausdrücken will, jeder Körper auf ein Kleid, wenn er nicht der Unbill der äußeren Umstände erliegen soll, jeder Inhalt auf eine Form, wenn er sich mitteilen möchte. Diese Einsicht enthebt den Architekten nicht der genauen Prüfung, welches die angemessenen Charaktere, Kleider und Formen des Baugebildes sind.«259 Gleichzeitig, so ließe sich ergänzen, muss aber auch ein Bewusstsein für den Bekleidungsaspekt der Architektur überhaupt erst vorhanden sein, um Baugebilden angemessene Charaktere, Kleider und Formen verleihen zu können. Denn bei der Bekleidung eines Gebäudes – so sollte deutlich geworden sein – geht es nicht nur um die Frage danach, welcher Stil »in« und »out« ist, sondern um Architektur schlechthin.

259 Ebd., S. 16

Fazit

Im Theaterviertel von Antwerpen steht ein altes Backsteingebäude aus dem 15. Jahrhundert, dessen Innenhof die Lange Gasthuisstraat und die Leopoldstraat miteinander verbindet. In dem Gebäude war ursprünglich das erste Krankenhaus Antwerpens untergebracht – mittlerweile befindet sich hier das Hotel Elzenveld. Es ist Winter, der Himmel ist diesig und leichter Nebeldunst steigt langsam vom Boden auf. Nur wenige Menschen sind in den Straßen unterwegs. Von der Gasthuisstraat kommend, führt ein schmaler kopfsteingepflasterter Weg zunächst an einer kleinen Kapelle vorbei, hin zu einem Torbogen, der die Inschrift »Centrum Elzenfeld« trägt und in dessen Mitte eine gusseiserne Laterne hängt. Der gesamte Komplex aus seltsam ineinander verschachtelten Backsteingebäuden macht einen etwas finsteren Eindruck, und zusammen mit dem Nebel fühlt man sich unweigerlich an die Klischees des düster-morbiden Flandern erinnert. Man denkt etwa an die blutigen Hugenottenkriege, an abgeschottete Beginenklöster und mittelalterlichen Mystizismus, an die geheimnisvollen Bilder des belgischen Symbolismus, an den Roman Das tote Brügge von Georges Rodenbach oder an die davon inspirierte Oper Die tote Stadt von Erich Korngold. Das schmiedeeiserne Tor zum Innenhof steht offen, man geht hindurch und erschrickt plötzlich: Denn etwa in der Mitte des Innenhofs, auf einer sauber geschnittenen Rasenfläche, stehen zwei verhüllte Gestalten – Gespenster –, die ihre Arme gleichermaßen flehend wie fordernd emporstrecken. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass es sich hierbei um Skulpturen handelt. Die Skulpturen sind jedoch so angeordnet, dass man von diesem Punkt aus nicht erkennen kann, wen oder was sie verbergen. Erst am Ende des Weges, so ahnt man bereits, wird man erfahren, was sich unter ihrer Hülle verbirgt. Ihre Gestalt wirkt auffallend klein, nahezu zwergenhaft. Wer hat diese Skulpturen produziert, und warum wurden sie hier aufgestellt? Stehen sie in Bezug zu dem ehemaligen Krankenhaus? Sollen sie Gespenster darstellen oder auferstandene Tote – Kinder womöglich? Von der Unheimlichkeit der Szenerie erfasst, denkt man an die verhüllten Gestalten aus Nicolas Roegs Film Wenn die Gondeln tragen, die in roten Kutten durch Venedig streifen – blitzartig auftauchen und ebenso schnell wieder verschwinden – und die die Hauptfigur des Films an dessen verstorbene Tochter erinnern. Die Skulpturen,

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so wird man später im Internet nachlesen, wurden von dem belgischen Künstler Albert Szukalski entworfen und haben – unabhängig von ihrer ästhetischen Qualität – auf viele Besucher einen ähnlichen Eindruck gemacht. Mittlerweile ist man fast an jenem Punkt angekommen, von dem aus man endlich einen Blick hinter die verbergende Hülle werfen kann. Man steigert noch einmal das Tempo seiner Schritte, beugt sich bereits während des Gehens leicht nach vorne, um endgültig zu erfahren, wer oder was sich unter dieser Hülle verbirgt, und entdeckt: nichts (vgl. Abb. 37).

 

Abb. 37: Albert Szukalski, o.T.

Die Figuren sind leer, und man blickt nur in eine entkernte Hülle aus Gips. Im Material sind noch vereinzelt Abdrücke der Form zu erkennen – ansonsten nichts. Desillusioniert bleibt man stehen und sieht sich um, ob man von jemandem beobachtet wurde oder ob andere Passanten derselben Illusion erlegen sind. Man fühlt sich ertappt, hereingelegt und irgendwie dämlich. Warum war man so naiv, auf diesen einfachen Trick hereinzufallen? Warum das Gruseln? Wieso diese Neugierde? Warum, so stellt man sich die Frage, ging man davon aus, dass sich im Inneren der Skulpturen tatsächlich etwas verbergen würde, wo man doch nichts weiter sehen konnte als nur das Äußere, die Hülle – kurzum: die Oberfläche? »Heutzutage«, so ein Zitat Oscar Wildes, das bekanntlich Anlass für die Überlegungen des vorliegenden Bandes gegeben hat, »sind die Menschen so vollendet oberflächlich, daß sie die Philosophie des Oberflächlichen nicht begreifen.«1 In der 1 Wilde: Eine Frau ohne Bedeutung, S. 119.

Fazit

Regel wird die Oberfläche als ein defizitäres, mitunter sogar trügerisches Phänomen wahrgenommen und bewertet. Sie, so die Auffassung, stellt ein Hindernis auf dem Weg in die Tiefe dar – dorthin wo man Inhalt, Bedeutung und Wahrheit vermutet. Die Idee einer verborgenen, dafür jedoch wahren Tiefe ist ein zentraler Bestandteil der abendländischen Philosophie und bestimmt seit der Antike die Richtung unseres Erkenntnisstrebens. Wer die Wahrheit sucht, so der Appell, darf sich nicht an der Oberfläche aufhalten, sondern muss in die Tiefe streben. In der Philosophie Friedrich Nietzsches wird die Vorstellung einer wahren und verborgenen Tiefe dann heftig attackiert. Seiner Auffassung nach sind Wahrheit und Tiefe nur Produkte der menschlichen Phantasie. Den Erscheinungen der Wirklichkeit würde weder ein tieferer Sinn noch ein verborgenes Wesen zugrunde liegen. Die Menschheit lebe ausschließlich in selbstgeschaffenen Zusammenhängen, in einer Welt des Scheins, durch, wie Nietzsche schreibt, »fortwährendes Getäuschtwerden«.2 Der moderne Mensch des 19. Jahrhunderts lasse sich davon jedoch nicht länger täuschen und sei sich zumindest der Scheinhaftigkeit von Wahrheit bewusst. »Wir«, so schreibt er, »glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht, – wir haben genug gelebt, um dies zu glauben«.3 Die postmoderne Philosophie des 20. Jahrhunderts knüpft an diese Kritik an. Wenn auch die Positionen und Denkrichtungen ihrer Vertreter viel zu heterogen sind, als dass die postmoderne Philosophie als einheitliche Strömung aufgefasst werden könnte, so liegt ihr doch zumindest der poststrukturalistische Ansatz zugrunde, wonach Zeichen nicht auf tiefere Bedeutungen, sondern nur auf andere Zeichen verweisen. Diese Prozesse der Signifikation, so die Auffassung, sind flexibel und ändern sich permanent, wodurch ein beständiger Fluss von Zeichen entsteht, der nun eben nicht auf eine tiefere Ebene verweist, sondern ausschließlich auf der Oberfläche verharrt. Im Rahmen des kontinuierlichen Zeichenflusses würden tradierte Kategorien wie etwa die von Wahrheit und Lüge oder Sinn und Unsinn zusehends brüchig und sich schließlich ganz auflösen. Mit diesem »Verlust der ›Tiefendimension‹«,4 so Fredric Jameson, lasse sich in der Epoche der Postmoderne allgemein das Konzept einer reinen – sprich: tiefenlosen – Oberfläche ausmachen. »Einer«, wie er schreibt, »neuen Oberflächlichkeit im wortwörtlichen Sinne, die das vielleicht auffälligste formale Charakteristikum aller Spielarten der Postmoderne ist.«5 Deutlich zum Ausdruck kommt dieses Konzept nicht zuletzt in der Philosophie Vilém Flussers und seiner paradigmatischen Schrift Lob der Oberflächlichkeit.

2 3 4 5

Nietzsche: Über das Pathos der Wahrheit, S. 146. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, S. 299. Jameson: Postmoderne, S. 50. Ebd., S. 54.

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»In unserem neu emportauchenden Weltbild«, so schreibt Flusser, »gibt es keine Hintergründe: Die Welt ist eine vordergründige, nichts verbergende Oberfläche.«6 Wenngleich Fredric Jameson im Hinblick auf die Postmoderne auch von einer »neuen Oberflächlichkeit«7 spricht, so fällt bei genauerem Hinsehen auf, dass sich das postmoderne Konzept und das tradierte, metaphysische Konzepte der Oberfläche – in letzter Konsequenz – nicht allzu stark voneinander unterscheiden. So dekonstruiert die postmoderne Philosophie zwar die metaphysische Idee der Tiefe und die Diskurse, die sich darum gebildet haben – die davon abgeleitete Bestimmung der Oberfläche allerdings nicht. Folglich bleibt die Oberfläche auch nach dem Verlust der Tiefendimension das, was sie letztlich immer war: die profane Außenseite eines Objektes, die meist isoliert in ihrer Funktion als Zeichenträger wahrgenommen wird und die sich zum Spektakel der Signifikation verhält wie die Leinwand zum Film. Eine wirkliche Neubewertung der Oberfläche bleibt hier jedoch aus. Folgt man Boris Groys, so lässt sich anhand eines postmodernen Oberflächenkonzeptes auch nicht das Zustandekommen des Verdachts erklären – jenes Phänomens also, das uns seiner Auffassung nach in der Betrachtung von Oberflächen wiederholt beschleicht und suspense erzeugt. »Die poststrukturalistische Philosophie des Fließens«, so Groys, »beschäftigt sich […] in erster Linie mit der Problematik der Signifikation.«8 Der Verdacht sei jedoch nicht nur ein Phänomen der Signifikation. Er entstehe erst »durch die Ahnung des dunklen submedialen Raums hinter der Zeichenschicht, den man nicht sehen kann – und in dem gerade deswegen die Gefahr vermutet wird«.9 Der Verdacht ist ein Effekt der Oberfläche und ihres medialen Erscheinens zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz: »Die medienontologische Fragestellung besteht […] nicht darin, ob und wie die Zeichen auf der medialen Oberfläche den submedialen, verborgenen Raum bezeichnen können. Die Frage stellt sich anders: Was verbirgt sich hinter dem Zeichen als einem materiellen Gegenstand, als einem Schmutzfleck, als einer Art Fliege, die auf der undurchsichtigen Oberfläche des ontologisch Verborgenen sitzt – und zwar jenseits jeder möglichen Bedeutung dieses Zeichens? Denn es ist dieser dunkle, durch die opake Zeichenschicht verborgene Raum, in dem wir als Medien- und Weltbetrachter eine drohende Gefahr für uns ahnen.«10 Die »tiefenlose« Oberfläche, von der die postmoderne Theorie ausgeht, erzeuge allerdings keinen verdächtigenden, sondern allenfalls einen zweifelnden Blick. Dies 6 Flusser: Hintergründe, S. 331. 7 Jameson: Postmoderne, S. 54. 8 Groys: Unter Verdacht, S. 42. 9 Ebd., S. 33. 10 Ebd., S. 43-44.

Fazit

sei ein feiner, in seiner Konsequenz jedoch entscheidender Unterschied. »Wenn man nämlich vom Verdacht statt vom Zweifel erfasst wird«, so Groys, »beginnen sich die Zeichen nach der Intensität des Verdachts, den sie erwecken, deutlich voneinander zu unterscheiden. Der Zweifel wirkt egalisierend, der Verdacht hierarchisierend.«11 Der Verdacht erstrecke sich daher auch nicht gleichmäßig über die gesamte Oberfläche, sondern beschränke sich vielmehr auf einzelne Zeichen, die bedrohlicher, rätselhafter – kurz: verdächtiger – aussehen würden als andere. Der zweifelnde Blick dagegen würde das gesamte Schauspiel auf der Oberfläche infrage stellen und sich dadurch weder bedroht noch in irgendeiner Weise angesprochen fühlen. Diese nüchtern-aufgeklärte Haltung gegenüber den Erscheinungen der Oberfläche sei getragen von dem Versprechen und Bedürfnis nach Souveränität. »Die Attraktivität des poststrukturalistischen Diskurses«, so Groys, »besteht vor allem darin, dass er […] Befreiung und Erlösung von jeglichem beängstigenden Verdacht verspricht.«12 Und er fährt fort: »Eben darin besteht eigentlich die frohe, revolutionäre, optimistische Botschaft des poststrukturalistischen Denkens: Die Zeichen entziehen sich durch ständige Bewegung und Verschiebung ihrer Bedeutungen jeder bewussten Kontrolle seitens der Macht. Wer mit den Zeichen ständig mitfließt ist frei – er entkommt dadurch jeder möglichen Kontrolle, Überwachung, Disziplinierung.«13 Doch – so drängt sich zugleich die Frage auf – warum liegen wir dann nicht entspannt an den Ufern dieses Zeichenflusses und beobachten völlig unbekümmert, wie die bedeutungslos gewordenen Zeichen auf der Oberfläche an uns vorbeiziehen? Warum beschäftigen wir uns nach wie vor (oder kulturpessimistisch formuliert: mehr denn je) mit den Erscheinungen der Oberfläche und lassen uns – trotz besseren Wissens – wiederholt in ihren Bann ziehen? Weil, so die Antwort von Groys, uns Oberflächen eben doch verdächtig erscheinen und wir, allen Beteuerungen zum Trotz, einen verborgenen, submedialen Bereich hinter ihren Erscheinungen vermuten. Dieser eigenartige Effekt lässt sich vielleicht mit einem Zaubertrick vergleichen, von dem wir wissen, dass er nur eine Illusion ist, von dem wir uns aber trotzdem immer wieder einnehmen lassen. So begegnen wir jeder Zaubernummer zunächst noch mit dem sicheren Gefühl, dass wir gleich einer Vorführung beiwohnen, bei der man uns gezielt hinter das Licht zu führen versucht. Wir sind davon überzeugt, den dargebotenen Tricks nicht auf den Leim zu gehen, und versuchen von Beginn an deren Geheimnis zu lüften. Doch je stärker wir uns bemühen, die

11 Ebd., S. 63. 12 Ebd., S. 33. 13 Ebd., S. 34.

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Zaubertricks zu enträtseln, umso schneller erliegen wir ihrer Illusion. Mit ungläubigem Staunen folgen wir den Darbietungen, bis wir schließlich doch – zumindest für einen kurzen Augenblick – glauben, dass es sich tatsächlich um »echte« Zauberei handeln muss. In ähnlicher Weise lassen wir uns nun auch von den Erscheinungen der Oberfläche wiederholt dazu hinreißen, etwas Bedeutsames, Trügerisches oder Unheilverkündendes hinter der Oberfläche zu vermuten. »Alles, was uns die mediale Oberfläche zeigt«, so Groys, »steht automatisch unter Verdacht […] Wir können nicht betrachten, ohne zu verdächtigen.«14 Seiner Auffassung nach müsse daher nun auch »jede ernst zu nehmende Medientheorie die medienontologische Frage nach der Beschaffenheit des submedialen Raums stellen – und damit über das poststrukturalistische Theoretisieren hinausgehen, das auf der medialen Oberfläche hängen bleibt.«15 Hierzu bedarf es allerdings eines Oberflächenkonzeptes, das nicht dezidiert »oberflächlich« ist, sondern vielmehr die paradoxale Verschränktheit von Oberfläche und Tiefe herausstellt. Eines Konzepts also, das der Oberfläche durchaus eine gewisse Tiefe zuspricht, ohne dabei zugleich das metaphysische Modell der Tiefe zu rehabilitieren und die buchstäbliche Oberflächlichkeit und Scheinhaftigkeit jener »verdächtigen« Tiefe zu vergessen. »Die Tiefe von Oberfläche und die Oberflächlichkeit von Tiefe«, so formuliert es Mark Taylor, »erfordern ein Überdenken von Oberfläche und Tiefe.«16 Das Ziel dieses Buches war es, eine – in Anlehnung an Oscar Wilde – »Philosophie« der Oberfläche zu skizzieren, die eben jener medialen Ambivalenz und »verdächtigen« Position der Oberfläche zwischen Außen und Innen bzw. zwischen Oberfläche und Tiefe gerecht wird. Einen wichtigen Ansatz lieferte dazu zunächst der Begriff der Erscheinung in der Philosophie G. W. F. Hegels. Obwohl Hegel in seiner Wesenslogik dem metaphysischen Modell einer »tiefverborgenen« Wahrheit nicht grundsätzlich widerspricht, weicht er den starren Dualismus von Innen und Außen doch entscheidend auf und setzt beide in ein dialektisches Verhältnis zueinander. So ist auch bei Hegel das Wesen der Wahrheit zunächst noch im Inneren verborgen, tritt dann jedoch mit der Erscheinung ins Dasein, um sich schließlich vollständig in der Wirklichkeit zu offenbaren. Im Rahmen dieses dreistufigen Prozesses, spricht er der Erscheinung eine vermittelnde Position zu, die an der Offenbarung von Wahrheit teilhat. In Anlehnung an Hegel wurde die Oberfläche so zunächst als ein Phänomen bestimmt, dass nicht länger in Differenz zu Tiefe und Wahrheit steht, sondern eine vermittelnde Stellung zwischen Innen und Außen bezieht. Ergänzt und erweitert wurde diese Bestimmung dann um den Erscheinungsbegriff Martin Heideggers. Heidegger entwirft in seinen philosophischen Schrif14 Groys: Unter Verdacht, S. 218. 15 Ebd., S. 42. 16 Taylor, Mark C.: Überlegungen zur Haut. In: ARCH+, Nr. 129/130, 1.12.1995, S. 113.

Fazit

ten einen Begriff von Erscheinung, der dem Hegels durchaus in einigen Punkten ähnelt. So räumt auch Heidegger der Erscheinung eine vermittelnde Position zwischen Innen und Außen, zwischen »Verborgenheit« und »Unverborgenheit« ein. Anders als bei Hegel kann sich die Erscheinung nach Auffassung Heideggers aber auch als ein trügerischer Anschein erweisen, wodurch erneut die Möglichkeit der Täuschung ins Feld geführt wird. Die Erscheinung hat hier demnach nicht nur an der Offenbarung von Wahrheit teil – sie kann ebenso von der Wahrheit wegführen und diese verhindern. Eingelassen in dieses zutiefst ambivalente Spannungsverhältnis von Verborgenheit und Unverborgenheit sowie von Wahrheit und Täuschung lässt sich die Erscheinung bei Heidegger – er deutet dies selbst an – als eine Art Schleier begreifen, der sich durch abwechselndes Ver- und Enthüllen vermittelt. »Im Wesen der Erscheinung«, so schreibt er, »liegt das Auf- und Abtreten, das Hinund Her- in dem echt demonstrativen zeigenden Sinne.«17 Dem Erscheinungsbegriff Hegels und Heideggers folgend, wurde die Oberfläche deshalb weder als ein eindeutig positives noch als ein eindeutiges negatives Phänomen beschrieben. Sie stellt vielmehr ein überaus wechselvolles und widersprüchliches Phänomen dar, das eine vermittelnde Position zwischen Innen und Außen einnimmt. Die Oberfläche, so wurde gezeigt, lässt sich vor diesem Hintergrund auch als ein Medium begreifen. Ein materialitätsbezogener und ein semiotischer Medienbegriff standen dabei im Zentrum. Von einer materialitätstheoretischen Perspektive aus, stellen Oberflächen Wahrnehmungsmedien dar, die zwischen Objekt und Subjekt vermitteln. In ihrer materiellen Präsenz geben uns Oberflächen Aufschluss über die sinnliche Verfasstheit unserer Umgebung und die darin enthaltenen Objekte. Das Interesse der materialitätstheoretischen Perspektive richtet sich somit vor allem auf das Diesseits der Oberfläche. Sie beschäftigt sich mit den Effekten ihrer materiellen Präsenz, die allesamt sinnlich verfasst, aber nicht unmittelbar sinnstiftend sind. Oberflächen können uns jedoch mehr vermitteln als sinnlich wahrnehmbare Effekte. Als Träger von Zeichen und Symbolen können sie zugleich auf Sachverhalte verweisen, die nicht unmittelbar wahrnehmbar sind. Von einer semiotischen Perspektive aus lassen sich Oberflächen als Trägermedien begreifen, die mittels Zeichen und Symbolen immaterielle Sinngehalte vermitteln. Das Interesse der semiotischen Perspektive richtet sich daher nicht auf die sinnliche Präsenz der Oberfläche, sondern auf die Sinndimensionen der Zeichen, die sie jenseits der Oberfläche vermutet. Sie sucht die opake Materialität der Oberfläche zugunsten des Sinns zu überwinden bzw. transparent werden zu lassen. 17 Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 78. Vgl. u.a. auch Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 41: »Durch das Sein geht ein verhülltes Verhängnis […]. Vieles am Seienden vermag der Mensch nicht zu bewältigen. Weniges nur wird erkannt. Das Bekannte bleibt ein Ungefähres, das Gemeisterte ein Unsicheres.«

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Obwohl die materialitätstheoretische und die semiotische Perspektive jeweils von unterschiedlichen Interessen geleitet sind, bedeutet dies jedoch nicht, dass sich beide Medienbegriffe zwangsläufig ausschließen. Mit ihrer Fokussierung auf Präsenzeffekte einerseits und Sinneffekte andererseits kennzeichnen sie vielmehr zwei Pole eines Spannungsverhältnisses, das für das mediale Erscheinen der Oberfläche konstitutiv ist. Wie im Rückgriff auf die negative Medientheorie gezeigt wurde, sind Oberflächen in ihrer materiellen Präsenz stets sinnlich verfasst, blenden ihre Materialität jedoch aus, sobald sie Sinneffekte vermitteln. Dieser Vorgang ist jedoch nur möglich, insofern Oberflächen in ihrer materiellen Faktizität den sinnvermittelnden Zeichen zu einer wahrnehmbaren Präsenz verhelfen. Materielle Opazität und semiotische Transparenz – Sinnlichkeit und Sinn – sind demnach nicht als Gegensätze zu begreifen. Sie stellen vielmehr zwei sich wechselseitig ergänzende Modi des medialen Erscheinens dar. In dieser ihrer medialen Ambivalenz und Wechselhaftigkeit zwischen Opazität und Transparenz erinnert die Oberfläche erneut an einen Schleier. Denn so wie der Schleier durch abwechselndes Ver- und Enthüllen eine, wie Michael Mayer schreibt, »visuelle Dialektik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit«18 erzeugt, so stehen auch im medialen Erscheinen der Oberfläche abwechselnd Präsenz- und Sinneffekte im Vordergrund. Diese mediale Ambivalenz und »Schleierhaftigkeit« der Oberfläche ist es nun auch, die den Verdacht eines submedialen Raums erzeugt, der von der Oberfläche vermeintlich verborgen wird. Solange wir es aber mit Oberflächen zu tun haben, lässt sich diese Ambivalenz nicht auflösen, ebenso wenig wie sich der Verdacht jemals endgültig beweisen oder widerlegen lässt. »Der Verdacht kann […] niemals entkräftet, abgeschafft oder untergraben werden, denn der Verdacht ist für die Betrachtung der medialen Oberfläche konstitutiv: Alles was sich zeigt, macht sich automatisch verdächtig – und der Verdacht trägt, indem er vermuten lässt, dass sich hinter allem Sichtbaren etwas Unsichtbares verbirgt.«19 In Anbetracht dieser paradoxalen und nicht zu tilgenden Ambivalenz zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz ist nun auch unsere visuelle Wahrnehmung der Oberfläche im Wesentlichen von zwei Blickrichtungen bestimmt: einerseits von einem unmittelbaren Blick auf die Oberfläche, bei dem wir uns auf die materielle Präsenz und sinnliche Verfasstheit der Oberfläche konzentrieren; andererseits von einem metaphorischen Blick durch die Oberfläche hindurch, bei dem wir darauf achten, worauf die Erscheinungen der Oberflächen jeweils hindeuten könnten. Obwohl es sich bei dem unmittelbaren Blick auf und dem metaphorischen Blick durch die Oberfläche um gegenläufige Wahrnehmungsweisen handelt, 18 Mayer: Schleier Medium, S. 198. 19 Groys: Unter Verdacht, S. 25.

Fazit

schließen sich diese nicht zwangsläufig aus. Sie stellen vielmehr zwei Wahrnehmungsmodi dar, die zum medialen Erscheinen der Oberfläche kongruent sind und sich wechselseitig ergänzen. Das mediale Erscheinen der Oberfläche zwischen materieller Opazität und semiotischer Transparenz – und der damit einhergehende Wechsel von Draufsicht und Durchblick – macht auf uns bekanntlich einen verdächtigen Eindruck. Und der Verdacht fordert uns unablässig dazu auf, die Erscheinungen der Oberfläche noch stärker durchschauen zu wollen, um endlich zu erfahren, was sich »in Wahrheit« hinter der Oberfläche befindet. »Als Betrachter«, so Groys, »sucht man […] nach einem Ausnahmezustand, nach dem besonderen Augenblick, an dem man einen Einblick ins Innere, ins Geheime, in das hinter der medialen Oberfläche Verborgene gewährt bekommt.«20 Dieser Einblick ist, wie gesagt, aber nicht möglich, da sich die mediale Ambivalenz der Oberfläche eben nicht auflösen lässt. Folglich ist auch unsere Wahrnehmung der Oberfläche als ein Prozess zu begreifen, der prinzipiell unendlich ist. So suchen wir permanent die opake Materialität der Oberfläche zu überwinden, um in die verborgenen Bereiche vorzustoßen – und gelangen doch nie über die Oberfläche hinaus. Angesichts dieser fundamentalen Undurchschaubarkeit der Oberfläche wurde im letzten Teil beschrieben, weshalb sich uns Oberflächen meist als Hüllen darstellen. Die Oberfläche präsentiert sich dabei zunächst als eine äußere Grenze, die das Objekt der Verhüllung nach außen hin abschirmt und auf diese Weise schützt. Auf den Betrachter macht die abschirmende Funktion der Hülle jedoch häufig einen verdächtigen Eindruck. Da sie sich seinem Blick als Hindernis entgegenstellt, wird das Verhüllte für ihn schließlich zu einer metaphorischen Verheißung und Projektionsfläche seiner Wünsche, Sehnsüchte und Ängste. Die Hülle, so meint er, verbirgt ein gut gehütetes Geheimnis, das nach Enthüllung verlangt – sei dieses Geheimnis nun auch ein verborgenes Wunder oder ein verborgenes Unheil, ein verborgenes Etwas oder ein verborgenes Nichts. Dieses verborgene Geheimnis ist, wie gesagt, aber nur ein Verdacht des Betrachters, zu welchem er sich angesichts der äußeren Hülle verleiten ließ. Wie anhand des Unterschieds von Blöße und Nacktheit beschrieben wurde, verhält sich dieses vermeintlich verhüllte Geheimnis jedoch inkongruent zu dem tatsächlichen Objekt der Verhüllung. Oder anders formuliert: Die real existierende, materiell-räumliche Tiefe, die von der Oberfläche verhüllt wird, ist nicht die Tiefe, die der Betrachter zu finden hofft. Der Vorgang der Enthüllung endet daher zwangsläufig in Enttäuschung und Frustration oder – insofern der Verdacht des Betrachters in Teilen bestätigt scheint – fördert eine neue Hülle zutage, die nun ihrerseits wieder verdächtig scheint. »Je mehr man enthüllt, d.h. aufdeckt«, so schreibt Susanne Stemmler, »desto mehr verhüllt sich der Gegenstand; das Enthüllen wird selbst zu einer verborgenen Tätigkeit«.21 Wie 20 Groys: Unter Verdacht, S. 52. 21 Stemmler: Topgrafien des Blicks, S. 100.

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der Versuch eines transparenten Blicks hinter die Oberfläche, so ist nun auch der erkenntnisversprechende Akt der Enthüllung als ein prinzipiell unabschließbarer Prozess zu begreifen. »Das Wissen«, so betont Michel Foucault, »entwickelt sich in einem Spiel von Einhüllungen und Enthüllungen«.22 Von der Makroebene bis in die Mikroebene hinein finden wir uns somit permanent Oberflächen ausgesetzt, deren Erscheinungen wir zu unterscheiden, lesen und erkenntnismäßig auszudeuten versuchen, um dahinter bloß eine weitere Oberfläche mit nicht weniger verdächtigen Erscheinungen zu ent-decken.23 »Wer sich nur um den Kern der Dinge kümmert«, so schreibt Paul Rée, »stößt in der Welt nur da an, wo es sich nur um die Schale handelt, d.h. ziemlich überall.«24 Und doch wenden wir uns deshalb nicht desillusioniert von den Erscheinungen der Oberfläche ab. Das Fehlen eines »tieferen Sinns« führt in der Regel nicht – oder zumindest nicht dauerhaft – zu Resignation, sondern verstärkt viel eher den Drang zur Sinnsuche. Wir können oder wollen offenbar nicht dauerhaft mit der Vorstellung einer nichts verbergenden, tiefenlosen Oberfläche leben.25 »Der Weltbetrachter«, so schreibt Boris Groys, »kann sich nicht damit begnügen, die Zeichen auf der Weltoberfläche bloß zu registrieren – vielmehr wartet er darauf, dass die Welt ihm endlich ein Geständnis macht.«26 Und so meinen wir in der Beschäftigung mit Oberflächen bisweilen tatsächlich einen kurzen Einblick in die verborgenen Tiefen des submedialen Raums zu gewinnen. »In diesem Augenblick«, so Groys, »wird die Zeichenschicht an einer Stelle durchschaut, es tut sich eine Leere, ein Intervall auf – dann sieht der Betrachter ins Innere, ins Submediale, und erkennt dessen verborgene Wahrheit.«27 Doch auch diese Momente der vermeintlichen Offenbarung können den Verdacht – wie gesagt – nicht auflösen. Sie verstärken ihn nur noch und halten das Spiel von Einhüllung und Enthüllung weiter am Laufen. Wie bei einer Matrjoschka verbirgt sich hinter jeder Oberfläche eine weitere Oberfläche, die erneut den Verdacht einer bedeutsamen Tiefe weckt und nach Enthüllung verlangt. 22 Foucault: Die Geburt der Klinik, S. 179. 23 Inwieweit wir Makro- und Mikrokosmos als eine Aneinanderreihung oder Schichtung von Oberflächen bzw. Hüllen begreifen, wird besonders anschaulich anhand des Kurzfilms Powers of Ten von Charles und Ray Eames aus dem Jahr 1977. 24 Rée, Paul: Vermischte Gedanken. In: Böning, Thomas; Müller-Lauter, Wolfgang; Pestalozzi, Karl (Hg.): Gesammelte Werke 1875-1885. Bd. 7, 2004, S. 100. 25 So gelangte bekanntlich auch Nietzsche zu der Auffassung, dass der Mensch nicht ohne die lebenserhaltende Wirkung eines ästhetisch-bejahten Scheins auskommt: »Ich habe für mich entdeckt, dass die alte Mensch- und Thierheit, ja die gesammte Urzeit und Vergangenheit alles empfindenden Seins in mir fortdichtet, fortliebt, forthasst, fortschliesst, – ich bin plötzlich mitten in diesem Traume erwacht, aber nur zum Bewusstsein, dass ich eben träume und dass ich weiterträumen muss, um nicht zu Grunde zu gehn: wie der Nachtwandler weiterträumen muss, um nicht hinabzustürzen.« (Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, S. 84) 26 Groys: Unter Verdacht, S. 53-54. 27 Ebd., S. 52.

Fazit

Menschliches Weltverhalten erweist sich somit als ein Verhalten zu Oberflächen, die sich als Hüllen darstellen: von den Oberflächen der Haut über die Oberflächen der Bekleidung hin zu den Oberflächen der Architektur und immer weiter fort. Gert Mattenklott schreibt dazu: »Je weiter diese Hüllen werden: die Kleidung, die Wohnung, die Familie, die Stadt, desto tiefer blicken wir ins Leben. Wir ahnen die verflossene Zeit, indem wir die Spuren auf den verschiedenen Lebensschalen lesen: einer modischen der Kleidung, die alltäglichen umhüllenden einer Wohnung oder des sozialen Milieus einer Familie und womöglich gar des kulturellen und geschichtlichen noch weiterer Räume oder Zeiten. Einerseits wollen wir die Wahrheit aus ihren Verkleidungen schälen, und andererseits stellen wir fest, daß wir sie reicher entfaltet auf der obersten Oberfläche und der äußersten Außenhaut buchstabieren können. Wir suchen sie innen und finden sie außen.«28 Die Oberfläche, so paradox es auch klingen mag, ist nicht oberflächlich, sondern durchaus tief. Sie ist tief, insofern uns ihre Erscheinungen verdächtig vorkommen und uns zu eingehender Beschäftigung mit der Welt und ihren Phänomen auffordern. Dieser verführerische und unstillbare Reiz, den die Oberfläche in ihrer Verdächtigkeit ausstrahlt, lässt sich anhand eines »tiefenlosen« Oberflächenkonzeptes, wie es Fredric Jameson der postmodernen Theorie verallgemeinernd attestiert, jedoch nicht in vollem Umfang näherbringen. Die »verdächtige« Ambivalenz von Außen und Innen, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Sinnlichkeit und Sinn – kurz: von Oberfläche und Tiefe –, die sich an der Oberfläche abzeichnet und die über die Oberfläche erfahren wird, verlangt nach einer Neubewertung der Oberfläche. Dabei dürfen Oberfläche und Tiefe nicht länger gegeneinander ausgespielt, sondern müssen in ihrer reziproken Verschränkung nachvollzogen werden. »Oberfläche und Tiefe«, so beschreibt es Manfred Faßler, »sind kulturelle Gebilde unterschiedlichen Ranges, aber gleicher Herkunft.«29 Ohne Oberfläche keine Tiefe – und ohne Tiefe keine Oberfläche. Dies gilt sowohl in materiell-räumlicher Hinsicht, wo Oberflächen als äußere Begrenzungsflächen stets in Beziehung zu einer räumlichen Tiefe stehen (und sei diese auch noch so gering), als auch in einem übertragenen Sinne. Schließlich kann es keine tiefergehende Denkbewegung geben, wenn nicht zuvor, wie Thomas Rolf beschreibt, »die vertrauten Oberflächen des Gewohnten und bis dato Gewissen verlassen«30 wurden. »Jede große Tiefe«, so formuliert es wiederum der österreichische Schriftsteller Richard Schaukal, »hat eine spiegelnde Oberfläche.«31 Denn es ist erst die Oberfläche, die auf uns einen 28 29 30 31

Mattenklott: Der übersinnliche Leib, S. 15. Faßler, Manfred: Bildlichkeit. Navigationen durch das Repertoire der Sichtbarkeit. 2002, S. 218. Rolf: Tiefe, S. 464. Schaukal, Richard: Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser. 1986, S. 62.

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interessanten, banalen, trügerischen oder auf sonstige Weise »verdächtigen« Eindruck macht und für uns zum Anlass wird, den Erscheinungen »auf den Grund« zu gehen. »Alle Menschen der Tiefe«, so schreibt Nietzsche, »[…] schätzen als das Beste an den Dingen – dass sie eine Oberfläche haben«.32 Denn, so ließe sich ergänzen, der Weg in die Tiefe ist mit Oberflächen gepflastert.

32 Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, S. 195.

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Abb. 1: Senger, Hans Gerhard: Der »Wanderer am Weltenrand«. Ein alter oder altertümelnder Weltaufriss? In: Markschies, Christoph u.a. (Hg.): Altlas der Weltbilder. Berlin: Akademie Verlag, 2011, S. 345. Abb. 2: Iwan der Schreckliche [Iwan Grosnij]. Regie: Sergej M. Ėjzenštejn. Drehbuch: Sergej M. Ėjzenštejn. UdSSR 1944/45, Fassung: DVD, 8:30 Min. Abb. 3: Sie leben [They live]. Regie: John Carpenter. Drehbuch: Frank Armitage. USA: StudioCanal 1988, Fassung: DVD. Kinowelt Home Entertainment, 2006. 30:54 Min. Abb. 4: Sie leben [They live]. Regie: John Carpenter. Drehbuch: Frank Armitage. USA: StudioCanal 1988, Fassung: DVD. Kinowelt Home Entertainment, 2006. 31:01 Min. Abb. 5: Sie leben [They live]. Regie: John Carpenter. Drehbuch: Frank Armitage. USA: StudioCanal 1988, Fassung: DVD. Kinowelt Home Entertainment, 2006. 30:56 Min. Abb. 6: Sie leben [They live]. Regie: John Carpenter. Drehbuch: Frank Armitage. USA: StudioCanal 1988, Fassung: DVD. Kinowelt Home Entertainment, 2006. 31:56 Min. Abb. 7: Evans, Caroline; Frankel, Susannah; Alison, Jane (Hg.): Viktor & Rolf. Ausstellung in der Barbican Gallery vom 18. Juni bis 21. September 2008. München: Heyne, 2009, S. 146. Abb. 8: Moog-Grünewald, Maria (Hg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Der neue Pauly. Supplemente. Bd. 5. Stuttgart, Weimar: J.B. Melze. 2008, S. 369. Abb. 9: Deckers, Regina: Die Testa velata in der Barockplastik: zur Bedeutung von Schleier und Verhüllung zwischen Trauer, Allegorie und Sinnlichkeit. München: Hirmer, 2010, S. 285. Abb. 10: Pedrocco, Filippo (Hg.): Tizian. München: Hirmer. 2000, S. 249. Abb. 11: Barrias, Ernest: L’Œuvre de Ernest Barrias. Avec une notice de Georges Lafenestre. Paris: Typographie Philippe Renouard, 1908, S. 72. Abb. 12: Città di este (Hg.): Celebrazioni in onore dello scultore estense Antonio Corradini. Este: Tip. Euganea. 1968, Tav. XXV.

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Abb. 13: D’Urbano, Alba: Il sarto immortale. www.durbano.de/couture/index.html (abgerufen am 18. August 2017). Abb. 14: Scott, Jeremy: Interview mit Jeremy Scott. In: Spex, Nr. 319 (März 2009), S. 83. Abb. 15: Le Corbusier; Jeanneret, Pierre: Oeuvre Complete de 1910-1929. Hg. von Willy Boesiger. Zürich: Girsberger, 1948, S. 23. Abb. 16: Dunn, Alan: o.T. In: Architectural Record. 6. (1974), S. 87. Abb. 17: Baecker, Dirk: Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen in der Architektur. In: Luhmann, Niklas; Bunsen, Frederick D.; Baecker, Dirk (Hg.): Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur. Bielefeld: Haux, 1990, S. 88. Abb. 18: Lange, Christiane: Ludwig Mies van der Rohe. Architektur für die Seidenindustrie. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung, 2011, S. 76. Abb. 19: Straaten, Evert Van (Hg.): Theo van Doesburg. Painter and Architect. Den Haag: SDU Publishers, 1988, S. 128. Abb. 20: Bayer, Herbert: Graphische Darstellung des Gesichtsfeldes. In: Ders.: Visuelle Kommunikation, Architektur, Malerei: das Werk des Künstlers in Europa und USA. Ravensburg: Otto Maier, 1967, S. 32. Abb. 21: Zimmermann, Claire: Mies van der Rohe. 1886-1969. Die Struktur des Raumes. Köln u.a.: Taschen, 2006, S. 43. Abb. 22: Zimmermann, Claire: Mies van der Rohe. 1886-1969. Die Struktur des Raumes. Köln u.a.: Taschen, 2006, S. 41. Abb. 23: Zimmermann, Claire: Mies van der Rohe. 1886-1969. Die Struktur des Raumes. Köln u.a.: Taschen, 2006, S. 42. Abb. 24: Trigueiros, Luiz; Safran, Yehuda (Hg.): Mies van der Rohe. Lissabon: Blau, 2000, S. 60. Abb. 25: Trigueiros, Luiz; Safran, Yehuda (Hg.): Mies van der Rohe. Lissabon: Blau, 2000, S. 56. Abb. 26: Trigueiros, Luiz; Safran, Yehuda (Hg.): Mies van der Rohe. Lissabon: Blau, 2000, S. 61. Abb. 27: Trigueiros, Luiz; Safran, Yehuda (Hg.): Mies van der Rohe. Lissabon: Blau, 2000, S. 59. Abb. 28: Cohen, Jean-Louis: Ludwig Mies van der Rohe. Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser, 2007, S. 71. Abb. 29: Berger, Ursel; Pavel, Thomas (Hg.): Barcelona-Pavillon. Architektur & Plastik. Ludwig Mies van der Rohe & Kolbe. Berlin: Jovis, 2006, S. 79. Abb. 30: Berger, Ursel; Pavel, Thomas (Hg.): Barcelona-Pavillon. Architektur & Plastik. Ludwig Mies van der Rohe & Kolbe. Berlin: Jovis, 2006, S. 80. Abb. 31: Cohen, Jean-Louis: Ludwig Mies van der Rohe. Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser, 2007, S. 97.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 32: Venturi, Robert; Scott Brown, Denise; Izenour, Steven: Lernen von Las Vegas. Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt. Braunschweig: Vieweg, 1979, S. 76. Abb. 33: Klotz, Heinrich: Moderne und Postmoderne. Architektur der Gegenwart 1960-1980. Braunschweig: Vieweg, 1984, S. 162. Abb. 34: Vogel Wheeler, Karen; Arnell, Peter; Bickford, Ted (Hg.): Michael Graves. Buildings and Projects. 1966-1981. London: The Architectural Press, 1983, S. 202. Abb. 35: Lund, Nils-Ole: Fashion of Architecture. In: Architecture and Urbanism, Nr. 258 (1992), S. 19. Abb. 36: Pehnt, Wolfgang: In der Vorratskammer der Kostüme. Architektur als Mode betrachtet. In: Ders.: Die Erfindung der Geschichte. Aufsätze und Gespräche zur Architektur unseres Jahrhunderts. München: Prestel, 1989, S. 15. Abb. 37: Szukalski,Albert: o.T. .www.hetstillepand.be/szukalski.html (abgerufen am 18. August 2017).

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Danksagung

Ich danke Prof. Dr. Timo Skrandies für die hilfreichen Diskussionen und die lange Betreuung meiner Dissertation. Bei Prof. Dr. Jürgen Wiener bedanke ich mich für das anregende Gespräch und den motivierenden Zuspruch. Meiner Familie und meinen Freunden danke ich für die Unterstützung beim Entstehen dieser Arbeit. Für ihre Geduld und ihre Ungeduld bedanke ich mich sehr bei Johanna Bücker.

Medienwissenschaften Christoph Engemann, Andreas Sudmann (Hg.)

Machine Learning – Medien, Infrastrukturen und Technologien der Künstlichen Intelligenz 2018, 392 S., kart. 32,99 € (DE), 978-3-8376-3530-0 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3530-4 EPUB: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3530-0

Susan Leigh Star

Grenzobjekte und Medienforschung (hg. von Sebastian Gießmann und Nadine Taha) 2017, 536 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3126-5 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, EPDF: ISBN 978-3-8394-3126-9 EPUB: ISBN 978-3-7328-3126-5

Geert Lovink

Im Bann der Plattformen Die nächste Runde der Netzkritik 2017, 268 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3368-9 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3368-3 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3368-9

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Medienwissenschaft Winfried Gerling, Susanne Holschbach, Petra Löffler

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Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg.)

Zeitschrift für Medienwissenschaft 19 Jg. 10, Heft 2/2018: Faktizitäten / Klasse 2018, 256 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4097-7 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, EPDF: ISBN 978-3-8394-4097-1 EPUB: ISBN 978-3-7328-4097-7

Ramón Reichert, Mathias Fuchs, Pablo Abend, Annika Richterich, Karin Wenz (eds.)

Digital Culture & Society (DCS) Vol. 4, Issue 1/2018 – Rethinking AI: Neural Networks, Biometrics and the New Artificial Intelligence 2018, 244 p., pb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4266-7 E-Book: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4266-1

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