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German Pages 330 [355] Year 1970
L E ONA R D N E L S ON
GE SA M M E LT E S C H R I F T E N
Die Schule der kritischen Philosophie und ihre Methode Meiner
L E ONA R D N E L S ON
Gesammelte Schriften in neun Bänden Herausgegeben von Paul Bernays, Willi Eichler, Arnold Gysin, Gustav Heckmann, Grete Henry-Hermann, Fritz von Hippel, Stephan Körner, Werner Kroebel, Gerhard Weisser
erster Band
F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG
L E ONA R D N E L S ON
Die Schule der kritischen Philosophie und ihre Methode Mit einem Geleitwort von Paul Bernays, einem Vorwort von Grete Henry-Hermann zu den Gesammelten Schriften und einem Beitrag von Julius Kraft
F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG
Redaktion: Grete Henry-Hermann
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3831-3 ISBN eBook 978-3-7873-3840-5 Nachdruck 2020 © Felix Meiner Verlag Hamburg 1970. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck papier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in www.meiner.de Germany.
Inhaltsverzeichnis
EINFÜHRUNG ZU DEN GESAMMELTEN SCHRIFTEN
Zum Geleit (Paul Bernays) Vorwort (Grete Henry-Hermann) Leonard Nelson und die Philosophie des XX. Jahrhunderts (Julius Kraft)
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DIE SCHULE DER KRITISCHEN PHILOSOPHIE UND IHRE METHODE
Vorwort zur neuen Folge der Abhandlungen der Friesschen Schule (1904) Die kritische Methode und das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie. Ein Kapitel aus der Methodenlehre (1904) Jakob Friedrich Fries und seine jüngsten Kritiker (1905) Erwiderung auf den Angriff des Herrn Dr. Paul Stern (1906) Inhalt und Gegenstand. Grund und Begründung Zur Kontroverse über die kritische Methode (1907) über die Unhaltbarkeit des wissenschaftlichen Positivismus in der Philosophie (1914) Die sogenannte neukantische Schule in der gegenwärtigen Philosophie (1914) Von der Kunst, zu philosophieren (1918) über die Bedeutung der Schule in der Philosophie (1918) Vorwort zum fünften Band der Abhandlungen der Friesschen Schule, neue Folge (1922) Die sokratische Methode (1922) Namenverzeichnis Sachverzeichnis
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Einführung zu den Gesammelten Schriften
Zum Geleit Die vorliegende Sammlung der Schriften von LEONARD NELSON richtet sich an verschiedene Kategorien von Lesern. Die größeren Werke wenden sich an den spezifisch philosophisch Interessierten. Von den kleineren Schriften behandeln viele, insbesondere in Band vm und Band IX, in einer mehr populären Weise Fragen der Pädagogik und des politischen Lebens. NELSON war nicht einer von den Denkern, die in Distanz zum konkreten Leben philosophieren. Er wollte die Ergebnisse seines Philosophierens im Leben, insbesondere im politischen Leben, angewandt wissen und setzte sich kämpferisch für die Forderungen der Gerechtigkeit ein. Diesem Anliegen entsprach es auch, daß er in der Ausgestaltung seiner Philosophie vor allem die Gebiete der Ethik und der Rechtslehre entwickelte. Freilich war es auch sein Vorhaben, einmal das Gebiet der Methodenfragen der Naturwissenschaft in einem eingehenden Werk zu behandeln. Das aber ist ihm durch sein frühes Lebensende und durch die Unruhe der Zeiten, wie sie seit dem Ersten Weltkrieg herrschte, versagt geblieben. Seine philosophische Aufgabe sah NELSON in der Wiedererwekkung und Weiterführung der Methoden und Gedanken von JAKOB FRIEDRICH FRIES, der die Kantische Philosophie von gewissen in ihr enthaltenen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen löste und im Sinne seiner Lehre vom »Selbstvertrauen der Vernunft« umgestaltete, wobei er jedoch von den Gedanken KANTS viel mehr beibehielt als die meisten der an KANT anknüpfenden Philosophen. NELSON hat die methodischen Gedanken von FRIES mit großem Nachdruck verfochten und in vielen Diskussionen sich mit den gegen FRIES gerichteten Argumenten auseinandergesetzt, welche insbesondere die Friessche Methode der Begründung betrafen.
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Paul Bernays
Die Friessche Methodik der Begründung der Urteile war verknüpft mit seiner Lehre von der unmittelbaren Erkenntnis und der Reflexion als einer Bewußtmachung unmittelbarer Erkenntnis. Mit der Opposition gegen diese Lehre hat man zumeist die Friessehe Philosophie überhaupt verworfen. Wer jedoch mit Aufmerksamkeit die Darstellung der Friesschen Philosophie liest, wie NELSON sie so treffend und eindrücklich in den aus seinem Nachlaß von Juuus KRAFT herausgegebenen Vorlesungen »Fortschritte und Rückschritte der Philosophie« (Band vn der vorliegenden Sammlung, 3. Teil) gegeben hat, der wird gewahr werden, daß in dieser Philosophie, auch nach der Abstreifung von vielem, das wir nicht zu akzeptieren geneigt sind, etliche grundsätzliche Gedanken und Direktiven von bleibender Bedeutung enthalten sind. In erster Linie ist hier der Gedanke von der Vernunft als erregbarer Selbsttätigkeit (Spontaneität) und als geistiger Lebenseinheit zu nennen. Dieser schließt nicht notwendig die Doktrin von den Erkenntnissen a priori in sich. Rationalität braucht ja nicht in einer von vornherein (in inhaltlicher Bestimmtheit) vorliegenden Gewißheit zu bestehen. Wesentlich aber ist, daß das Rationale nicht auf das Logische und Mathematische beschränkt wird. Bedeutsam ist ferner die Inangriffnahme einer theoretischen Erkenntnispsychologie, welche auch das Unbewußte einbegreift, auch wenn man mit dieser nicht so weitgehende Ansprüche auf »Begründung« verbindet, wie FRIES sie stellt. Ein weiteres bedeutsames Moment ist die Ausgestaltung der Kantischen Lehre des transzendentalen Idealismus, die bei FRIES als seine Lehre von der Spaltung der Wahrheit in verschiedene Weltansichten erscheint. Die Frage der Abgrenzung der wissenschaftlichen Erkenntnis gegenüber demjenigen, was wissenschaftlicher Behandlung nicht zugänglich ist, besitzt ja auch in der heutigen Philosophie eine starke Aktualität. Man mag erwägen, ob nicht die Friessche Stellungnahme zu dieser Frage angemessener ist als jenes Tabu, welches man heute vielfach der gedanklichen Erörterung all dessen auferlegt, was über die Wissenschaft hinausgeht. Viel Bedeutsames enthält schließlich die Friessche Ethik und
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Ästhetik. Insbesondere kommt in seiner Rechtslehre zur Geltung, daß die ethische Anforderung sich nicht nur an die einzelnen Menschen richtet, sondern auch die Gesetzgebungen für menschliche Gemeinschaften betrifft, und daß es daher eine Aufgabe der philosophischen Ethik ist, rationale Regulative für die Systeme positiver Rechtslehre zu geben. Die Friessche Ethik und Rechtslehre ist von NELSON reicher und genauer ausgestaltet worden; insbesondere hat NELSON das diskursiv rationale Element der spezifisch moralischen Wertung sehr eindrücklich herausgearbeitet und (in seiner »Kritik der praktischen Vernunft«, Band IV der Sammlung) eine Deduktion seiner Formulierung des Prinzips der Gerechtigkeit aufgrund erkenntnistheoretischer Prämissen gegeben. Auch wenn nicht alle Prämissen dieser Deduktion akzeptiert werden, so bleiben auch hier wiederum bedeutsame und fruchtbare Leitgedanken bestehen, insbesondere für die philosophische Rechtslehre, die ja in der heutigen Philosophie ganz im argen liegt. So ist zu wünschen, daß die vorliegende Herausgabe der gesammelten Schriften NELSONS dazu verhelfe, daß eine Philosophie, die zu ihrer Zeit übergangen und auch späterhin vorschnell abgelehnt wurde, zu einer auf geschlossenen und fruchtbaren Erörterung gelange.
p AUL BERNAYS Zürich, März 1968
Vorwort Der Aufbau der »Gesammelten Schriften« folgt der Entwicklung und Differenzierung, die sich in NELSONS eigener Problem- und Aufgabenstellung erkennen läßt. Drei größere Gruppen heben sich unter seinen Schriften deutlich heraus: Da sind zunächst Arbeiten, die vorwiegend nach der rechten Methode philosophischen Forschens fragen; NELSON sucht sich in ihnen dieser Methode zu versichern, sie zu erproben und gegen Einwände zu verteidigen. Daneben stehen die großen systematischen Werke, in denen NELSONumfassendeFragenbereiche geschlossen bearbeitet. Schließlich gibt eine Fülle von Arbeiten mit der Behandlung von Einzelfragen Einblick in das im Leben NELSONS immer stärker und fordernder hervortretende Interesse an der praktischen Bedeutung der behandelten philosophischen Fragen, am »Beruf der Philosophie zur Erneuerung des öffentlichen Lebens«. Es liegt auf der Hand, daß diese drei Bereiche einander vielfach durchdringen, und ebenso, daß manche Einzelschrift NELSONS durch äußere Umstände herausgefordert wurde und nicht primär durch einen der genannten Schwerpunkte bestimmt ist. Solche Schriften lassen sich, meist ohne Schwierigkeiten, nach Art der konkreten Veranlassung und NELSONS Antwort auf sie unter Arbeiten verwandte Fragestellung einordnen. Überschneidungen der verschiedenen Bereiche aber erweisen sich ihrerseits als aufschlußreich für Beziehungen, die NELSON zwischen seinen verschiedenen selbstgestellten Aufgaben sieht und durch die er sich von der einen zur andern leiten läßt. Sie ergeben sich aus einander entgegenstehenden, und doch einander polar zugeordneten Gesichtspunkten, die für NELSONS Fragen, Forschen und Streben charakteristisch sind. Hierher gehört zunächst die für NELSONS Selbstverständnis we-
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sentliche Einfügung seiner philosophischen Arbeit in das Werk der Schule seiner Lehrer IMMANUEL KANT, JAKOB FRIEDRICH FRIES und ERNST FRIEDRICH APELT. Bereits die ersten, noch in die Studienzeit fallenden Veröffentlichungen sind dadurch geprägt. Sie gehören durchweg dem ersten der drei genannten Bereiche an, dem Bemühen um »die Kunst zu philosophieren«, um die Gewinnung einer zuverlässigen, den Anforderungen wissenschaftlicher Strenge genügenden Methode in der Behandlung philosophischer Fragen. Dieses Bemühen ist von Anfang an aufs engste verknüpft mit NELSONS Stellungnahme für die Schule der kritischen Philosophie, und zwar mit seinem Eintreten für denjenigen Schüler KANTS, der, in einer Zeit der Wiederbelebung Kantischer Gedanken, eben dabei übergangen und verkannt wurde: NELSON trifft auf FRIES und findet in ihm den einzigen unter den Nachfolgern KANTS, der dessen kritische Methode zum Kriterium für Verständnis und Fortbildung der kritischen Philosophie genommen und zum Rüstzeug philosophischen Forschens weiter ausgebaut und angewandt hat. In seiner Schule gewinnt NELSON den sicheren Boden für die eigene philosophische Arbeit. Es ist aber mehr als Dank für empfangene Anregung, wenn er das eigene Philosophieren versteht als Schritt in der schulmäßigen Entwicklung der Philosophie. Philosophie als Wissenschaft hat ihre Geschichte und bedarf dieser Entwicklung. Wer an ihr mitwirkt, steht in diesem großen, über die Person jedes einzelnen hinausgreifenden Zusammenhang, der allein den Maßstab für die Würdigung erreichter Leistungen abgibt. Nur der »Narr auf eigne Hand« verfällt der Eitelkeit, sich dem entziehen zu wollen. Trotzdem fallen Philosophie und Geschichte der Philosophie nie zusammen; bei aller Einordnung in die Schule der kritischen Philosophie bleibt NELSONS Philosophieren sachbezogen, primär den philosophischen Fragen selber und deren Lösungen zugewandt, die von denen der Geschichte der Philosophie verschieden und ihnen übergeordnet sind; Thema der Geschichte der Philosophie sind »Fortschritte und Rückschritte« auf dem Weg zur Lösung dieser philosophischen Fragen, nicht die Persönlichkeit der Philosophen oder ihre Schicksale. In NELSONS eigenen systematischen Werken, sofern sie nicht selber dem historischen Zusammenhang gelten, treten da-
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her, trotz seiner engen Bindung an seine Lehrer, Berufung und Hinweise auf diese weithin zurück, sofern sie nicht überhaupt entfallen. Nicht die Tradition der Schule, nur die Kraft von Argumenten entscheidet in Streitfragen. Mit diesem Doppelcharakter der Beziehung NELSONS zur KantFriesschen Schule hängt eng zusammen die Polarität zweier Ansprüche, die für seine eigene Arbeit durchweg bestimmend sind: Philosophie soll Wissenschaft sein, und sie soll dem Menschen Maßstäbe zur Orientierung in entscheidenden Lebensfragen an die Hand geben. Zwischen beiden Forderungen besteht eine Spannung; sie durchzieht NELSONS Werk im ganzen und stellt es hinein in ein verzweigtes Geflecht von Aufgaben. Dabei tritt diese Spannung ihrerseits in verschiedenen Formen auf: in der Sonderstellung des Problems der Methode wissenschaftlichen Philosophierens gegenüber den mit dieser Methode zu lösenden primär philosophischen Fragen; ferner in Bewertung und Einordnung dieser Fragen, je nachdem nämlich, ob Philosophie als Wissenschaft in einem diesen Anspruch rechtfertigenden systematischen Zusammenhang dargestellt oder als Welt- und Lebensansicht aufgehellt werden soll, um menschlichem Leben die Richtung zu weisen; schließlich ist es eine Spannung gleicher Art, die in NELSONS Leben immer stärker philosophische Arbeit und eigenes Tun in Politik und Erziehung aufeinander bezieht und wechselseitig das eine durch das andere begrenzt. Ausgangsthema der eigenen Arbeit ist für NELSON die kritische Methode und ihre Bedeutung für die schulmäßige Entwicklung der Philosophie. Ihrer Darstellung und Erprobung gelten die Arbeiten der ersten Bände dieser Sammlung (1 - m). Dabei geht es zunächst um diese Methode selber, wie sie in der Kant-Friesschen Schule entwickelt ist und diese Schule ihrerseits charakterisiert (Band 1). Für diese Arbeiten ist die Anknüpfung an FRIES der entscheidende Ausgangspunkt. Denn erst bei FRIES sieht NELSON die kritische Methode scharf herausgearbeitet und eindeutig dargestellt. Zwar hat KANT mit seinem großen Entwurf der Kritik der Vernunft - seinem » Traktat von der Methode« - den Grund gelegt für die Ausbildung der kritischen Methode. Bei ihm aber bleiben gewisse Verhältnisse noch ungeklärt, so insbesondere die Beziehung zwischen Vernunft-
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kritik auf der einen und dem durch sie zu begründenden System der Philosophie auf der anderen Seite. Die für FRIES und NELSON entscheidende Frage, auf die sie bei KANT keine eindeutige Antwort finden, betrifft die Modalität der vernunftkritischen Untersuchungen: Gehören sie, als Untersuchungen des menschlichen Vermögens zu erkennen, der psychologischen, auf Selbstbeobachtung gegründeten, inneren Erfahrung an oder enthalten sie selber die aufzuweisenden Gründe philosophischer Urteile, mit denen sie daher modalisch gleichartig sein, also aus philosophischen Urteilen a priori bestehen müßten? FRIES bejaht die erste Deutung: Die kritische Methode hat es nach ihm nur mit der subjektiv-psychologischen Aufweisung unmittelbarer Vernunfterkenntnisse zu tun, denen, als unmittelbaren Erkenntnissen, das Vertrauen der Vernunft gehört und die darum einer weiteren Zurückführung und Rechtfertigung weder fähig noch bedürftig sind. Diesem Verständnis schließt NELSON sich an und gründet darauf die scharfe Abgrenzung der kritischen Philosophie von der durch jene zweite Deutung bestimmten Gegenposition, von der Erkenntnistheorie, nach der die dem philosophischen System voraufgehende Grundlagenuntersuchung objektiv die Gültigkeit philosophischer Erkenntnisse, ja die Gültigkeit von Erkenntnissen überhaupt erweisen soll. Diesem Gegensatz zwischen Vernunftkritik und Erkenntnistheorie geht NELSON in einer Reihe von Arbeiten eingehend nach (Band 11). Er verfolgt ihn zurück bis auf seine Ansätze bei KANT und prüft seine Bedeutung für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie. In weiteren Arbeiten wendet NELSON sich daneben der Aufgabe zu, die kritische Methode dem Prüfstein der exakten Wissenschaften auszusetzen und sie in deren Deutung als fruchtbar zu erweisen (Band rn). An Grundfragen der Philosophie der Mathematik und der Naturwissenschaft erprobt er die kritische Methode und prüft die Grundthesen der kritischen Philosophie. In diesen Band auf genommen sind darüber hinaus solche Schriften, in denen NELSON, herausgefordert durch die Philosophie seiner Zeit, mit dem Rüstzeug der kritischen Philosophie zu zeitgenössischen Strömungen Stellung nimmt. In den großen, systematisch durchgeführten Werken NELSONS
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(Band IV - Band vn) tritt die Naturphilosophie nicht als eigenes Thema auf, obwohl die Schriften des Bandes III NELSONS starkes Interesse an den exakten Wissenschaften und ihrer philosophischen Deutung erkennen lassen. Die Wahl der Hauptbereiche, auf die sich jeweils auf lange Zeit seine wissenschafl:liche Arbeit konzentriert, ist von der praktischen Bedeutung der zu klärenden philosophischen Lebensansicht bestimmt: Die philosophischen Grundlagen der Ethik haben ihn am längsten und intensivsten beschäftigt, angefangen von der Kritik der praktischen Vernunft, die er in spürbarem Kontakt mit den entsprechenden Arbeiten von KANT und FRIES, aber nach eigenem Plan und in neuer Form vollständig bearbeitet (Band IV), bis hin zu den Systemen der philosophischen Ethik und Pädagogik (Band v) und der philosophischen Rechtslehre und Politik (Band v1), mit denen er den Bereich der reinen Ethik ganz auszumessen sucht. Neben diese drei Werke, die er als »Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik« herausgibt- die »Ethik und Pädagogik« erscheint als Nachlaßwerk einige Jahre nach seinem Tode-, tritt in den letzten Lebensjahren mit steigendem Nachdruck die Bearbeitung bedeutsamer Abschnitte aus der Geschichte der Philosophie. Diese Arbeit schließt er nicht mehr selber ab, sie erscheint erst 1962, als Nachlaßwerk herausgegeben vonJuuusKRAFT, unter dem Titel »Fortschritte und Rückschritte der Philosophie - Von HuME und KANT bis HEGEL und FRIES« (Band vn). Mit diesen historisch-kritischen Vorlesungen seiner letzten Jahre nimmt NELSON alte Gedankengänge auf, die ihn in der Bestimmung des eigenen Schulstandpunktes geleitet haben. Er tut es im Bewußtsein ihrer praktischen Bedeutung, in dem Vertrauen, mit solchen philosophie-historischen Betrachtungen Menschen unserer Zeit den Weg zu vernünftiger Selbstbestimmung erhellen zu können. Von den eingangs genannten Hauptbereichen bleibt noch der dritte; er umfaßt (Band vm und Band IX) Arbeiten, in denen es NELSON um inhaltlich gewichtige Einzelfragen selber geht, nicht mehr um den Schwerpunkt von Erarbeitung, Darstellung und Erprobung der kritischen Methode. Hier vor allem tritt die starke Konzentration NELSONS auf die praktische Philosophie, der alle Schriften dieser Bände angehören, eindrucksvoll hervor. Es sind Arbeiten dabei, in denen
Vorwort
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NELSON, während der eigenen systematischen Behandlung der Grundlagen der Ethik, Sonderfragen besonderen Gewichts heraushebt, für sich untersucht und darstellt. Die Mehrzahl dieser Veröffentlichungen aber ist getragen von jenem Verständnis, aus dem heraus NELSON überhaupt die Ethik in seinen philosophischen Studien voranstellt und das er einmal im Gespräch auf die kurze Form gebracht hat: »Die Ethik ist da, um angewandt zu werden.« Die im System der Ethik erarbeiteten Gedanken werden hier, mehr oder weniger stark unter der Herausforderung durch die Umwelt oder in der eigenen Herausforderung an seine Umwelt, für sich lebendig gemacht und in ihre praktischen Konsequenzen hinein verfolgt. Das geschieht in den beiden großen Bereichen, dem der Ethik und Pädagogik (Band vm) und dem der Rechtslehre und Politik (Band IX), so daß diese Abschlußbände konkretisierend und anwendend die systematischen Darlegungen der Bände v und VI wieder aufnehmen und neu beleuchten. Die Schriften der Bände I - m, vm und IX sind, jeweils entweder im ganzen, oder, sofern diese Bände unterteilt sind, in den Hauptabschnitten, chronologisch geordnet. Bibliographische Angaben zu den einzelnen Schriften sind diesen im Anschluß an ihre Titelseite vorangestellt. Fußnoten des Verfassers sind in jeder Schrift für sich fortlauf end numeriert, solche der Herausgeber dagegen durch Sternchen gekennzeichnet. Nicht aufgenommen wurden ein paar noch unveröffentlichte Manuskripte, so der Bericht über eine Rußlandreise aus dem Jahr 1927 und die Nachschrift einer kürzeren Vorlesung »Typische Denkfehler in der Philosophie«, sowie kurze Vorbemerkungen, die NELSON der Neuherausgabe einiger Schriften von FRIES voranstellt, ohne darin selber philosophische Fragen zu erörtern. Orthographie und Interpunktion sind der modernen Schreibweise angepaßt, mit der Maßgabe, daß, vor allem in der Zeichensetzung, charakteristische Ausdrucksformen NELSONS für Hervorhebungen und logische Verknüpfungen dabei nicht beeinträchtigt werden durften. Mit der Herausgabe des großen philosophie-geschichtlichen Nachlaßwerks (Band vn) hat JuLius KRAFT Sammlung und Gesamtdar-
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stellung der philosophischen Arbeit LEONARD NELSONS vorbereitet und eingeleitet. Er selber ist im Dezember 1960 gestorben, während die von ihm herausgegebene Nelsonsche Schrift noch im Druck war. So fehlt er heute im Kreis der Herausgeber der »Gesammelten Schriften«. Aber er ist diesem Kreis verbunden durch seine Arbeit am Nachlaß NELSONS und durch eigene Bemühungen, das Gedankengut der kritischen Philosophie, so wie es ihm in der Schule von KANT, FRIES, APEL T und NELSON begegnete, unserer Zeit lebendig zu erhalten und es einzusetzen in der Arbeit an alten philosophischen Fragen und Aufgaben, die in unserer, durch den Fortschritt der Wissenschaften so rasch sich ändernden Welt uns in neuen Formen und Zusammenhängen entgegentreten. In einem Gedenkbuch für LEONARD NELSON hat Juuus KRAFT im Jahr 1953 NELSONS Bedeutung für solche Fragen unserer Zeit dargelegt. Wir nehmen diese Arbeit: »LEONARD NELSON und die Philosophie des xx. Jahrhunderts« als den Beitrag KRAFTS auf in die Einführung zu den Gesammelten Schriften LEONARD NELSONS. GRETE HENRY-HERMANN
Leonard Nelson und die Philosophie des xx. Jahrhunderts Es ist leicht, sich über einen Philosophen in Lobeserhebungen zu ergehen, es ist schwer, sich und anderen Rechenschaft von der Natur und Bedeutung seiner Leistung zu geben. Diese Schwierigkeit besteht besonders akzentuiert dem Lebenswerk NELSONS gegenüber, das, eine Beschränkung auf philosophische Theorie verschmähend, unter dem Leitstern politischer und pädagogischer Praxis steht. In dieser Hinsicht steht NELSONS sonst so einsames Werk gewiß nicht allein da. Männer wie RussELL und DEWEY verfolgen in dieser, wenn auch nicht in theoretischer Beziehung, ähnliche Zielsetzungen, wie ihre pädagogisch-politischen Experimente zeigen. Während aber RussELL und DEWEY zwar als ethische Apostel auftreten, jedoch in ihrer Philosophie direkt oder indirekt die ethische Skepsis verteidigen, ist NELSON dieser offenbaren Inkonsequenz aufs entschiedenste entgegengetreten. Nur im Namen der wissenschaftlichen Ethik beansprucht er, als Lebensreformator aufzutreten. Als junger Student, unbefriedigt von der tendenziösen Begriffsakrobatik juristischer Vorlesungen, kam ich mehr oder minder durch Zufall in NELSONS Vorlesung über »Ethik«. Erwargeradedamitbeschäftigt, mit einfacher, aber gerade darum lapidarer Klarheit zwischen dem Guten und den Meinungen über das Gute zu unterscheiden. Ich werde nie den Eindruck dieser Auseinandersetzung vergessen, der sich mir in dem unwillkürlichen Gedanken ankündigte: »Das ist ein Naturereignis.« Diese zwingende Note charakterisiert alles, was NELSON geschrieben hat, sowohl seine polemischen wie konstruktiven Leistungen. Sie findet sich ebenso ausgeprägt in seinen Beiträgen zur Theorie der Erkenntnis und zur Methodenlehre der exakten Wissenschaften wie in dem Systemgebäude der Ethik, das er errichtet hat. Es ist diese zwingende Note, die seine Einsamkeit
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bedingt und die sein Werk in so ausgesprochenen Gegensatz zu dem Stande der Philosophie im xx. Jahrhundert bringt. Man könnte, in eine einfache Formel zusammengefaßt, sagen, daß die Verzweiflung an der Möglichkeit, eine überpersönliche Philosophie zu entwickeln, das Charakteristikum der Philosophie des xx. Jahrhunderts ist. Diese Verzweiflung drückt sich in zwei Grundformen aus: In dem positivistischen Glauben, daß alle Metaphysik nicht nur falsch, sondern sinnlos ist, und in dem Fanatismus des modernen Irrationalismus, der sich Aussagen, die eine Weltanschauung formulieren sollen, nur in der Form von Bekenntnissen vorstellen kann, die schließlich in Absurditäten ausmünden. Nur dann, wenn die Welt mehr ist als »alles, was der Fall ist« (WITTGENSTEIN) und wenn dieses »mehr« sich in begrifflich klarer Weise auffassen läßt, kommt dem Unternehmen NELSONS in der PhilosophieeinekonstruktiveBedeutungzu. Es ist verständlich, daß für dieses Unternehmen eine Diskontinuität mit den historischen Ursprüngen der im xx. Jahrhundert vorherrschenden philosophischen Schulen bestehen muß. Weder DAVID HuME noch PLATos Mystizismus sind die Modelle, denen NELSON nachstrebt. Es ist daher klar, daß die Radikalisierung dieser Modelle durch den logischen Positivismus, die Phänomenologie und die Existenzphilosophie auf einen Versuch wie den Nelsonschen mit Verachtung herabblicken mußte. Diese Verachtung drückt sich in der Standard-Klassifizierung aus, daß NELSONS Bemühungen um die Fortsetzung der kritischen Philosophie als eine verspätete Wiedergeburt des xvm. Jahrhunderts anzusehen seien. Dieser Klassifizierung liegt offenbar die Annahme zugrunde, daß jedes Jahrhundert seine eigene philosophische Wahrheit habe, und es ist gerade die strikte Ablehnung dieser, mit dem Fluß der Zeit wechselnden Wahrheit, die den Herzschlag der Nelsonschen Bemühungen ausmacht. Bundesgenossen für diesen Berge versetzenden Glauben finden sich heute bei zwei entgegengesetzten Gruppen: bei den Vertretern der theologischen Orthodoxie und bei den Bekennern des dialektischen Materialismus. Es ist indessen klar, daß diese Verwandtschaft einen höchst formalen Charakter hat: Die Religionsphilosophie, der NELSON huldigte, kann sich niemals mit KIERKEGAARDS Paradoxienglauben aussöhnen, und seine allgemeine Weltauffassung ist ebensowenig ver-
Leonard Nelson und die Philosophie des xx. Jahrhunderts
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einbar mit der Metaphysik der Produktionsverhältnisse, wie sie das marxistische Dogma charakterisiert. Kein Wunder daher, daß die formale Übereinstimmung hinsichtlich der Möglichkeit eines wahren Weltbildes keine warme Freundschaft zwischen moderner Theologie und Marxismus auf der einen, und NELSONS Fortsetzung der kritischen Philosophie auf der anderen Seite zustande gebracht hat. Indessen hat der Welterfolg, der sowohl der modernen Orthodoxie wie der marxistischen Doktrin nicht abgesprochen werden kann, indirekt für die von allen Seiten bedrängte kritische Philosophie etwas Ermutigendes an sich. Er demonstriert lebhaft, daß das Festhalten an der Möglichkeit eines wahren Weltbildes eine nicht zu vernachlässigende Kraftquelle darstellt. Das Ideal, sich aus einer solchen Quelle nicht nur mit Dogmen zu betrinken, sondern aus ihr kritisch gereinigtes Wasser zu schöpfen, dies ist und bleibt die spezielle Note, die NELSON von allen mitstrebenden Parteien im philosophischen Schulenkampf des xx. Jahrhunderts aufs radikalste unterscheidet und ihm in diesem Kampf einen einzigartigen Platz sichert. Die systematischen Grundlagen von NELSONS Beiträgen sind in allen entscheidenden Zügen der Kantischen Vernunftkritik in ihrer von FRIES modifizierten Form entnommen. An diesen Zusammenhang schließt sich die prinzipielle Aufgabe an, zu prüfen, was von diesen Grundlagen im Lichte der geistigen Entwicklung, die sich von dem xvm. bis zum xx. Jahrhundert vollzogen hat, als modifizierungsbedürftig erweist und was nicht. Dabei muß es als systematischer Leitgedanke gelten, daß nur eine solche Philosophie befriedigen kann, die zu einer widerspruchsfreien Koordinierung der verschiedenen Weltinterpretationen führt, derer der menschliche Geist fähig ist. Es war immer das Bestreben NELSONS, das Recht nicht nur der naturwissenschaftlichen, sondern auch der ethischen, ästhetischen und religiösen Weltdeutung zu sichern. Während seines kurzen Lebens konnte er dieser Aufgabe niemals in systematisch-geschlossener Weise Genüge tun. Die großen Ansätze, die er hier hinterlassen hat, weiter zu entwickeln, dies ist die einzig-konstruktive theoretische Antwort, die die Schule der kritischen Philosophie ihren zahlreichen Gegnern zu geben hat, um aufs neue ihre Existenzberechtigung zu beweisen. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe sollte nicht unterschätzt werden.
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Ihre erfolgreiche Durchführung verlangt als Grundbedingung eine Vereinigung von Oberzeugungstreue und Aufgeschlossenheit für Neues, die sich selten findet. Aber die geistigen Rüstzeuge der kritischen Philosophie sind durch NELSONsogeschärftworden, daß der unvermeidlichen Auseinandersetzung mit um so größerer Ruhe entgegengesehen werden kann. Diese Auseinandersetzung betrifft alle Gebiete der kritischen Philosophie, die Theorie der Erkenntnis, die Logik und die Metaphysik. - Einige Beispiele werden dienlich sein, die Situation zu verdeutlichen. Sie finden sich in so großer Zahl, daß man nicht lange nach ihnen zu suchen braucht: die Alltagserfahrung führt direkt zu ihnen hin. In Übereinstimmung mit ihr hält die kritische Philosophie daran fest, daß der Mensch als Naturwesen aufzufassen ist, aber als ein solches sui generis, jedenfalls als eine komplexe, nämlich psychophysische Einheit. Damit ist der Begriff der psychischen Realität eingeführt, dessen Unentbehrlichkeit es zu verteidigen gilt gegen behaviouristische und neurologisch-psychiatrische Doktrinen, die seine Oberlebtheit behaupten. Diese Auseinandersetzung betrifft gewiß nichts Haarspalterisches. Angenommen, es gäbe wirklich nichts Psychisches, dann entfiele auch die Existenz bestimmter Regionen des Psychischen, z. B. der menschlichen Vernunft. Die Kritik der Vernunft entfiele gleichfalls und müßte der Gehirnphysiologie weichen. Es ist also nicht zuviel behauptet, daß die psycho-physische Naturauffassung des Menschen alle Veranlassung hat, sich ihres Rechtes erneut zu versichern. Hand in Hand mit dieser Aufgabe geht die andere, die zahlreichen Versuche systematisch unter die Lupe zu nehmen, die es darauf abgesehen haben, dem Menschen, wenn nicht psychische Kräfte überhaupt, so doch jedenfalls das qualitative Charakteristikum des Vernünftigen abzusprechen. Soziologie, Anthropologie und Psychologie in allen Ehren, es wird sich darum handeln, von ihnen empirisch zu lernen, ohne sich dabei philosophisch überrumpeln zu lassen. Diese Linie des Lernens ohne gleichzeitiges Aufgeben von Grundsätzlichem setzt sich fort in dem Kontakt mit der modernen Entwicklung der exakten Wissenschaften, der sogenannten Geisteswissenschaften, der Künste und der positiven Religionssysteme. Wenn etwas, so haben die politischen Erschütterungen seit
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der russischen Revolution die Kraft politischer Naturreligionen demonstriert. Die kritische Philosophie kann nicht daran vorübergehen, die religiöse Symbolik und Dogmatik des Sozialismus und des Nationalismus mit den Ideen der Religion selbst kritisch zu vergleichen. Was der jüdisch-christlichen Tradition recht war und ist, ist diesen Neubildungen gegenüber billig. »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, wie KANT es formulierte, kann sich nur aufs neue ihren Platz erobern, wenn sie sich bewußt mit fremden, ja feindseligen Gewalten konfrontiert und angesichts ihrer sich selber tiefer zu verstehen lernt. Man braucht nicht zu befürchten, hierbei schließlich sich dem Relativismus anzunähern und z.B. mit CASSIRER die Grenzen zwischen religiöser Symbolik, philosophischer Systematik und spezialwissenschaftlicher Strenge verschwimmen zu lassen. Ganz im Gegenteil, je strenger betrieben, um so klarer wird die philosophische Analyse die grundsätzliche Unterschiedenheit dieser Gebiete hervortreten lassen und gleichzeitig den Provinzialismus ausschließen, der die Philosophie auf eine bestimmte religiöse Symbolik festzulegen sucht. Die beiden bisher erörterten Beispiele, die Interpretation des Menschen und die Interpretation religiöser Ideenbildungen, können für sich weit mehr als ein fachwissenschaftliches Interesse beanspruchen. Ihre Bedeutung greift direkt in das Leben ein. So anziehend die Beschäftigung mit solchen Ideen ist, ihre allgemeinen Voraussetzungen dürfen darüber nicht vernachlässigt werden. Damit melden sich die Gebiete der Logik, der Metaphysik und der Theorie der Erkenntnis zu weiterer Betrachtung an. Eine Philosophie, wie die kritische, die alle philosophische Anschauung verschmäht und statt dessen ihr Vertrauen in das denkende Erkennen setzt, kann gewiß nicht daran vorübergehen, sich die Frage vorzulegen: Welche grundsätzliche Bedeutung kommt den Abstraktionen der symbolischen Logik zu? Besteht hier eine Kontinuität oder eine Diskontinuität mit der klassischen Logik? Hat es einen berechtigten Sinn, von Logiken (im Plural), z.B. von zwei-wertiger und mehr-wertiger Logik, zu sprechen? NELSON, als der unerbittliche Logiker, der er war, wäre diesen und zahlreichen weit spezielleren Problemen sicher nicht ausgewichen. Sie sind darüber hinaus von unmittelbarer systematischer Bedeutung für
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das Lehrgebäude der kritischen Philosophie: man beachte nur den Umstand, daß die Kategorienlehre sich auf den transzendentalen Leitfaden und d. h. auf eine Theorie des Urteils stützt. Angenommen, es gäbe im Sinne des modernen Nominalismus nur Sätze, aber keine Urteile, und dem Unterschied der Urteilsformen käme eine lediglich linguistische Bedeutung zu, dann wäre ein Kernstück der Vernunftkritik einfach in der Luft schwebend gelassen. Diese Erwägungen führen unmittelbar zu den Problemen des Apriorismus. Wenn NELSON gegen Empiristen, Logizisten und Intuitionisten argumentierte, hatte er es immer mit der Behauptung zu tun, daß reflektierte, synthetische Urteile a priori keine Gültigkeit besäßen. Heutzutage geht man weiter und behauptet ihre Sinnlosigkeit. Es kommt also darauf an, dieser radikaleren These in derselben durchschlagenden Weise zu begegnen, wie NELSON es tat, als er die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie demonstrierte, und gleichzeitig diejenigen Korrekturen an der Formulierung rationaler Prinzipien der exakten Wissenschaften durchzuführen, die durch die Konstruktion neuer physikalischer und mathematischer Theorien gefordert sein mögen. Ahnliche Aufgaben bestehen für das Gebiet der Ethik, dem NELSON das meiste seiner Konstruktionsenergie gewidmet hat. Hier hat er unter den Mitstrebenden im xx. Jahrhundert kaum einen ernsthaften Konkurrenten. Die weiterführenden Anstrengungen können sich daher weitgehend dem Nelsonschen Konstruktionsversuch selbst zuwenden. Eine Verallgemeinerung seines epistemologischen Teils, d. h. seine systematisch-engere Verbindung mit der Kritik der theoretischen Vernunft, und eine Prüfung des Systems auf seine vorhandenen, jedoch nicht klar als solche formulierten empirischen Elemente hin, dies sind Probleme, die sich dem Streben nach unabhängiger Arbeit im Gebiete der kritischen Ethik unvermeidlich aufdrängen. Man wird schwerlich behaupten können, daß eine geistige Leistung, wie die NELSONS, die Anregungen solcher Art hinterläßt, tot sei. Sie ist gegenwärtig nicht in Mode, aber die Klarheit, die aus NELSONS Werken spricht, und der geistige Mut, den er seinen Schülern einzuhauchen verstand, sind Funken, die nur darauf warten, wieder zur Flamme emporzuschlagen. Juuus KRAFT
Die Schule der kritischen Philosophie und ihre Methode
Vorwort zur neuen Folge der Abhandlungen der Friesschen Schule
Das Vorwort zu der 1904 begonnenen neuen Folge der Abhandlungen der Friesschen Schule (im ersten Heft des ersten Bandes, S. vn-xn) nimmt auf die alte Folge Bezug, die 1847 von APELT, SCHLEIDEN, ScHLÖMILCH und SCHMIDT begonnen worden, jedoch schon 1849 nach Erscheinen des zweiten Heftes abgebrochen war. Von der neuen Folge erschienen unter NELSONS Mitarbeit vier Bände: der erste 1906, der zweite 1908, beide herausgegeben von GERHARD HESSENBERG, KARL KAISER und LEONARD NELSON; der dritte 1912, der vierte 1918, beide herausgegeben von GERHARD HESSENBERG und LEONARD NELSON; alle vier Bände bei Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.
Nahezu zwei Menschenalter sind verstrichen, seit die Vertreter der F riesschen Schule sich zur gemeinsamen Verteidigung und Fortbildung der kritischen Philosophie vereinten. Diese Zeit hat die von ihnen gehegte Hoffnung auf einen nahen Friedenszustand im Gebiete der Philosophie nicht erfüllt. Die Philosophie, der jene Männer anhingen, hat nicht nur nicht den Sieg davongetragen, sondern die Öffentlichkeit ist achtungslos an ihr vorübergegangen. Unter den Trümmern der Schelling-Hegelschen Dialektik ist auch die Friesische Lehre begraben worden. Dort hat sie verschüttet gelegen bis auf unsere Tage, und die Geschichte kennt nicht mehr ihre Spuren. Und so scheint die Zeit über die hier vorgetragene Philosophie gerichtet zu haben. Warum also wollen wir sie wieder aus dem Staube der Vergessenheit hervorziehen an das Licht des Tages? Und was soll unserer Zeit eine Lehre, die selbst in der Geschichte der Philosophie ihren Platz nicht zu behaupten vermocht hat? Wir antworten: Nicht Neuerungs- oder Streitsucht treibt uns, das Wort zu ergreifen. Unsere Absicht ist nicht, die Zahl der streitenden Parteien um eine weitere zu vermehren und den Geschichtsschreibern der Philosophie ihre bunte Sammlung zu bereichern, sondern Wissenschaft an die Stelle der Parteimeinungen, und schulgemäße Ausbildung an die Stelle des zügellosen Spiels der Originalitätssucht zu setzen. Denn, wir bekennen es frei, auch wir leben der Zuversicht, daß die von KANT begründete und von FRIES und APEL T fortgebildete Philosophie nicht von der Geschichte gerichtet und überwunden sei und daß sie niemals überwunden werden könne. Nicht der Vergangenheit, sondern der Zukunft gehört sie an, und so bauen auch wir auf ihren einstigen Sieg und ihre einstige Alleinherrschaft. Was aber ist der Grund dieser unserer Zuversicht, die den offenkundigsten Lehren der Geschichte zu widersprechen scheint? Welche Bürgschaft haben wir dafür, daß gerade der von KANT, FRIES und APELT entwickelten Philosophie dasjenige gelingen werde, wonach schon so viele vergeblich, wie nach einem Phantom, gestrebt haben? Der Grund unserer Überzeugung von der Überlegenheit dieser
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Philosophie liegt in nichts anderem als in dem Vertrauen auf dieselbe Macht, durch die einst die Geometrie des EuKLIDES über die Zahlen- und Figurenphantasien der Pythagoreer gesiegt hat, und die der von KEPLER, GALILEI und NEWTON ausgebildeten Astronomie die Überlegenheit über die astrologischen Träume ihrer Zeitgenossen verliehen hat. Diese Macht ist die wissenschaftliche Methode. Die Geschichte der Wissenschaften lehrt, daß es die Methode ist, die der Wahrheit den Sieg erringt über alles regellose Spiel der Parteimeinungen. Mit derselben Unwiderstehlichkeit, mit der die Methode der Induktion der Naturwissenschaft ihre Herrschaft im wissenschaftlichen und öffentlichen Leben erobert hat, mit derselben Unwiderstehlichkeit wird auch die von KANT, FRIES und APELT ausgebildete Methode der Kritik der Vernunft der kritisd:ien Philosophie den Sieg erringen. Wer der Geschichte der Philosophie bis zu den Werken dieser Männer gefolgt ist, in dessen Augen kann das Unternehmen, noch fernerhin ohne diese kritische Methode zu philosophieren, nur dem Versuch des Träumers gleichen, die Zahlenmystik wieder an die Stelle der Mathematik oder die Astrologie wieder an die Stelle der Mechanik des Himmels zu setzen. Den Beweis aber, daß unsere Philosophie auf ebenso strenger wissenschaftlicher Methode beruht wie die Mathematik und wie die Naturwissensd:iaften, werden wir nicht schuldig bleiben. Der Standpunkt der Ausbildung, auf dem sich die philosophische Wissenschaft heute befindet, entspricht in der Tat demjenigen, den die Med:ianik des Himmels und die physikalischen Wissenschaften vor etwa zwei Jahrhunderten einnahmen und den die Mathematik bereits bei den Griechen erreicht hat. Diese Verschiedenheit in der Zeit ihrer wissenschaftlichen Ausbildung liegt in der Natur der verschiedenen Erkenntnisweisen begründet. Die Anschaulichkeit und Einleud:itendheit ihrer Grundlagen begünstigt eine frühe Entwicklung der mathematischen Wissenschaften. Da andererseits die Möglid:ikeit der physikalischen Theorien an die Anwendung der Mathematik auf die beobachteten Erscheinungen gebunden ist, so wird eine gewisse Ausbildung der Mathematik derjenigen der Physik vorhergehen müssen. Gleich weit entfernt aber von der anschaulichen Evidenz der mathematischen Grundwahrheiten wie von der
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sinnlichen Deutlichkeit der empirischen Tatsachen ist die philosophische Wahrheit. Sie wird daher naturgemäß am spätesten die Form strenger Wissenschaft annehmen. Wenn es nun aber wahr ist, daß die wissenschaftliche Ausbildung der Philosophie kein Geheimnis mehr ist, dessen Offenbarung wir erst von der Zukunft zu erwarten hätten, wie war es möglich, daß sie so lange unbeachtet bleiben konnte? Wenn wir hier absehen von der Ungunst der äußeren Umstände, die die Verbreitung dieser Philosophie gehindert haben, so finden wir doch noch Ursache genug hierzu in der Natur der Sache selbst. Die Schnelligkeit der Verbreitung einer Lehre ist durchaus kein Maßstab für ihre Richtigkeit und für ihre wissenschaftliche Vortrefflichkeit. Denn je nach der Schwierigkeit des Studiums dieser Lehre wird der Gang ihrer Anerkennung und Verbreitung mehr oder weniger langsam ihrer Entdeckung nachfolgen. Gerade die bahnbrechendsten und folgenreichsten Entdeckungen sind jederzeit nur allmählich und langsam verstanden worden. Mehrerer Jahrhunderte hat es bedurft, bis die Induktion sich in den Naturwissenschaften einbürgerte, und noch viel länger hat es gedauert, bis die neuen naturwissenschaftlichen Ansichten ins Volk drangen und ein Allgemeingut der wissenschaftlich Gebildeten wurden. Die kritische Methode und die auf ihr beruhenden Entdeckungen konnten kein besseres Schicksal erwarten. Hundert Jahre nach KOPERNIKUS versuchte noch DESCARTES in seiner Bewegungslehre die Ansicht vom Stillstand der Erde zu rechtfertigen. KEPLERS Entdeckung der drei nach ihm benannten Gesetze, die jetzt zu dem unentbehrlichsten Handwerkszeug jedes Astronomen gehören, wurde auch von seinen größten Zeitgenossen nicht begriffen. Selbst GALILEI hatte 23 Jahre nach dem Erscheinen von KEPLERS Kommentar über den Stern Mars noch keinen Begriff von der wahren Figur der Marsbahn. Erst NEWTON gab den Keplerschen Entdeckungen, fast 80 Jahre nach ihrer Veröffentlichung, das Bürgerrecht in der wissenschaftlichen Welt. Und so mußten erst durch Engländer und Franzosen die Deutschen auf die wissenschaftlichen Verdienste ihres großen Landsmanns aufmerksam gemacht werden, nachdem sein Name länger als ein Jahrhundert in seinem Vaterlande nahezu verschollen geblieben war.
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Wieviel schwieriger und langsamer aber wird naturgemäß die Anerkennung und Verbreitung von Entdeckungen fortschreiten in einem Gebiete, das so sehr aller Anschaulichkeit und Evidenz ermangelt wie die Philosophie. Hier nützt am wenigsten die Aneignung fremder Lehre, hier will die Wahrheit durch eigene Einsicht von jedem Schüler in harter Arbeit neu erworben werden. Es ist also ein großer Unterschied zwischen der Ausbildung einer Wissenschaft in der Behandlung der Forscher und der Geschichte der Verbreitung der Ergebnisse dieser Forschungen unter dem Publikum. Daher beruht es auf einer verhängnisvollen Verwechslung, wenn man, wie es meist geschieht, die Geschichte der Philosophie in der Geschichte der die öffentliche Meinung beherrschenden Philosopheme sucht. In welchem Grade eine Lehre im öffentlichen Leben Anerkennung findet, das hängt zunächst von ganz anderen Umständen ab als von ihrem wissenschaftlichen Werte und von ihrer inneren Wahrheit; und umgekehrt: die Entwicklung der wissenschaftlichen Einsicht richtet sich nicht nach der Windfahne der öffentlichen Meinung. Das Schicksal einer philosophischen Lehre hängt zunächst meist davon ab, in welchem Grade sie sich den Bedürfnissen des Zeitgeistes anpaßt und die Interessen der Tageslaune begünstigt. Man erhält daher zwei ganz verschiedene Bilder von der Geschichte der Philosophie des letzten Jahrhunderts, je nachdem man sie aus dem Gesichtspunkt der öffentlichen Verbreitung oder aus dem des wissenschaftlichen Fortschritts betrachtet. Da ergibt sich allerdings im einen Falle die Reihe: KANT, FICHTE, ScHELLING, HEGEL, ScHOPENHAUER, NIETZSCHE. Die Geschichte der Ausbildung des wissenschaftlichen Geistes aber hat eine ganz andere Gestalt; da heißt die Reihe: KANT, FRIES, APELT. Diese beiden Reihen müssen notwendig so schroff auseinanderfallen, wenn die öffentliche Meinung, wie bei uns in Deutschland seit dem Zeitalter der Aufklärung, so sehr mit im Spiele ist. Es gibt also nicht, wie die Sage geht, zwei Kantische Schulen; sondern unter den Nachfolgern KANTS gibt es eine Reihe von solchen, die seine kritische Methode verlassen und durch Bildung eigener »Systeme« ihre Zeitgenossen geblendet haben, während eine geringe Schar anderer, unbekümmert um die Gunst oder Ungunst der Menge, das von KANT begonnene Werk der wissen-
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schaftlichen Einsicht auf dem von ihm eingeschlagenen Wege fortgebildet haben. Diese allein können auf den Ruhm, KANTS Schüler zu sein, Anspruch machen. Und so werden in den Augen eines späteren, philosophisch reiferen Jahrhunderts jene zu ihrer Zeit in so glänzendem Ruhme stehenden Schwärmer keine andere Rolle spielen als etwa für unsere heutige Naturwissenschaft ein PATRicrns, ROBERT FLUDD und JAKOB BÖHME. KANT, FRIES und APELT aber werden stehenbleiben neben KEPLER, GALILEI und NEWTON.
Die kritische Methode und das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie Ein Kapitel aus der Methodenlehre
» Es
gibt Gelehrte, denen die Geschichte der Philosophie (der alten sowohl als neuen) selbst ihre Philosophie ist, vor diese sind gegenwärtige Prolegomena nicht geschrieben.«
Erschienen in: Abhandlungen der Friesschen Schule, neue Folge. Herausgegeben von GERHARD HESSENBERG, KARL KAISER und LEONARD NELSON. Erster Band, erstes Heft. Göttingen Vandenhoeck&Ruprecht 1904, S.1-88 (die Abschnitte der Arbeit beginnen dort: I auf S. 3; II auf S. 11; III auf S. 25; IV auf S. 37; v auf S. 45; Anhang auf S. 70) NELSON hat dieser Arbeit eine kurze Inhaltsangabe vorangestellt, die hier aus Gründen der Vereinheitlichung weggelassen wird.
1. Da die Begriffe, um die es sich in den folgenden Untersuchungen handelt, mit Bestimmtheit zuerst von KANT in die Wissenschaft eingeführt worden sind, werde ich mich in der Terminologie streng an den Kantischen Sprachgebrauch anschließen. Demgemäß verstehe ich unter Metaphysik das System der synthetischen Urteile a priori aus bloßen Begriffen, also das System aller philosophischen, d. h. nicht auf Anschauung beruhenden (weder empirischen noch mathematischen) Urteile, unter Ausschluß der logischen. Und ich verstehe unter Kritik der Vernunft den Rechtsnachweis dieser metaphysischen Urteile aus den Gründen ihrer Möglichkeit. Ich lege mir nun folgende Frage vor: Inwiefern bedarf die Metaphysik einer Kritik der Vernunft, und welcher Methode wird die Kritik folgen müssen, um diesem Bedürfnis zu genügen?
I Die regressive Methode Induktion und Abstraktion
2. Es ist ein alter und beliebter Satz: Contra principia negantem non est disputandum. Wer mit mir in den Prinzipien uneins ist, mit dem kann ich nicht streiten. Dieser Satz ist für die Philosophie grundfalsch. Jeder bedeutende Streit in der Philosophie ist ein Streit um Prinzipien. In der Anwendung derselben in der Erfahrung und im Leben sind wir alle einig; erst wenn wir anfangen, über sie in abstracto zu philosophieren, hebt der Streit an. So setzen wir bei unseren Rechnungen die Stetigkeit aller Bewegungen voraus, ohne uns durch ZENONS Beweis der Unmöglichkeit stetiger Bewegung daran irremachen zu lassen. So erwartet jeder Chemiker, daß seine Substanz beim Arbeiten in geschlossenen Gefäßen nach der Operation dasselbe Gewicht zeigen werde wie vorher, ohne sich auf die metaphysischen Schwierigkeiten des dabei angewandten Grundsatzes der Beharrlichkeit der Masse einzulassen. So beurteilt ein jeder seine und seiner Mitmenschen Handlungen, ohne zu bedenken, daß die dabei vorausgesetzte Verantwortlichkeit seinem vielleicht deterministischen Philosophem widerspricht. Der Materialist
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Kritische Methode - Psychologie und Philosophie
spricht vom Geist, der Atheist von Gott, der Fatalist von der Freiheit, der Atomist von der Stetigkeit, der Empirist vom Naturgesetz, der Skeptiker von der Wahrheit, und nur in den Philosophenschulen herrscht eigentlich Streit über diese Dinge, dessen Entscheidung - sie mag fallen, wie sie wolle - ein jeder nach beendigter Diskussion wieder verläßt, um zu seinen alten Überzeugungen zurückzukehren. Unterscheiden wir danach die philosophischen Überzeugungen, wie sie unbewußt allen unseren Urteilen und Beurteilungen zugrunde liegen, von dem Verfahren, sie für sich auszusprechen und in ein System zu bringen, mit andern Worten, unterscheiden wir Philosophie als Naturanlage und als Wissenschaft, so können wir in ersterer Bedeutung sagen, daß um keinen philosophischen Satz eigentlich Streit stattfindet, daß dagegen alle Schwierigkeit darin liegt, die philosophischen Prinzipien unabhängig vom besonderen Falle der Anwendung in abstracto auszusprechen. Diese Unterscheidung gibt uns daher ein Mittel an die Hand, den Prinzipienstreit zu schlichten. Greifen wir nämlich aus den Erfahrungen des Lebens solche Urteile und Beurteilungen heraus, über die Einigkeit herrscht, so können wir diese zergliedern und so durch ein regressives Verfahren den philosophischen Prinzipien nachspüren, die in den vorliegenden Urteilen und Beurteilungen zur Anwendung kommen und gemeinsam vorausgesetzt werden. Durch fortgesetzte Zergliederung und Abstraktion von den besonderen Anwendungen müssen wir schließlich auf irgendwelche letzte und höchste Voraussetzungen kommen, und diese werden wir dann für sich herausheben können. 3. Dies abstrahierende Verfahren kehrt den gewöhnlichen Gedankengang der objektiven Beweisführung, der Ableitung der Folgen aus ihren Gründen, gerade um und steigt von den Folgen aufwärts zu den Gründen zurück. Wir können also nicht sagen, daß wir dabei die Prinzipien beweisen, sondern nur, daß wir sie als solche aufweisen. Wir weisen nur ad hominem dem Empiriker aus seinem Schlagworte der Erfahrung synthetische Urteile a priori als Bedingungen ihrer Möglichkeit - dem Ethiker aus seinem Schlagworte der Sittlichkeit den Glauben an die Freiheit des Willens
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gleichfalls als Bedingung ihrer Möglichkeit auf. Wir beweisen dadurch nichts, sondern wir suchen umgekehrt die logischen Gründe zu gegebenen Folgen. Diese Folgen sind die zugestandenen Urteile und Beurteilungen, diese zergliedern wir, sie dienen uns als Data für die Berufung ad hominem. Es ist ein ganz irriges logisches Vorurteil, daß sich alle Wahrheit beweisen lassen müsse. Durch alle Beweise können wir vielmehr nichts erkennen und entdecken, was nicht schon implizite in den Grundsätzen lag, wir können uns nur dieses deutlicher machen und klarer zum Bewußtsein bringen. Beweise sind nur notwendig und möglich für mittelbare, abgeleitete Sätze, aber ebenso unnötig wie unmöglich für Grundsätze. Solange die Prämissen irgendwelcher Sätze keine Grundsätze sind, kann ich sie bezweifeln, solange erreiche ich keine vollständige Gewißheit. Will ich zu dieser gelangen, so muß ich bis zu den höchsten Prinzipien, den Grundsätzen hinaufsteigen. Da diese aber zum großen Teil nur dunkel unseren Urteilen und Beurteilungen zugrunde liegen, ohne daß wir sie besonders aussprechen und uns ihrer klar bewußt werden, wird eben ein künstliches regressives Verfahren erforderlich sein, um uns in ihren Besitz zu bringen. Bei denjenigen unserer Urteile, die sich auf Anschauung gründen, hat dies nun keine Schwierigkeit; denn sie drängen sich mit Evidenz und Klarheit unserem Bewußtsein auf. Aber unsere Erkenntnis entspringt eben nur zum Teil aus der Anschauung. Gerade der nicht anschaulichen Erkenntnis, die wir nur durch Begriffe im Urteil festhalten, fehlt die Evidenz und Klarheit. Dunkel liegt sie in uns, und es bedarf einer besonderen Methode, sie an das Licht des klaren Bewußtseins zu bringen. Das also wäre die Aufgabe der Philosophie als Wissenschaft: die Grundsätze, soweit sie sich nicht auf Anschauung gründen, sondern rein aus Begriffen entspringen, ausfindig zu machen und von ihrer ursprünglichen Dunkelheit zur Klarheit des Bewußtseins zu erheben. Gelingt es, sie vollständig in unseren Besitz zu bringen, so hätten wir damit die prinzipielle Entscheidung aller überhaupt möglichen philosophischen Probleme in der Hand. Ohne diese regressive Untersuchung dagegen bleiben wir allen Willkürlichkeiten dogmatischer Metaphysik preisgegeben. Denn die Unbeweisbarkeit haben die Grundsätze mit allen falschen
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Sätzen, mit allen Irrtümern gemein. Nur mit dem Unterschied, daß letztere sich widerlegen und durch Vergleichen mit den Grundsätzen in ihrem Irrtum bloßstellen lassen. Der Dogmatiker braucht daher nur seine Sätze für Grundsätze auszugeben, sobald er nicht imstande ist, sie zu beweisen, und wir werden uns nur dann vor seinen unrechtmäßigen Ansprüchen schützen können, wenn wir im Besitz des Systems aller wirklichen Grundsätze sind und ihm so die Nichtigkeit seiner Sätze durch den Nachweis ihrer Mittelbarkeit geradezu gleichsam handgreiflich zu machen vermögen. Nennen wir danach dogmatisch das Verfahren einer Wissenschaft, die von der Aufstellung ihrer Prinzipien ausgeht, kritisch das Verfahren einer Wissenschaft, die auch ihre Prinzipien einer Prüfung unterwirft, so werden wir sagen können, daß für die Philosophie alles auf ein kritisches Verfahren ankomme und daß der Kritizismus in der Philosophie in der Befolgung der regressiven Methode bestehe. 4. Suchen wir dies noch genauer zu bestimmen. Alle Wissenschaft hat zum Ziel die Form der progressiven Ableitung der Folgen aus ihren Gründen, die Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine, der Tatsachen unter die Gesetze, d. h. die Systemform der Theorie. Um aber erst zu den allgemeinen Gesetzen zu gelangen, bedarf es oft der Vorarbeit; es läßt sich nicht überall, wie in der Mathematik, unmittelbar mit der Aufstellung der allgemeinen Gesetze beginnen. Die Naturwissenschaften bedürfen erst einer regressiven Erforschung ihrer Gesetze aus den Tatsachen, ehe sie daran gehen können, in einer Theorie diese aus jenen zu erklären. Diese regressive Erforschung der Naturgesetze aus den beobachteten Tatsachen ist die Aufgabe der Induktion. Aber die Induktion führt niemals auf Grundsätze, sondern immer nur auf Lehrsätze. Auch um induktiv verfahren zu können, muß ich schon gewisse allgemeine Gesetze voraussetzen. Auch die Induktion gründet auf die Voraussetzung des Allgemeinsten ein weniger Allgemeines, das also im Gegensatz zu den Grundsätzen ein Besonderes ist. Die Induktion ist nicht der Weg zu den notwendigen Wahrheiten, sondern zu der Verbindung der notwendigen Wahrheiten mit den zufälligen. Denn die notwendigen Wahrheiten bilden die höch-
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sten Obersätze, die aller Induktion aus den Beobachtungen bereits a priori zugrunde liegen. Der Weg zu den notwendigen Wahrheiten ist vielmehr die Abstraktion. Z. B. NEWTONS Entdeckung des Gravitationsg~~tzes führte zur Begründung der Theorie der Planetenbewegungen. Dies Gesetz ist aber kein Grundsatz, sondern ein Lehrsatz; seine Gültigkeit konnte nicht a priori eingesehen, sondern sie mußte induktorisch erwiesen werden. Für diese Induktion mußte NEWTON aber gewisse allgemeine Grundsätze der Mechanik anwenden. Er mußte z. B. aus den Prinzipien der mathematischen Naturphilosophie die Voraussetzung entlehnen, daß alle Bewegungsänderungen Wirkungen stetig beschleunigender Kräfte sind, die unter dem Gesetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung stehen. Daß aber die Beschleunigung dem Quadrat der Entfernung der wirkenden Massen umgekehrt proportional ist, mußte erst aus der empirisch gegebenen Figur der Planetenbahnen erforscht werden. So verknüpft das Newtonsche Gravitationsgesetz die astronomischen Beobachtungen mit den Grundsätzen der Mechanik. Ohne diese würde dem Gesetz die Allgemeinheit und Notwendigkeit, und ohne jene würde ihm die empirische Gültigkeit fehlen. Suchen wir hingegen durch Zergliederung des Newtonschen Gedankenganges die Voraussetzungen des Gravitationsgesetzes, so kommen wir zuletzt auf jene allgemeinsten Grundsätze der Mechanik, die selbst die Prinzipien und Bedingungen der Möglichkeit aller Induktion und eben darum selbst nicht induktorisch erweislich sind. Es gibt also zwei verschiedene regressive Methoden; wir müssen die regressive Methode der Abstraktion noch von derjenigen der Induktion unterscheiden. Es ist mithin das zergliedernde Verfahren zur Auffindung der philosophischen Grundsätze ganz verschieden von allem Beweisverfahren, nicht nur von dem progressiven der Mathematik, sondern auch von dem regressiven der Induktion. 5. Da alles Philosophieren selbst Denken und Erkennen ist, so werden wir dabei notwendigerweise schon gewisse Prinzipien anwenden und voraussetzen müssen, die wir doch erst suchen. Dies ist
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nun ein Zirkel, an dem jede dogmatische Methode des Beweises unvermeidlich scheitern und dem Skeptizismus verfallen muß. Denn sie setzt voraus, was sie beweisen will, sei es regressiv, wie die Induktion, sei es progressiv, wie die Mathematik schließt. Einzig und allein die kritische Methode ist frei von diesem Zirkel und kann darum auch nicht von der Skepsis angefochten werden. Denn sie will ja die Prinzipien nicht beweisen, sondern nur als solche aufweisen. Sie beweist nicht, sondern sucht vielmehr gerade das, was wir bei allen Beweisen schon voraussetzen und notwendigerweise voraussetzen müssen. Während also die dogmatische Philosophie von irgendwelchen beliebig aufgerafften und vermeintlichen Prinzipien unbefangen ausgeht, steigt die kritische hinauf zu den Prinzipien und sucht sie sich erst. Jene geht von Hypothesen aus, diese einzig und allein von Tatsachen, indem sie den Tatbestand unserer Urteile hinnimmt, wie sie ihn vorfindet, und ihn sichtet und zergliedert, um explizite auszusprechen, was schon implizite darin enthalten war. Die kritische Philosophie hat also auch gar nicht einen besonderen Teil der Dinge zum Gegenstande ihrer Forschung. Sie überläßt deren Erkenntnis ganz den Induktionen der Naturwissenschaft. Weder die Erkenntnis physischer noch die psychischer Dinge will sie ihr streitig machen, noch eine Wissenschaft vom übersinnlichen sein. Sondern die Prinzipien der Erkenntnis selbst sind ihr Thema, und zwar der Erkenntnis aller Dinge, sei es der physischen oder der psychischen, der sinnlichen oder der übersinnlichen. Sie will nichts erklären, sondern die obersten Gründe aller Erklärung suchen. Sie hat kein eigenes Gebiet zu erkennen, sondern lehrt in der Erkenntnis aller Gebiete den Irrtum vermeiden. Zu dem Zweck nimmt sie die Erkenntnis hin, wie sie sie als Faktum vorfindet, weder um ihre Wahrheit zu beweisen, noch um ihre Entstehung zu erklären, sondern um aus ihr die rein begriffliche Erkenntnis zu abstrahieren und auf ihre obersten Prinzipien zurückzuführen. Hat sie diese gefunden, so stellt sie sie als System der Philosophie auf. 6. Diese Methode ist schon von SOKRATES und PLATON gefordert worden. Aber bereits ARISTOTELES hat die Sokratische Methode der Abstraktion unter dem Namen der e:n:ayroy~ mit der Induktion
II. Urteilsbegründung - Beweis, Demonstration, Deduktion
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verwechselt. Dies Mißverständnis ist in der Geschichte der Philosophie stehengeblieben bis auf KANT 1 • KANT hat zuerst die kritische Methode mit Bestimmtheit angewandt, in bewußtem Gegensatz zu dem progressiv-mathematischen Verfahren seiner deutschen wie zu dem induktiv-psychologischen seiner englischen Vorgänger. Er nannte diese Aufsuchung der Prinzipien durch logische Zergliederung der mit dem Anspruch auf Apodiktizität auftretenden Urteile und Beurteilungen Grundlegung oder auch metaphysische Erörterung und unterschied sie noch von der transzendentalen Deduktion der Prinzipien, die sich mit ihrem Rechtsnachweis beschäftigt.
II über die Begründung der Urteile Beweis, Demonstration und Deduktion 7. Was gewinnen wir nun eigentlich durch das regressive Verfahren? Neue Wahrheiten nur insofern, als wir die Wahrheit der Daten, 1
Indem ARISTOTELES durch diese Verwechslung veranlaßt wurde, die Induktion als die regressive Methode dem ouÄÄoyu1µ6i; entgegenzusetzen, blieben ihm als ursprüngliche Erkenntnisquellen nur die Logik und die Empirie. Er übersah so die Leerheit der formalen Logik einerseits und die Unselbständigkeit der bloßen Empirie andererseits. Dadurch ist er der gemeinsame Vater der beiden entgegengesetzten Irrtümer in der Geschichte der Wissenschaft geworden: der Begründer des logischen Dogmatismus in der Philosophie sowohl als auch der Begründer des naturwissenschaftlichen Empirismus, d. h. der irrigen Lehre von der Selbständigkeit der Induktion neben dem Syllogismus, der sich die meisten Naturforscher der neueren Zeit angeschlossen haben und die am hartnäckigsten von den englischen Philosophen verteidigt worden ist. Es ist dies derselbe Fehler, auf dem die noch heute in der Logik populäre Entgegensetzung von Induktion und Deduktion beruht. Dieser zweite Fehler der Aristotelischen Logik ist erst durch APELTS »Theorie der Induktion« verbessert worden. Wie nun APELT die Aristotelische Theorie des progressiven Syllogismus der dogmatischen Methode durch die Theorie des regressiven Syllogismus ergänzt und dadurch die induktorische Methode der Naturforschung philosophisch begründet hat, so bleibt als die dritte und letzte Aufgabe der Logik noch die Theorie der kritischen Methode auszuführen, als die Lehre von der wissenschaftlichen Begründung philosophischer Grundurteile. Diese ist es, die wir hier suchen.
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von denen unsere Zergliederung ausging, voraussetzen. Denn wenn auch die Grundsätze von den Konsequenzen, durch deren Zergliederung wir sie aufweisen, logisch unabhängig sind, so bleibt doch unsere Aufweisung derselben von ihren Konsequenzen abhängig. Da dies Verfahren kein Beweis, überhaupt keine objektive Begründung, sondern nur eine subjektive Berufung ad hominem ist, so bleiben wir mit seinen Resultaten immer von jenen ersten Zugeständnissen abhängig, die doch selbst erst durch die gefundenen Prinzipien ihre objektive Begründung erhalten. Diese Prinzipien müssen als solche unabhängig von allen aus ihnen gezogenen Konsequenzen gelten und können nicht erst auf diese gegründet werden. Ein Beispiel wird dies Verhältnis deutlich machen. Das Prinzip von der Erhaltung der Energie ist nicht durch Beweis gefunden worden und konnte auch seiner allgemeinen Natur zufolge gar nicht bewiesen werden 2 • Wir können zwar mit Hilfe dieses Prinzips sehr viel induktorisch beweisen, es ist aber selbst nicht durch Induktion, sondern durch Abstraktion gefunden worden. HELMHOL TZ entdeckte es auf dem Wege rein logischer Zergliederung, indem er sich die Frage vorlegte: Wie müssen die höchsten Obersätze der Naturwissenschaft beschaffen sein, wenn ein perpetuum mobile unmöglich sein soll? So wahr das perpetuum mobile unmöglich ist, gilt das Prinzip der Erhaltung der Energie. Aber ohne dies Prinzip können wir über die Möglichkeit und Unmöglichkeit des perpetuum mobile gar nichts a priori entscheiden. Wir blieben also nach diesem regressiven Gedankengang mit der Annahme des Energieprinzips ganz von der Erwartung abhängig, ob es vielleicht noch einmal gelänge, ein perpetuum mobile zu konstruieren. Das kann aber nicht das letzte Wort in der Sache sein; denn es fällt keinem besonnenen Naturforscher ein, die Gültigkeit des Energiegesetzes von dem Grade 2
Dies wird häufig übersehen, durch Verwechslung des Gesetzes von der Erhaltung der Energie mit dem ersten Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie. Dieser Satz ist aber nur eine Anwendung des Energieprinzips und als solcher induktorisch bewiesen worden. Nicht daß die Energie konstant ist, besagt dieser Beweis, sondern daß die Wärme eine Form der Energie ist, wozu das Energieprinzip in allgemeinster Form schon vorausgesetzt werden muß.
II. Urteilsbegründung - Beweis, Demonstration, Deduktion
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der Gewißheit eines solchen empirischen Satzes abhängig machen zu wollen. Vielmehr schreibt er es umgekehrt seinen Beobachtungen als Bedingung ihrer Gültigkeit vor, es gilt ihm als Norm und Regulativ für seine Induktionen. Durch Erfahrung können wir also ein derartiges Prinzip nicht beweisen, a priori beweisbar ist es aber ebensowenig, sofern es wirklich ein Grundsatz ist. Wodurch sollen wir es denn aber als solchen beglaubigen und es schützen, wenn sich der Zweifel dagegen kehrt? Das regressive Verfahren der Abstraktion ist also für sich nur eine faktische Aufweisung: Sofern wir faktisch gewisse Sätze anerkennen, müssen wir auch die logischen Bedingungen ihrer Möglichkeit einräumen. Nur die logische Abhängigkeit und Bedingtheit eines Satzes durch einen anderen weise ich so nach. Ich kann aber dadurch niemand zwingen, den aufgewiesenen Satz als wahr anzunehmen, der nicht unabhängig von meiner logischen Nachweisung von der Wahrheit der Folge überzeugt war und bleibt. Wer jene Daten nicht zugesteht, den wird also auch ihre Zergliederung nicht von den sie bedingenden Prinzipien überzeugen. Ja, er könnte ebensogut umgekehrt, statt mit der Folge den Grund anzunehmen, mit dem Grunde die Folge ablehnen, und ich würde so nur das Gegenteil erreichen von dem, was ich wollte. Gerade indem ich ihm einen unbefangen anerkannten Satz auf eine ungewisse Basis stelle, kann ich ihm leicht auch diesen Satz selbst verdächtig machen, indem er den Zweifel von dem Grunde auf die Folge überträgt, statt die Gewißheit von der Folge auf den Grund zu übertragen. Habe ich z. B. dem Naturalisten gezeigt, daß er selbst, sofern er über Pflicht, Recht und Schönheit urteilt, eine objektive Zweckgesetzgebung anerkennt und der Naturgesetzgebung überordnet, so werde ich ihn vielleicht zu der Konsequenz drängen, seinem naturalistischen Philosophem zuliebe seinen ethischen Überzeugungen untreu zu werden und ihnen - wenn auch nicht im Leben als handelnder Mensch, so doch vielleicht in der Spekulation als Philosophierender - jede Berechtigung abzusprechen. 8. Was wollen wir also tun, wenn sich der Zweifel gegen jene Data kehrt? Diese hängen ihrer Gültigkeit nach von den Prinzipien ab und lassen sich aus diesen begründen. Aber um die Prinzipien ist
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Kritische Methode - Psychologie und Philosophie
ja gerade Streit, um ihre Berechtigung handelt es sich ja eben. Die Berufung auf das Gefühl der Evidenz der eigenen Überzeugung würde ihnen schlechten Schutz gewähren. Wieviele Irrtümer sind nicht für unmittelbar evidente Wahrheiten ausgegeben worden. Jedes Pochen auf die Unerschütterlichkeit unserer Überzeugungen ist nur gewalttätiges Parteimachen, das wohl zur Überredung, aber nie zur Überzeugung führen kann. Nun hatten wir allerdings gesehen, daß es keinen Sinn hat, für Grundsätze einen Beweis zu verlangen; aber ob ein Satz wirklich ein Grundsatz ist, dies muß doch erst feststehen, ehe wir mit Fug und Recht auf seinen Beweis verzichten können. Zu diesem Nachweis reicht aber das regressive Verfahren für sich nicht hin. Denn die Zergliederung selbst setzt sich keine Grenzen. Einerseits bleibt es ohne ein weiteres Kriterium immer fraglich, ob sich die Zergliederung nicht noch weiter fortsetzen läßt oder ob sie wirklich schon auf Grundsätze geführt hat. Wäre aber auch dies möglich, so bliebe andererseits immer noch die Frage, ob wir das System der Grundsätze schon erschöpft haben oder ob es nicht noch unvollständig ist. Wie viele Daten wir auch zergliedert haben, so könnten uns doch immer noch solche entgangen sein, deren Grundvoraussetzungen in unserem System noch fehlen. Sind wir wirklich schon bei den obersten und ersten Grundsätzen, den wahren Prinzipien, enthält unser System nicht zuviel oder zuwenig derselben? Wodurch können wir uns über das nur Faktische unserer Gedanken und Gefühle erheben und diese gegen den Zweifel sicherstellen? 9. Fragen wir ganz allgemein: Warum bedürfen eigentlich unsere Urteile der Begründung? so werden wir sagen müssen: Weil unser Denken der Möglichkeit des Irrtums unterworfen ist. Von der richtigen Einsicht in den Gegensatz von Irrtum und Wahrheit wird daher auch die Bestimmung des Verfahrens zur Begründung der metaphysischen Grundsätze abhängen. Alles Denken besteht in der Bildung von Begriffen und in der Verbindung derselben zu Urteilen sowie in der Verbindung dieser zu Schlüssen. Denken ist als solches noch nicht Erkennen. Wir erkennen durch Denken nur in Urteilen, nicht in bloßen Begriffen. Aber
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auch nicht alle Urteile bilden Erkenntnisse, sondern es gibt Urteile, die nur Begriffe zergliedern, wie z. B. die Definitionen. Dies sind die analytischen Urteile 3 • Zu diesen gehört auch der Schluß. Jeder Schluß läßt sich auf die Form eines (hypothetischen) analytischen Urteils bringen. Auch der Schluß gibt mir keine neue Erkenntnis, die nicht schon in seinen Prämissen enthalten wäre, denn sonst wäre er eben ein Trugschluß. Der Schluß behauptet nicht die Wahrheit der Prämissen und des Schlußsatzes, sondern die Konsequenz des Schlußsatzes aus seinen Prämissen, und diese Konsequenz ist ein analytisches Urteil. Die Erkenntnis ist also in den synthetischen Urteilen enthalten, aber nicht in der Ableitung eines synthetischen Urteils aus anderen. Diese ist vielmehr, wie jedes analytische Urteil, nur ein Akt des Bewußtseins, sich in anderer Form die schon anderweitig besessene Erkenntnis deutlicher zu machen. Jedes Urteil ist ein Akt des Denkens oder der Reflexion, und als 3
Begriff und Urteil sind logisch scharf zu scheiden. 1. Nur Definitionen, also analytische Urteile, sind Begriffen gleichwertig. Sie sind aber eben darum von keinem Erkenntniswert; die Existenz des definierten Begriffs muß erst bewiesen werden. 2. Jedes vollständige konjunktive analytische Urteil stellt zwar einen Begriff dar; aber es gilt nicht umgekehrt, daß jeder Begriff sich als analytisches Urteil darstellen ließe. Nur kombinierte Begriffe lassen diese Möglichkeit zu. Ursprünglich metaphysische (Kategorien), mathematische und empirische Grundbegriffe lassen sich nicht definieren. Diese nicht Begriffe zu nennen, steht jedem frei; dies wäre bloßer Wortstreit. 3. Jedes Urteil setzt zu seiner Möglichkeit bereits Begriffe voraus. Freilich setzt die nur problematische Vorstellung des Begriffs zu ihrer Möglichkeit selbst wieder schon assertorische Vorstellung, d. i. Erkenntnis voraus. Wie KANT sagt: Die analytische Einheit des Bewußtseins ist nicht ohne Voraussetzung irgendeiner synthetischen möglich. Aber diese »ursprüngliche« Synthesis ist nicht die des Urteils, sondern der unmittelbaren Erkenntnis ohne Reflexion. Die neuerdings wieder vielfach versuchte Verwischung dieses Unterschiedes führt zur mystischen Vorstellung der Realität des Begriffs und zur Übertragung der Willkürlichkeit von der Begriffsbildung auf das Erkennen, zur Vermengung von Denken und Erkennen. Was ferner die Einteilung der Urteile in analytische und synthetische betrifft, so ist diese Unterscheidung nicht grammatisch, sondern logisch. Jedes Urteil ist entweder analytisch oder synthetisch (je nachdem, ob das Prädikat im Subjektsbegriff enthalten ist oder nicht), aber derselbe Satz kann bald ein analytisches, bald ein synthetisches Urteil bezeichnen. Begriffe können sich nicht ändern, aber Worte können ihre Bedeutung ändern, d. h. man kann verschiedene Begriffe mit ihnen verbinden.
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solcher - im Unterschied von der unwillkürlichen Verbindung der Vorstellungen durch Assoziation - willkürlich gebildet. In diesem Umstand liegt die Möglichkeit des Irrtums und die Notwendigkeit der Begründung aller Urteile. Denn es fragt sich erst, ob die willkürliche Verbindung der Vorstellungen im Urteil der Regel der Wahrheit gemäß erfolgt ist, ob der Anspruch auf Wahrheit, der die Reflexion vor der Assoziation auszeichnet, zu Recht besteht. Die Logik fordert für jedes Urteil einen Grund. Was heißt das? Aus bloßen Begriffen ist keine Erkenntnis möglich. Um ein Urteil zu fällen, bedarf ich, sofern es Erkenntnis sein und Wahrheit enthalten soll, eines vom Begriff seines Subjekts unabhängigen Erkenntnisgrundes. Die Wahrheit des Urteils liegt also nicht in ihm selbst, sondern in etwas anderem, von dem es sie entlehnt. Was ist nun dieses andere, dieser Erkenntnisgrund des Urteils? Dieser Grund kann selbst wieder ein Urteil sein. In diesem Falle ist die Begründung der Beweis. Alles Beweisen muß aber zuletzt aus irgendwelchen unbeweisbaren Urteilen erfolgen, deren Erkenntnisgründe nicht wieder in Urteilen bestehen können. Diese ersten Urteile, die selbst unbeweisbar sind und aus denen selbst erst alle Beweise geführt werden, nennen wir Grundsätze. 10. Der Ausspruch dieser Grundsätze ist zwar, wie jedes Urteil, ein Akt der Reflexion, aber diese kann sich doch die in ihnen ausgesprochenen Wahrheiten nicht selbst erzeugen. Die sich selbst überlassene Reflexion kann nur analytische Urteile bilden. Sie kann nur aus gegebenen Wahrheiten Konsequenzen ableiten, d. h. beweisen. Aber die Wahrheit der Grundsätze ist nicht von Beweisen abhängig, kann also, sofern sie synthetische Grundsätze sind, durch die Reflexion selbst nicht verbürgt werden. Die Grundsätze der Geometrie z. B. enthalten als synthetische Grundsätze durchaus keine logische Denknotwendigkeit. So widerspricht die Verneinung des Parallelenaxioms keinem Gesetze der Logik, und diese vermag über seine Gültigkeit schlechterdings nichts zu entscheiden. Der Grund dieser obersten Urteile muß daher unabhängig von der Reflexion in einer unmittelbaren Erkenntnis liegen, die selbst die obersten Gründe für alle Urteile, d. h. für alle mittelbare Erkenntnis enthält. Eine solche unmittelbare Erkenntnis ist die Anschauung, sowohl die
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empirische Anschauung als Grund aller empirischen Urteile, wie die mathematische Anschauung als Grund aller mathematischen Urteile. Die Einheit und Notwendigkeit aber, die wir faktisch in unserm Denken finden und die wir durch die metaphysischen Grundsätze aussprechen, kann nicht aus der Anschauung entspringen; denn sie kommt uns nur durch Reflexion zum Bewußtsein. Ihr Ursprung kann aber auch - sofern sie synthetische Einheit ist - nicht in der Reflexion liegen, da sie vielmehr schon eine Voraussetzung jedes Urteils der Reflexion bildet. Es gibt folglich eine unmittelbare Erkenntnis nicht-anschaulicher Art, die den Grund unserer metaphysischen Urteile bildet. Wir nennen sie die unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunfl. 11. Der Grund allen Denkens liegt also zuletzt in der unmittelbaren Erkenntnis, und die Wahrheit aller Urteile besteht in ihrer Übereinstimmung mit dieser unmittelbaren Erkenntnis. Die Reflexion ist sich nicht selbst genug, sie ist für sich leer und kann nur anderweitig gegebene Erkenntnisse wiederholen und deutlich machen. Sie dient nicht zur Erweiterung, sondern nur zur Aufklärung unserer Erkenntnis. Aus alledem ergibt sich, daß von Irrtum und Wahrheit unseres Denkens nur insofern die Rede sein kann, als schon eine von dem strittigen Gedanken unabhängige Wahrheit vorausgesetzt wird. Aller Streit um Irrtum und Wahrheit, aller Zweifel und alle Ungewißheit bezieht sich auf die Urteile der Reflexion und betrifft ihre Vergleichung mit der unmittelbaren Erkenntnis, die sie wiederholen. Um diese unmittelbare Erkenntnis kann gar kein Streit sein, ihre Gewißheit kann nie in Frage gestellt und des Irrtums verdächtigt werden; denn Irrtum ist nur Abweichung von der unmittelbaren Erkenntnis, falsche Wiederholung der unmittelbaren Erkenntnis, falscher Ausspruch der unmittelbaren Erkenntnis. Diese liegt daher der Möglichkeit des Irrtums bereits zugrunde; wer sie für irrig erklärt, widerspricht sich selbst, der weiß nicht, was die Worte Irrtum und Wahrheit bedeuten. Aller Irrtum und Zweifel gehört der Reflexion und kann die unmittelbare Erkenntnis nicht antasten. Bei aller Begründung unserer Erkenntnis, bei allem Streit über Irrtum und Wahrheit kommt niemals das Verhältnis der Erkennt-
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nis zum Gegenstande in Frage. Die Übereinstimmung mit dem Gegenstande kann für uns nie ein Kriterium der Wahrheit unserer Erkenntnis werden, weil wir dazu aus unserer Erkenntnis heraustreten müßten, um sie mit dem Gegenstande vergleichen zu können, was unmöglich ist, weil wir zum Gegenstande immer erst durch die Erkenntnis kommen. Wir können also nie Erkenntnis und Gegenstand, sondern nur Erkenntnisse untereinander vergleichen. Ein Satz ist dann wahr, wenn er richtig begründet ist, d. h. wenn er mit der Erkenntnis, aus der er abgeleitet wurde, übereinstimmt. über die Wahrheit der unmittelbaren Erkenntnis kann kein Streit sein, sondern nur darüber, welches die unmittelbare Erkenntnis sei. Wollten wir die Wahrheit der unmittelbaren Erkenntnis bezweifeln, so müßten wir sie, sofern sie unmittelbare Erkenntnis ist, zu diesem Zweifel selbst voraussetzen. Der Zweifel an der unmittelbaren Erkenntnis führt zum Widerspruch. Jede mittelbare Erkenntnis dagegen ist als solche problematisch und nur durch Vergleichung mit der unmittelbaren Erkenntnis zu begründen. Alle Fragen in der Philosophie werden also am Ende auf diese hinauslaufen: Welches die unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft sei, und aller Streit in der Philosophie wird sich durch Beantwortung dieser Frage entscheiden lassen. Die Übereinstimmung mit dem Gegenstande besitzt die Erkenntnis unserer Vernunft oder besitzt sie nicht, ohne daß wir etwas dafür oder dagegen tun können. Es gibt für uns keinen Standpunkt, von dem aus wir, gleichsam außer oder über unserer Erkenntnis stehend, ihre Gültigkeit zum Thema irgendeiner Wissenschaft machen könnten. Daher kann es auch nicht Aufgabe der Philosophie sein, unserer Erkenntnis objektive Wahrheit zu verschaffen, sondern nur das Bewußtsein als erkennendes Bewußtsein zu beglaubigen, dem Bewußtsein zum irrtumsfreien Ausspruch der Erkenntnis zu verhelfen. Es ist also in der Philosophie sowenig wie in irgendeiner anderen menschlichen Wissenschaft die Frage: Ist unsere Erkenntnis wahr, d. h. stimmt sie mit dem Gegenstande überein? sondern nur diese: Ist ein Satz wirklich Erkenntnis, d. h. stimmt er mit der unmittelbaren Erkenntnis überein? Spricht ein Urteil wirklich eine Erkenntnis aus, oder geht es darin auf, ein faktischer Akt meines Bewußtseins
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zu sein? Aller Irrtum gehört somit nur dem Bewußtsein und kann die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft gar nicht berühren. 12. Dies läßt sich noch auf andere Weise deutlich machen. Jede Erkenntnis ist eine Vorstellung, aber nicht jede Vorstellung ist schon Erkenntnis. Vielmehr gibt es auch problematische Vorstellungen, während zur Erkenntnis der Anspruch auf Existenz dessen, was vorgestellt wird, d. h. des Gegenstandes der Vorstellung, gehört. Daher gewinnt es den Anschein, als ließe sich aus dem allgemeinen Begriff des Vorstellens der des Erkennens ableiten, gleichsam erklären, wie die Assertion zur Vorstellung hinzukommt, wie die Objektivität an die Vorstellung kommt, und so die Möglichkeit des Erkennens einer Theorie unterwerfen. Aber das Besondere ist durchaus nicht im Allgemeinen enthalten und aus ihm abzuleiten. Vielmehr macht die Erkenntnis selbst erst problematische Vorstellungen möglich und nicht umgekehrt. Erkenntnis ist unmittelbar eine Qualität aus innerer Erfahrung und nicht etwas quantitativ Zusammengesetztes, das sich aus einfacheren Verhältnissen erklären oder konstruieren ließe. Jede Erkenntnis ist als solche schon Erkenntnis eines Gegenstandes. Der Gegenstand ist immer schon bei der Erkenntnis und wird nicht erst zu ihr hinzugebracht. Das Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstande läßt sich keiner mittelbaren Prüfung unterwerfen, sondern nur unmittelbar, wie es als Faktum in der Erkenntnis stattfindet, erleben. Es ist weder ein Kausalverhältnis, noch sonst auf irgendwelche Begriffe zurückzuführen. Dies Verhältnis kann daher auch kein Thema irgendeiner Wissenschaft werden: Es gibt keine Theorie der Möglichkeit der Erkenntnis. 13. Wie wir (§ 10) sahen, begründen wir die Grundurteile der empirischen und mathematischen Wissenschaften durch Aufzeigung der Anschauung, die ihnen zugrunde liegt. Diese Begründung nennen wir Demonstration. (Demonstration und Beweis sind also wohl zu unterscheiden.) Durch solche Demonstration ist die Reihe der Gründe dieser Art von Urteilen abgeschlossen, indem diese dadurch auf die unmittelbare Erkenntnis, auf einen von der Willkür des Urteilens unabhängigen Grund zurückgeführt werden. Es hat da keinen Sinn, noch weiter nach höheren Gründen zu forschen. Denn
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chung neben das Urteil stellen können, sind wir für die Deduktion auf eine nur mittelbare Vergleichung angewiesen, indem das Kriterium der Gültigkeit des Urteils uns nicht, wie dort, unmittelbar zur Verfügung steht, sondern erst auf einem künstlichen Umwege gesucht und in unsern Besitz gebracht werden muß. So sehr sich aber auch die demonstrierbare Wahrheit durch ihre unmittelbare Evidenz vor der nur deduzierbaren auszeichnet, so müssen wir doch beachten, daß dieser Vorzug nur durch ein verschiedenes Verhältnis beider Erkenntnisweisen zum Bewußtsein bedingt ist, indem dort sowenig wie hier der Gegenstand zum Zeugen der Wahrheit aufgerufen werden kann. Um daher die Ansprüche an die Deduktion nicht zu hoch zu stellen, so wird uns das wichtigste Resultat der bisherigen Untersuchungen die N achweisung, daß wir es in der Demonstration mit einer nur subjektiven Begründung zu tun haben, daß also auch die Gewißheit gerade der evidentesten Wahrheiten, wie die der mathematischen Axiome, -dem gewöhnlichen Vorurteil entgegen - nicht auf objektiven Kriterien beruhen könne. 14. Es gibt also drei Arten der Begründung: Beweis, Demonstration und Deduktion. Die Begründung durch Beweis bezieht sich nur auf mittelbare Urteile und setzt selbst zu ihrer Möglichkeit die Grundsätze voraus. Mithin fordert die Vollständigkeit der Begründung vor allem Demonstration und Deduktion. Wir haben es hier allein mit der schwierigsten Begründungsweise zu tun, mit der Deduktion. In der Deduktion hatten wir die wichtigste Aufgabe der philosophischen Kritik gefunden. Wir behaupten nun, daß die Kritik bei diesem Geschäft nur psychologisch verfahren könne, d. h. selbst Wissenschaft aus innerer Erfahrung sei. Der Beweis dieser Behauptung ergibt sich ohne Schwierigkeit aus dem Vorstehenden. Wir haben eben gezeigt, daß, während wir bei der Demonstration den Erkenntnisgrund unmittelbar neben das zu begründende Urteil stellen können, bei der Begründung der nur deduzierbaren Urteile eine solche unmittelbare Vergleichung des Urteils mit seinem Erkenntnisgrunde nicht möglich ist, weil der Erkenntnisgrund des Urteils hier nicht wie dort unmittelbar bewußt ist, sondern erst mittelbar aufgesucht werden muß. Diesen Erkenntnisgrund der nur deduzierbaren Urteile besitzen wir in der unmit-
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chung neben das Urteil stellen können, sind wir für die Deduktion auf eine nur mittelbare Vergleichung angewiesen, indem das Kriterium der Gültigkeit des Urteils uns nicht, wie dort, unmittelbar zur Verfügung steht, sondern erst auf einem künstlichen Umwege gesucht und in unsern Besitz gebracht werden muß. So sehr sich aber auch die demonstrierbare Wahrheit durch ihre unmittelbare Evidenz vor der nur deduzierbaren auszeichnet, so müssen wir doch beachten, daß dieser Vorzug nur durch ein verschiedenes Verhältnis beider Erkenntnisweisen zum Bewußtsein bedingt ist, indem dort sowenig wie hier der Gegenstand zum Zeugen der Wahrheit aufgerufen werden kann. Um daher die Ansprüche an die Deduktion nicht zu hoch zu stellen, so wird uns das wichtigste Resultat der bisherigen Untersuchungen die Nachweisung, daß wir es in der Demonstration mit einer nur subjektiven Begründung zu tun haben, daß also auch die Gewißheit gerade der evidentesten Wahrheiten, wie die der mathematischen Axiome, -dem gewöhnlichen Vorurteil entgegen - nicht auf objektiven Kriterien beruhen könne. 14. Es gibt also drei Arten der Begründung: Beweis, Demonstration und Deduktion. Die Begründung durch Beweis bezieht sich nur auf mittelbare Urteile und setzt selbst zu ihrer Möglichkeit die Grundsätze voraus. Mithin fordert die Vollständigkeit der Begründung vor allem Demonstration und Deduktion. Wir haben es hier allein mit der schwierigsten Begründungsweise zu tun, mit der Deduktion. In der Deduktion hatten wir die wichtigste Aufgabe der philosophischen Kritik gefunden. Wir behaupten nun, daß die Kritik bei diesem Geschäft nur psychologisch verfahren könne, d. h. selbst Wissenschaft aus innerer Erfahrung sei. Der Beweis dieser Behauptung ergibt sich ohne Schwierigkeit aus dem Vorstehenden. Wir haben eben gezeigt, daß, während wir bei der Demonstration den Erkenntnisgrund unmittelbar neben das zu begründende Urteil stellen können, bei der Begründung der nur deduzierbaren Urteile eine solche unmittelbare Vergleichung des Urteils mit seinem Erkenntnisgrunde nicht möglich ist, weil der Erkenntnisgrund des Urteils hier nicht wie dort unmittelbar bewußt ist, sondern erst mittelbar aufgesucht werden muß. Diesen Erkenntnisgrund der nur deduzierbaren Urteile besitzen wir in der unmit-
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telbaren Erkenntnis der reinen Vernunft. Wir müssen daher den Besitzstand dieser unmittelbaren Erkenntnis der reinen Vernunft selbst erst zum Gegenstande einer wissenschaftlichen Untersuchung machen. Den Besitzstand von Erkenntnissen können wir aber nur auf dem Wege innerer Erfahrung kennenlernen. Folglich ist die Ermittlung des Erkenntnisgrundes der nur deduzierbaren Urteile eine Aufgabe der Wissenschaft aus innerer Erfahrung. Die Deduktion der metaphysischen Grundsätze ist also ein Geschäft der Psychologie. - Bei diesem Satze müssen wir verweilen; denn er ist von entscheidender Wichtigkeit für alle kritischen Untersuchungen. Durch das Folgende wird er noch einleuchtender werden.
III Theorie der Deduktion
15. Jede Vorstellung ist die Vorstellung eines Gegenstandes, und zwar ist der Anspruch auf Existenz des Gegenstandes das Wesentliche, was die Erkenntnis von der nur problematischen Vorstellung unterscheidet. Die Erkenntnis ist zu unterscheiden sowohl von dem Subjekt der Erkenntnis, dem Ich, als vom Gegenstande derselben. Dieser letztere mag ein äußerer oder ein innerer sein, die Erkenntnis ist immer von ihm unterschieden. Das Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstande ist nicht das des Geistes zum Körper oder des Ichs zur Außenwelt. Das Ich kann Gegenstand der Erkenntnis werden, so gut wie die Außenwelt; es sind aber auch bei der Selbsterkenntnis zwar Subjekt und Objekt, aber darum doch nicht Erkenntnis und Objekt identisch. Der Gegenstand der Erkenntnis mag also sein, welcher er wolle, äußerer oder innerer, so ist doch die Erkenntnis jederzeit eine innere Tätigkeit. Als solche ist sie aber selbst ein Gegenstand, nämlich Gegenstand der inneren Erfahrung, und kann als solcher studiert werden. Unter den Bedingungen, von denen ich in innerer Erfahrung meine Tätigkeiten abhängig finde, wird auch alle Tätigkeit des Erkennens stehen, sofern sie dem Geiste schlechthin angehört und nicht nur infolge äußerer Eindrücke zukommt. Diese ur-
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sprüngliche Selbsttätigkeit im Gegensatz zur sinnlich angeregten ist aber gerade das Unterscheidende aller reinen Vernunftserkenntnis. Also werde ich mir durch innere Erfahrung eine Theorie der Vernunft verschaffen können, die die Elemente zur Ableitung sämtlicher reiner Vernunfterkenntnisse enthält. So wird es möglich sein, ohne mit den philosophischen Prinzipien selbst in abstracto zu operieren, sie auf empirischem Wege zu deduzieren. Ein Verfahren, dem gegenüber Skeptizismus gar nicht anzubringen ist, eben weil wir dabei ganz auf dem Boden der Tatsachen bleiben, die einem jeden zur Beobachtung offen liegen, ohne uns irgend auf metaphysische Erörterungen oder Hypothesen einzulassen. Diese psychologische Deduktion ist zugleich unabhängig von der Grundlegung des Systems der Grundsätze durch die logisch-regressive Zergliederung der Urteile des Bewußtseins, und wir haben den Vorteil, hinterher beides vergleichen und so das quid juris des Bewußtseins durch das quid facti der Vernunft entscheiden zu können. 16. Es ist aber hier wichtig zu bemerken, daß wir für diese Aufgabe ganz bei geistiger Selbstbeobachtung stehenbleiben, ohne uns irgendwie auf Vergleichungen mit dem Materiellen einzulassen. Und ferner, daß wir es dabei mit keinerlei Entwicklungsgeschichte zu tun haben, weder mit angeborenen Begriffen noch mit erworbenen, überhaupt mit keinen Vergleichungen historischer oder ethnologischer Art. Denn wir gehen gar nicht auf die individuellen Phänomene des Bewußtseins aus, sondern auf die allgemeine Form des innern Lebens, wie sie der Vernunft als solcher angehört, den Bewußtseinstätigkeiten als Norm zugrunde liegt und der Reflexion ihre Regeln gibt. Mag man nun dies nicht als eine Aufgabe der Psychologie bezeichnen - um den Namen ist es uns nicht zu tun, gebrauchen wir das zweideutige Wort Erkenntnistheorie, oder nennen wir es mit Rücksicht auf den Zweck und das Interesse Transzendentalpsychologie oder auch philosophische Anthropologie -, so wird doch unter allen Umständen nur innere Erfahrung der dadurch bezeichneten Aufgabe zu genügen imstande sein. 17. So großen Schwierigkeiten nun auch gerade die Selbstbeobachtung ausgesetzt sein mag, so verbinden wir doch mit dieser sub-
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jektiven Wendung aller Spekulation einen doppelten Vorteil. Erstens nämlich bleiben wir ganz bei der Beobachtung, d. h. bei der Erkenntnis durch Sinnesanschauung, stehen. Wir entfernen uns also nicht in das Gebiet abstrakten Denkens und verlieren uns überhaupt nicht in die Spitzfindigkeiten und Grübeleien mittelbarer Beweisverfahren, die der Gefahr des Irrtums um so mehr ausgesetzt sind, je mittelbarer sie sind, je weiter sie sich von der Anschauung entfernen. Je näher wir bei dieser, in unserem Falle der Selbstbeobachtung, bleiben, desto weniger sind wir logischen Fehlern ausgesetzt, und desto leichter lassen sich Fehler, wo sie dennoch vorkommen sollten, aufdecken und verbessern. Auch kommen wir so nicht in Gefahr, uns auf bloße Wahrscheinlichkeiten einzulassen. Denn alle Wahrscheinlichkeit gehört, wie der Irrtum, nur der Reflexion und beruht auf unvollständigen Schlüssen. Die Anschauung dagegen, von der wir uns nicht entfernen und auf die wir immer zurückgehen, ist überhaupt nicht der Ungewißheit unterworfen, also auch nicht den verschiedenen Graden der Wahrscheinlichkeit. Damit ist eng verbunden der andere Vorteil, daß die Anwendung der metaphysischen Grundsätze, die wir doch bei keiner Theorie umgehen können, in keinem Gebiete unserer Erkenntnis so beschränkt ist wie in der Psychologie. Die Anwendung der Metaphysik in einer Wissenschaft reicht nämlich nur so weit wie die Herrschaft der Mathematik, da nur vermittels mathematischer Größenbestimmungen unsere Beobachtungen den metaphysischen Grundbegriffen subsumiert werden können. Die Herrschaft der Mathematik ist aber in der inneren Erfahrung äußerst eng begrenzt wegen der völligen Unmöglichkeit extensiver Messung. Wir sind hier also fast allein auf Beobachtung angewiesen und entgehen so, dank der Beschaffenheit des Gegenstandes, aller Verlegenheit, uns auf einen weitläufigen Streit um metaphysische Grundbestimmungen einlassen zu müssen. Die Erkenntnis durch empirische Anschauung ist zwar nur assertorisch und nicht apodiktisch wie die rationale Erkenntnis der Philosophie, aber sie ist darum doch nicht weniger gewiß oder unsicherer als diese. Vielmehr fehlt dieser, da sie ursprünglich dunkel
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ist, die Evidenz, durch die jene sich auszeichnet. Denn es ist wohl zu beachten, daß der modalische Unterschied assertorischer und apodiktischer Erkenntnis nicht einen Unterschied des Grades der Gewißheit, sondern einen Unterschied des Orts ihres Ursprungs bezeichnet. Objektive Gültigkeit kommt beiden Erkenntnisarten auf gleiche Weise zu, aber ihr subjektives Verhältnis zum Bewußtsein ist ein verschiedenes: bei jener ist es ein unmittelbares Verhältnis der Evidenz, bei dieser dagegen ein durch Reflexion vermitteltes. Eben diese ursprüngliche Dunkelheit ihrer Prinzipien bildet die große Schwierigkeit in allen philosophischen Wissenschaften; dieser gänzliche Mangel an Anschaulichkeit und Evidenz ist der einzige Grund, warum es nicht gelingen kann, auf dogmatische Weise einem philosphischen System allgemeine Anerkennung zu sichern. So besteht denn auch der Kritizismus in nichts anderem als in dem Vorschlag, anstatt geradezu die philosophischen Abstraktionen systematisch aufzustellen, einen Umweg einzuschlagen, der zwar mehr Zeit und Arbeit erfordert, dafür aber - erleuchtet durch die Evidenz konkreter Anschauung - desto sicherer und unfehlbarer zum Ziele führt. 1 8. Nichts ist für das Verständnis dieser Deduktion wichtiger als ihre Unterscheidung von jeder Art des Beweises. Die Kritik der Vernunft fragt nur: Welche unmittelbare Erkenntnis besitzt unsere Vernunft? Wobei als Obersatz aller Deduktionen das Selbstvertrauen der Vernunft auf die Wahrheit ihrer unmittelbaren Erkenntnis überhaupt schon feststehen muß. Obwohl also die Kritik die metaphysischen Prinzipien aus einer Theorie der Vernunft deduziert, welche selbst durch innere Erfahrung, mithin nur induktorisd:i. gewonnen werden kann, so werden doch die metaphysischen Prinzipien ihrer Gültigkeit nach nicht auf Erfahrung oder Induktion gegründet. Denn sie werden aus der Theorie der Vernunft nid:i.t bewiesen, sondern nur als solche aufgewiesen; wobei die Sd:i.lußkraft in der Beantwortung ihres quid juris nicht auf den zugrunde gelegten Induktionen der inneren Erfahrung, sondern auf dem Selbstvertrauen der Vernunft ruht. Dies Selbstvertrauen der Vernunft ist das allgemeine Prinzip, das die psychologischen
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Ableitungen aus der Theorie der Vernunft zu kritischen Deduktionen macht, d. h. das es uns ermöglicht, in der inneren Erfahrung einen Leitfaden für die systematische Begründung der Philosophie zu finden. Die Unmittelbarkeit der Erkenntnis, ihr Ursprung aus der reinen Vernunft (im Gegensatz zu der der Willkür und mithin dem Irrtum unterworfenen mittelbaren Erkenntnis der Reflexion) bildet den Mittelbegriff des ganzen kritischen Gedankenganges seiner logischen Form nach. Zum Realitätsbeweis dieses Mittelbegriffs dient uns eben die psychologische Theorie der Vernunft. Zur Erläuterung des hier entwickelten höchst künstlichen logischen Baues der Deduktion können vielleicht noch die folgenden Bemerkungen dienen. - Während wir erst die Begründung von Grundsätzen, die doch unbeweisbare Wahrheiten sind, zur Aufgabe der Deduktion gemacht hatten, so finden wir jetzt, daß die Deduktion allerdings einen Beweis enthalte. Dies Resultat wird nicht mehr paradox erscheinen, wenn man beachtet, daß es sich (wie schon die obigen Erörterungen (§ 8) ergaben) in der Kritik nicht um den Beweis eines metaphysischen Grundsatzes handelt, denn ein solcher ist in der Tat unbeweisbar, sondern um den Beweis, daß ein Satz wirklich ein metaphysischer Grundsatz ist. Mit andern Worten: die Kritik beweist den psychologischen Satz, daß die Erkenntnis, die ein gewisser metaphysischer Satz ausspricht, eine unmittelbare Erkenntnis aus reiner Vernunft ist. Der Beweis dieses psychologischen Lehrsatzes ist die Deduktion jenes metaphysischen Grundsatzes. So beweist die Kritik z. B. den Satz: »der Grundsatz der Kausalität entspringt aus der Verbundenheit des mathematischen Schemas der Veränderung mit der Kategorie der hypothetischen Synthesis in der unmittelbaren Erkenntnis«, nicht den Satz der Kausalität selbst. Dieser wäre metaphysisch; jener aber, den die Kritik beweist, ist psychologisch. Und dieser Beweis wird geführt aus einer Theorie der Vernunft, die durch innere Erfahrung gewonnen wird. Die Kritik wird daher auch, wie jede Erfahrungswissenschaft, unter ihren Prämissen bereits metaphysische Prinzipien als Bedingungen ihrer Möglichkeit voraussetzen; jedoch nicht, um diese zu beweisen - denn das wäre offenbar ein Zirkel -, son-
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dem um sie zu deduzieren, d. h. um ihren Ursprung in der reinen Vernunft zu beweisen. So wird das Kausalitätsgesetz schon vorausgesetzt unter den Gründen seiner eben erwähnten Deduktion. Wie kann aber die nur psychologische Nachweisung des Ursprungs eines metaphysischen Satzes zu seiner Begründung werden? Nur durch Beziehung auf das Faktum des Selbstvertrauens der Vernunft. Auf der Beziehung auf dieses Faktum beruht zuletzt die Möglichkeit der Deduktion als eines Rechtsnachweises von Prinzipien a priori aus den Gründen ihrer Möglichkeit. Der Ausspruch dieses Faktums bildet daher den obersten Grundsatz der Kritik, er ist nichts anderes, als der Ausspruch des fundamentalen Faktums des Erkennens selbst. Der Grundsatz des Selbstvertrauens der Vernunft verdient allein den Namen eines kritischen (oder transzendentalen) Prinzips, sofern darunter ein Satz verstanden wird, der, ohne selbst metaphysisch zu sein, ein Kriterium der Legitimität metaphysischer Sätze an die Hand gibt. Denn er enthält die Legitimation aller Sätze, die ihren Ursprung in der reinen Vernunft und mithin sich selbst als metaphysische Grundsätze erweisen können. W eiche Sätze aber aus reiner Vernunft entspringen, darüber vermag er nichts auszusagen. Er figuriert also nur als Obersatz in der logischen Form der Deduktion. Ihrer Untersätze müssen wir uns auf anderem Wege versichern. Dieser Weg ist die Theorie der Vernunft, oder wie wir auch sagen können, die Theorie der »transzendentalen Gemütsvermögen«, wenn wir darunter mit KANT solche verstehen, welche den Grund der Möglichkeit von Prinzipien a priori enthalten. Jedes andere angeblich kritische Prinzip als der Grundsatz des Selbstvertrauens der Vernunft ist entweder zu eng, indem es unsere metaphysischen Befugnisse willkürlich einschränkt, oder zu weit, indem es die Ansprüche der Metaphysik ungebührlich ausdehnt. Ein Beispiel mag dies erläutern. KANT fehlte noch ein solches einheitliches kritisches Prinzip. Daher rührt der Mangel an Konzentration in seiner Lehre. Er kannte nämlich die unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft noch
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nicht und betrachtete die metaphysische Erkenntnis einzig vom Standpunkt der Reflexion aus. So konnte er dem Metaphysischen in unserer Erkenntnis keine unmittelbare Gültigkeit zuerkennen, sondern nur mittelbar, wiefern es sich logisch an die Sinnesanschauung anschließen ließ. Daher erlaubt ihm sein Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung zwar eine Rechtfertigung der Kategorien als der logischen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, aber es erweist sich als zu eng zur Begründung der spekulativen Ideen. Er ist daher gezwungen, die objektive Gültigkeit derselben, obwohl sie als transzendentale Ideen den Grund ihrer Möglichkeit in der Vernunft haben, für einen »transzendentalen Schein« zu erklären. Da sie sich ihm aber andererseits als Bedingungen der Möglichkeit der Sittlichkeit erweisen, bedarf er zur Rechtfertigung ihres praktischen Gebrauchs der Einführung eines neuen und kritisch nicht gerechtfertigten Prinzips, des Prinzips vom Primat der praktischen Vernunft. Jene zu enge Fassung des kritischen Prinzips bei KANT führt also zu der unkritischen Einschränkung unseres spekulativen Vermögens auf das theoretische Gebiet und infolgedessen zu einem kritisch unauflöslichen Zwiespalt zwischen der spekulativen und der praktischen Vernunft. 19. Wir wissen, daß wir irren können, daß wir auch bei der geschicktesten Beweisführung und der schlagendsten Konsequenz in unseren wissenschaftlichen Systemen uns nicht beruhigen können, solange wir nicht die letzten Grundlagen und tiefsten Voraussetzungen derselben sichergestellt haben. Darum mißtrauen wir jedem Urteil, ehe nicht dieser Nachweis bis zu seinen letzten Gründen erbracht ist. Jedes Urteil gilt uns als Vorurteil, ehe nicht sein Ursprung aus der aller Willkür des Denkens entzogenen Selbsttätigkeit der Vernunft erwiesen ist. Die Vernunft aber gilt uns als oberste Instanz aller Wahrheit, als unantastbar allem Zweifel wenn wir auch noch nicht wissen, welches der unverfälschte Ausspruch ihrer Wahrheit ist, wenn wir auch diesen vielmehr erst suchen. Denn wem sollten wir trauen, worein sollten wir den Grund unserer Gewißheit setzen, sei es auch nur, um zu zweifeln, wenn nicht in die Vernunft, im Vertrauen auf die allein wir denken, also auch zweifeln können? Philosophie aber ist Wissenschaft, besteht
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also im Denken, ist folglich selbst nur auf Grund des Vertrauens zur Vernunft möglich. Wer ihr dies zum Vorwurf macht, der verwechselt Irrtum und Unvernunft. Philosophie kann sowenig wie eine andere Wissenschaft Erkenntnis aus nichts erzeugen, Wahrheit erschaffen, wo noch keine zugrunde liegt. Sie setzt vielmehr, sofern sie nicht Zauberei ist, sondern Wissenschaft, für jeden, der an ihr teilnehmen will, eine richtig organisierte Vernunft voraus. Ihr Geschäft ist allein, der Reflexion zum irrtumsfreien Ausspruch der Vernunft zu verhelfen, nicht aber die Vernunft selbst einer Prüfung ihrer Tauglichkeit zu unterziehen. Wer vielmehr seiner Vernunft nicht traut und ihre Zuverlässigkeit erst beglaubigt haben möchte, der wende sich an die Psychiater und lasse die Philosophen in Ruhe. Durch die Unterscheidung der Reflexion von der unmittelbaren Erkenntnis oder des Verstandes von der Vernunft erledigt sich auch das alte, immer noch wiederkehrende Bedenken, daß bei unserer Methode die Allgemeingültigkeit der metaphysischen Prinzipien verlorengehe, da es eine unbegründete Hypothese sei, daß, was ich in meinem eigenen Geiste finde, sich ebenso bei allen anderen Menschen finden müsse. Uns wundert nur, daß gerade die nicht aufhören, diesen Einwand zu erheben, die sonst so lebhaft die Unabhängigkeit der Begründung der Philosophie von aller Empirie und Psychologie verlangen. Denn was ist die vermeintliche Hypothese anderes als ein psychologischer Satz, der mit der Metaphysik schlechterdings nichts zu tun hat. Kann uns nicht, wenn wir die metaphysischen Grundsätze suchen, die ethnologische Frage nach der Geistesbeschaffenheit unserer Mitmenschen gleichgültig sein? Wer die objektive Gültigkeit seiner Erkenntnis nicht durch das Selbstvertrauen zur eigenen Vernunft besitzt, der wird sie sich schwerlich dadurch verschaffen können, daß er erfährt, wie die Vernunft anderer organisiert ist. Wer aber dies Selbstvertrauen zu seiner Vernunft besitzt, dem wird es, wenn er sich für philosophische Wissenschaft interessiert, genügen, diese seine Vernunft gründlich kennenzulernen; denn eben in ihr wird er die philosophische Wahrheit finden. Jene Frage hat das vermeintliche philosophische Interesse gar nicht, das man ihr beilegt. Denn was wir bei anderen Men-
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sehen empirisch kennenlernen können, ist immer nur der Verstand. Der Verstand aber kann irren - der Verstand anderer so gut wie der meinige-, und sofern die Majorität über Wahrheit und Irrtum nicht entscheidet, werden wir eine andere Regel der philosophischen Wahrheit suchen müssen als die Methode der Statistik. Bezieht sich aber jene Frage nicht auf den Verstand, sondern auf die Vernunft der Menschen, so hat sie ebensowenig die ihr zugemessene Bedeutung. Vielmehr wird dann jener Satz eine Trivialität, ein bedeutungsloses analytisches Urteil. Denn da alle Geisteserkenntnis eine schlechthin innere ist, so kann ich nur durch Analogie von mir selbst auf die Existenz und Beschaffenheit anderer Geister schließen. Und da ist es ebensowenig hohe spekulative Weisheit wie eine psychologische Hypothese, daß die Vernunft anderer Menschen ebenso organisiert sei wie die meinige, sondern es ist eben der Begriff des Menschen, und zwar der einzige (psychologische) Begriff des Menschen, den ich bilden kann: der Begriff aller der geistigen Wesen, deren Vernunft so organisiert ist wie die meinige; denn erst von mir schließe ich auf andere Geister, anders könnte ich gar nicht auf sie zu reden kommen. Verhält es sich aber so, so leistet unsere Methode der Deduktion aus der eigenen Vernunft auch das übrige - und sie allein ist imstande, es zu leisten -: es wird nicht nur die Gültigkeit, das quid juris der Grundsätze nachgewiesen, sondern, eben damit, durch die Eigentümlichkeit der Methode, zugleich der Nachweis erbracht, daß jeder Mensch gerade diese philosophischen Prinzipien voraussetze, voraussetzen müsse und allein voraussetzen könne. Durch unsere psychologische Unterscheidung der Willkürlichkeit der Reflexion von der Selbsttätigkeit der Vernunft und die ihr entsprechende logische von Beweis und Deduktion ist der Skeptizismus endgültig abgetan und der einzig mögliche Standpunkt der Evidenz in der Philosophie gewonnen. Wer nun im Ernst noch Grundsätze anfechten will, der mag den erfahrungsmäßigen Beweis führen, daß sie im deduzierten System der Vernunft keine Stelle haben. Sich aber gegen diese Methode zu sträuben, das ist nur der Sport derer, die fürchten müssen, daß doch noch einmal Philosophie als evidente Wissenschaft dem Spiel ihrer eigenen spe-
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kulativen Weisheit ein Ende machen könnte, ohne zu bedenken, daß, wer die Herrschaft der Vernunft ablehnt, sich dadurch nur mit dem Blödsinnigen auf eine Stufe stellt. 20. Es ist also der Kritizismus der Begriff einer Methode und nicht eines philosophischen Systems. Wer dieser Methode folgt, ist Kritiker, ganz unabhängig davon, zu welchen Resultaten er damit gelangen mag; und wer ihr nicht folgt, wer die philosophische Erkenntnis durch objektive Begründung, sei es durch Beweise oder durch Vergleichung mit den Gegenständen, wahr machen will, ist, auch wenn er durch die schließliche Einsicht in die Nichtigkeit dieses Unternehmens veranlaßt wird, diese auf die Nichtigkeit der philosophischen Erkenntnis selbst zurückzuführen - und darin besteht das ganze Spiel des Skeptizismus -, ist Dogmatiker. Also ist auch der Skeptizismus, wofern er nicht den kritischen Aufschub des Urteils, sondern seine Unmöglichkeit lehrt, Dogmatismus. Diese Warnung, den Kritizismus nicht in den Resultaten, sondern in der Methode zu suchen, kann zur Abweisung vieler Mißverständnisse dienen. So meinte man oft, weil der Kritizismus die Wahrheit nicht in der Vergleichung mit den Gegenständen suche, so leugne er damit deren Existenz, und der Kritizismus sei gleichbedeutend mit dem Idealismus und als solcher dem Materialismus entgegengesetzt. Der Kritizismus ist indessen ebensowenig Idealismus wie Materialismus, weil er überhaupt keine Weltansicht ist, sondern eine Methode. 21. Zieht man schließlich in Betracht, daß wir, wenn wir auch die Notwendigkeit dieser Methode nur für die Metaphysik dargelegt haben, doch den Beweis ihrer Möglichkeit aus gewissen eigentümlichen Beschaffenheiten rationaler Wissenschaft überhaupt geführt haben, so sieht man leicht ein, daß sein Ergebnis auf die analytischen Prinzipien der Logik ebensowohl Anwendung finden muß wie auf die synthetischen Urteile a priori der Metaphysik. (Die Aufgabe der dadurch postulierten Kritik der Prinzipien der Logik ist, infolge der Verwechslung der Deduktion mit dem Beweise, von fast allen bisherigen Logikern verfehlt worden, indem man entweder die Logik überhaupt zu einer psychologischen Disziplin machen wollte oder, um dieser Gefahr zu entgehen, streng
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dogmatisch zu verfahren suchte und eine besondere Bearbeitung der psychologischen Kritik für überflüssig erklärte, statt dessen aber meist zerstreute Bruchstücke derselben, ohne ihre psychologische Natur zu erkennen, in das System der philosophischen Logik einmengte.) Da ferner das Gebiet der synthetischen Urteile a priori nicht nur die Metaphysik, sondern auch die reine Mathematik umfaßt, so folgt daraus zugleich, daß das Gebiet des Deduzierbaren in unserer Erkenntnis auch mit der Philosophie nicht abgeschlossen ist. Es muß - außer der die Evidenz schon mit sich führenden und darum dem Interesse des Mathematikers allein genügenden Begründung durch Demonstration - auch eine kritische Deduktion der Axiome der Mathematik, ihrem ganzen Umfange nach, möglich sein. Diese Übertragung der Kritik auf die Axiomsysteme der Mathematik konstituiert eine eigene wissenschaftliche Disziplin: die Philosophie der Mathematik oder, nach besserer Bezeichnung, die kritische Mathematik 4 •
IV über das Verhältnis der Kritik zum System Das Vorurteil des Transzendentalen 22. Der Kritizismus ist in dem hier dargestellten Sinne mit voller Schärfe zuerst von FRIES gefordert und durchgeführt worden. Seinem allgemeinsten Begriffe nach gehört er aber schon der griechischen Philosophie an. Schon SOKRATES erhebt die Forderung, die Regel der Wahrheit in den ungeschriebenen Gesetzen der eigenen Vernunft zu suchen; in gleichem Gegensatze zu denen, die sie anderswoher schon zu besitzen wähnen, wie zu denen, die eine solche Regel überhaupt nicht gelten lassen. Aber erst in neuerer Zeit gelang es, diese Methode mit Erfolg einzuführen und durch sie der Philosophie ihre feste wissenschaftliche Grundgestalt zu verleihen. 4
Einen überblick über die Aufgaben und Methoden dieser Disziplin findet man bei G. Hessenberg: über die kritische Mathematik. (Sitzungsberichte der Berliner Mathematischen Gesellschaft. III. Jahrgang, 2. Stück. 1904.)
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Und dies infolge der Erfindung der Erfahrungsmethoden durch unsere Naturwissenschaften. Auch die Induktion forscht nach dem Allgemeinen, das sie aus dem Besonderen der Beobachtung abzuleiten sucht, aber nur auf Grund der Voraussetzung eines noch höheren Allgemeinen: der obersten aller Erfahrung zugrunde liegenden Naturgesetze, die selbst als höchste Obersätze aller Schlüsse nicht mehr induktorisch und überhaupt durch kein Beweisverfahren mehr abgeleitet werden können. Sobald daher die Erfahrungsmethode mit Klarheit durchgeführt wurde, mußte die Frage nach diesen obersten Leitsätzen aller Induktionen notwendig hervortreten und die Spekulation auf die allgemeine Frage nach den notwendigen Wahrheiten der ungeschriebenen Gesetze zurückführen. Mit andern Worten: Die Induktion erfordert selbst zu ihrer Möglichkeit die Spekulation. Die dadurch gestellte Aufgabe löste KANT durch seine Kritik der Vernunft. 23. Gegen die Kantische Methode, dem System der Metaphysik eine Kritik der Vernunft vorhergehen zu lassen, sind schon früh viele Einwendungen gemacht worden, die zum Teil darauf beruhen, daß KANT selbst noch nicht zu voller Klarheit über das Verhältnis der Kritik zur Metaphysik gelangt war, weil er noch Deduktion und Beweis verwechselte. So meinte HERBART, KANT zu widerlegen mit der Frage, ob es denn leichter sei, die Vernunft zu erkennen, als andere Dinge. Es fragt sich nur, was man unter den anderen Dingen versteht. Versteht man darunter mit KANT die Gegenstände der Metaphysik, so ist es allerdings leichter, die Vernunft zu erkennen, eben weil dies Sache innerer Beobachtung, jenes aber Sache abstrakten Denkens ist. So machte HEGEL den oft wiederholten Einwand, die Kritik sei ein Versuch, zu schwimmen, ehe man ins Wasser gehe. Allerdings werde ich auch zur inneren Erfahrung schon gewisse Prinzipien anwenden müssen, die ich doch erst deduzieren will. Aber deduzieren ist eben nicht beweisen, und was bei einem Beweis ein Zirkel wäre, braucht es darum nicht bei der Deduktion zu sein. 24. Hält man die kritische Deduktion für eine Art des Beweises, d. h. hält man das Verhältnis der Kritik zum System der Philosophie für ein Verhältnis des logischen Grundes zu seiner Folge, so
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kommt man infolge des Widerspruchs, der in dieser Voraussetzung liegt, zu zwei entgegengesetzten Ansichten; je nachdem, ob man von der Folge auf den Grund oder vom Grunde auf die Folge schließt5 • Entweder nämlich kann man schließen: Die Philosophie ist eine rationale Wissenschaft Eine rationale Wissenschaft kann aber nicht aus empirischen Gründen abgeleitet werden. Also kann die Kritik nicht empirisch-psychologisch, sondern nur rational sein. Oder aber man schließt: Die Kritik ist Wissenschaft aus innerer Erfahrung, d. h. empirische Psychologie. Aus empirisch-psychologischen Gründen lassen sich aber nie andere als wieder empirisch-psychologische Folgen ableiten. Folglich gibt es keine Philosophie als rationale Wissenschaft, sondern nur als empirische Psychologie. Das erste ist der Standpunkt der Vertreter der Wissenschafislehre, das zweite der des Psychologismus. Beide entgegengesetzten Ansichten aber gelten nur unter der gemeinsamen - bewußten oder unbewußten - Voraussetzung, daß das Verhältnis der Kritik zum System der Philosophie das logische Verhältnis des Grundes zur Folge sei. Dies logische Vorurteil führt notwendig zu der Verwechslung der psychologischen Prinzipien der Kritik mit den obersten philosophischen Prinzipien des Systems der Wissenschaft. Auf Grund dieser Voraussetzung ist der Widerspruch dieser beiden Parteien schlechterdings unvermeidlich und unauflöslich. Haben wir aber einmal das Irrige ihres gemeinsamen Vorurteils eingesehen, so haben wir damit auch den Grund ihres Streites beseitigt. 5
Nach dem Prinzip: Der Grund einer Erkenntnis muß mit dieser Erkenntnis selbst gleichartig sein. Dies ist ein für die Kritik der Vernunft äußerst wichtiger logischer Satz. Sein Beweis liegt eigentlich in Folgendem. Der Grund einer Erkenntnis ist jederzeit selbst Erkenntnis, und zwar entweder mittelbare oder unmittelbare Erkenntnis. Ist er mittelbare Erkenntnis, so besteht er im Urteil, und die Begründung geschieht durch Beweis. In diesem Falle folgt der Satz aus der logischen Natur des Schlusses als eines analytischen hypothetischen Urteils. Es kann nichts im Schlußsatz behauptet werden, was nicht schon in den Prämissen enthalten ist. Ist aber der Grund eine unmittelbare Erkenntnis, so ist es eben diese Erkenntnis selbst, die im Urteil ausgesprochen wird. In diesem Falle folgt der Satz aus dem Prinzip der Identität.
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Beide Teile verkennen das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie; der erste hält für philosophisch, was in der Tat nur psychologisch ist, der andere hält für psychologisch, was in der Tat philosophisch ist. 25. KANT selbst hat sich zur genauen Bestimmung dieses Verhältnisses nicht hindurchfinden können und die logische Form seiner »transzendentalen« Erkenntnis nicht mit Klarheit festzustellen vermocht; mit wie ausgezeichneter Meisterschaft er sie auch in der Anwendung zu handhaben verstand. Diese Unbestimmtheit liegt in seinem Begriff der Transzendentalphilosophie. So wurde die Zweideutigkeit dieses Schlagwortes für alle die, welche ohne methodologische Schulung nur nach den neuen Resultaten griffen, Anlaß, den kaum überwundenen Dogmatismus zu erneuern und, mit wechselnder Vorliebe, bald zu LEIBNIZ' logischem Dogmatismus, bald zu dem induktorischen Vorurteil der Engländer zurückzukehren und so alle Philosophie wieder bald in Logik, bald in Erfahrung zu verwandeln und untergehen zu lassen. Dies läßt sich historisch sehr bestimmt nachweisen. Transzendental nannte KANT die Untersuchung des Grundes der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori. Der Gegenstand der transzendentalen Untersuchung, die den Inhalt der Kritik bildet, sind also Erkenntnisse a priori. Erkenntnisse aber erkennen wir überhaupt nur durch innere Erfahrung. Die transzendentale Erkenntnis der Kritik ist also offenbar Erkenntnis aus innerer Erfahrung. Hat also gleich transzendentale Kritik Erkenntnisse a priori zum Gegenstande, so ist sie doch selbst eine empirische Wissenschaft. Wer nun nicht hinreichend genau Gegenstand und Inhalt der transzendentalen Kritik unterscheidet, wer die transzendentale Erkenntnis, den Inhalt der Kritik, mit ihrem Gegenstande, der philosophischen Erkenntnis, verwechselt, der wird leicht die Ungleichartigkeit beider übersehen, der wird leicht die psychologische Natur der ersteren verkennen und sie selbst für philosophisch, also für eine Art der Erkenntnis a priori halten 6 • 6
Vgl. Kritik der reinen Vernunft (Ausgabe von Kehrbach, Reclams Bibliothek) S. 80.
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REINHOLD, der das bei KANT vermißte System der Transzendentalphilosophie suchte, ließ sich durch dieses Mißverständnis des Transzendentalen zu dem Versuch verleiten, die Philosophie als » Theorie des Vorstellungsvermögens« zu bearbeiten. Diesen unglücklichen Gedanken griff FICHTE auf und wurde dadurch dazu geführt, in seiner Wissenschaftslehre vom »Ich als Prinzip der Philosophie« auszugehen; während SCHULZE, BENEKE und andere daraus die entgegengesetzte, psychologistische Konsequenz entwickelten. Seitdem beherrscht diese Verwechslung psychologischer und philosophischer Prinzipien die Geschichte der Philosophie. Sie ist noch heute der fundamentale Fehler bei allen denen, die sich mit dem Phantom einer »reinen Erkenntnistheorie« abmühen. Schon FRIES hat diese im Begriff des Transzendentalen enthaltene Vermengung psychologischer und philosophischer Prinzipien, die er das Vorurteil des Transzendentalen nannte, als den Grundfehler des gesamten Nachkantischen Dogmatismus aufgewiesen und diesen Fehler durch Aufklärung des Unterschiedes von Beweis und Deduktion verbessert. 26. Aus jener Unterscheidung von Inhalt und Gegenstand der Kritik ergibt sich von selbst das Verhältnis der Psychologie zur Metaphysik. So gewiß es schon im Begriff der Metaphysik liegt, daß sie keine empirische Wissenschaft ist, so gewiß daher die Metaphysik nicht psychologisch ist, so gewiß folgt andererseits aus dem Begriff der Kritik, daß diese nicht metaphysisch ist. Denn die Kritik soll als Propädeutik, als Untersuchung des Grundes der Möglichkeit der Metaphysik, dieser vorhergehen. Die Vernunftkritik für metaphysisch zu erklären, ist also eine contradictio in adjecto. Was aber FISCHER und so viele andere immer wieder an diesem so einfachen und klaren Verhältnis irremacht, das ist nichts anderes als die Verwechslung der Deduktion mit dem Beweise. Apodiktische Schlußsätze können nämlich allerdings nicht aus empirischen Prämissen abgeleitet werden. Mithin würde die Kritik, wenn sie Beweis wäre, nicht empirischer, also auch nicht psychologischer Natur sein können, weil sonst die Metaphysik selbst ihre Apriorität und Apodiktizität einbüßen würde, die doch ohne Widerspruch nicht von ihr verneint werden kann. Und so erscheint von diesem
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Vorurteil aus die große Leistung der Friesschen Deduktionen nichts als ein Rückfall in LocKES Empirismus. Indem aber dieses Vorurteil zu der Konsequenz führt, die Kritik müsse metaphysisch sein, verliert es vielmehr selbst den Grundgedanken der Vernunftkritik, hebt es eo ipso den Begriff des Kritizismus auf und führt unmittelbar zum Dogmatismus zurück. 27. Dieses selbe Vorurteil macht es der sogenannten Neukantischen Schule unmöglich, auf den reinen Kritizismus zurückzukommen. »Wenn man die transzendentale Deduktion als eine der Psychologie >angehörige< Untersuchung bezeichnen dürfte, so wäre die Disziplin der Metaphysik überhaupt in die der Psychologie aufgelöst« heißt es da7 • Doch wohl nur für den, der die transzendentale Deduktion für einen Beweis ansieht, was ihrem Begriff als der Begründung von Grundsätzen widerspricht. Und so ist es auch heute noch das Vorurteil des Transzendentalen, das dem richtigen Verständnis und einer gesunden Fortbildung der kritischen Philosophie im Wege steht. In der Tat lesen wir ebenda: »Wenn transzendental die Untersuchung der Erkenntnisart genannt wird, sofern die letztere a priori möglich sein soll, so wird damit das a priori selbst als nur dadurch möglich bezeichnet, daß es in einer transzendentalen Erkenntnis erkannt wird. Und so verhält es sich wirklich 8.« - Hier finden wir aufs bestimmteste die Verwechslung der psychologischen Gründe der Kritik mit den logischen Gründen des Systems ausgesprochen. Die transzendentale Untersuchung des Grundes der Möglichkeit von Erkenntnissen a priori soll selbst der Grund ihrer Möglichkeit sein. Gewiß, dann dürfte die transzendentale Untersuchung nicht als eine der Psychologie angehörige Untersuchung bezeichnet werden; denn durch welche Mittel der Logik könnte es gelingen, aus empirischen Gründen Erkenntnisse a priori herzuleiten? Darf aber die transzendentale Untersuchung nicht empirisch sein, so muß sie Erkenntnis a priori sein. Wie kann sie aber Erkenntnis a priori sein, wenn sie die Erkenntnis a priori erst möglich machen soll? 7 8
H. Cohen. Kants Theorie der Erfahrung. 2. Aufl. S. 294. a.a.O., S. 134.
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Sowie einmal diese Forderung einer transzendentalen Erkenntnis gestellt ist, die die Erkenntnis a priori erst möglich machen soll, muß man auf die Idee einer Wissenschaft kommen, die logisch noch über den Grundsätzen steht und diese erst aus einem »obersten Grundsatz« ableitet. Eine Wissenschaft, die freilich nicht empirische Psychologie sein dürfte, wenn man nicht die Philosophie doch wieder aus Erfahrung entspringen lassen will. So finden wir uns hier nur wieder auf das hoffnungslose Unternehmen angewiesen, aus bloßer Logik Metaphysik zu machen. D. h. wir sind damit schon bei der Idee der Fichteschen Wissenschaftslehre. Das haben denn auch andere besser bemerkt als CoHEN, und so erleben wir heute auf den vor kurzem noch so lebhaften Ruf »Zurück zu KANT« den neuen »Vorwärts zu FICHTE«. Das ist denn wenigstens konsequent, und je eher wir in diesem altgewohnten Schlendrian wieder bei HEGEL ankommen, desto eher wird sich dies falsche Philosophem auch wieder selbst zerstören. Allerdings liegt dies Mißverständnis des Transzendentalen, das Verhängnis der Nachkantischen Philosophie, im Keime schon bei KANT selbst. Aus diesem Mißverständnis, an das man sich klammerte und das bei KANT ohne bedeutende Folgen im Hintergrunde seiner Untersuchungen stehengeblieben war, suchte man die Konsequenzen zu ziehen und zum System zu entwickeln. Bei KANT schon liegt daher auch der tiefste Grund, weshalb jeder, der versucht, ihn weiterzubilden, wenn er sich nicht erst diesen Fehler verbessert, unvermeidlich wieder den alten Irrweg gehen muß, weshalb aller Neukantianismus, der dies Vorurteil nicht im Prinzip aufgibt, nur einer groben Inkonsequenz seine ephemere Existenz verdankt. Deshalb werden wir mit aller Rückkehr zu KANT nie weiterkommen, uns vielmehr immer nur im Kreise drehen; Kritizismus bleibt ein bloßes Wort, und die von der Kantischen Kritik verheißene Philosophie als evidente Wissenschaft wird ein Traum bleiben, ehe wir uns nicht von diesem Vorurteil frei machen.
V. Das konstitutive Prinzip der Metaphysik - Humesches Problem 4 5
V über das konstitutive Prinzip der Metaphysik Das verallgemeinerte Humesche Problem und seine kritische Auflösung 28. Wissenschaft unterscheidet sich von dem bloßen Wissen durch die logische Form der systematischen Einheit in der Anordnung und Begründung der das Wissen enthaltenden Urteile. Jede Wissenschaft hat daher unter logischem Gesichtspunkt eine von dem in ihr enthaltenen Wissen verschiedene, ihr eigentümliche systematische Form. Die Regel der Hervorbringung dieser logischen Form einer Wissenschaft nenne ich das methodische Prinzip derselben. Soll also aus dem rohen und ungeordneten Stoff des zerstreut in unserer Erkenntnis liegenden Wissens Wissenschaft werden, so kommt es auf die Erfindung des richtigen methodischen Prinzips der Wissenschaft an. Die Methode einer Wissenschaft wird nun offenbar durch die Erkenntnisquelle des in ihren Urteilen enthaltenen Wissens bedingt. Diese Erkenntnisquelle des in den Urteilen einer Wissenschaft enthaltenen Wissens nenne ich das konstitutive Prinzip dieser Wissenschaft. Folglich hängt die Möglichkeit, ein Wissensgebiet in die sichere Bahn einer Wissenschaft zu bringen, von der richtigen Einsicht in das konstitutive Prinzip dieser Wissenschaft ab. So verdankt die Mathematik die mit Recht berühmte Strenge ihrer wissenschaftlichen Ausbildung der frühen Einsicht in die Konstruierbarkeit ihrer Begriffe in der reinen Anschauung; denn die Natur gerade nur dieses konstitutiven Prinzips ermöglicht die strenge Anwendung der dogmatischen Methode des progressiven Beweises. So beruht das glückliche Gelingen der wissenschaftlichen Ausbildung der neueren Naturforschung auf der Einsicht, daß sie ihr konstitutives Prinzip in der Beobachtung zu suchen habe. Diese Einsicht ermöglichte die Einführung der induktiven Methode des regressiven Beweises. - So hat andererseits das bisher so unglückliche Schicksal der Metaphysik seinen Grund allein darin, daß man sich noch nicht über ihr konstitutives Prinzip hat einigen können,
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ja, daß man auch noch nicht einmal die Frage nach demselben allgemein ins Auge gefaßt hat9• 9
Prinzip kann überhaupt jede allgemeine Regel heißen, sofern von ihr die Entwiddung einer Wissenschaft abhängt. Es wird daher ebenso viele Arten von Prinzipien geben, als es Arten der Abhängigkeit der Entwicklung einer Wissenschaft von allgemeinen Regeln gibt. Demgemäß haben wir vorzüglich drei Arten von Prinzipien zu unterscheiden. Die Entwicklung einer Wissenschaft hängt nämlich einmal von der unmittelbaren Erkenntnis ab, die in den Urteilen dieser Wissenschaft wiederholt wird und die das Kriterium der Gültigkeit der Grundurteile dieser Wissenschaft bildet. Dies gibt den Begriff des konstitutiven Prinzips der Wissenschaft. Andererseits hängt die Entwicklung einer Wissenschaft von der allgemeinen Regel ab, der gemäß ihre systematische Ausbildung stattfindet. Dies gibt den Begriff des methodischen Prinzips der Wissenschaft. Drittens hängt die Entwicklung einer Wissenschaft von den allgemeinen Grundsätzen ab, aus denen sich durch logische Folgerungen ihr System entwickelt. Diese allgemeinen Grundsätze einer Wissenschaft können daher auch mit Recht ihr Prinzip heißen. Und zwar kann man dies Prinzip, zum Unterschied von dem konstitutiven und dem methodischen Prinzip, das logische Prinzip der Wissenschaft nennen; wobei jedoch zu beachten ist, daß das Beiwort »logisch« hier nur das Verhältnis der Abhängigkeit der Entwicklung der Wissenschaft von dem Prinzip bezeichnen soll und nicht die Erkenntnisart, der das Prinzip selbst angehört. Von dieser Einteilung ist daher die Unterscheidung der Prinzipien nach der Erkenntnisart, der sie angehören, sorgfältig zu trennen. Unter diesem letzteren Gesichtspunkt können nur die Grundsätze der Logik logische Prinzipien heißen; während nach der ersten Wortbestimmung die Grundsätze der Metaphysik, Mathematik und Logik die logischen Prinzipien eben dieser Wissenschaften bilden. Der gewöhnliche Sprachgebrauch folgt meist der Bezeichnung nach der Erkenntnisart, und demgemäß haben wir oben nach der richtigen Begründung der »metaphysischen Prinzipien« gefragt und dementsprechend »psychologische und metaphysische Prinzipien« unterschieden. Um Mißverständnissen vorzubeugen, bemerke ich ferner, daß in der Kantischen Schule der Ausdruck »konstitutives Prinzip« nicht selten noch in einem anderen, von der hier gegebenen Definition abweichenden Sinne Anwendung findet. Nach der in der Kritik der reinen Vernunft (die das Verhältnis der unmittelbaren Erkenntnis der Vernunft zu der mittelbaren Erkenntnis der Reflexion noch nicht in den Kreis ihrer Untersuchungen zieht) gemachten Unterscheidung zwischen konstitutiven und regulativen Prinzipien versteht man unter konstitutiven Prinzipien solche allgemeinen Gesetze, welche unmittelbar eine theoretische Entwicklung nach progressiver Methode zulassen, während man als regulative Prinzipien diejenigen bezeichnet, die, als leitende Maximen der Induktion, allererst die Erforschung der ersteren ermöglichen. So wurden ROBERT MAYER und HELMHOLTZ durch das Prinzip der Erhaltung der Energie auf die Entdeckung des mechanischen Aquivalents der Wärme
V. Das konstitutive Prinzip der Metaphysik - Humesches Problem 47
29. Daß es aber in unserer Erkenntnis überhaupt ein eigenes konstitutives Prinzip der Metaphysik geben müsse, wird durch das unleugbare Faktum metaphysischer Urteile bewiesen 10 • Dies Prinzip muß sich daher auch nach den eigentümlichen Beschaffenheiten der aus ihm entspringenden Urteile bestimmen lassen. Und aus dem Charakter des so bestimmten konstitutiven Prinzips muß sich endlich das gesuchte methodische Prinzip der Metaphysik ermitteln lassen. In der Tat ist dies der Weg, den wir in unseren obigen Untersuchungen eingeschlagen und bis zum Ziele verfolgt haben. Gleich anfangs (§ 2) hatte sich uns herausgestellt, daß das Schwankende und Unsichere der Metaphysik nicht den Besitz des in ihr enthaltenen Wissens betreffe, sondern allein die Aufgabe, dies in den verschiedenen Erkenntnisgebieten zerstreut liegende Wissen zu isolieren und auf seine wissenschaftliche Form zu bringen. Um die
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und damit auf das erste Grundgesetz der Thermodynamik geleitet. Die thermodynamischen Grundgesetze selbst aber liegen der mechanischen Wärmetheorie als konstitutive Prinzipien oder, nach dem Ausdruck der Physiker, als Hauptsätze zugrunde. Das Wort Metaphysik ist zwar etwas aus der Mode gekommen durch die Behauptung, es gäbe gar keine Metaphysik. Allein diese Behauptung beruht auf bloßem Wortstreit und trifft gar nicht die von uns akzeptierte wissenschaftliche Bedeutung, die KANT dem Worte gegeben hat. Vielmehr beruht in diesem Sinne des Wortes selbst alle Erfahrungswissenschaft auf metaphysischen Voraussetzungen; ja, jedes Erfahrungsurteil bedarf, nach KANTS klarer und unwiderspredilicher Nachweisung, außer der logischen Möglichkeit des Begriffs und außer der anschaulichen Bestimmung seines Gegenstandes einer nur denkbaren Form seiner synthetischen Einheit. Demgemäß gibt es also entweder überhaupt keine Wissenschaft, oder auch Metaphysik. Wenn z.B. ÜSTWALD(Annalen der Naturphilosophie Bd. I 1902 S. 51 f. u. S. 61) gegen KANTS Lehre von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft behauptet: »Für den heutigen Naturforscher gibt es keine Erkenntnis a priori und daher auch kein apodiktisches Wissen ... Man darf nur eine Wahrscheinlichkeit von cks = 0 dafür annehmen, daß irgendeine ins Unbegrenzte erstreckte oder absolute Behauptung die Wahrheit trifft«, so hebt dieser empiristische Satz, da er selbst eine apodiktische Behauptung ausspricht, sich selbst auf; die Wahrscheinlichkeit, daß er die Wahrheit trifft, ist cks = 0. Schränkt man ihn aber, um diesem Widerspruch zu entgehen, ein, in dem Sinne, daß jeder andere apodiktische Satz als dieser eine mit der Wahrscheinlichkeit 0 die Wahrheit trifft, so ist der Empirismus bereits durchbrodien, denn es gibt alsdann wenigstens einen apodiktischen Satz.
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Methode zur Auflösung dieser Aufgabe ausfindig zu machen, machten wir uns an eine Untersuchung des konstitutiven Prinzips der metaphysischen Urteile. Wir fanden es in der unmittelbaren Erkenntnis der reinen Vernunfl:. Aus der Eigentümlichkeit derselben ergab sich uns schließlich in der Lehre von der Deduktion das richtige methodische Prinzip der Metaphysik. Da nämlich die unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft, als nicht-anschauliche Erkenntnis, sich nicht unmittelbar mit den aus ihr entspringenden Urteilen vergleichen läßt, so mußten wir einen Weg ermitteln, auf dem sich diese Vergleichung mittelbar bewerkstelligen läßt. Dies zeigte sich als nur dadurch möglich, daß wir die unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft selbst erst, ihrem Tatbestande nach, einer wissenschaftlichen Untersuchung unterwerfen, um durch Aufweisung des in ihr enthaltenen Grundes der fraglichen Urteile diese zu deduzieren. Da wir nun den Tatbestand von Erkenntnissen nur durch innere Erfahrung erkennen, so erwies sich uns die Deduktion als eine Aufgabe der Psychologie. Demgemäß ergab sich als methodisches Prinzip der Metaphysik die Aufgabe der Deduktion ihrer Urteile durch die aus einer Theorie der Vernunft geführte Nachweisung ihres Ursprungs in der unmittelbaren Erkenntnis der reinen Vernunft. Man sieht ohne weiteres, daß der Nerv unserer methodologischen Nachweisungen in unserer Bestimmung des konstitutiven Prinzips der Metaphysik liegt. So einfach und einleuchtend nun auch diese Bestimmung erscheinen mag, sobald man einmal den Gesichtspunkt der richtigen Stellung der Frage nach diesem Prinzip gewonnen hat, so mannigfachen Mißdeutungen und Verwechslungen ist doch, wie die Geschichte der Philosophie lehrt, dies Prinzip ausgesetzt. Alle methodologischen Fehler im Gebiete der Metaphysik und infolgedessen das Fehlschlagen aller bisherigen Versuche, die Metaphysik zum Range einer Wissenschaft zu erheben, lassen sich auf das Verkennen ihres konstitutiven Prinzips zurückführen. Es wird daher gut sein, die zuletzt behandelte methodologische Streitfrage, in der wir es bisher nur mit den Folgen dieses Verkennens zu tun gehabt haben, bis auf ihre Quelle zurückzuverfolgen und die Abhängigkeit der möglichen Arten ihrer Be-
V. Das konstitutive Prinzip der Metaphysik - Humesches Problem 49
antwortung von der richtigen oder unrichtigen Bestimmung des konstitutiven Prinzips der Metaphysik ins Auge zu fassen. 30. Wir haben bisher das Vorurteil des logischen Dogmatismus von der Allgenugsamkeit des Beweisverfahrens vornehmlich dadurch bekämpft, daß wir auf den Widerspruch hinwiesen, den es einschließt. Dieser Widerspruch liegt aber eigentlich so offen am Tage, daß sich die Frage erhebt, welches Motiv so tief wurzeln könne, daß es, ungeachtet des offenbaren Widerspruchs, auf den es führt, seine unbeschränkte Herrschaft behauptet. Wir müssen daher noch weiter gehen und den Grund jenes Vorurteils aufsuchen, um es an der Wurzel bekämpfen zu können. Dieser Grund liegt nun in nichts anderem als in jener aus einem Zeitalter geringer wissenschaftlicher Ausbildung kritiklos vererbten und zum Dogma erstarrten Irrlehre, alle unmittelbare Erkenntnis sei Anschauung, alles Nicht-Anschauliche in unserer Erkenntnis gehöre der mittelbaren Erkenntnis der Reflexion an. Ist nämlich alle unmittelbare Erkenntnis anschaulich, so muß offenbar die metaphysische Erkenntnis, da sie nicht anschaulich ist, ihren Grund in der Reflexion haben, d. h. sie beruht auf dem Beweise. 31. Anschauung ist diejenige Erkenntnis, deren wir uns unmittelbar (nämlich ohne Vermittlung von Begriffen, d. h. unabhängig von der Reflexion) bewußt werden. Da erscheint es nun freilich leicht paradox, von einer nicht-anschaulichen und doch unmittelbaren Erkenntnis zu sprechen. Allein, die Unmittelbarkeit, die den Begriff der Anschauung ausmacht, ist nicht die der Erkenntnis, sondern des Bewußtseins um die Erkenntnis. Die scheinbare Paradoxie des Begriffs einer nicht-anschaulichen unmittelbaren Erkenntnis verschwindet daher, sobald man den Unterschied des unmittelbaren Bewußtseins von der unmittelbaren Erkenntnis beachtet. Was hier meist irreführt, ist dies: Die anschauliche Erkenntnis steht offenbar früher vor dem Bewußtsein als diejenige, die ihm nur durch Reflexion angehört. Aus dieser zeitlichen Priorität der anschaulichen vor der gedachten Erkenntnis folgt aber nicht, daß die Anschauung der alleinige Grund der Möglichkeit der gedachten Erkenntnis sei. Denn die Frage nach dem Ursprung der Erkenntnis
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ist von der genetischen Frage nach der zeitlichen Ausbildung des Bewußtseins streng zu scheiden. Die Bedeutung des Unterschiedes dieser beiden Fragestellungen ist bis auf den heutigen Tag von psychologischer Seite auf das Härteste verkannt worden. Die Vernachlässigung dieses elementaren Unterschiedes ist fast noch der einzige Fehler, der dem allgemeinen Verständnis der psychologischen Grundlagen der Kritik im Wege steht und um dessentwillen das konstitutive Prinzip der Metaphysik und selbst der Logik noch so streitend beurteilt wird. Die Erörterung dieser Angelegenheit gehört zwar selbst durchaus in die Psychologie, aber wir können sie doch - bei dem heutigen Stande dieser Wissenschafl: - für unseren logischen Zweck nicht umgehen. Wie, bei aller sonstigen Uneinigkeit und Vielgestaltigkeit in der neuesten Entwicklung der Logik, doch insofern Einigkeit herrscht, als man keine andere Begründung der Urteile kennt als die Demonstration und den Beweis, so erscheint es geradezu als eine ausgemachte psychologische Tatsache, daß wir keine andere unmittelbare Erkenntnis besitzen als die Anschauung. Und so gilt es bei fast allen neueren Bearbeitern der psychologischen Disziplinen geradezu als ein Axiom, es sei die Aufgabe der Psychologie, allein aus dem Sinn und aus der Assoziation unsere gesamte Erkenntnis zu erklären. Was nicht in den Rahmen der genetischen Betrachtungsweise gehört, das pflegt man als überhaupt nicht dem Bereiche der Psychologie angehörig zu betrachten und in eine andere, angeblich nicht psychologische Disziplin, in die sogenannte Erkenntnistheorie, zu verweisen. Natürlich, daß man sich von einer solchen Bearbeitung der Psychologie keine Aufklärungen für die Philosophie verspricht. Und ebenso natürlich, daß, wer sich dennoch dieser Hoffnung hingibt, schließlich nur an der Möglichkeit aller philosophischen Erkenntnis irre werden muß. 32. Demgegenüber wird es unsere Aufgabe, zu zeigen, daß, wofern überhaupt die Psychologie den Tatsachen der inneren Erfahrung gerecht werden und nicht ihnen aus dem Wege gehen will, die Frage nach dem Grunde der Möglichkeit metaphysischer Urteile, d. h. eben jene Frage nach einem eigenen, weder anschaulichen noch logischen Ursprung des Metaphysischen in unserer Erkenntnis, zu
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einem unvermeidlichen psychologischen Problem wird, und daß nur durch eine gründliche empirisch-psychologische Bearbeitung dieses Problems die immer wiederkehrenden Irrtümer vermieden werden können, die bisher eine einhellige und planvolle wissenschaftliche Arbeit im Gebiete der Metaphysik unmöglich gemacht haben. Wir behaupten somit, daß ohne die Anerkennung des Faktums einer nicht-anschaulichen unmittelbaren Erkenntnis nicht allein eine psychologische Erklärung der Tatsachen des Erkennens in alle Wege unmöglich bleiben muß, sondern auch eine Einigung in metaphysischen Fragen sich nimmermehr erhoffen läßt. Ja, wir behaupten, daß, sowenig wir sonst auf einen dauernden Bestand unserer Bemühungen um die Ausbildung der Metaphysik hoffen dürfen, die allgemeine Anerkennung jener psychologischen Entdeckung allein hinlänglich sein wird, die philosophische Anarchie zu brechen und den Zwist der Schulen für alle Zeit zu schlichten. Es läßt sich ohne Mühe zeigen, daß fast jeder selbständige spekulative Kopf in der Geschichte der Philosophie dieser Entdeckung mit größerer oder geringerer Deutlichkeit auf der Spur war, sich aber durch das seine Zeit beherrschende dogmatische Vorurteil hindern ließ, dieser Entdeckung nachzugehen. PLATONS göttliche Anschauung der Ideen, der voüi:; des ARISTOTELES, bei den Neueren JACOBIS »Offenbarung«, KANTS »transzendentale Apperzeption«, REINHOLDS »unmittelbares Bewußtsein«, FICHTES »reines Ich«, ScHELLINGs »intellektuelle Anschauung« und so fort bis auf W1NDELBANDs »Normalbewußtsein« und R1cKERTs »Sollen als transzendentes Minimum«, das alles sind nur mehr oder weniger unbeholfene Versuche, von der bloßen Reflexion zur unmittelbaren Erkenntnis der reinen Vernunft herüberzukommen. 33. So allgemein also auch bisher diese unmittelbare Erkenntnis verkannt worden ist, so bildet doch ihre Aufklärung das Hauptziel und das Ende aller Bemühungen in der Geschichte der Philosophie. Eine einfache Überlegung wird uns hierüber orientieren. In einer Auffassung, die die unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft nicht kennt, die aus der Anschauung und der Reflexion allein alle Erkenntnis hervorfließen lassen will, ist kein Raum für
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andere Erkenntnis als die Anschauung und solche, die sich durch die Methoden der Reflexion, d. h. durch die logischen Formen der Definition und des Beweises aus der Anschauung herleiten läßt. Eine solche Auffassung kann also zwar der reinen Mathematik und Empirie gerecht werden, nicht aber dem Metaphysischen in unserer Erkenntnis. Daher der immer wiederkehrende Streit in allen Gebieten, an die Metaphysik ein Anrecht hat: der Streit über die Prinzipien der theoretischen Physik, über die Grundlagen der Ethik und Politik und über die Begründung der Religionslehre. Daher ist - neben der hohen Ausbildung unserer mathematischen und empirischen Wissenschaften - die Metaphysik bis heute der Tummelplatz der Hypothesen geblieben. Und so ist jenes Vorurteil der alleinige Grund alles Dogmatismus und eben damit auch alles Skeptizismus in der Philosophie. Denn, wo man eine Begründung metaphysischer Wahrheiten versuchte, da folgte man der dogmatischen Methode des Beweises. Die Einsicht aber, daß, wo keine andere unmittelbare Erkenntnis zugrunde liegt als die Anschauung, man auch durch kein Beweisverfahren zu Erkenntnissen gelangen könne, die die Anschauung übersteigen, daß, mit andern Worten, bei der Leerheit und Mittelbarkeit der Reflexion, aus bloßer Logik keine Metaphysik zu schaffen sei - diese Einsicht in die nur analytische Natur der Reflexion mußte notwendig zur Leugnung der Möglichkeit aller metaphysischen Erkenntnis und damit zum Empirismus führen. Wer aber dennoch, ohne sich den Methoden der Reflexion anzuvertrauen, eine metaphysische Erkenntnis behaupten wollte, der mußte bei der mystischen Fiktion einer nicht-sinnlichen, einer intellektuellen Anschauung seine Zuflucht suchen. So führt jenes Vorurteil unausbleiblich auf den die ganze Geschichte der Philosophie beherrschenden Streit der Platoniker und Aristoteliker11 • ·u KANT wirft einmal die Frage auf: »Ob sich ein Schema zu der Geschichte der Philosophie a priori entwerfen lasse, mit welchem die Epochen der Meinungen der Philosophen aus den vorhandenen Nachrichten so zusammentreffen, als ob sie dieses Schema selbst vor Augen gehabt und danach in der Kenntnis derselben fortgeschritten wären.« Und er antwortet: »Ja: wenn nämlich die Idee
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34. Der Grundfehler aller bisherigen dogmatischen Logik, das Vorurteil, alle Urteile seien entweder demonstrierbar oder beweisbar, beruht also auf einer Unkenntnis der Tatsachen des Erkennens. Dieses Vorurteil der traditionellen Logik haben wir von den Griechen übernommen. Bei diesen erklärt sich diese Unkenntnis aus der mangelhaften Ausbildung ihrer Naturwissenschaft. Das geistige Leben und die Wissenschaft der Griechen bewegt sich allein in der Welt der Anschauung und des Schönen. Theoretische Naturwissenschaft war ihnen fremd. Die nur ethischen Motive, die den SOKRATES zur Anerkennung »ungeschriebener Gesetze« zwangen, in denen PLATON ein von der JtLO'tL~ (Empirie) und öuxvom (Mathematik) verschiedenes avurtoitEtov (Unbeweisbares) erkannte, dessen Grund er in intellektueller (wenn auch bei der Geburt verlorener) Anschauung suchte - diese nur ethischen Motive waren nicht stark einer Metaphysik der menschlichen Vernunft unvermeidlich aufstößt und diese ein Bedürfnis fühlt, sie zu entwickeln; diese Wissenschaft aber ganz in der Seele, obgleich embryonisch vorgezeichnet liegt ... Die Geschichte der Philosophie ist nicht die Geschichte der Meinungen, die zufällig hier oder da aufsteigen, sondern der sich aus Begriffen entwickelnden Vernunft ... Eine philosophische Geschichte der Philosophie ist selber nicht historisch oder empirisdi, sondern rational, d. i. a priori möglich. Denn, ob sie gleich Fakta der Vernunft aufstellt, so entlehnt sie solche nicht von der Gesdiichtserzählung, sondern sie zieht sie aus der Natur der menschlichen Vernunft als philosophische Archäologie.« (Lose Blätter. Heft II. S. 286, 278.) Unsere obigen Erörterungen bewähren sich daran, daß sie uns unmittelbar instand setzen, das Schema dieser »philosophischen Archäologie« aufzustellen. Das wissensdiaftlidie Interesse an der Geschichte der Philosophie richtet sich allein auf den Fortschritt in der Entwicklung der Methoden, nicht auf die Resultate der einzelnen Forscher, oder doch nur so weit, wie diese Resultate von der befolgten Methode abhängig sind. Nur für die Methode läßt sich ein Gesetz der Gedankenentwicklung angeben. Dies Gesetz wird durch unser Schema veranschaulicht. Dies Schema ist der Organisation der Vernunft selbst nachgebildet. Der psychologische Gesichtspunkt, nach dem es entworfen ist, verbürgt einerseits seine Vollständigkeit rücksichtlich der Mannigfaltigkeit aller möglichen historischen Formen, andererseits die Unabhängigkeit aller Momente seiner Einteilung von historisch gegebenen oder willkürlich erdachten Maßstäben. Es gibt uns daher einen sicheren Leitfaden an die Hand, an dem sich alle methodologisch bedeutsamen Fortsdiritte und Irrtümer in der Geschichte der philosophischen Wissenschaften nach Prinzipien übersehen und bis auf ihre Quelle in der Vernunft selbst zurückführen lassen. Gebrauch und Anwendung der Tafel ergeben sich leicht durch eine Vergleichung mit unseren folgenden Ausführungen.
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genug, um den wissenschaftlichen Sinn des ARISTOTELES zu verhindern, mit der mythischen Begründung die Sokratische Entdeckung selbst zu verwerfen. Das Mystische der Platonischen Auffassungsweise einerseits und die Evidenz der Sinnesanschauung andererseits mußte den Aristotelikern das Übergewicht in der Wissenschaft verleihen. Aber bei einer hinlänglichen Ausbildung der theoretischen Naturwissenschaften mußte eine nur einigermaßen gründliche Selbstbeobachtung wieder zur Anerkennung der unvermeidlichen Wirklichkeit metaphysischer Voraussetzungen führen und damit die Frage nach dem Grunde ihrer Möglichkeit erneuern. So zeigt es die Entwicklung der neueren Philosophie. Dogmatische Prämisse:. Alle Erkenntnis ist entweder Ansdiauung oder Reflexion.
Falsche Konsequenz: Also besitzen wir intellektuelle Anschauung. Konstitutives Prinzip: Intellektuelle Anschauung. Methodisches Prinzip: Demonstration.
(Mystizismus)
Falsche Konsequenz: Also besitzen wir keine Metaphysil:: .. Konstitutives Prinzip: Methodisches Prinzip: Unbegründbar. (Empirismus)
Richtige Konsequenz: Di„ Metaphysik entspringt aus nicht-anschaulicher unmittelbarer Erkenntnis. J(_onstitutives Prinzip: Unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft. Methodisches Prinzip: Deduktion„ (Kritizismus)
V. Das konstitutive Prinzip der Metaphysik - Humesches Problem 5 5
35. Unter Voraussetzung der fehlerhaften psychologischen Disjunktion: alle Erkenntnis beruhe entweder auf Anschauung oder auf Reflexion, bleibt indessen - in Anbetracht der tatsächlich sinnlichen Natur unserer Anschauung und der tatsächlich analytischen Natur der Reflexion - die Wirklichkeit metaphysischer Urteile ein unauflösliches Paradoxon. Unter jener Voraussetzung ist diese Tatsache unerklärlich, ja unmöglich. Denn, wenn man nicht entweder die sinnliche Natur unserer Anschauung oder die nur analytische Natur der Reflexion leugnen will, so sind jene Voraussetzung und diese Tatsache schlechterdings unvereinbar. Die Paradoxie dieses Verhältnisses wurde der Grund des Streits zwischen den Rationalisten und Empiristen. Die notwendigen Wahrheiten der Metaphysik lassen sich nicht auf Sinnesanschauung gründen, so lehrt mit Recht der Rationalismus. Aber, lehrt ebenso richtig der Empirismus, aus der Reflexion können sie unmöglich entspringen; denn diese ist für sich leer und ohne Gehalt und kann nur aus gegebenen Wahrheiten Konsequenzen ableiten oder beweisen, gemäß den analytischen Regeln der Logik. Dies Dilemma bildet das Thema des Humeschen Zweifels. HuME ging unbefangen von demselben Vorurteil aus. Er wies nach, daß jeder Schluß von der Wirkung auf die Ursache und von der Ursache auf die Wirkung das Kausalitätsgesetz bereits a priori voraussetze, und zeigte mit großer Klarheit an diesem Beispiel, daß die apodiktische Erkenntnis nicht aus dem Sinn entspringen könne, denn sonst wäre sie nicht apodiktisch. Aber die Reflexion kann wiederum nur analytisch Begriffe zergliedern. Bei der Kausalität gehe ich aber über den betreffenden Begriff hinaus und behaupte seine notwendige Verknüpfung mit einem anderen, der nicht in ihm enthalten ist. Also kann sie auch nicht aus der Reflexion entspringen. Folglich ist - auf Grund jenes Vorurteils - apodiktische Erkenntnis unmöglich und, sofern die Sinne die einzige Erkenntnisquelle sind, eine Täuschung aus empirischen Gründen. HuMES Zweifel bezog sich also gar nicht unmittelbar auf die objektive Gültigkeit der metaphysischen Erkenntnis, sondern zunächst nur auf ihren Ursprung, d. h. auf den subjektiven Grund ihrer Möglichkeit. Es mußte ihre psychologische Möglichkeit be-
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greiflich gemacht werden, ehe man über ihre objektive Gültigkeit füglich verhandeln konnte 12 • Beruht also der Humesche Zweifel auf einem nicht nur berechtigten, sondern auch unvermeidlichen psychologischen Problem, so folgt, daß er auch nur auf dem Boden der Psychologie seine Auflösung finden kann. 36. KANT widerlegte nun de facto HuMES Resultat, ohne freilich bestimmt genug das zugrunde liegende Vorurteil anzugreifen, am Beispiel der Mathematik. Die mathematischen Urteile sind, wie HuME sah, apodiktisch, aber, wie er nicht sah, synthetisch. Also gibt es apodiktische Synthesis 13 • Die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori wird also durch das Faktum bewiesen. Die Frage kann also nur noch die sein, wie sie möglich sind. HuME selbst, wenn er der Voraussetzung der Kausalität die Allgemeingültigkeit absprach, indem er ihren Ursprung aus der gewohnheitsmäßigen Erwartung ähnlicher Fälle ableiten wollte, verwickelte sich in Widersprüche mit seiner eigenen klaren Nachweisung, daß die Kausalität Voraussetzung jeder Erklärung sei. Denn indem er sie aus der Gewohnheit erklären will, macht er die Gewohnheit zu ihrer Ursache, setzt also bereits die Gültigkeit des Kausalgesetzes voraus. Sehen wir aber von diesem Widerspruch ab, so ist diese noch 12
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So sagt KANT selbst: »Es war nicht die Frage, ob der Begriff der Ursache richtig, brauchbar und in Ansehung der ganzen Naturerkenntnis unentbehrlich sei, denn dieses hatte HuME niemals in Zweifel gezogen; sondern ob er durch die Vernunft a priori gedacht werde und auf solche Weise eine von aller Erfahrung unabhängige innere Wahrheit habe. Es war ja nur die Rede von dem Ursprunge dieses Begriffs, nicht von der Unentbehrlichkeit desselben im Gebrauche: wäre jener nur ausgemittelt, so würde es sich wegen der Bedingungen seines Gebrauches und des Umfangs, in welchem er gültig sein kann, schon von selbst gegeben haben.« (Prolegomena. Einleitung.) Diese von vielen Philosophen noch heute umstrittene Fragen nach der analytischen oder synthetischen Natur der mathematisdten Urteile ist - wenn nicht schon durch KANT selbst - auf Grund der kritischen Untersuchungen der neueren Mathematik als erledigt zu betrachten, indem durdt diese Untersudtungen für die Richtigkeit der Kantischen Entdeckung des nicht-logischen Ursprungs der mathematisdten Axiome ein endgültiger Beweis erbradtt worden ist. Ich verweise hierfür sowie auch für die Aprioritätsfrage auf die oben erwähnte Abhandlung von G. HESSENBERG.
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heute in der Psychologie populäre Erklärung auch psychologisch unzulänglich. Denn die Erwartung ähnlicher Fälle beruht nicht allein auf Assoziation, sondern setzt selbst bereits, wenn auch ursprünglich dunkel, zu ihrer Möglichkeit die Vorstellung eines Kausalverhältnisses voraus. Die Assoziation vermag nämlich wohl zu erklären, wie mit dem Eintreten eines Sinneseindrucks die Erinnerung an einen früher darauf eingetretenen Eindruck entsteht, nicht aber die Erwartung, daß dieser Eindruck wiederum tatsächlich eintreten werde. Die Assoziation kann für sich allein stets nur die Verbindung der Vorstellungen von Objekten, niemals aber die Vorstellung von der Verbindung der Objekte erklären. Eine unparteiische, alle voreiligen Erklärungsversuche aus den Augen setzende Beobachtung der Tatsachen zeigt also die Unrichtigkeit von HuMES empiristischem Resultat. Der Grund seines Zweifels aber ist dadurch noch keineswegs gehoben. Vielmehr erhebt sich dieser Zweifel nun nur um so eindringlicher von neuem, in der Frage: Wie kann Metaphysik wirklich sein, wenn weder der Sinn noch die Reflexion einen Grund ihrer Möglichkeit darbietet? In dieser Frage vereinigt sich das Interesse aller auf den Namen einer Wissenschaft Anspruch machenden Metaphysik mit demjenigen echter, von aller Sucht voreiligen Theoretisierens freier, empirischer Psychologie. 37. So richtig nun auch KANT in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft und in den »allgemeinen Fragen« der Prolegomena das Humesche Problem verallgemeinert und auf seinen klassischen Ausdruck gebracht hat, so verliert er doch in der Ausführung mehr und mehr den psychologischen Gesichtspunkt der Fragestellung aus dem Auge und gleitet allmählich wieder von dem Wege empirisch-psychologischer Kritik in einen logischen Formalismus hinüber. Er zeigte zwar negativ die Unzulänglichkeit der logischen Formen der Reflexion zur Metaphysik durch den Beweis der Unmöglichkeit eines logischen Kriteriums materialer Wahrheit, blieb aber selbst ganz bei der Reflexion stehen und versuchte sogar selbst wieder einen Beweis der metaphysischen Grundsätze, den er den transzendentalen nannte. So daß, als man dann nach den Prinzipien dieser transzendentalen Beweise fragte, man sich nur wieder
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auf die Anschauung zurückgewiesen sah. Und so kam es, daß seine Nachfolger sich wieder trennten und in eine Schule des Empirismus und eine Schule der intellektuellen Anschauung teilten. KANTS sogenannte transzendentale Beweise der metaphysischen Grundsätze aus dem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung sind indessen in Wahrheit gar keine Beweise, sondern nur regressive Aufweisungen. Wir weisen so durch logische Zergliederung der gegebenen Erfahrung die Kategorien und Grundsätze als Bedingungen ihrer Möglichkeit auf. Gründet sich also die Erfahrung auf die metaphysischen Prinzipien als auf die logischen Bedingungen ihrer Möglichkeit, so wäre es ein Zirkel, diese Prinzipien aus dem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung als »oberstem Grundsatz« beweisen zu wollen. Der Gebrauch und die Anwendung der metaphysischen Prinzipien in der Erfahrung kann uns also wohl dazu dienen, diese Prinzipien als Tatsache in unserer Erkenntnis aufzuweisen, nicht aber, sie als solche allererst möglich zu machen und ihrer Gültigkeit nach zu beweisen. KANT überschätzt die Selbständigkeit der Reflexion. Es ist logisch und psychologisch gleich unmöglich, daß sich das Denken seine synthetischen Prinzipien selbst erzeugen könnte. Sowenig wie seinen Gehalt, kann sich das Urteil die Regel selbst geben, um diesen Gehalt zur Einheit zu verknüpfen. Die Norm, nach der die Reflexion den Gehalt, den ihr die Sinne liefern, verknüpfen muß, um nicht nur zu denken, sondern zu erkennen, muß ihr von der Vernunft ursprünglich vorgeschrieben sein. Die Reflexion kann uns also nur das wiederholende Bewußtsein um die Einheit und Notwendigkeit unserer Erkenntnis, nicht aber die Erkenntnis der Einheit und Notwendigkeit selbst geben. Diese ursprüngliche, von der mittelbaren Erkenntnis der Reflexion schon vorausgesetzte Erkenntnis der Vernunft ist aber keine Anschauung; denn sie kommt uns nur mittelbar, nur durch Reflexion zum Bewußtsein. Es gibt also eine für sich dunkle, nur durch die Reflexion aufzuklärende unmittelbare Erkenntnis der Vernunft, die der Grund der Apodiktizität in unseren Urteilen ist. Sie ist jenes verborgene »X, worauf sich der Verstand stützt« und das den Grund der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori aus bloßen Begriffen bildet.
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Der erste Grund der Wahrheit in unserer Erkenntnis fehlt also bei KANT. Der Grund der Möglichkeit der Erfahrung liegt in den metaphysischen Grundsätzen, und diese sollen ihre Gewähr wieder in der Ermöglichung der Erfahrung finden. Er hat die unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft nicht finden können und versucht statt dessen, die Reflexion sich selbst ihre Wahrhaftigkeit verbürgen zu lassen durch die analytische Beziehung zwischen der Erfahrung und ihren Grundsätzen. Im Faktum der Erfahrung hatte er den festen Widerhalt gegen den Skeptizismus gefunden; durch Beziehung auf die gegebene Erfahrung konnte er dem Apriori die Realität wiedergeben, die HuME ihm als Beziehung auf die Dinge genommen hatte. Wie er ebenso die Wahrheit des Glaubens als Bedingung der Realität gebotener Sittlichkeit aufwies, die er ihm als selbständiger Überzeugung absprach. Wie er dagegen ein objektives Prinzip des Geschmacks nicht finden konnte, in der Reflexion nämlich, in der allein er es suchte. - Diese Darstellung ist aber offenbar nur ein Notbehelf gegen den Empirismus, dessen Forderung, alle Wahrheit, die ihren Gegenstand nicht in der Erfahrung aufzeigen kann, zu beweisen, er noch nicht überwunden hatte. Es ist nur ein vorläufiger Standpunkt, wie er sich aus seiner einerseits polemischen, andererseits durchaus abhängigen Stellung zu HuME erklärt. Er zeigt damit nur, daß die Möglichkeit des Faktums der gegebenen Erfahrung und der gebotenen Sittlichkeit ein System metaphysischer Grundsätze postuliert, das er zwar auch vollständig aufgewiesen hat, aber ohne sich zu dem eigentlichen Grunde ihrer Möglichkeit hindurchfinden zu können. Angeborene Ideen sollten es nicht sein. Aber was denn sonst? Das hat er nicht tiefer erforscht. Obgleich er auch hierzu einen gewissen Anfang gemacht hat mit seiner Nachweisung, daß alle analytische Einheit des Bewußtseins bereits irgendeine synthetische voraussetze, in seiner Lehre von der Identität der Apperzeptionen. So sehr er sich aber auch bemüht, diese »subjektive Deduktion« von der »objektiven« zu unterscheiden, so hat er doch, infolge des Mißverständnisses des Transzendentalen, ihre psychologische Natur verkannt und ihr, aus Furcht, in die »physiologische Ableitung« zu geraten, eine irreführende objektive Wendung gegeben. - So hat er uns mit
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seiner Arbeit gleichsam nur ein Problem, ein Rätsel in die Geschichte der Philosophie geworfen, dessen Auflösung ihm selbst verborgen geblieben ist. 38. Dieser Mangel mußte sich bald fühlbar machen. Man bemerkte auch, daß man zur Auflösung dieses Rätsels über die für sich gehaltlose Reflexion hinausgehen und nach einem von ihrer Mittelbarkeit unabhängigen Grunde der Apodiktizität suchen müsse. Bei dem zugrunde liegenden Vorurteil, alle unmittelbare Erkenntnis sei Anschauung, mußte sich aber diese an sich richtige Forderung zu der fehlerhaften Aufgabe gestalten: man müsse die Reflexion, als zur Philosophie untauglich, aufgeben, um durch Anschauung, die dann freilich nicht sinnlich sein durfte, zur Philosophie zu gelangen. Da wir indessen eine solche intellektuelle Anschauung nicht besitzen, so mußte man sich insgeheim zu diesem Unternehmen doch der logischen Formen der Reflexion bedienen; man nahm diese Formen nur für mehr, als sie sind, und so geschah es, daß man unvermerkt nur wieder in den Fehler zurückfiel, aus den leeren logischen Formen metaphysischen Gehalt erzwingen zu wollen, und dadurch gerade den Fehler, den man vermeiden wollte, auf die Spitze trieb. Auf der anderen Seite machte sich im Gegensatz zu diesem Rückfall in den Platonismus naturgemäß wieder das von KANT unüberwundene - oder doch nur ad hominem widerlegte - Humesche Vorurteil geltend. Aus der tatsächlich sinnlichen Natur unserer Anschauung und aus der tatsächlichen Leerheit und Mittelbarkeit der Reflexion zog man den Schluß auf die Unmöglichkeit metaphysischer Erkenntnis. So ist es gekommen, daß man in der Psychologie bei dem Humeschen Empirismus stehengeblieben ist und, die Belehrung der Tatsachen verschmähend, an dem fundamentalen dogmatischen Vorurteil festgehalten hat. Man hat diese Hypothese zu einem Axiom umgestellt, und so hat sich das Faktum der metaphysischen Erkenntnis, das zu dem Humeschen Problem herausgefordert hatte, ganz aus dem psychologischen Gesichtskreis verschoben. Indem aber die moderne Psychologie vor diesem Faktum die Augen verschließt, hat sie zugleich die vornehmste Aufgabe, die ihr Begründer ihr stellte, aus den Augen verloren.
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So führte die Konsequenz des gemeinsamen Vorurteils zur Erneuerung des Streits der Platoniker und Aristoteliker. Wo aber die wissenschaftlichen Interessen überwogen, da mußte naturgemäß wieder der Empirismus über den Platonismus die Oberhand gewinnen. Wer daher heute noch das Recht der Philosophie aufrechterhalten will, der sieht sich wieder auf die bloße Reflexion zurückgedrängt. Das tätige Prinzip der Reflexion ist aber der Wille. Indem man daher die Willkürlichkeit der Reflexion mit der Spontaneität des Erkennens selbst verwechselt, wird man darauf geführt, sich auf den Willen als höchstes Prinzip zu berufen. Die Bestimmungsgründe des Willens aber sind Zwecke. So gelangt man zu dem Versuch, die philosophischen Prinzipien als Mittel zur Erreichung des Zwecks der Wissenschaft oder als »Postulate des Strebens nach vollkommener Erkenntnis« - teleologisch - zu begründen. Wobei aber immer die Frage unbeantwortbar bleibt, woher die für sich gehaltlose Reflexion diesen Zweck erhält und woher sie, wenn er ihr selbst gegeben wäre, die Mittel zu seiner Erfüllung hernimmt 14 • 39. Darin stimmt also das Resultat, das HuME aus den Voraussetzungen der Aristotelischen Logik zog, daß auf Grund dieser Voraussetzungen metaphysische Urteile unmöglich sind. Anstatt also dieselben mit KANT beweisen zu wollen, schließen wir vielmehr umgekehrt: Ihre Wirklichkeit beweist ihre Möglichkeit. Folglich 14
Unbeantwortbar - wenn man nicht den kritischen Weg der Vergleichung von Erkenntnissen untereinander verlassen und sich auf eine Theorie des Verhältnisses der Erkenntnis zum Gegenstande einlassen will. So drängt also auch diese Ansicht über die bloße Reflexion hinaus, aber ihr Vorurteil erlaubt ihr ein Hinausgehen über die Reflexion nur durch ein Hinausgehen über die Erkenntnis überhaupt. Eine Theorie der Möglichkeit der Erkenntnis aber liegt jenseits möglicher Wissenschaft, und so weist denn auch diese Ansicht nur wieder an den Mystizismus zurück. Die Vertreter dieser Teleologik tun daher sehr unrecht, sich auf KANT zu berufen. Denn sie sind dem obersten Gesetz der Sokratisch-Kantischen Forschungsweise untreu geworden, welches gebietet, das Gesetz der Wahrheit nicht jenseits der Erkenntnis, sondern in der Erkenntnis selbst zu suchen. Es zeugt vielmehr von besserem historischem Verständnis, wenn neuere Schüler dieser Lehre auf PLATON und FICHTE zurückgehen. Denn der Kritizismus hat seinen Ursprung allein bei SOKRATES und bei KANT. PLATON und FICHTE dagegen sind bereits von dem strengen Grundgedanken kritischer Wissenschaft abgewichen.
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muß die Voraussetzung der Aristotelischen Logik falsch sem. Es gibt eine unmittelbare Erkenntnis nicht-sinnlicher Natur. Wenngleich wir aber dies dem Platonismus zugestehen, so müssen wir doch mit den Aristotelikern gegen ihn sagen: Intellektuelle Anschauung besitzen wir aber nicht; wir können die Reflexion nicht entbehren. Die unmittelbare Erkenntnis der reinen Vemunft ist keine Anschauung, sondern sie kommt uns einzig durch Refiexion zum Bewußtsein. So allein gelingt es, den Fehler des ARISTOTELES zu verbessern, ohne in den des PLATON zurückzufallen. Ihr sonst unversöhnlicher Streit erledigt sich, sobald wir ihr gemeinsames Vorurteil fallen lassen, das Vorurteil, daß wir keine andere unmittelbare Erkenntnis besitzen als die Anschauung. Die Entdeckung dieser nichtanschaulichen unmittelbaren Erkenntnis der reinen Vernunft ist der Leitstern, der allein die Wissenschaft bewahren kann vor den Klippen des Empirismus einerseits und des neoplatonischen Mystizismus andererseits. Metaphysik als Wissenschaft kann nichts anderes sein als die Aufklärung dieser unmittelbaren Erkenntnis der reinen Vernunft. Kritik der Vernunft ist das Werkzeug zu dieser Aufklärung. Ihr Geschäft ist die Deduktion der Grundsätze, d. h. ihre Begründung durch die Aufweisung des Grundes ihrer Möglichkeit in der unmittelbaren Erkenntnis der reinen Vernunft. In der dogmatischen Voraussetzung, alle unmittelbare Erkenntnis sei Anschauung, finden wir also zugleich den tiefsten Grund des alle Philosophie zerstörenden Empirismus. Durch alle Beweise kann die Reflexion nie neue Erkenntnis schaffen, sondern nur die gegebene aufklären. Also können wir uns durch sie keine Erkenntnis erwerben, die nicht schon in der unmittelbaren Erkenntnis, von der wir ausgingen, enthalten war. Ist aber diese unmittelbare Erkenntnis Anschauung, so folgt unwidersprechlich, daß uns metaphysische Erkenntnis unmöglich sein muß. Die Ohnmacht unserer gesamten Philosophie gegenüber der zerstörenden Macht des Empirismus hat also ihren Grund darin und nur darin, daß ihr eigenes Gebäude zuletzt auch auf jenem fundamentalen Dogma des Empirismus erbaut ist. Dies ist der Grund,
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weshalb sich der Empirismus allen noch so treffenden Gegenargumenten zum Trotz behauptet. Denn ehe ihm nicht jenes Fundament entzogen ist, hat man ihm nichts entgegenzusetzen als Inkonsequenz. Aller Kampf gegen den Empirismus bleibt daher aussichtslos und aller Erfolg in diesem Kampfe trügerisch, solange man dieses Fundament bestehen läßt. Soll es zu einer ernsthaften Überwindung des Empirismus kommen, so wird man sich entschließen müssen, sein Grunddogma selbst aufzugeben. 40. Wir kommen also zu folgendem Resultat. Unter Voraussetzung des Dogmas, alle Erkenntnis sei entweder Anschauung oder Reflexion, muß unvermeidlich die an sich richtige Maxime der Aufklärung, durch Reflexion zur Metaphysik zu kommen, die fehlerhafte Form des logischen Dogmatismus annehmen, durch die Reflexion die metaphysische Erkenntnis selbst zu erzeugen und demgemäß sie zu beweisen. Als ob sich durch das Vermögen der Aufklärung die aufzuklärende Wahrheit selbst entwickeln ließe. Ein Verfahren, das an der eigenen Inkonsequenz notwendig scheitern und die gesamte metaphysische Gesetzgebung dem Skeptizismus preisgeben muß. Das Fehlschlagen dieses Unternehmens führt daher zu der Alternative, entweder (mit dem Empirismus) auf alle metaphysische Wahrheit zu verzichten, oder (mit dem Mystizismus) den wissenschafüichen Weg der Aufklärung zu verlassen und, unter Verwerfung der Reflexion als eines zur Metaphysik untauglichen Mittels, auf dem Wege intellektueller Anschauung die Wahrheit zu suchen. So erzeugt das Scheitern des logischen Dogmatismus den Streit des empiristischen Skeptizismus und des neoplatonischen Mystizismus. Auf Grund des - infolge der Unkenntnis des konstitutiven Prinzips der Metaphysik - noch heute die Logik beherrschenden Vorurteils, die Methode der Begründung der Urteile sei entweder die Demonstration oder der Beweis, ist also Aufklärung undurchführbar, und Metaphysik als Wissenschaft bleibt ein konsequenterweise unauflösliches Problem. Die Auflösung dieses Problems besteht in der Entdeckung der nicht-anschaulichen unmittelbaren Erkenntnis der reinen Vernunft. Diese Entdeckung und die durch sie erreichte endgültige Auflösung
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des Humeschen Problems verdanken wir FRIES. Durch diese Entdeckung wurde zuerst der Grund und die Möglichkeit der Sokratischen Verbindung des Mißtrauens gegen das eigene Wissen mit dem Vertrauen zur Wahrheit klar und verständlich. Der Besitz der Wahrheit, den der Dogmatiker fordert, gehört der Vernunft, damit jedoch noch nicht dem Bewußtsein, das, wie der Skeptiker einsieht, für sich leer ist. Aber dieses hat die Möglichkeit, sich durch Reflexion der Vernunfterkenntnis zu bemächtigen und sie im Urteil auszusprechen. Diese Entdeckung allein ist imstande, die Philosophie zu einer evidenten Wissenschaft zu erheben und den ewigen Frieden in ihr herbeizuführen. Das ist die Leistung der kritischen Methode, daß sie die Aufklärung vollendet und eben damit zugleich überwindet. Denn sie zeigt, daß die Reflexion zwar nicht die notwendigen Wahrheiten verbürgen könne, zeigt aber zugleich den Weg, wie durch Reflexion die Reflexion zu überwinden sei.
Anhang über das Verhältnis des sogenannten Neukantianismus zu Fries' Neuer Kritik der Vernunft Fassen wir, um unsern Standpunkt historisch zu fixieren, die Resultate unserer Untersuchungen zusammen, so hat sich uns als das allein richtige Verfahren zu philosophieren die von KANT entdeckte Kritik der Vernunft herausgestellt. Die Kritik der Vernunft aber muß, so fanden wir, nach psychologischer Methode bearbeitet werden. Damit kommen wir auf die Wendung zurück, die FRIES dem wissenschaftlichen Philosophieren gegeben hat. Wir kommen zurück, sage ich. Denn mit der Forderung psychologischer Kritik treten wir in schärfsten Gegensatz zu der herrschenden Ansicht, wie sie am nachdrücklichsten gerade von denen vertreten wird, die ihre Lehre an den Namen KANTS anknüpfen. Wenn auch heute von einer angesehenen Schule die Rückkehr zu KANT gefordert und versucht wird, so hören wir doch nichts von einer Anknüpfung an FRIES. Und doch war es gerade FRIES, der schon vor hundert Jahren die Methode der Vernunftkritik wieder aufnahm und mit ihrer Hilfe
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die Fortbildung der Philosophie unternahm. Wie erklärt es sich da, daß wir bei denen, die eine Erneuerung des Kantianismus zu erstreben behaupten, keiner wissenschaftlichen Prüfung - weder einer Anerkennung noch Widerlegung, ja meist nicht einmal einer historischen Beachtung - des Philosophen begegnen, der zuerst und bis auf den heutigen Tag allein durch Erneuerung des Unternehmens der Vernunfl:kritik der Kantischen Philosophie eine neue Grundlage geschaffen hat? Offenbar eben daraus, daß sie, wie sich uns gezeigt hat, die psychologische Natur der Kritik verkennen. Den letzten Grund aber dieses Verkennens hatten wir in dem Mißverständnis des Begriffs des Transzendentalen gefunden. Nun hat aber gerade FRIES seine Reform der Kritik auf die Prüfung eben dieses Begriffs und auf die Berichtigung des Mißverständlichen in ihm gegründet. Wie kommt es nun, daß die »Neukantianer« sich nicht von FRIES über dieses Mißverständnis haben belehren lassen? Nur daher, daß sie, wie eine Vergleichung ihrer Schriften zeigt, es vorgezogen haben, statt seine Kritik der Vernunft zu studieren, die traditionelle Fabel von FRIES' Psychologismus nachzusprechen. In der Tat ist diese Fabel, seit F1sCHER15 sie erfunden hat, ganz allgemein treuherzig weitererzählt worden. 15
K. Fischer. Die beiden Kantischen Schulen in Jena. Rede zum Antritt des Prorektorats. 1862. Nur hier nebenbei möchte ich auf eine ebenso wenig bekannte wie für die Geschichte der Philosophie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgenreiche Tatsache aufmerksam machen. In der eben genannten Schrift findet sich neben der oben beleuchteten groben sachlichen Mißdeutung auch ein schwerwiegender historischer Irrtum. Es heißt nämlich daselbst S. 6: »Ich kehre zurück zu den jenaischen Professoren, die auf dem hiesigen Katheder die Kantische Philosophie entwickelt und fortgebildet haben. Diese Entwicklungsgeschichte umfaßt einen Zeitraum von 56 Jahren, der mit dem Auftreten des älteren REINHOLD beginnt und mit dem Tode von FRIES endet.« - Die Reihe der Professoren, die auf dem Katheder von Jena die Kantische Philosophie entwickelt und fortgebildet haben, endet aber keineswegs mit FRIES, sondern vielmehr erst mit ERNST FRIEDRICH APELT, der, bis zu seinem frühzeitigen Tode im Jahr 1859, also noch zu eben der Zeit, in der FISCHER dort seine Lehrtätigkeit begann, in Jena die kritische Philosophie lehrte. Die Verdienste dieses Mannes um die Fortbildung der Kantischen Philosophie verschweigt FISCHER in seiner Rede. In seiner Geschichte der Philosophie findet sich auch nicht einmal mehr APELTS Name. Nur durch diese, die gebührende Beurteilung von seiten des unparteiischen Geschichtsschreibers noch erwartende Hand-
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So lesen wir bei einem unserer geachtetsten Forscher im Gebiete der Geschichte der Philosophie: »Der Psychologismus, wie ihn etwa die FRIES und BENEKE darstellen, oder wie er sich in der völkerpsychologischen Richtung neu entwickelt hat, verdankt die große Überlegenheit, die er den entsprechenden früheren Theorien gegenüber zweifellos besitzt, lediglich dem Anschluß an die kritische Philosophie. Das ist die Größe des Kantianismus, daß er alle seine Gegner veredelt hat.« 16 Dem gelehrten Geschichtsschreiber der Philosophie scheint bei dieser seiner Gegenüberstellung kritischer und genetischer Methode ein kurzer, aber lehrreicher Ausspruch von FRIES entfallen zu sein: »Aber das versteht Herr BENEKE wieder nicht, weil ihn seine unglückliche genetische Psychologie irre macht. So versteht er KANTS Ausdruck >Erkenntnis rein a priori< gar nicht. Er hält ihn für einen genetischen Begriff ... « 17 Mit derselben Unkenntnis des Gegenstandes ausgerüstet, unternimmt es RIEHL, die Friessche Methode anzugreifen 18 • So führt er denn seine Streiche überall nur gegen ein Phantom, das außer in seiner Einbildung nie und nirgend existiert hat. Das Folgende dürfte hinlänglich sein, um diese Behauptung zu beweisen. RIEHL sagt (S. 294): »Ich verstehe unter psychologischem Vorurteil - kein Vorurteil KANTS, sondern ein Vorurteil seiner Ausleger und Kritiker - die Behauptung, die kritische Philosophie sei auf Psychologie gegründet, oder die Forderung, sie solle es sein, obschon sich KANT selbst
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lungsweise ist es ihm gelungen, das Wirken und die Verdienste des letzten rechtmäßigen Vertreters der Kantischen Schule aus der geschichtlichen Überlieferung zu streichen. Es ist das Verdienst ERNST HALLIERS, das von APELT hinterlassene wissenschaftliche Besitztum gegenüber der allgemeinen Nichtachtung von seiten der zeitgenössischen Philosophen in Schutz genommen und der Nachwelt übermittelt zu haben. (Namentlich: Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts. 12. Abschnitt. Die mathematisch-naturwissenschaftliche Schule. § 2. Ernst Friedrich Apelt und die Theorie der Induktion.) Erst eine Zeit, die den Wert dieses Besitztums zu schätzen wissen wird, wird auch die Verdienste des Mannes zu ehren wissen, dem sie die Erhaltung des ihr überkommenen Erbes verdankt. Windelband. Präludien. 1884. Kritische oder genetische Methode? S. 248. J. F. Fries. Die Geschichte der Philosophie. Bd. 2. 1840. S. 514. A. Riehl. Der philosophische Kritizismus. Bd. 1. 1876.
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des anthropologischen Charakters seiner kritischen Untersuchungen nicht deutlich bewußt gewesen sei. Die letztere Forderung wird von FRIES und seiner Schule erhoben, die erstere Behauptung hat besonders HERBART zu ihrem Vertreter. Vorerst muß gegen FRIES erklärt werden, daß eine psychologische Grundlegung der Kritik ganz und gar ihrem eigenen Vorhaben widerstreite.« Vorerst muß FRIES gelesen werden, ehe man daran geht, ihn zu widerlegen. Derartig vage und unbestimmte Forderungen hat FRIES nicht erhoben. Vielmehr fordert er, daß der Aufstellung des Systems der Philosophie eine Kritik der Vernunft vorhergehe, und beweist, daß diese Kritik eine psychologische Wissenschaft sei. Eine Philosophie, die dieser Forderung genügt, heißt eben darum kritische Philosophie. Die Kritik aber, lehrt er, sei nicht selbst Philosophie, sondern das Philosophieren, um zur Philosophie zu gelangen19. FRIES hat also allerdings die »psychologische Grundlegung der Kritik« behauptet; die Behauptung aber, daß durch ein solches Verfahren die Philosophie auf Psychologie gegründet werde, ist irreführend und, wie RIEHL sie in Anspruch nimmt, falsch. RIEHL erklärt nämlich, daß eine psychologische Grundlegung der Kritik ganz und gar ihrem eigenen Vorhaben widerstreite, und begründet diese Erklärung folgendermaßen: »Wäre die Kritik auf Psychologie oder Anthropologie gegründet, so würde sie sich auf einen Teil der Erfahrung stützen.« Ganz zweifellos würde die Kritik das tun. Warum sollte sie auch wohl nicht? - »Sie würde nicht die Prüfung der Bedeutung und Tragweite der allgemeinen Erfahrungsbegriffe sein können. Sie würde vielmehr die Gültigkeit dieser Begriffe für den Umkreis der persönlichen und überhaupt der psychologischen Empirie voraussetzen.« Gewiß werden wir die Gültigkeit dieser Begriffe voraussetzen. Dabei begehen wir aber durchaus keinen Zirkel. Denn die Kritik will ja gar nicht die Gültigkeit dieser Begriffe beweisen, sondern sie nur als solche aufweisen, nämlich als Begriffe, die wir für alle Erfahrung voraussetzen müssen, die Bedingungen der Möglichkeit 19
J. F. Fries. System der Metaphysik. § 27. S. 155.
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der Erfahrung sind. Versteht Herr RIEHL unter der »Prüfung der Bedeutung und Tragweite der allgemeinen Erfahrungsbegriffe« etwas anderes, so ist es seine Schuld, wenn eine solche Prüfung in einen Zirkel gerät. Die Kritik der Vernunft von KANT und FRIES hat mit einer derartigen Prüfung keine Gemeinschaft. »Die innere Erfahrung hat vor der äußeren in bezug auf die Festigkeit und die Evidenz ihrer Grundlagen nichts voraus, wohl aber steht sie derselben in bezug auf die Anwendbarkeit der logischen Erfahrungsgrundsätze bei weitem nach.« Eben dieser vermeintliche Mangel ist einer der Hauptvorzüge, durch die sich die innere Erfahrung als einen Leitfaden der Spekulation empfiehlt. Denn wir umgehen dadurch den Streit um die philosophischen Prinzipien und setzen an seine Stelle den viel sichereren Weg der Beobachtung. »Subjektiv notwendig ist die Halluzination so gut wie die Wahrnehmung eines wirklichen Gegenstandes.« (S. 297.) FRIES' Kritik behandelt aber gar nicht die Frage, welche Vorstellungen »subjektiv notwendig« sind, sondern die Frage, welche Vorstellungen in der reinen Vernunft entspringen. »Der Begriff der Erfahrung ist der feste Grund, die einzige Voraussetzung der Kantischen Erkenntnistheorie.« (S. 303.) Also aus einem einzigen Begriff hätte KANT seine ganze Erkenntnistheorie entwickelt? Derselbe KANT, der nachgewiesen hat, daß aus einem Begriff nur analytische Urteile entspringen und daß aus bloßer Logik keine Wissenschaft möglich ist? »Die beiden Fragen: wie entstehen Vorstellungen, und: sind Vorstellungen gültig, mit dem Objekte übereinstimmend, d. i. enthalten sie gegenständliches Wissen, sind ganz verschiedene Fragen. Die letztere läßt sich durch keine Psychologie jemals entscheiden.« In der Tat, das sind zwei verschiedene Fragen. Und auch darin hat RIEHL recht, daß sich letztere durch keine Psychologie jemals entscheiden läßt. Aber die Frage, ob unsere Vorstellungen mit dem Gegenstande übereinstimmen, läßt sich ebensowenig durch irgendeine andere menschliche Wissenschaft entscheiden. Denn es ist uns nicht möglich, aus unserer Erkenntnis herauszutreten und sie mit dem Gegenstande zu vergleichen; sondern darüber bleibt ein jeder
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dem Vertrauen zu seiner Vernunft überlassen. Suchen wir indessen nicht diese objektive Wahrheit der Übereinstimmung mit dem Gegenstande, sondern die innere Wahrheit der Übereinstimmung unserer Erkenntnisse untereinander, so wird uns, was die philosophische Erkenntnis betrifft, die Psychologie sehr gute Dienste leisten, um die mittelbare Erkenntnis der Reflexion mit der unmittelbaren Erkenntnis der Vernunft zu vergleichen und dadurch über die Gültigkeit der ersteren zu entscheiden. »Die Formel des Problems der Vernunftkritik lautet: wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Die Aufgabe, die in dieser Frage ausgedrückt wird, ist eine allgemein philosophische, oder in KANTS Sprache eine metaphysische; demnach kann ihre Lösung nur aus Begriffen erfolgen.« (S. 315). Diese Aufgabe ist aber durchaus keine philosophische, sondern eine kritische; wie RIEHL selbst sagt, ein Problem der Vernunftkritik. Mit demselben Recht hätte RIEHL sie eine mathematische nennen können, da sie sich auf die synthetischen Urteile a priori der Mathematik ebenso bezieht wie auf diejenigen der Philosophie. Am allerwenigsten hat KANT selbst die Torheit begangen, sie »eine metaphysische« zu nennen. Wie sollte auch die Aufgabe eine metaphysische sein und ihre Lösung aus bloßen Begriffen erfolgen, da sie selbst erst entscheiden soll, ob Metaphysik, d. h. Wissenschaft aus bloßen Begriffen überhaupt möglich ist. Man sollte doch etwas genauer zusehen, ehe man einen KANT solcher Unbesonnenheit verdächtigt. Auch H. CoHEN hat sich durch den oben nachgewiesenen logischen Fehler zu einem Streite gegen den angeblichen »anthropologischen Irrtum« 20 der Vertreter der psychologischen Auffassung der Kritik verleiten lassen. Ehe wir uns aber auf diesen Streit einlassen, können wir folgendes feststellen. Wir haben bereits oben allgemein gezeigt, daß jeder andere als empirisch-psychologische Versuch einer Begründung der metaphysischen Prinzipien auf das unmögliche Unternehmen hinausläuft, aus bloßer Logik Metaphysik zu machen. Dies können wir an dem 26
H. Cohen. Kants Theorie der Erfahrung. 2. Aufl. 1885. S. 298.
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von CoHEN selbst gegebenen Beispiel einer vermeintlich nicht psychologischen Behandlung des kritischen oder - wie er es mit Vorliebe bezeichnet - transzendentalen Problems demonstrieren. Wir können zeigen, daß die Antworten, die wir hier auf diese Frage erhalten, nur entweder als leere analytische Sätze oder als verkannte psychologische Erklärungen aus innerer Erfahrung aufgefaßt werden können 21 • Wie lautet nämlich der »oberste Grundsatz«, aus dem die Grundsätze »entspringen müssen« (S. 140)? - »Daß wir Notwendigkeit anerkennen wollen in demjenigen Gebiete unseres Bewußtseins, welches als Wissenschaft, als mathematische Naturwissenschaft ausgezeichnet ist.« (S. 139.) - Dies ist ein analytischer Satz; oder wäre es nicht der Begriff der mathematischen Naturwissenschaft, die Verknüpfung der Wahrnehmungen nach notwendigen Gesetzen zu sein? Aus diesem analytischen Satz sollen die metaphysischen Grundsätze entspringen und abgeleitet werden? Oder sollte es anders gemeint sein, nämlich so: wir wollen Notwendigkeit anerkennen in einem Gebiete unseres Bewußtseins, und dadurch, daß wir sie anerkennen, machen wir es zur mathematischen Naturwissenschaft? Das aber wäre eine psychologische Tatsache, eine Erkenntnis aus innerer Selbstbeobachtung. Wir haben das Bedürfnis, notwendige Gesetze anzunehmen und ihnen gemäß den Gehalt unserer Sinnesanschauung zu verknüpfen; das wäre eine Tatsache, von der wir sehr wohl ausgehen könnten. Aber die obersten Naturgesetze werden nie und nimmer aus einer psychologischen Tatsache entspringen können. Das wäre ja gerade, was CoHEN am meisten verabscheut, eine Verquickung der höchsten philoso21
Schon STUMPF hat auf den tautologischen Charakter der Cohenschen Erklärungen hingewiesen. (Psychologie und Erkenntnistheorie. Abhandl. der phil. hist. Kl. der Kgl. Bayr. Akad. der Wiss. XIX. Bd. S. 465-516.) Andererseits sind die logischen Irrtümer der von CoHEN gegen FRIES gerichteten Polemik soweit diese überhaupt auf logischen Fehlern und nicht auf falschem Referat beruht - bereits von GRAPENGIESSER für jeden Denkenden zur Genüge nachgewiesen worden. (Die transzendentale Deduktion. Zeitschr. für Philosophie und phil. Kritik. 65. Bd. Heft 1 u. 2, 66. Bd. Heft 1.) Da indessen die Ausführungen beider unbeachtet geblieben zu sein scheinen, habe ich hier versucht, von einem anderen, allgemeineren Gesichtspunkte aus die Nichtigkeit der Cohenschen Argumentationsweise darzulegen.
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phischen Grundgesetze mit psychologischen Tatsachen. Und doch sehen wir hier deutlich, wie CoHEN blindlings dieser Verquickung anheimfällt, so sehr er auch dagegen protestiert. Wie er auch die terminologische Fassung seines »obersten Grundsatzes« variiert, immer bleibt nur die Wahl, ob man ihn als einen leeren analytischen Satz oder als den verkappten Ausspruch einer psychologischen Selbstbeobachtung auffassen will. So gleich darauf: »Nur das allein kann Leitstern des Gesetzes sein: daß ein Gesetz walten solle in dem Gebiete der Erfahrung« oder »daß wir Gesetze haben müssen, sofern wir Wissenschaft haben wollen«. (S. 591.) Natürlich ließe sich auch nicht einmal psychologisch irgend etwas daraus herleiten. Denn wenn ich die Gesetze nicht schon in meiner Vernunft besitze, so kann mir kein Wollen dazu verhelfen, sie mir auszudenken. Denn ich schaffe sie nicht durch meinen Willen, sondern mein Bewußtsein findet sie vor, allerdings nur, wenn es willkürlich reflektiert. Aber Willkürlichkeit der Reflexion ist von der Selbsttätigkeit der Vernunft grundverschieden. Man sieht auch hier wieder, wie nahe CoHEN bei FICHTE steht, ohne es selbst zu bemerken oder bemerken zu wollen. Und von seinem Standpunkt aus sind seine Einwürfe gegen FICHTE in der Tat recht schwach und inkonsequent. »Woher nehmen >wir selbst< dasjenige, was wir in die Dinge legen müssen, um etwas a priori an ihnen zu erkennen? Wenn jetzt die Antwort lautet: aus dem Bewußtsein, so denken wir das Bewußtsein als den Inbegriff der Mittel und Methoden, die jenes >Hineinlegen< ausmachen.« (S. 142.) - Diese »Antwort« gibt uns, in einem anderen Wort, die Frage rein zurück: Wir nehmen dasjenige, was wir in die Dinge hineinlegen, aus dem Inbegriff der Mittel und Methoden, die das Hineinlegen ausmachen. Indem wir aber diesem Inbegriff, dessen Herkunft erklärt werden sollte, den zweideutigen Namen »Bewußtsein« geben, täuschen wir den ungründlichen Leser über die nichts besagende Leerheit dieser logischen Formel hinweg. Nicht stichhaltiger sind die historischen Argumente, die dem Texte der Kantischen Kritik entlehnt werden. »Der oberste Grundsatz heißt ... vorzugsweise der der >Einheit
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Kritische Methode - Psychologie und Philosophie
der ApperzeptionSynthetische Einheit der Apperzeption«< (S. 142.) - Also der »systematische Gegensatz zur Materie« (S. 141) soll nicht psychologisch gefaßt werden? Wenn Herr CoHEN uns wenigstens darüber belehren wollte, welcher Gegensatz zwischen psychologisch und synthetisch bestände. Das ganze Raisonnement reiht nur eine willkürliche Behauptung an die andere. Zum Beweise, daß in der Kantischen Kritik der reinen Vernunft »Sinnlichkeit kein Seelenvermögen« bedeute, zitiert CoHEN KANTS Satz: »Diese Fähigkeit (Rezeptivität), ... Vorstellungen zu bekommen, heißt Sinnlichkeit« und bemerkt dazu: »Es steht nichts von Kraft oder Vermögen in dieser Bestimmung.« (S. 108.) - Aber leider hat CoHEN versäumt, uns über den Unterschied von Fähigkeit und Vermögen aufzuklären. Vielmehr gebraucht er selbst (mit KANT) beide Worte als gleichbedeutend. So S. 301: »Solcher ursprünglicher Quellen, Fähigkeiten oder Vermögen der Seele nimmt KANT drei an: Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption.« »Von wirklichen Dingen, denen eine die Eindrücke derselben aufnehmende Subjektivität begegnete, ist nirgends die Rede.« (S. 154.) - Auch nicht im folgenden, von CoHEN selbst zitierten Satze: »Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Sinnlichkeit, sofern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung«? (S. 109.) - »Man hat KANT nicht zu lesen, sondern sich in ihn zu versenken«; so gebietet Herr CoHEN seinen Schülern22 • Ich dächte aber doch, daß derjenige, der andere über KANT zu belehren oder gar ihn selbst weiterzubilden beansprucht, besser täte, ihn zuvor zu lesen. Nicht anders steht es mit folgender Interpretation: >»Von Objekten affiziert werden< ... bedeutet nichts anderes als die Anschauung ... Auf >affiziert zu werden< folgt: >und dadurch unmittelbare Vorstellung derselben, d. i. Anschauung zu bekommen.«< (S. 165.) - Demnach lehrt also KANT, daß wir durch An22
H. Cohen. Rede bei der Gedenkfeier der Universität Marburg zur hundertsten Wiederkehr des Todestages von IMMANUEL KANT. Marburger akademische Reden. 1904. Nr. 10. S. 30.
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schauung Anschauung bekommen. Dies sind, dem »Genius« KANT gegenüber, die Früchte jener »vollen Hingabe, ohne die sich kein Geist begreifen läßt, dem man nicht gleicht«. (S. IX.) Wenden wir uns nun zu dem Angriff CoHENS gegen den »anthropologischen Irrtum« (S. 298) der Vertreter der psychologischen Kritik. Es »scheint« ihm »zweckdienlich« (S. 373), die Ansichten von FRIES und APELT zu »würdigen«, und zwar in folgender Weise. »Die metaphysische Deduktion, wenn man sie nicht als Vorbereitung der transzendentalen einhält, läßt in der Tat der Vermutung und der Ansicht Raum, daß sie die psychologische Erklärung nicht nur, was ihre Aufgabe ist, einschränke, sondern daß sie dieselbe vielmehr fortführe und erfülle. Wenn sie die formalen Bedingungen der Erfahrung als die Formen des Bewußtseins nachweist, so liegt es freilich sehr nahe, hierbei an die des menschlichen, persönlichen zu denken, und nicht ausschließlich an die des wissenschaftlichen.« (S. 374.) - Ohne mich hier auf einen Streit über die Mythologie vom unmenschlichen und unpersönlichen Bewußtsein einlassen zu wollen, frage ich vielmehr nur: Wo wäre es FRIES eingefallen, daß die metaphysische Deduktion es mit einer »Erklärung« zu tun habe? Das Phantom der Gefahr, die CoHEN wittert, existiert überhaupt gar nicht. » Wenn man das >bewirkt werden< ... anthropologisch versteht, so ist schon die Frage nach dem Bewirken dieser Analogie zwischen logischen und metaphysischen Formen unstatthaft und unverständlich.« Die Behauptung der Unstatthaftigkeit dieser Frage hätte CoHEN begründen sollen. Der Umstand, daß die Frage ihm unverständlich ist, braucht seinen Grund nicht in der Frage zu haben. Uns ist sie nicht nur verständlich, sondern wir haben auch begriffen, daß sie vielmehr einzig und allein »anthropologisch« statthaft und verständlich ist. »FRIES dagegen will anthropologisch diese Analogie nur als solche begreifen; daher sucht und setzt er ein Drittes, in und an welchem jene beiden Formen analog werden.« (S. 375.) FRIES setzt vielmehr überhaupt nichts - die Abenteuer des
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Kritische Methode - Psychologie und Philosophie
transzendentalen Setzergeschäfts hat er seinem Kollegen FICHTE überlassen-, sondern er hat Tatsachen beobachtet und die Resultate seiner Beobachtung aufgeschrieben. Es folgt dann eine Reihe von Zitaten, ohne irgendeinen Versuch einer ernsthaften Widerlegung, bis Seite 377, wo sich der Einwurf erhebt: »So zeigt diese Auffassung der transzendentalen Apperzeption selbst ihre Unzulänglichkeit, indem FRIES zu ihrer Ergänzung einer ,formalen Apperzeption< bedarf.« Ein eigentümliches Kriterium der Unzulänglichkeit. Zeigt vielleicht auch die Kritik der reinen Vernunft selbst ihre Unzulänglichkeit, indem KANT zu ihrer Ergänzung einer Kritik der praktischen Vernunft bedarf? Aber überdies ist die Behauptung völlig unwahr, daß FRIES die formale Apperzeption zur Ergänzung der transzendentalen eingeführt habe, da vielmehr bei FRIES die formale Apperzeption nichts anderes bedeutet als das, was KANT unbestimmter die Einheit der transzendentalen Apperzeption nennt23 • Daß in FRIES' Vernunftkritik außer dem Buchstabenkomplex t-r-a-n-sz-e-n-d-e-n-t-a-1-e-A-p-p-e-r-z-e-p-t-i-o-n noch der andere f-o-rm-a-1-e-A-p-p-e-r-z-e-p-t-i-o-n vorkommt, kann Herrn CoHEN doch wohl nicht zu seiner Behauptung berechtigen. »Als ,Gedächtnis< wird die unmittelbare Erkenntnis bezeichnet.« (S. 378.) - Es ist zu bedauern, daß Herr CoHEN es unterlassen hat, die Stelle anzugeben, an der FRIES einen so groben Fehler begeht, da diese Stelle seinen Lesern bisher nicht bekannt geworden ist. »Wäre es nicht klarer und tiefer, die Einheit nicht als GrundVorstellung, sondern als die Grundbedingung des Bewußtseins und somit der Erfahrung zum obersten Grundsatz derselben zu machen?« - Nicht klarer und tiefer wäre es, sondern Vermengung der Philosophie mit Psychologie, die CoHEN um so ärger betreibt, je lebhafter er gegen sie protestiert. »FRIES geht jedoch so weit in seiner anthropologischen Verblendung, daß er in die unmittelbare Erkenntnis auch das höchste Wertzeichen der Vorstellung setzt: die objektive Gültigkeit.« 23
J. F. Fries. Neue Kritik der Vernunft. § 93.
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In der Tat; in der Unmittelbarkeit der Erkenntnis hat FRIES ein Kriterium ihrer objektiven Gültigkeit entdeckt. Daß dies aber Verblendung sei, ist ein unbegründeter Vorwurf. Was haben derartige Behauptungen für einen wissenschaftlichen Wert? Unkundige mögen sich durch eine solche Behauptung blenden lassen; uns wird sie so lange bedeutungslos erscheinen, bis man uns die Hinfälligkeit der Friesschen Entdeckung nachweisen wird. Zu diesem Nachweis hätte sich Herr CoHEN freilich auf die Begründung einlassen müssen, die FRIES der Sache gegeben hat. Das aber hat ihm nicht »zweckdienlich« geschienen. Das sei der »Grundfehler dieser gesamten Ansicht, daß FRIES ... die empirisch-anthropologische Natur des unmittelbaren Bewußtseins zum Eckstein gemacht hat«. (S. 379.) Wenn Herr CoHEN der Friesschen Unterscheidung der unmittelbaren Erkenntnis vom Bewußtsein nicht folgen kann oder will, so hätte er nichtsdestoweniger richtig referieren können und sollen. Freilich, wenn er seine »volle Hingabe« bereits an den »Genius« KANT verausgabt hat, was sollte ihn dann noch veranlassen, dem »anthropologisch verblendeten« FRIES diese schuldige Achtung zu erweisen2 4• Nach Vollziehung dieser Exekution wird der unglückliche APELT auf das Prokrustesbett der Cohenschen Interpretationslogik gespannt. »APELT macht diese transzendentale und formale Apperzeption zur >spekulativen Grundform aller metaphysischen Erkenntnishinter< dem Bewußtsein. Und diese lokalen und optischen Bestimmungen wiederholen sich durchgängig. >Im dunkeln Innern unsrer Erkenntnis< liegt die ursprüngliche formale Apperzeption >hinter dem Bewußtsein ... «< Man müßte annehmen, daß Herr CoHEN zu scherzen beliebt wenn dies nicht durch den Ernst dieser wissenschaftlichen Angelegenheit ausgeschlossen wäre. Es wäre dies einer der »Späße«, von denen CoHEN urteilt, daß sie »bei so wichtigen Fragen nicht bloß schlecht angebracht sind, sondern auch bei der groben Natur dieser 25
E. F. Apelt. Metaphysik. § 45.
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Scherze kein Zeichen von geistiger Freiheit sein dürften«. 26 - Aber gleichviel; die »lokalen und optischen Bestimmungen« sind verwerflich? Warum redet dann wohl Herr CoHEN so viel von »logischen Örtern« (S. 467), von »Ausstrahlungen des Ichs« (S. 373), von »Entfaltungen der Apperzeption« (S. 373), von der »Gesichtsweite des Apriori« (S. 352), und warum läßt er seine Grundsätze »die Wege der Erfahrung beleuchten« (S. 474)? Ja, noch mehr, warum »erscheint« bei ihm das »Transzendental-Apriori« »eingefügt« in den »Mutterleib« (S. 352) und »in der transzendentalen Apperzeption geboren« (S. 307)? So verfährt Herr CoHEN, wo es sich um rein historische Fragen handelt und wo er bestimmt zu kontrollierende Tatsachen referiert. Zur Charakteristik seiner Behandlung rein sachlicher Fragen wird neben dem oben Besprochenen folgendes Beispiel genügen. »Im Geiste der transzendentalen Ästhetik könnte man dem Beispiele für das analytische Urteil entgegenhalten: daß ein Körper ausgedehnt sei, sei vielmehr ein synthetisches Urteil. Denn woher nähme ich dasselbe, wenn nicht aus der apriorischen Raumesanschauung. Nun ist aber daran gar kein Zweifel, daß in diesem Sinne das Urteil durchaus als synthetisch gelten muß.« (S. 400.) Den Begriff des Körpers nehme ich allerdings aus der Raumanschauung, aber nie und nimmer das Urteil, daß der Körper d. h. das Ausgedehnte - ausgedehnt sei. Und darum ist und bleibt das Urteil ein analytisches. Die Kenntnis des Unterschiedes von Urteil und Begriff hat KANT freilich bei seinen Lesern vorausgesetzt. CoHEN selbst nennt es zwar beachtenswert (S. 401), wenn KANT zu dem analytischen Beispiele »Gold ist ein gelbes Metall« sagt: »Um dieses zu wissen, brauche ich keiner weiteren Erfahrung 26
H. Cohen. Logik der reinen Erkenntnis. S. 74. APELT sagt ausdrücklich: »Weil es keine anschauliche Form der Nebenordnung in innerer Erfahrung, kein Analogon des Raumes gibt, so gibt es auch keine anschauliche Stellengebung der gleichzeitig vorhandenen Tätigkeiten meines Innern und mithin auch keine leeren Stellen für die dunkeln Tätigkeiten meines Vorstellens und Erkennens. Hierin liegt die Unmöglichkeit einen Ort der Dunkelheit in meinem Innern anzugeben.« (Metaphysik. § 45.)
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Kritische Methode - Psychologie und Philosophie
außer meinem Begriffe vom Golde«, läßt sich aber dadurch keineswegs hindern, gleich darauf zu schreiben: »Alle Sätze, welche von Gegenständen der Erfahrung gelten wollen, sind synthetische.« (S. 404.) Welche Aufklärungen und welche Fortbildung der Kantischen Philosophie kann man von demjenigen erwarten, der noch nicht einmal den Unterschied der analytischen und synthetischen Urteile, dies Abc Kantischer Philosophie, gefaßt hat? Doch hat sich Herr CoHEN neuerdings selbst mit hinlänglicher Deutlichkeit über sein Verhältnis zur Logik erklärt: »Wir bekämpfen nicht nur ihr (der »sogenannten formalen Logik«) sachliches Recht; wir bestreiten auch ihre reale Existenz.« 27 - Es ist zu hoffen, daß diese Erklärung recht bald die verdiente Berücksichtigung finden möge. Schließlich stelle ich allen diesen Angriffen, die - wie ich nunmehr zu behaupten berechtigt und genötigt bin - lediglich aus unverzeihlicher Mißdeutung und Entstellung der von FRIES mit größter Klarheit und Gründlichkeit entwickelten Lehre von der Deduktion hervorgegangen sind, noch eine Stelle aus FRIES' Metaphysik-1824 - entgegen28 : »Das Eigentümliche meiner Forderung der Deduktionen und die Berufung auf psychische Anthropologie, um diese Deduktionen zu geben, ist wiederholt auch von scharfsinnigen Männern mißverstanden und mein Philosophem darum widerrechtlich zu den empirischen gerechnet worden. Der Grund dieses Mißverständnisses scheint mir darin zu liegen, daß in der Logik der Schule die Lehre von der Begründung der Urteile nicht gründlich genug behandelt war und daher meine Begründung der philosophischen Prinzipien mit Beweisen derselben verwechselt wurde. Wer jetzt meine ausführlichem Erläuterungen der Sache ansieht, wird diesen Fehler nicht mehr begehen können.«
27
H. Cohen. Logik der reinen Erkenntnis. 1902. S. 430.
28
J. F. Fries. System der Metaphysik.§ 23. S. 117 f.
Jakob Friedrich Fries und seine jüngsten Kritiker
Erschienen in: Abhandlungen der Friesschen Schule, neue Folge. Herausgegeben von GERHARD HESSENBERG, KARL KAISER und LEONARD NELSON. Erster Band, zweites Heft. Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht 1905, S.233-319 ( die Abschnitte der Arbeit beginnen dort auf den folgenden Seiten: 1 auf S. 239; II auf S. 248; III auf S. 257; IV auf S. 270; v auf S. 276; VI auf S. 301; VII auf S. 313; Schlußwort auf S. 318) Die Arbeit wurde zunächst 1904 als lnaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde in Göttingen veröffentlicht. NELSON bestand die mündliche Prüfung dort am 29. Juli 1904. Die Arbeit erschien dann vollständig in den Abhandlungen der Friesschen Schule, ergänzt durch das »Schlußwort« (Seite 149 f.), das im Sonderdruck der Dissertation fehlt.
Einleitung über die Wahrheit in der Philosophie Man hat in neuerer Zeit von einem »Kant-Friesischen Problem« gesprochen. Man hat dabei an die von KuNo FISCHER in seiner Prorektoratsrede 1862 erörterte Frage angeknüpft, »ob die Vernunftkritik metaphysisch oder anthropologisch sein solle«, eine Frage, die gleichbedeutend ist mit derjenigen, ob die wahre Fortbildung der von KANT begründeten kritischen Philosophie bei den deutschen Identitätsphilosophen oder bei FRIES zu suchen sei. KuNo FISCHER selbst entscheidet zwar gegen FRIESENS anthropologische Auffassung der Kritik, meint indessen doch, daß diese »anthropologische Auffassung der Kritik in die Entwicklung der kritischen Philosophie gehöre«, und daß es »von großer Bedeutung sei, daß ein bedeutender Denker wie FRIES sie annahm und durchführte«. » Verliere« auch infolge dieser Auffassung »die Vernunftkritik ihre ganze Bedeutung«, so sei doch die Durchführung derselben »sein großes, geschichtlich denkwürdiges Verdienst«. Fragt man aber angesichts dieser Beurteilung: »Wo bleibt die Wahrheit?«, so lautet FISCHERS Antwort: Eine »allzeit fertige Wahrheit kenne der echte Geist der Philosophie nicht«, in der Philosophie gelte vielmehr der Satz: »Wahre Probleme sind auch Wahrheit.« Und »die Frage, ob die Vernunftkritik metaphysisch oder anthropologisch sein solle«, sei ein solches »echtes, in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Philosophie seit KANT unvermeidliches Problem 1 «. Eine andere als eine solche problematische Wahrheit scheint in der Tat FRIESENS Beteiligung an der Ausbildung der deutschen Philosophie seit dieser Darlegung K. FISCHERS nicht mehr zuerkannt worden zu sein. Und so ist seitdem FRIESENS Name und Verdienst in der wissenschaftlichen Welt nahezu als verschollen zu betrachten. Abgesehen von den wenigen literarischen Erzeugnissen der Friessehen Schule und von einigen Stellen, an denen einer oder der andere der sogenannten Neukantianer der Friesschen Wendung der Kritik eine wegwerfende Bemerkung schenkt, davon abgesehen 1
Kuno Fischer. Die beiden kantischen Schulen in Jena. Rede zum Antritt des Prorektorats, den 1. Februar 1862. S. 19 u. 20.
Fries und seine jüngsten Kritiker
kommt fast nur einigen jüngeren Gelehrten das Verdienst zu, sich der Erhaltung seines Namens angenommen zu haben. Diese haben, im Anschluß an K. FISCHER, es sich angelegen sein lassen, in besonderen Darstellungen die verkehrte Art seines Philosophierens den Zeitgenossen als abschreckendes Beispiel vorzuhalten und im Vernichtungskampfe gegen seine rückschrittlichen Tendenzen ihre jugendlichen Kräfte zu erproben. Bereits der erste unter diesen hat, nach seiner eigenen Aussage, »nicht bloß den Kernpunkt der Friesschen Philosophie getroffen, sondern ist der Friesschen Anmaßung bis in ihre letzten und äußersten Schlupfwinkel gefolgt2 «. Dennoch fühlten sich andere berufen, den Kampf von neuem zu beginnen, sei es nun, um dem nur Scheintoten den völligen Garaus zu machen, sei es, um den Toten auch in dem Schlupfwinkel seines Grabes aufzustören. Diese sich immer wiederholenden Widerlegungen bieten ein höchst seltsames Schauspiel. Warum bedarf es immer erneuter Prüfungen und Zurückweisungen der Friesschen Anmaßung? Steckt das Friessche Philosophem so voller Irrtümer und Verkehrtheiten, daß sie sich gar nicht in absehbarer Zeit alle ausrotten lassen? Bedarf es vielleicht darum immer weiterer Polemik, weil des Unsinns zu viel ist, um mit ihm gänzlich aufzuräumen? Ist dies letztere nicht der Fall, ist FRIES wirklich endgültig widerlegt, so sollte man ihn doch ein für allemal ad acta legen. Die Frage verlohnt daher einer Prüfung, ob man, nach dem heutigen Stande der Literatur, annehmen darf, daß eine solche endgültige Widerlegung stattgefunden hat. Läßt sich zeigen, daß die Hinfälligkeit seines Philosophems bereits bestimmt erwiesen ist, so könnte dieser Nachweis, sollte er auch sonst kein Interesse beanspruchen, doch insofern nützlich sein, als dadurch zukünftigen Forschern die Arbeit eines abermaligen Eingehens auf diesen FRIES und eine nochmalige Auseinandersetzung mit ihm erspart würde. 2
Fritz Freiherr von Wangenheim. Verteidigung Kants gegen Fries. Inaugural-Dissertation. Halle a. S. 1876. S. 7. Vgl. auch: Hermann Strasosky. Jacob Friedrich Fries als Kritiker der kantischen Erkenntnistheorie. Eine Antikritik. Inaugural-Dissertation. Hamburg und Leipzig 1891.
Einleitung. Ober die Wahrheit in der Philosophie
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Denkt man an KuNo FISCHERS Ausspruch: eine allzeit fertige Wahrheit kenne der echte Geist der Philosophie nicht, so läßt sich freilich die Vermutung nicht abweisen, daß das merkwürdige Schauspiel der nicht enden wollenden Reihe von Widerlegungen der Friesischen Vernunfl:kritik vielleicht noch einen andern Grund habe. So recht nämlich auch K. FISCHER seinerzeit gehabt haben mag, als er das »n:QciJtov '/'Eiiöo~« der Friesischen Kritik und die »verwundbare Stelle an ihrem anthropologischen Grundgedanken8« aufdeckte, so möchten doch vielleicht jene jüngeren Kritiker nicht bedacht haben, daß die Zeit der Wahrheit der Fischersehen Entdeckung bereits überschritten gewesen sei. Falls diese Vermutung zuträfe, würden wir den in der Philosophie nicht seltenen und sogar den echten philosophischen Geist jener Fischersehen Entdeckung kennzeichnenden Fall vor uns haben, daß der Entdecker die Zeit der Wahrheit seiner eigenen Entdeckung überlebt habe. In diesem Falle würde das Bedürfnis einer stets fortgesetzten Erneuerung der Kritik der Friesischen Philosophie in der Unzulänglichkeit dieser Kritik eine ungezwungene Erklärung finden. Diese Vermutung wird auch noch durch eine andere Erwägung nahegelegt. FRIES war nämlich, wie einer seiner jüngsten Kritiker in einem »das Ganze zusammenfassenden Urteil über ihn« treffend sagt, ein »Wissenschafüer«4, speziell ein Mathematiker und Naturwissenschafüer. Seine ganze Arbeit, soweit sie dem Gebiete der theoretischen Philosophie angehört, ist der Grundlegung der mathematischen Naturwissenschafl: gewidmet. Seine eigenen Leistungen auf dem Gebiete der Mathematik, der Astronomie, der Physik und der Physiologie wurden von den großen Mathematikern und Naturforschern seines Zeitalters, von Männern wie GAuss, MöBrns, ScHLÖMILCH, ALEXANDER VON HUMBOLDT und SCHLEIDEN außerordentlich hoch geschätzt. In der Mathematik und in den Naturwissenschaften gilt aber nicht der Satz, daß wahre Probleme auch Wahrheit seien und daß es keine allzeit fertige Wahrheit gebe. Der 3 4
a.a.O., S. 18 f. A. Hermann Leser. Die zwei Hauptmomente der kritischen Methode Kants und ihr Verhältnis zur Methode von Fries. Inaugural-Dissertation. Dresden 1900. s. 29.
Fries und seine jüngsten Kritiker
Mathematiker und Naturforscher sucht die Wahrheit nicht in den Problemen, sondern einzig und allein in der Auflösung der Probleme. Diese Wahrheit gewinnt er durch Anschauung und durch Induktion aus Experiment und Beobachtung, und wenn er sie einmal gefunden hat, so bleibt sie ihm unabänderlich stehen, unbekümmert um alle Spekulationen der Philosophen. Was daher vor hundert Jahren mathematische und naturwissenschaftliche Wahrheit war, ist es auch noch heute. Und so könnte sich denn vielleicht bei einer Prüfung herausstellen, daß FRIESENS Arbeiten, so fremd sie jenem echten philosophischen Geiste auch sein mögen, vielleicht gerade für die prinzipiellen mathematisch-naturwissenschaftlichen Angelegenheiten unserer Tage sich desto wertvoller erweisen.
I Fries' Verhältnis zur genetischen Methode 5
Es ist gemeinhin die Ansicht verbreitet, es sei eine Forderung der wissenschaftlichen Gerechtigkeit, sich bei einem philosophischen Streit auf den Standpunkt des Gegners zu versetzen und auf seine Voraussetzungen einzugehen. Diese Forderung erscheint uns indessen nirgend so ungerechtfertigt wie gerade in der Philosophie. Denn den richtigen Standpunkt überhaupt erst zu gewinnen und 5
Die Werke von Fries zitiere ich mit folgenden Abkürzungen: V. d. P. z. M. - über das Verhältnis der empirischen Psychologie zur Metaphysik. In Carl Christian Erhard Schmids Psychologischem Magazin. 3. Bd. 1798.
R. F. u. S. - Reinhold, Fichte und Schelling. 1803. N. K. d. V.1 - Neue Kritik der Vernunft. 3 Bde. 1807. N. K. d. V. 2 - Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft. 2. Auflage. 1828-31. S. d. L.- System der Logik. 1. Aufl. 1811, 2. Aufl. 1819, 3. Aufl. 1837. E. - Handbuch der praktischen Philosophie. 1. Teil. Ethik. 1818. Ps. A. - Handbuch der psychischen Anthropologie. 1. Aufl. 1820-21; 2. Aufl. 1837-39. M. N. - Die Mathematische Naturphilosophie. 1822. P. S. - Polemische Schriften. 1824. S. d. M. - System der Metaphysik. 1824. G. d. Ph. - Die Geschichte der Philosophie. 2 Bde. 1837-40.
I. Fries' Verhältnis zur genetischen Methode
die richtigen Voraussetzungen zuerst aufzufinden, möchte eben die Hauptschwierigkeit in der Philosophie sein, und somit auch dasjenige, um das zu streiten vorzüglich der Mühe lohnt. Hat man nämlich erst einmal den rechten Standpunkt eingenommen, so dürfte alles weitere verhältnismäßig leichtes Spiel sein; denn ist man erst im Besitz der richtigen Voraussetzungen, so beschränkt sich das noch übrige Geschäft in der Philosophie - wo es doch nicht, wie in anderen Wissenschaften, darauf ankommt, den allgemeinen Voraussetzungen erst aus der Erfahrung das Feld ihrer Anwendungen zu verschaffen - lediglich darauf, die Konsequenzen aus denselben zu ziehen, die doch mit jenen Voraussetzungen stehen und fallen. Hat man sich über den Standpunkt und den Ausgangspunkt des Schließens geeinigt, so wird man sich mit gutem Willen auch bald über die Entwicklung der Resultate einigen können. Damit also diese Entwicklung der Resultate einen Zweck und Wert erhalte, wird es nötig sein, zuvor den Ausgangspunkt sicherzustellen. Dieser wird daher in einem wissenschaftlichen philosophischen Streite zunächst allein den Gegenstand der Untersuchung bilden müssen. Das heißt aber nichts anderes als: aller wahrhaft fördernde Streit in der Philosophie wird der Streit um die rechte Methode zu philosophieren sein, und man wird das Streiten um die Resultate so lange aussetzen müssen, bis man sich darüber geeinigt hat, auf Grund welcher Methode man zu den _Resultaten gelangen will. Nach dieser Regel werden wir den Streit um die Friesische Philosophie zu beurteilen haben. Wir werden also zunächst nur fragen, ob die von FRIES befolgte Methode bisher widerlegt worden ist. Kommen wir zu dem Ergebnis, daß die Behauptung von FRIES' Gegnern, er habe in seiner Methode zu philosophieren fehlgegriffen, zu Recht besteht, so sind wir damit zugleich aller Mühe überhoben, noch ferner auf die Kritik der Resultate seines Systems einzugehen. Die Frage nach der richtigen Methode zu philosophieren ist in neuerer Zeit wiederholt zum Gegenstande besonderer Erörterungen gemacht worden. Dabei handelt es sich überall um einen Gegensatz zweier Grundansichten, der unter verschiedenen Namen als
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Fries und seine jüngsten Kritiker
der Streit der metaphysischen und anthropologischen 6, der objektiven und subjektiven7, der kritischen und genetischen8, der erkenntnistheoretischen und psychologischen9 oder der transzendentalen und psychologischen10 Methode sich geltend gemacht hat. Auf die Methode von FRIES hat man bei diesen Erörterungen im allgemeinen keine Rücksicht genommen. Wo sein Name erwähnt wird, da geschieht es nur beispielsweise, um einen Repräsentanten der genetischen Methode oder des »Psychologismus« zu nennen. So ist von den Anhängern der »transzendentalen Methode« ohne Ausnahme über ihn als einen Vertreter des »Psychologismus« das Verdammungsurteil gesprochen worden. Einer Definition dieses Terminus hat man sich dabei allerdings allemal überhoben. Wir werden indessen wohl nicht fehlgehen, wenn wir annehmen, daß dadurch nicht eine psychologische Lehre als solche bezeichnet werden soll, sondern nur diejenige tatsächlich psychologische Lehre, die mit dem Anspruch auftritt, eine philosophische zu sein. Psychologismus wäre danach der Standpunkt aller derer, die die Philosophie als eine psychologische Wissenschaft auszubilden suchen. So wird man z. B. die Behauptung von LIPPS, die Logik sei eine psychologische Disziplin 11, als psychologistisch zu bezeichnen keine Bedenken tragen. Ich führe zunächst zum Beleg des Gesagten einige Beispiele an. COHEN urteilt über FRIES unter anderm folgendermaßen: »Die Beziehung der Philosophie auf mathematische Naturwissenschaft hat unter den Kantianern vorzugsweise JACOB FRIEDRICH FRIES, in willkürlicherem Verhältnis auch JOHANN FRIEDRICH HERBART vorgeschwebt . . . Wie dieses Verhältnis jedoch zu gewinnen und zu fixieren sei, das haben beide, wie sehr sie im einzelnen auseinander8 7
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K. Fisd:ter a.a.O. P. Natorp. über objective und subjective Begründung der Erkenntnis. Philosoph. Monatshefte. Bd. XXIII. Heft 5 u. 6. 1887. W. Windelband. Präludien. 1884. Kritische oder genetisd:te Methode? C. Stumpf. Psychologie und Erkenntnistheorie. Abhandl. der phil. hist. Kl. d. Kg!. Bayr. Akad. der Wiss. XIX. Bd. S. 465-516. M. Sd:teler. Die transzendentale und die psyd:tologisd:te Methode. Eine grundsätzliche Erörterung zur philosophisd:ten Methodik. 1900. Theodor Lipps. Grundzüge der Logik. 1893. § 3. S. 1.
I. Fries' Verhältnis zur genetischen Methode
gehen, gemeinsam verfehlt ... Sie gehen darauf aus, ein Seelengemälde von den Vorgängen im Erkennen zu entwerfen, suchen darin die Selbständigkeit philosophischer Arbeit und füllen die Metaphysik wieder mit eigenen Ausgeburten an, anstatt die Grundlagen der Wissenschaft keusch zu empfangen und in der kritischen Charakteristik derselben die erzeugende Mitwirkung der Metaphysik zu rekognoszieren ... Es fehlt ihnen der Begriff der kritischen Methode. Diese Methode ist die transzendentale.« 12 WINDELBAND läßt sich bei seiner Darstellung des Gegensatzes der kritischen und der genetischen Methode folgendermaßen vernehmen: »Der Psychologismus, wie ihn etwa die FRIES und BENEKE darstellen, oder wie er sich in der völkerpsychologischen Richtung neu entwickelt hat, verdankt die große Überlegenheit, die er den entsprechenden früheren Theorien gegenüber zweifellos besitzt, lediglich dem Anschluß an die kritische Philosophie. Das ist die Größe des Kantianismus, daß er alle seine Gegner veredelt hat.« 18 - Ganz ähnlich äußert sich DR. MAx ScHELER: »FRIES, der die psychogenetische Methode auf die Aprioritätslehre KANTS im Geiste von LEIBNIZ anwandte, fand noch keine so bestimmte Gegnerschaft von solchen vor, welche die transzendentale Methode allein als die rechte Methode der Erkenntnistheorie behaupteten, als daß sich seine Methode rein dabei herausgebildet hätte.« 14 - Und in der neuesten Beurteilung der Friesischen Philosophie lesen wir: »Dem Gegensatz zwischen Psychologismus und Neukantianismus in der gegenwärtigen Philosophie entspricht der Gegensatz zwischen der »Neuen Kritik der Vernunft« von FRIES und der Kantischen Vernunftkritik, so wie sie von der Mehrzahl der Ausleger aufgefaßt wird.« 15 Den Grund, auf den die genannten Autoren diese Urteile über FRIES stützen, habe ich in den Schriften von FRIES nicht ausfindig zu machen vermocht. Vielmehr weisen alle mir bekannt gewordenen Äußerungen von FRIES auf eine strenge Unterscheidung psy12 13 14
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H. Cohen. Kants Theorie der Erfahrung. 2. Aufl. 1855. S. 579 f. Windelband, a.a.O., S. 248. Seheier, a.a.O., S. 34. Dr. Theodor Elsenhans. Das Kant-Friesische Problem. 1902. S. 1.
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Fries und seine jüngsten Kritiker
chologischer und philosophischer Erkenntnisweise. Was insbesondere die genetisch-psychologische Methode in der Philosophie betrifft, so hat sich FRIES wiederholt mit unverkennbarer Deutlichkeit gegen deren Vertreter unter seinen Zeitgenossen erklärt; und seine eigene Methode bestimmt er gelegentlich geradezu negativ durch den Gegensatz gegen die der genetischen Psychologie. Sie ist »keine Geschichte der Vernunft, wie sie sich im Kinde zum Erwachsenen, zum Greise entwickelt, wie sie mit Wachen und Schlafen erscheint, wie sie nach Mann und Weib, nach Konstitution, Volk und Rasse sich nüanciert, oder wie sie in körperlichen und Geisteskrankheiten verletzt und zerstört wird. Dieses sind Aufgaben für die psychische Anthropologie, wir suchen hingegen eine Beschreibung der Vernunft, um zu einer Theorie derselben zu gelangen ... « 16 - Gegen BENEKE erklärt FRIES sich folgendermaßen: »BENEKE setzt bei dem Vorwurf gegen mich, daß ich das Ende zum Anfang mache, voraus, daß die Psychologie genetische Gesetze des Geisteslebens, die Gesetze der Entstehung desselben geben solle, aber das wird immer eine Täuschung bleiben. Nur den schon zu einer gewissen Reife gediehenen Geist kann ich in mir beobachten, über die Entwicklung des Geistes von der ersten Kindheit herauf kann ich nur Hypothesen machen und diese selbst nur verstehen durch die Vergleichung mit dem schon zu größerer Reife gediehenen Leben ... Ich kann also BENEKES Hoffnung, auf seinem Wege der Psychologie ein ganz neues Heil zu bereiten, gar nicht teilen, mir scheint vielmehr, daß er auf eine ganz irrige Weise zu dem Empirismus der engländischen Schule zurückgekehrt und uns Leibnizianern untreu geworden ist. Seine Methode bringt ihn nämlich ganz um die großen Vorteile, welche die Psychologie von der Kritik der Vernunft erhalten hat. Ich will mich bemühen, ihn auf diesen entscheidenden Punkt aufmerksam zu machen. Der feste Wiederhalt aller unsrer geistigen Selbsterkenntnis liegt einzig in dem Gedankengerüste der synthetischen notwendigen Wahrheiten, deren wir uns nur mit Bewußtsein überhaupt (nach der Kantischen Benennung) bewußt werden, welches Bewußtsein überhaupt in jet&
N. K. d. V. Einleitung.
I. Fries' Verhältnis zur genetischen Methode
der Behauptung eines Urteils lebt und uns nicht eine Geistestätigkeit zeigt, welche uns gestern oder heute oder irgend zu bestimmter Zeit zukommt, sondern die unserm Geiste schlechthin gilt für alle Zeit oder vielmehr ohne dabei der Wandelbarkeit der Zeit zu gedenken. Ihre klarsten Beispiele sind die einleuchtenden mathematischen Wahrheiten (so wie PLATON im Dialog Menon lehrt, was ich meine), aber in gleicher Weise gehören dahin auch alle philosophischen Überzeugungen vom Wahren und Guten. Dieses Bewußtsein überhaupt und seine notwendigen Wahrheiten wird BENEKE mit seiner genetischen Psychologie nie erreichen. Spreche er nun von präformierten oder prädeterminierten Vermögen des Geistes ... , er wird sich nie den zeitlichen Ursprung dieser Erkenntnisse und Überzeugungen in dem menschlichen Geiste zu erklären vermögen. Sie sind ganz unabhängig von den sinnlichen Anreizungen und Entwicklungen in unserer Vernunft gegründet und werden mit Bewußtsein überhaupt in uns zur Einsicht gebracht, nicht als etwas jetzt erst uns zufallendes, sondern schlechthin als unser ursprüngliches Eigentum. Wir beobachten diese notwendigen Grundbestimmungen unsrer Geistestätigkeiten im denkend entwickelten Leben, aber ihre Entstehung ist gar nicht wissenschaftlich zu erfragen, sondern des SOKRATES Weisheit, die eigene Unwissenheit kennenzulernen, ist hier allein zur Stelle ... « 17 Ähnlich äußert sich FRIES in seiner Geschichte der Philosophie: »Aber das versteht Herr BENEKE wieder nicht, weil ihn seine unglückliche genetische Psychologie irre macht. So versteht er KANTS Ausdruck >Erkenntnis rein a priori< gar nicht. Er hält ihn für einen genetischen Begriff dessen, was wir früher als alle Erfahrung erkennen sollen, und sagt dann mit Fug und Recht, solche Erkenntnisse gebe es genaugenommen für das menschliche Erkenntnisvermögen nicht. KANTS Erkenntnisse rein a priori gelten aber weder vor noch nach der Erfahrung, sondern in der Erfahrung, aber nicht durch Wahrnehmung und Beobachtung. Notwendige Wahrheiten sind gar nicht zeitlich entstanden im menschlichen Geist, sondern sie gelten mit Bewußtsein überhaupt und sind ursprünglich im 17
Ps. A. 2. Bd. 2. Aufl. Vorrede. S. X ff.
Fries und seine jüngsten Kritiker
menschlichen Erkenntnisvermögen gegründet. KANTS Ausdruck a priori geht gar nicht subjektiv auf den Anfang unsrer Vorstellungen, sondern bezeichnet eine Erkenntnisweise, welche Bestimmungen eines Gegenstandes erkennen läßt, ohne daß diese zuvor beobachtet worden wären. So gelten die geometrischen Gesetze rein a priori nicht nur an unsrer Erde, sondern in allen Himmelsräumen, nicht nur heute oder morgen, sondern schlechthin, ohne alle Rücksicht auf den Zeitverlauf. Die Gesetze der allgemeinen Gravitation gelten z. B. so gut für die unbekannten wie für die bekannten Planeten; darum konnte gleichsam auf den ersten Blick BODE die Bahn des Uranus, GAuss die der Ceres bestimmen. Ein solches ursprüngliches Eigentum unsers Erkenntnisvermögens sind also die Anschauungen a priori und bestimmen deswegen für sich nur Erkenntnisse mit Bewußtsein überhaupt.« 18 Auch im Streite gegen HERBART kehren dieselben Einwendungen wieder: »HERBART hat sich von Anfang an von FICHTES Phantasie leiten lassen, daß alle menschliche Erkenntnis aus dem Sich-selbstSetzen des Ich abzuleiten sei. Dies führte ihn auf seine Hypothese, daß die Seele ein einfaches, gestörtes Wesen sei, und somit zu seiner genetischen Psychologie, in welcher die Macht der anschaulichen Erkenntnis ganz verkannt, das Bewußtsein überhaupt nicht beachtet ist und darum die Erkenntnis der allgemeinen und notwendigen Wahrheiten als eine in der menschlichen Vernunft zeitlich entstandene nachgewiesen werden soll. Stolz erhebt er sich neulich über KANT, indem er sagt: >wer noch an dem Vorurteil hängt, das Räumliche sei simultan, folglich auch die Vorstellung des Räumlichen ohne Sukzession, der enthalte sich aller Fragen an die Psychologie in bezug auf das Räumliche. Die Kantische Meinung von den sogenannten reinen Anschauungen a priori, als Schätzen, worin alle räumlichen und zeitlichen Konstruktionen enthalten wären, so daß man sie nach Belieben herausgreifen könne, hatte alle Untersuchung dieser Gegenstände unterdrückt; aus dieser Befangenheit mußte man zuerst herausgehen.< Mit diesem Traum mußte sich HERBART
18
G. d. Ph. Bd. 2. S. 514.
II. Fries' Verhältnis zum Psychologismus
in die leere dogmatische Metaphysik zurück verirren. KANT dagegen wird immer recht behalten ... «19 Diese Stellen sind insofern von besonderem Interesse, als sie gerade gegen diejenigen gerichtet sind, mit denen FRIES gemeinhin - wie die obigen Beispiele zeigen - in eine Klasse gestellt worden ist, nämlich in die Klasse der Vertreter der der Kantischen Methode entgegengesetzten genetischen Psychologie. Auch bei ELSENHANS lesen wir: »Aus dem Kreise der selbständigeren Vertreter seiner (FRIES) methodologischen Richtung verdient besonders hervorgehoben zu werden F. E. BENEKE, der die psychologische Methode in konsequenter Weise fortbildete und weiter ausdehnte . . . Die anthropologische oder psychologische Auffassung der Vernunftkritik, welche FRIES begründete, hat daher eigentlich erst in BENEKE ihren völlig konsequenten Vertreter gefunden.« 20 Demgegenüber können wir aus den angeführten Stellen diesen Schluß ziehen: Fries ist, weit entfernt, ein Anhänger der genetischpsychologischen Methode zu sein, vielmehr ihr entschiedener Gegner.
II Fries' Verhältnis zum Psychologismus Also war FRIES nicht Psychologist? Dies aus den oben angeführten Xußerungen zu schließen wäre voreilig. Hat man doch neuerdings vielfach von einer »transzendentalpsychologischen« Methode gesprochen, als von einem »durchaus notwendigen Gliede« sogar »der Kantischen Beweisführung« 21 • Der Beweis, daß FRIES' Lehre nicht Psychologismus in dem oben definierten Sinne ist, und zwar auch nicht »Transzendentalpsychologismus«, erfordert daher eine weitere Untersuchung. Um ihn zu erbringen, wird es notwendig sein, nachzuweisen, daß bei FRIES eine strenge Scheidung zwischen psychologischer und philosophischer Erkenntnisweise herrscht. Dieser Nachweis ist unschwer zu führen. 19 20
21
G. d. Ph. Bd. 2. S. 710 f. Elsenhans, a.a.O., S. 12 f. Sdieler, a.a.O., S. 27.
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Fries und seine jüngsten Kritiker
Die Psychologie ist eine empirische, die Philosophie eine rationale Wissenschaft. Die Wahrheiten der Psychologie sind zufällige Tatsachen, die der Philosophie notwendige Gesetze. Die Gegenstände der ersteren sind Sache der Kenntnis, die der letzteren sind Sache der Einsicht. Die Psychologie ist eine induktive Naturwissenschaft, die Philosophie eine reine Vernunftwissenschaft. - Hat FRIES diesen Unterschied gekannt? Hören wir zunächst, wie FRIES über das Verhältnis der Logik zur Psychologie urteil t 22 : »Die Erklärung der Logik als einer Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen des Denkens ist zweideutig, denn verstehen wir unter diesen Denkgesetzen nur die Regeln, nach denen unser Verstand begreift, urteilt, schließt und Systeme baut, so ist dies kein Thema für Philosophie, sondern nur für empirische Anthropologie, wir können hier nur aus innerer Erfahrung antworten. Logik hingegen soll formale Philosophie sein ... und notwendige Gesetze über das Wesen der Dinge überhaupt, und nicht einzelne Regeln über die Denkweise unsers Verstandes enthalten. Logik als philosophische Wissenschaft ist daher nur Analytik, System der analytischen Urteile, die Denkgesetze sind hier nicht nur subjektiv die Gesetze, nach denen wir denken, sondern objektiv die Gesetze der Denkbarkeit eines Dinges ... Es würde hier zu weit führen, wenn wir geschichtlich nachweisen wollten, welche Folgen die Verwechslung dieser anthropologischen und philosophischen Ansicht der Logik gehabt hat.« Demgemäß unterscheidet FRIES in seiner Logik die philosophische Logik von der anthropologischen. Von der letzteren heißt es: »Ihre Hauptfrage ist: wie kommen Begriff und Denken unter die Tätigkeiten des menschlichen Geistes? wie verhalten sie sich zu den übrigen Tätigkeiten des Erkennens, und wie stimmen sie mit diesen zur Einheit der lebendigen Tätigkeit unsers Geistes zusammen? Diese Art logischer Untersuchungen fragt nur nach der Natur des menschlichen Verstandes, sie gehört also zur innern Selbstbeobachtung des Menschen. Diese anthropologische Logik ist un22
N. K. d. V. § 66. (2. Aufl. 1. Bd. S. 320 f.)
II. Fries' Verhältnis zum Psychologismus
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willkürlich mit allen Teilen der Logik verflochten und vermengt bearbeitet worden. Das Verhältnis und der Unterschied dieser beiden logischen Erkenntnisweisen ist bisher noch nie richtig verstanden worden ... Auf der entgegengesetzten Seite verlor sich in der englischen Schule und bei denen, die in Frankreich und unter uns ihr folgten, alle Philosophie und somit auch die philosophische Logik ganz in empirische Psychologie. KANT fing bei uns zuerst an, diese entgegengesetzten Einsei tigkei ten der Vereinigung zur Wahrheit näher zu bringen.« Es »wäre höchst ungereimt, die Grundsätze der philosophischen Logik, die notwendigen Grundgesetze der Denkbarkeit der Dinge durch empirische Psychologie, d. h. durch Erfahrungen beweisen zu wollen «23 • Was das Verhältnis der Metaphysik zur Psychologie betrifft, so finden wir darüber bei FRIES unter anderm folgende Äußerungen: »Suchen wir den überblick der ganzen Aufgabe für die Fortbildung der Kantischen Lehre, für die spekulative Philosophie, so ist für die Dialektik die Hauptsache, daß die metaphysische Erkenntnis a priori von der psychisch-anthropologischen Selbstbeobachtung unterschieden werde.« 24 »über der erfahrungsmäßigen Ausbildung der Psychologie ist den Engländern und Franzosen die Kenntnis der Metaphysik fast ganz verlorengegangen.« 25 Ausführliche Erörterungen gibt FRIES über den Unterschied der induktiven Methode der empirischen Psychologie von der spekulativen Methode der Metaphysik. So heißt es von HERBART: »Er unterscheidet nicht die induktorische Methode, welche auf der Erfahrung selbst ruht und durch Vergleichung der Beobachtungen Naturgesetze entdeckt, von der kritischen, die durch Abstraktion nachdenkend findet, welche allgemeine und notwendige Wahrheiten unsere Vernunft bei der Beurteilung gegebener Erfahrungen voraussetzt und anwendet.« 26 - »Das regressive Verfahren enthält zwei Hauptfälle der Anwendung unter sich. Der erste ist der 23
S. d. L. Einleitung. 3. Aufl. S. 3 ff. G. d. Ph. 2. Bd. S. 608. 2s S. d. L. § 134. 3. Aufl. S. 453. 26 G. d. Ph. 2. Bd. S. 705. 24
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Fries und seine jüngsten Kritiker
hier betrachtete der Spekulation oder der kritischen Methode, durch welche wir nämlich in reinen Vernunfterkenntnissen vermittels der Zergliederung unsrer eignen Gedanken aufsuchen, aus welchen allgemeinen Regeln und Begriffen ihre ersten Voraussetzungen bestehen. Die andere regressive Methode hat es hingegen mit empirischen Erkenntnissen zu tun; sie geht in Erfahrungswissenschaften von den Beobachtungen aus und sucht aus diesen nach Wahrscheinlichkeiten allgemeine Regeln zu bestimmen, von denen die Gesetzmäßigkeit dieser Erscheinungen abhängt. Diese Methode heißt die induktorische, weil wir diese Beweise allgemeiner Gesetze vermittels der Beobachtung durch die Induktionen d. h. durch den Schluß von vielen Fällen auf die Einheit der Regel zu führen haben.« 27 über KANT heißt es: »Ihm konnte durch seine Methode die Verteidigung der Erkenntnis a priori nur dadurch gelingen, daß er einen von der Induktion, von der Methode der engländischfranzösischen Erfahrungsphilosophie wesentlich verschiedenen Regressus befolgte. Dieses ist nämlich der der spekulativen Methode, der Zergliederung unsrer Gedanken. Wir haben oben gezeigt, wie diese kritische Methode allein uns wahrhaft über unsre philosophischen Erkenntnisse aufklären und durch ihre Deduktion deren Prinzipien rechtfertigen könne; wie dagegen die Induktion nur den Erfahrungswissenschaften diene, um empirische Naturgesetze zu erforschen.« 28 »Aus diesem wird man einsehen, daß die Möglichkeit der induktorischen Methoden selbst schon die rein vernünftige Erkenntnis in Philosophie und Mathematik voraussetze, daß man also zu deren Ausbildung anderer Methoden bedürfe, und dieses sind eben die regressiven der Kritik der Vernunft.« 29 - »Ich sehe für diesen Streit die Forderung als höchst wichtig an: eine bessere Theorie der Induktionen zu finden, als die gewöhnliche engländisch-französische, und ich meine diese gefunden zu haben. Die Induktion beruht nicht nur auf Zusammenstellung von Wahrnehmungen, sondern ihre wahre Schlußkraft liegt in leitenden 27 28 29
S. d. M. § 27. S. 157 f. S. d. M. § 29. S. 183 f. S. d. M. S. 190.
II. Fries' Verhältnis zum Psychologismus
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Maximen, welche sie voraussetzt und durch welche sie von Prinzipien a priori abhängig wird. Die Induktion ist also auch nicht das höchste, überhaupt kein unabhängiges Begründungsmittel allgemeiner Behauptungen, sondern dafür kommen wir auf LEIBNIZENS ersten Satz gegen LOCKE zurück: Erkenntnisse a priori findet der Verstand durch Abstraktion und nicht durch Induktion. Die Induktion für sich könnte keine Begriffe in unsre Erkenntnis einführen, die nicht schon in der Wahrnehmung liegen, wenn sie sich nicht selbst auf a priori erkannte leitende Maximen stützte. So fordert unsre Urteilskraft a priori die Gültigkeit der Kausalbegriffe als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, und nur kraft dieser Voraussetzung kann die Induktion sie anwenden. «30 »Allgemeine Gesetze lernen wir zuerst immer nur durch Abstraktionen von einzelnen Erfahrungen, durch einen regressiven Gedankengang kennen. Aber diese Abstraktion ist von zwei wesentlich verschiedenen Arten. In den Fällen des spekulativen Verfahrens ist sie eine Zergliederung unsres eignen Gedankens und macht uns klar, welche allgemeinen und notwendigen Wahrheiten jeder Mensch bei dieser oder jener Art von Beurteilungen unvermeidlich als wahr voraussetze. Dieses sind die Erkenntnisse a priori, und aus ihnen bilden sich die reinen Theorien der Wissenschaften. Die andern Fälle hingegen sind die Fälle des induktorischen Verfahrens. Hier erraten wir mit Hilfe von unvollständigen Induktionen Naturgesetze, die nur aus Erfahrungen folgen, aus diesen bewiesen werden müssen und die wir nicht a priori erkennen. Aus solchen Gesetzen bilden sich die empirischen Theorien. Wir erkennen z. B. bis jetzt die Gesetze, nach denen sich die Lichtstrahlen bewegen, die Gesetze der Elektrizität und viele andere auf diese letztere Art.« 31 In seiner »Geschichte der Philosophie« wendet sich FRIES mit besonderer Ausführlichkeit gegen das Vorurteil, das »die erfahrungsmäßige Selbsterkenntnis des Ich mit der allgemeinen und notwendigen metaphysischen Erkenntnis verwechseln läßt« 32 • »Unsre 30
31 32
P. S. S. 347 f. M. N. § 73. S. 399. G. d. Ph. 2. Bd. S. 640.
Fries und seine jüngsten Kritiker
Schule wird nicht eher zu einer gesunden Fortbildung der Kantischen Lehre gelangen, als bis dieser Fehler allgemein eingesehen und überwunden wird. Schon diejenigen unter KANTS Schülern, welche lehrten, die Tatsachen des Bewußtseins seien die Prinzipien der Philosophie, verwickelten sich weiter in die falsche Abstraktion vom Vorurteil des Transzendentalen, denn die Tatsachen des Bewußtseins sind wohl die Anfänge der kritischen Erkenntnis, aber nicht die Prinzipien der Metaphysik. REINHOLD aber wandte diesen Fehler am schärfsten epistematisch um in seinen Untersuchungen über die Fundamente des philosophischen Wissens ... Diese Betrachtung führte ganz natürlich auf die Verwechslung des Psychologischen und Metaphysischen im Begriff des Transzendentalen, und da REINHOLD diesen Fehler nicht gewahr wurde, so verstrickte er sich ganz in demselben. So wurde er auf den Fehler des TscHIRNHAUSEN zurückgeführt, in unbestimmten psychologischen Formeln, aus denen sich gar keine scharfen Ableitungen machen lassen, die höchsten Prinzipien der Philosophie zu suchen.« 33 Bereits in seiner ersten philosophischen Veröffentlichung finden wir FRIES im Streite gegen REINHOLDS Vermengung psychologischer Erkenntnisse mit philosophischen34 : » ••• Aber wie gelangte er zu diesem obersten Punkt der Abstraktion? In der Zergliederung selbst liegt nichts, was ihr eine Grenze setzte. Er fand einen Punkt, der seiner Meinung nach der oberste wäre; aber eben hierin tadeln ihn FICHTE und ScHELLING, welche noch weiter gegangen sind als er. Meiner Meinung nach hingegen, war schon REINHOLD über das Ziel einer metaphysischen Zergliederung hinaus. Der allgemeinste Begriff ist offenbar der eines Gegenstandes überhaupt, d. h. der einer Vorstellung, soweit dies Wort mit jenem gleichbedeutend ist. REINHOLD ging aber von da zum Begriff einer Vorstellung, sofern dies etwas ganz vom Gegenstand Verschiedenes bezeichnet, über und gelangte so zum Begriff des Bewußtseins und somit in eine Sphäre von Erkenntnissen, welche der metaphysischen ganz heterogen ist. Denn statt, daß er vor33 34
G. d. Ph. 2. Bd. S. 642 f. V. d. P. z. M. S. 190 f.
II. Fries' Verhältnis zum Psychologismus
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her schon bei den allgemeinsten ontologischen Begriffen war, so gelangte er nun (und doch sollte dies durch Zergliederung geschehen) zu dem vereinzelten Begriff eines bestimmten Gegenstandes der innern Wahrnehmung, eines Bewußtseins. Was ihn nun über die Grenze der Metaphysik in die Psychologie hineintrieb, ist leicht zu übersehen . . . Da er also auf psychologischem Boden das oberste Prinzip der Philosophie aufsuchte, so ist klar, daß er notwendig dem ganzen Gebäude eine Tatsache aus innerer Erfahrung zugrunde legen mußte. Diese sollte aber doch Erkenntnis a priori gewähren, und so wurde endlich Erkenntnis a priori überhaupt zu einem Teil der Erkenntnis aus innerer Erfahrung.« Denselben Vorwurf erhebt FRIES gegen F1cHTES Wissenschaftslehre: »... Seine Idee ist folglich aus einer Vermischung und Verwechslung von Wissenschaftskunde, Philosophie und Anthropologie entstanden . . . Es soll also bei ihm eine Wissenschaft aus innerer Erfahrung nach einer ihr ganz heterogenen Methode notwendiger und allgemeiner Erkenntnisse behandelt werden.« 35 »Der Zusammenhang des Ganzen zeigt uns, daß FICHTE eigentlich die Prinzipien für eine Theorie der Organisation unsrer Vernunft geben wollte, um daraus die synthetische Einheit im Systeme unsrer Erkenntnisse abzuleiten, daß er aber verleitet durch jene Idee versuchte, einer anthropologischen Wissenschaft, welche sich also auf innere Erfahrung gründet, die logische Form einer philosophischen Wissenschaft zu geben, welche es nicht mit einzelnen Tatsachen, sondern mit allgemeinen und notwendigen Regeln in abstracto zu tun hat.« 36 - »Ferner er sah laut obigem das unmittelbare Bewußtsein der innern Tätigkeiten des Ich nicht als sinnlich, sondern als unmittelbare intellektuelle Anschauung an, er verwechselte also innere Anschauung, die doch sinnlich ist, mit intellektueller Anschauung. Dadurch mußten ihm notwendig viele Gegenstände der Anthropologie, die doch Erfahrungswissenschaft ist, die Gestalt des rein Spekulativen annehmen. Philosophie und erfahrungsmäßige Kenntnis der Vernunft mußten bei ihm verworren 35 36
R. F. u. S. S. 24. R. F. u. S. S. 58.
Fries und seine jüngsten Kritiker
gedacht werden.« 37 - »Indem FICHTE aber diese einfachen Rückschritte im Gebiete der Anthropologie tat, glaubte er in den schwierigsten Gegenden der Philosophie zu sein. Es zeigen sich daher auch durch das ganze System Gegenstände dieser Anthropologie, welche aber immer nach einer philosophisch gemeinten Methode behandelt werden. FICHTE verfährt ganz nach den Reinholdischen Ideen über System der Philosophie, er hätte aber im weitem Fortschritte doch wohl bemerken müssen, daß er es mit nichts anderm als einer verkünstelten empirischen Anthropologie zu tun habe.« - »Die Verwirrung zwischen philosophischen und anthropologischen Begriffen mußte hier noch weit größer werden als bei REINHOLD, sie brachte die dunkle zweideutige Sprache hervor, die sich so oft mit identischen oder gar widersprechenden Sätzen zu tun macht, in denen nicht der Buchstabe, sondern der Geist gilt, weil er durchaus die Art der Erkenntnisse verkannte, mit denen er es eigentlich zu tun hat.« 38 Und auch ScHELLINGS Philosophem beruht nach FRIES nur auf der Fortführung desselben Grundfehlers: »SCHELLING irrt, wenn er seinen Gegensatz des Subjektiven und Objektiven diesem Gegensatz des SPINOZA gleichsetzen will, der letztere ist rein spekulativ, der erstere aber nur durch den Reinholdischen Mißgriff, wodurch ihm die Idee seiner Elementarphilosophie entstand, in die Spekulation hineingezogen worden, da er doch für sich durchaus empirisch ist.« 39 Ich habe diese Stellen ausführlich angeführt, weil das, was sie uns über FRIES' Verhältnis zum Psychologismus lehren, das Gewicht fast sämtlicher Darstellungen der Geschichte der Philosophie, die seit hundert Jahren erschienen sind, gegen sich hat und die Fehlerhaftigkeit einer Beurteilungsweise aufdeckt, die sich bis auf diesen Tag traditionell fortgeerbt hat. Die angeführten Stellen beweisen mit unzweideutiger Bestimmtheit, daß Fries nicht nur selbst nicht Psychologist gewesen ist, sondern sogar den Psychologismus seiner 37
R. F. u. S. S. 180.
as R. F. u. S. S. 215. 39
R. F. u. S. S. 99.
III. Fries' Verhältnis zur transzendentalen Methode
99
Zeitgenossen auf das lebhafteste bekämpft und in der Befreiung von ihm das wahre Heil für die Fortbildung der Philosophie gesucht hat.
III Fries' Verhältnis zur transzendentalen Methode
Wenn somit urkundlich bewiesen ist, daß FRIES nicht Psychologist ist, so fragt sich nunmehr, ob seine Methode die transzendentale ist. Er selbst - so viel können wir zunächst feststellen - hat sein Verfahren nie so bezeichnet, er nennt es vielmehr überall das kritische. Ich bemerke hier nebenbei, daß auch bei KANT die Bezeichnung »transzendentale Methode«, meines Wissens, nicht vorkommt. Wo KANT sonst das Wort »tranzendental« gebraucht hat, da hat er, veranlaßt durch seine Zweideutigkeit und den Unfug, der schon zu seinen Lebzeiten mit diesem Worte getrieben wurde, das Wort »kritisch« an seine Stelle zu setzen vorgezogen. Die Schule der sogenannten Neukantianer hat sich seiner Wiedereinführung um so eifriger angenommen. Aber schwerlich wird man für dieses Wort bei seinen neueren Liebhabern eine genaue und scharfe Definition finden. Fragt man nach seiner Bedeutung, so ist die übliche Antwort die: es bezeichne den Gegensatz zum Psychologismus. Verlangt man aber eine Erklärung des Psychologismus, so erhält man die Auskunft: der Psychologismus sei ein grundverkehrter und verwerflicher Standpunkt, denn er sei dem Transzendentalen gerade entgegengesetzt. Die neueste und relativ ausführlichste Darstellung der »transzendentalen Methode« findet sich in der Schrift von Dr. MAx ScHELER: Die transzendentale und die psychologische Methode. Auch in dieser Schrift wird mit dem Wort »transzendental« operiert, ohne daß eine Definition desselben vorkäme. Indessen stellen sich doch im Verlaufe der Untersuchung einige »Charakterzüge« der transzendentalen Methode heraus. Ich werde mich dieser Charakteristik der transzendentalen Methode bedienen, um die Frage zu untersuchen, ob man die Friesische Methode - dieser Charakteristik,
100
Fries und seine jüngsten Kritiker
als der einzig vorliegenden, gemäß - als transzendental zu bezeichnen habe. »Der erste wesentliche Charakterzug der transzendentalen Methode ist« nach ScHELER40 »im scharfen Gegensatz zum vorkritischen Rationalismus ihre reduktive Art. Zu gegebenen Tatsachen sollen Gründe gesucht werden. Der ältere Rationalismus verfuhr progressiv.« - Ist dieser »erste wesentliche Charakterzug der transzendentalen Methode« auch ein Charakterzug der Methode von FRIES? FRIES selbst gibt uns die Antwort auf diese Frage: »Es wird ein regressiver Gang der Untersuchung erfordert, dessen allgemeiner Charakter Fortschritt vom Besondern zum Allgemeinen, Reduktion der Erkenntnis auf ihre Prinzipien ist. In diesem letzern ist ohne Unterschied allein das Leben der Wissenschaft, der progressive Fortschritt ist nur totes Resultat.« 41 »Das Wesen der Spekulation besteht darin, daß die gewöhnliche Erkenntnis durch Zergliederung auf ihre ersten und allgemeinsten apodiktischen Anfänge zurückgeführt wird, von denen man nachweist, daß sie in jeder einzelnen Anwendung in der Tat schon im allgemeinen als wahr vorausgesetzt werden. Wir heben das Gesetz in seiner Allgemeinheit aus der Erkenntnis heraus, welches wir in der einzelnen Anwendung täglich brauchen. Wir beweisen nichts durch die Spekulation, sondern wir machen uns nur deutlich, woraus wir eigentlich gemeinhin alle unsre Beweise zu führen pflegen. Wenn z.B. jemand ohne Widerrede behauptet, ein Gefäß müsse, nachdem es der Künstler gegossen hat, ebensoviel wiegen, wie das rohe Metall wog, ehe der Künstler ihm die Form gab: so zeigt die Spekulation, daß dieser unbewußt schon die Richtigkeit des metaphysischen Grundsatzes von der Beharrlichkeit der Substanz voraussetze und nur hieraus sein einzelnes Urteil ableite. Nämlich nur weil er die Masse des Metalls als Substanz, und die Begriffe von Substanz und Beharrlichkeit als notwendig verknüpft ansieht, urteilt er, das Gewicht dieser bestimmten Masse sei un40 41
Scheler, a.a.O., S. 37. N. K. d. V. § 78. (2. Aufl. 1. Bd. S. 383).
III. Fries' Verhältnis zur transzendentalen Methode
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veränderlich. Ebenso wenn jemand einen einzelnen Stein, weil er fällt, für schwer erklärt, setzt er darin schon voraus die notwendige Verknüpfung der Begriffe, Veränderung und Wirkung nach dem Gesetze der Kausalität. Erst wenn die Spekulation vollendet ist, sind wir imstand, das System der Wissenschaft in der Unterordnung des Besondern unter seine Prinzipien durch Definition und Beweis dogmatisch aufzustellen, welches nur das tote Geschäft der Subsumtion ist.« 42 » Die Regeln der philosophischen Spekulation sind die Regeln der kritischen Methode. Das Allgemeinste, welches hier als Prinzip aufgewiesen wird, ist das Schwerste, am wenigsten Evidente und doch Unerweisliche. Es muß also hier jeder Schüler, der eigene Einsicht erlangen will, die Rückschritte der Spekulation vom gemeinen Bewußtsein zu den höheren Abstraktionen erst selbst mitgemacht haben, ehe er zum Verständnis des Systems durchdringen kann ... Die meisten Philosophen halten es für Unrecht, ihre Spekulationen öffentlich mitzuteilen, sie meinen, es zieme sich nur, das vollendete System der öffentlichen Prüfung vorzulegen. Dadurch aber wird gerade der richtige Gesichtspunkt der Beurteilung ganz verschoben. Evidenz fehlt den Anfängen eines philosophischen Systems unvermeidlich, weil sie die höchsten Abstraktionen sind, das Publikum kann also nur entweder die handwerksmäßige Brauchbarkeit der Resultate für Theologie, Politik oder Medizin zum Maßstab der Beurteilung nehmen oder die sogenannte Konsequenz, nach der man oft das lächerliche Lob austeilen hört: der Mann behauptet freilich die größten Absurditäten, aber er bleibt sich doch konsequent.« 43 » Die philosophische Methode der Erfindung ist einzig die zergliedernde. Wir nennen sie die kritische Methode . . . Wir haben gefunden, das Erklären und Beweisen, das Ableiten aus Prinzipien überhaupt ist in der Philosophie nicht die Hauptsache, sondern gerade das Aufsuchen der richtigen Prinzipien lohnt allein der 42
43
N. K. d. V. § 80. (2. Aufl. 1. Bd. S. 387 f.) N. K. d. V. § 80. (2. Aufl. 1. Bd. S. 389 f.)
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Fries und seine jüngsten Kritiker
Mühe ... Die Regeln der philosophischen Erfindung sind also folgende: 1. Beobachte man, wo die menschliche Vernunft sich Urteile anmaßt, ohne diese auf Anschauung zu gründen. überall, wo dies geschieht, müssen wir ein Thema philosophischer Untersuchungen erhalten, denn dies war eben das Eigentümliche der philosophischen Erkenntnis. So kommen wir auf die Fragen nach dem Wahren, Guten und Schönen. 2. Bei jedem einzelnen Thema dieser Art sehe man zu, welche Fälle auf diese Weise beurteilt werden, man sammle diese nach denselben allgemeinen in ihnen vorwaltenden Begriffen und sehe zu, welche Grundvoraussetzungen es eigentlich sind, aus denen hier die Urteile fließen. Darin besteht das Wesen der philosophischen Zergliederung oder Regression ... «44 »Die kritische Methode wird sich also von der entgegengesetzten darin unterscheiden, daß sie in Sachen der freien Spekulation immer unmittelbar analytisch oder zergliedernd, niemals gleich synthetisch oder ableitend verfährt, indem sie jedesmal zuerst vom konkreten Einzelnen zum Allgemeinen fortschreitet, niemals gleich allgemeine Formen auffaßt, welche sich der Faßlichkeit der gemeinen Erfahrung entziehen. Deswegen setzte KANT, der Erfinder der kritischen Methode in der Philosophie, dem Kritizismus den Dogmatismus entgegen, indem für die Kritik das allgemeine Dogma erst das Resultat ist, dagegen der Dogmatiker unmittelbar davon ausgeht. FICHTE hat also diesen Begriff ganz mißdeutet, wenn er dem Dogmatismus den Idealismus entgegensetzt. Idealismus und Realismus, oder, wenn man will, Idealismus und Materialismus stehen sich nur als Lehrmeinungen in Rücksicht der Resultate einer Spekulation entgegen, der Gegensatz des Kritizismus und Dogmatismus ist aber von weit höherer Bedeutung, indem er auf die Methode, auf die Kunst zu spekulieren selbst geht.« 45 » Wir sollen also in der Philosophie immer der rückwärts vom Besondern zum Allgemeinen, vom Bedingten zu seiner Bedingung, von den Folgen zu den nächsten Gründen aufsteigenden Methode folgen.« 46 44
45 46
S. d. L. § 126. 3. Aufl. S. 417 f. R. F. u. S. S. 197. R. F. u. S. S. 263.
III. Fries' Verhältnis zur transzendentalen Methode
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»Das spekulative Verfahren ist nur zergliedernd, wir suchen zu besondern Behauptungen durch Zerlegung unserer eignen Gedanken die allgemeineren Gründe, welche wir in ihnen schon voraussetzen - wir durchlaufen die Reihe eines Beweises rückwärts, dadurch finden wir die Prinzipien unsrer apodiktischen Erkenntnis.« 47 » ••• Daher wird hier unser erster Satz: das Glück in der Ausbildung der Philosophie hängt ganz vom zergliedernden Gedankengang, von regressiven Methoden ab, die vom Besondern zum Allgemeinen aufsteigen, also den Ausdruck der allgemeinen Grundwahrheiten erst suchen. Dieser Ausspruch der Prinzipien ist hier das Schwerste und Unverständlichste; wer diesen auf eine taugliche Weise in seine Gewalt gebracht hat, der ist im Besitz der philosophischen Wissenschaft.« 48 » Ist dem nun aber so, so liegt in der zergliedernden Methode der Anspruch: die Ordnung der Gründe und Folgen in Betrachtung der philosophischen Erkenntnisse umzukehren. Dogmatisch lehrt man auf geradem Wege, wie sich die Abfolge in unsern Erkenntnissen mache; hier beginnt man umgekehrt mit der Folge und sucht erst von dieser sich zu ihren Gründen durchzufinden.«49 »Ich leite nicht eigentlich den Grund von der Folge ab, sondern ich zeige, daß meine Annahme der Folge die des Grundes schon voraussetze. . .. Bei allem regressiven Verfahren der Spekulation suche ich geradezu zu meinen eignen Schlußsätzen die Prämissen, von denen ich ausgegangen sein mußte, um den Schlußsatz behaupten zu können ... Suchen wir in der Spekulation einen Grund für die Behauptung, daß die Kreisbewegung des Mondes eine stetig wirkende anziehehde Kraft der Erde voraussetze - so findet sich, daß wir diese Behauptung nur als eine Folge des allgemeinen Gesetzes annehmen: daß jede Veränderung eine Ursache haben müsse. Die Kreisbewegung ist nämlich eine Bewegung, deren Rich47
48 49
S. d. L. § 117. 3. Aufl. S. 393. S. d. M. § 21. S. 91. S. d. M. § 22. S. 100.
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tung mit einer gegen den Mittelpunkt des Kreises gerichteten Beschleunigung stetig verändert wird, und wir schließen hier aus dem allgemeinen Gesetz, daß auch die Veränderung der Richtung einer Bewegung ihre Ursache haben müsse. Hier wird der gegebene besondere Satz durch Zergliederung von einem allgemeinem Grunde abgeleitet und zugleich gezeigt, daß der erstere allgemein zugegebene Satz den letztem schon voraussetze.« 50 Hiermit dürfte hinlänglich bewiesen sein, daß der »erste wesentliche Charakterzug der transzendentalen Methode« in eminentem Maße auch einen Charakterzug der Methode von FRIES bildet. »Der zweite wesentliche Charakterzug der transzendentalen Methode ist dieser: daß sowohl Ausgangspunkt wie Endpunkt logische Gebilde, Urteile sind. Den Ausgangspunkt bilden wissenschaftliche Urteile, resp. Systeme solcher, und nicht um deren Ursachen wird gefragt, sondern um deren logische Gründe; dies heißt aber, wohlgemerkt, nicht um jene Gründe, welche die Subjekte, die diese Urteile fällten, (die einzelnen Gelehrten) in ihrem denkenden Bewußtsein haben mochten, als sie sie fällten, sondern um jene Gründe, die nach formal-logischen Gesetzen jene Urteile bedingen.« 51 Ist dieser »zweite wesentliche Charakterzug der transzendentalen Methode« ein Charakterzug der Methode von FRIES? Die Antwort auf diese Frage ist eigentlich schon zur Genüge in den soeben zitierten Stellen gegeben. Zum Überfluß setze ich noch die folgende hierher: »Das spekulative Verfahren geht den Gang der Abstraktion, indem es beständig das Untergeordnete in Rücksicht seiner Prämissen bis zu den Prinzipien hinauf zu orientieren sucht. Es beschäftigt sich mit denselben Beweisen, welche das dogmatische Verfahren aufstellt, aber nur sie regressiv aufsuchend und erfindend. Im Leben ist uns immer der Fall der Anwendung das erste, bei diesem werden apodiktische Gesetze als vorausgesetzte Wahrheiten geltend gemacht. Hier sucht nun das spekulative Verfahren in Mathematik und Philosophie die Fragen zu beantworten: welches sind diese 50 51
S. d. M. § 22. S. 101 ff. Scheler, a.a.O.
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vorausgesetzten Wahrheiten? wie wird der Fall der Anwendung davon abhängig? Es sei mir z.B. in der Mathematik die Rechnung mit logarithmischen und trigonometrischen Tafeln bekannt, und ich frage nun: worauf beruht die Richtigkeit dieser Regeln, die Konstruktion dieser Tafeln? so leite ich meinen Gedankengang hier nach spekulativem Verfahren. Hier suche ich immer höhere arithmetische Beweisgründe, beweise aber nicht etwa regressiv die Wahrheit arithmetischer Grundsätze und Lehrsätze aus dem Gebrauch der Tafeln ... Das spekulative Verfahren dient also, um uns die Prinzipien unsrer apodiktischen Erkenntnis zum Bewußtsein zu bringen.« 52 »Ein drittes mit dem Wesen der transzendentalen Methode verbundenes Merkmal ist ihr Anspruch, zugleich eine erkenntniskritische Methode zu sein . . . So bleibt ihr die Erkenntniskritik d. h. der Gebrauch jener letzten Prinzipien als Kriterien nicht nur der Wahrheit gewisser Sätze, sondern schon des bloßen Versuchs, zu einer gewissen Art von Urteilen zu gelangen, als die bedeutsamste aller ihrer Funktionen im Ganzen der Wissenschaft.« 53 Ist dieses »dritte mit dem Wesen der transzendentalen Methode verbundene Merkmal« auch mit dem Wesen der Methode von FRIES verbunden? Folgende Äußerungen von FRIES können uns der Entscheidung dieser Frage näher führen: »Besonders werden wir uns aber hier die Beschaffenheit derjenigen Aufgabe bekannt machen müssen, welche ich das System einer rein philosophischen Lehre nenne. Ihr Eigentümliches bestimmt sich durch das Verhältnis, in welchem die philosophischen Grundsätze als Kriterien eigentlich zu unsern Beurteilungen im täglichen Leben stehen.« 54 - »Die einzelnen philosophischen Grundgedanken können leicht mißverstanden, verschiedene leicht miteinander verwechselt werden, z. B. logische mit metaphysischen, Naturbegriffe mit Ideen. Deswegen bedürfen wir also erstlich einer sorgfältigen zergliedernden Behandlung dieser Beurteilungen in der Grundlegung 52 53 54
S. d. L. § 97. 3. Aufl. S. 314 f. Scheler, a.a.O., S. 38 f. S. d. M. § 24. S. 119.
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Fries und seine jüngsten Kritiker
und nach spekulativer Methode, um eine richtige systematische übersieht dieser Grundgedanken zu erhalten. Dann aber stellt das System der reinen Philosophie die so erhaltenen Prinzipien auf und hat vorzüglich die Regeln genau zu entwick.eln, nach welchen die Kriterien in unsern Beurteilungen jeder Art als leitende Maximen der Induktion gebraucht werden sollen.« 55 - »Die Prinzipien der reflektierenden Urteilskraft sind nun leitende Maximen, welche uns im Aufsuchen der Wahrheit führen sollen, welche uns behilflich sind, allgemeine Ansichten für die Gesetze in einer Wissenschaft oder auch neue Gebiete der Anwendung für schon bekannte Gesetze aufzufinden.«56 - »Philosophische Grundsätze sind nur Kriterien, nach denen sich unter ihnen stehende Fälle beurteilen lassen, wenn diese Fälle erst in Tatsachen zu ihnen hinzugegeben werden.« 57 Daß das »dritte mit dem Wesen der transzendentalen Methode verbundene Merkmal« auch mit dem Wesen der Methode von FRIES verbunden sei, dürfte danach keinem Zweifel unterliegen. Folgen wir also nunmehr weiter der Charakteristik, die ScHELER von der transzendentalen Methode entwickelt. »Ein viertes wesentliches Merkmal der Methode ist der formale Charakter der Prinzipien, zu denen sie gelangt.... Mit irgendwelchem Inhalt wären sie an einen bestimmten Kreis von Objekten gebunden.« 58 - Vergleichen wir hiermit wiederum das Urteil von FRIES über den Charakter der philosophischen Prinzipien. Dasselbe lautet: »Wir sagen: alle menschliche Erkenntnis läßt sich unter allgemeine und notwendige Gesetze teils nach Naturbegriffen, teils nach Ideen ordnen; die Gesetze sind von rein vernünftigem Ursprung, und ihre Wahrheit läßt sich nicht aus der Erfahrung ableiten; die Erkenntnis der Tatsachen dagegen ist von empirischem Ursprung, ihre Wahrheit fließt nicht aus den notwendigen Gesetzen.« 59 - »In der Philosophie sind nur die Grundsätze rein philosophisch, und die 55 56 57
58 50
S. d. M. S. 122 f. S. d. M. § 27. S. 164. s. d. L. § 124. S. 413. Seheier, a.a.O. S. d. M. § 27. S. 167.
III. Fries' Verhältnis zur transzendentalen Methode
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Erkenntnisquelle für die Untersätze liegt immer in der Anschauung.«60 - »Für jede philosophische Wissenschaft gibt die Vernunft ein Prinzip, welches in ihren höchsten Obersätzen ausgesprochen wird; in den Untersatz aber tritt der ganze Reichtum der Erfahrung, und die Wissenschaft besteht eigentlich nur in der Anwendung jenes Grundgedankens auf den Teil der Erfahrung, auf den dieser sich bezieht.« 61 - »Gesetz und Regel sind sich nie selbst genug, sondern sie fordern immer erst die Fälle der Anwendung in einzelnen Tatsachen.« 62 »Die Wahrheit der Tatsachen ist nicht in der Wahrheit der Gesetze enthalten, sondern die Tatsachen sind nur unter den Gesetzen miteinander verbunden, sie sind das Besondere, welches, wenn es gegeben ist, sich durch das Allgemeine bestimmen läßt, welches aber nicht durch das Allgemeine gegeben wird.« 63 »Durch die philosophischen Grundsätze allein käme es zu keiner Theorie, denn in denen besitzen wir nur allgemeine Regeln der Einheit, welche sich aber selbst nie den Fall unter der Regel geben können. Alle Anwendung ist etwas dem philosophischen Prinzip Fremdes, welches sie erst von empirischer Erkenntnis erwartet.« 64 »In der Philosophie sind die Grundsätze die Hauptsätze, deren leere Allgemeinheit aber durch die einzelnen Fälle der Tatsachen ausgefüllt werden muß.« 65 In der Kritik der Vernunft stellt FRIES das »Gesetz der Leerheit aller rein vernünftigen Formen« auf: »Die Gesetze der Notwendigkeit erkennen wir in reiner Einsicht mathematisch und metaphysisch, aber davon getrennt bleibt alle Erkenntnis des Wirklichen Sache der Kenntnis, welche uns nur mit Hilfe der Wahrnehmungen wird ... Daher ist der rein vernünftige Grund aller Erkenntnis unsers sinnlich bedingten Geistes für sich leere Form ohne bestimmte Gegenstände, aller Gehalt in den Erkenntnissen wird erst mit der sinnlichen Entwicklung unsers Lebens gegeben.« 66 60 61 62 63 64
65 66
S. d. M. § 21. S. 96. S. d. M. § 27. S. 160. S. d. M. § 27. S. 165. S. d. L. § 111. 3. Aufl. S. 370. S. d. L. § 114. S. 383. S. d. L. § 124. S. 413. N. K. d. V. § 89. 2. Bd. 2. Aufl. S. 40 f.
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Fries und seine jüngsten Kritiker
Der formale Charakter der philosophischen Prinzipien erweist sich also auch als ein wesentliches Merkmal der Methode von FRIES.
»Ein fünftes wesentliches Merkmal der Methode ist die Einrechnung jener Prinzipien in die Wissenschaft selbst. Sie sind nicht bloß irrationale Sätze, die nur die Eigentümlichkeit besäßen, daß sie gelten müßten, wenn Wissenschaft sein soll, sondern sind selbst wissenschaftliche, auf Wahrheit Anspruch machende Urteile.« 67 Daß auch dieses fünfte wesentliche Merkmal der transzendentalen Methode ein Merkmal der Methode von FRIES ist, wird aus folgenden Stellen hervorgehen: »Die Anschauung für sich selbst ist ihr eigner Zeuge der Wahrheit, nur wiefern ich der Anschauung vertraue, weiß ich etwas von dem Sein wirklicher Gegenstände. Ebenso unmittelbar gelten uns die metaphysischen Grundwahrheiten.« 68 »Oben zeigte sich schon, daß alle philosophischen Untersuchungen anfangs regressiv sein müssen. Wir haben aber gesehen, daß hierdurch keineswegs das Allgemeine aus dem Besondern bewiesen, sondern vielmehr nur aufgewiesen wird, die Wahrheit des Besondern bei Erkenntnissen a priori setze jederzeit die des Allgemeinen voraus. Wie soll ich nun durch diese Regression auf ein Letztes kommen, das als Prinzip gelten kann? ... Als philosophisches Prinzip soll es ganz auf Begriffen beruhen, es findet also keine Berufung auf Anschauung statt. Das Prinzip muß also unmittelbar durch sich selbst gültig und einleuchtend sein.« 69 »Darin hat sich KANT fälschlich den Vorteil vergeben, indem er die Gültigkeit der Kategorien von der anschaulichen Erkenntnis abhängig macht, anstatt die in ihnen aufgezeigten Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung direkt als einen wirklichen Bestandteil unsrer Erkenntnis nachzuweisen.« 70 »So fordert unsre Urteilskraft a priori die Gültigkeit der Kausalbegriffe als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, und 67
68 69 70
Seheier, a.a.O. N. K. d. V. 2 1. Bd. Vorrede S. XXVIII. V. d. P. z. M. S. 174 f. P. S. Anhang. S. 341.
III. Fries' Verhältnis zur transzendentalen Methode
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nur kraft dieser Voraussetzung kann die Induktion sie anwenden.« 71 »Die Urteilskraft ist offenbar so gut wie die Anschauung im Besitz (und möchte es gleich immer unbekannt bleiben, wie sie dazu gelangt sei) von wirklichen metaphysischen Erkenntnissen, die sie nicht aus der Anschauung entlehnt hat. Wir müssen ihr das gleiche Recht wie der Anschauung lassen und unsrer Untersuchung unparteiisch die Tatsachen beider Erkenntnisweisen nebeneinander vorlegen.« 72 »:Wir sehen also als die erste Angelegenheit der philosophischen Untersuchungen an die Zergliederung der Aussprüche unsers Wahrheitsgefühls und lassen die darin liegenden Behauptungen mit gleichem Recht wie die Anschauungen als Erkenntnisse gelten, aber wir behaupten darin doch keineswegs mit LEIBNIZ (oder PLATON) die angeborenen Ideen. Hierin hat der Kantische Ausspruch: alle unsre Vorstellungen fangen mit den sinnlichen Anregungen an, aber ihre allgemeinen und notwendigen Bestandteile entspringen nicht aus der sinnlichen Anregung - die genügende Erläuterung gegeben.« 73 »Mit Glück läßt sich eine Untersuchung dieser Grundsätze nur spekulativ und kritisch führen, und die Spekulation hat dabei noch die große Schwierigkeit, daß diese Grundsätze nur als Kriterien vorausgesetzt werden, für welche die Fälle der Anwendung erst durch ~ine ihnen fremde Erkenntnisquelle hinzugegeben werden müssen. Diese Grundsätze sind nämlich Voraussetzungen (Prämissen), welche allen unsern philosophischen Betrachtungen als Beurteilungsgründe übergeordnet stehen, aber nicht als Hypothesen, welche erst durch Induktionen zu beweisen oder wahrscheinlich zu machen wären, sondern als unmittelbar und ursprünglich in der menschlichen Vernunft bestimmte Grundwahrheiten, an die alle menschlichen Urteile notwendig gebunden bleiben.« 74 Hiermit ist die Zahl der wesentlichen Merkmale der transzen71
72 73 1,
P. S. S. 348. P. S. S. 357. P. S. S. 358. N. K. d. V. § 86. 2. Bd. 2. Aufl. S. 6.
IIO
Fries und seine jüngsten Kritiker
dentalen Methode erschöpfl:75. Jedes dieser fünf Merkmale hat sich uns als Merkmal der Methode von FRIES herausgestellt. Es ist somit auf Grund des Vorstehenden durch vollständige Induktion bewiesen, daß Fries ein Anhänger der transzendentalen Methode ist.
IV Theodor Elsenhans und das »Kant-Friesische Problem« Induktion und Spekulation bei Fries Wenden wir uns nun zu einer Prüfung der neuesten und zugleich wenn wir von den Schriften der Schüler von FRIES absehen - relativ ausführlichsten Erörterung der Friesischen Vernunftkritik. Dieselbe findet sich in der Schrift von DR. THEODOR ELSENHANS: Das Kant-Friesische Problem76 • Der Verfasser stellt sich die Aufgabe, durch eine »systematische Erörterung« »die Bearbeitung des Problems bis zu dem Punkte zu führen, welcher mit den Mitteln der Gegenwart erreichbar ist« 77 • Eine eindeutige Formulierung dieses Problems gibt er nicht. Einmal findet er das »Kant-Friesische Problem« »angedeutet« in dem Ausspruch K. FISCHERS: »die Frage, ob die Vernunftkritik metaphysisch oder anthropologisch sein solle, sei ein echtes, in der Entwicklungsgeschichte der deutschen Philosophie seit KANT unvermeidliches Problem« 78 • Andererseits »lassen sich bei genauerer Betrachtung drei Seiten des Problems unterscheiden. Es handelt sich I. um einen Gegensatz des wissenschaftlichen Verfahrens: transzendentale und psychologische Methode; II. um einen Gegensatz der psychischen Vorgänge, ... III. um einen Gegensatz der erkenntnistheoretischen Prinzipien ... « - Hier soll offenbar in dem ersten Gegensatz, dem des wissenschaftlichen Verfahrens, das oben »angedeutete Problem« wiederholt werden. Ich will daher hier nur darauf aufmerksam machen, daß dabei die Worte »metaphysisch« und »transzendental« als gleichbedeutend 75 76
77 78
Scheler, a.a.O., S. 52. Heidelberg 1902. s. 20. s. 2.
IV. Induktion und Spekulation bei Fries
III
genommen oder wenigstens nicht unterschieden werden. Dies hat, wie wir sehen werden, nicht geringen Einfluß auf die nachfolgenden Erörterungen erhalten. Auf einen »Überblick über die Geschichte und Literatur des Problems« folgt zunächst eine Erörterung desselben »nach seiner methodologischen Seite« 79 . Hier wird mit Recht darauf hingewiesen, daß die von ULRrcr80 und LIEBMANN81 gegen FRIES gerichtete Polemik »hinfällig ist, da FRIES die Ansicht seiner Kritiker über die Unzulänglichkeit der Induktion für die Hauptaufgabe der Vernunftkritik völlig teilt« 82 • Die Induktion sei nach FRIES keine selbständige, unabhängige Methode, sie bedürfe vielmehr selbst erst metaphysischer und mathematischer Voraussetzungen als leitender Maximen. Durch diese »werden erst die untauglichen empirischen Induktionen in >rationelle Induktionen< verwandelt«. »Für FRIES ist also hier gerade dasjenige grundlegende Wahrheit, was manche seiner Kritiker gegen ihn geltend machen wollen. In seinen umsichtigen Ausführungen über Induktion erkennt er ganz klar, daß keine Ableitung von Gesetzen aus noch so vielen empirischen Einzelwahrnehmungen zur Gewißheit führt, ohne die anderswoher ... stammenden Voraussetzungen der Allgemeinheit und Notwendigkeit.« »Doch« - so heißt es weiter - »muß zugegeben werden, daß das Verhältnis der Induktion zu den philosophischen Erkenntnissen bei FRIES nicht ganz folgerichtig durchgeführt ist. Einerseits soll 79
80 81
82
Die Darstellung der »Geschichte und Literatur des Problems« wird mit folgendem, »der Untersuchung« im eigentlichsten Sinne des Worts »vorhergehenden Urteil« eingeleitet: »So wichtig die Stellung ist, welche FRIES als Ausleger KANTS und durch seine prinzipielle Bedeutung für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie einnimmt, so kann er selbst doch nicht als Denker ersten Ranges bezeichnet werden. Ist sein System auch einheitlicher, als es z.B. WrNDELBAND erscheint der es aus einem ,Leibnizschen Rumpf< einem ,KantJakobischen Kopf< und einem ,kritizistischen Schwanz< zusammengesetzt sein läßt, so fehlt ihm doch der große einheitliche Zug, der den Philosophen großen Stils eigen ist. Die Größen der Philosophie haben sich daher wenig oder wenigstens nicht eingehend mit ihm auseinandergesetzt«. - Es liegt mir fern, mich auf eine Diskussion derartiger Außerungen persönlicher Wertschätzung einzulassen. H. Ulrici. Das Grundprinzip der Philosophie. 1. Teil. 1845. Dr. Otto Liebmann. Kant und die Epigonen. 1865. S. 140-156. Elsenhans, a. a. 0., S. 24.
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Fries und seine jüngsten Kritiker
sie nur den Erfahrungswissenschaften dienen und für die philosophischen Erkenntnisse die kritische Methode vorbehalten bleiben, andrerseits ist sie ein Hilfsmittel der Spekulation in der Ermittlung der philosophischen und mathematischen Gesetze. Es spielen mehrere Begriffe der Induktion ineinander, wofür die Unterscheidung zwischen >empirischen< und >rationellen< Induktionen einen Anhaltspunkt gibt.« 83 Hierzu ist zu bemerken, daß FRIES für die Zwecke der Spekulation die Induktion ausdrücklich abweist und daß sein Begriff der Induktion durchaus eindeutig und bestimmt ist. Er versteht nämlich unter Induktion überall den Schluß von den Fällen auf das Gesetz nach disjunktiver Schlußart84 • Die rationelle Induktion unterscheidet sich von der empirischen allein dadurch, daß sie sich in der Erforschung des allgemeinen Gesetzes von heuristischen Maximen leiten läßt, während die empirische Induktion nur dem Prinzip der Erwartung ähnlicher Fälle folgt 85 • Die Spekulation, d. h. die Aufsuchung der philosophischen und mathematischen Grundwahrheiten hat es nun weder mit empirischer noch mit rationeller Induktion zu tun, da sie überhaupt kein Schlußverfahren ist, sondern vielmehr die Schlußreihen rückwärts durchläuft, um die allgemeinsten Prämissen aller Schlüsse aufzuweisen, die selbst nicht wieder auf Schlüssen beruhen können. Ich erinnere hierfür an die oben (vgl. Kapitel n) angeführten Stellen und füge zu ihrer Bekräftigung noch die folgende hinzu: »Dieses regressive Verfahren der Induktion haben wir schon von der ebenfalls regressiven Spekulation unterschieden. Die Spekulation hat es nur mit dem Aufweisen allgemeiner Regeln zu tun, welche wir in unsern mathematischen und philosophischen Beurteilungen schon als wahr voraussetzen, wenngleich ohne uns dessen deutlich bewußt zu sein; die Induktion des regulativen Verfahrens hingegen muß für ihre allgemeinen Gesetze regressive Beweise führen, indem sie die Erscheinungen unter leitende Maximen zusammenordnet.« 86 83 84
85 86
Elsenhans, a.a.O., S. 26. S. d. L. § 60. S. d. L. § 105. S. d. L. § 128. (3. Aufl. S. 428 f.)
IV. Induktion und Spekulation bei Fries
IIJ
Hier finden wir die Induktion aufs deutlichste und bestimmteste von der Spekulation geschieden. Eine Äußerung von FRIES, die dieser Stelle widerspräche, hat ELSENHANS nicht angegeben. Der Vorwurf, »daß das Verhältnis der Induktion zu den philosophischen Erkenntnissen bei Fries nicht ganz folgerichtig durchgeführt ist«, ist also ebenso unzutreffend wie unbegründet. Wir übersehen indessen leicht, wodurch sich ELSENHANS zu diesem Vorwurf hat verleiten lassen. FRIES versteht nämlich, wie ELSENHANS richtig bemerkt, unter Deduktion die Erklärung, wie die philosophischen Grundurteile »aus dem Wesen der Vernunft entspringen. Aus einer Theorie der Vernunft ist abzuleiten, welche ursprüngliche Erkenntnis wir notwendig haben müssen.« 87 Die Entwicklung dieser Theorie der Vernunft »soll nach FRIES auf dem Standpunkt der empirischen Psychologie oder der inneren Selbstbetrachtung beginnen, soll jedoch bei dem nur beschreibenden Standpunkt der Erfahrungsseelenlehre nicht stehenbleiben, sondern die auf diesem Wege gewonnene >reine Tatsache< nur als Grund brauchen, >von welchem eine vernünftige Induktion nach gut gewählten heuristischen Maximen ausgeht, um sich zu den allgemeinen Gesetzen unseres inneren Lebens, und somit zu einer physikalischen Theorie dieses Lebens rein nach seinen geistigen Verhältnissen zu erheben«Gefühls< überhaupt zum >WahrheitsgefühlNeuen Kritik der Vernunft< ist § 85 noch überschrieben: >C) die Theorie des GefühlsC) die Theorie des Wahrheitsgefühlsweil meine unmittelbare Anschauung, die ich durch Messung genauer beobachte, ihn das einemal wirklich nicht größer zeigt als das andereempirische Realität< erzeugt wird, sondern ist irgendwie bereits >an sich< vorhanden.« 30 In diesem Satze finden wir denn auch die Vermengung von Kritizismus und Idealismus deutlich ausgesprochen. Daß die Erkenntnis sich nicht nach dem Gegenstande »richtet«, d. h. daß der Gegenstand nicht als Kriterium der Wahrheit der Erkenntnis dienen kann, dies schließt für STERN eo ipso schon die idealistische Annahme ein, daß der Gegenstand, seiner Realität nach, durch die Erkenntnis »erzeugt« sein müsse. - Nur durch die Zweideutigkeit des Wortes »Vorstellung« entzieht sich diese Vermengung dem oberflächlichen Blicke. Durch den zweifachen Gebrauch desselben Wortes wird die Selbstverständlichkeit einer leeren Tautologie zur scheinbaren Stütze des durchaus nicht selbstverständlichen, sondern zunächst ganz problematischen Inhalts einer philosophischen Weltansicht gemacht. Zu diesen Unklarheiten tritt im dritten der zitierten Sätze sogleich noch eine weitere. Was heißt: »Dieser Prägung galt der Terminus des T;ranszendentalen«? Was ist hier das Transzendentale? Etwa, wie man denken sollte, jene »Prägung des Denkens«? Aber Seite 83 lesen wir, KANT betrachte es als die Aufgabe der transzendentalen Erkenntnis, »1. klarzustellen, welche Bedeutung dem Inbegriff des apriorischen Erkennens für das Zustandekommen der Gegenstände der Erfahrung in unserem Gemüte beizumessen sei, und 2. unter diesem Gesichtspunkte die apriorischen Mittel und Methoden der Erkenntnis zu disponieren und deduktiv sicherzustellen«. Hiernach ist nicht jene Prägung, sondern vielmehr die Untersuchung jener Prägung, ihre »Klarstellung«, »Disponierung«, »Sicherstellung« oder derartiges transzendental. - Nehmen wir alle diese Unklarheiten und Verwirrungen zusammen, so haben wir im dritten Satz bereits einen ganzen Rattenkönig von Konfusionen vor uns. Die Wurzel aller dieser Konfusion aber liegt wiederum, wie kaum noch ausdrücklich bemerkt zu werden braucht, in der Vermengung von Inhalt und Gegenstand der Erkenntnis. 30
a.a.O., Bd. 1, S. 85.
184
Inhalt und Gegenstand - Grund und Begründung
VIII Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit Ich übergehe die auf leeren Wortstreit hinauslaufenden Auslassungen STERNS über die Friessche Unterscheidung empirischer und transzendentaler Wahrheit. STERN gibt selbst so viel zu, daß die Friessche Methode der Begründung »wegen ihrer ausgesprochen immanenten Richtung die von KANT gemeinten transzendentalen Fragen wohl hätte mit umfassen können«; aber er meint, daß FRIES mit ihr »doch weit hinter der Kantischen Problemstellung zurückbleibt«, und dies zwar dadurch, »daß er Notwendigkeit und Möglichkeit wieder aus einer Wirklichkeit, nämlich der Wirklichkeit seiner unmittelbaren Erkenntnis der reinen Vernunft abzuleiten unternahm, d. h. dadurch, daß er selbst das realistische Vorurteil nicht völlig los wurde«. 31 Um zu beurteilen, was es mit diesem Vorwurf der Ableitung der Notwendigkeit und Möglichkeit aus der Wirklichkeit auf sich hat, müssen wir auf die früheren Ausführungen der Sternsehen Abhandlung zurück.sehen. Da heißt es: »Nach KANT war das Wirkliche für die Wissenschaft zweifelhaft und unbeglaubigt, solange es nicht vor dem Forum der apriorischen Erkenntnis als möglich erwiesen, solange nicht dargetan war, daß es sich in seiner Struktur aus den Mitteln des Apriorischen herstellen oder wenigstens dem Entwurfe nach ableiten ließ. Die Möglichkeit war ihm der Prüfstein der Wirklichkeit, genauer gesagt: der Prüfstein für die wissenschaftliche Haltbarkeit aller zunächst nur anscheinenden oder behaupteten Realität.« 32 Die in diesen Sätzen ausgesprochenen Behauptungen widersprechen, soweit sie nicht in ihrer verschwommenen Unbestimmtheit alles Beliebige bedeuten können, also in Wirklichkeit nichts bedeuten, dem offenkundigsten Tatbestand, den die Geschichte der Philosophie kennt. 33 Für KANT liegt das Kriterium der Wirklichkeit ai
a.a.O., Bd. I, S. 81.
a2 a.a.O., Bd. I, S. 79. 33
In den Worten »in seiner Struktur« und »oder wenigstens dem Entwurfe
VIII. Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit
18 5
dies ist so bekannt, daß es kaum der Erwähnung bedarf - nicht in der apriorischen Erkenntnis, sondern in der Wahrnehmung. Was nicht möglich ist, kann auch nicht wirklich sein, das ist ein KANT keineswegs fremder Gedanke; aber überall wehrt die Kritik der reinen Vernunft den Gedanken ab, die Wirklichkeit aus den Mitteln des Apriorischen ableiten zu wollen. »Das Postulat, die Wirklichkeit der Dinge zu erkennen, fordert Wahrnehmung«, sagt KANT34 • »Die Wahrnehmung ist der einzige Charakter der Wirklichkeit.« 35 »Fangen wir nicht von Erfahrung an, oder gehen wir nicht nach Gesetzen des empirischen Zusammenhanges der Erscheinungen fort, so machen wir uns vergeblich Staat, das Dasein irgendeines Dinges erraten oder erforschen zu wollen.« 36 - Die Aufschlüsse, die uns STERN hier über KANT erteilt, sind jedenfalls auch aus jener berühmten Fundgrube geschöpft, die unter dem Namen des »echten Geistes« der Kantischen Philosophie von jeher dem klaren Wortlaut der Kritik Widersprechendes als Kantisch hat ausgeben lassen, dem Nährboden jener dreisten Interpretationssophistik, gegen die schon KANT selbst sich so feierlich verwahrt hat. So hat denn auch der von STERN weiterhin behauptete Gegensatz des Friesschen Möglichkeitsbegriffs gegen den Kantischen keine Bedeutung. Er tadelt es nämlich, daß FRIES den Begriff des Möglichen »nur meine Reflexion und nicht das Wesen der Dinge selbst« angehen läßt. 37 Aber auch für KANT haben »die Kategorien der Modalität das Besondere an sich, daß sie den Begriff, dem sie als Prädikate beigefügt werden, als Bestimmung des Objekts nicht im mindesten vermehren, sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrücken«. 38 Ferner behauptet STERN, daß FRIES »im Gegensatz zu KANT die
34 35 36 37
38
nach« hat sich STERN natürlich eine Hintertür offen gehalten, die seine ganze Behauptung wieder zu einem Muster logischer Unbestimmtheit macht. Kritik der reinen Vernunft, S. 206 (Kehrbachsche Ausgabe). s. 207. s. 207 f. a.a.O., Bd. I, S. 79. Kritik der reinen Vernunft, S. 202. Vgl. auch Kritik der Urteilskraft § 76: »Also ist die Unterscheidung möglicher Dinge von wirklichen eine solche, die bloß subjektiv für den menschlichen Verstand gilt.«
r 86
Inhalt und Gegenstand - Grund und Begründung
Möglichkeit von der Wirklichkeit abhängen ließ«. Ich finde für diese Behauptung bei ihm keine andere Begründung als die dem Friesschen Satze »Wenn ich von etwas aussage, das ist wohl möglich, das kann wohl sein, so bedeutet dies nur: ich kann nicht beurteilen, ob es ist oder ob es nicht ist, was also nur meine Reflexion und nicht das Wesen der Dinge selbst angeht« hinzugefügte Bemerkung: »Man beachte, wie in dem >Etwas< das Wirkliche bereits der Diskussion des Möglichkeitsbegriffs zugrunde gelegt wird.« 39 Wenn ich also beispielsweise gefragt werde, ob mein Freund heute abend im Theater ist, und ich darauf antworte: »das ist wohl möglich, das kann wohl sein, ich kann es nicht beurteilen«, so habe ich nach STERN dieser Antwort bereits die Annahme zugrunde gelegt, daß mein Freund wirklich heute abend im Theater ist. Nicht weniger sophistisch, wenn auch vielleicht für den Ungeübten nicht so leicht als leere Wortmacherei zu durchschauen, ist nun die Behauptung, daß FRIES »die Notwendigkeit in alter empiristischer Verfehlung aus einer Wirklichkeit abzuleiten suchte«. 40 »Der Quell des Wirklichen«, lehrt FRIES ausdrücklich, »und der Quell des Notwendigen stehen für unser Bewußtsein in unvermeidlicher Trennung nebeneinander.« 41 - STERN beruft sich für seine Behauptung auf den Friesschen Satz: »Die Notwendigkeit in unserer Erkenntnis ist nur durch ursprüngliche dauernde, sich gleichbleibende Tätigkeit der einen Erkenntniskraft in unserer Vernunft möglich.« In der hier genannten sich gleichbleibenden Tätigkeit erblickt STERN die angeblich von FRIES der Notwendigkeit zugrunde gelegte Wirklichkeit. Und allerdings bedeutet diese Tätigkeit bei FRIES etwas Wirkliches, nämlich eine wirkliche Erkenntnistätigkeit. Aber wofür soll dieses Wirkliche den Grund enthalten? Das kann nicht zweifelhaft sein, wenn wir die Frage beachten, auf die jener Friessehe Satz die Antwort erteilt. Diese Frage lautet: 39 40
41
a.a.O., Bd. I, S. 79. a.a.O., Bd. I, S. 79. Logik, § 111.
VIII. Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit
1 87
»Welche Beschaffenheit wird in einer Erkenntniskraft vorausgesetzt, damit sie notwendige oder apodiktische Erkenntnisse besitzen könne, wie unsere Vernunft?« 42 Jedermann, der den Sinn dieser Worte verstehen und ihn nicht verdrehen will, sieht, daß hier die Möglichkeit eines tatsächlichen Besitzes unserer Vernunft, nämlich des Besitzes gewisser Erkenntnisse, erklärt werden soll; er sieht, daß hier nicht eine metaphysische Frage über das Wesen der Notwendigkeit, sondern die psychologische Frage des Ursprungs unserer Erkenntnis des Notwendigen erörtert werden soll. Für die Möglichkeit eines Wirklichen, nämlich einer wirklichen apodiktischen Erkenntnis wird hier der Grund in einem anderen Wirklichen, nämlich in einer anderen apodiktischen Erkenntnis gesucht. Denn auch jene »wirkliche« sich gleichbleibende Tätigkeit (die unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft) ist eine apodiktische Erkenntnis; so gut wie die durch sie ermöglichte apodiktische Erkenntnis ihrerseits etwas Wirkliches ist. Diese Erklärung der Möglichkeit apodiktischer Erkenntnisse ist eine durchaus naturwissenschaftliche Aufgabe und steht in dieser Hinsicht ganz auf einer Stufe mit der physikalischen Erklärung irgendeiner Naturerscheinung. Die tatsächlich beobachteten, also »wirklichen« Störungen, die der Lauf des Uranus zeigte, forderten eine Erklärung ihrer Möglichkeit. Diese Erklärung fand LEVERRIER, indem er als die Ursache jener Störungen das ebenfalls »wirkliche« Vorhandensein eines neuen Planeten entdeckte. Genauso ist die von FRIES gefundene Erklärung der Möglichkeit apodiktischer Erkenntnisse (einer Tatsache der inneren Erfahrung) zu beurteilen. Sie hat nichts zu schaffen mit der ihr von STERN untergeschobenen »empiristischen« Tendenz, Apodiktisches aus Empirischem ableiten zu wollen. Jene sich gleichbleibende Tätigkeit der unmittelbaren Erkenntnis ist, als Grund apodiktischer Erkenntnis, notwendig selbst eine apodiktische Erkenntnis, wenngleich sie, als etwas »Wirkliches«, nur durch (innere) Erfahrung aufgewiesen werden kann, also ein Gegenstand empirischer Erkenntnis ist. Wer freilich Gegenstand und Inhalt der Erkenntnis nicht zu 42
Neue Kritik der Vernunft, § 90.
188
Inhalt und Gegenstand - Grund und Begründung
unterscheiden vermag, wer den Grund einer Erkenntnis mit ihrer Begründung vermengt, der wird natürlich diese Friessche Erklärung dahin mißdeuten, daß sie nicht nur eine empirische Aufweisung des Grundes apodiktischer Erkenntnisse unternimmt, sondern diesen Grund selbst zu einer empirischen Erkenntnis machen will. Und wirklich lesen wir im Sternsehen Referat über FRIES: »Das Empirische, das von Rechts wegen nur das durch Wahrnehmung Verbürgte bedeutete, soll nun ganz allgemein jede Erkenntnis umfassen dürfen, die sich subjektiv, als unmittelbar in der Vernunft enthalten aufweisen ließ.« 43 Ebensowenig also, wie KANT die Wirklichkeit aus der Möglichkeit hat ableiten wollen, ebensowenig ist es wahr, daß FRIES Möglichkeit und Notwendigkeit von der Wirklichkeit hat abhängen lassen. Dem Unternehmen STERNS, hier einen Gegensatz zwischen KANT und FRIES zu statuieren, fehlt mithin jeder Boden. 44
IX Psychologie und Selbstbeobachtung
Wie kommt nun aber STERN von seiner Behauptung, FRIES habe Notwendigkeit und Möglichkeit aus einer Wirklichkeit abzuleiten unternommen, zu der anderen, daß FRIES »das realistische Vor43 44
a.a.0., Bd. I, S. 87. Die Behauptung STERNS, »daß es rein empirische, rein auf Sinnesdaten ruhende Erkenntnisse nicht geben kann« (S. 86 f.), ist wiederum leerer Wortstreit. Ob man das Wort »Erkenntnis« auf die Erfahrung beschränken und die Sinneswahrnehmungen »Indizien zu Erkenntnissen« nennen will, oder ob man Wahrnehmungserkenntnis und Erfahrungserkenntnis unterscheidet, das ist Sache willkürlicher Terminologie. Und wenn STERN sagt, im Sinne KANTS sei »alles auf reale Sachverhalte bezügliche Wissen aufzufassen als gleichzeitig bedingt durch apriorische wie durch empirische Elemente«, so gilt dies für FRIES in gleichem Maße wie für KANT. Denn auch FRIES lehrt, daß »jedes kleine oder große Ganze der Erkenntnis im Leben schon ein theoretisches Ganzes ist, in welchem philosophische, mathematische und historische Elemente schon miteinander verbunden vorkommen«. »Rein historische Erkenntnis wird niemals für sich behandelt, sondern immer schon mit theoretischen Elementen verbunden, immer schon unter mathematische oder philosophische Formen gefaßt.« (Logik,§ 111.)
IX. Psychologie und Selbstbeobachtung
urteil nicht völlig los wurde«? Er selbst sagt uns darüber nichts, er verbindet beide Behauptungen einfach durch ein »d. h.«. Wir werden uns also aufs Raten legen müssen, um über die Natur seiner Schlußweise ins klare zu kommen. Vielleicht läßt sich diese daraus erraten, daß er dem eben FRIES zugeschriebenen Unternehmen die Kantische Ansicht gegenüberstellt, nach der »alle psychischen Bestände, alles wovon Psychologie oder Anthropologie reden kann, als transzendentale Projektionen, als Objektivationsprodukte gelten«. 45 Hier müssen wir aber sogleich wieder zweierlei Gedanken unterscheiden, die bei STERN ungetrennt durcheinanderlaufen. Daß die Psychologie, als Wissenschaft aus innerer Erfahrung, nicht Sache »unmittelbarer, rein empiristischer Selbstbeobachtung« ist46, daß sie die Hilfe der »apriorischen Mittel« erfordert, »die für die Isolierung gerade der psychischen Vorgänge erforderlich sind« 47, das werden wir niemals bestreiten, und das entspricht auch durchaus der Friesschen Lehre. FRIES hat selbst in der Einleitung zur ersten Auflage seiner Neuen Kritik der Vernunft eine ausführliche Übersicht über die allgemeinen philosophischen Kriterien gegeben, die der Begründung seiner Theorie der Vernunft zugrunde liegen, und er hat später diese philosophischen Grundlagen der inneren Erfahrung in dem »Metaphysik der inneren Natur« überschriebenen Kapitel seiner Metaphysik noch genauer entwickelt und dort gezeigt, wie sich auf diesen Grundlagen die Psychologie in analoger Weise aufbaut wie die Physik auf der Grundlage der von KANT entwikkelten »metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft«. Was sind nun da Bemerkungen wie die von dem »Glorienschein der letzten direktesten unmittelbarsten uns zugänglichen Weisheit, mit dem FRIES und seine Nachfolger die Anthropologie so gern umgeben wollen«, 48 anderes als erdichtete, dem historischen Tatbestande Hohn sprechende Entstellungen? »Die Kritik«, sagt STERN, »hat zur Aufgabe die Analyse der Mittel und Methoden aller Erkenntnis überhaupt, und es bedeutet in dieser Hinsicht nur eine spezielle 45 46 47 48
s. 81. s. 82. s. 83. s. 82.
1 90
Inhalt und Gegenstand - Grund und Begründung
Aufgabe, darzutun, wie wir mit jenen Methoden schließlich in der Psychologie auch zu der Synthese von Erkenntnisakten gelangen.« 49 Mit derartigen Sätzen, die genau die Friessche Ansicht wiedergeben, will STERN FRIES widerlegen.
X Zu den »primitiven Lehren« der formalen Logik Doch folgen wir unserem Sophisten noch ein wenig weiter. Mit dem Satze, daß die Psychologie zu ihrer Ausbildung neben der bloßen Selbstbeobachtung »apriorischer Mittel« bedarf, verbindet STERN, wie es scheint, als in ihm eingeschlossene Konsequenz, den Gedanken, daß die Gegenstände, von denen Psychologie handelt, nach idealistischer Weise als durch die psychologische Erkenntnis erzeugt zu beurteilen seien. Dies liegt schon in dem oben über seine »transzendentale Prägung« Mitgeteilten, es geht aber auch daraus hervor, daß er den Vorwurf, FRIES habe, im Gegensatze zu KANT, jenen ersten Satz verkannt, ohne jede Vermittlung in den anderen übergehen läßt: »FRIES bleibt in seinem Kampf gegen KANT auf halbem Wege stehen. Und hier liegt zugleich der innere Widerspruch seiner Lehre: an den vermeintlichen Dingen an sich im Sinne von äußeren Gebilden erkennt er den idealistischen Charakter, nicht so an den Vergegenständlichungen, in denen das psychologische Interesse die Eigentümlichkeiten und Fähigkeiten der menschlichen Seele fixiert.«50 STERN setzt also voraus, daß alle Gegenstände, zu deren Erkenntnis es apriorischer Mittel bedarf, nicht als an sich, d. h. unabhängig von ihrem Erkanntwerden, existierend angenommen werden dürfen. Diese Lehre, der »formale Idealismus« der Kantischen Philosophie, ist es, die STERN zur Grundlage seiner Polemik gegen FRIES macht. So lesen wir Seite 82: »Nicht direkte und vermeintlich an sich bestehenden psychischen Realitäten zugewendete Selbstbeobachtung liefert die letzten anthropologischen Kenntnisse.« Und 49 50
s. 83. s. 81.
X. »Primitive Lehren« der formalen Logik
von FRIES wird gesagt: »Unmittelbare, rein empiristische Selbstbeobachtung, nicht mehr geleitet von Kriterien, die in der Werkstätte philosophischer Reflexion bereits gesichtet wären, soll über diese Erkenntnisakte Aufschluß geben können. Es ist naiver Realismus, nur - statt auf Dinge - auf Erkenntnisse gerichtet.« Der Gedanke, der STERN bei seiner Argumentation vorgeschwebt hat - ich sage »vorgeschwebt«, denn bei seiner unüberwindlichen Scheu vor bestimmten Begriffen ist, wie wir sahen, von einem eindeutigen Ausdruck wirklicher Gedanken in seinem Texte keine Rede -, dieser Gedanke kann nach alledem, soviel ich sehe, nur der folgende gewesen sein: »Der Gegenstand einer durch apriorische Mittel bedingten Erkenntnis kann nicht an sich existieren. Nun übersieht FRIES die die psychologische Erkenntnis bedingenden apriorischen Mittel. Folglich nimmt FRIES die Gegenstände der psychologischen Erkenntnis als an sich existierend an.« Lassen wir vorderhand den ersten dieser Sätze auf sich beruhen. Daß der zweite falsch ist, haben wir gezeigt. Aber sehen wir auch davon ab, nehmen wir an, beide Vordersätze des Argumentes wären zugegeben. Folgt dann wirklich die Sternsehe Behauptung? Es bedarf keines sonderlichen Scharfsinns, um einzusehen, daß dies nicht der Fall ist. Denn damit, daß die Gegenstände einer durch apriorische Mittel bedingten Erkenntnis nicht an sich existieren, ist nicht gesagt, daß die Gegenstände einer nicht durch apriorische Mittel bedingten Erkenntnis an sich existieren. Und doch wäre es dies allein, was die Sternsehe Argumentation schlußkräftig machen könnte. Ich kann mich hierfür freilich nur wieder auf die von STERN so mißachtete formale Logik berufen. Zu den »primitiven Lehren« dieser Wissenschaft gehört es nämlich, daß aus der Richtigkeit eines Satzes nicht auf die Richtigkeit seiner Umkehrung geschlossen werden darf. In der von STERN adoptierten Logik ist dies anders. Da wird aus dem Satze »alle Studenten sind Menschen« geschlossen, daß alle Menschen Studenten sind. Genau von dieser Art ist der Schluß, der den Kernpunkt von STERNS » Widerlegung« der Friessehen Philosophie ausmacht.
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Inhalt und Gegenstand - Grund und Begründung
XI Noch einmal Kritizismus und Idealismus Wie steht es nun aber mit dem Satze vom Nicht-an-sich-Existieren der Gegenstände aller durch apriorische Mittel bedingten Erkenntnis? Der Umstand, daß KANT diesen Satz lehrt, berechtigt noch nicht, ihn ohne weiteres als richtig anzunehmen und als eine neutrale Voraussetzung der Polemik zugrunde zu legen. Dies Verfahren ist um so mehr zu beanstanden, als gerade FRIES, zu dessen Widerlegung dieser Satz als oberste Appellationsinstanz angerufen wird, gezeigt hat oder doch jedenfalls zu zeigen versucht hat, daß er irrig ist. 51 Diese Friessche Nachweisung hätte STERN zu allererst widerlegen müssen, wenn er mit Berufung auf jenen Satz die Friessehe Philosophie angreifen wollte. Solange diese Widerlegung nicht geliefert ist, schwebt der ganze Sternsehe Angriff in der Luft. Man bemerkt übrigens leicht, wodurch STERN veranlaßt worden ist, dem in Rede stehenden Satze so unbefangen Vertrauen zu schenken, daß er ihn ohne besondere Begründung an die Spitze seiner Argumentation gestellt hat. Die Ursache hierfür liegt in seiner bereits erörterten Verwechslung von Kritizismus und Idealismus. Die Kritik der Vernunft hat die Begründung der Erkenntnisse a priori zur Aufgabe. Nun ist es klar, daß man sich zur Begründung solcher Erkenntnisse nie auf die Realität ihrer Gegenstände berufen darf, sondern sich auf eine Vergleichung der Erkenntnisse a priori untereinander beschränken muß. Diese methodische Forderung hatte STERN mit dem Satze verwechselt, daß den Gegenständen der Erkenntnisse a priori die von der Erkenntnis unabhängige Realität abzusprechen sei. Dieser Satz, der doch vielmehr im besten Falle nur ein Resultat der kritischen Untersuchung sein kann, muß demjenigen, der einmal die genannte Verwechslung begangen hat, als ein in der kritischen Aufgabe bereits eingeschlossenes Axiom erscheinen, das dann natürlich keiner weiteren Begründung mehr bedarf, sondern von vornherein postuliert werden muß. Und wer dieses Po51
Man sehe z. B. Neue Kritik der Vernunft, Bd. I (2. Auflage), S. XXIV ff.; Bd. II, § 102 (S. 97 ff.); Wissen, Glaube und Ahndung, S. 43 ff.; Geschichte der Philosophie, Bd. II, S. 583.
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stulat nicht blindlings akzeptiert, der ist damit von diesem Standpunkte aus bereits als Dogmatiker gekennzeichnet. In Wahrheit aber ist mit der Postulierung dieses idealistischen Satzes so wenig gegen den Dogmatismus ausgerichtet, daß dadurch im Gegenteil nur ein neues Dogma der Kritik untergeschoben wird. Denn als Dogma hat jeder Satz zu gelten, dessen Richtigkeit ohne Begründung angenommen wird. Von dieser Art ist der fragliche Sternsehe Satz, und daran wird nichts geändert, wenn man seinen Inhalt mit dem Wort »Kritizismus« bezeichnet. Hiermit ist der Forderung STERNS, auf seine gegen FRIES' »realistisches Vorurteil« gerichteten Ausführungen einzugehen, Genüge geleistet. Wir sind seinem Widerlegungsversuch Schritt für Schritt bis zum Ende gefolgt. Unsere Prüfung hat ergeben, daß diese Widerlegung hinfällig ist: Erstens, weil der Schluß, auf den sie sich gründet, ein Trugschluß ist. Zweitens, weil die eine wesentliche Voraussetzung dieses Schlusses auf einem Satze beruht, dessen Zulässigkeit gerade strittig ist. Und drittens, weil die andere wesentliche Voraussetzung dieses Schlusses auf falschem Referat beruht.
Schluß überschlagen wir nunmehr noch einmal den Inhalt der Sternsehen Ausführungen, so finden wir, daß sie auf nichts anderes hinauslaufen als auf eine neue Umschreibung jenes alten Arguments, mit dem KuNo FISCHER den Streit gegen FRIES eröffnete und das in allen seitdem versuchten Widerlegungen der Friesschen Philosophie als Grundgedanke wiederkehrt - des Argumentes, das seinen typischen Ausdruck in FISCHERS eigenen bündigen Worten gefunden hat: »Was a priori ist, kann nie a posteriori erkannt werden.«52 An dieser Formulierung läßt sich denn auch der im Vorstehenden aufgedeckte Grundfehler des Argumentes besonders deutlich demonstrieren. Der Fehler versteckt sich in der Unbestimmtheit des 52
Die beiden kantischen Schulen in Jena, 1862, S. 18.
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Inhalt und Gegenstand - Grund und Begründung
Wortes »Was«. Apriorität ist ein Prädikat, das, wie FISCHER selbst sagt, nur von Erkenntnissen ausgesagt werden kann. 53 Hatte aber FISCHER etwa den tautologischen Satz aussprechen wollen: Was a priori erkannt wird, kann nicht a posteriori erkannt werden oder, noch kürzer und klarer formuliert: Eine Erkenntnis a priori ist keine Erkenntnis a posteriori? Wohl kaum; denn dieser Satz dürfte schwerlich je auf Widerstand gestoßen sein. Jenes »Was« sollte also wohl nicht wie in dieser tautologischen Deutung den Inhalt, sondern den Gegenstand der Erkenntnis bezeichnen, von der im Nachsatze die Rede ist. Und so bedeutete der Satz: Eine Erkenntnis a priori kann nie Gegenstand einer Erkenntnis a posteriori werden. In dieser Form aber stände der Satz da als eine aus der Luft gegriffene Behauptung, die sich wohl mit Pathos, nicht aber mit Gründen vertreten läßt. Nur durch Verwechslung mit jener Tautologie entsteht der imponierende Anschein von Evidenz, mit dem diese Behauptung bei FISCHER auftritt. Nur durch den gedankenlosen Gebrauch der drei Buchstaben jenes »Was« war es möglich, sich und andere über die Seichtigkeit des Arguments zu täuschen. Mit dieser Verwechslung von Inhalt und Gegenstand der Erkenntnis geht denn auch schon bei FISCHER diejenige von Grund und Begründung Hand in Hand. »Nach FRIES ist«, so referiert er, »die philosophische Grundwissenschaft nicht die Metaphysik, sondern die Anthropologie im Sinn der inneren Naturlehre, d. h. die psychische Anthropologie. Auf dieser anthropologischen Grundlage ruht die Vernunftkritik, auf diese gründet sich die metaphysische Erkenntnis, das System der Philosophie in seiner Gliederung.«54 Allerdings ruht FRIES' Vernunftkritik auf anthropologischer Grundlage, und zwar in dem strengen Sinne, daß die Sätze der Vernunftkritik ihre Gründe in Sätzen der Anthropologie haben. Eben zufolge dieser empirischen Natur ihrer Gründe müssen für FRIES auch die Sätze der Vernunftkritik selbst empirische sein; denn jede Erkenntnis ist mit ihrem Grunde hinsichtlich der Moda53 54
Ebenda. a.a.O., S. 14.
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lität gleichartig. - Aber was soll es heißen, daß sich die metaphysische Erkenntnis auf die Vernunftkritik »gründet«? Die Vernunftkritik soll die Frage beantworten: Wie ist Metaphysik möglich? d. h. sie soll den Grund der Möglichkeit der Metaphysik aufweisen. Das heißt aber nicht: sie soll selbst den Grund der Möglichkeit der Metaphysik enthalten. Wer dies letztere annimmt, der muß freilich auch auf das Verhältnis der Metaphysik zur Kritik das Prinzip der Gleichartigkeit von Erkenntnis und Erkenntnisgrund anwenden, und er wird schließen müssen, daß der anthropologische Charakter der Kritik mit ihrer Aufgabe, der Metaphysik als »Grundwissenschaft« zu dienen, unverträglich ist. Und so schließt FISCHER. Wer aber die Begründung einer Erkenntnis von ihrem Grunde zu unterscheiden weiß, der wird zwar zugeben, daß der Grund der metaphysischen Erkenntnis nicht in einer anthropologischen Erkenntnis liegen könne; aber er wird hieraus nicht schließen, daß die Kritik der Vernunft nicht anthropologisch sein dürfe. Denn der Grund der metaphysischen Erkenntnis ist zwar Gegenstand, nicht aber Inhalt der Kritik der Vernunft. 55 55
Als ein weiterer Fall der Verwedislung von Inhalt und Gegenstand sei hier nodi ein instruktives Beispiel aus nidit-metaphysisdiem Gebiet angeführt. WELLSTEIN, der im ersten Budie des zweiten Bandes der Enzyklopädie der Elementar-Mathematik die Grundlagen der Geometrie einer eingehenden philosophisdien Erörterung unterzieht, spridit, nadidem er zu dem Resultat gekommen ist, daß die Axiome »durdi die Erfahrung nahegelegte Hypothesen« seien, über die von H1LBERT eingeleiteten Untersudiungen der » Tragweite der einzelnen Axiome« und fährt dann fort: »Auf Grund dieser Vorarbeiten wird man immer mehr imstande sein, zu beurteilen, weldie Axiome der Geometrie und Medianik man voraussetzen muß, um diesen oder jenen Naturvorgang so oder so exakt erklären zu können. Soldie Untersudiungen ... werden jetzt in steigendem Maße angestellt. Diese Betraditungen aber bewegen sidi wahrhaft im Bereidie der reinen Ansdiauung a priori in dem vertieften Sinne, daß sie Überlegungen über die Voraussetzungen der Möglidikeit unserer Erfahrung enthalten.« (S. 146.) WELLSTEIN meint, mit diesen Worten »einen guten Gedanken in KANTS Lehre von der reinen Ansdiauung a priori« herauszuheben, in der Tat zeigen sie aber nur sein eigenes Mißverständnis dieser Kantisdien Lehre. Der Ausdruck »reine Ansdiauung« bezeidinet bei KANT den Erkenntnisgrund der mathematisdien Axiome, und somit eine gewisse Voraussetzung der Möglidikeit der Erfahrung. Nun sagt WELLSTEIN mit Redit, daß die genannten kritisdien Untersudiungen »Überlegungen über die Voraussetzungen der Mög-
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Inhalt und Gegenstand - Grund und Begründung
Ich habe in meiner Abhandlung über die kritische Methode diesen Unterschied von Inhalt und Gegenstand der kritischen Erkenntnis eingehend erörtert. (§ 25 ff.) Ich habe dort ferner einen Beweis für das Prinzip der modalischen Gleichartigkeit von Erkenntnis und Erkenntnis-Grund mitgeteilt. Ich habe mir weiterhin insbesondere angelegen sein lassen, die Unzulässigkeit der Anwendung dieses Prinzips auf das Verhältnis der Kritik zum System der Philosophie ausführlich und deutlich zu beweisen. (§ 24.) Ich habe gezeigt, daß die Unzulässigkeit dieser Anwendung des gewöhnlich unbewußt und versteckt benutzten Prinzips daher rührt, daß die Kritik zwar die Begründung, nicht aber den Grund der philosophischen Grundsätze zum Inhalt hat. Und ich habe schließlich den Nachweis geführt, daß das Verkennen dieser Verhältnisse bei den nachkantischen Philosophen die notwendige Ursache ihres Abfalls von der kritischen Philosophie werden mußte, und daß in eben diesem Verkennen die letzte Wurzel aller der Verwirrung zu suchen ist, die in unseren Tagen die sogenannte Neukantische Schule beherrscht. (§ 26 f., und »Anhang«.) STERN hatte meine Abhandlung widerlegen wollen. Es hat sich gezeigt, daß die Voraussetzungen, auf die sich sein Widerlegungsversuch gründet, insgesamt in Annahmen bestehen, deren Unhaltbarkeit ich in der von ihm angegriffenen Schrift dargetan hatte. 56
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lichkeit unserer Erfahrung enthalten«. Das heißt doch aber, daß die Voraussetzungen der Möglichkeit unserer Erfahrung den Gegenstand der fraglichen Untersuchungen ausmachen; während der Inhalt dieser Untersuchungen - das, was diese Untersuchungen »enthalten« - nicht selbst in den Voraussetzungen der Möglichkeit der Erfahrung, sondern in den »Überlegungen über« diese Voraussetzungen besteht. Somit gehört auch die reine Anschauung nur zum Gegenstande, nicht aber zum Inhalt der kritischen Untersuchung. Wir können es daher nicht als eine »Vertiefung«, sondern nur als eine völlige Verkehrung des Sinnes der »reinen Anschauung« ansehen, wenn man die kritischen Untersuchungen in ihren Bereich ziehen will. Ich bemerke nur nebenbei, daß speziell die von HrLBERT ausgehenden Untersuchungen die ,reine Anschauung auch nicht einmal zum Gegenstande haben. Denn diese Untersuchungen sind rein axiomatischer Natur, d. h. sie haben es nur mit Fragen der logischen Unabhängigkeit und Widerspruchslosigkeit gewisser Axiomsysteme zu tun; wobei die Frage der Erkenntnisquelle ganz aus dem Spiele bleibt. Auch vor der Verwechslung von Kritizismus und Idealismus, mit der seine
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Auf solche Weise zu streiten: daß man seinem Angriff eben diejenigen Voraussetzungen zugrunde legt, deren Unhaltbarkeit der Angegriffene mit ausführlichen Beweisen darzutun gesucht hat - auf solche Weise zu streiten ist weder dem Angreifer noch dem Angegriffenen, geschweige denn der Wissenschaft selbst förderlich. - Was mich betrifft, so habe ich meine Abhandlung der öffentlichen Beurteilung vorgelegt, nicht weil ich sie für fehlerfrei hielt, sondern um Gelegenheit zu finden, von denen, die zu urteilen vermögend. und geneigt sind, darüber belehrt zu werden, was an meinem Entwurfe richtig und was an ihm fehlerhaft ist. Deshalb ist mir jede ernsthafte Kritik willkommen - um so willkommener, je schärfer und strenger sie ausfällt. Aber eine solche Kritik darf nicht in unüberlegtem Absprechen bestehen, sondern sie muß auf wissenschaftliche Gründe gestützt sein. Wer eine wissenschaftliche Polemik führen will, der muß den Inhalt dessen, wogegen er streitet, nicht nur gelesen, sondern er muß es Satz für Satz durchdacht und verstanden haben. Daß die Sternsehe Polemik diese Bedingung nicht erfüllt, dürfte dieser Aufsatz hinlänglich gezeigt haben. Es kann aber demjenigen, dessen Zeit und Arbeitskraft durch eigene wissenschaftliche Tätigkeit in Anspruch genommen ist, billigerweise nicht zugemutet werden, auf jeden Angriff, der nicht den ersten Anforderungen an wissenschaftlichen Ernst genügt, einzugehen und eine einmal gegebene Beweisführung bloß für solche, denen es doch nicht um das Verständnis der Sache, sondern nur um Rechthaberei zu tun ist, immer von neuem zu wiederholen. Es mag nunmehr an diesem Beispiel genug sein, aus dem ohnehin ersichtlich geworden sein wird, daß jedermann, der ein ernsthaftes Interesse an der Streitfrage nimmt und die Mühe des Selbstdenkens nicht scheut, durch eine genaue Vergleichung mit meiner ursprünglichen Abhandlung in dieser das zur Abwehr aller derartigen Angriffe erforderliche Rüstzeug findet.
ganze gegen FRIES gerichtete Polemik steht und fällt, hatte ich in meiner Abhandlung ausdrücklich gewarnt. (§ 20.)
Ober die Unhaltbarkeit des wissenschaftlichen Positivismus in der Philosophie
Von dem Aufsatz »Ober die Unhaltbarkeit des wissenschafUichen Positivismus in der Philosophie« wissen wir nur aus Korrekturfahnen, die in einem einzigen Exemplar, versehen mit einem Stempel »A. Th. Engelhardt, Leipzig, 4. Mrz. 14«, erhalten geblieben sind. Auf den Fahnen hat NELSON eigenhändige Korrekturen angebracht. Wir wissen weder, für welche Zeitschrift der Aufsatz bestimmt war, noch, ob er erschienen ist.
APEL T war der letzte Vertreter der unverfälschten kritischen Philosophie, wie sie KANT begründet und FRIES entwickelt hat, auf einem deutschen Katheder. Er ist im Jahre 1859 jung gestorben, ohne einen Nachfolger zu finden. Wie erklärt sich diese Nichtbeachtung der Fries-Apeltschen Fortbildung der Kantischen Philosophie? Ich will auf einige Gründe dieser Erscheinung kurz hinweisen. Der erste einfache Grund liegt in der Schwierigkeit der Auffassung und des Verständnisses der für diese Fortbildung der Philosophie entscheidenden dialektischen Grunduntersuchungen. Es ist eine gewöhnliche Erscheinung, daß tiefliegende Entdeckungen und Fortschritte in der Wissenschaft lange Zeit brauchen, um sich allgemein einzubürgern, und daß sie anfangs nur von ganz wenigen aufgefaßt und in ihrer Bedeutung verstanden werden. Dazu kommt ein Zweites. Das endliche glückliche Gelingen der alten Bemühung, die Philosophie zu einer evidenten Wissenschaft auszubilden und dadurch zum Gegenstand eines zielbewußten Studiums und einer stetig fortschreitenden wissenschaftlichen Arbeit zu machen, mußte dem Interesse aller derer zuwider sein, für die die Philosophie nur ein Tummelplatz ihrer Originalitätssucht ist und denen weniger an der Allgemeingültigkeit der philosophischen Wahrheit gelegen ist als daran, unter ihren Zeitgenossen durch die Aufstellung eines eigenen Systems zu glänzen. Ihnen allen mußte diese Fortbildung der kritischen Philosophie zu einer exakten Wissenschaft unwillkommen sein, und sie mußten sich gegen sie auflehnen. Es war damals und ist zum großen Teil noch heute die herrschende Auffassung, daß die Philosophie eine Sache der genialen Erfindung, des persönlichen Erlebnisses sei und nicht Sache schulmäßiger Arbeit. Zu diesen Gründen, die die Verbreitung und Weiterentwicklung der kritischen Philosophie gehemmt haben, kommen schließlich noch allgemeine zeitgeschichtliche und politische Gründe, von denen ich an dieser Stelle nicht sprechen kann. Wirft man einen Blick auf die Entwicklung der Wissenschaft und Philosophie nach FRIES und APELT, so findet man sie völlig unter dem Zeichen der Reaktion gegen die übergriffe der spekulativen Philosophie nach KANT. Man zog sich ganz zurück von der Philosophie, man wollte sich darauf beschränken, die sogenannte positive
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Unhaltbarkeit des Positivismus
Wissenschaft zu pflegen. Man wandte sich der Erfahrung zu und von der Spekulation ab. Unter dieser positiven Wissenschaft verstand man eine solche, die sich auf die Feststellung von Tatsachen beschränkt und keine metaphysischen Voraussetzungen enthält. Der Ausdruck positive Philosophie oder Positivismus stammt bekanntlich von CoMTE, der der hauptsächlichste Vertreter dieses Positivismus war. Neben CoMTE ist besonders MILL zu nennen. Die Philosophie dieser Männer ist ein naiver Empirismus, der glaubt, ohne alle metaphysischen Voraussetzungen zur Erfahrung und zur Wissenschaft gelangen zu können. Ihr Schlagwort ist die Induktion. Induktion soll das Fundament aller Wissenschaft werden. Was aber eigentlich eine Induktion ist, darüber haben diese Philosophen niemals tiefer nachgedacht, wenn auch MILL zwei dicke Bände über die sogenannte induktive Logik geschrieben hat. Diese induktive Logik MILLS ist bis heute die dialektische Rüstkammer dieser philosophischen Schule. Die Positivisten berufen sich auf HuME als den klassischen Begründer ihrer Lehre, aber sehr zu Unrecht. Denn sie sind weit entfernt von einem Verständnis des Humeschen Problems. Sie sind in Wahrheit Anhänger der Vorgänger HuMES. Sie philosophieren ganz auf der Grundlage von LocKES naivem Empirismus. Sie sehen gar nicht den großen Fortschritt, der durch HuME in der Geschichte der Philosophie bewirkt wurde und der gerade in der Widerlegung dieses naiven Empirismus besteht, in dem Nachweis, daß sich aus bloßer Empirie keine Erfahrung und keine Wissenschaft erhalten läßt. Trotz dieser offenkundigen historischen Tat• sache gibt es noch heute viele Anhänger des Positivismus, die mit HuME als ihrem Meister prahlen. Dieser naive Empirismus, der so stolz ist, sich von aller Metaphysik befreit zu haben, führt in seinen Konsequenzen nur wieder auf die naive Metaphysik der vorkantischen Erfahrungsphilosophie zurück, nämlich auf den einfachen Materialismus. Der Materialismus liegt in der Tat in der Konsequenz einer unkritischen Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode. Das Analoge gilt für die Ethik. Die Ethik des Positivismus ist der Utilitarismus, das Prinzip des allgemeinen Nutzens. Wenn man die Ethik auf Induktion gründen will, so kommt man ja konsequenterweise nicht über
Unhaltbarkeit des Positivismus
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hypothetische Imperative hinaus. Die Induktion lehrt uns nur Naturgesetze kennen und nicht praktische Gesetze. Eine induktive Ethik kann uns daher nur die Mittel lehren zur Verwirklichung anderswoher genommener Zwecke, niemals aber solche Zwecke selbst. So kommt denn auch die Ethik des Utilitarismus zur Aufstellung des höchsten Zweckes nur durch eine Scheininduktion. Dieser Zweck soll die allgemeine Glückseligkeit sein: das größte Glück der größten Anzahl. Man kommt auf diese Bestimmung des sittlichen Endzwecks nur durch einen Fehlschluß von dem, was ist, auf das, was sein soll. Die Induktion lehrt, daß alle Menschen tatsächlich nach Glück streben, und hieraus folgt für die positivistische Ethik, daß das allgemeine Glück das ethisch Erstrebenswerte ist. Dieser offenbare Trugschluß bildet das Fundament der positivistischen Ethik. Seinen größten Einfluß erhielt der Positivismus durch die philosophische Ausbeutung der Entwicklungslehre der neueren Biologie. In dieser evolutionistischen Form ist er besonders von SPENCER ausgebildet worden. In dem Evolutionismus wird der Begriff der Entwicklung, wie er in der biologischen Abstammungslehre eine Rolle spielt, mit dem ethischen Begriffe des Fortschrittes verwechselt, und so glaubt man durch die induktive Erforschung der tatsächlichen Entwicklung der organischen Wesen und der Arten zu ethischen Normen gelangen zu können. Man verwechselt dabei den Unterschied des Späteren und Früheren mit dem des mehr oder weniger Wertvollen und kommt so zu seinen Schlüssen nur durch eine petitio principii. Durch diesen Evolutionismus sollen dann auch die sogenannten Erkenntnisse a priori aus ihrer wahren empirischen Herkunft erklärt werden: als Vorstellungen, die sich durch ihre Zweckmäßigkeit für die Lebenserhaltung bewährt und dadurch entwickelt und vererbt haben. Die sogenannten Erkenntnisse a priori sollen also, wie SPENCER es ausdrückt, dem Individuum angeboren, von der Gattung aber erworben sein. Was wir Vernunft nennen, ist hiernach nur das Residuum früherer Erfahrungen, nämlich der Erfahrungen unserer Vorfahren. Es ist klar, daß bei dieser angeblichen Versöhnung von Empirismus und Rationalismus gar nicht erklärt
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Unhaltbarkeit des Positivismus
wird, was eigentlich erklärt werden sollte, und daß das Problem nur verschoben wird. Es bleibt die Frage, wie denn unsere Vorfahren zuerst zu den fraglichen Vorstellungen gelangt sind. Daraus, daß sich der Besitz dieser Vorstellungen als zweckmäßig erweist, mag wohl erklärt werden, wie sie sich durch natürliche Zuchtwahl erhalten und entwickelt haben, wenn sie einmal da sind. Aber wie der menschliche Geist in ihren Besitz gelangt, erfahren wir dadurch gar nicht. Der Schein einer Erklärung entsteht nur dadurch, daß die Frage nach dem Ursprung der Vorstellungen mit der nach ihrer zeitlichen Entwicklung verwechselt wird. Dieser allgemeinen positivistischen Zeitströmung traten gelegentlich dialektisch besser ausgebildete Philosophen entgegen, besonders unter dem Einfluß der Kantischen Philosophie. Aber diese haben sich niemals durchsetzen können. Die Schuld daran liegt freilich nicht allein in der übermächtigen Zeitströmung, sondern auch in den Mißverständnissen der Kantischen Philosophie, die diesen Forschern ebenso unterliefen, wie schon den meisten früheren Nachfolgern KANTS. Ich nenne hier nur WHEWELL als den wissenschaftlich bedeutendsten Philosophen aus dieser Reihe. Er setzte in seinem großen und gründlichen Werke, seiner »Philosophy of inductive Sciences«, dem Millschen Empirismus eine weit besser durchgebildete Theorie der Induktion entgegen, indem er die Unselbständigkeit der Induktion nachwies und ihre Abhängigkeit von Erkenntnissen a priori zeigte. Trotz seiner bedeutenden Überlegenheit hat er den Einfluß MILLS nicht zu brechen vermocht. Die Achtung, welche MILL, in einer philosophisch ungebildeten Zeit, selbst bei bedeutenden zeitgenössischen Mathematikern und Naturforschern als ihr offizieller Logiker und Metaphysiker genoß, war so groß, daß STALLO sie nicht mit Unrecht mit dem Ansehen vergleicht, in dem ARISTOTELES bei den mittelalterlichen Scholastikern stand. In der Tat ist es größtenteils die Autorität MILLS durch die sich bei der Mehrzahl der Naturforscher das Vorurteil des Empirismus festgesetzt und seine heute noch nicht gebrochene Herrschaft erlangt hat. Die folgerichtige Entwicklung dieses Empirismus konnte indessen nur seine allmähliche Selbstzerstörung sein. Es mußte ihm ebenso gehen wie dem vorkantischen Empirismus. Er mußte allmählich die
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Konsequenz ziehen aus seinen Voraussetzungen, und diese Konsequenz führt zur Selbstzerstörung der empiristischen Lehre, zum wissenschaftlichen Skeptizismus. Diese Konsequenz mußte sowohl in der theoretischen Wissenschaft als auch in der Ethik den Sieg über den Positivismus davontragen. Man mußte einsehen, daß die Induktion kein unabhängiges Begründungsmittel ist, daß aus bloßer Beobachtung keine Gesetze erschlossen werden können. Die Skepsis mußte sich gegen diese Gesetze richten. Man mußte so allmählich zu der nominalistischen Wendung der empiristischen Lehre kommen, wonach die Naturgesetze bloße Annahmen sind, die zur Erforschung der Natur bequem sind, die keinen Anspruch auf objektive Gültigkeit haben und sich als willkürliche Festsetzungen erweisen, als versteckte Definitionen. Wir lernen nach dieser Auffassung keine wirklichen Gesetze der Natur kennen, sondern was wir Gesetze nennen, sind nur willkürliche Festsetzungen, die allein nach ihrer Zweckmäßigkeit, nach ihrer Bequemlichkeit für uns beurteilt werden können und nicht nach ihrer Wahrheit. 1 Ebenso ist es in der Ethik. Es gibt keine objektiven ethischen Gesetze nach der Konsequenz des Empirismus, sondern nur willkürliche Festsetzungen, die wieder nur nach ihrer Zweckmäßigkeit beurteilt werden können und deren Geltung im letzten Grunde nur von der Macht derjenigen abhängt, die an ihrer Durchführung ein Interesse haben. Es kommt auf diese Weise zu der Preisgabe des Naturalismus der Wissenschaft. Der mühsam und nach langem Kampf zum Siege gelangte Naturalismus der Wissenschaft beginnt wieder einem mächtig vordringenden Mystizismus zu weichen. Dies zeigt sich am besten in denjenigen Teilen der Naturwissenschaft, die noch nicht zu streng ausgebildeten mathematischen Theorien gelangt sind, wie in den biologischen Wissenschaften, in denen durch einen Neovitalismus die längst verlassenen teleologischen Erklärungsgründe wieder eingeführt werden. Analoges gilt für die Ethik. Der Empirismus in der Ethik führt 1
Vgl. meine Abhandlung: Ist metaphysikfreie Naturwissenschaft möglich? Göttingen, 1908.
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Unhaltbarkeit des Positivismus
in seiner Konsequenz auf einen ethischen Anarchismus. Es gibt nach ihm keine objektiv verpflichtenden Gesetze, sondern es gibt nur Regeln, die sich im Laufe der biologischen Entwicklung für die Gesellschaft als nützlich erwiesen haben. Die einzig wahre Konsequenz aus dieser biologischen Ethik ist von NIETZSCHE gezogen worden, indem er es für eine bloße Machtfrage erklärte, ob man sich solchen Normen, die keine andere Sanktion als die biologische Zweckmäßigkeit haben, unterwerfen soll oder nicht. Wir kommen so mit ihm zur Proklamierung des ethischen Anarchismus. Und so endigt der konsequente Positivismus in der Zerstörung seiner selbst und aller wahren Wissenschaft; und keine äußere Organisierung, wie sie gegenwärtig von seinen Anhängern angestrebt wird, wird ihn vor diesem Schicksal erretten.
Die sogenannte neukantische Schule in der gegenwärtigen Philosophie
Erschienen in: Die Argonauten, Eine Monatsschrift Herausgegeben von ERNST BLASS. Erster Jahrgang, zweites Hefl:. Heidelberg Verlag von Richard Weissbach 1914, S. 72-82
Größeren Einfluß als in England und Frankreich erreichte die durch den Positivismus veranlaßte philosophische Gegenströmung in Deutschland. Diese Bewegung, die in den sechziger Jahren mit dem Schlagwort der Rückkehr zu KANT eine weitreichende Resonanz fand, wird gewöhnlich als die neukantische Schule bezeichnet. Aber man kann hier eigentlich nicht von einer einheitlichen Schule sprechen. Die Philosophen, die an dieser Bewegung teilgenommen haben, haben sich gleich von Anfang an nach verschiedenen Richtungen von KANT fortbewegt. Das einzige Band, das sie vereinigt, ist außer dem Anspruch jedes einzelnen von ihnen, das wahre Erbe der Kantischen Philosophie zu verwalten, nur die Nichtachtung, mit der sie sich über die Arbeit derjenigen Männer hinwegsetzten, die vor ihnen um eine Vertiefung und wirkliche Fortbildung der Kantischen Philosophie bemüht gewesen waren. Fast das einzige Dokument, das wenigstens von dem Versuch einer Auseinandersetzung dieser Philosophen mit FRIES zeugt, ist die Jenenser Rektoratsrede KuNo FISCHERS aus dem Jahre 1862 über die beiden Kantischen Schulen in Jena. Mit diesen beiden Kantischen Schulen, die er als die metaphysische und die anthropologische einander entgegensetzt, meint FISCHER die Schulen von REINHOLD, FICHTE, ScHELLING und HEGEL einerseits und von FRIES andererseits. Das Thema seiner Rede ist der Streit dieser beiden Schulen, zwischen denen ein Philosoph, der an KANT wieder anknüpfen will, sich entscheiden muß. In dieser Alternative entscheidet KuNo FISCHER zugunsten der metaphysischen Schule. Er gründet diese Entscheidung auf einen Machtspruch, der seitdem berühmt geworden ist und als eine Art Axiom gilt; durch Berufung auf ihn scheint den meisten alle weitere Widerlegung der Friesschen Philosophie entbehrlich gemacht zu sein. Dieser Machtspruch lautet: » Was a priori ist, kann nicht a posteriori erkannt werden.« Dieser Satz scheint bei oberflächlicher Betrachtung sehr einleuchtend. Es scheint absurd zu sein, ihn in Zweifel ziehen zu wollen. Das ist der allgemeine Eindruck, den KuNo FISCHER damals auch wirklich erreicht hat! Durch diesen Satz war die Friessche Philosophie endgültig zu Boden geschlagen. Sie hat kaum noch irgendwelche Beachtung seit dieser Zeit gefunden. Bei näherem Zusehen erweist sich nun dieser Satz als eine leere
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Die sogenannte neukantische Schule
Tautologie, die jedoch sprachlich in so unklarer Form ausgedrückt ist, daß mit ihr leicht eine synthetische Behauptung verwechselt wird, die ganz irrig ist und in keiner Weise aus der Tautologie folgen kann. Der Ausdruck: »Was a priori ist« ist zweideutig. Wenn man den Satz so versteht: »Was a priori erkannt wird, kann nicht a posteriori erkannt werden«, so heißt er nichts anderes als: »eine Erkenntnis a priori ist keine Erkenntnis a posteriori«. Das ist eine richtige Vergleichungsformel. Aber was KuNo FISCHER behaupten will, ist offenbar mehr. Er will behaupten, daß die Kritik der Vernunft nicht, wie FRIES gewollt hatte, nach psychologisch-empirischer Methode ausgeführt werden kann. Die Kritik der Vernunft hat metaphysische Urteile zu begründen. Sie muß also selbst eine metaphysische Wissenschaft sein. Wir können nur a priori erkennen, welche Erkenntnisse a priori wir haben und welche gültig sind. Das soll durch den Satz KuNo FISCHERS behauptet werden. Diese aus der Luft gegriffene Behauptung ist in keiner Weise aus jener leeren Vergleichungsformel herauszuholen. Was KuNo FISCHER verwechselt, ist der Gegenstand der Vernunftkritik und ihr Inhalt. Die Gegenstände der Kritik sind Erkenntnisse a priori. Daraus folgt aber nicht, daß der Inhalt der Kritik aus Erkenntnissen a priori bestehen muß. Nur unter Voraussetzung des Vorurteils, welches KuNo FISCHER mit REINHOLD und seinen Nachfolgern teilt: daß die kritische Begründung zugleich den Grund der metaphysischen Urteile enthalten müsse - nur unter dieser Voraussetzung muß sie selbst eine Erkenntnis a priori sein. Es liegt also schon in der unausgesprochenen Voraussetzung seiner Argumentation die Auffassung zugrunde, die dazu treibt, den Weg von KANT zu FICHTE, ScHELLING und HEGEL zu beschreiten; und die versuchte Widerlegung der anthropologischen Methode von FRIES beruht bei ihm nur auf einer petitio principii. Und diesen Weg ist die neukantische Schule gegangen, wenn sie es auch nicht wahrhaben will. So sehr man in dieser Schule auch glaubt, das Verständnis der Kantischen Philosophie gepachtet und die Irrtümer der nachkantischen Spekulation überwunden zu haben, so haben sich doch, wie schon das Beispiel KuNo FISCHERS zeigt, die Mißverständnisse der Kritik, die REINHOLD auf seinen Abweg zum Dogmatismus geführt und die großen Irrungen
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seiner Nachfolger veranlaßt hatten, auch in ihre Auffassung der Kantischen Vernunflkritik eingeschlichen. So hat diese Schule nicht sowohl, wie sie vorgibt, eine Erneuerung der kritischen Philosophie bewirkt, als vielmehr nur eine solche des erkenntnistheoretischen Vorurteils. Was daher die sogenannte neukantische Schule von den dogmatischen Spekulationen der früheren unterscheidet, ist nichts weiter als Inkonsequenz. Der Grundfehler ist auf beiden Seiten derselbe; aber während man ihn dort in seine von KANT weit abführenden Konsequenzen verfolgt hatte, machte man hier den an sich haltlosen Versuch, ihn mit dem Geist der Kantischen Kritik zu vereinigen. So erklärt sich die widerwärtige Rabulistik, mit der die Anhänger dieser Schule ihre willkürlichen Einfälle als den Ausdruck des wahren Geistes der Kantischen Kritik in diese hinein interpretieren. »Im Auslegen seid frisch und munter; legt ihr's nicht aus, so legt es unter!« Dies alles hat einen typischen Ausdruck gefunden in einem der Hauptwerke dieser Schule: in FRIEDRICH ALBERT LANGES Geschichte des Materialismus. LANGE widerlegt den Materialismus durch die Berufung auf KANTS Lehre vom formalen Idealismus. Er tritt dem Empirismus entgegen: er behauptet die Existenz von Erkenntnissen a priori als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung. Zu diesen Prinzipien a priori gehören Raum, Zeit und Kategorien. Der Begriff der Materie selbst ist ein solcher metaphysischer Begriff. Was wir durch diese Begriffe denken, ist nach der Lehre vom formalen Idealismus nichts an sich Bestehendes, sondern eine bloße Erscheinung. Auf diesem Gedanken beruht LANGES Widerlegung des Materialismus. Was ist aber eigentlich mit dieser Widerlegung des Materialismus gewonnen? Ich will hier nicht darauf eingehen, daß der formale Idealismus auf einer dialektisch falschen Voraussetzung beruht, die man nur darum nicht als solche bemerkt, weil man den Begriff der Idealität nicht scharf von dem der Apriorität unterscheidet. Dies habe ich in meinem Buch »über das sogenannte Erkenntnisproblem« genau erörtert. Bei KANT hat dieser formale Idealismus allerdings eine gewisse Bedeutung für die Widerlegung des Materialismus. Er bekommt diese Bedeutung durch KANTS Lehre vom Ding an sich und durch die Kantische Ideenlehre. Diese Lehre vom
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Die sogenannte neukantische Schule
Ding an sich und von den Ideen wird aber von den Neukantianern verworfen. Die Neukantianer ziehen die Konsequenz, die schon FICHTE im Anschluß an das Jakobische Mißverständnis der Kritik gezogen hatte, und verwerfen die Annahme von Dingen an sich. Sie bestreiten die Realität der Ideen und lassen auch KANTS praktische Begründung der Ideen als Postulate der praktischen Vernunft fallen. Aber bei dieser Wendung der Sache verliert die ganze Widerlegung des Materialismus alle Bedeutung. Wenn ich sage, die Materie ist nur Erscheinung, so habe ich mich der Materie nur dann entledigt, wenn ich etwas anderes annehme, das nicht Erscheinung ist. Wenn ich eine solche Annahme nicht mache, wenn ich sage, es gibt nur Erscheinungen und keine Dinge an sich, so habe ich nichts anderes gesagt, als es gibt nur Materie, mag ich diese nun Erscheinung nennen oder wie sonst. Die Materie bleibt nach dieser Auf fassung das einzig Wirkliche, und der Materialismus bleibt so unwiderlegt wie vorher. Die neukantische Kritik des Materialismus ist also ein bloßes Wortspiel. LANGE ist, und ebenso seine Nachfolger, für die Religion eingetreten im Gegensatz zu dem damals herrschenden irreligiösen Naturalismus. Diese Langesche Religion ist aber ein merkwürdiges Ding. Sie ist, wie LANGE selbst sagt, eine Religion ohne Glauben, und sie muß nach seiner Lehre eine Religion ohne Glauben sein. Die Realität der religiösen Ideen wird ja in dieser Philosophie verworfen. Die Religion muß sich also auf ein bloßes Gefühl beschränken, ein Gefühl, das keinen Anspruch auf Wahrheit und objektive Gültigkeit machen kann. Man schwelgt also in Gefühlen, während man sich doch bewußt ist, daß diese Gefühle sich auf nichts Objektives beziehen, sondern ein bloßes Produkt des psychologischen Mechanismus in uns sind. Eine solche Religion ist nur ein romantischer Selbstbetrug. Auf diese Weise ist der Religion wenig geholfen, und man muß sich wundern, daß sich bis heute die Vorstellung erhalten konnte, in dieser Schule sei eine Überwindung des Naturalismus und eine Begründung der Religionsphilosophie gewonnen. Wir finden diese verfehlte Widerlegung des Nat1:1ralismus in etwas anderer, aber vielleicht noch drastischerer Form bei einem neueren Anhänger dieser Schule, bei RrcKERT. RrcKERT bemüht sich um
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eine Nachweisung der »Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung«. Er unterscheidet zwei verschiedene Arten der Wissenschaft: Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft. Die Geschichte ist ihm die einzig wahre Wirklichkeitswissenschaft. Die Naturwissenschaft hat es eigentlich mit nichts Realem zu tun. Sie hat es zu tun mit bloßen willkürlichen Abstraktionen. Diese Abstraktionen sind die Naturgesetze. RICKERT sagt: Die Natur ist das Dasein der Dinge mit Rücksicht auf das Allgemeine. Die Geschichte ist das Dasein der Dinge mit Rücksicht auf das Individuelle. Das Individuelle ist das Wirkliche selbst. Die Natur entsteht nur durch eine willkürliche Abstraktion; das soll sagen, daß die allgemeinen Gesetze der Natur bloße Produkte der wissenschaftlichen Reflexion sind und keine Bedeutung in der Wirklichkeit haben. Und wenn wir uns von den leeren Abstraktionen freimachen, die uns die Naturwissenschaft wie etwas Wirkliches vorgaukelt, so kommen wir auf die Geschichtswirklichkeit und damit auf die eigentlich wahre Wirklichkeit. Hier liegt eine Verwechslung von Begriff und Gesetz zugrunde. Es gibt verschiedene Arten des Allgemeinen in unserer Erkenntnis. Wir müssen ein analytisches Allgemeines von einem synthetischen Allgemeinen unterscheiden. Das analytische Allgemeine ist der Begriff, und Begriffe sind allerdings bloße Abstraktionsgebilde und haben keine objektive Wirklichkeit außer unserm Denken. Ganz anders verhält es sich mit dem synthetischen Allgemeinen der Gesetze. Dieses synthetische Allgemeine ist nicht ein Produkt der Abstraktion, eine willkürliche Schöpfung unseres Verstandes, sondern etwas Objektives, ein Gegenstand unserer unmittelbaren Erkenntnis. Man mag auf das Bestehen solcher Gesetze »Rücksicht« nehmen oder nicht, ihre Existenz hängt nicht von unserm Willen ab. Sie bestehen objektiv auch dann, wenn wir nicht auf sie reflektieren. Ich entledige mich damit der Naturgesetze nicht, ich mache mich nicht frei von ihnen dadurch, daß ich meine Aufmerksamkeit von ihnen ablenke. Diese Entgegensetzung von Natur und Geschichte beruht bei RrcKERT noch auf einer andern Verwechslung, nämlich auf der von Gesetzlichkeit und Gleichförmigkeit. Die Geschichte hat es in der
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Tat mit Einmaligem, Individuellem zu tun, das sich in gleicher Weise niemals wiederholt. Aber damit ist nicht gesagt, daß die Geschichte mit Dingen zu tun hat, die nicht unter Gesetzen stehen. Der Gegensatz zur Einmaligkeit ist Wiederholung oder Gleichförmigkeit, nicht aber Gesetzlichkeit. Gleichförmigkeit und Gesetzlichkeit ist zweierlei. Es kann auch das Einmalige, Individuelle unter Gesetzen stehen. Was unter Gesetzen steht, braucht sich nicht zu wiederholen. Gesetze haben nämlich ihren Ausdruck immer in hypothetischen Urteilen, in Urteilen von der Form: wenn a geschieht, geschieht auch b. Es ist daher mit der Behauptung solcher Gesetze nichts darüber ausgesagt, wie oft a geschieht oder wie oft b geschieht und ob überhaupt a und b geschieht. a mag nur einmal eintreten, dann tritt vielleicht auch b nur einmal ein. Sein Eintreten ist dann aber genauso gesetzlich bedingt, wie wenn es sich öfter wiederholte. Was Wirklichkeit und was nur Schein ist, läßt sich ohne die Voraussetzung der Gesetzlichkeit des Wirklichen gar nicht unterscheiden. Nach der klaren und unwidersprechlichen Nachweisung KANTS ist die Gesetzlichkeit der Gegenstände der Anschauung Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt, Bedingung der Möglichkeit jeder bestimmten Erkenntnis von Gegenständen. Wir können von der Erkenntnis der Gesetze, wie sie in unserer Vernunft liegt, abstrahieren, die Aufmerksamkeit richten allein auf das in der Anschauung gegebene Individuelle, aber wir erkennen auf diese Weise nie bestimmte Gegenstände. Denn was wir einen bestimmten Gegenstand nennen, ist immer eine gewisse Einheit des Mannigfaltigen, die wir als solche niemals anschaulich erkennen, sondern nur durch Begriffe denken können. Wir müssen schon unsere metaphysischen Verknüpfungsbegriffe auf das in der Anschauung Gegebene anwenden, wenn wir zu einer bestimmten Erkenntnis gelangen wollen. Dadurch aber erhält unsere Erkenntnis notwendig die Form der Naturerkenntnis, denn wir können die metaphysischen Verknüpfungsbegriffe nur nach den Regeln des mathematischen Schematismus auf die Sinnesanschauung anwenden, das heißt nur vermittels der Grundsätze der Naturwissenschaft, vermittels der höchsten Naturgesetze überhaupt. So zeigt sich, daß für diese Neukantianer KANTS tiefe Analyse des Begriffs des Gegenstan-
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des, seine transzendentale Analytik, umsonst geschrieben worden ist. Zwar hat sich schließlich RICKERT selbst der Einsicht in die Undurchführbarkeit einer rein empirischen Geschichtswissenschaft nicht entziehen können. Der einzige Ausweg, der ihm aber blieb, um die Selbständigkeit der Geschichte gegenüber der Naturwissenschaft zu retten, war die sonderbare Behauptung, daß es besondere Kategorien für die Geschichte gebe. Er gelangt so zu der Behauptung, es gebe in dem geschichtlichen Geschehen besondere Verknüpfungsformen, die mit dem formalen Charakter den des Individuellen vereinigen. Diese Behauptung enthält einen Widerspruch. Wenn ich mir ein Ereignis a als Ursache eines andern b denke, so liegt in dem Gesagten eingeschlossen, daß immer, wenn a eintritt, auch b eintreten muß. Dieser Gedanke ist der Gedanke einer Gesetzlichkeit. Er setzt den allgemeinen Grundsatz der Kausalität voraus. Für RicKERT dagegen ist das nicht der Fall. Der Historiker soll nach ihm nur eine individuelle Kausalität in den Ereignissen finden, das heißt eine Kausalität, die nicht den Charakter der Gesetzlichkeit hat. Diese individuelle Kausalität ist mithin etwas, wobei sich gar nichts denken läßt; ein Wort ohne Sinn. RICKERTS Wirklichkeitswissenschaft ist nur eine Erneuerung von HEGELS absoluter Wissenschaft. Auch bei HEGEL sollte diese mit der Geschichte zusammenfallen, und RICKERT tut nichts weiter, als daß er diese Fiktion des rationalistischen Gewandes entkleidet, in dem sie bei HEGEL auftritt. Es gibt allerdings eine Betrachtungsweise des Individuellen, in der Anschauung Gegebenen, die von der Form der Naturgesetzlichkeit frei ist. Aber diese ist nur in ästhetischen Urteilen möglich und kann nie die Form einer Wissenschaft annehmen. R1cKERT hat also, wie wir das auch bei der absoluten Wissenschaft seiner romantischen Vorgänger finden, den Gegensatz von Wissenschaft und Ksthetik mit dem von Naturwissenschaft und einer angeblich höheren Wirklichkeitswissenschaft verwechselt. Die neukantische Schule konnte dem Schicksal nicht entgehen, dem schon die Philosophie der ersten Nachfolger KANTS verfallen war. Die Konsequenz mußte schließlich doch weiter treiben und zu einer Spaltung führen in eine psychologistisch-empiristische und eine transzendentalistisch-rationalistische Schule. So hat denn auch
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bereits die Erneuerung der Kantischen Philosophie einer Erneuerung des Widerstreits der früheren nachkantischen Philosopheme Platz machen müssen, und das Schlagwort des Neukantianismus hat seine Wirkungskraft mehr und mehr verloren. Dieses Schicksal wäre der neukantischen Schule erspart geblieben, wenn sie die Belehrungen von KANTS wahren kritischen Nachfolgern nicht unbenutzt gelassen hätte. Sie hätte es dann vermieden, die Kantische Philosophie nur im Spiegel des erkenntnistheoretischen Mißverständnisses aufzufassen und dadurch den Keim der Selbstzerstörung von vornherein wieder in sie hineinzutragen. So zeigt sich die Tendenz zum Psychologismus sehr deutlich schon bei LANGE. LANGE faßt das erkennende Subjekt, dem nach seiner Erkenntnistheorie die Dinge erscheinen, nicht im Sinne der spekulativen Nachfolger KANTS als ein überindividuelles Ich auf, sondern als das psychologisch-physiologisch bestimmte Individuum. Er kommt dadurch auf eine psychologisch-physiologische Wendung der Erkenntnistheorie, die von manchen Naturforschern akzeptiert worden ist. Wieder andere wiederholen die Fichte-Hegel-Schellingsche Spekulation wissentlich. So finden wir bei R1CKERT ganz die Fichtesehe Ich-Metaphysik wieder vor. Durch dieselbe platonische Abstraktion, durch die FICHTE auf sein allgemeines Ich kommt, kommt R1cKERT auf sein erkenntnistheoretisches Subjekt oder sein weltschaffendes Bewußtsein überhaupt. So finden wir bei CoHEN wieder eine Erneuerung der Hegelschen metaphysischen Logik. Unter Nichtachtung der Erfahrungswissenschaften wird in dieser sogenannten Logik das Unternehmen einer Erkenntnis der Wirklichkeit aus reinem Denken erneuert. Und so wird uns hier noch einmal die alte Phantasie von dem Ursprung des Etwas aus dem Nichts vorerzählt. Abermals endet hier die Philosophie des transzendentalen Vorurteils bei den metaphysischen Träumereien der ersten griechischen Naturphilosophen. Wir haben in dieser Philosophie das alte, leere dialektische Spiel ohne alle wissenschaftliche Bedeutung und zugleich dasselbe kenntnislose und dreiste Absprechen über naturwissenschaftliche Fragen, wie bei ScHELLING und HEGEL; nur daß hier diese Anmaßungen unter dem Deckmantel des Kantischen Namens auftreten. Wer einen Beweis für diese manchem vielleicht zu
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stark erscheinende Behauptung wünscht, den verweise ich auf meine Besprechung von CoHENS Logik in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen vom August 1905. Wer die Geschichte der Philosophie kennt, für den kann es nicht zweifelhaft sein, daß der wirkliche große Fortschritt in der Kantischen kritischen Philosophie gerade in denjenigen Gedanken zu finden ist, die von den Nachfolgern KANTS FRIES als einziger aufgenommen und zur Grundlage seiner weiteren großen Entdeckungen gemacht hat, daß wir also einzig in der Friesschen Philosophie die wahre Fortbildung der Kantischen zu finden haben, und daß alle die andern nach KANT aufgetretenen Schulen nur Rückfälle in die vorkantische Dogmatik bedeuten. Wenn man die gegenwärtige Philosophie durchmustert, so finden sich in der Tat keine grundsätzlich neuen Lehren, die uns über die von KANT und FRIES begründete Philosophie hinausführen könnten, sondern nur neue Namen für alte Gedanken, wenn dies auch durch die Anarchie und den fast völligen Mangel an gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung vor der Kontinuität der wissenschaftlichen Geschichte für eine oberflächliche Betrachtung verschleiert wird.
Von der Kunst, zu philosophieren
Erschienen im Sammelband: LEONARD NELSON, Die Reformation der Philosophie durch die Kritik der Vernunft. Leipzig Der Neue GeistVerlag, 1918, S. 7-39 (die Abschnitte dieser Arbeit beginnen dort auf den folgenden Seiten: I auf S. 10; 11 auf S. 12; III auf S. 22; IV auf S. 27; v auf S. 32; VI auf S. 36)
Der Name der Philosophie hat für viele einen schlechten Klang. Den einen bedeutet sie ein wirklichkeitsfremdes Grübeln, das vielleicht im alten Griechenland oder im fernen sagenhaften Indien am Platze sein mochte, das aber im Zeitalter einer zu den höchsten Leistungen gesteigerten Zivilisation als eine wenn nicht störende, so doch unnütze Geistesbeschäftigung erscheinen muß. Andere wiederum mögen sich mit dem Philosophen nicht einlassen, weil ihnen sein Geschäft der Unwissenschaftlichkeit verdächtig ist, eines haltlosen Spekulierens, dessen Ergebnisse besonnener Kritik nicht standhalten. Zwar hat die Mißachtung der Philosophie ihren Höhepunkt schon überschritten. Man beginnt in weiten Kreisen wieder, philosophischen Fragen ein Interesse abzugewinnen. Allenthalben regt sich das Bedürfnis nach einer einheitlichen Welt- und Lebensansicht. Allein, wenn auch dieses Bedürfnis nach Philosophie, das vor allem ein Bedürfnis nach innerem Halt und nach einem Richtmaß für die Gestaltung des persönlichen Lebens ist, vermöge seiner Allgemeinheit ahnen läßt, welche Bedeutung der Philosophie im Ganzen des Menschenlebens zukommen könnte, und wenn es ihr wenigstens wieder einen Schimmer ihrer einstigen Würde zurückzugewinnen vermag, so stehen doch die Männer der Wissenschaft dem Gebaren der Philosophen noch argwöhnisch gegenüber und machen diesen den Platz in ihrer Mitte streitig. Denn in den mannigfachen und oft wunderlichen Formen, in denen sich der philosophische Trieb äußert, und in dem planlosen Umhertappen nach philosophischer Wahrheit ist nichts einer Methode Verwandtes zu erkennen, wie eine solche längst Kennzeichen der anderen Wissenschaften ist und wie sie in der Tat gefordert werden muß, wenn der Name der Wissenschaft zu einem Rechtstitel werden soll. Was ist denn nun aber das Wesen dessen, was wir als Philosophie bezeichnen und von dem hier gefragt wird, ob ihm eine Stelle unter den Wissenschaften gebührt? In der Tat, will man sich nicht in leeres Wortgefecht verlieren, so muß man sich zu allererst darüber verständigen, welchen Sinn man mit dem Wort »Philosophie« verbindet. Denn wenn der eine dies, der andere jenes darunter versteht, so ist es nicht zu verwundern, daß keine Einigung gelingt.
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I Der Gehalt der Philosophie, wenn es eine gibt, muß Wahrheit sein. Es ist aber nicht umgekehrt jede Wahrheit philosophisch. Denn auch die getreue Wiedergabe einer Beobachtung enthält Wahrheit, und wahr sind auch die Lehrsätze der Mathematik. Die philosophische Wahrheit muß also durch irgend etwas gegenüber anderen Wahrheiten ausgezeichnet sein. Dies Auszeichnende kann aber lediglich darin gefunden werden, daß sie uns nur durch Nach denken klar wird. Eine Erkenntnis, die unabhängig vom Nachdenken klar ist, nennen wir nicht philosophisch. Jede Erkenntnis hingegen, die nur durch Nach denken klar wird, ist philosophischer Art. Es gibt aber zweierlei Arten, eine Wahrheit durch Denken zu finden. Das eine Mal denken wir von einem Gegenstand nichts anderes, als was schon in seinem Begriff enthalten ist. D. h. das Prädikat, durch das wir den Gegenstand denkend bestimmen, könnte nicht weggedacht werden, ohne daß dadurch der Begriff des Gegenstandes aufgehoben würde. Von solcher Art ist z. B. die Erkenntnis, daß 2 eine gerade Zahl ist, oder daß die Pflicht nicht verletzt werden darf. Denn die 2 ist definiert als die Verdoppelung der 1, und gerade heißt jede Zahl, die das Doppelte einer ganzen Zahl ist. Darum läßt sich nicht ohne Widerspruch denken, die 2 sei ungerade. Ebensowenig läßt sich, ohne den Begriff der Pflicht selbst aufzuheben, denken, es sei erlaubt, die Pflicht zu verletzen. Solche Urteile nun, die keine über den Begriff ihres Gegenstandes hinausgehende Erkenntnis enthalten, nennen wir analytisch. Und derjenige Teil der Philosophie, der nur analytische Urteile enthält, heißt Logik. Alle anderen Urteile, diejenigen also, durch die wir einem Gegenstand ein Prädikat beilegen, das nicht schon in seinem Begriff enthalten ist, heißen synthetisch. Z.B. das Urteil: »die Rose hier ist weiß«, ist ein synthetisches Urteil. Denn es läßt sich denken, daß die Rose hier nicht weiß wäre. Ebenso ist das Urteil: »die gegenüberliegenden Seiten eines gleichseitigen Vierecks sind parallel« synthetisch. Denn die Parallelität der gegenüberliegenden Seiten folgt nicht aus dem bloßen Begriff des gleichseitigen Vierecks.
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Nun könnte der Schein entstehen, und die Täuschung hat in der Tat bis auf KANT geherrscht, daß philosophische Urteile immer analytisch sein müßten. Denn alle gedachte Erkenntnis ist Erkenntnis durch Begriffe, und eine Erkenntnis scheint daher nur insofern philosophisch sein zu können, als sie aus Begriffen geschöpft ist. Indessen, wenn auch alle analytischen Urteile im erklärten Sinne des Wortes philosophisch sind, so gilt doch nicht, daß umgekehrt alle philosophischen Urteile analytisch sein müßten. Denn etwas anderes ist es, daß eine Erkenntnis nur durch Denken klar wird, etwas anderes, daß sie ihrem Grund in bloßem Denken hat. Und darum liegt nichts Unmögliches in synthetischen Urteilen philosophischen Charakters. Und solche gibt es wirklich; ja sie sind einem jeden von uns so vertraut, daß wir uns gerade darum nicht leicht von ihnen Rechenschaft geben. So setzen wir beim einfachsten Erfahrungsurteil voraus, daß keine Veränderung ohne Ursache geschieht. Dieser Satz drückt eine philosophische Wahrheit aus; denn er läßt sich offenbar nicht der Anschauung entnehmen. Und doch ist er synthetisch; denn im bloßen Begriff der Veränderung liegt nichts, woraus die Notwendigkeit einer Ursache folgte. Oder, um ein ganz anderes Beispiel zu nennen: wenn wir die Strafwürdigkeit eines Verbrechens behaupten, so sprechen wir wiederum ein philosophisches, und zwar synthetisches Urteil aus. Denn diese Behauptung läßt sich weder auf Anschauung gründen, noch liegt im Begriff des Verbrechens, d. h. einer Gesetzesübertretung, irgend etwas von der Rechtmäßigkeit der Bestrafung. Die philosophischen synthetischen Urteile nennen wir kurz metaphysisch. Die Philosophie zerfällt also, gemäß dem Unterschied der analytischen und synthetischen Urteile, in Logik und Metaphysik. Die Metaphysik macht den eigentlichen Gehalt der Philosophie aus, weil nur durch synthetische Urteile eine Erweiterung der Erkenntnis über bloße Begriffe hinaus möglich ist. Weshalb wir denn auch vornehmlich die Metaphysik im Auge haben, wenn wir die Möglichkeit einer philosophischen Wissenschaft erwägen.
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II Diese Frage gewinnt eine ganz verschiedene Bedeutung, je nach dem Interesse, das uns überhaupt zu der Beschäftigung mit der Philosophie führt. Einmal nämlich interessiert uns die Wahrheit eines philosophischen Satzes um der Bedeutung willen, die sie für unsere Welt- und Lebensansicht hat. Andererseits fragen wir nach dem Zusammenhang, in dem die philosophischen Wahrheiten untereinander stehen, und nach den Quellen, aus denen wir die Einsicht in sie schöpfen. So interessiert uns die Wahrheit des Satzes, daß jede Veränderung eine Ursache hat, weil wir danach beurteilen können, ob im Ablauf des Naturgeschehens ein Wunder möglich ist. Es interessiert uns in ähnlicher Weise, zu wissen, daß Verbrechen strafwürdig sind, weil mit der Wahrheit dieses Satzes alle Einrichtungen des Strafrechts stehen und fallen. Andererseits aber ist es uns nicht genug, der Wahrheit eines solchen Satzes gewiß zu sein und uns in der Anwendung darauf zu verlassen, sondern wir suchen auch nach dem Ursprung dieser Gewißheit, nach Gründen, auf die wir uns berufen können, um sie gegen einen möglichen Zweifel sicherzustellen. Es entsteht hier die Frage, ob und woraus sich eine solche Wahrheit beweisen läßt oder, wenn nicht, auf welche andere Weise über sie entschieden werden kann. Das Interesse, das nur die Resultate betrifft, entspringt unmittelbar aus dem Interesse an der Lösung der Probleme, die uns das Leben selber stellt. Wir verlangen von der Philosophie, daß sie uns zur Beurteilung der Tatsachen des Lebens die Regeln gibt, deren wir bedürfen, um überhaupt besonnen handeln zu können. Solche Besonnenheit erfordert, daß wir Einsicht in die letzten Zwecke und Ziele des menschlichen Lebens haben. Und eben diese Zwecke soll uns die Philosophie kennen lehren. Ihre höchste Aufgabe wird also stets auf praktischem Gebiete liegen: in der Ethik als praktischer Metaphysik. Diese Aufgabe können wir mit SOKRATES dadurch bezeichnen, daß wir sagen, die Philosophie solle uns die ungeschriebenen Gesetze aufzeigen, d. h. die Gesetze, die unabhängig von aller
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Autorität und Tradition gelten, die uns vielmehr durch die menschliche Vernunft selbst vorgezeichnet sind. Durch diese Beziehung zum Leben ordnet sich denn auch die Philosophie ihrerseits, wie andere Lebenserscheinungen, in das Ganze des menschlichen Lebens ein, und insofern läßt sie sich wie jene vom allgemeinen kulturgeschichtlichen Standpunkt aus betrachten und beurteilen. Das andere Interesse, nämlich das an der Begründung der philosophischen Wahrheit, ist das eigentlich wissenschaftliche Interesse an der Philosophie. Denn Wissenschaft wird die Philosophie noch nicht dadurch, daß sie Wahrheit enthält, sondern es gehört dazu, daß sie die Urteile, deren Wahrheit sie behauptet, auch begründet. Man kann das Geschäft der Begründung einer philosophischen Lehre kurz als »Dialektik« bezeichnen. Diese umfaßt dann alle Mittel, deren es zur wissenschaftlichen Sicherstellung einer allgemeinen Welt- und Lebensansicht bedarf. Wenn nun auch die Philosophie, als Welt- und Lebensansicht verstanden, zur Dialektik im Verhältnis des Zwecks zum bloßen Mittel steht, so ist doch für die Philosophie als Wissenschaft die Wahl und Handhabung dieses Mittels von so entscheidender Bedeutung, daß wir zunächst unser Augenmerk ausschließlich diesem Mittel zuwenden müssen. Wollen wir nämlich zu einer begründeten Welt- und Lebensansicht gelangen, so muß unsere erste Sorge der Ausbildung der Kunst, zu philosophieren, gelten, d. h. der Erfindung der Methoden zur Zurückführung der philosophischen Urteile auf ihre letzten Gründe. Daher gilt es, sich vor der voreiligen Systemsucht zu hüten, die immer fertig sein will, weil sie die Mühe jener Arbeit scheut, und uns doch nur den Weg verfehlen läßt, dessen Zurücklegung unerläßlich ist, wenn Philosophie als Wissenschaft zustande kommen soll. Man hat freilich gelegentlich auch den Fehler begangen, über der Wertung der Methode des Philosophierens den letzten Zweck der Philosophie zu vernachlässigen. So ist es in einigen Schulen üblich geworden, auf das, was man dort »Weltanschauungsphilosophie« nennt, verächtlich herabzusehen, wobei man sich von der Meinung leiten läßt, eine Weltanschauung gehöre nicht in den Bereich der
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Wissenschaft, und Philosophie als strenge Wissenschaft müsse alle Absichten, die auf die Gewinnung einer Weltansicht gerichtet sind, von der Hand weisen. Diese Ansicht von der Unmöglichkeit einer wissenschaftlich begründeten Weltansicht beruht aber ihrerseits auf einer durchaus willkürlichen Behauptung und greift der Philosophie als Wissenschaft in unrechtmäßiger Weise vor. Denn ehe nicht der Unmöglichkeitsbeweis dafür erbracht ist, daß man auf dem Wege einer strengen Wissenschaft zu einer klaren und festen Weltansicht gelangen kann, steht es mit dem Urteil derer, die diese Unmöglichkeit behaupten, um nichts besser als mit der gegenteiligen Behauptung. Man kann aber auch nicht etwa damit zugunsten jener Behauptung argumentieren, daß man sich auf das angebliche Scheitern aller bisherigen Versuche zur wissenschaftlichen Begründung einer Weltansicht beruft. Denn wenn auch eine solche Argumentation für den oberflächlichen Betrachter etwas Bestechendes haben mag, so wird doch im Ernst niemand schließen, daß darum, weil etwas bisher nicht existiert hat, es auch in Zukunft nicht wirklich werden könnte. Allerdings, wenn man auf dem pessimistischen Vorurteil besteht, das einer solchen Schlußweise entspricht, so wird man auch recht behalten: das bisher Unverwirklichte wird in alle Ewigkeit unverwirklicht bleiben. Man hat sich dieses Ergebnis aber nur selbst zuzuschreiben. Denn da hier der fragliche Erfolg nur von den eigenen Anstrengungen des menschlichen Geistes abhängt, das unmöglich Scheinende verwirklichen zu wollen aber selbst unmöglich ist, so trägt jener Unglaube die Schuld daran, wenn das Ziel, das man gar nicht erstreben kann, auch nicht erreicht wird. Auch die Physik, der Stolz der Wissenschaft unserer Tage, ist nur darum möglich geworden, weil man sich entschlossen hat, mit einem Unglauben zu brechen, der sich unter dem Eindruck. einer jahrtausendealten Erfahrung in den Geistern befestigt hatte. Und dieser grundsätzliche Entschluß genügte auch dort noch nicht, um der Wissenschaft einen geradlinigen Fortgang zu sichern. Der Schwierigkeiten blieben genug, die das Selbstvertrauen der menschlichen Erkenntniskraft auf immer neue Proben stellten. Die
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Probleme wurden nicht von heute auf morgen gelöst. Die Geschichte der naturwissenschaftlichen Theorien besteht in einer fortlaufenden Reihe von Versuchen, die nur durch schrittweise Annäherung an die Wahrheit und auf dem Umweg über mannigfache Irrtümer allmählich besser gelangen. Wenn nun auch die Vervollkommnung der Wissenschaft nur auf dem Wege über mehr oder weniger mangelhafte Begründung gelingt, so ist doch damit nicht gesagt, daß die vorläufigen Darstellungen, die die Wissenschaft zu durchlaufen genötigt ist, in ihren Ergebnissen irrig sein müßten. Denn ein unzulänglich begründetes Ergebnis braucht darum doch noch nicht falsch zu sein. Es verhält sich vielmehr im allgemeinen so, daß die Entdeckung neuer Wahrheiten der Ausbildung der zu ihrer Begründung erforderlichen Methoden voraneilt. Die Geschichte der Erfahrungswissenschaften und der Mathematik ist reich an Beispielen dafür, wie sich das Genie der großen Forscher gerade darin zeigt, daß sie Entdeckungen zutage fördern, deren Wahrheit zu begründen sie selbst außerstande sind und für deren Begründung die methodischen Mittel, über die ihre Zeit verfügt, überhaupt nicht hinreichen. In der Regel sind es erst die Schüler und Nachfolger des Meisters, denen das Werk dieser Begründung gelingt. Den genialen Forscher leitet ein Wahrheitsgefühl, das ihn weiter und sicherer führt als die schulgerechte Anwendung methodischer Regeln. Mit diesem Wahrheitsgefühl begabt, nimmt er Ergebnisse vorweg, zu denen sich die nicht mit dieser Gabe Begnadeten oft nur durch die vereinigte methodische Arbeit von Generationen den Weg bahnen. Wollte man solche Ergebnisse, weil sie unzulänglich begründet sind, als für die Wissenschaft belanglose Einfälle beiseite schieben, so würde man damit zugleich auch die strengen Begründungsmethoden ihres fruchtbarsten Anwendungsfeldes berauben. Denn die durch das Wahrheitsgefühl vorweggenommenen Entdeckungen gehen nicht nur zeitlich der Erfindung der Begründungsmethoden voran, sondern weisen diesen auch Ziel und Richtung ihrer Ausbildung. » Meine Resultate habe ich längst, ich weiß nur noch nicht, wie ich zu ihnen gelangen werde«, hat GAuss gesagt.
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KEPLER hätte - nach einer treffenden Bemerkung POINCARES seine berühmten Gesetze niemals entdecken können, wenn er mit den uns heute zur Verfügung stehenden Beobachtungsmitteln ausgerüstet an seine Aufgabe herangetreten wäre. Die von KEPLER benutzten Beobachtungen TYCHO DE BRAHES waren nämlich hinreichend ungenau, um ihn auf Resultate kommen zu lassen, die zwar nicht streng richtig waren, aber gerade darum den Weg zu den größten Fortschritten der Astronomie gebahnt haben. Denn wäre man von Anfang an auf exakte Beobachtungen angewiesen gewesen, so hätte man gleich vor so verwickelten Verhältnissen gestanden, daß diese Fortschritte schwerlich jemals möglich geworden wären. Ein anderes Beispiel bietet uns die Geschichte der Infinitesimalrechnung. Wenn diejenigen, die tatsächlich die Schöpfer dieser Wissenschaft geworden sind, mit unseren heutigen Anforderungen an Schärfe der Beweisführung zu Werke gegangen wären, so kann man sicher sein, daß wir von der Infinitesimalrechnung auch heute noch nichts wüßten. Denn die Schwierigkeit, den Aufbau dieser Disziplin sogleich beim ersten Versuch nach jenen strengen Anforderungen zu vollführen, wäre unüberwindlich gewesen. Man kann aber noch viel weiter gehen und behaupten, daß auch die heutige Wissenschaft in ihren methodisch am vollkommensten ausgebauten Teilen der Kritik nicht standhalten könnte, die man an sie anlegen müßte, wenn man den logischen Purismus auf die Spitze treiben und jeden nicht mit absoluter Strenge begründeten Satz in der Wissenschaft für verbotene Ware erklären wollte. Was dies für das Schicksal der Wissenschaft bedeuten würde, kann man daraus ersehen, daß selbst die einfachsten Grundsätze der Arithmetik, auf denen das Einmaleins beruht, dann preisgegeben werden müßten. Denn man muß zugeben, daß die Lehre von den ganzen Zahlen bis zur Stunde der letzten Strenge der Begründung entbehrt. So gilt es auch in der Philosophie, sich zunächst mit vorläufigen und nur allmählich sich vervollkommnenden Lösungen der Probleme zu bescheiden. Denn wenn wir das Ziel zu hoch stecken, wenn wir darauf bestehen, uns nur mit durchaus abgeschlossenen Lösun-
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gen zu befassen, so verschließen wir uns selbst den einzigen Weg, auf dem wir jemals zur Wahrheit gelangen könnten. Die Geschichte der Philosophie bietet in der Tat zahlreiche Beispiele dafür, wie der wissenschaftliche Fortschritt dadurch aufgehalten wird, daß die Schüler eines großen Philosophen seine Entdeckungen darum preisgeben, weil sie noch nicht hinlänglich begründet sind. Ein klassisches Beispiel dieser Art ist das Schicksal der Platonischen Ideenlehre. Diese Lehre ist von PLATONS Schüler ARISTOTELES preisgegeben worden, weil er ihre Begründung als unzureichend erkannte. Dadurch ist die Entwicklung der Philosophie um einen so gewaltigen Fortschritt betrogen worden, daß zwei Jahrtausende nicht hingereicht haben, um das vom rechten Wege abgeirrte Denken wieder in die ihm durch PLATON gewiesenen Bahnen zu lenken. Erst KANT ist es gelungen, mit der Entdeckung des transzendentalen Idealismus der Platonischen Ideenlehre eine wissenschaftliche Begründung zu geben. Aber gerade die Geschichte dieser Entdeckung bietet uns nur die Wiederholung des gleichen Schauspiels. Die Neigung, die Wahrheit einer Entdeckung nach der Strenge ihrer Begründung zu beurteilen, ist für diese Kantische Lehre zur Ursache desselben Mißgeschicks geworden. KANTS tiefsinnige Begründung des transzendentalen Idealismus war ihrerseits mit dialektischen Fehlern belastet. Und die Einsicht in diese Fehler hat die Mehrzahl seiner Nachfolger dazu verführt, mit der mangelhaften Begründung auch jene Entdeckung selbst zurückzuweisen und damit einen der größten von KANT angebahnten Fortschritte der Wissenschaft wiederum preiszugeben. Freilich bringt die Notwendigkeit, unvollständig begründete Resultate hinzunehmen, Gefahren mit sich. Sie kann dazu verführen, daß der Schüler auf die bloße Autorität des Lehrers hin dessen Urteil übernimmt und dieses zum Dogma stempelt, wodurch dann das »iurare in verba magistri« entsteht und die Tradition an die Stelle des Selbstdenkens tritt. Hiergegen hilft nur die Ausbildung des wahrhaft kritischen Denkens, das ebensowohl vor gedankenlosem Nachsprechen schützt wie vor leichtfertigem Verneinen und das die Schüler eines Entdeckers am wenigsten entbehren können, wenn sie wahre Treue gegen ihren Lehrer üben wollen: denn diese kann nur
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darin bestehen, daß sie sich seiner Entdeckung annehmen, um ihren Gründen nachzuforschen und ihre Wahrheit dialektisch sicherzustellen. In der Tat lehrt auch die Geschichte der Philosophie, daß Entdecker und Begründer einer neuen Lehre selten in einer Person anzutreffen sind. Historisch besteht zwischen der Weltansicht eines bedeutenden Philosophen und seiner Dialektik das eigentümliche Verhältnis, daß er seine Weltansicht nicht erst auf dialektischem Wege, nicht vermittels wissenschaftlicher Untersuchungen gewinnt, sondern daß er durch das Leben auf sie geführt wird und erst nachträglich nach ihrer dialektischen Begründung sucht. Darauf beruhen die Inkonsequenzen, die man oft im System gerade der größten Entdecker antrifft. Denn kein bedeutender Philosoph läßt sich an den ihm durch sein Wahrheitsgefühl verbürgten Resultaten durch den Widerspruch irre machen, in dem sie etwa zu den Prinzipien seines Systems stehen. Vor der Wahl, entweder sein W ahrheitsgefühl zu verleugnen, um die logische Geschlossenheit des Systems zu wahren, oder durch eine Inkonsequenz sein System jenen Resultaten anzupassen, wird er sich eher jede Inkonsequenz gestatten als ein solches Resultat preisgeben. Im allgemeinen sind es erst die Schüler der großen Philosophen, die, weil ihnen die schöpferische Begabung fehlt und sie daher auf das Gerüst des Systems angewiesen sind, darauf ausgehen, in die Lehre des Meisters eine solche Konsequenz zu bringen, daß darin nichts stehenbleibt, was sich nicht logisch auf die Prinzipien des Systems zurückführen läßt. Dabei ergibt sich dann oft das merkwürdige Verhältnis, daß ein solches, von den Schülern logisch ausgebildetes System eine von der seines Schöpfers völlig verschiedene Weltansicht zur Folge hat. Dennoch liegt, was an der Lehre eines bedeutenden Philosophen für den Fortschritt der Wissenschaft wesentlich ist und wodurch sie eigentlich in der Geschichte weiterführt, nicht sowohl in dem Gehalt seiner Weltansicht als vielmehr in dem, was er für die Ausbildung der Begründungsmethoden leistet. Denn durch die Weltansicht unterscheidet er sich nicht von anderen bedeutenden Philosophen. Sie ist keinem einzelnen Denker eigentümlich, sondern in Wahrheit allen Zeiten gemeinsam. Sie ist unveränderlich wie die menschliche
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Vernunft selbst. Hinsichtlich ihres Besitzstandes ist der schärfste Denker vor dem dialektisch Ungeschultesten nicht ausgezeichnet. Was ihn von diesem unterscheidet, ist allein der höhere Grad der Klarheit, mit der er sich der Gründe jener Wahrheiten bewußt ist. Und das ist auch die Ursache, weshalb man die modernsten Ansichten oft schon bei den ältesten Philosophen findet. Der Fortschritt in der Geschichte der Philosophie besteht lediglich in der Ausbildung der Methoden, wodurch es immer besser gelingt, die eine und gleiche philosophische Wahrheit, die, mehr oder minder verworren, im Geiste eines jeden liegt, zu begründen. Er vollzieht sich also auf dem Gebiet der Dialektik und nicht der Weltansicht.
III Zwei genau zu trennende Bedingungen soll also die Philosophie erfüllen: Was sie lehrt, soll Wahrheit sein, und die Form, in der sie es lehrt, soll Wissenschaft sein. Betrachten wir nun im einzelnen, was hiermit eigentlich gefordert ist. Wenn die Philosophie Wahrheit lehren soll, so muß sie frei sein von der Autorität der Tradition und von jeder Autorität überhaupt. Das mag selbstverständlich erscheinen, ist es aber nicht. Denn zunächst ist das Denken nicht frei. Jeder einzelne findet sich in Abhängigkeit von überlegenen Gewalten, die ihm kraft ihrer ererbten Herrschaftsansprüche die Richtlinien, wie für sein Verhalten überhaupt, so auch für sein Denken vorzeichnen. Das Denken muß sich also erst aus allen Fesseln der Autorität freimachen. Und der Kampf mit jeder Art des geistigen Despotismus muß erst gewonnen sein, wenn das Werk der Philosophie in Gang kommen soll. Diese Befreiung von der Herrschaft der Autorität macht aber für sich allein das Denken noch nicht philosophisch. Die Lösung des Geistes von aller äußeren Bindung ist vielmehr nur ein Erfordernis für die Möglichkeit, die innere Bindung einzugehen, die in der Unterwerfung des Denkens unter den Zweck der Wahrheit besteht.
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Hier scheidet sich das Interesse der Philosophie von allen Interessen der Dichtung und Mythologie. Es scheidet sich aber auch von allen anderen Interessen, mögen sie im übrigen noch so wichtig und wertvoll erscheinen. Denn einzig das Interesse an der Wahrheit darf auf die Lösung philosophischer Probleme Einfluß haben. Dieser Befreiungsprozeß ist für die Philosophie mit weit größeren Schwierigkeiten verbunden als für alle anderen Wissenschaften. Die philosophischen Probleme sind mit mannigfachen Interessen aufs engste verflochten, und ihre Entscheidung zieht praktische Folgen nach sich, die tief in das persönliche und gesellschaftliche Leben eingreifen. Je nachdem, was der einzelne von einer solchen Entscheidung zu hoffen oder zu fürchten hat, wird er unwillkürlich zu der seinem Interesse günstigen Lösung hinneigen und wird ihm unvermerkt einen bestimmenden Einfluß auf den Ausgang der Untersuchung einräumen - eine Gefahr, wie sie bei anderen Wissenschaften nicht in dieser Weise vorhanden ist. Es ist leicht, bei einer mathematischen Untersuchung kühles Blut zu behalten; aber wo Prinzipien in Frage kommen, die die Stellung des Menschen zu religiösen und sittlichen, rechtlichen und politischen Angelegenheiten bedingen, und er um der Wahrheit willen bereit sein muß, sich von allem loszusagen, woran sein Herz hängt, da ist es schwer, die leidenschaftslose Stimmung zu bewahren, ohne die eine vorurteilsfreie Prüfung und Entscheidung nicht gelingt. Es scheint sich aber noch die Möglichkeit eines anderen Konfliktes zu bieten. Wenn man nämlich von einer nicht-autonomen Ethik ausgeht, der zufolge geboten wäre, an gewisse Dinge zu glauben, so wäre damit auch schon eine bestimmte Lösung gewisser Probleme vorgeschrieben und ein vorbehaltloses Forschen unmöglich gemacht. Eine solche Ethik könnte jedoch ihrerseits nie als verbindlich erkannt werden, wenn wir nicht frei wären, sie auf ihre Wahrheit hin zu prüfen. Sie müßte sich also, hinsichtlich der Gültigkeit ihrer Ansprüche, selbst wieder der Kritik der freien Forschung unterwerfen. Jahrhundertelang ist die Philosophie die Magd der Theologie gewesen. Man tut sich viel darauf zugute, die Wissenschaft aus die-
III. Freiheit durm Selbstdenken
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ser Hörigkeit befreit zu haben. Aber ob darum das Denken heute frei ist und nicht nur vielleicht seinen Herrn gewechselt hat, ist eine andere Frage. Oder ist es ausgemacht, daß eine zur Magd der Politik erniedrigte Wissenschaft freier dasteht als die einstige Magd der Theologie, und daß es würdiger sei, sich der rohen Gewalt zu beugen und sich den Erfolg zum obersten Richter zu setzen, als einem Dogma zu huldigen, auf dem bei aller abergläubischen Verzerrung doch wenigstens der Abglanz einer höheren Idee ruht? Die philosophische Wahrheit ist aber von besonderer Art. Sie ist keine Sache der Kenntnis, sondern eine solche der Einsicht. Man beherrscht sie nicht durch Gelehrsamkeit, sondern durch Selbstdenken. Daher ist nicht sowohl die Philosophie, als vielmehr nur die Kunst, zu philosophieren, lernbar. Wohl kann man Kenntnis erlangen von den philosophischen Überzeugungen eines anderen. Aber dadurch wird man noch nicht selbst zum Philosophen, sondern erfährt nur, was der andere für Philosophie hält. Wenn ich lerne, daß HERAKLIT den Fluß aller Dinge behauptet hat, so ist diese Kenntnis um nichts philosophischer, als wenn ich lerne, daß HERAKLIT aus Ephesus stammte oder daß ALEXANDER DER GRossE nach Babylon zog. Daher läßt sich auch aus der Geschichte der Philosophie keine Philosophie lernen. Die genaueste und umfassendste Kenntnis der Geschichte der Philosophie bringt uns auch der einfachsten philosophischen Erkenntnis um keinen Schritt näher. Und nichts ist törichter, als sich durch das Studium der Geschichte der Philosophie zum Philosophen bilden zu wollen. Das Philosophieren dagegen, d. h. die Kunst des Selbstdenkens, wodurch man zur Philosophie gelangt, läßt sich freilich lernen und von anderen, die uns ein Beispiel darin geben, übernehmen. Ja, wir sind sogar darauf angewiesen, wenn uns am Fortschritt der Philosophie gelegen ist und wir es nicht dem guten Glück überlassen wollen, ob wir es hierin auch nur so weit bringen wie andere vor uns. Zur Forderung des Selbstdenkens tritt die andere der Bestimmtheit des Denkens. Chaotisches Sinnen und Grübeln ist kein Philosophieren. Dieses erfordert scharf umgrenzte Begriffe. Denn um nicht nur überhaupt zu denken, sondern durch Denken, und also durch
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Begriffe, zu erkennen, muß man die Begriffe voneinander unterscheiden. Das Vermögen hierzu heißt Scharfsinn. Und ohne diesen wird man nicht zum Philosophen. Wo die Begriffe durcheinanderfließen, da mag der Flug der Phantasie freie Bahn finden und dem Gemüt Erbauung gewähren. Das Philosophieren aber ist ein nüchternes Geschäft, das den Geist in die Zucht geordneten Denkens nimmt. Und wie es nicht das Ziel der Philosophie sein darf, die Bedürfnisse des Herzens zu stillen und durch den Reichtum der Einfälle oder die Anmut der Formen mit den Schöpfungen der Dichtkunst zu wetteifern, so darf sie auch von seiten einer mystischen Frömmigkeit und einer schwärmenden Einbildungskraft keine übergriffe in ihr eigenes Gebiet dulden, in dem einzig trockenes Denken am Platze ist. Wir wollen aber andererseits nicht nur überhaupt nachdenken, sondern wenn das Nachdenken einen Zweck haben soll, muß es auf hinreichend wertvolle Probleme gerichtet sein. Das bedeutet noch nicht, daß philosophische Untersuchungen nur berechtigt wären, wenn sie einen Nutzen stiften. Das philosophische Forschen ist, wie das Suchen nach Wahrheit überhaupt, Selbstzweck. Aber jenes höhere, von allem Nutzen unabhängige Interesse an der Wahrheit bezieht sich doch auf das Verhältnis unseres Denkens zur Wirklichkeit und läßt nur diejenigen Geistesbemühungen als wertvoll erscheinen, die unsere Erkenntnis der Wirklichkeit fördern. Auch in der Philosophie bemißt sich daher der Wert der Probleme danach, wie weit ihre Lösung zur Erkenntnis der Wirklichkeit beiträgt. Es widerstreitet der Forderung des zweckmäßigen Denkens, sich um Fragen von lediglich formaler Bedeutung zu bemühen, um bloße Spitzfindigkeiten. In der Tat, im Ernst die Frage zu erörtern, ob CHRISTUS, wenn er als Kürbis in die Welt gekommen wäre, die Menschen hätte erlösen können, oder ob eine Maus, die am Abendmahlsbrot geknabbert hat, dadurch der himmlischen Seligkeit teilhaftig wird Fragen, wie sie noch im Mittelpunkt des Interesses der Scholastiker standen-, würde uns heute lächerlich erscheinen. Und hier wird es gut sein, sich zu fragen, worin überhaupt der Beitrag der Philosophie für die Erkenntnis der Wirklichkeit bestehen kann. Man wird dann finden, daß dieser Beitrag höchst mittel-
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barer Art ist, indem die reine Philosophie noch gar keine Erkenntnis der Wirklichkeit enthält, sondern eine an und für sich leere Form bietet, der aller Gehalt nur aus der Erfahrung zufließt. Dies hebt den Wert der Probleme der reinen Philosophie nicht auf. Aber es ist der Grund, weshalb er sich nur mit Rücksicht auf das Verhältnis der reinen zur angewandten Philosophie richtig beurteilen läßt. So gering nämlich in Anbetracht dieses Verhältnisses der positive Wert der Philosophie überhaupt erscheinen mag, so ist doch um so größer der Schaden, den irrige philosophische Lehren in der Anwendung stiften. Da es aber nicht angeht, auf die Anwendung philosophischer Prinzipien überhaupt zu verzichten (weil ohne solche schon der einfachste Erfahrungsschluß unmöglich wäre), so sind wir, um uns vor den Verführungen einer falschen Philosophie zu schützen, auf die Belehrungen einer richtig begründeten Philosophie angewiesen.
IV Man sieht leicht, daß die Eigentümlichkeit der philosophischen Erkenntnis auch besondere Anforderungen an ihre Darstellung bedingt, Anforderungen, wie sie zwar auch für andere Gebiete gelten, für die Philosophie aber noch eine eigene Bedeutung haben. Das Wesen der philosophischen Erkenntnis macht es notwendig, daß die Worte, deren sich der Philosoph zur Mitteilung seiner Gedanken bedient, klar umgrenzte und deutlich bestimmte Begriffe bezeichnen. Wo diese Forderung nicht erfüllt ist, da können wir schon im voraus sicher sein, keine philosophische Belehrung zu finden. Ein Wort oder überhaupt ein Ausdruck bezeichnet entweder einen bestimmten Gedanken oder gar keinen. Nur durch die Eindeutigkeit der Zuordnung des Wortes zum Gedanken hat das Wort einen Sinn, und ein Wort, das mehr als einen Sinn haben will, hat gar keinen Sinn. Zwar gibt es manche, die meinen, es sei armselig, wenn ein Wort immer nur einen einzigen Gedanken bezeichnet, denn der Gedankenreichtum sei doch offenbar um so größer, je mehr Gedanken sich mit einem Wort verbinden ließen. Diese Vor-
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stellung würde auf das Ideal einer Sprache führen, die unendlich vieldeutig wäre, so daß es für die Menge der Gedanken, die sich mit einem Wort verbinden ließen, überhaupt keine Grenze mehr gäbe. Wer einer solchen Ansicht huldigt, verrät damit aber nur, daß er nicht weiß, was eigentlich der Zweck der Sprache ist. Denn dieser besteht in der Mitteilung von Gedanken durch den Gebrauch ihnen zugeordneter Zeichen, ein Zweck, der durch Mehrdeutigkeit dieser Zuordnung gerade vereitelt wird. Wo sich mit den Worten viele Gedanken verbinden lassen, ist dies kein Zeichen von Gedankenreichtum, sondern von Gedankenlosigkeit dessen, der diese Worte macht. Man kann daraus ersehen, was von der Redensart zu halten ist, mit der konfuse philosophische Bücher oder Reden bisweilen entschuldigt oder gar angepriesen werden, von der Redensart nämlich, es lasse sich dabei doch manches denken. Wenn wir durch eine Darstellung nicht genötigt werden, bei jedem Ausdruck etwas Bestimmtes und also nur einen einzigen Gedanken zu denken, so nötigt sie uns überhaupt nicht zum Denken, sondern wir haben es mit bloßem Geschwätz zu tun. Wir betrügen uns selbst, indem wir uns einbilden zu denken, wo wir nur Worte vorfinden und nach.schwatzen. Von einer wissenschaftlichen Darstellung soll man nicht sagen können, daß man sich dabei etwas oder gar allerlei denken kann, sondern nur, daß man sich etwas Bestimmtes dabei denken muß. Daher müssen wir auch eine philosophische Bildersprache verwerfen. Denn ein Bild ist als solches stets unbestimmt und läßt dem Gedanken zu weiten Spielraum. Jedes Bild ist ein Gleichnis. Jedes Gleichnis aber hinkt. Und darum darf ein bildlicher Ausdruck nur beispielsweise zur Erläuterung dienen, nicht aber als das eigentliche Mittel für die Bezeichnung eines bestimmten Gedankens gebraucht werden. Man könnte zwar hiergegen fragen, was von der Sprache wohl übrigbliebe, wenn man Ernst machen wollte mit dem Grundsatz, alle bildlichen Ausdrücke zu vermeiden. Allein, es gilt zu bedenken, daß bei der Mehrzahl der ursprünglich als Bild gebrauchten Wörter die Erinnerung an ihre einstige Bedeutung zurückgetreten ist, so daß sich jetzt mit ihnen unmittelbar bestimmte Begriffe verbinden. So hat das Wort »Grund« heute einen abstrak-
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ten Sinn, den wir unmittelbar auffassen, ohne daran zu denken, daß »Grund« ursprünglich dasselbe bedeutet wie »Boden«. Dagegen ist es eine unklare und in der Tat bildliche Redeweise, wenn man von der »Wurzel des Satzes vom Grunde« spricht. Dieser Ausdruck ist seiner Bedeutung nach nicht bestimmt und, wie alle Ausdrücke seiner Art, geeignet, nicht nur den Hörer oder Leser, sondern auch denjenigen selbst, der ihn gebraucht, irrezuführen. Man hört wohl manchen die Unbestimmtheit des Ausdrucks mit dem Hinweis auf die Tiefe der Gedanken entschuldigen, die eine verständliche Ausdrucksweise nicht zulasse. Aber eine solche Erklärung ist stets mit Vorsicht aufzunehmen. Denn wenn auch in der Tat mit der Tiefe des Gedankens die Schwierigkeit des Ausdrucks wächst, so muß man sich doch vor der Vorstellung hüten, als ob hinter einer unverständlichen Redeweise ohne weiteres eine besondere Gedankentiefe zu suchen sei. Diesen Schein machen sich philosophische Bauernfänger zunutze, indem sie sich eines unverständlichen und bilderreichen Vortrags bedienen, um durch die Dunkelheit ihrer Rede unkritische Geister über die Unklarheit und Flachheit ihrer Gedanken zu täuschen. In Wahrheit braucht aber auch die wirkliche Tiefe keineswegs mit Unklarheit der Darstellung verbunden zu sein. Nur das eine kann füglich behauptet werden, daß zum Verständnis tiefer Gedanken Arbeit erforderlich ist, und daß große Schärfe des Denkens dazu gehört, auch die bestimmteste, ja gerade die bestimmteste Darstellung schwieriger philosophischer Lehren zu verstehen, eine Schärfe des Denkens, in der es der Leser oder Hörer dem Vortragenden nicht immer gleichtun kann. Wir haben keinen Grund, zu verlangen, daß das Verständnis wissenschaftlicher Lehren uns ohne Arbeit zufällt. Wohl aber dürfen wir verlangen - ja wir sollen es sogar-, daß sie uns bei hinreichender Arbeit restlos klar werden. Neben diesen, mehr oder weniger für die Darstellung jeder Wissenschaft geltenden Anforderungen verlangt aber noch ein besonderer, durch die Eigenart der philosophischen Erkenntnis bedingter Umstand Berücksichtigung. Es ist die Eigenart der philosophischen Erkenntnis, daß ihr die unmittelbare Klarheit der Anschauung fehlt. Hierauf beruht die besondere Schwierigkeit der Mitteilung
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philosophischer Gedanken, eine Schwierigkeit, die anderen Wissenschaften fremd ist. Während wir es sonst durch den anschaulichen Hinweis auf den gemeinten Gegenstand allem Zweifel entziehen können, welchen Gedanken wir mitteilen wollen, sind wir hier ausschließlich auf die Sprache angewiesen. Wir sind daher genötigt, uns aufs strengste an den allgemeinen Sprachgebrauch anzuschließen. Wollten wir uns einer eigenen willkürlich erfundenen Formelsprache bedienen, einer künstlichen Terminologie, wie eine solche in anderen Wissenschaften zulässig und vielfach nützlich ist, so würden wir alle Verständigung vereiteln. Denn auf welche Weise könnten wir anderen unsere selbsterfundene Sprache verständlich machen? Ist ihre Übersetzung in die gewöhnliche Sprache möglich, so haben wir an dieser genug. Andernfalls aber müßten wir zur Mitteilung der Gedanken schon über ein anderes Mittel als die Sprache verfügen. Da infolge der Nicht-Anschaulichkeit der philosophischen Erkenntnis ein solches fehlt, so hängt für die Verständigung in der Philosophie alles von der gewissenhaften Beobachtung des allgemeinen Sprachgebrauchs ab. Wo einmal dieses Verständigungsmittel preisgegeben ist, da ist alle Möglichkeit der Gedankenmitteilung verloren. Nun entstehen allerdings Schwierigkeiten, teils dadurch, daß der allgemeine Sprachgebrauch nicht immer schon die Bestimmtheit hat, die wir für eine wissenschaftliche Darstellung verlangen müssen, teils dadurch, daß ihm der Reichtum fehlt, um mit der Entwicklung der philosophischen Begriffsbildung Schritt zu halten. Aber dennoch bleibt kein anderer Weg, als sich dem allgemeinen Sprachgebrauch zu bequemen, indem man, statt durch gewaltsame Umdeutungen das uns unentbehrliche Instrument der Sprache zu verderben, nach und nach auf eine den Bedürfnissen der Wissenschaft entsprechende Umbildung der Sprachgewohnheit hinwirkt. Wo der allgemeine Sprachgebrauch versagt, müssen wir zu Neubildungen greifen, d. h. zu Zeichen, denen noch keine Bedeutung anhaftet und die also sonst in der Sprache noch gar nicht vorkommen, wie dies im allgemeinen am zweckmäßigsten durch die Einführung von Fremdwörtern gelingt. Nur darf dabei zweierlei nicht außer acht gelassen werden. Einmal nämlich, daß ein solcher Kunstausdruck eine Er-
V. Gehalt und Form in der Philosophie
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klärung verlangt, und zwar eine solche, in der die Elemente, auf die sie zurückgeht, ihrerseits mit den Mitteln des allgemeinen Sprachgebrauchs bezeichnet werden; denn man kann einen an und für sich unverständlichen Ausdruck nicht dadurch verständlich machen, daß man ihn auf andere ebenso wenig verständliche Ausdrücke zurückführt. Sodann aber, daß, auch unter dieser Einschränkung, die Einführung von Kunstausdrücken immer nur ein Notbehelf bleibt und daß durch den Mißbrauch dieses Auskunftsmittels mehr verloren als gewonnen wird, da er die Wurzel verkümmern läßt, aus der die lebendige Sprache ihre Kraft zieht, ohne die auch die aufgepfropften Reiser einer künstlichen Terminologie keine Lebensfähigkeit erlangen können. Dem Unbefangenen mögen auch diese Anforderungen selbstverständlich erscheinen. Und doch genügt ein Blick in die zeitgenössische philosophische Literatur, um erkennen zu lassen, daß auch die gerühmtesten Lehrer weit davon entfernt sind, auf diese an und für sich so klaren und einfachen Forderungen Rücksicht zu nehmen.
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Zwei Bedingungen sind es, die, wie wir fanden, die Philosophie erfüllen soll. Die eine betrifft ihren Gehalt, die andere ihre Form. Jene wird dadurch erfüllt, daß sie Wissen enthält, diese dadurch, daß sie die Form der Wissenschaft annimmt. Nachdem wir gesehen haben, was zur ersten gehört, wollen wir erwägen, was mit der zweiten gefordert ist. Das philosophische Wissen wird, wie jedes Wissen, nur dadurch zur Wissenschaft, daß die Mannigfaltigkeit der das Wissen ausmachenden Erkenntnisse die Form systematischer Einheit erhält. Die Einheit des Systems besteht aber darin, daß das sonst zerstreute Wissen derart geordnet wird, daß jeder ein solches Wissen aussprechende Satz seine feste Stelle im Ganzen findet, entweder als Lehrsatz, sofern er sich durch Schlüsse aus anderen Sätzen desselben Wissensgebietes herleiten läßt, oder als Grundsatz, sofern er sich seinerseits nicht durch Schlüsse aus anderen Sätzen dieses Gebietes
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herleiten läßt, sondern eine anderweit feststehende Wahrheit enthält. Das Wichtigste, um der Philosophie den Charakter der Wissenschaft zu sichern, ist die Auffindung und Begründung ihrer Grundsätze. Zwar hängt die Geschlossenheit des Systems nicht von der Richtigkeit seiner Grundsätze ab. Auch auf den absurdesten Annahmen läßt sich ja ein durchaus konsequentes System aufbauen. Aber eben darum genügt es nicht, sich auf die innere Geschlossenheit eines Lehrgebäudes zu verlassen. Denn wo die Voraussetzungen verfehlt sind, bringt uns auch alle Folgerichtigkeit des Schließens der Wahrheit nicht näher. Ehe also die Grundsätze nicht feststehen, ist es verlorene Mühe, auf ihnen ein System zu errichten. Stehen sie aber erst einmal fest, so erfolgt der Aufbau dieses Systems durch bloßes Schließen. Die methodische Hauptfrage alles Philosophierens ist daher die, wie wir uns in den Besitz der philosophischen Grundsätze setzen sollen. Denn die Grundsätze der Philosophie sind, da sie sich auf keine Anschauung gründen, auch nicht evident wie etwa die Axiome der Geometrie, so daß man von ihnen als von etwas ohne weiteres Feststehendem ausgehen könnte. Sie sind vielmehr zunächst das Allerumstrittenste in der ganzen Wissenschaft, und ihre Aufsuchung und Begründung bietet die größten Schwierigkeiten. Welcher Art die Methode zur Auffindung der Grundsätze einer Wissenschaft im einzelnen Falle sein muß, das hängt wesentlich von der Art des Wissens ab, das den Gehalt der fraglichen Wissenschaft ausmacht. Und so ist auch die Methode der Philosophie durch den besonderen Charakter des philosophischen Wissens bestimmt. Wenn wir sagen, daß diejenigen Wahrheiten philosophische sind, die uns nur durch Nachdenken klar werden, so sagen wir damit schon, daß es sich um ein Wissen handelt, das wir nicht aus der Erfahrung schöpfen, sondern das, wenn wir seiner überhaupt fähig sind, seinen Grund in unserer eigenen Vernunft hat. Wir drücken damit aber zugleich aus, daß es sich dabei um eine Erkenntnis handelt, die uns nicht unmittelbar klar vor dem Bewußtsein steht und die also ursprünglich dunkel in unserer Vernunft liegt. Die Schwierigkeit kann also nicht in dem eigentlichen Erwerb der
V. Gehalt und Form in der Philosophie
philosophischen Erkenntnis bestehen, sondern nur darin, sie, wie sie in uns liegt, aufzuhellen. Soll aber die Aufhellung dieser Erkenntnis mit Sicherheit gelingen, so kommt es nicht sowohl darauf an, daß wir nur nachdenken, als vielmehr darauf, daß wir es planmäßig tun, und das heißt nichts anderes, als daß wir das Nachdenken nach einer bestimmten Regel lenken, durch die ein Verfehlen des Zieles nach Möglichkeit ausgeschlossen wird. Indessen, wie sollen wir eine solche Regel ausfindig machen, noch ehe wir das Ziel kennen? Liegt die philosophische Erkenntnis auch noch so dunkel in unserer Vernunft, so kommt sie doch zum Ausdruck in jedem unbefangenen Urteil. Sie liegt jedem, auch dem einfachsten Erfahrungsurteil zugrunde. Um sie zu finden, gibt es daher für uns keinen anderen Weg, als von unserem konkreten Verstandesgebrauch auszugehen, von Urteilen also, deren Wahrheit uns als sicher gilt, auch wenn wir uns nicht darüber Rechenschaft abzulegen vermögen, worauf sie beruht. Indem wir solche Urteile zergliedern, gelangen wir zu den gesuchten Grundsätzen. Diese Zergliederung besteht darin, daß wir prüfen, welche Voraussetzungen wir machen müssen, um das fragliche Urteil zu fällen, und so, durch stetig fortschreitende Abstraktion von dem zufälligen Erfahrungsgehalt der einzelnen Urteile, bis zu ihren allgemeinsten Voraussetzungen, den philosophischen Grundsätzen, aufsteigen. Und so sicher wir unseres Urteils sind, so sicher sind wir dann auch der Richtigkeit der aufgewiesenen Voraussetzungen. Gegen die Tauglichkeit dieser Methode könnte zwar die Tatsache des Widerstreits philosophischer Lehrmeinungen zu sprechen scheinen. Denn wenn die philosophischen Grundsätze sich wirklich nach einer so einfachen Regel auffinden lassen, wie ist es dann erklärlich, daß nicht alle Philosophen in ihren Grundsätzen übereinstimmen? Indessen, so einfach es ist, diese Regel zu nennen, so schwer ist es, ihr treulich bis zum Ende zu folgen und sich aller Abschweifungen und Seitensprünge zu enthalten, zu denen das Blendwerk eines aus willkürlich zusammengerafften Elementen gezimmerten Systems verlockt. Der hoffnungslose Prinzipienstreit unter den Philosophen ist
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nur die unvermeidliche Folge davon, daß fast niemand es der Mühe wert findet, dem Leitfaden der stetig fortschreitenden Abstraktion zu folgen, daß man vielmehr, von der leidigen Systemsucht getrieben, sogleich zu den äußersten Abstraktionen überspringt, von denen aus man die Orientierung nicht wiedergewinnen kann, weil der Faden einmal abgerissen ist, der den Zusammenhang mit dem allein festen Ausgangspunkt der Abstraktion vermittelte. In der Tat beobachten wir, daß auch die, was das System betrifft, im heftigsten Streit miteinander liegenden Philosophen sich einmütig der gleichen Prinzipien bedienen, sobald sie von der Doktrin zur Anwendung übergehen - eine Erscheinung, die unwiderleglich beweist, daß nur das Abspringen vom geraden Wege der Abstraktion es ist, was die Uneinigkeit erzeugt. Wenn der Philosoph seinem dogmatisch aufgestellten System in der Anwendung treu bleiben wollte, wie könnte der Determinist, da er doch die Verantwortlichkeit des Menschen bestreitet, darauf verfallen, im Leben noch irgendein ethisches Urteil zu fällen? Er müßte es vielmehr als ein Fatum hinnehmen, wenn er belogen und betrogen wird, und könnte allenfalls sein Unglück beklagen, aber Grund zu sittlicher Entrüstung hätte er keinen. Oder hat man es etwa erlebt, daß der philosophische Skeptiker, der die Annahme eines Kausalverhältnisses zwischen den Erscheinungen für eine Illusion erklärt, aufgehört hätte, sich für die Ursachen der von ihm beobachteten Ereignisse zu interessieren, insbesondere der ihn persönlich betreffenden? Die Konsequenz würde ja von ihm verlangen, ein für allemal auf die Frage »warum?« zu verzichten.
VI Wenngleich das erörterte Abstraktionsverfahren zur Auffindung der philosophischen Grundsätze hinreicht, so ist damit doch nicht auch schon ihre Begründung gegeben. Denn sie werden dadurch nur als die tatsächlichen Voraussetzungen der zergliederten Urteile und also als deren allgemeinste Gründe aufgewiesen; sie können folglich
VI. Das Selbstvertrauen der Vernunft
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nicht umgekehrt hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit auf jene gegründet werden. Sollen sie daher nicht überhaupt ohne Begründung bleiben, so bedürfen wir eines eigenen Verfahrens, durch das sich der Grund ihrer Gültigkeit ermitteln läßt. Hierfür können wir, der Eigentümlichkeit der philosophischen Erkenntnis zufolge, nicht, wie zur Begründung der Prinzipien anderer Wissenschaften, die Anschauung zu Hilfe nehmen. Auf rein logischem Wege können wir sie aber ebensowenig begründen. Denn das würde voraussetzen, daß sie sich als Lehrsätze auf höhere Prinzipien zurückführen, d. h. sich beweisen ließen, im Widerspruch dazu, daß sie selbst schon die höchsten Prinzipien des Systems darstellen. Nun fanden wir, daß der Erkenntnisgrund der philosophischen Urteile, wenn es überhaupt einen gibt, ohne alles Zutun unsererseits und unabhängig von aller Erfahrung, in uns selber liegt. Wir fanden freilich zugleich, daß er nicht mit unmittelbarer Klarheit in uns liegt. Er gehört daher zum ursprünglichen Besitzstand unserer Vernunft: als eine unmittelbare, wenn auch ursprünglich dunkle Erkenntnis. Er muß sich folglich auch durch eine hinlänglich entwikkelte Theorie der Vernunft aufweisen lassen. Und diese Aufweisung ist, wenn sie gelingt, eine hinreichende Begründung der philosophischen Grundsätze. Denn es kann nicht wieder die Frage gestellt werden, ob die so aufgewiesene unmittelbare Erkenntnis ihrerseits gültig ist. Wohl läßt sich hinsichtlich einer Erkenntnis fragen, ob wir sie besitzen oder nicht. Aber wenn wir zugestehen, daß wir eine Erkenntnis wirklich besitzen, so wäre es ein Widerspruch, zu fragen, ob das, was wir durch sie als wahr erkennen, auch wirklich wahr sei. Ein Zweifel an der Gültigkeit der unmittelbaren Erkenntnis hebt sich also durch seinen inneren Widerspruch selbst auf. Und dieser Umstand macht jede weitere Begründung der unmittelbaren Erkenntnis entbehrlich. Ihre Gewißheit ist für uns das Erste, allem begründenden und widerlegenden Denken Vorhergehende; sie liegt in uns, allem Zweifel des Verstandes unüberwindlich, kraft der Tatsache des Selbstvertrauens der Vernunft. Was durch die Theorie der Vernunft bewiesen wird, ist denn auch
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nicht die Wahrheit der fraglichen philosophischen Grundsätze diese sind, als Grundsätze, überhaupt unbeweisbar -, sondern allein die Wahrheit des Erfahrungssatzes, daß wir faktisch im Besitz einer unmittelbaren Vernunfterkenntnis sind, die den Grund jener philosophischen Sätze enthält. Wer von einer Begründung philosophischer Grundsätze mehr verlangt, wer meint, daß das philosophische Wissen erst auf dem Wege der Dialektik erzeugt werden solle oder könne, der läßt sich nur durch die ursprüngliche Dunkelheit der philosophischen Erkenntnis täuschen. Weil nämlich diese Erkenntnis allein durch Denken klar wird, meint er, daß auch ihr Ursprung nur im Denken liegen könne. Und durch diese Verkennung des eigentlichen Wesens des philosophischen Wissens wird er dazu getrieben, das Geheimnis der Philosophie in der Erfindung einer die philosophische Erkenntnis erst künstlich erzeugenden Dialektik zu suchen. Eine für immer vergebliche Bemühung. Denn jeder Versuch, ohne die Voraussetzung einer anderswoher genommenen Erkenntnis, durch bloßes Denken eine Erweiterung des Wissens zustande zu bringen, muß, so originell und raffiniert man ihn auch anstellen mag, an der Mittelbarkeit und ursprünglichen Leerheit des Denkens scheitern. Der Verstand, als das Vermögen zu denken, kann den Gehalt unseres Wissens nicht bereichern. Wir bedürfen seiner aber allerdings, um diesem Gehalt die Form der Wissenschaft zu geben und ihn dadurch zur vollen Klarheit des Bewußtseins zu erheben. Ist erst einmal die Verwechslung des an sich leeren Verstandes mit der Vernunft als dem Vermögen der unmittelbaren Erkenntnis aufgehoben, so verschwindet von selbst die aberwitzige Täuschung, als liege es im Vermögen des menschlichen Verstandes, aus den durch irgendeine dialektische Kunst sublimierten Denkformen endlich einen Gehalt herauszudestillieren. Sobald einmal anerkannt ist, daß dies die Natur des philosophischen Wissens ist, wird auch klar werden, daß es für die reine Philosophie ein System geben muß, das unveränderlich feststeht und keine Vervollkommnung mehr zuläßt. Denn wenn die philosophische Erkenntnis ihren Sitz in der reinen Vernunft hat, so kann sie nicht von der Erweiterung durch Erfahrung abhängig sein, und
VI. Das Selbstvertrauen der Vernunft
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durch keinen Aufwand an Scharfsinn kann ihr etwas hinzugefügt oder etwas von ihr weggenommen werden. Gibt es für uns überhaupt ein philosophisches Wissen, so besitzen wir es ein für allemal, und die Ausbildung der Philosophie besteht nur darin, daß uns immer klarer und vollständiger zum Bewußtsein kommt, welches philosophische Wissen wir besitzen. In der Erreichbarkeit eines solchen Abschlusses liegt denn auch ein besonderer wissenschaftlicher Reiz, den die reine Philosophie vor jeder anderen Wissenschaft voraus hat. Jede andere Wissenschaft schöpft aus der Anschauung und läßt, der Unendlichkeit von Raum und Zeit gemäß, eine Erweiterung ins Unendliche zu. Die Philosophie hingegen ist einer endgültigen Gestalt fähig, die ihr durch die Vernunft selbst unabänderlich vorgezeichnet ist.
Über die Bedeutung der Schule in der Philosophie
Erschienen im Sammelband: LEONARD NELSON, Die Reformation der Philosophie durch die Kritik der Vernunft. Leipzig Der Neue Geist-Verlag
1918,S.41-53
Wie die Philosophie selbst nach einem Abschluß streben muß, so gibt es auch für ihre Geschichte ein Ende. Denn nur das in der Entwicklung Begriffene hat Geschichte. Steht einmal das System der Philosophie als vollendete Wissenschaft fest, so hat damit zugleich auch die Geschichte der Philosophie ihr Ziel erreicht. Diese Vorstellung von der Möglichkeit eines eindeutigen und keiner Erweiterung fähigen Systems der Philosophie ist allen denen ein Greuel, die da meinen, die Bedeutung der Philosophie liege in der Fülle der wechselnden Gestalten, unter denen sie im Lauf der Geschichte in Erscheinung tritt. In der Tat, wenn sich der Wert einer philosophischen Lehre allein nach dem Beitrag bemißt, den sie zum Abschluß der Philosophie als Wissenschaft liefert, so geht in Sachen der Philosophie die Originalität als Maßstab des Wertes verloren. Und dem ist wirklich so. Die Originalität mag einen unersetzlichen ästhetischen Wert haben, die Philosophie muß auf diesen Wert verzichten; denn in der Wissenschaft kommt es nicht darauf an, daß wir etwas anderes denken als andere, sondern einzig darauf, daß, was wir denken, wahr ist. Originalitätssucht ist daher allemal gerade das Gegenteil wahrer Wissenschaftlichkeit. Würden alle Menschen richtig denken, so wäre ein Widerstreit der Meinungen unmöglich. Eine solche Einerleiheit erscheint kümmerlich und reizlos. Aber man muß sich nun einmal damit abfinden, wenn man die Wahrheit dem Irrtum vorzieht. Wie man in anderen Gebieten nur durch stetig fortschreitende Ausbildung der Wissenschaft zu abschließenden Ergebnissen kommen konnte, so ist auch in der Philosophie die Sicherung des Fortschritts nur durch Wahrung seiner Kontinuität vermittels schulmäßiger Belehrung von Generation zu Generation möglich. Die Einbildung, daß der einzelne ohne alle Rücksicht auf die Geistesarbeit der vor ihm gewesenen Generationen besser als diese zum Ziel kommen könnte, ist eine törichte und kindische Anmaßung. »Ein Quidam sagt: >Ich bin von keiner Schule! Kein Meister lebt, mit dem ich buhle; Auch bin ich weit davon entfernt, Daß ich von Toten was gelernt.
Ja< oder >Nein< sagen hören?« machte ihn stutzig. TRASYMACHOS hatte die Pointe besser erfaßt, wenn er - in PLATONS »Staat« - dem SOKRATES zuruft: »Beim Herakles ... Ich wußte es ja ..., daß du dich nicht entschließen würdest, zu antworten! «17 Der Lehrer, der sokratisch unterrichtet, antwortet nicht. Aber er fragt auch nicht. Genauer: Er stellt keine philosophischen Fragen und gibt, wenn man solche an ihn richtet, unter keinen Umständen die verlangte Antwort. Er schweigt also? Das werden wir sehen. Jedenfalls hört man in einer solchen Aussprache oft den verzweifelten Ruf an den Lehrer: »Ich weiß gar nicht, was Sie wollen!« - worauf die Antwort erfolgt: »Ich?? Ich will gar nichts«, was gewiß nicht die ersehnte Auskunft enthält. Was tut der Lehrer also? Er entfesselt das Frage- und Antwortspiel zwischen den Schülern, etwa durch die einleitende Ji.ußerung: »Hat jemand eine Frage?« Nun weiß aber doch jeder mit KANT, daß »es schon ein großer und nötiger Beweis der Klugheit oder Einsicht ist, zu wissen, was man vernünftigerweise fragen solle«. 18 Was geschieht bei ungereimten Fragen, oder wenn gar keine Frage erfolgt? Was geschieht, wenn niemand antwortet? 17
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Platon: Staat (übersetzt von ÜTTO APELT), Seite 17. Leipzig 1916. Kant: Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Logik, Einleitung III. (Reclamsche Ausgabe, Seite 81.)
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Sie sehen, von Anfang an tritt die Schwierigkeit ans Licht, die Schüler durch sich selbst zur Tätigkeit zu bringen, und damit die Versuchung für den Lehrer, den Ariadnefaden auszuwerfen. Aber von Anfang an, ja gerade zu Anfang, muß der Lehrer standhaft sein. Wer an die Philosophie herantritt und keine einzige Frage an sie hat, was soll man von dessen Kraft erwarten, mit Ausdauer ihren verwickelten und tiefliegenden Fragen nachzuforschen? Was wird also der Lehrer tun, wenn keine Fragen gestellt werden? Er wird warten - bis die Fragen sich einstellen. Er wird höchstens die Bitte aussprechen, in Zukunft über die Fragen vorher nachzudenken um der Zeitersparnis willen. Aber er kann nicht, um der Zeitersparnis willen, den Schülern die Mühe des Fragens abnehmen. Er würde vielleicht ihre augenblickliche Ungeduld besänftigen, aber um den Preis, die erst zu erweckende philosophische Ungeduld in ihrem Keim zu ersticken. Kommen nun die Fragen - vereinzelt, zögernd, gute und einfältige -, wie nimmt der Lehrer sie auf, was macht er mit ihnen? Da scheint er nun in bequemer Lage zu sein, denn das Gesetz der Methode verbietet ihm ja zu antworten. Er stellt also die Fragen zur Diskussion. Alle? Gereimte und ungereimte? Keineswegs. Er läßt alle ausfallen, die zu leise geäußert werden. Ferner alle, die in unzusammenhängenden Sätzen gestellt werden. Wie sollen schwierige Gedanken aufgefaßt werden, die in verstümmelter Sprache geäußert werden? Bei dem merkwürdigen Sprachunterricht in unseren Schulen fällt damit schon mehr als die Hälfte der Fragen aus. Unter den verbleibenden sind viele wirr und unscharf. Zuweilen glückt es, eine Klarstellung zu erzielen durch die Gegenfrage: » Was meinen Sie mit Ihren Worten?« Sehr häufig glückt es nicht, weil der Fragende sich selbst nicht versteht. Die Übung drängt daher von selbst dahin, auf die klaren, einfachen Fragen einzugehen oder die unklaren, verschwommenen erst klarzumachen. Es liegt bei den philosophischen Problemen nicht so glücklich wie bei denen der Mathematik, von denen HILBERT sagt, daß sie uns
Die sokratische Methode
zurufen: »Hier bin ich. Suche die Lösung!« Das philosophische Problem liegt im Dunkel. Ihm durch eine scharfe, bestimmte Fragestellung auf den Leib zu rücken, bedarf mannigfacher Versuche und Anstrengungen, und es wird Sie daher die Tatsache nicht in Erstaunen setzen, daß die Ethik-Übung eines Semesters nur die eine Feststellung ergab, daß die Ausgangsfrage schief gewesen war, die Frage nämlich: Ob es nicht dumm sei, sittlich zu handeln. Nun wird der Leiter gewiß nicht jede schiefe Frage einer solchen langwierigen Untersuchung unterwerfen. Er wird bestrebt sein, seine eigene Einschätzung der Fragen für den Gang der Aussprache nutzbar zu machen. Was aber nur heißt: Er wird aufschlußreiche Fragen, oder solche, die bei ihrer Behandlung typische Fehler ans Licht ziehen, in den Vordergrund treten lassen, indem er etwa an eine solche Frage die weitere anknüpft: »Wer hat verstanden, was eben gesagt worden ist?« Hierin liegt weder ein Hinweis auf die Zweckmäßigkeit noch auf die Unzweckmäßigkeit jener Frage, sondern lediglich die Aufforderung, sich mit ihr zu beschäftigen, durch Kreuz- und Querfragen ihren Sinn herauszuholen. Aber wie verhält es sich nun mit den Antworten? Wie werden sie erledigt? Zunächst gilt für sie das gleiche wie für die Fragen. Unverständliche Antworten werden übergangen, damit der Schüler den Vorbedingungen einer wissenschaftlichen Aussprache sich anbequemen lernt. Im übrigen werden die Antworten ebenfalls durch Gegenfragen untersucht, wie etwa die: »Was hat die Antwort mit unserer Frage zu tun?« oder: »Auf welches Wort kommt es Ihnen an?« oder:» Wer hat zugehört?« »Wissen Sie selbst noch, was Sie eben gesagt haben?« »Von welcher Frage sprechen wir eigentlich?« Je einfacher die Fragen werden, desto mehr entschwindet nun freilich bei dem Gefragten die Geistesgegenwart. Erbarmt sich dann ein mitfühlendes Herz und eilt dem Bedrängten mit der Erklärung zu Hilfe: »Der Kommilitone hat wohl sagen wollen: ... «, so wird solche Hilfe kaltherzig abgewiesen mit der Bitte, die Kunst des Gedankenlesens beiseite zu lassen und sich statt dessen lieber einmal
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um die bescheidenere Kunst zu bemühen, das, was man sagen will, auch wirklich zu sagen. Aus dem Gesagten geht schon hervor, daß die Untersuchungen keineswegs stetig verlaufen. Es springen Fragen und Antworten durcheinander. Manche verstehen die Entwicklung, manche verstehen sie nicht. Diese suchen dann durch tastende Zwischenfragen die Verbindung wieder herzustellen. Aber die anderen drängen darauf, sich in ihrem Gang nicht aufhalten zu lassen. Sie übergehen jene Fragen. Da tauchen neue, verständnislosere Fragen auf. Schon beginnen einzelne zu schweigen. Es schweigen ganze Gruppen. Dazwischen geht die Unruhe der immer zielloser werdenden Fragen. Selbst die anfangs noch Sicheren lassen sich dadurch verwirren. Sie verlieren gleichfalls den Faden. Sie wissen nicht, wie sie ihn wiederfinden sollen. Endlich weiß niemand mehr, wohin die Aussprache steuert. Die schon bei SOKRATES berühmte Verwirrung ist eingetreten. Alle sitzen ratlos da. Das anfangs Gewisse ist ihnen ungewiß geworden. Anstatt Klarheit in ihre Vorstellungen zu bringen, fühlen sie sich der Fähigkeit beraubt, durch Denken überhaupt irgend etwas klarzustellen. Auch dies alles läßt der Lehrer zu? »Es kommt mir vor«, sagt MENON in dem gleichnamigen Dialog zu seinem Lehrer SOKRATES, »als wärest Du ... zum Verwechseln ähnlich jenem breiten Meerfisch, dem Marmelzitterrochen. Denn auch dieser macht jeden, der ihm nahe kommt und ihn berührt, erstarren ... Denn tatsächlich bin ich starr an Seele und Mund und weiß nicht, was ich antworten soll.« 19 Und auf SOKRATES' Antwort: »Wenn ich die anderen ratlos mache, so bin ich selbst dabei schlechterdings ratlos«, stellt MENON die berühmte Frage: »Und auf welche Weise willst Du denn, mein SoKRATES, die Untersuchung anstellen über einen Gegenstand, von dem Du überhaupt nicht weißt, was er ist?« Da erfolgt des SoKRATES berühmte Antwort: Weil die Seele »imstande ist, ... sich
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Platon: Menon (übersetzt von
ÜTTO APELT),
Seite 36. Leipzig 1914.
Die sokratische Methode
wiederzuerinnern an das, was sie ehedem ja doch wußte«. 20 Wir wissen alle, daß hier die platonische Ideenlehre anklingt, die der geschichtliche SOKRATES selbst nicht gelehrt hat. Und doch ist in diesem Worte sokratischer Geist, der starke Geist des Selbstvertrauens der Vernunft, die Ehrfurcht vor ihrer sich selbst genügenden Kraft. Sie gibt SOKRATES die Ruhe, die nach Wahrheit Suchenden in die Irre gehen und straucheln zu lassen. Ja sie gibt ihm den Mut, sie in die Irre zu schicken, um die Überzeugungen zu erproben, um das nur übernommene Wissen von der Wahrheit zu sondern, die nur im eigenen Nachdenken langsam in uns zur Klarheit reift. Er scheut nicht das Eingeständnis des Nicht-Wissens; er führt es sogar herbei. Aber ihn leitet dabei so wenig skeptische Denkart, daß er vielmehr in diesem Eingeständnis die erste Stufe zu tieferer Erkenntnis erblickt. »Er glaubt nicht mehr, es zu wissen ... Ist er nicht also jetzt in einer besseren Lage?« sagt er von dem Sklaven, dem er mathematischen Unterricht erteilt. »Jetzt wird er mit Freuden als ein Nicht-Wissender im Forschen fortfahren.« 21 Da liegt für SOKRATES die Probe, ob jemand die Weisheit liebt, daß er das Nicht-Wissen begrüßt, um zu besserem Wissen zu gelangen. Der Sklave des MENON folgt weiter. Aber viele erlahmen und werden überdrüssig, wenn ihre Kenntnisse verschmäht werden, wenn die ersten selbständigen Schritte sie nicht vorwärts bringen. Der philosophische Lehrer, der nicht den Mut hat, seine Schüler vor diese Probe der Verwirrung und Entmutigung zu stellen, beraubt sie nicht nur der Fähigkeit, die Widerstandskraft auszubilden, deren der Forscher bedarf, er täuscht sie über ihr eigenes Können und macht sie unehrlich gegen sich selbst. Wir erkennen nun auch eine der Fehlerquellen, die zu den bekannten ungerechten Urteilen über die sokratische Methode führen. Man legt ihr zur Last, was sie doch nur ans Licht bringt und ans Licht bringen muß, um den Boden zu bereiten, auf dem ein ernsthaftes Weiterarbeiten erst möglich wird. Sie macht nur das Unheil offenbar, das als Folge des dogmatischen Unterrichts in den Köpfen angerichtet ist. 20
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Ebenda, Seite 37 ff. Ebenda, Seite 44 f.
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Ist es ihre Schuld, wenn sie sich bei so primitiven Angelegenheiten aufhalten muß wie der Feststellung der Frage, über die man spricht, oder der Feststellung dessen, was man über sie hat sagen wollen? Der dogmatische Unterricht hat es leicht, sich zu höheren Regionen zu erheben. Da ihm an der Selbstverständigung nichts liegt, erkauft er seinen Scheinerfolg mit einer immer tiefer wurzelnden Unredlichkeit. Wo man sich denn nicht wundern darf, daß die sokratische Methode einen verzweifelten Kampf um die Ehrlichkeit des Denkens und Sprechens führen muß, ehe sie sich größeren Auf gaben zuwendet. Auch den Vorwurf muß sie auf sich nehmen, daß sie unphilosophisch genug ist, um sich an Beispielen und Tatsachen zu orientieren. Es gibt keinen anderen Weg, die Fallstricke der Reflexion kennen und vermeiden zu lernen, als den, daß man sie in der Anwendung kennen lernt, selbst auf die Gefahr hin, immer nur durch Schaden klug zu werden. Es hat keinen Nutzen, dem eigentlichen Philosophieren eine Vorschule der Logik voranzuschicken in der Hoffnung, dadurch dem Philosophierenden Irrwege zu ersparen. Die Kenntnis der logischen Grundsätze und Schlußregeln, und selbst die Fähigkeit, alle Trugschlüsse an Beispielen zu illustrieren, bleibt doch nur eine Kunst in abstracto. Ein Mensch lernt dadurch noch nicht logisch denken, wenn er auch nach allen Regeln der Syllogistik gelernt hat, auf die Sterblichkeit des CAIUS zu schließen. Die Prüfung der eigenen Urteile, ihre Subsumtion unter die Gesetze der Logik ist Sache der Urteilskraft, und gar nicht Sache der Logik. Die Urteilskraft, sagte KANT, muß als das Vermögen, sich gegebener Regeln zu bedienen, »dem Lehrlinge selbst angehören, und keine Regel, die man ihm in dieser Absicht vorschreiben möchte, ist in Ermangelung einer solchen Naturgabe vor Mißbrauch sicher«. 22 Daher muß diese Naturgabe, wo sie schwach ist, gestärkt werden. Sie läßt sich aber nur stärken durch Übung. Wenn daher unser Leiter durch die Aufforderung, die ursprüng22
Kant: Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Analytik, zweites Buch, Einleitung. (Reclarnsche Ausgabe, Seite 139 f.)
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Die sokratische Methode
liehe Frage wieder aufzunehmen, die Erstarrung der Schüler aufhebt und der Rückweg zum Ausgangspunkt angetreten wird, muß der Schüler an der kritischen Beurteilung jedes einzelnen seiner Schritte die Fehlerquellen studieren und sich seine eigene Schule der Logik erarbeiten. Die aus eigener Erfahrung abgezogenen logischen Gesetze bewahren einen lebendigen Zusammenhang mit dem Bereich der Urteile, die sie beherrschen sollen. Und es wird ferner, da die Dialektik stets nur als Hilfsmittel - wenn auch als unerläßliches - eingeführt wird, verhütet, daß ihr eine Überschätzung zuteil wird nach der Manier der Scholastik, wo denn jedes noch so belanglose metaphysische Problem gut genug ist, den logischen Witz an ihm zu üben. Eine Trennung also der philosophischen Disziplinen, in der Absicht, die Schwierigkeiten des Unterrichts durch gesonderte Behandlung zu vermindern, würde mehr sein als ein bloßer Zeitverlust. Es müssen andere Wege gefunden werden, um dem pädagogischen Grundsatz der Steigerung der Anforderungen Genüge zu tun. Bei Licht besehen, bietet uns diese Frage keine Schwierigkeit mehr. Wenn es überhaupt so etwas wie eine philosophische Forschungsmethode gibt, so muß sie - denn darin besteht ja ihr Wesen - eine zweckmäßige Anweisung für die schrittweise Lösung der Probleme enthalten. Es kann sich also nur darum handeln, den Schüler selbst den Weg der regressiven Methode gehen zu lassen. Daher ist denn das Nächste, den Schüler auf dem Boden der Erfahrung festen Fuß fassen zu lassen, was freilich schwerer ist, als ein unbefangener Beurteiler glauben möchte. Denn nichts verpönt der Adept der Philosophie so sehr wie den konkreten Verstandesgebrauch, der auf die Beurteilung von Tatsachen geht und ihn damit nötigt, sich der niederen Erkenntnismittel seiner fünf Sinne zu erinnern. Fragen Sie jemanden in einer philosophischen Übung: »Was sehen Sie an der Tafel?« - Sie können sicher sein, daß der Gefragte den Blick zu Boden senken wird, und auf die Wiederholung der Frage: »Was sehen Sie an der Tafel?« sich endlich einen Satz abringt, der mit »Wenn« beginnt, womit er denn bekundet, daß die Welt der Tatsachen für ihn nicht existiert.
Anforderungen an den Lehrer
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Die gleiche Mißachtung legt er an den Tag, wenn an ihn die Aufforderung ergeht, ein Beispiel zu nennen. Sofort schweift er in erträumte Welten, oder doch, wenn man ihn zwingt, auf diesem Planeten zu bleiben, in die Wüste oder an das Meeresufer, so daß man sich fragt, ob denn wirklich der Fall, daß man von Löwen angefallen oder vom Tod des Ertrinkens gerettet wird, zu den typischsten Erlebnissen im Bekanntenkreis der Philosophen gehört. Die »Wenn-So«-Sätze, die ausgedachten Beispiele und endlich der voreilige Wunsch nach Definitionen kennzeichnen nicht so sehr den unbefangenen Anfänger als vielmehr den philosophisch verbildeten Dilettanten. Und immer ist er es, der durch seine Scheinweisheit den ruhigen und einfachen Untersuchungsgang stört. Ich erinnere mich einer Logik-Übung, wo der Wunsch, von allgemeinen Definitionen auszugehen, - in der Meinung, daß man die fraglichen Begriffe sonst nicht anwenden könne - viel unfruchtbare Mühe hervorgerufen hat. Es wurde nämlich, trotz meiner Warnungen, die zuerst aufgeworfene Frage festgehalten: »Was ist ein Begriff?« Und so dauerte es denn auch nicht lange, daß nach flüchtigem Hinweis auf das Beispiel des Begriffs der Lampe die »allgemeine Lampe« erschien, ausgestattet mit allen wesentlichen Merkmalen aller besonderen Lampen, und der Kampf um den Nachweis der Existenz dieser, mit allen wesentlichen Merkmalen aller besonderen Lampen ausgestatteten Lampe aufs heftigste entbrannte. Meine bescheidene Frage: ob diese »allgemeine Lampe« mit Gas oder Elektrizität oder mit Petroleum betrieben werde, blieb, als der philosophischen Erörterung unwürdig, unbeantwortet; bis erst nach vielen Stunden gerade durch die Wiederaufnahme der Frage nach dem Betriebsstoff die Existenz der »allgemeinen Lampe« verneint werden mußte. Man entdeckte nämlich, daß verschiedene Beleuchtungsarten für eine und dieselbe Lampe - und sei sie noch so allgemein sich ausschließen. Man hatte damit, von der Anwendung ausgehend, - unvermutet - den Satz des Widerspruchs entdeckt nach regressiver Methode. Den Begriff aber des Begriffs zu definieren, das blieb ein vergebliches Bemühen, wie ja auch im Kreis des SOKRATES die Definitionen fast immer mißglückt sind.
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Die sokratische Methode
Dürfen wir wirklich annehmen, daß solche Mißerfolge ihren Grund allemal in Umständen haben, die außerhalb der sokratischen Methode selbst liegen? Könnte nicht doch in ihrem Wesen eine Schranke liegen, die es unmöglich macht, tiefere Probleme mit ihr zu bewältigen? Aber ehe wir hierüber eine abschließende Entscheidung fällen, wollen wir noch eines die Anwendung der sokratischen Methode erschwerenden Umstandes gedenken, der, so eng er auch mit ihrem Wesen zusammenhängt, doch noch außer ihr liegt und berücksichtigt sein will, ehe man der sokratischen Methode selbst Grenzen zieht. Man hat den Sinn der sokratischen Dialoge darin gesucht, daß das gemeinsame Denken die Wahrheit leichter ins Bewußtsein treten lasse als das schweigende Nachsinnen. Daran ist offenbar vieles richtig. Und doch wird manch einer gegen dies Lob bedenklich gestimmt, der bei einer philosophischen Debatte das Durcheinander der Fragen und Antworten vernimmt und, trotz Wahrung einer äußeren Disziplin, die Ruhe vermißt, die zum Nachdenken gehört. Es kann nicht ausbleiben, daß die Aussprüche anderer als störend empfunden werden, sei es, daß man sich durch gute Bemerkungen bevormundet fühlt, sei es, daß man durch schlechte abgelenkt wird. Es kann nicht ausbleiben, daß die Fortsetzung der Mitarbeit zu einer Nervenprobe wird, zu der dann auch noch die wachsenden Anforderungen an den Takt und an die persönliche Toleranz beitragen. Diese Störungen können durch den Leiter weitgehend ausgeschaltet werden, indem er z. B. verständnislose Antworten scharenweise übergeht, die richtigen Antworten mit sokratischer Ironie in Zweifel zieht oder eine nervöse Unruhe durch ein verständnisvolles Wort zur Entspannung bringt. Aber seine Kraft, die Harmonie des Gedankenspiels herzustellen, hat ihre Grenze da, wo die Bereitschaft auf der Gegenseite fehlt, die gemeinsame Arbeit mit Kraft zu fördern. Man mag sagen, daß der Schüler infolge seiner noch unvollkommenen Einsicht viele Störungen nicht vermeiden kann; aber die Hindernisse, die ich hier im Auge habe, liegen nicht auf intellek-
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tuellem Gebiet, und an ihnen findet eben darum auch die größte Kunst des Lehrers eine unübersteigliche Schranke. Seine Fähigkeit, die geistige Disziplin durchzuführen, kann sich ihrerseits nur entfalten auf Grund einer Willensdisziplin von seiten der Schüler. Es mag Ihnen befremdlich klingen - aber es verhält sich in der Tat so-, daß man zum Philosophen wird nicht durch die Gaben des Geistes, sondern durch die Anstrengungen des Willens. Jawohl, das Philosophieren erfordert besondere Geisteskraft. Aber wer wird sie aufbieten? Gewiß nicht der, der sich auf seine bloße Geisteskraft verläßt. Er wird unfehlbar mürbe werden, wenn bei tiefer dringendem Studium die Schwierigkeiten sich häufen. Er wird zwar, dank seiner Intelligenz, diese Schwierigkeiten noch erkennen, sogar sehr deutlich erkennen. Aber die Spannkraft, sich die Aufgabe immer von neuem zu stellen, bis zum Ziel bei ihr zu beharren und nicht vor dem zersetzenden Zweifel zu kapitulieren - diese Spannkraft ist nur die Kraft eines stählernen Willens; eine Kraft, von der der tändelnde Witz des bloßen Dialektikers nichts weiß. Das Feuerwerk seines Geistes ist für die Wissenschaft am Ende gerade so unfruchtbar wie die Geistesstumpfheit, die schon vor dem ersten Hindernis zurückweicht. Es ist kein Zufall, wenn diejenigen Forscher, die in der Geschichte der Philosophie die Dialektik entscheidend fortgebildet haben, zugleich Philosophen waren in des Wortes ursprünglicher Bedeutung. Nur weil sie die Weisheit liebten, haben sie vermocht, die »zahlreichen Schwierigkeiten und die große dazu erforderliche Mühe« auf sich zu nehmen, von denen PLATON in einem Brief spricht, wo es denn weiter heißt: »Ist nämlich, wer das hört, ein wahrhafter Freund der Weisheit, innerlich mit ihr verwandt und als Gottbegeisterter berufen, sich mit ihr zu befassen, so glaubt er, Kunde erhalten zu haben von einem Wege, der in ein Wunderland führt, das zu erreichen er fortab alle Kraft einsetzen müsse: lieber will er auf das Leben verzichten als auf dieses Ziel.« »Ganz anders diejenigen, die mit der Philosophie nicht wahrhaft verwachsen sind, sondern sich in dem nur äußerlichen Farbenschimmer bloßer Meinungen gefallen, gleichend den Leuten, deren Kör-
Die sokratische Methode
per von der Sonne gebräunt ist: wenn sie den Umfang des Wissensgebietes und das hohe Maß der erforderlichen Anstrengung gewahr werden und sehen, daß die streng sittliche Lebensweise die einzig für diese Aufgabe passende ist, so erscheint ihnen die Sache schwierig und über ihre Kräfte hinausliegend.« Das ist das klare und sicherste Kennzeichen der »Genußmenschen, die zu ausharrender Anstrengung unfähig sind. So geprüft, können sie die Schuld nie auf den« Leiter »schieben, sondern nur auf sich selbst, auf ihre Unfähigkeit nämlich, alles für die Erfüllung der Aufgabe Erforderliche zu leisten.« 23 »Kurz und gut: wer sich nicht innerlich mit der Sache verwandt fühlt, den kann auch Fassungskraft und Gedächtnisstärke hier nicht zum Ziele führen; denn bei widerstrebender Geistesrichtung schlägt die Philosophie in der Seele überhaupt nicht Wurzel.« 24 Die Willenskraft, die wir mit PLATON von dem Philosophen fordern müssen, erst zu bilden, kann nicht, gleichsam nebenher, im philosophischen Unterricht gelingen. Sie muß als Frucht der vorausgehenden Erziehung mitgebracht werden. Sache des Leiters ist es, die nun einmal unerläßlichen Forderungen an den Willen unnachgiebig hochzuhalten, aus Achtung vor den Schülern selbst. Fehlt es ihm an der dazu nötigen Festigkeit, läßt er sich zu angeblichen Erleichterungen bewegen, oder führt er sie selbst herbei, um die Gefolgschaft festzuhalten, so hat er sein philosophisches Ziel bereits verraten. Er darf keine andere Wahl kennen, als auf seinen Ansprüchen zu bestehen - oder die Arbeit aufzugeben. Alles andere ist würdeloser Kompromiß. Natürlich soll der Schüler wissen, welche Forderungen im einzelnen an seinen Willen gestellt werden. Diese Forderungen erschöpfen sich in dem Minimum dessen, was dazu gehört, Gedanken in Gemeinschaft zu prüfen. Es handelt sich also zunächst um die Mitteilung von Gedanken und nicht von Wissensstoff, sei dieser auch das Wissen um fremde Gedanken. Es handelt sich ferner um ihre Mitteilung in deutlicher, klarer Sprache. Erst der Zwang zur Mitteilung gibt eine Handhabe 23 PLATON: 24
Briefe. A.a.O., Seite 70 f. Ebenda, Seite 76.
Anforderungen an den Schüler
für die Prüfung der Bestimmtheit und Klarheit der eigenen Vorstellungen. Die Berufung auf das richtige Gefühl, dem nur der Ausdruck mangelt, gilt hier nicht. Das Gefühl ist zwar der erste und nächste Führer auf dem Weg zur Wahrheit, aber es ist ebensooft ein Beschützer der Vorurteile. In einer wissenschaftlichen Frage bedarf daher das Gefühl der Aufklärung, damit es nach Begriffen und geordnetem Schlußverfahren beurteilt werden kann. Diese Untersuchung verlangt eine Mitteilung der Gedanken in einer vernehmlichen und gemeinverständlichen Sprache, die keine Vieldeutigkeit duldet. Die Einführung einer Kunstsprache ist für das Philosophieren nicht nur nicht erforderlich, sondern der Sicherheit seines Fortganges sogar schädlich. Sie bringt die ohnehin abstrakten und schwierigen metaphysischen Angelegenheiten in das Licht einer Geheimwissenschaft, zu deren Enthüllung nur höhere Geisteskräfte taugen, und verhindert dadurch die Besinnung auf die Entscheidungen der unbefangenen Urteilskraft, die, wie wir gesehen haben, den Ausgangspunkt des sinnvollen Philosophierens bilden. Die unbefangene Urteilskraft hält sich für ihre Urteile an gegebene Begriffe und nicht an künstliche Reflexionen und verständigt sich über sie im engen Anschluß an den Sprachgebrauch. Um diese Begriffe rein aufzufassen, bedarf es freilich ihrer Isolierung. Durch Abstraktion gelingt es, die anfangs mit anderen Vorstellungen vermengten Begriffe abzusondern, sie nach und nach in ihre Elemente zu zerlegen und durch solche Erörterungen zu den Grundbegriffen aufzusteigen. Die Anknüpfung an die gegebenen Begriffe behütet den Philosophen davor, sein künftiges System mit bloß ausgedachten Gegenständen und willkürlichen Hirngespinsten zu bevölkern. Denn zieht der Philosoph die unbefangene Urteilskraft nicht zu Rate, so wird er sich verleiten lassen, die philosophischen Begriffe konstruktiv durch willkürliche Zusammenfügung einzelner Merkmale zu bilden, ohne die Gewähr für die Existenz eines der Konstruktion entsprechenden Gegenstandes. Was ihn dann noch mit dem kritischen Philosophen verbindet, ist allenfalls noch der Gebrauch der gleichen Worte. Er bezeichnet seinen künstlichen Begriff mit dem gleichen Wort wie jener seinen gegebenen Begriff. Er will freilich unter diesem Wort etwas anderes verstanden
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Die sokratische Methode
wissen. Er sagt: Ich- und meint: Weltvernunft. Er sagt: Gott- und meint: Seelenfrieden. Er sagt: Staat - und meint: Macht, die keinem Gesetz unterworfen ist. Er sagt: Ehe - und meint: unauflösliche Liebesgemeinschaft. Er sagt: Raum - und meint: Ohrlabyrinth. Die Sprache ist bei ihm mit einem künstlichen Sinn erfüllt. Sie ist, obwohl man es ihr nicht anmerkt, in Wahrheit eine Kunstsprache und eine weit gefährlichere, als wenn der Philosoph durch Prägung von Fremdwörtern den besonderen Sinn seiner Sprache angedeutet hätte. Denn der Gleichklang der Worte verleitet den Unbefangenen, diesen Worten die ihm geläufigen Begriffe unterzulegen, was dann zu Mißverständnissen Anlaß gibt. Sie verleitet aber - was verhängnisvoller ist - den Schöpfer der Kunstsprache, sich einer gleitenden Wortbedeutung zu bedienen und mit Hilfe solcher Begriffsverschiebung Scheinbeweise zu führen. In diesem Mißbrauch bloßer Nominaldefinitionen stoßen wir auf einen der verbreitetsten und tiefstliegenden dialektischen Fehler, einen Fehler, dessen Aufdekkung eben dadurch erschwert ist, daß die Tatsache der Begriffsverschiebung nicht ohne weiteres durch Verweisung auf die Anschauung feststellbar ist. Aber sie verrät sich durch ihre Folgen, durch die eigentümliche Erscheinung, daß sich dem geführten Scheinbeweis mit Hilfe der gleichen Nominaldefinition ein Gegenbeweis gegenüberstellen läßt, der den gleichen Schein des Rechts für sich hat. Das berühmteste und in der Tat denkwürdigste Beispiel solcher Antithetik bilden die von KANT entdeckten und aufgelösten Antinomien. Was KANT von diesem klassischen Beispiel der Antinomien sagt, daß es nämlich die wohltätigste Verirrung in der Geschichte der Vernunft sei, da es zum Anstoß wird, dem Grund des Blendwerks nachzuforschen und die Versöhnung der Vernunft mit sich selbst herzustellen, das hat entsprechende Bedeutung für jeden Fall eines solchen dialektischen Widerstreits. Es scheint vielleicht, als ob wir mit den letzten Betrachtungen etwas abgeirrt wären, da wir doch bei der Forderung standen, daß sich der Schüler einer vernehmlichen und gemeinverständlichen Sprache bedienen soll. In Wahrheit aber haben wir uns nun ein tieferes Verständnis ve1schafft für die Bedeutung dieser Forderung.
Anforderungen an den Schüler
Was gewinnen wir nach alledem mit dieser Forderung an den Schüler? Nur wer durch das Band dieser Sprache sich an die gegebenen Begriffe hält und in deren Erörterung geübt ist, schärft seine Kritik gegenüber jeder willkürlichen Definition und gegenüber jedem Scheinbeweis, der aus solcher Nominaldefinition erschlichen wird. Es gelingt im sokratischen Unterricht, wenn die Forderung einer einfachen und reinen Sprache eingehalten wird, durch bloßes Hinschreiben der Lehrsätze zweier einander widerstreitender Doktrinen die Aufmerksamkeit auf die ihnen zugrunde liegende Nominaldefinition zu lenken, deren Mißbrauch aufzudecken und damit beide Lehrmeinungen zu stürzen. Es gelingt diese dialektische Leistung - und das ist das an ihr Bedeutsame - nicht durch Gedankenblitze, sondern methodisch, d. h. hier: durch schrittweises Aufsuchen der versteckten Voraussetzung, die den einander widerstreitenden Urteilen zugrunde liegt. Und es gelingt das Auffinden dieser Methode, wenn derjenige, der durch ein solches Sophisma stutzig geworden ist, auf den Sinn der Worte achtet, die, bei ungekünsteltem Gebrauch, ihn auf die Spur des Fehlers weisen. Verstehen Sie mich recht. Ich mache mich nicht zum Vertreter der Ansicht, wonach der sogenannte »gesunde Menschenverstand« und seine Sprache ausreichten, um die Ansprüche wissenschaftlichen Philosophierens zu befriedigen. Ich habe auch nicht die Absicht, durch den Hinweis auf einfache und, wie es scheint, leicht zu erfüllende Anfangsbedingungen die Tatsache zu verschleiern, daß das Philosophieren in seinem Fortgang eine strenge und schwer zu bewältigende Kunst der Abstraktion verlangt. Worauf es mir ankommt, ist dies: Daß der erste Schritt zur Ausbildung dieser Kunst von niemand ungestraft übersprungen werden kann. Der Abstraktion muß etwas vorliegen, von dem sie abstrahiert. Was der Philosophie zuerst und greifbar vorliegt, ist die Sprache als Bezeichnung der Begriffe durch Worte. In ihrem Reichtum, dessen Quellen mannigfach fließen, lebt verborgen die Vernunft. Der Verstand deckt, indem er die durch Anschauung bestimmten Vorstellungen absondert, die Vernunfterkenntnis auf.
Die sokratische Methode
Wie SOKRATES unablässig bemüht war, die Schlosser und Schmiede zu befragen und sich mit seinen Schülern zu allererst über ihr Treiben zu verständigen, so soll jeder Philosoph anknüpfen an die lebendige Sprache, um die Sprache seiner abstrakten Wissenschaft aus ihren reinen Elementen zu entwickeln. Damit bin ich am Ende der Forderungen, die für den Schüler gelten. Ihre Schwierigkeit liegt nicht in der Erfüllung ihrer Einzelheiten, sondern in der Bindung an ihre Gesamtheit. Ich sagte vorhin: Der Arbeitsvertrag fordert von dem Schüler nichts anderes als Mitteilung der Gedanken. Sie werden verstehen, wenn ich dasselbe jetzt mit den Worten ausdrücke: Er fordert von ihm Unterwerfung unter die Methode des Philosophierens, wobei der sokratische Unterricht nichts anderes bezweckt, als dem Schüler die Selbstprüfung zu ermöglichen über die Einhaltung seines Vertrages. Unsere Prüfung der sokratischen Methode nähert sich ihrem Ende. Nach dem wir die die Anwendung betreffenden Schwierigkeiten erörtert haben, bleibt noch das eine Bedenken stehen, ob die Ungunst ihres Schicksals nicht doch, wenigstens zum Teil, in ihr selbst begründet ist, ob nicht in ihr selbst eine Grenze liegt, die ihre Brauchbarkeit einschränkt. Wenn uns etwas veranlassen muß, dieses Bedenken ernst zu nehmen, so ist es die merkwürdige Tatsache, daß gerade der eigentliche Vollender der kritischen Philosophie, der Wiederhersteller der sokratisch-platonischen Lehre von der Wiedererinnerung und der Selbstgewißheit des Geistes, daß gerade dieser Größte unter allen Sokratikern die sokratische Unterrichtsmethode nur bedingt anerkannt hat, weil er sie für unzureichend hielt, die Selbstverständigung des Geistes zum Ziel zu führen. Er billigt ihr zu, daß sie den Lehrling anfangs leiten kann, er fordert sogar mit Bestimmtheit, daß aller philosophische Unterricht dem Geiste der sokratischen Methode folge, deren Wesen nicht sowohl in der dialogischen Form bestehe, als vielmehr darin, »von gewöhnlichen Gegenständen des täglichen Lebens auszugehen und sich durch diese erst auf wissenschaftliche Ansichten hinüberführen zu lassen«. 25 »Sobald es aber«, 25
Fries: System der Logik, Seite 449. 3. Auflage, 1837, neu herausgegeben Leipzig 1914.
Fries zur sokratischen Methode
wie FRIES sagt, »auf höhere Wahrheiten ankommt, die der Anschaulichkeit und der täglichen Lebenserfahrung entzogener sind«, hält er nichts davon, den Schüler die Wahrheit selbst finden zu lassen.26 »Hier«, sagt er, »muß der Lehrer eine nach feinen Abstraktionen gebildete Sprache mitteilen, welche eben noch nicht vollständig im Besitz des Schülers ist, sondern ihm durch den Unterricht erst angebildet werden soll.« 27 Von dieser Art des mitteilenden Unterrichts, die freilich - nach FRIES' eigenen Worten - »Schritt vor Schritt zum Mitdenken einladet«28, hat FRIES in seinem Lehrroman »Julius und Evagoras« eine Probe gegeben. Und in der Tat, sokratisch ist dieser Unterricht nicht. So wenig ich einen wirklich gelungenen platonischen Dialog, wie er historisch nicht vorliegt, zum Gegenstand einer philosophischen Übung machen würde, gerade weil er den erfinderischen Gedankengang des Schülers vorwegnimmt, so wenig liegt bei »Julius und Evagoras« ein Hindernis vor, dieses Buch einer solchen Übung zugrunde zu legen. Denn die Entwicklung der abstrakten Gedankengänge, die dem Leser hier geboten wird, - so musterhaft sie im übrigen ist - »ladet« den Schüler zwar zur kritischen Nachprüfung des Vorgetragenen »ein« - wie FRIES es verlangt-, aber sie bietet keinerlei Gewähr, daß er der Einladung Folge leistet und, auf eigene Füße gestellt, der Schwierigkeiten Herr werden wird, die ihm dann in den Weg kommen könnten. Lassen Sie Ihre Schüler das schöne und aufschlußreiche Kapitel über die »Quellen der Gewißheit« studieren, und ich mache mich anheischig, in einer sokratischen Aussprache den Nachweis zu liefern, daß bei den Schülern noch alles fehlt, das Gelernte selbständig zu verantworten. Den Schlüssel für dieses Rätsel bietet Ihnen GOETHES Wort: »Man sieht nur, was man weiß.« Es nützt nun einmal nichts, eine richtige, klare und wohlbegründete Lehre vor dem Schüler auszubreiten - es nützt nichts, selbst wenn der Einladung zum Mitdenken vom Schüler Folge geleistet 26 27
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Fries: Die Geschichte der Philosophie, erster Band, Seite 253. Halle 1837. Fries: System der Logik, Seite 436. A.a.O. Ebenda.
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Die sokratische Methode
wird - ja es nützt sogar nichts, den Schüler auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, die der überwinden muß, der selbständig solche Ergebnisse finden will. Dem Schüler, der zur selbständigen Beherrschung des philosophischen Lehrgehalts vordringen soll, kann es nicht erspart bleiben, aus der bloßen Kenntnisnahme der Probleme und ihrer Schwierigkeiten herauszutreten und in unablässiger Übung mit ihnen zu ringen, um sie, durch den täglichen Umgang mit ihnen, mit all ihren Tücken und Fallstricken und in ihren mannigfachen Gestalten meistern zu lernen. Der Vortrag des Lehrers, der, wie FRIES verlangt, in einer »nach feinen Abstraktionen gebildeten Sprache« erfolgen soll, verhüllt aber, gerade vermöge seiner Sicherheit und Reinheit, die Schwierigkeiten, die der Bildung solcher Geistesklarheit und Wortschärfe im Wege stehen, und bringt es mit sich, daß letzten Endes nur der schon sokratisch Gebildete den philosophischen Gehalt und die Festigkeit und Selbständigkeit der Darstellung sich zu eigen machen wird. Was FRIES die sokratische Methode hat unterschätzen lassen, hat seinen Grund einmal darin, daß er in der Methode des SoKRATES die sokratische Methode nicht fand und nicht finden konnte, und in dieser Tatsache eine Bestätigung erblickte für seine Ansicht von der Unzulänglichkeit der sokratischen Methode. Der andere Grund - und ich glaube, der tiefere - liegt in dem besonderen Charakter der Friesschen Genialität. FRIES vereinigte mit einem in der Geschichte der Philosophie einzig dastehenden Wahrheitsgefühl eine Sprachbegabung, die ihm mit nachtwandlerischer Sicherheit das dem philosophischen Gedanken angemessene Wort lieferte. Ein so überlegener, freier und reicher Geist wird stets nur schwer die hinreichende Berührung finden mit der Geistesart der weniger selbständig Denkenden. Er verkennt leicht die Gefahr des Dogmatismus, die dem Unselbständigeren auch da noch droht, wo der belehrende Vortrag, für sich betrachtet, das höchste Maß an Klarheit und Bestimmtheit des Ausdrucks erreicht hat. Ein solcher Geist kann durch seine Überlegenheit ein Führer der Jahrtausende werden, aber er ist darauf angewiesen, daß sich Lehrer finden, die seine Sprache erst aufschließen, indem sie mit Hilfe der sokratischen »Maieutik« jene beschwerlichen und langwierigen Übungen einlei-
Sokratische Methode und Mathematik
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ten, die den nicht schrecken dürfen, der ein Jünger der Philosophie werden will. Ich behaupte, daß dieser Kunst keine Grenzen gesetzt sind. Ich habe es erlebt, daß eine sokratische Übung über einen so abstrakten Gegenstand wie den der philosophischen Rechtslehre nicht nur gelang, sondern bis zum Aufbau des Systems hinaufführte. Sie werden sagen: Das sind Behauptungen! - und die sokratische Ironie reicht bei mir noch aus, meine mißliche Lage, die ich übrigens im ersten Satz meiner Rede zugestanden habe, zu bekennen. Denn für die Sache, die ich hier führe, wird schließlich doch niemand anders als durch das Zeugnis des Experiments und also durch eigene Erfahrungen gewonnen werden. Aber sehen wir uns um: Gibt es nicht vielleicht wenigstens ein Gegenexperiment, das seinerseits einfach und bekannt genug ist, um uns einen bündigen Rückschluß auf die uns beschäftigende Frage zu gestatten? Was für ein Experiment könnte das sein? Wenn ein nicht-sokratisch geleiteter Unterricht in der Philosophie zum Ziel führen könnte, so müßte ein solcher Unterricht in einer Wissenschaft, die nicht mit den besonderen Schwierigkeiten der philosophischen Erkenntnis zu kämpfen hat, in der vielmehr, vom ersten bis zum letzten Schritt, auch bei dogmatischem Vortrag, alles restlos und lückenlos klar wird, a fortiori zum Ziel führen. Fragen wir uns: Gibt es eine solche Wissenschaft? Und wenn es sie gibt, erfreut sie sich eines Platzes inmitten der Unterrichtsfächer an unseren Schulen und Hochschulen? Wir wissen alle: Eine solche Wissenschaft gibt es in der Tat. Die Mathematik erfüllt die beiden verlangten Bedingungen. » Wir sind im Besitz«, sagt einer der klassischen französischen Mathematiker. Das fragliche Experiment liegt uns also vor, und wir müssen sein Ergebnis nur mit der nötigen Unvoreingenommenheit betrachten. Was lehrt es? Wir wollen hier nichts beschönigen und niemanden anklagen. Aber da wir Lehrer heute unter uns sind, wollen wir das öffentliche
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Die sokratische Methode
Geheimnis ruhig aussprechen: Der Erfolg ist - im großen betrachtet - ein negativer. Wir wissen alle aus eigener Erfahrung, daß selbst fähige und Anstrengungen nicht scheuende Schüler und Hochschüler, wenn man sie auf Herz und Nieren prüft, schon in den elementaren mathematischen Angelegenheiten unsicher sind und ihr Nicht-Wissen entdecken. Der Rückschluß, von dem ich sprach, läßt sich also ziehen; und ich sehe vor ihm kein Entrinnen. Es mag einer sagen: Es gibt überhaupt kein Verstehen bei irgendeinem Unterricht. Das läßt sich vertreten. Aber darüber sprechen wir als Pädagogen nicht. Wir gehen hier von der Möglichkeit eines sinnvollen Unterrichts aus. Und da kommen wir zu dem Schluß, daß, wenn anders es überhaupt eine Gewähr für das Verstehen einer Sache gibt, der sokratische Unterricht solche Gewähr übernimmt. Und damit haben wir mehr gewonnen, als wir suchten. Denn dieser Schluß gilt ja nicht nur für die Philosophie, sondern für jedes Fach, wo überhaupt von Verstehen die Rede sein kann. Daß jener pädagogische Mißstand in der Tat nicht nur die Schuld unfähiger Lehrer ist, sondern noch einen tiefer liegenden Grund haben muß, daß, mit anderen Worten, auch der beste mathematische Unterricht, wenn er nach dogmatischer Methode erfolgt, trotz aller seiner Klarheit gründliches Verständnis nicht erzwingen kann, das bestätigt uns ein Experiment, das im großen durch die Geschichte selbst angestellt worden ist und das die Beachtung aller Freunde des mathematischen Unterrichts verdient. Die Elemente der Infinitesimalrechnung, die heutzutage bereits im Unterricht an den höheren Schulen behandelt werden, sind, was Klarheit und Strenge der Begründung betrifft, erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein fester und allgemein anerkannter Besitzstand der Wissenschaft geworden. Zwar waren ihre wichtigsten Ergebnisse schon seit LEIBNIZ und NEWTON allgemein bekannt, aber über ihre Grundlagen herrschte ein Streit, der trotz der zahlreich und unermüdlich wiederholten Versuche, hier Klarheit zu schaffen, nur immer neue Dunkelheiten und Paradoxien zutage förderte, so daß der geistreiche BERKELEY, nicht ohne Grund bei der damaligen Verfassung dieser mathematischen Disziplin, den Beweis zu führen
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unternehmen konnte, daß sie an Unverständlichkeit ihrer Lehren den Dogmen und Mysterien der Theologie nicht nadistünde. 29 Wir wissen heute, daß alle diese Rätsel lösbar, ja daß sie - dank den Arbeiten eines CAUCHY und WEIERSTRASS - wirklich gelöst sind und daß dieser Zweig der Mathematik derselben restlosen Klarheit und Durchsichtigkeit des Aufbaus fähig ist wie die elementare Geometrie. Die volle Evidenz stellt sich auch hier ein, sobald nur einmal die Aufmerksamkeit auf den entscheidenden Punkt gelenkt ist. Aber eben dies gelingt nur schwer und bleibt eine Kunst, die sich jeder Sdiüler von neuem selbst erarbeiten muß. Wie sehr dies der Fall ist, dafür will ich als Beweis zwei besonders denkwürdige Tatsachen anführen. Die eine ist der Umstand, daß sich in der seit ihrem Erscheinen allgemein bekannten und berühmten Darstellung NEWTONS jener entscheidende, von CAUCHY und WEIERSTRASS zur Geltung gebrachte Gesichtspunkt nicht nur überhaupt angegeben findet, sondern dies auch in einer Formulierung, die an Klarheit, Präzision und Prägnanz die höchsten Ansprüche erfüllt, die die Wissenschaft heute zu stellen vermag - ja noch mehr, unter ausdrücklicher Warnung vor eben dem Mißverständnis, das, wie wir heute wissen, die nachfolgenden Generationen der Mathematiker so sehr in seinem Bann gehalten hat, daß sie das eindringliche »Hüte dich!« - »Cave!« an der ihnen allen bekannten klassischen Stelle des Newtonschen Werkes 30 überhaupt nicht in ihr Bewußtsein aufzunehmen vermochten. Die andere Tatsache, die zu dieser gleichsam das Gegenstück bildet, ist der Umstand, daß auch noch nach WEIERSTRASS der endlich beigelegte Streit abermals aufleben konnte. Und zwar nicht nur bei Dilettanten, an denen es nie mangeln wird, sondern unter der Führung eines gerade um die Funktionentheorie so verdienten For29
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George Berkeley: The Analyst; or, a Discourse addressed to an Infidel Mathematician. Wherein it is examined whether the Object, Principles, and Inferences of the modern Analysis are more distinctly conceived, or more evidently deduced, than Religious Mysteries and Points of Faith. 1734. Newton: Philosophiae naturalis principia mathematica, Liber primus, Scholium.
Die sokratische Methode
schers wie PAUL DU Bms-REYMOND. Seine »Lösung«, so erklärt er selbst, »ist, daß es ein Rätsel bleibt und bleiben wird«. 31 Welch eindringlich mahnendes Beispiel für das Mißverhältnis zwischen der objektiven Klarheit und systematischen Vollkommenheit einer wissenschaftlichen Lehre einerseits und der pädagogischen Gewähr für das Verständnis andererseits. Gerade der philosophische Kopf, der auch ein mathematisches Ergebnis nicht bloß hinnehmen will, sondern darüber philosophiert, d. h. es in den Grundlagen zu verstehen und mit seinem übrigen Wissen in Harmonie zu bringen strebt, gerade er muß, wenn er nicht zu den Seltenen gehört, die aus eigener Kraft zur Klarheit durchdringen, scheitern. Und so kommt es dahin, daß selbst die Mathematik, statt das unverrückbare Richtmaß und Vorbild zu bleiben, durch das auch der Philosophie geholfen werden könnte, vielmehr von dieser mit in den Strudel der Verwirrung hineingezogen wird. Hiermit glaube ich zugleich die gewichtigste Äußerung beantwortet zu haben, die mir über den Wert der sokratischen Methode für den mathematischen Unterricht bekanntgeworden ist. Diese Äußerung stammt nämlich von keinem anderen als - WEIERSTRAss. WEIERSTRASS hat der sokratischen Methode eine eigene Abhandlung gewidmet. 32 Schon diese Tatsache allein ist ein Ausdruck der Schätzung und des Verständnisses, die der tief denkende Mathematiker und Pädagoge unserem Gegenstand entgegengebracht hat. Und dasselbe bezeugen im einzelnen seine Ausführungen. Wenn WEIERSTRASS dennoch den Wert der sokratischen Methode, deren grundsätzliche Durchführbarkeit in der Philosophie und in der reinen Mathematik - im Gegensatz zu den Erfahrungswissenschaften - er nachweist, für den Unterricht an den Schulen nur gering veranschlagt, so einmal, weil ihm die äußeren Schwierigkeiten, die hier unleugbar bestehen und von denen ich ausführlich gesprochen habe, unüberwindlich erscheinen. Sodann aber offensichtlich auch aus einer, bei dem Genie des großen Forschers sehr begreiflichen, Vor31
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Paul du Bois-Reymond: Die allgemeine Funktionentheorie, erster Teil, Seite 2. Tübingen 1882. Weierstrass: Mathematische Werke, dritter Band, Anhang, Seite 315-329. Berlin 1903.
Sokratische Methode und Mathematik
liebe für den zusammenhängenden Vortrag mit seinen großen überblicken und der architektonischen Schönheit seines Aufbaus. Er gesteht zwar zu, daß ein solcher Vortrag, »wenn er von Erfolg sein soll, Schüler von bereits reiferem Geiste voraussetzt«. Doch da nach seiner Meinung auch »die sokratische Methode in ihrem wahren Geiste durchgeführt« »weniger für Knaben als für reifere Jünglinge paßt«, so fragt man vergeblich, woher die Reife des Geistes kommen soll, die der nicht-sokratischen Lehrart den Erfolg sichert. Welche Reife des Geistes müssen unsere Schüler haben, wenn wir ihnen zumuten, den WEIERSTRASs-Schüler PAUL DU Bms-REYMOND und den NEWTON-Schüler EULER an Tiefe des Verständnisses zu übertreffen! Unser Ergebnis könnte zu pessimistischen Folgerungen stimmen. Aber recht besehen stehen wir nicht am Ende. Was wir gefunden haben, weist uns ja gerade den Weg, den Grund des Mißstandes zu beheben, der als solcher allerdings schwerlich pessimistisch genug beurteilt werden kann. Der Weg geht über die Mathematik. Es steht bei den Mathematikern, dem Skandal ein Ende zu machen, der bisher nicht nur das Ansehen der Philosophie gänzlich zerrüttet hat, sondern auch die Mathematik selbst mit dem Verlust des Ranges bedroht, den sie, dank ihrer machtvollen Stellung im Unterricht, im Geistesleben der Menschheit bisher behauptet hat. Bei der hilflosen Lage, in der sich die Sache der sokratischen Methode befindet, kann die Hilfe nur kommen von einer Wissenschaft her, die jene Vorzüge vereinigt, von denen ich gesprochen habe, und die in der Tat nur der Mathematik zukommen, Vorzüge, die ihr einen Vorsprung sichern, den die Philosophie aus eigener Kraft nie einholen wird. Charakter und Ansehen der Mathematik als Wissenschaft stehen noch fest genug. Die Evidenz ihrer Ergebnisse kann durch keinen noch so kläglichen Unterricht auf die Dauer verdunkelt werden und wird immer eine Handhabe zur Orientierung bieten, mag sonst auch alles in Dunkelheit und Verwirrung stürzen. Und so appelliere ich denn an die Mathematiker. Mögen sie sich
Die sokratische Methode
der Geistesmacht bewußt werden, die in ihren Händen ruht, und des ihnen damit zufallenden Führerberufs in den Reichen der Wissenschaft und des Unterrichts. Die Philosophie kann heute den ihr von Haus aus zufallenden Schutz der geistigen Güter nicht übernehmen, deren Schicksal an das der sokratischen Methode geknüpft ist. Sie selbst ist, nachdem sie ihr Stiefkind verstoßen und sich dadurch seines belebenden und verjüngenden Einflusses beraubt hat, so kraftlos geworden, daß sie nunmehr bei ihrer Schwesterwissenschaft Aufnahme und Hilfe für die verstoßene Tochter erbitten muß. Wenn ich daher heute am Anfang von einem Gebot der Ritterlichkeit sprach, das mich zum Anwalt der Verschmähten macht, so bin ich doch weit davon entfernt, meine Ohnmacht zu verkennen. Ich kann dieses Gebot der Ritterlichkeit nicht anders erfüllen als dadurch, daß ich meinen Schützling der Obhut der Mathematik anvertraue, in der Zuversicht, dort eine Pflegestätte für die Verstoßene zu wissen, in der sie sich kraftvoll entfalten kann, um endlich, wenn sie erstarkt sein wird, in ihre Heimat zurückzukehren und dort wohlgeordnete und gesetzliche Zustände einzuführen, und so zum Guten zu wenden, was an ihr gesündigt worden ist.
Namenverzeichnis Alexander der Große: 233 Alkibiades: 284 Apelt, Ernst Friedrich: XIII, XVIII, 2 ff., 6 f., 17, 65 f., 73, 75 ff., 201, 253, 261 Apelt, Otto: 271, 275, 284, 294, 297 Aristoteles: 16 f., 51, 54, 62, 204, 229, 288
Bellamy: 286 Beneke, F. E.: 42, 66, 88, 91 Berkeley, George: 256, 312 f. Bode, J. E: 90 Böhme, Jakob: 7 du Bois-Reymond, Paul: 314 f. Brahe, Tycho: 228
Cassirer, Ernst: XXIII Cauchy, H. L.: 256, 313 Christus: 234 Cohen, H.: 43 f., 69 ff., 75 ff., 87 f., 127, 216 f. Comte, Auguste: 202
Descartes, Rene: 5 Dewey, John: XIX Djuvara, Marcel: 261 Dostojewsky, F. M.: 272
Elsenhans, Theodor: 75, 87, 91, 110 ff., 126 ff., 131, 133 ff., 139 f., 145 ff.
Euklid: 4 Euler, Leonhard: 315
Falckenberg, R.: 75 Fichte, J. G.: 6, 42, 44, 51, 61, 71, 74, 84, 90, 98, 102, 132, 144, 209 f., 212, 216 Fischer, Kuno: 42, 65, 81 ff., 110, 193 ff., 209 f. Fludd, Robert: 7 Fries, Jacob Friedrich: (s. a. Sachverzeichnis) IX ff., XIII ff., XVIII, XXI, 3 f., 6 f., 38, 43, 64 ff., 70, 73 ff., 78, 81 ff., 91 ff., 104 ff., 110 ff., 131 ff., 139 f., 143 ff., 153 ff., 159 f., 166 ff., 179 ff., 184 ff., 197, 201, 209 f., 217, 254, 261, 263, 265 f., 268, 283, 290, 308 ff.
Galilei: 4 f ., 7 Gauss, C. F.: 83, 90,227,256,272 Goethe, J. W. v.: 309 Grapengießer: 70
Hägerström, A.: 75 Hallier, Ernst: 66 Hegel, G. W. F.: XVI, 3, 6, 39, 44, 209 f., 215 f., 261 Helmholtz, H. v.: 18, 46 Heraklit: 233 Herbart, J. F.: 39, 67, 86, 90, 93, 171
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Namenverzeichnis
Hessenberg, Gerhard: 2, 10, 38, 56, 80, 164 Hilbert, David: 195 f., 278,295 Humboldt, Alexander v.: 83 Hume, David: XVI, XX, 45, 55 ff., 59 ff., 64, 121, 202
Menon: 297 f. Metternich, K. L.: 261 Meyer, Jürgen Bona: 133 Meyerhof, Otto: 260, 270 Mill, John Stuart: 202, 204 Möbius, August Ferdinand: 83
Jacobi, Friedrich Heinrich: 51,111,212 Joel, Karl: 276
Natorp, Paul: 86 Nelson, Leonard: (s. a. Sachverzeichnis) IX ff., 2, 154 ff., 166, 172, 175, 177 ff., 260, 268 Newton, Isaac: 4 f., 7, 15, 256, 263, 312 f., 315 Niemann, August: 286 Nietzsche, Friedrich: 6, 206
Kaiser, Karl: 2, 10, 80, 164 Kallikles: 284 Kant, Immanuel: (s. a. Sachverzeichnis) IX f., XIII ff., XVIII, XXI, XXIII, 3 f., 6 f., 11, 17, 21, 33 f., 39, 41 f., 44, 46 f., 51 f., 56 ff., 64, 66, 68 f., 71 ff., 75, 77, 81 ff., 87, 89 f., 93 f., 99, 102, 108 ff., 115 ff., 140, 143 f,. 154 f., 159, 168 f., 181 ff., 188 ff., 192, 195, 201, 204, 209 ff., 214 ff., 229, 253 f., 263, 274 f., 277 f., 290, 294, 299, 306 Kepler, Johannes: 4 f., 7, 228 Kierkegaard, Sören: XX Kopernikus, Nikolaus: 5 Kowalewsky, Michael: 261 f. Kraft, Julius: X, XVI ff.
Lange, F. A.: 211 f., 216 Leibniz, G. W.: 41, 87, 95, 109, 111, 137, 256, 312 Leser, Hermann: 75, 83 Leverrier, U. J. J.: 187 Liebmann, Otto: 111 Lipps, Theodor: 86 Lo