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German Pages 301 [302] Year 2015
Hjördis Becker-Lindenthal Die Wiederholung der Philosophie
Kierkegaard Studies
Edited on the behalf of Søren Kierkegaard Research Centre by Heiko Schulz, Jon Stewart and Karl Verstrynge in cooperation with Peter Šadja
Monograph Series 32
Edited by Heiko Schulz
Hjördis Becker-Lindenthal
Die Wiederholung der Philosophie
Kierkegaards Kulturkritik und ihre Folgen
Kierkegaard Studies Edited on behalf of the Søren Kierkegaard Research Centre by Heiko Schulz, Jon Stewart and Karl Verstrynge in cooperation with Peter Šajda Monograph Series Volume 32 Edited by Heiko Schulz
ISBN 978-3-11-041733-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-041831-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-041841-5 ISSN 1434-2952 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Danksagung Schenkt man Kierkegaards Erfahrungsbericht Glauben, so haben sich seine Werke mit Leichtigkeit und „ununterbrochener Gleichmäßigkeit“ entwickelt, geradezu so, als ob er das vor dem inneren Auge bereits fertige Werk nur noch abschreiben mußte. Auf diese Weise ist das vorliegende Buch nicht entstanden – glücklicherweise nicht. Statt dessen stellt es das Ergebnis einer spannungsreichen und vielfältigen Entdeckungsreise dar, auf der ich wunderbare Lehrer und Weggefährten hatte. Mein aufrichtiger Dank gilt Prof. Dr. Ralf Konersmann (Kiel). Er hat mich bereits im Grundstudium vielseitig gefördert, mir den disziplinären Reichtum der Philosophie vor Augen geführt und als Doktorvater mich immer wieder ermutigt, meine eigenen Forschungsideen zu verwirklichen. Für die aufmerksame und kontinuierliche Förderung durch Prof. Dr. Dirk Westerkamp und Dr. Astrid von der Lühe aus Kiel bin ich ebenfalls zutiefst dankbar; ohne sie wäre meine akademische Entwicklung anders verlaufen. Frau Prof. Dr. Christine Blättler (Kiel) möchte ich gleichfalls für ihre Unterstützung danken. Prof. Dr. Jon Stewart (Kopenhagen) hat mir den Weg in internationales Terrain geebnet und stand mir allzeit mit Rat zur Seite; ihm danke ich herzlich. Auch Prof. Dr. Hartmut Rosenau (Kiel) hat mich sehr gefördert; zudem erschloß sein äußerst kurzweiliges Kolloquium zur Langeweile mir deren existenzphilosophische Dimension. Während meines Forschungsaufenthaltes in Cambridge (Mass., USA) gab mir das Mystik-Seminar von Prof. Dr. Ronald F. Thiemann† eine Vielfalt an Ideen, von denen meine Forschung noch heute zehrt. Den Teilnehmern meines Seminars zu Kierkegaards Krankheit zum Tode danke ich für ihre wißbegierigen, unvoreingenommenen Fragen und lebhafte Diskussionen. Sie haben mich dazu angespornt, die Verzweiflungsformen verständlich und nachvollziehbar zu schildern. Ohne die Heinrich-Böll-Stiftung wäre das vorliegende Buch nicht zustande gekommen; sie unterstützte mich während der Promotionszeit finanziell und ideell. Meiner Ansprechpartnerin Dr. Tamara Or sei herzlich für ihre Unterstützung gedankt. Besonders verbunden bin ich zudem Dr. Justus Lentsch (Frankfurt) und meiner Mentorin Prof. Dr. Maria Kronfeldner (Budapest). Beide haben meine akademische Entwicklung stetig gefördert und begleitet. Aus vollem Herzen danke ich schließlich Sarah, Detlef, Börries, Ingo, Heike und Miriam. Sie haben unermüdlich Korrektur gelesen und waren mir durch ihre Geduld und Ausdauer ein Vorbild. Vor allem aber Thies: Danke.
Inhalt Danksagung | V Einleitung | 1 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Philosophie nach der Philosophie | 19 Vollendung und Versöhnung | 20 Das Ende der Metaphysik und der Einzug des Kulturellen | 23 Entfremdung und Praxis | 26 Posteriorität und Literarisierung | 28 Kierkegaard – ein Philosoph nach der Philosophie? | 30
2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3
Kierkegaards Kulturkritik | 35 Kulturkritik – zum Begriff | 35 Nach Rousseau: Kierkegaards Kritik der Kultur | 39 Kulturkritik als Gottesdienst | 40 Das Gitter der Kritik | 46 Die Krankheit zum Tode oder „daß der Zustand des Menschen. . . allezeit kritisch ist“ | 50 Die Konstitution des Menschen, seine dialektische Krankheit und ihr Arzt | 51 Verzweiflungsformen | 55 Zusammenfassung: Die Krankheit zum Tode als Grundlage für eine Analyse der Kulturkritik Kierkegaards | 63 Die Verzweiflung des 19. Jahrhunderts | 67 Eine literarische Anzeige als Kulturkritik | 67 Verzweiflung in Eine literarische Anzeige | 70 Im Gefängnis der Reflexion: gula, invidia und superbia | 75 Masse, Menge und das „Phantom Publikum“ | 86 Die „Antiquiertheit der Masse“? | 87 Atomismus und Theatrokratie. Heibergs Kritik am ‚Publikum‘ | 91 Kierkegaard „wider alle Tyrannei, auch der großen Zahl“ | 96 Zusammenfassung: Postrestitutivität und kulturkritische Dialektik | 112
2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.5 2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.6
3 3.1 3.2
Philosophiekritik | 118 In Kürze vorab: Kierkegaards Hegelrezeption | 118 Wider das „weltgeschichtliche Gebrüll“ | 121
VIII | Inhalt
3.3 3.3.1 3.3.2 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.5 3.6
4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.5
Wider ein vorschnelles Ende | 124 Systematische Voreiligkeit | 125 Weitergegangen? Spekulation als Blasphemie | 127 Wider die Universitätsphilosophie oder: Falsche Wiederholungen | 132 Geistlose Unternehmer des Geistes | 133 Falsche Versprechungen | 135 Falsche Wiederholungen | 137 „Ein Donnerwetter von Grobheiten.“ Kierkegaards ambivalente Allianz mit Schopenhauer | 139 „Schwierigkeiten bereiten“. Leseraktivierung | 144 Zusammenfassung: Wider die falsche Verwirklichung der Philosophie | 148 Kierkegaards Wiederholung der Philosophie | 152 Die indirekte Mitteilung: Literarisierung, Performanz, Widerrufung | 153 Literarisierung | 154 Performanz | 158 Wiederholte Vorworte: Performative Kritik und das Darstellungsproblem der Philosophie | 162 Zuverlässig nur im Abbruch: Nikolaus Notabene | 166 Dienst an der Philosophie: die Wiederholung des Kontingenten | 168 Ob mangelnden Begriffs: Literarisierung der Philosophie | 173 Philosophische Klingelstreiche | 176 Die Wiederholung | 178 Constantius’ Experiment und die Verzweiflung des jungen Menschen | 178 Noch einmal, anders | 182 Die Entdeckung der Wiederholung und ihre Darstellung in der Philosophie | 184 Die Wiederholung als Lektüre, die Lektüre als Wiederholung | 188 Die Wiederholung als Methode einer Philosophie nach der Philosophie | 194 Sokrates noch einmal: Viehbremsen und Hebammen | 196 Die Wiederholung des Sokratischen Philosophierens | 197 Existentielle Amnesie | 201 Der sokratische Philosoph: Katachresen als Wehenmittel | 208 Meister Eckhart noch einmal: die Reflexion Gottes | 212
Inhalt
4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5 4.6 4.6.1 4.6.2
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| IX
Problematisierung: Der Reflexion Einhalt gebieten? | 213 Kierkegaard und Meister Eckhart: mögliche Rezeptionslinien | 218 Der wahre Beter | 221 Die Wiederholung des Eckhartschen Bildungsprozesses: Entbildung und Überbildung | 226 Reflexion nach Eckhart und nach Hegel: Remetaphorisierung und Verdoppelung | 237 Wiederholungen und christliche Redekunst | 242 Die Wiederholung der philosophia im Zeichen der Literarität | 243 Eine neue Wissenschaft: christliche Redekunst und die Wiederholung des Erbaulichen | 245 Am Ende: auch eine Philosophie der Tat | 253
Bibliographie | 261 Siglen | 261 Primärliteratur | 263 Sekundärliteratur | 268 Namensregister | 283 Sachregister | 287
Einleitung Innovativer Anachronismus „Wenn der reiche Mann mit Laternen an seinem Wagen in der dunklen Nacht kutschiert“, so vermerkt Kierkegaard 1845 in seinem Journal, „sieht er ein kleines Stückchen besser als der Arme, der im Dunkeln fährt – aber er sieht auch nicht die Sterne, daran hindern ihn gerade seine Laternen“.1 Anhand dieses Gleichnisses für die „weltliche Verständigkeit“, welche zwar gut in der Nähe sehen könne, aber „die unendliche Aussicht“ raube,2 hat Hans Blumenberg seine These von der ‚Selbstverfinsterung durch Eigenlicht‘ erörtert. In der Genesis der kopernikanischen Welt heißt es: „Die moderne Stadt ist dem Himmelsbeschauer nicht günstig. Sie verschließt sich in ihrem eigenen Lichte. Das ist eine in der Tradition der Lichtmetaphorik nicht vorgesehene Pointe, die es allen Leichtfertigkeiten einer ‚Kulturkritik‘ noch leichter macht: vor lauter Licht die Lichter am Himmel
1 Søren Kierkegaard, Søren Kierkegaards Skrifter, hg. von Niels Jørgen Cappelørn, Joakim Garff, Jette Knudsen, Johnny Kondrup, Alastair McKinnon, Finn Hauberg Mortensen, Karsten Kynde, Tonny Aagaard Olesen und Steen Tullberg, Bd. 1–28 (mit Kommentarbänden), Kopenhagen: Gads Forlag 1997–2013 (im folgenden zit. als SKS), Bd. 27, 320, Papir 313 / T 2, 238. Kierkegaards Schriften sind mehrfach ins Deutsche übertragen worden, allerdings selektiv und auch heute immer noch unvollständig. Derzeit wird an einer deutschen Neuübersetzung (hinsichtlich der Journale sogar häufig an einer Erstübersetzung) gearbeitet. In der von Niels Jørgen Cappelørn, Hermann Deuser, Joachim Grage und Heiko Schulz geleiteten Deutschen Søren Kierkegaard Edition (DSKE) sind bislang jedoch erst einige Journale und Aufzeichnungen erschienen. Aus diesem Grund wird im folgenden meist aus den von Emanuel Hirsch in den 50er Jahren ins Deutsche übertragenen Gesammelten Werken zitiert, hinsichtlich der Journale aus den von Hayo Gerdes edierten Tagebüchern mit Hinweis auf das dänische Original. Sofern möglich, wird die DSKE verwendet. Auf die dänischen Ursprungstexte in der Edition der SKS wird dann zurückgegriffen, wenn die Übersetzung Hirschs unzuverlässig scheint oder eine Auseinandersetzung mit dem dänischen Ausdruck als interpretationsrelevant angesehen wird, nicht jedoch, um altertümlich erscheinende Ausdrücke gegenwärtigen Sprachgepflogenheiten anzupassen. Sind Journaleinträge oder Briefe noch nicht ins Deutsche übertragen worden, wird die Übersetzung von mir selbst vorgenommen und als solche gekennzeichnet. Einige wenige Journaleinträge sind nicht in den SKS veröffentlicht (auf der Homepage des Søren Kierkegaard Forskingscenters sind sie als Manuskripte aufgeführt, z.B. EE1ms.25.1). In diesen seltenen Fällen wird auf Søren Kierkegaard, Søren Kierkegaards Papirer, hg. von P. A. Heiberg, V. Kuhr und E. Torsting, Bd. 1–11, Kopenhagen: Gyldendal 1909–1948 (im folgenden zit. als Pap.) zurückgegriffen und auf die ursprüngliche Numerierung verwiesen. 2 SKS 27, 320, Papir 313 / T 2, 238.
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nicht mehr zu sehen.“3 Blumenberg zufolge hat Kierkegaard die Ausmaße des Abblendungs- und Verblendungszusammenhanges nicht wahrgenommen, aus zivilisationsgeschichtlichen Gründen gar nicht wahrnehmen können (das Streulicht Kopenhagens reicht Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht weit), und so vermag der ‚reiche Mann‘ die Sichtbarkeit der Sterne wiederherzustellen, indem er die Laternen seiner Kutsche löscht.4 Die gewählte ‚Armut‘, d.h. die Abkehr von der instrumentellen Rationalität, ist für Kierkegaard eine zeitlose Möglichkeit. Blumenberg hat die Totalität der modernen Kultur im Blick, wenn er gegen Kierkegaards Kulturkritik einwendet, sie entspreche nicht mehr der modernen Realität. Sein Fazit lautet: „Kierkegaard ist in seinem Jahrhundert eine der anachronistischen Figuren.“5 Einer solchen Einschätzung ist nur bedingt zuzustimmen. Kierkegaard verwendet anachronistische Motive und Argumente – die im Kontext der ‚Verdunkelung‘ zentrale Figur der kenosis ist hierfür ein repräsentatives Beispiel –, aber er tut dies nicht zum Zweck einer Restitution. Er plädiert nicht für die Wiederherstellung eines vergangenen kulturellen Zustandes, nicht für die Rückkehr zu einem ursprünglichen Christentum und nicht für eine einfache Repetition tradierter philosophischer oder theologischer Modelle. In dem Gleichnis des Mannes, der seine Laternen während der Kutschfahrt löscht, ist die Rückkehr zur Stadt implizit enthalten. Es geht nicht darum, den Lichtern ein für allemal den Rücken zu kehren. Daß letzteres in der Moderne keine Option ist, erkennt Kierkegaard an, auch wenn er auf der von Blumenberg verneinten Möglichkeit beharrt, es zumindest zeitweilig tun zu können. Kierkegaards Kulturkritik ist dialektisch: Durch die Grelle der Stadtbeleuchtung, gerade durch den ‚Realismus des Nächstliegenden‘ wird die Dunkelheit vor den Toren der Stadt – zugestanden, daß es ein Außerhalb gibt – überhaupt als Finsternis wahrgenommen, und in dieser können sich die Sterne dann ergreifend hell zeigen. Der Mann kehrt anschließend in die Stadt zurück –
3 Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt. Erster Teil: Die Zweideutigkeit des Himmels, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1975, S. 138. 4 Vgl. Blumenbergs Erläuterung: „Kierkegaard konnte noch nicht daran denken, daß die Stadt, indem sie ganze Landschaften unter Licht setzt und die Nacht zum Tage macht, ihre Abschirmung gegen die Natur auch gegenüber dem Sternenhimmel aufrichtet und, wenn nicht einen ‚Verblendungs-‘, so doch einen ‚Abblendungszusammenhang‘ schafft. Dieser nimmt der alten Richtung des Blicks nach oben als einer gar nicht selbstverständlichen ihren Sinn, ihr gegenständliches Korrelat eines Unerreichbaren, nicht Umsetzbaren, nicht Handelbaren – also jenen Grenzwert jeder Kultur, an welchem sich der ‚Praxisbezug‘ ausblendet. Die Stadt ist eine rivalisierende Realität; sie ist so laut und hell, um alles andere als sich selbst, die Natur vor allem, vergessen zu machen, auch indem sie sie in ihre Reservate einschließt und in ihnen konserviert.“ Ebd. 5 Ebd., S. 138; vgl. ebd., S. 139.
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mit dem Bild der Sterne vor Augen, verändert durch die Erfahrung der Finsternis und ihrer Lichtpunkte. Die Kutschfahrt in die vollkommene Dunkelheit beinhaltet als Bild Implikationen, die der modernen Verstädterung nicht mehr standhalten können, darin ist Blumenberg zuzustimmen. Es bleibt offen, wie Kierkegaard die Forderung einer Doppelbewegung – hinaus aus der Welt des Verstandes und wieder in sie zurück – angesichts weit leuchtender Millionenstädte illustriert hätte. Vor dem Hintergrund seiner Kulturkritik wird jedoch deutlich: Es geht ihm nicht um die Alternative von Stadtbeleuchtung und Sternenlicht, von moderner Rationalität und Religiosität. Die Entwicklung der Kultur ist irreversibel, das steht für Kierkegaard außer Frage. Ihm ist aber wichtig, daß daraus kein resignierter Stillstand entsteht. In diesem Zusammenhang begreift er Lots Frau als Figur der Warnung: Ich will nicht trauern über die vergangene Zeit [den forbigangne Tid] – denn wozu Trauer? Mit Kraft will ich mich vorwärts arbeiten und nicht die Zeit mit Trauern verschwenden wie einer, der in einem Moorloch [Hængesæk] zuerst berechnen würde, wie tief er eingesunken war, ohne daran zu denken, dass er in der Zeit, die er dazu braucht, noch tiefer sinkt. Ich will vorwärts eilen auf dem gefundenen Weg und jedem, den ich treffe, zurufen: nicht wie Lots Weib zurückzuschauen, sondern daran zu denken, dass es ein Berg ist, den wir hinaufstreben.6
Man könne zwar nicht mehr umkehren, aber man dürfe auch nicht stehenbleiben, müsse vorwärtsgehen und trotz der Steigung nicht den Mut verlieren – dies betrifft die individuelle Existenz ebenso wie deren Entfaltungsraum, die Kultur.7 Die Akzeptanz der Postrestitutivität ist paradigmatisch für die in den folgenden Kapiteln skizzierte Kulturkritik Kierkegaards, einschließlich seiner Kritik an einem institutionalisierten Christentum. Kierkegaard beanstandet nicht nur die Dominanz der instrumentellen Rationalität in der Moderne. Der Hauptvorwurf, den er seinem Zeitalter vielmehr macht, ist der einer existentiellen Amnesie. Man habe vergessen, was es bedeute, ein einzelner Mensch zu sein. Die Philosophen, so Kierkegaard, tragen an diesem Verlust eine Mitschuld: Sie haben eine Popularisierung der Hegelschen Philosophie vorgenommen und so eine Welle der Begeisterung für die vermeintlich 6 SKS 17, 30, AA:12 / DSKE 1, 31. 7 Kierkegaard bezieht sich in dem Zitat nicht explizit auf die Kultur, sondern auf die philosophische Spekulation und deren vermeintliche Versuche, bei einer Ewigkeit Zuflucht zu nehmen: „Begriff schon Sokrates das Mißliche dran, sich spekulierend selbst aus der Existenz zurück in die Ewigkeit zu nehmen, wo doch am Existierenden kein anderer Mißstand war als der, daß er existierte, und dann freilich der, daß das Existieren das Wesentliche war: jetzt ist das SichZurücknehmen überhaupt unmöglich. Vorwärts muß er, zurück ist es unmöglich.“ SKS 7, 191 / AUN1, 200.
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erreichte Vollendung des Geistes ausgelöst. Weltgeschichtliches Denken ist en vogue und dominiert den öffentlichen Diskurs. Sich als Individuum zu verstehen, ist unter diesen Bedingungen dem Ridikül ausgesetzt, gilt als Zeitverschwendung und gesellschaftlich schlechter Ton – scheint doch die Relevanz und Legitimität der Individualität von der Philosophie widerlegt worden zu sein. Die radikale Verantwortung für das eigene Leben ist aber weder abstrakt noch kollektiv erfüllbar, läßt sich nicht im Allgemeinen aufheben und betrifft den Menschen in jeder historischen Situation. Auch Odo Marquard spricht in den jüngst publizierten Vorlesungen zur Existenzphilosophie von der „Unvermeidlichkeit, ein Einzelner zu sein“8 . Diese bestehe immerfort, so Marquards Begründung für die Aktualität einer Auseinandersetzung mit der Existenzphilosophie, besonders mit Kierkegaard. Letztlich bleibe der Einzelne die „Ernststätte“; schließlich ist er es, „der die Dinge lebensweltlich auszubaden“ und sein Leben als unvertretbar je seiniges zu führen hat.9 Kierkegaards Schriften adressieren die allumfassende existentielle Amnesie und suchen den Leser an die Pflicht seiner Selbstwerdung zu erinnern. Sie zielen auf die Initiierung existentieller Bewegungen. Diese Performanz von Kierkegaards Philosophie zeigt sich in der Methode der Wiederholung. Die Wiederholung ist konstitutiv für seinen Umgang mit der philosophischen und theologischen Tradition: Die ‚Wieder-Holung‘ schafft etwas Neues, indem sie das Überlieferte, das vermeintlich Überholte, auf den jeweiligen historischen und kulturellen Kontext bezieht und es ‚noch einmal‘ existentiell liest. Was dies bedeutet, wird die vorliegende Studie anhand von Kierkegaards Wiederholung des sokratischen Philosophierens und seiner Auseinandersetzung mit der Glaubensdefinition Meister Eckharts demonstrieren. Kierkegaards Philosophie, so wird sich zeigen, ist durchaus anachronistisch, jedoch auf eine äußerst innovative und kreative Weise.
8 Odo Marquard, Der Einzelne. Vorlesungen zur Existenzphilosophie, hg. und mit einem Nachwort versehen von Franz Josef Wetz, Stuttgart: Reclam 2013, S. 15. Im folgenden wird der ‚einzelne‘ immer dann großgeschrieben, wenn es sich um die Emphase individuellen Existierens handelt. Daher sind in der vorliegenden Studie beide Schreibweisen – der Einzelne wie der einzelne – anzutreffen. 9 Ebd.; vgl. ebd., S. 12. Auch Wetz betont die Aktualität der Kierkegaardschen Position: „Pointiert formuliert, kann der Einzelne in den konkreten Nöten seines Alltags weder seine Gene und Neuronen noch anonyme Diskurse und Systeme befragen, sondern ist allein auf sich verwiesen.“ Franz Josef Wetz, „Nachwort“, in ebd., S. 239–247, S. 245.
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Nach Hegel Im Zentrum der Kultur einer existentiellen Amnesie steht Kierkegaard zufolge die Philosophie Hegels. Immer wieder rekurriert der Däne auf den Vollendungsgestus, mit welchem Hegel seine Philosophie präsentiert hat. Die Geste der Vollendung als Provokation verstanden zu haben, verbindet Kierkegaard mit seinen deutschen Zeitgenossen Ludwig Feuerbach, Karl Marx und Friedrich Engels, Bruno Bauer, August von Cieszkowski und Moses Hess. Zwar läßt Kierkegaard sich nicht problemlos der ihrerseits bereits umstrittenen Kategorie ‚Junghegelianer‘ zuordnen, aber das ist auch nicht das Ziel dieser Untersuchung. Vielmehr gilt es zu überlegen, inwiefern sich Kierkegaards heterogenes Werk als eine Philosophie nach der Philosophie in Analogie zu den diesbezüglichen Bestimmungsversuchen der Junghegelianer interpretieren läßt.10 Dabei geht es nicht, das sei ausdrücklich betont, um die Frage nach der Angemessenheit des Hegelverständnisses, das den Entwürfen einer Philosophie nach der Philosophie zugrunde liegt. Die Polemik Kierkegaards und der Junghegelianer wird – ebenso wie Hegels Vollendungsanspruch selbst – als Rhetorik und philosophische Strategie aufgefaßt und als solche ernstgenommen. Nicht das vermeintliche Ende der Geschichte und der Philosophie selbst ist Gegenstand des Interesses, sondern die Frage, in welchem kulturellen Zusammenhang und mit welchen Folgen deren Proklamation zur Provokation wurde. Daher stellt auch Paul Ricœurs energischer Einspruch gegen eine „Postphilosophie“ und Kierkegaards Zuordnung zu dieser keinen Hinderungsgrund für die im folgenden vorgenommene Interpretation dar.11 Die Inszenierung des eigenen Schaffens als ‚Nichtphilosophie‘, als vollkommen ‚neue Philosophie‘ und als ‚Praxis‘ kennzeichnet Kierkegaards Werk eben-
10 Mit dieser Formel verweist Ralf Konersmann auf den Einschnitt im Selbstverständnis der Philosophie nach Hegel; vgl. Ralf Konersmann, „Zuletzt und verspätet. Hans Blumenbergs Beschreibung des Menschen als Kulturphilosophie“, in Erinnerung an das Humane. Beiträge zur phänomenologischen Anthropologie Hans Blumenbergs, hg. von Michael Moxter, Tübingen: Mohr Siebeck 2011, S. 226–239, bes. S. 226–228. 11 Ricœur moniert vor allem eine unkritische Haltung der Forschung gegenüber der Selbstinszenierung der posthegelianischen Denker: „We know that he [Kierkegaard] inaugurates a new era of thought, coming after German idealism: the era of postphilosophy. We also take it for granted that philosophy reached its end with Hegel, that philosophical discourse is complete in and through him, and that after Hegel, something else appears, which is no longer discourse. . . [T]he selfannoited postphilosophies belong to the philosophical era of German idealism.“ Paul Ricœur, „Doing Philosophy after Kierkegaard“, in Kierkegaard’s Truth: The Disclosure of the Self, hg. von Joseph H. Smith, New Haven und London: Yale University Press 1981, S. 325–342, S. 327. Daß die Selbstinszenierungen und die Rhetorik der Posterität als solche eine philosophische Relevanz haben könnten, räumt Ricœur in diesem Zusammenhang nicht ein.
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so wie das der Junghegelianer. Ein weiterer Versuch, Kierkegaards Schriften als Philosophie in ihrem historischen Kontext zu begreifen, stellt deren Engführung mit dem von Horst Stuke entwickelten Konzept der Philosophie der Tat dar.12 ‚Tat‘ ist hierbei im weitesten Sinne zu verstehen. Kierkegaard hat immer Wert darauf gelegt, daß sich sein Denken in seinem Verhalten, seine Worte in seinen Taten spiegeln. Die Arbeit widmet sich jedoch nicht Kierkegaards Auftritten in den Gassen und Cafés Kopenhagens, nicht seinem Streit mit der Staatskirche oder seiner Fehde mit dem Satiremagazin Corsaren. Gegenstand der Aufmerksamkeit ist die Tat der Texte.
Herausforderungen und Prämissen Schwierigkeiten bereiten! – so lautet das Motto der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift,13 und diese Maxime läßt sich problemlos auf andere Schriften Kierkegaards übertragen. Auch der wissenschaftliche Leser muß Geduld aufbringen; noch vor Beginn einer intensiven Auseinandersetzung mit den Texten des Dänen ist er vor mehrere Schwierigkeiten gestellt. Diese beruhen vor allem auf der Heterogenität und der Divergenz des Werkes. Die Frage nach der Authentizität der Autorschaft ist wohl am häufigsten gestellt worden: Kierkegaard hat viele seiner Schriften unter pseudonymen Namen veröffentlicht und darum gebeten, daß nicht er, sondern Johannes Climacus, Nikolaus Notabene, Frater Taciturnus etc. namentlich erwähnt werden.14 Nun war es in der überschaubaren Kopenhagener Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nicht einmal mehr ein offenes Geheimnis, wer hinter den kunstvoll ausgestalteten Autorpersönlichkeiten stand (zumal Kierkegaard auch als Herausgeber S. Kierkegaard auftrat15 ), aber die Pseudonyme sind von Kierkegaard auch nicht gewählt worden, um seine Identität zu schützen. Gemeinhin wird davon ausgegangen, daß die Pseudonyme konträre Meinungen, Lebens- und Glaubensmodelle sowie verschiedene Vorstel-
12 Horst Stuke hat die Kategorie ausgehend von der gleichnamigen Veröffentlichung Moses Hess’ geprägt; Horst Stuke, Philosophie der Tat. Studien zur Verwirklichung der Philosophie bei den Junghegelianern und den Wahren Sozialisten, Stuttgart: Klett 1963. 13 Vgl. SKS 7, 172 / AUN1, 177. 14 Vgl. „Eine erste und letzte Erklärung“ im Anhang der Nachschrift, in der es heißt: „Es ist daher mein Wunsch, meine Bitte, daß man. . . mir den Dienst erweisen wolle, den Namen des respektiven pseudonymen Verfassers zu zitieren, nicht meinen, d.h. so zwischen uns zu teilen, daß die Äußerung in weiblicher Weise dem Pseudonym gehört, die Verantwortung bürgerlich mir.“ SKS 7, 571 / AUN2, 341. Das Verwirrspiel geht jedoch auch hier weiter – die Erklärung ist unterzeichnet mit „S. Kierkegaard“, nicht mit dem vollen Namen. 15 So z.B. in SKS 1, 7 / LP, 39.
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lungen dessen vertreten, was es heißt, Philosoph und Autor zu sein. Kierkegaards Auffassungen seien davon strikt zu trennen, heißt es, höchstens die Thesen von Anti-Climacus entsprächen ansatzweise Kierkegaards eigener tiefen Religiosität. Diese Prämisse wird im folgenden nicht übernommen, hat doch die explizit fiktive Pseudonymität im Werk Kierkegaards viele Funktionen, die sich „pan-Kierkegaardianischen“ Positionen zuordnen lassen.16 Zentral ist diesbezüglich der von Kierkegaard dem 19. Jahrhundert bescheinigte Mangel an Persönlichkeiten, die den Mut haben, aufzufallen: „Eines der Unglücke der heutigen Zeit ist eben die Tatsache, daß man das ‚Ich‘ [Jeget], das persönliche ‚Ich‘ [det personlige jeg] abgeschafft hat.“17 Mittels der unterschiedlichen, aber immer stark konturierten Egos der Pseudonyme kann Kierkegaard seine Zeitgenossen nachhaltiger mit der Aufgabe der Individualität konfrontieren und das ‚Ich‘ wieder einführen. Zudem spielt Hegels Verbannung der Autorpersönlichkeit aus dem philosophischen Werk eine Rolle, wie Kapitel 4.2.2 ausführlich erläutert. Eine weitere Funktion der Pseudonyme und ihrer geheimnisheischenden Namen besteht in der Karikatur der pseudonymen Autorschaft, die im 19. Jahrhundert im Kopenhagener Pressewesen üblich war. Schriftstellersein, so Kierkegaard, sei „ein X, ein unpersönliches Etwas“ geworden, „das vermittels des Drucks sich abstrakt an Tausende und aber Tausende wendet, aber selber ungesehen“18 bleibe. Kierkegaard hat sich ob der vermeintlichen Feigheit erzürnt, die dem anonymen Journalismus zugrunde läge; aus diesem Grund hat er auch die Identität einer der pseudonymen Corsaren-Autoren preisgegeben und diesem – Peder Ludvig Møller – angeblich so die Chance auf eine akademische Karriere genommen.19 Noch eine Funktion der Pseudonymität sei angeführt: die der sich gegenseitig unterstützenden Pseudonyme. Climacus und Anti-Climacus mögen in gewisser Hinsicht konträre Positionen vertreten, dies gilt aber nicht für die Konstellation aller Pseudonyme. Im Gegenteil, in der Nachschrift äußert sich Climacus positiv über die Schriften seiner pseudonymen Kollegen; einer hätte gar ein Buch geschrieben, welches genau das ausführte, was er selbst beabsichtigt
16 Vgl. Patrick Stokes, Kierkegaard’s Mirrors. Interest, Self, and Moral Vision, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010, S. 14. 17 SKS 27, 428, Papir 371:1 / T2, 121. In der Nachschrift räumt Kierkegaard ein, „woran die Welt vielleicht immer Mangel gehabt hat, ist, was man die eigentlichen Individualitäten nennen könnte, die entschiedenen Subjektivitäten“. SKS 7, 67f. / AUN1, 58 (meine Hervorh.). 18 SKS 16, 38 / GWS, 52. 19 Dies war der Beginn des sogenannten Korsarenstreites, in welchem Kierkegaard dem öffentlichen Spott preisgegeben wurde; vgl. Roger Poole, „Søren Kierkegaard and P.L. Møller: Erotic Space Shattered“, in The Corsair Affair, hg. von Robert L. Perkins, Macon: Mercer University Press 1990 (International Kierkegaard Commentary, Bd. 13), S. 141–161, S. 144.
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hätte.20 Die vorliegende Untersuchung vertritt die These, daß bestimmte Argumente und Topoi für das gesamte Werk konstitutiv sind, und sie zielt darauf ab, die ‚pan-Kierkegaardianische‘ Perspektive einer Philosophie nach der Philosophie aufzudecken. Im folgenden wird daher auch auf ‚Kierkegaard‘ namentlich rekurriert, nicht nur auf die jeweiligen Pseudonyme. Üblicherweise wird das Œuvre Kierkegaards in eine ‚erste‘ und ‚zweite‘ Autorschaft eingeteilt und deren Interpretationen sorgfältig auseinandergehalten. Die ‚erste‘ Autorschaft widmet sich dem Forschungstenor zufolge ‚ästhetischen‘ und ‚ethischen‘ Themen (als Prototyp hierfür gilt Entweder – Oder), die ‚zweite‘ einer Religiosität, mit der sich Kierkegaard persönlich identifiziert habe.21 Zugrunde liegt einer solchen Einteilung die sogenannte Stadien- oder Sphärentheorie. Dieses Schema, entwickelt in der Schrift Stadien auf des Lebens Weg, wird jedoch, wie Theodor W. Adorno zeigt, von den Texten selbst unterwandert22 und findet in den folgenden Überlegungen daher keine Berücksichtigung. Die Studie beachtet aber Kierkegaards Einteilung seines Werkes in deliberative und erbauliche Schriften und arbeitet deren verbindendes Element heraus: die Initiierung von Bewegung. Auch die Diversität in der Textgestaltung provoziert. Die Palette beinhaltet explizit literarische Genres, z.B. die verschachtelte Novellenform (Entweder – Oder) oder die (mit knapp 120 Seiten äußerst umfassende) Rezension Eine literarische Anzeige. Daneben stehen die streng systematischen Begriffsentwicklungen der Krankheit zum Tode, das penible Paragraphengeflecht der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, aber auch der pastorale Stil der Erbaulichen Reden. Diese Vielfalt hat dazu geführt, daß Interpretationen sich meist den einzelnen Gattungen separat widmen und die mögliche Einheit des Gesamtwerkes wenig berücksichtigen. Daß sich eine solche Einheit in dem Motiv der Wiederholung finden läßt, ist die Hypothese der folgenden Untersuchung. Eine weitere Schwierigkeit wird dadurch hervorgerufen, daß die publizierten Schriften von einem großen Korpus der Journale und Notizbücher flankiert werden. Die dortigen Aufzeichnungen nehmen Bezug auf das veröffentlichte Werk, interferieren mit diesem oder lassen sich als dessen Ergänzung lesen. Die Authentizität und Privatheit dieser Texte ist fraglich. Kierkegaard hat seine Tagebuchein-
20 Vgl. SKS 7, 228 / AUN1, 245. 21 Vgl. Merold Westphal, „Kierkegaard’s Phenomenolgy of Faith as Suffering“, in Writing the Politics of Difference, hg. von Hugh J. Silvermann, Albany, NY: Suny Press 1991, S. 55–70, S. 63f. 22 Theodor W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, in Gesammelte Schriften, Bd. 1–20, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970–1986, Bd. 2, S. 21, S. 126– 130, S. 142; vgl. Jochen Schmidt, Vielstimmige Rede vom Unsagbaren. Dekonstruktion, Glaube und Kierkegaards pseudonyme Literatur, Berlin und New York: De Gruyter 2006, S. 119.
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träge mehrfach überarbeitet und mit Anmerkungen versehen, regelrecht in Hinblick auf eine Nachwelt formuliert. Die Eindringlichkeit, mit der er seinen Vertrauten Emil Boesen um die Vernichtung seiner Briefsammlung gebeten hat, unterstreicht die editorische Haltung, die er seinen sonstigen Aufzeichnungen gegenüber eingenommen hat.23 Der Status von Kierkegaards Selbstaussagen ist daher umstritten. Die vorliegende Arbeit nimmt Kierkegaards diesbezügliche Äußerungen als Selbstinszenierungen ernst; dies erlaubt zwar keine Rückschlüsse auf das wahre (Innen-)Leben des Dänen, wohl aber auf das von ihm angestrebte Selbstverständnis als Autor und seine Auffassung von der Rolle der Philosophie im 19. Jahrhundert. Die Frage nach einer Zuordnung zu einer akademischen Disziplin wird durch Kierkegaards Polemik gegenüber der zeitgenössischen Philosophie und durch seine Deklaration, er sei ein „religiöser Schriftsteller“ [religieus Forfatter]24 , nur scheinbar gelöst. Diese Verkündung spiegelt vielmehr die Herausforderungen, vor welche sich die Philosophie im 19. Jahrhundert gestellt sieht, und ist daher in ihrem historisch-kulturellen Kontext zu verstehen. Kierkegaard jedoch der Theologie oder Literaturwissenschaft zuzuordnen oder gar aus der Philosophie auszuschließen, wäre eine naive und voreilige Schlußfolgerung, zumal er gegen akademia per se wettert und seine Polemik die damalige Theologie genauso trifft wie die Philosophie. Zudem impliziert gerade eine dezidierte Nicht-Philosophie eine philosophische Position.25 Feuerbachs Diktum, daß nach Hegel nur die „sich selbst verleugnende Philosophie“ eine wahre Philosophie sei,26 läßt sich zutreffend auf Kierkegaards Werk beziehen: Im Kontext der junghegelianischen Bemühungen um eine posthegelianische Philosophie wird die vermeintliche Abkehr Kierkegaards von der Philosophie als Philosophie verständlich.
23 Vgl. Joakim Garff, Sören Kierkegaard. Biographie, aus dem Dänischen von Herbert Zeichner und Hermann Schmid, München: Hanser 2000, S. 239; vgl. Henning Fenger, Kierkegaard, the Myths and Their Origins. Studies in the Kierkegaardian Papers and Letters, aus dem Dänischen übers. von George C. Schoolfield, New Haven und London: Yale University Press 1980 [1976], darin besonders das Kapitel „Kierkegaard as a Falsifier of History“, S. 1–31. 24 SKS 16, 23 / GWS, 34. 25 Vgl. Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München und Zürich: Piper 1971, S. 12. Der These Jaspers’ („Wer die Philosophie ablehnt, vollzieht selber eine Philosophie, ohne sich dessen bewußt zu sein“) wird jedoch nicht hinsichtlich der Unterstellung eines Unbewußten gefolgt. Es ist der sachliche Kontext, so meine Modifikation von Jaspers’ Aussage, welcher ein Verständnis des Kierkegaardschen Œuvres als Philosophie legitimiert. 26 Ludwig Feuerbach, „Zur Beurteilung der Schrift ‚Das Wesen des Christentums‘“, in Gesammelte Werke, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Werner Schuffenhauer, Bd. 1–22, Berlin: Akademie Verlag 1967–2004, Bd. 9, S. 229–242, S. 238 (Anm.).
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Auch durch die Wahl seiner Themen sprengt Kierkegaard die Fachgrenzen: Er adressiert den medialen Strukturwandel des 19. Jahrhunderts, widmet sich den politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen und reagiert auf moderne psychologische Phänomene. Gleichzeitig behandelt er Fragen, die traditionell der Philosophie und Theologie zugeschrieben werden, formuliert sie jedoch nicht immer entsprechend den damaligen Erwartungen der universitären Zunft. Dieser prinzipiellen Interdisziplinarität sucht die vorliegende Arbeit gerecht zu werden. Sie zeichnet nach, wie Kierkegaard die verschiedenen Wissenschaftsbereiche miteinander verflicht, und sie läßt die diversen Fragestellungen einander wechselseitig beleuchten. Der Themenkomplex, der Kierkegaards kulturkritische Wiederholung der Philosophie konstituiert, behandelt moderne Massendynamiken und Statistik, Nivellierung und Bildung, Literaturkritik, die Tagespresse und ihr Publikum ebenso wie Platons Anamnesis und Sokrates’ Maieutik, mystische kenosis, Bewegung, Veränderung und Verantwortung, aber auch den modernen Reflexionsbegriff und dessen metaphorische Implikationen. Dieser thematischen Vielfalt liegt die Frage nach einem nicht-entfremdeten Leben zugrunde: Es geht um Selbstwerdung unter den Bedingungen der Moderne. Ein gelingendes Selbstverhältnis impliziert Kierkegaard zufolge ein Gottesverhältnis. Seine diesbezüglichen Erläuterungen mögen dem gegenwärtigen Leser nicht immer einleuchten, und so stellt die Herausforderung, den christlichen Glauben als notwendiges Element eines authentischen Selbstverhältnisses zu akzeptieren, die vielleicht stärkste Prämisse einer Auseinandersetzung mit dem Werk Kierkegaards dar. Wer Kierkegaards Gedanken heute wiederholen will, begegnet vielem Aktuellen, er muß aber auch den „blinden Fleck“ dulden, den das christliche Dogma in Kierkegaards Schriften darstellt.27
27 Vgl. Adorno, der kritisiert, zur Religion komme es bei Kierkegaard durch einen „Denkprozeß, der schließlich Denken, als endliches der endlichen Kreatur, bricht und die Wahrheit dem vorbehält, was nicht mehr gedacht werden kann und was dem Denken absolut widerspricht. Dieser Prozeß indessen kann nicht aus sich selbst heraus im Lehrgehalt des Christentums terminieren; der wäre solcher Dialektik so beliebig wie jeder andere. Das christliche Dogma bleibt der blinde Fleck der Kierkegaardschen Reflexion, weder Offenbarung noch Gedanke.“ Theodor W. Adorno, „Kierkegaard noch einmal“, in Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, hg. und eingel. von Michael Theunissen und Wilfred Greve, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979, S. 557–575, S. 569f.
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Fragestellungen, Forschungsziele und Methoden Als „archimedischer Punkt“, von dem aus sich das divergente Werk als Einheit verstehen läßt,28 gilt der vorliegenden Arbeit die Wiederholung. Kierkegaards Werk wird im folgenden als ein Projekt verstanden, welches die einzelnen Schriften übergreift: als Projekt einer Philosophie nach der Philosophie, welche auf der facettenreichen Methode der Wiederholung basiert. Konzepte wie ‚Philosophie nach der Philosophie‘, ‚Literarisierung der Philosophie‘, ‚performative Philosophie‘ oder ‚Philosophie der Tat‘ dienen als hermeneutische Werkzeuge zur Konturierung von Kierkegaards Position innerhalb der Diskussion des 19. Jahrhunderts, ob und wie nach Hegel zu philosophieren sei. Für diese Position, das soll herausgearbeitet werden, ist Kierkegaards Gegenwartsdiagnose und seine Polemik gegenüber der damaligen Philosophie entscheidend. Hinsichtlich der Philosophiekritik gilt es zu berücksichtigen, daß Kierkegaard nicht die Philosophie generell oder die Philosophie Hegels anvisiert, sondern ein opportunistisches Epigonentum, wie er es im Kopenhagener Universitätsleben vorzufinden glaubt. Damit verbunden ist Kierkegaard zufolge ein popularisierter Hegelianismus, welcher den öffentlichen Diskurs dominiere. Wie bereits angedeutet, sind Philosophie- und Kulturkritik nicht voneinander zu trennen. Kierkegaard beanstandet vielmehr etwas, was beidem zugrunde liegt und sich im Alltagsleben wie in der Wissenschaft zeigt: einen voreiligen Abschluß, die unberechtigte Geste einer vermeintlichen Vollendung. Für Kierkegaards Kultur- und Philosophiekritik sind daher ähnliche Topoi entscheidend; aus analytischen Gründen werden diese jedoch separat behandelt. Dem Kapitel Kulturkritik folgt die Untersuchung der Philosophiekritik. In beiden Bereichen nimmt der Reflexionsbegriff eine zentrale Funktion ein, diese verbindend. Es gilt daher zu fragen, inwiefern Kierkegaards Behandlung der ‚Reflexion‘ als Antwort auf die von ihm gegeißelte Kultur und Philosophie seiner Zeit zu verstehen ist. In diesem Kontext wird den Spuren Meister Eckharts in einer Erbaulichen Rede Kierkegaards gefolgt, besonders hinsichtlich der ‚Ent-Bildung‘ und der Reflexion Gottes. Rezeptionsgeschichtliche und philologische Überlegungen spielen 28 Kierkegaard selbst beschreibt ein solches hermeneutisches Vorgehen: „Wenn ich diesen archimedischen Punkt [hiint archimediske Punct] erst einmal gefunden habe, dann klärt sich alles leicht für mich. Ich kann nun den einen großen Gedanken verfolgen und sehen, wie alle Einzelheiten dazu dienen, diesen zu erhellen.“ SKS 27, 117, Papir 96:1 (meine Übers.). Vgl. Anton Hügli, Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens bei Søren Kierkegaard, Zürich: Theologischer Verlag 1973, S. 234f. Hügli kürt dieses Zitat zur hermeneutischen Prämisse einer jeden Auseinandersetzung mit dem Werk Kierkegaards. Kierkegaard bezieht sich jedoch auch auf die individuelle Persönlichkeit des Verfassers als Verstehensschlüssel – dem folgt die vorliegende Arbeit nicht.
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hierbei eine Rolle, auch deswegen, weil Kierkegaards Auseinandersetzung mit Eckhart immer noch ein Forschungsdesiderat darstellt. Zwar zeichnet die folgende Studie Rezeptionswege nach, aber sie will keineswegs Geisteskausalitäten suggerieren oder eine ‚Einflußgeschichte‘ schreiben – dies widerspräche Kierkegaards Konzept einer innovativen und kreativen Wiederholung. Die Untersuchung folgt vielmehr dem Vorbild Claus-Artur Scheiers, der in seiner Interpretation der Beziehung Kierkegaards zu Feuerbach und Schopenhauer zwischen sachlichen und rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhängen trennt und vor allem die Bedeutung erstgenannter für die Philosophie betont.29 Ein partieller Vergleich Kierkegaards mit Rousseau und Schopenhauer, den Junghegelianern und Nietzsche kann diesen selbstverständlich nicht gerecht werden. Er trägt jedoch dazu bei, neue Facetten von Kierkegaards Argumentation aufzudecken und seine Position in den jeweiligen Diskursen deutlicher zu profilieren. Kierkegaard reagiert häufig direkt auf sein intellektuelles Umfeld; er adressiert bekannte Professoren der Kopenhagener Universität und einflußreiche Personen des öffentlichen Lebens. Von diesen sind für die folgenden Überlegungen relevant: Johan Ludvig Heiberg (Herausgeber mehrerer Zeitschriften, Dichter und Direktor des Königlichen Theaters), Thomasine Gyllembourg-Ehrensvärd (Bestsellerautorin und Mutter Heibergs), Poul Martin Møller (Professor für Philosophie, Dichter und freundschaftlicher Mentor Kierkegaards), Bischof Jacob Peter Mynster, Hans Lassen Martensen (Professor für Theologie und Mynsters Nachfolger), Frederik Christian Sibbern (Professor für Philosophie) und Peder Ludvig Møller (Redakteur der Satirezeitschrift Corsaren). Es soll jedoch nicht darum gehen, Kierkegaards Beziehungen zu den genannten Persönlichkeiten zu untersuchen. Sofern es für die Fragestellung erhellend ist, greift die Studie auf die Ergebnisse einer Henrichschen Konstellationsforschung zurück, wie sie gegenwärtig z.B. Jon Stewart betreibt.30
29 Vgl. Claus-Artur Scheier, Kierkegaards Ärgernis. Die Logik der Faktizität in den „Philosophischen Bissen“, Freiburg im Br.: Alber 1983, S. 15. 30 Vgl. u.a. Jon Stewart (Hg.), Kierkegaard and His Contemporaries. The Culture of Golden Age Denmark, Berlin et al.: De Gruyter 2003; sowie Jon Stewart (Hg.), Kierkegaard’s Danish Contemporaries, Bd. 7.1–7.3, Aldershot et al.: Ashgate 2009. Als philosophische Konstellation wird hier ein „dichte[r] Zusammenhang wechselseitig aufeinander einwirkender Personen, Ideen, Theorien, Probleme oder Dokumente“ verstanden; vgl. Martin Mulsow, „Zum Methodenprofil der Konstellationsforschung“, in Konstellationsforschung, hg. von Martin Mulsow und Marcelo Stamm, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 74–97, S. 74. Auffällige Gemeinsamkeiten werden dabei ebenso berücksichtigt wie „produktive antagonistische Grundstrukturen“ – entsprechend der Maxime Dieter Henrichs, daß „Di-Kon-Stellationen. . . immer zugleich und zuerst als Kon-Stellationen betrachtet“ werden sollten; Marcelo R. Stamm, „Konstellationsforschung – Ein Methodenprofil:
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Die Bedeutung, die ein überliefertes Konzept oder fremder Gedankengang in dem Werk eines Autors einnimmt, läßt sich nicht immer anhand direkter Konstellationen oder offensichtlicher sachlicher Verbindungen herausarbeiten. Diskursive Veränderungen sind häufig nicht namentlich zuzuordnen, entstehen unbemerkt und aus nicht fachimmanenten Gründen. Die Arbeit orientiert sich daher auch an der Methode der Historischen Semantik. Sie stellt Kierkegaards Gegenwartsdiagnose in den Kontext der philosophischen Kulturkritik und deren Entwicklung in der Moderne, und sie behält das kulturelle, soziale und historische Umfeld, in dem Kierkegaard geschrieben hat, im Blick. Dazu gehören unter anderem die Eisenbahn als neues Transportmittel, das Erstarken der Tagespresse und die dadurch erzeugten ersten massenmedialen Phänomene, die Spiegelmode, industriell veränderte Sozialstrukturen, die Ersetzung der absoluten durch die konstitutionelle Monarchie 1849 ebenso wie die Eröffnung des Kopenhagener Vergnügungsparkes Tivoli 1843. Die Historische Semantik wird zudem der stilistischen Vielfältigkeit von Kierkegaards Schriften gerecht, „durchkreuzt“ sie doch Kontextveränderungen wie die oben beschriebenen, „um so den fachübergreifenden Phänomenen des Philosophierens auf die Spur zu kommen“31 . Die Literarizität von Kierkegaards Schriften spielt eine tragende Rolle. Vor allem die Philosophische Metaphorologie dient dazu, die Funktion der Sprachbilder innerhalb der Wiederholung der Philosophie zu erhellen. Es stehen jedoch nicht die „absoluten Metaphern“ im Vordergrund, welche, wie es in Blumenbergs Paradigmen zu einer Metaphorologie heißt, „nicht in Begrifflichkeit aufgelöst werden können“32 . Kierkegaards Metaphern haben in anderer Hinsicht philosophische Relevanz. Besonders auffällig ist die Remetaphorisierung des Reflexionsbegriffes, die Kierkegaard in impliziter Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff Eckharts vornimmt. Aber auch die Performanz seiner Überlegungen zur Sokratischen Maieutik durch die semantische Kollision der Viehbremsen- mit der Hebammenmetapher verdeutlicht, daß Metaphern in den Schriften Kierkegaards nicht nur dem Dekorum dienen oder eine Verlegenheitslösung für mangelnde Begrifflichkeit darstellen. Sie sind als eine „Reduplikation des Inhalts in der Form“ zu verstehen und unterstützen die zentrale Strategie einer Leseraktivierung.33 Kierke-
Motive und Perspektiven“, in ebd., S. 31–73, S. 37; Dieter Henrich, „Konstellationsforschung zur klassischen deutschen Philosophie“, in ebd., S. 15–30, S. 28. 31 Ralf Konersmann, Komödien des Geistes. Historische Semantik als philosophische Bedeutungsgeschichte, Frankfurt/Main: Fischer 1999, S. 53. 32 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 12. 33 Vgl. Jamie Lorentzen, Kierkegaard’s Metaphors, Macon, Georgia: Mercer University Press 2001, S. 3.
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gaard selbst betont die unterschätzte Bedeutung der Metaphern und mahnt zu Ernsthaftigkeit im Umgang mit ihnen – „niemals sollte man die Bedeutung des Bildes übersehen“ oder leichtfertig mit ihm „spielen“.34
Übersicht über die Argumentation Die Untersuchung erfolgt in drei Schritten: Sie entwickelt aus der Analyse der Kultur- und Philosophiekritik Kierkegaards die These einer Methode der Wiederholung, welche in ihrer Vielfalt konstitutiv ist für Kierkegaards Entwurf einer posthegelianischen Philosophie. Die drei Sektionen Kulturkritik, Philosophiekritik und Kierkegaards Wiederholung der Philosophie werden daher flankiert von grundsätzlichen Überlegungen zu einer Philosophie nach Hegel, d.h. einer Philosophie nach der Philosophie und einer Philosophie der Tat. Da Kierkegaard die Entwicklungen im Alltagsleben und der Öffentlichkeit parallel zu denen der Philosophie sieht, gar mit diesen kausal verknüpft, lassen sich Überschneidungen der Kultur- mit der Philosophiekritik nicht vermeiden. Die scheinbaren Redundanzen haben jedoch eine Funktion: Die unterschiedlichen diskursiven Perspektiven entfalten die semantischen Facetten von Topoi wie ‚Weltgeschichte‘, ‚Vollendung‘, ‚Bildung‘ und ‚Reflexion‘, und sie arbeiten die Implikationen für eine Philosophie heraus, welche sowohl die moderne Lebenswelt mit ihren spezifischen Rezeptionsbedingungen und psychologischen Phänomenen berücksichtigt als auch auf philosophieimmanente Probleme reagiert. Die Studie, das wurde bereits angedeutet, konzentriert sich nicht auf eine einzelne Schrift, nicht auf die vermeintlich ‚ästhetische‘ oder ‚religiöse‘ Autorschaft Kierkegaards, und sie beschränkt sich auch nicht auf Texte eines bestimmten Pseudonyms. Stattdessen entwickelt sie anhand unterschiedlicher Schriften das ‚pan-Kierkegaardianische‘ Projekt einer kulturkritischen Wiederholung der Philosophie. Dieses Projekt umfaßt das gesamte Œuvre Kierkegaards; es läßt sich jedoch besonders anschaulich anhand der ausgewählten Schriften herausarbeiten. Dazu gehören hauptsächlich: Kierkegaards Magisterarbeit Über den Begriff der Ironie mit ständiger Hinsicht auf Sokrates (1841), Die Wiederholung von Constantin Constantius (1843), Vorworte von Nikolaus Notabene (1844), die Erbauliche Rede „Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – damit, daß Gott siegt“,
34 SKS 18, 138, HH:24 / DSKE 2, 142. Kierkegaard scheint sogar eine komparative Metaphorologie zu befürworten. 1836 heißt es in seinem Journal: „Es könnte sehr interessante Untersuchungen über die verschiedenen Verwendungen der Metapher in unterschiedlichen Sprachen und auf unterschiedlichen Entwicklungsebenen geben.“ SKS 27, 162, Papir 222 (meine Übers.); vgl. Lorentzen, Kierkegaard’s Metaphors, a. a. O., S. 119, S. 29.
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gezeichnet durch Kierkegaard (1844), Eine literarische Anzeige, ebenfalls gezeichnet durch Kierkegaard (1846), die Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den „Philosophischen Brocken“ von Johannes Climacus (1846), Die Krankheit zum Tode von Anti-Climacus (1849) sowie Kierkegaards posthum veröffentlichte Schriften über sich selbst. Die Interpretation der Schriften geschieht nicht in der Reihenfolge ihrer Publikation; vielmehr leitet sich die Anordnung aus sachlichen Gründen ab. Die Untersuchung beginnt mit konzeptuellen Überlegungen zu einer Philosophie nach der Philosophie (1.), als deren Eigenschaften sie eine Auseinandersetzung mit Hegels Vollendungs- und Versöhnungsthese, eine Abkehr von der klassischen Metaphysik und eine Hinwendung zur Kultur, zu Entfremdung und Praxis sowie die Inszenierung der eigenen Posteriorität und Literarisierung der Theorie feststellt (1.1–1.4). Anschließend wird eine mögliche Einbettung der Schriften Kierkegaards in diesen Kontext diskutiert (1.5). Das darauffolgende Kapitel zu Kierkegaards Kulturkritik verortet vorab Kierkegaards Gegenwartsdiagnose in dem modernen Diskurs der philosophischen Kulturkritik. Dazu dienen begriffsgeschichtliche Anmerkungen und ein Vergleich mit der Kulturkritik Rousseaus (2.1–2.2). In Kapitel 2.3 bereitet dann die Interpretation der Krankheit zum Tode die Grundlage für die darauffolgende Analyse der dialektischen Kulturkritik Kierkegaards: Verzweiflung stellt sowohl eine gefährliche Krankheit als auch eine notwendige Bedingung der Selbstwerdung dar. Den generellen Überlegungen zur psychischen Struktur des Menschen, zu seinen Entfremdungs- und Selbstwerdungspotentialen folgt eine Anwendung auf die von Kierkegaard beschriebene Situation des Menschen in der Moderne (2.4). Hier zeigt sich: Verzweiflung ist zwar eine anthropologische Konstante, jedoch im 19. Jahrhundert besonders ausgeprägt. Da es aber – das ist die postrestitutive Implikation von Kierkegaards Kulturkritik – keine unmittelbare ‚Gesundheit‘ gibt, bietet das 19. Jahrhundert eine hervorragende Möglichkeit der Selbstwerdung. Diese Dialektik wird vor allem in Eine literarische Anzeige entwickelt. Die Anzeige, augenscheinlich eine Rezension von Gyllembourgs Novelle Zwei Zeitalter, stellt zwar eine indirekte, jedoch die ausführlichste zusammenhängende Gegenwartsdiagnose Kierkegaards dar. Auch wenn Kierkegaard in der Anzeige nicht explizit von Verzweiflung spricht, so lassen sich die dort analysierten Romanfiguren unterschiedlichen Verzweiflungsformen zuordnen (2.4.1–2.4.2). Das zentrale Element dieser modernen Selbstverfehlungen ist die Reflexion, verstanden als kognitive wie soziale Tätigkeit (2.4.3). Auch das im 19. Jahrhundert auffällige Phänomen einer urbanen Menschenmenge, der Wandlung der Tagespresse zum Massenmedium und die so erzeugte abstrakte Masse eines Publikums bewirken die von Kierkegaard diagnostizierte Entfremdung (2.5). Kierkegaards implizite Massentheorie, das wird zudem gezeigt, ist für den modernen Massediskurs von Re-
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levanz. Ein Vergleich mit Heibergs Aufsatz „Volk und Publikum“ hilft, die Position Kierkegaards trennscharf zu konturieren: Die ‚Masse‘ ist nicht nur dialektisch hilfreich bei der Selbstwerdung, sie ist auch entscheidend für Kierkegaards Selbstinszenierung als Autor (2.5.1–2.5.3). Wiederholt moniert Kierkegaard Voreiligkeit und Ungeduld im Umgang mit dem je eigenen Selbst: Seine Zeitgenossen berauschten sich in einem welthistorischen Taumel, und dies führe zu einer regelrechten ‚Abfertigung‘ des eigenen Daseins ‚im Vorübergehen‘. Das akademische Pendant dazu findet sich laut Kierkegaard in der Philosophie (3.). Dies zeigt vor allem die Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift. Die dort entwickelte Philosophiekritik richtet sich jedoch nicht gegen die Philosophie generell, auch nicht hauptsächlich gegen Hegel. Adressat ist vielmehr der dänische „Second-Hand-Hegelianismus“35 . Dieser sei geprägt von ‚weltgeschichtlichem Gebrüll‘, systematischer Voreiligkeit, falschen Versprechungen, papageienhaften Nachahmungen Hegels und der Mode des ‚Darüberhinausgehens‘ (3.1–3.3). Philosophie, so Kierkegaard, ist nicht mehr Passion. Sie habe die Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen auf das Papier verlegt und werde aus Gründen der Reputation und des Lebensunterhalts an den Universitäten regelrecht betrieben. Kierkegaard folgt in seiner Polemik Schopenhauer; bei genauer Hinsicht zeigt sich jedoch, daß Kierkegaard sein Selbstverständnis als Philosoph gerade in Abgrenzung von diesem gewinnt (3.4). Im Gegensatz zu seinen akademischen Kollegen, welche die existentielle Amnesie fördern, indem sie die Bedeutungslosigkeit des einzelnen hinsichtlich der Entwicklung des Weltgeistes betonen, bürgerliche Geschäftigkeit vorleben und den bequemen Alltag ihrer Zeitgenossen theoretisch unterfüttern, will Kierkegaard vor allem eins: Schwierigkeiten bereiten. Der falschen Verwirklichung der Philosophie durch die von den Universitätsprofessoren betriebene Popularisierung des Hegelschen Denkens setzt er die sokratische Elenktik und Maieutik entgegen: Es komme darauf an, dem Leser unbequem zu werden und seine individuellen Verstehensleistungen herauszufordern (3.5–3.6). Dies ist die Motivation für Kierkegaards Wiederholung der Philosophie (4.). Die Methode der Wiederholung, wie sie sich aus Kierkegaards Werk destillieren läßt, aktualisiert unterschiedliche Bedeutungen von ‚Wiederholung‘, und sie knüpft an die Theorie der indirekten Mitteilung an (4.1): Zum einen ist sie die Widerrufung einer vorigen Aussage (Wiederholung als ‚Zurückholen‘), zum anderen bezeichnet sie eine Wiederholung gemäß dem üblichen Sprachgebrauch: Kierkegaards
35 Vgl. Klaus-M. Kodalle, „Adornos Kierkegaard – ein kritischer Kommentar“, in Die Rezeption Søren Kierkegaards in der deutschen und dänischen Philosophie und Theologie. Vorträge des Kolloquiums am 22. und 23. März 1982, hg. von Heinrich Anz et al., Kopenhagen und München: Fink 1983 (Text und Kontext, Sonderreihe, Bd. 15), S. 70–100, S. 78.
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Schriften demonstrieren das Gesagte, sie wiederholen den Inhalt performativ. Die Anwendung der Wiederholung als performative Repetition betrifft aber auch die Textkonstitution als solche; so besteht die Schrift Forord aus nichts anderem als einer Wiederholung von Vorworten. In literarischem Gewand problematisiert Forord somit die von Kierkegaard kritisierte Voreiligkeit und den ‚Vollendungstrend‘, aber auch Aufgabe und Gegenstand der Philosophie (4.2). Die Schrift, die sich explizit der Wiederholung widmet – Die Wiederholung. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie –, bezieht sich vordergründig auf das Leben als Wiederholung. Sie läßt sich jedoch als implizite Methodenreflexion interpretieren (4.3.1–4.3.3). In diesem Kontext wird Kierkegaards Lektüremodell analysiert (4.3.4). Das Konzept einer Wiederholung als Zurück-Holung wird anschließend angewandt auf Kierkegaards Umgang mit der philosophischen Tradition. Während die von ihm kritisierten Hegel-Epigonen einen Umgang mit dieser nur noch in historischer Perspektive als legitim betrachten, aktualisiert Kierkegaard das Zurückgelassene der Philosophie. Dies betrifft zum einen das Verständnis einer Praxis des Philosophierens, wie Kierkegaard es durch Sokrates repräsentiert sieht (4.4), zum anderen das von Meister Eckhart propagierte Gottes- und Weltverhältnis, welches Kierkegaard in der Rede Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – damit, daß Gott siegt wiederholt. In ihr wird deutlich, was Kierkegaard der modernen Hyperreflexion entgegenzusetzen hat: kenosis, Ent-Bildung und die Spiegelung Gottes (4.5). Die genannten Wiederholungen dienen nicht nur der hermeneutischen, sondern auch und vor allem der existentiellen Aktivierung des Lesers. Dazu gehören die Evokation von Stimmungen und – so paradox es vorerst klingen mag – die Einübung von Geduld. Die vielfältigen Erscheinungsformen von Kierkegaards Methode der Wiederholung lassen sich daher im Rahmen einer (Anti-)Rhetorik zusammenfassen, einer christlichen Beredsamkeit, welche auf dem Ideal der longinquitas beruht (4.6). Kierkegaards Entwurf einer Philosophie nach der Philosophie, so wird abschließend gezeigt, strebt nicht nach einer politischen Verwirklichung der Philosophie, wie sie viele der Junghegelianer propagiert haben. Da seine Schriften jedoch auf die individuelle, durch den Leser zu leistende Realisation des Geistes zielen und hierfür performative Mittel einsetzen, lassen sie sich, so das Schlußfazit, letztlich auch als eine Philosophie der Tat verstehen. Noch einmal sei betont: Die vorliegende Untersuchung fragt nicht danach, ob Kierkegaard sich explizit dem Projekt der Junghegelianer angeschlossen hat (dafür gibt es keinerlei Indizien), auch nicht danach, ob er ‚bewußt‘ eine Methode der Wiederholung entwickeln wollte. Hinsichtlich des Verhältnisses von Autorintention und Interpretation scheint mir die Haltung angemessen, welche das Pseudonym Johannes Climacus gegenüber den Schriften Lessings einnimmt. Was dieser wirklich gemeint habe, so Climacus in der Nachschrift, das könne und wol-
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le er nicht entscheiden. Seine hermeneutische Prämisse lautet daher: „Wenn ich einen Denker verstehe, so ist in ebendemselben Grade, wie ich ihn verstehe, seine Wirklichkeit (daß er als einzelner Mensch existiert; daß er selbst es wirklich so verstanden hat usw.; oder daß er es selbst wirklich realisiert hat usw.) vollständig gleichgültig.“36 Climacus übt Verzicht hinsichtlich einer Entschlüsselung der Autorintention und strebt stattdessen danach, sein eigenes Verständnis begründet darzulegen. Diesem Vorbild sei auf den anschließenden Seiten gefolgt.
36 SKS 7, 296f. / AUN2, 27. Vgl. Hügli, Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens bei Søren Kierkegaard, a. a. O., S. 237.
1 Philosophie nach der Philosophie Hegels wirkungsmächtige Philosophie stellt im Denken der Neuzeit eine Zäsur dar, wie sie in der Geschichte der Philosophie so noch nicht aufgetreten ist: Ihr komplexes System mündet in dem expliziten Abschluß der Geschichte des Geistes, somit auch in der Vollendung der Philosophie als Disziplin. Alle Denker nach Hegel sind daher mit ihrem eigenen ‚Zuspätkommen‘ konfrontiert; sie können entweder Philosophie als Geschichtsschreibung betreiben oder aber versuchen, ihrer eigenen Posteriorität philosophische Relevanz abzugewinnen. Obwohl Hegels geistige Nachkommen den Vollendungsgestus als äußerst provokativ empfunden haben, bekräftigen sie ihn – wenn auch nur vorerst. Das Ende der Philosophie verstehen sie weniger als krönende Selbsterkenntnis des Weltgeistes denn als Kapitulation der Metaphysik vor den Lebensbedingungen der Moderne. Denker nach Hegel zelebrieren daher den endgültigen Abschluß einer Philosophie, welche den konkreten Menschen vernachlässigt habe. Sie treten aber auch mit dem Anspruch auf, Hegels Philosophie ‚aufzuheben‘, und unterwerfen diese einer unerbittlichen, wenn auch nicht immer berechtigten Kritik. Sie definieren das Verhältnis von Philosophie und Geschichte neu, wobei die sozio-kulturellen Veränderungen, die Hegel aus seinem System ausklammert, eine tragende Rolle spielen. Eine Philosophie jedoch, die sich in eine derartige Richtung öffnet, unterscheidet sich wesentlich von dem bis zur Schwelle der Moderne tradierten platonischen Verständnis einer Philosophie, welche sich nur mit dem Wesentlichen einzulassen und alles Zufällige zu entfernen habe37 – „eine Philosophie, die sich auf das Thema der Kultur einlässt“, so Ralf Konersmann, kann „nicht mehr ganz dieselbe sein“.38 Nun wäre es überhastet, Ludwig Feuerbach, Karl Marx und Friedrich Engels, Bruno Bauer, August von Cieszkowski und Moses Hess der Kulturphilosophie zuzuordnen. Als Denker der Posteriorität in erster Generation,39 zu denen auch, so
37 Vgl. G.W.F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte. Zweiter Entwurf: Die Philosophie der Weltgeschichte, hg. von Johannes Hoffmeister, 5. Aufl., Hamburg: Meiner 1955 [1830], S. 29. 38 Ralf Konersmann, „Kulturphilosophie“, in Handbuch Kulturphilosophie, hg. von dems., Stuttgart: Metzler 2012, S. 13–23, S. 22. 39 Um die Gemeinsamkeit in Bezug auf die Inszenierung ihrer Posteriorität zu betonen, werden im folgenden diejenigen Hegelschüler, die sich kritisch bis polemisch, direkt und explizit mit der Hegelschen Philosophie auseinandersetzen, als ‚Junghegelianer‘ bezeichnet (und entgegen ihren späteren Abgrenzungsbemühungen werden auch Marx und Engels zu diesen gezählt). Gegen eine Einteilung in einen rechten und einen linken Flügel der Hegelianer spricht, daß die religionsphilosophische Tendenz, die ab 1840 von politischen Differenzen und Distinktionsbemühungen überlagert wurde, nicht parallel zu diesen verläuft; vgl. Hermann Lübbe, „Die poli-
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die These dieser Studie, Kierkegaard zählt, weisen sie jedoch auf etwas Entscheidendes hin: Eine Philosophie nach Hegel ist immer auch eine Auseinandersetzung mit der jeweils aktuellen Welt des Menschen. Sie berücksichtigt die Lebensumstände der Moderne. Die Zuwendung zu dem Menschlich-Konkreten, das nun Gegenstand der Philosophie wird, hat auch Folgen für die Gestalt der Philosophie. Sie will sich außerhalb der Universitäten Gehör verschaffen und paßt sich an die veränderten Diskursbedingungen der Moderne an, das bedeutet: Sie verleugnet nicht mehr ihre Literarizität. Bei aller Rigorosität der Abgrenzung von Hegels Philosophie bleiben die Versuche, die Philosophie neu zu entwerfen, auf Hegel verwiesen – das bezeugt schon die Rolle, welche die Figuren der ‚Aufhebung‘ und ‚Verwirklichung‘ in diesem Vorhaben spielen. Für das paradoxe Unternehmen, die Philosophie ohne Identitäts- und Kenntlichkeitsverlust radikal als Philosophie neu zu bestimmen, hat Konersmann die Formel von der „Philosophie nach der Philosophie“ geprägt.40 Sie gilt es zu erläutern und ihre Funktion für die folgenden Kapitel darzulegen.
1.1 Vollendung und Versöhnung Die Philosophie Hegels ist mit keinem geringeren Anspruch aufgetreten als demjenigen, die Entwicklungsgeschichte des Geistes zu vollenden – schließlich, so Hegel in den Grundlinien zur Philosophie des Rechts, seien Vernunft und Wirklichkeit an das Ende eines notwendigen Prozesses gekommen und werden sich ihrer Versöhnung in seiner Philosophie bewußt: [D]ie Gegenwart hat ihre Barbarei und unrechtliche Willkür und die Wahrheit hat ihr Jenseits und ihre zufällige Gewalt abgestreift, so daß die wahrhafte Versöhnung objektiv geworden, welche den Staat zum Bilde und zur Wirklichkeit der Vernunft entfaltet, worin das Selbstbewußtsein die Wirklichkeit seines substantiellen Wissens und Wollens in organischer Ent-
tische Theorie der Hegelschen Rechten“, in Archiv für Philosophie, Bd. 10, 1960, S. 175–227; siehe auch Wolfgang Eßbach, Die Junghegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe, München: Fink 1988, S. 137–140. Warren Breckman hat auf eine durchgehende, die politischen wie die religionsphilosophischen Überlegungen fundierende Grundlage der Hegelschüler hingewiesen: die Auseinandersetzung mit Konzepten wie ‚Selbst‘ und ‚Persönlichkeit‘; Warren Breckman, Marx, the Young Hegelians, and the Origins of Radical Social Theory. Dethroning the Self, Cambridge und New York: Cambridge University Press 1999, S. 8f. Daß Kierkegaards Schriften ebenfalls um das Problem des Selbstseins kreisen (wenn auch mit anderen Ergebnissen), unterstützt die in dieser Arbeit vorgenommene sachliche Verbindung von Kierkegaard und den Junghegelianern. 40 Konersmann, „Zuletzt und verspätet“, a. a. O., S. 226.
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wicklung, wie in der Religion das Gefühl und die Vorstellung dieser seiner Wahrheit als idealer Wesenheit, in der Wissenschaft aber die freie begriffene Erkenntnis dieser Wahrheit als einer und derselben in ihren sich ergänzenden Manifestationen, dem Staate, der Natur und der ideellen Welt, findet.41
Damit, das impliziert eine solche Rhetorik, sei der Schlußstein der abendländischen Philosophie gelegt; eine Philosophie nach Hegel erscheint per definitionem als unmöglich. Trotz der Provokation, die dem Hegelschen Diktum der Vollendung anhaftet, stimmt die junge Generation der Denker nach Hegel diesem vorerst zu. Auch die kritischen unter ihnen wiederholen die plakative Formel vom Ende der Philosophie. So erscheint sie als Titel eines Essays von B. Bauer,42 Cieszkowski spricht mit Referenz auf Hegel von der Philosophie, „deren wirkliches Ende und wirkliche Vollführung der zweite Aristoteles unserer Tage erst kürzlich vollbracht hat“43 , und Heinrich Heine verkündet: „Unsere philosophische Revolution ist beendigt. Hegel hat ihren großen Kreis geschlossen.“44 Jedoch bleibt es nicht bei Anerkennung und Zustimmung. Hegel hat zwar wirkungsstark das Ende der Philosophie verkündet, dabei aber einiges aus ihr ausgeschlossen, was die jüngere Generation als drängende Probleme empfindet. Das Ende der Philosophie, in dessen Lied die Junghegelianer einstimmen, wird von ihnen deswegen auch
41 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in TWA, Bd. 7, S. 514 (§ 360). Hegel hat jedoch die Versöhnung eher als gedachte, nicht als wirkliche formuliert, wie seine Vorlesungen über die Philosophie der Religion zeigen: „Aber diese Versöhnung ist selbst nur eine partielle, ohne äußere Allgemeinheit; die Philosophie ist in dieser Beziehung ein abgesondertes Heiligtum, und ihre Diener bilden einen isolierten Priesterstand, der mit der Welt nicht zusammengehen darf und das Besitztum der Wahrheit zu hüten hat. Wie sich die zeitliche, empirische Gegenwart aus ihrem Zwiespalt herausfinde, wie sie sich gestalte, ist ihr zu überlassen und ist nicht die unmittelbar praktische Sache und Angelegenheit der Philosophie.“ G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, in TWA, Bd. 17, S. 343f. Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, „Die totale Revolution. Die Junghegelianer zwischen theologischer Kritik, politischer und sozialer Revolution“, in ders., Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt/Main: Fischer, S. 88–109, S. 100. 42 Bruno Bauer, „Das Ende der Philosophie“, in ders., Rußland und das Germanentum, Charlottenburg: Verlag Egbert Bauer 1853, S. 44–49. 43 August von Cieszkowski, Prolegomena zur Historiosophie, Berlin: Veit und Comp. 1838, S. 98. 44 Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in Heinrich Heine’s gesammelte Werke. Kritische Gesammtausgabe, hg. von Gustav Karpeles, Bd. 1–9, 2. Aufl., Berlin: Grote’sche Verlagsbuchhandlung 1893 [1887], Bd. 5, S. 138. Zum Umgang der Junghegelianer mit dem Vollendungsanspruch der Hegelschen Philosophie siehe Geert Van Eekert, „The Blind Spot in Current Philosophical Discourse on ‘End of Metaphysics’“, in 1830–1848. The End of Metaphysics as a Transformation of Culture, hg. von Herbert de Vriese et al., Leuven: Peeters 2003, S. 27–80.
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als das Ende der Hegelschen Philosophie zelebriert und strategisch zur Profilierung des eigenen Vorhabens verwendet. Geschickt unterscheidet Feuerbach eine neuere Philosophie von einer vollkommen neuen Philosophie, die zu entwickeln er sich nach eigener Angabe zur Aufgabe gemacht hat: „Die Vollendung der neueren Philosophie ist die Hegelsche Philosophie. Die historische Notwendigkeit und Rechtfertigung der neuen Philosophie knüpft sich daher hauptsächlich an die Kritik Hegels.“45 In der Kritik der Hegelschen Philosophie nehmen die Begriffe ‚Leben‘ und ‚Existenz‘ einen zentralen Platz ein, denn bei allen Unterschieden eint die Junghegelianer eins: Sie bemängeln die Vernachlässigung der Belange des Menschen aus Fleisch und Blut, der gleichsam durch die Maschen des von Hegel gespannten Geist-Netzes fällt. So betont Feuerbach, die Existenz habe „für sich selbst. . . Sinn und Vernunft“46 , Marx und Engels wollen „von den wirklich tätigen Menschen“ und dem „wirklichen Lebensprozeß“ ausgehen,47 Hess möchte eine Philosophie entwerfen, die nicht hinter dem Leben zurückbleibt,48 und Cieszkowski fordert eine Philosophie, die überhaupt erst ins Leben tritt.49 Während Hegels Verkündung einer Versöhnung von Vernunft und Wirklichkeit nicht die rapiden sozialen Veränderungen des 19. Jahrhunderts berücksichtigt (er verbannt buchstäblich das Problem des Bevölkerungswachstums und der Verarmung der Industriearbeiter durch den Hinweis auf Auswanderung in die USA aus seinem System50 ), fordert Marx bekanntlich die Verwirklichung der Philosophie durch die Aufhebung des Proletariats.51 Die Geschichte sei eben noch nicht an ihr Ende gelangt, der Mensch noch nicht das geworden, was ihn wesentlich ausmache. Ob im Sinne des sogenannten Kommunistischen Manifests oder einer „Auflösung der Theologie in Anthropologie“52 , wie Feuerbach sie vornehmen möchte – die Geschichte des Geistes geht weiter, und wie bei Hegel hat sie auch
45 Ludwig Feuerbach, „Grundsätze der Philosophie der Zukunft“, in Gesammelte Werke, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Werner Schuffenhauer, Bd. 1–22, Berlin: Akademie Verlag 1967–2004, Bd. 9, S. 264–341, S. 295 (§ 19). 46 Ebd., S. 308 (§ 28); vgl. Walter Jaeschke, „The End of Metaphysics“, in The End of Metaphysics, S. 13–35, S. 31. 47 Karl Marx, Die Deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, in MEW, Bd. 3, S. 26. 48 Moses Hess, Die europäische Triarchie, Leipzig: Verlag Otto Wiegand 1841, Vorwort. 49 Vgl. August von Cieszkowski, Gott und Palingenesie, Erster, Kritischer Theil, Berlin: Schroeder 1842, S. 21. 50 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in TWA, Bd. 12, S. 109. 51 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in MEW, Bd. 1, S. 391. 52 Feuerbach, Grundsätze, S. 53 (§ 38).
1.2 Das Ende der Metaphysik und der Einzug des Kulturellen |
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bei den Junghegelianern ein eindeutiges telos. Mit diesem setzen sie sich jedoch nicht retrospektiv auseinander, vielmehr betonen sie die Zukunftsorientierung ihrer Philosophie. Aus politischer und sozialer Perspektive erscheint die Proklamation des Endes der Weltgeschichte schlichtweg als absurd. Sie impliziert, wie Engels formuliert, eine paradoxe Aufgabe für die Philosophie im traditionellen Verständnis: Sind aber alle Widersprüche ein für allemal beseitigt, so sind wir bei der sogenannten absoluten Wahrheit angelangt, die Weltgeschichte ist zu Ende, und doch soll sie fortgehn, obwohl ihr nichts mehr zu tun übrig bleibt – also ein neuer, unlösbarer Widerspruch. Sobald wir einmal eingesehn haben. . . daß die so gestellte Aufgabe der Philosophie weiter nichts heißt als die Aufgabe, daß ein einzelner Philosoph das leisten soll, was nur die gesamte Menschheit in ihrer fortgeschrittenen Entwicklung leisten kann – sobald wir das einsehn, ist es auch am Ende mit der ganzen Philosophie im bisherigen Sinn des Worts.53
Engels’ Präzisierung, daß lediglich die Philosophie im bisherigen Sinn des Wortes an ihr notwendiges Ende gelangt sei, darf nicht über die Dramatik der Ausgangslage hinwegtäuschen: Hegels Vollendungsgestus erscheint als in sich widersprüchlich, hinterläßt Ratlosigkeit und sprengt vor allem das gesamte bisherige Verständnis von Philosophie. Eine Philosophie nach Hegel muß erst neu bestimmt werden; sie hat ihren Gegenstand und ihre Methode neu auszuhandeln und zu legitimieren.
1.2 Das Ende der Metaphysik und der Einzug des Kulturellen Eng verbunden mit Hegels Rhetorik der Vollendung der Philosophie ist das vermeintliche Ende der Metaphysik. Versuche der Neubestimmung des philosophischen Denkens wie die soeben beschriebenen werden in der Forschung hauptsächlich als Reaktion auf das Scheitern der Metaphysik in der Moderne verstanden. „Das Ende der rationalen Philosophie,“ so Walter Jaeschke, „generell als das ‚Ende der Metaphysik‘ bezeichnet, hat ihre Ursache und ihren Antrieb darin, daß. . . diese rationale Philosophie sich selbst nicht mehr für fähig gehalten hat, die Gewißheit derjenigen Objekte zu garantieren, welche von der ihr vorhergehenden Metaphysik versprochen worden ist: die Persönlichkeit Gottes und die
53 Friedrich Engels, „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“, in MEW, Bd. 21, S. 265–273, S. 270; vgl. Geert Van Eekert und Herbert de Vriese, „Using Hegel to go Beyond Hegel. Engels, Manchester, and the End of Metaphysics“, in 1830–1848. The End of Metaphysics as a Transformation of Culture, hg. von Herbert de Vriese et al., Leuven: Peeters 2003, S. 187–231.
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Seele“54 . Hegel selbst hat das Ende der Metaphysik in seiner Wissenschaft der Logik verkündet,55 in welcher er nicht nur die traditionelle Metaphysik destruiert, sondern auch ihre neuzeitlichen Gewänder identifiziert. Dies betrifft die Denkbestimmungen von Kants Transzendentalphilosophie ebenso wie „die philosophisch nicht gebildete Reflexion“56 , d.h. das Weltverständnis der Laien und die empirischen Wissenschaften. Wie Michael Theunissen zeigt, hat Hegel jedoch seine metaphysikkritische Logik selbst wiederum als letzte Metaphysik verstanden: „Nachdem die objektive Logik die Aufgabe der Metaphysikkritik bewältigt hat, darf die subjektive, so glaubt Hegel, als diejenige Metaphysik auftreten, die ein von jener Kritik nicht entweihtes ‚Allerheiligstes‘ ist: die alle Disziplinen der speziellen Metaphysik in sich aufnehmende und vollendende theologia naturalis.“57 Hegels Unternehmen ist in den Augen seiner Kritiker jedoch nicht in der Lage, Platz und Funktion der traditionellen Metaphysik einzunehmen; letztlich zementiert seine als Metaphysikkritik auftretende Metaphysik nur deren Kapitulation vor der Moderne. Was in der Aufklärung begann, erreicht nun seinen Gipfel: Die Metaphysik kann als akademische Disziplin weiterhin betrieben werden, sie antwortet jedoch nicht mehr auf die Fragen und Zumutungen des Lebens im 19. Jahrhundert. Verloren gegangen sei nicht die Metaphysik als Disziplin, so de Vriese, sondern „die Position, von der aus metaphysische Ambitionen und Strategien als sinnvolle Weisen verstanden werden können, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen“58 .
54 Walter Jaeschke, „The End of Metaphysics Between the History of Consciousness and the History of Philosophy“, in 1830–1848. The End of Metaphysics as a Transformation of Culture, hg. von Herbert de Vriese et al., Leuven: Peeters 2003, S. 13–35, S. 27 (meine Übers.); vgl. auch Walter Jaeschke, „Der Streit um die Metaphysik“, in ders., Hegel-Handbuch. Leben, Werk, Schule, Stuttgart und Weimar: Metzler 2003, S. 530–537. 55 Vgl. Hegels Vorrede zur ersten Auflage der Wissenschaft der Logik I, in der es heißt: „Dasjenige, was vor diesem Zeitraum Metaphysik hieß, ist sozusagen mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden.“ G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, in TWA, Bd. 5, S. 13. 56 Ebd., S. 123; vgl. Michael Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1978, S. 18. Theunissen weist auch darauf hin, daß der von Hegel zugrunde gelegte Metaphysikbegriff „einen außerordentlich weiten Umfang“ besitzt: „Er deckt zunächst einmal die gesamte philosophische Tradition ab. In der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des europäischen Denkens bezieht die Wissenschaft der Logik sich insbesondere auf dreierlei: auf die formale Logik, die durch Kant begründete und in der Nachfolge Kants ausgebaute Transzendentalphilosophie und diejenige Metaphysik, die sie von dieser als die. . . ‚vormalige‘ oder auch ‚ältere‘ unterscheidet.“ Ebd., 17. 57 Theunissen, Sein und Schein, S. 41; vgl. G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik II, in TWA, Bd. 6, S. 61. 58 Herbert de Vriese, „The End of Metapysics as a Transformation of Culture?“, in 1830–1848. The End of Metaphysics as a Transformation of Culture, hg. von Herbert de Vriese et al., Leuven:
1.2 Das Ende der Metaphysik und der Einzug des Kulturellen |
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Plakativ zeigt dies B. Bauer, der die philosophischen und politischen Veränderungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „innerlich zusammenhängendes Verhältnis“59 markiert. Oder ist es zufällig, so eine seiner beißenden rhetorischen Fragen, ob „die Einbildung der deutschen Professoren, die sich immer noch an der Phrase vom rechtmäßigen Einfluß der Metaphysik auf die moralischen und physikalischen Wissenschaften ergötzen, ebenso kindisch und greisenhaft geworden ist wie die Prahlerei der französischen Tagesblätter, die so sprechen, als ob die ‚große Nation‘ noch existierte“?60 Nein, so Bauers Antwort, es ist vielmehr notwendig, „daß nun auch die Philosophie. . . derselben Katastrophe erliegen soll, die den Constitutionalismus und die Classen-Privilegien innerhalb der Nationen wie die privilegirte Stellung betroffen hat, die bisher einzelne Nationen gegen andre einnahmen“.61 Ebenso, wie man sich politisch vom Absolutismus befreit habe, emanzipiere man sich nun von der „abstrakten Begriffsherrschaft“.62 Bauers Fazit läßt an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig: „Die Katastrophe der Metaphysik ist unleugbar.“63 Nun wissen die durch Rousseaus ersten Diskurs geschulten Leser um die Schwierigkeit, aus der Koinzidenz von wissenschaftlicher und kultureller Krise Kausalitäten ableiten zu wollen, und es soll hier auch nicht um die Angemessenheit von Bauers Diagnose gehen. Bauers Verdikt ist vielmehr symptomatisch aufzufassen: Die Gegenwart wird im 19. Jahrhundert als Katastrophe, als Zeit der ‚Auflösung‘ und ‚Gärung‘ verstanden. Auch Marx greift auf die damals prominente Metapher der Gärung zurück, wenn er schreibt: „Der Verwesungsprozeß des Hegelschen Systems. . . hat sich zu einer Weltgärung entwickelt“.64 Das 19. Jahrhundert ist schließlich nicht nur mit drastischen politischen Veränderungen konfrontiert, sondern auch mit einer fortschreitenden Industrialisierung und mit technischen Erfindungen, die den Alltag verändern. Die wachsende Verarmung der Fabrikarbeiter und die zunehmende Verstädterung, damit zusammenhängend das neue Phänomen einer urbanen Menschenmenge und eines medialen
Peeters 2003, S. 313–351, S. 346 (meine Übers.). Die Möglichkeiten und Erscheinungen metaphysischen Denkens in der Moderne untersucht der von Dirk Westerkamp und Astrid von der Lühe herausgegebene Band Metaphysik und Moderne. Ortsbestimmungen philosophischer Gegenwart. Festschrift für Claus-Artur Scheier, Würzburg 2007: Königshausen & Neumann. 59 Bauer, „Das Ende der Philosophie“, a. a. O., S. 46. 60 Ebd., S. 45. 61 Ebd., S. 45f. 62 Ebd., S. 49. 63 Ebd., S. 46. Auch Bauer setzt Philosophie und Metaphysik gleich, was dem damaligen Verständnis von Metaphysik als Philosophie par excellence entspricht. 64 Marx, Die Deutsche Ideologie, a. a. O., S. 17.
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Strukturwandels, der dem ‚Publikum‘ zu Dominanz verhilft,65 fordern die Aufmerksamkeit eines philosophischen Denkens, das sich als nicht-retrospektiv versteht. Das ‚Ende der Philosophie im bisherigen Sinn des Wortes‘ hat nicht nur philosophieimmanente Gründe, sondern auch und vor allem kulturelle. Was für das sogenannte Ende der Metaphysik gilt, kann ebenso für die generelle These vom Ende der Philosophie Geltung beanspruchen: „Eine Untersuchung, die sich dem Ende der Metaphysik widmet, kann sich nicht auf eine rein metaphysische Diskussion beschränken. Sie fordert die Berücksichtigung der Kulturphilosophie ebenso wie der Geschichte der Zivilisation.“66 Eine Arbeit, welche den Anspruch erhebt, die Philosophie nach der Philosophie zu untersuchen, hat sich daher auch den lebensweltlichen Veränderungen zuzuwenden.
1.3 Entfremdung und Praxis So unterschiedliche Reaktionen Hegels Vollendungsgestus hervorgerufen hat und so schwierig es ist, Kennzeichen einer ‚Schule‘ daraus ablesen zu wollen, eines ist auffällig: Während die Junghegelianer noch mit Hegel bezüglich des Endes der Philosophie übereinstimmen (sei es auch nur das Ende eines bestimmten Philosophieverständnisses), so bestreiten sie vehement die totale Versöhnung, die Hegel meint verkünden zu können. Zwar herrscht bei genauer Hinsicht weniger Differenz,67 eine Erörterung der Angemessenheit der Hegel-Kritik durch die Junghegelianer würde jedoch den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Entschei65 So ist es laut Feuerbach Kennzeichen der „neuen Philosophie“, daß sie nicht auf den Neigungen des „Zeitungspublikums“ gründe: Ludwig Feuerbach, „Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie“, in Gesammelte Werke, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Werner Schuffenhauer, Bd. 1–22, Berlin: Akademie Verlag 1967–2004, Bd. 9, S. 243–263, S. 260. Auch Feuerbachs Entwurf einer Philosophie nach der Philosophie ist demnach nicht nur durch die Abgrenzung von der Hegelschen Philosophie (denn diese kann wohl kaum als auf die Lesegewohnheiten eines Zeitungspublikums ausgerichtet beschrieben werden) und dem Scheitern der Metaphysik bestimmt, sondern auch als eine unmittelbare Reaktion auf die kulturellen Veränderungen der Moderne zu verstehen. 66 Eekert, „The Blind Spot in Current Philosophical Discourse on ‘End of Metaphysics’“, a. a. O., S. 80 (meine Übers.). 67 Laut Hegel hat die Entzweiung, notwendiger Faktor des Lebens, in der Moderne Züge einer „absoluten Entzweiung“ angenommen, zudem weist er darauf hin, daß die in seiner Philosophie aufgewiesene Versöhnung nur eine gedankliche sei; G.W.F. Hegel, „Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie“, in TWA, Bd. 2 (Jenaer Schriften 1801–1807), S. 8–138, S. 22; G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in TWA, Bd. 18, S. 72. Vgl. Stuke, Philosophie der Tat, a. a. O., S. 41–48. Auch Löwith hat darauf hingewiesen, daß laut He-
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dend ist vielmehr die Funktion, die Hegels These der Versöhnung für die Entwürfe einer Philosophie nach der Philosophie eingenommen hat. Hegel, so könnte man nonchalant den Einwand der Junghegelianer zusammenfassen, mache es sich zu leicht, wenn er sich in die Philosophie zurückzieht und die Versöhnung lediglich denkt. Damit sei der von drastischen Veränderungen heimgesuchten Gegenwart schließlich nicht geholfen. Feuerbach moniert sogar, daß eine solche Philosophie die Entzweiung des Menschen weiter vorantreibe,68 und er stellt jegliche ‚Philosophie der Zukunft‘ in Frontstellung gegen die ‚Schulphilosophie‘. Feuerbachs Verdikt, „daß es ein spezifisches Kennzeichen eines Philosophen ist, kein Professor der Philosophie zu sein, umgekehrt ein spezifisches Kennzeichen eines Professors der Philosophie, kein Philosoph zu sein“,69 wird zum Topos regelrecht aller Entwürfe einer Philosophie nach der Philosophie. Die Philosophie, darin ist man sich einig, müsse vom Katheder herabsteigen und zur Sache des Menschen werden.70 Ebenso entscheidend ist der Bezug der Philosophie auf die Praxis. Feuerbach bezeichnet als zentrales Merkmal seines Entwurfes einer posthegelianischen Philosophie, daß sie „wesentlich eine praktische, und zwar im höchsten Sinne praktische, Tendenz“ habe,71 und Hess fordert, von nun an sei es „die Aufgabe der Philosophie des Geistes, Philosophie der Tat zu werden“72 . Stuke hat die Hess’sche Neuschöpfung ‚Philosophie der Tat‘ in das Zentrum seiner gleichnamigen Studie gestellt. Die Bezeichnung ermöglicht, solche Gemeinsamkeiten der Reaktionen auf Hegels Vollendungs- und Versöhnungsproklamation herauszuarbeiten, die quer zu Zuordnungen wie ‚Links-‘ und ‚Rechtshegelianer‘ verlaufen, und Denker zu berücksichtigen, die nicht mit einem unmittel-
gel im christlichen Prinzip des absolut freien Geistes die absolute Möglichkeit und Notwendigkeit vorhanden sei, „daß Staatsmacht, Religion und die Prinzipien der Philosophie in eins zusammenfallen“ (G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, in TWA, Bd. 10, S. 364) – was etwas anderes ist als die Behauptung, sie seien bereits identisch; Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, in Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Stichweh, Bd. 1–9, Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1981–1988, Bd. 4, S. 67. 68 Feuerbach, „Zur Beurteilung“, a. a. O., S. 241. 69 Ebd. 70 Vgl. ebd. 71 Ders., „Grundsätze“, a. a. O., S. 340 (§ 66). Wie vielschichtig der Begriff der Praxis sein kann, zeigt Marx’ elfte Feuerbachthese: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt drauf an, sie zu verändern“ – und diese Veränderung sei notwendig eine gesellschaftliche. Der Feuerbachschen Praxis eines anthropologischen Materialismus setzt Marx daher die Praxis des historischen Materialismus entgegen; Karl Marx, „Thesen über Feuerbach“, in MEW, Bd. 3, S. 5–7, S. 7 (Hervorh. im Original). 72 Hess, Philosophie der Tat; zitiert nach Stuke, Philosophie der Tat, a. a. O., S. 237.
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baren politischen Anspruch aufgetreten sind.73 Gemeinsam ist den ‚Philosophen der Tat‘ ein epochales Bewußtsein der Krise der abendländisch-christlichen Welt. Sie kämpfen, jeder auf seine Weise, für die wirkliche Aufhebung der Entfremdung, für die ‚Erlösung‘ des konkreten Menschen in seiner aktuellen historischen Situation.74
1.4 Posteriorität und Literarisierung Die Forderung nach Praxis hat philosophiegeschichtlich weite Kreise gezogen; sie stellt einen Einbruch in das Selbstverständnis der Philosophie dar. Zumindest als akademische Disziplin war letztere zur Revision ihrer Identität und Funktion in einer säkularisierten und technisierten Welt gezwungen. Was für einen Affront die ‚Philosophie der Tat‘ gegen das traditionelle Verständnis der Philosophie als theoria darstellt, zeigt sich noch an deren Identifizierung durch Hans-Georg Gadamer als „Nichtphilosophie“.75 Gadamer weist aber auch darauf hin, daß sie den Anforderungen der Moderne entspricht, reagiere sie doch auf ein „weltanschauliches Bedürfnis, das in der deutschen und europäischen Bildungsschicht erwachte, als die christlichen Kirchen ihre Allgemeinverbindlichkeit einbüßten“76 . Mit dem Anspruch, „in die Breite“ zu wirken, hätten die posthegelianischen Denker Hegels These vom Ende der Philosophie noch einmal bestätigt: „Daß Hegels Philosophie eine wahrhafte Vollendung der Philosophie bedeutete, zeigte sich nicht nur in dem jähen Abfall von der handwerklichen Kunst des Denkens, der mit Hegels Tod eintrat, sondern vor allem auch in dem veränderten Stilcharakter.“77 Der neue Stil ist jedoch nicht nur auf die Bemühungen zurückzuführen, die Philosophie, wie Feuerbach es formuliert, als Philosophie für den Menschen verständlich auszudrücken. Er hat auch philosophieimmanente Gründe. Auch wenn sich die Philosophie kaum jemals als „Variation eines Kanons“ verstanden hat und ihre Geschichte ein „fortgesetztes Ablösungsgeschehen“ darstellt,78 so erschwert Hegels Vollendungsgestus allen ihm nachfolgenden Denkern eine Eingliederung in diese Reihe der wiederholten Neuanfänge. Die Weigerung, an die Tradition (auch an die der Diskontinuität) anzuknüpfen, zeigt sich in der Sprache.
73 Siehe Stuke, Philosophie der Tat, a. a. O., S. 247f. 74 Vgl. ebd., S. 254. 75 Hans-Georg Gadamer, Philosophisches Lesebuch, erw. Neuaufl., Bd. 1–3, Frankfurt/Main: Fischer 1992 [1965], S. 114. 76 Ebd., S. 113. 77 Ebd. 78 Konersmann, „Zuletzt und verspätet“, a. a. O., S. 226.
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Vermeintlich nichtphilosophische Formen werden in der Kritik der Hegelschen Philosophie aufgeboten, um klarzustellen: Der Bruch mit einer solchen Philosophie ist endgültig. Systematische Erörterungen werden durch literarische Darstellungsmittel subvertiert, welche die Reintegration in den traditionellen philosophischen Diskurs verunglimpfen sollen. Nicht nur politisierende Programmschriften, auch die Satire, das Fragment, fast schon exzessive Ausgestaltungen der Autorrolle und beißender Zynismus sind „eine schroffe Weigerung, in eine konstruktive Diskussion zu treten“.79 Damit bricht in den Bemühungen um eine Philosophie nach der Philosophie etwas hervor, was diese bislang als unphilosophisch gekennzeichnet und aus ihrem Selbstverständnis ausgeschlossen hat: ihre Literarizität. Von den Regeln, die Descartes in seinem Discours de la méthode aufgestellt hat, weicht jedoch bereits Hegel ab, wenn auch nicht explizit. Das Darstellungsproblem der Philosophie, das er in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes anerkannt hat,80 scheint ihn selbst einzuholen. So fällt in der Phänomenologie die Ambivalenz zwischen der expliziten Zuschreibung der Rolle der Sprache und ihrer konkreten Verwendung auf. Henry Sussman spricht gar von einem „schizoiden Bruch“81 . Dieser werde erzeugt von widersprüchlichen Direktiven des Textes, die darin bestünden, „die Phänomenologie sowohl als nichtlinearen, diskontinuierlichen Metapherngenerator zu lesen als auch in Hinblick auf die Prämissen, die ihren formalen Apparat zur Operation befähigen.“82 Damit, so ließe sich zusammenfassen, antizipiert Hegel die „Transfiguration der Philosophie“,83 welche dann als Reaktion auf seine Rhetorik der systematischen Vollendung der Philosophie zu vollem Ausdruck gelangen wird. Gleichwohl hat die Literarisierung der posthegelianischen Philosophie auch philosophieexterne Gründe. Sie antwortet auf einen medialen Strukturwandel, der weite Kreise zieht. Seit Feuerbach, so Konersmann, „steht die Philosophie vor einem Dilemma: Ignoriert sie die neuen Diskursbedingungen der Moderne, drohen ihr Unzeitgemäßheit und Nichtbeachtung; stellt sie sich ihnen. . . setzt sie ihre Kenntlichkeit und sogar ihre Identität aufs Spiel“.84 Die hier beschriebenen Ent-
79 Vriese, „The End of Metapysics as a Transformation of Culture?“, a. a. O., S. 322. 80 „Das leichteste ist, was Gehalt und Gediegenheit hat, zu beurteilen, schwerer, es zu fassen, das schwerste, was beides vereint, seine Darstellung hervorzubringen.“ G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in TWA, Bd. 3, S. 13. 81 Henry Sussman, The Hegelian Aftermath. Readings in Hegel, Kierkegaard, Freud, Proust, and James, Baltimore und London: The John Hopkins University Press 1982, S. 19. 82 Ebd. (meine Übers.). 83 Ebd., S. 4. 84 Konersmann, „Zuletzt und verspätet“, a. a. O., S. 227.
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würfe einer Philosophie nach der Philosophie sind Reaktionen auf dieses Dilemma: „Wenn sie in der Moderne ankommen und es mit der Spezifik ihrer Probleme aufnehmen will, so lautet die Forderung, dann muß die Philosophie sich als Theorietyp neu erfinden.“85
1.5 Kierkegaard – ein Philosoph nach der Philosophie? Kierkegaards Werk entsteht ungefähr zeitgleich mit Bruno Bauers Proklamation des ‚Endes der Philosophie‘, mit Feuerbachs Entwurf einer ‚neuen Philosophie‘, Marx’ Projekt einer ‚Verwirklichung der Philosophie‘ und Hess’ Überlegungen zu einer ‚Philosophie der Tat‘. Ob seine Schriften auch sachlich in diesen Kontext gehören, gilt es im folgenden zu diskutieren. Kierkegaard, so die These der Studie, laboriert auf seine Weise an einer Philosophie nach der Philosophie. Auch seine Schriften sind kulturkritisch motiviert und permanent auf die zeitgenössische Situation bezogen. Wie die Junghegelianer ist Kierkegaard überzeugt, daß das 19. Jahrhundert sich in einer unvergleichlichen und umfassenden Krise befindet: Die „Auflösung des Altertums“, so der Däne im Sommer 1848, erscheine geradezu harmlos im Vergleich mit der „weltgeschichtliche[n] Katastrophe“, welche das 19. Jahrhundert erlebe. Wie Bauer zieht Kierkegaard eine Parallele zwischen den politischen Ereignissen und der Situation der Philosophie, wenn er feststellt, „jedes System wurde gesprengt“86 . Auch Kierkegaard verkündet das Ende der hegelianisch-systematischen Philosophie, wenn er betont, „daß es eine Zeit der Auflösung war; daß gerade ‚das System‘. . . nicht, wie die Systematiker es äußerst bequem verstanden, bedeutete, daß jetzt die Vollendung nahe war, sondern daß just das ‚System‘ wie eine Frucht der Überreife auf den Untergang deutete.“87 Kierkegaards Pseudonyme wenden sich kritisch gegen das idealistische Systemdenken und die Hegelsche Annahme eines telos der Geschichte, in das sich sämtliche Begebenheiten einzufügen hätten. Sie betonen die „Ohnmacht des Be-
85 Konersmann, „Zuletzt und verspätet“, a. a. O., S. 237. 86 SKS 16, 49 / GWS, 64; vgl. Bruce H. Kirmmse, „Kierkegaard and 1848“, History of European Ideas 20, 1995, S. 167–175, S. 167f. 87 „At det var Opløsningens Tid; at just ‚Systemet‘. . . ikke, som Systematikerne behageligst forstode det, betydede, at nu var Fuldendelsen naaet, men at just ‚Systemet‘ som en Overmodenhedens Frugt tydede paa Undergang.“ Søren Kierkegaard, „Optegnelser til ‚Synspunktet for min Forfatter – Virksomhed‘ og ‚Tre Noter betræffende min Forfatter – Virksomhed‘“, in Søren Kierkegaards Papirer, hg. von P. A. Heiberg und V. Kuhr, Bd. 9, Kopenhagen: Gyldendal 1920, S. 347– 380, S. 363 (meine Übers.).
1.5 Kierkegaard – ein Philosoph nach der Philosophie? | 31
griffs im Verhältnis zur Wirklichkeit“88 und ziehen über Hegel als den „kommandierende[n] General der Weltgeschichte“ her.89 Der „Vogelschau des Metaphysischen“90 kehren sie demonstrativ den Rücken und wenden sich stattdessen dem einzelnen Menschen in seiner konkreten Existenz zu. Dessen Entfremdung, seine moderne Erfahrung des Nichts,91 bildet das Zentrum der Schriften Kierkegaards, sei es phänomenologisch in der Untersuchung der Verzweiflungsformen in der Krankheit zum Tode, kulturkritisch in der Literarischen Anzeige oder seelsorgerisch in den Erbaulichen Reden. Das Nichts und dessen Zumutung für das „Interesse der Subjektivität“ läßt die Metaphysik stranden,92 und so führt Kierkegaard wie die Junghegelianer das von Hegel in der Logik entwickelte Projekt einer Vollendung der Metaphysik ad absurdum. Damit besiegelt auch Kierkegaard das Ende der herkömmlichen Metaphysik, denn, so Elisabeth Gräb-Schmidt, „das Nichts ist die Erfahrung des Einzelnen, die nicht verallgemeinert und damit nicht im Medium des Begriffs, der als Begriff alles einzelne subsumiert, abgebildet werden kann. Genau diese Schwierigkeiten kennzeichnen die Gefährdungen, ja besser noch: das Ende der Metaphysik“93 . Daß nicht nur Metaphysikkritik, sondern auch der Gedanke der Posteriorität von Anfang an zentral ist für Kierkegaards Denken, zeigen die frühen Journale, in 88 SKS 11, 230 / KT, 120. 89 SKS 1, 266 / BI, 229. 90 SKS 27, 233, Papir 264:1 / T1, 228. 91 Vgl. die in der Wiederholung zum Ausdruck kommende Verzweiflung des ‚jungen Menschen‘: „Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welchem Lande man ist, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts. Wo bin ich? Was heißt denn das: die Welt? Was bedeutet dies Wort? Wer hat mich in das Ganze hineinbetrogen, und läßt mich nun dastehen? Wer bin ich?. . . Wie bin ich Teilhaber geworden in dem großen Unternehmen, das man die Wirklichkeit nennt?“ SKS 4, 68 / W, 70f. 92 Vgl. SKS 4, 324 / BA, 16 (Anm.). 93 Elisabeth Gräb-Schmidt, „Die Rationalität von Kierkegaards Theologie. Zur philosophischen Funktion der Selbstbezeichnung Kierkegaards als religiöser Schriftsteller“, Kierkegaard Studies Yearbook, 2007, S. 22–45, S. 27. Laut Gräb-Schmidt zeigt sich bei Kierkegaard die spezifisch moderne „Neukonstellation des philosophischen Fragens“, das sich nach der Destruktion der Gottesbeweise nicht mehr auf einen letzten Grund beziehen könne. Die damit verbundene Problematisierung der Wahrheitsfähigkeit von Aussagen spiegele sich in Kierkegaards Praxis des indirekten Mitteilens: Urteile basieren nicht mehr auf einer seinshaften Entität, sondern müssen vom Leser selbst vollzogen werden. Damit habe Kierkegaard die sprachphilosophische Konsequenz der Metaphysikkritik antizipiert; ebd., S. 28–33. Zu dem Paradigmenwechsel, der innerhalb des metaphysischen Problembewußtseins von der spekulativen Vernunft- zu einer analytischen Sprachreflexion stattfindet, siehe Dirk Westerkamp, „Die andere Sprache. Zur Genese der grammatischen Metaphysikkritik“, in Metaphysik und Moderne. Ortsbestimmungen philosophischer Gegenwart, Festschrift für Claus-Artur Scheier, hg. von dems. und Astrid von der Lühe, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 83–104.
32 | 1 Philosophie nach der Philosophie
denen er grundsätzliche Überlegungen zu dem Verhältnis von Philosophie und Christentum anstellt. Schon der junge Kierkegaard ist skeptisch gegenüber der rationalen Aufhebung des Christentums in der Philosophie, wie Hegel sie propagiert, aber er ist ebenso kritisch gegenüber der Praxis des institutionalisierten Glaubens. Sowohl die Philosophie als auch das Christentum sind an ein Ende gelangt, so das Fazit von Kierkegaards Bestandsaufnahme. Es gilt, eine „Philosophie nach dem Christentum“94 zu finden. Diese frühen Überlegungen unterstützen auch die These, daß Kierkegaards Selbstbezeichnung als ‚religiöser Schriftsteller‘ nicht notwendig als Absage an philosophisches Denken zu interpretieren ist – oder gar als Grund dafür herhalten darf, ihn als Nichtphilosophen zu kennzeichnen. Vielmehr ist diese Selbstbeschreibung eine Verlegenheitslösung, ein Problemindikator für die Situation, in der sich die Philosophie zu Beginn des 19. Jahrhundert befindet: Nachträglichkeit in Hinblick auf die von Hegel proklamierte philosophieinterne Vollendung, aber auch Posteriorität bezüglich des Scheiterns der traditionellen Philosophie in Konfrontation mit den philosophieexternen Anforderungen, welche die moderne Kultur an diese heranträgt. In einer Zeit, in der Philosophie als abgeschlossen erscheint und in welcher die Theologie sich entweder vollkommen assimiliert und spekulativ wird oder auf den Gefühlsbereich verweist,95 ist Kierkegaards Selbstbezeichnung als „religiöser Schriftsteller“96 die logische Konsequenz, um nach Hegel philosophieren zu können. Kierkegaards Geste ist alles andere als unphilosophisch – sie ist vielmehr charakteristisch für die Bemühungen um eine Philosophie nach der Philosophie. Dies verdeutlicht Feuerbachs Beschreibung der neuen Philosophie als „sich selbst verleugnende Philosophie“: „Im Gegensatze zu dieser auf die Form erpichten Philosophie behaupten wir gerade, daß uns die sich
94 SKS 17, 30, AA:13 / DSKE 1, 31. Deuser akzentuiert in seiner Interpretation der diesbezüglichen Aufzeichnungen im Journal AA stärker die von Kierkegaard betonte Konkurrenz zwischen Philosophie und Christentum. Kierkegaard beziehe jedoch nicht eindeutig Stellung, sondern versuche bis zum Schluß einen „doppelten Zugang“; Hermann Deuser, „‚Philosophie und Christentum lassen sich doch niemals vereinen‘. Kierkegaards theologische Ambivalenzen im Journal AA/BB (1836–1837)“, Kierkegaard Studies Yearbook, 2003, S. 1–19, S. 17. Gräb-Schmidt dagegen interpretiert die Journaleinträge als Ausdruck von Kierkegaards Suche nach einer „neuen Philosophie“; Gräb-Schmidt, „Die Rationalität von Kierkegaards Theologie“, a. a. O., S. 38. 95 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Ueber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), in Friedrich Schleiermacher’s Sämmtliche Werke, Abt. 1–3, Berlin: Reimer 1834–1864, Abt. 1, Bd. 1, S. 133–460, bes. S. 214–216. 96 Vgl. SKS 16, 23 / GWS, 34.
1.5 Kierkegaard – ein Philosoph nach der Philosophie? | 33
selbst verleugnende Philosophie, die Philosophie, der man es nicht ansieht, daß sie Philosophie ist, die wahre ist.“97 Die literarischen Formen, in die sich Kierkegaards Denken kleidet, sind daher im Rahmen einer Philosophie nach der Philosophie zu interpretieren. Sie schützen diese vor Identifizierung mit der epigonalen Universitätsphilosophie, von welcher sich Kierkegaard wie seine junghegelianischen Zeitgenossen immer wieder abgrenzt. Durch ihre Literarizität verweigern Kierkegaards Schriften – zumindest zu seiner Zeit – die akademische Diskussion und sperren sich der Reintegration in den traditionellen philosophischen Diskurs. Aus Kierkegaards Perspektive ist es nicht nötig, sich mit der Argumentation der spekulativen Philosophie ernsthaft auseinanderzusetzen, verfehle diese doch von vornherein das, worauf es wirklich ankomme: die individuelle Existenz. Das Projekt, der Hegelschen Philosophie nur noch mit Polemik zu begegnen, markiert performativ die Grenze des Absolutheitsanspruches einer Philosophie, die Hegel vollendet zu haben glaubt. Auch wenn die Einbettung Kierkegaards in den Kontext einer Philosophie nach der Philosophie an dieser Stelle kaum mehr als eine grobe Skizze darstellt, so sollte doch deutlich geworden sein, daß sein Werk die Merkmale einer solchen Philosophie trägt. Wie Marx und Engels, Feuerbach, Cieszkowski und Hess arbeitet auch Kierkegaard unter dem mächtigen Vorzeichen der Hegelschen Philosophie. Auch er zelebriert das Ende der Philosophie im hegelianischen Sinne, inszeniert sein eigenes Zuspätkommen und verweigert die Integration in den Diskurs der sogenannten Universitäts- oder Schulphilosophie. Seine Philosophie nach der Philosophie erhält ihre Motivation aus einer durchgreifenden Kulturkritik: Die Entfremdungserfahrungen der modernen Lebenswelt werden von Kierkegaard in das Zentrum seines Schaffens gestellt; auch bei ihm werden politische, soziale und kulturelle Veränderungen nicht aus dem philosophischen Denken ausgeschlossen, sondern erhalten theoretische Valenz. Es ist Karl Löwith gewesen, der zum ersten Mal Kierkegaard in die Reihe derer gestellt hat, für welche die Zurückweisung des Hegelschen Versöhnungsanspruches ein entscheidendes Moment ihres Denkens darstellt und welche explizit an einer Abkehr von Hegel gearbeitet haben: „Diesen Bruch hat Feuerbach ebenso entschieden vollzogen wie Marx und B. Bauer nicht minder als Kierkegaard, nur auf verschiedene Weise. . . Worauf immer sie das bestehende Christentum reduzieren, sie destruieren gemeinsam die bürgerlich-christliche Welt und damit auch Hegels philosophi-
97 Feuerbach, „Zur Beurteilung“, a. a. O., S. 238 (Anm.). Konersmann zeichnet Feuerbach als eine Art Galionsfigur der ‚Philosophie nach der Philosophie‘ aus; Marx folge Feuerbachs Vorbild wenig später mit seiner „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ (1843) und den „Thesen über Feuerbach“ (1845); Konersmann, „Zuletzt und verspätet“, a. a. O., S. 227.
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sche Theologie der Versöhnung.“98 Folgt man Löwith, dann sind das sogenannte Kommunistische Manifest und Kierkegaards ein Jahr später erscheinende Literarische Anzeige (1848) nur zwei Seiten des gleichen Destruktionsvorhabens. Die Untersuchung Löwiths gilt den folgenden Überlegungen als Basis. Dabei gewinnt jedoch auch das, was Kierkegaard von den Junghegelianern unterscheidet, an Signifikanz – so zeigt sich z.B. die Spezifik des Kierkegaardschen Entwurfes einer Philosophie nach der Philosophie an dessen Umgang mit der Masse. Das herkömmliche Verständnis, gemäß dem Marx auf die Masse des Proletariats, Kierkegaard dagegen auf den Einzelnen setze, entpuppt sich als unhaltbare Simplifizierung.99 Kierkegaard widmet sich auf seine Weise der Praxis und der Verwirklichung der Philosophie. Auch er will zum Entschluß bewegen und handlungsinitiierend sein, auch er bedient sich der populären Metapher der „Gärung“, wenn er, nicht ohne Wortwitz, moniert, seine Zeit sei eine der Gärung („Gjæring“) und nicht der Handlung („Gjerning“).100 Kierkegaard deswegen kurzerhand als ‚Philosophen der Tat‘ zu etikettieren, wäre jedoch ebenso vorschnell, wie ihn generell als Marx’ Bruder im Geiste zu verstehen. Davon sollen die folgenden Kapitel auch nicht handeln. Die Merkmale der Philosophie der Tat, wie sie Stuke aufgestellt hat,101 oder einer Philosophie nach der Philosophie, wie sie hier entwickelt worden sind, dienen vielmehr als hermeneutische Werkzeuge, um Kierkegaards Werk als Philosophie innerhalb eines philosophie- und kulturgeschichtlichen Kontextes zu verstehen. Nicht zuletzt ermöglicht dies, seinem Œuvre – pseudonym- und ‚stadienübergreifend‘ – sowie seiner Selbstinszenierung als religiösem Schriftsteller philosophische Relevanz zuzusprechen. In diesem Sinne sei mit Kierkegaards Kulturkritik der Anfang gemacht.
98 Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, a. a. O., S. 69. 99 Ebd., S. 195. 100 SKS 1, 27 / LP, 57. 101 Vgl. Stuke, Philosophie der Tat, a. a. O., S. 249.
2 Kierkegaards Kulturkritik 2.1 Kulturkritik – zum Begriff Die Kulturkritik, auf welche sich die genannten Bemühungen um eine Philosophie nach der Philosophie gründen, kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Diese ist zwar nicht kanonisiert und philosophisch alles andere als etabliert, jedoch hat sie Topoi und Begründungsstrukturen entwickelt, die schon immer Herausforderungen für die Philosophie dargestellt haben und die auch das Selbstverständnis der hier beschriebenen posthegelianischen Philosophie wesentlich prägen. Auch für Kierkegaards Werk ist die von Konersmann beobachtete „Wechselbeziehung von Kulturkritik und Philosophie“102 konstitutiv; das zeigen die folgenden Kapitel. Wenn Kierkegaards Werk in dieser Hinsicht untersucht wird, dann gilt es vorerst zu klären, was überhaupt mit ‚Kulturkritik‘ gemeint ist, schließlich ist der Begriff „extensional grenzunscharf, intensional ungeordnet und heterogen“103 . Meist dient ‚Kulturkritik‘ schlichtweg als Sammelbecken für „Verlustgeschichten und Pathologiebefunde, die sich unter Berufung auf bessere Zeiten gegen die eigene Zeit richten“104 . In den gegenwärtigen Diskursen über die Moderne ist die philosophische Kulturkritik jedoch zu theoretischer Relevanz avanciert. Sie verfügt über bestimmte Merkmale, und sie läßt sich abgrenzen von verwandten Erscheinungen wie dem gegenwartskritischen Kommentar oder dem Ressentiment. Während ersterer einzelne Krisenerscheinungen isoliert in den Blick nimmt, bezieht sich die Kulturkritik auf einen größeren Zusammenhang – sie zeigt Geschichtsbewußtsein. Laut Gilbert Merlio und Gérard Raulet ist der Begriff der Kulturkritik daher für eine „strukturelle Kritik“105 zu reservieren, die sich skeptisch mit dem Fortschrittsgedanken auseinandersetzt. Im Unterschied zu dem Ressentiment, das irritierende Veränderungen rigoros aus dem Weg räumt, um sich weiterhin „mit sich
102 Ralf Konersmann, Kulturkritik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 26. 103 Georg Bollenbeck, „Kulturkritik – ein Reflexionsmodus der Moderne?“, Zeitschrift für Kulturphilosophie (ZKph) 1.2, 2007, S. 201–209, S. 201 104 Ebd. Der folgende Überblick über die philosophische Kulturkritik ist eine gekürzte und modifizierte Version meines Beitrages „Kulturkritik“, in Handbuch Kulturphilosophie, hg. von Ralf Konersmann, Stuttgart und Weimar: Metzler 2012, S. 46–53. 105 Gilbert Merlio und Gérard Raulet, „Einleitung“, in Linke und rechte Kulturkritik. Interdiskursivität als Krisenbewußtsein, hg. von dens., Frankfurt/Main: Lang 2005, S. 7–21, S. 10.
36 | 2 Kierkegaards Kulturkritik
selbst und der Welt im Einklang zu fühlen“106 , ist die Kulturkritik selbstkritisch und stellt ihre eigenen Grundlagen in Frage. Häufig irritiert die Kulturkritik ob ihrer Form: Sie hält sich nicht an die Grenzen der Disziplinen, provoziert durch die inszenierte Authentizität ihrer Sprecher und greift auf vielfältige literarische Mittel zurück, um ihrem Einspruch Evidenz zu verleihen. Vor allem die Metaphorik der Krankheit und des Krieges strukturiert das semantische Feld der modernen Kulturkritik. Auch wenn die Geschichte der philosophischen Kulturkritik eher mäandert als gradlinig verläuft und viele ihrer Verzweigungen immer noch ein Forschungsdesiderat darstellen,107 so lassen sich doch Topoi, Erzählmuster und Argumentationsstrategien aufzeigen, die immer wieder variiert werden und deren Abweichungen und Modifikationen aufschlußreich sind für den spezifischen Begründungszusammenhang der jeweiligen Kritik und die philosophische Position des Kritikers. Im folgenden werden diejenigen Topoi angesprochen, welche in Hinblick auf die Analyse der Kulturkritik Kierkegaards bedeutsam sind: Restitution, Bildung und Wissen, Entfremdung und Authentizität sowie Masse und Publikum. Hierbei wird mehrmals auf Rousseau verwiesen. Rousseau ist nicht nur die „erste und vernehmlichste Stimme“108 der prägnanten Verbindung von Kultur und Kritik, die sich Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt. Er hat die Frage nach dem Fortschritt des Menschen, der Wiederherstellung eines besseren Zustandes und Überlegungen zur Rolle von Gesellschaft und Bildung „protoexistentialistisch“ zugespitzt109 und kann daher als Wegbereiter Kierkegaards gelten. Eine, wenn nicht die zentrale Figur in dem kulturkritischen Diskurs ist der Gedanke der Restitution. Basierend auf der Überzeugung, daß alle Kultur Hybriskultur sei, verweist ‚Restitution‘ auf den ursprünglichen Zustand einer natura incor-
106 Konersmann, Kulturkritik, a. a. O., S. 111; vgl. Sören Stenlund, „Philosophie und Kulturkritik“, Zeitschrift für Kulturphilosophie (ZKph) 1.2, 2007, S. 211–222, S. 217. 107 Einen Überblick über die Hauptstationen bietet Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Jean-Jacques Rousseau bis Günther Anders, München: Beck 2007; vgl. auch Theo Jung, Zeichen des Verfalls. Semantische Studien zur Entstehung der Kulturkritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen et al.: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 108 Konersmann, Kulturkritik, a. a. O., S. 50. Zur Etymologie des Kompositums und seiner Bestandteile cultura und krinein siehe ebd., S. 39–52. Zur Geschichte des Kritikbegriffs vgl. Helmut Holzhey, „Kritik“, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 1–13, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971–2007, Bd. 4, Sp. 1249–1282 sowie Kurt Röttgers, „Kritik“, in Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon politisch-sozialer Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. 1–8, Stuttgart: Klett-Cotta 1972–1997, Bd. 3, S. 651–675; sowie ders., Kritik und Praxis, Berlin und New York: de Gruyter, 1975, bes. Kapitel 9. 109 Bollenbeck, „Kulturkritik – ein Reflexionsmodus der Moderne?“, a. a. O., S. 97.
2.1 Kulturkritik – zum Begriff | 37
rupta. Diese immer wieder bemühte Figur der Wiederherstellung hat jedoch schon früh einen Twist erhalten: In seinem 90. Brief an Lucilius beklagt Seneca den Verlust eines Goldenen Zeitalters, geschuldet der Wissensgier und Habsucht. Zwar folgt Seneca den Schilderungen des Stoikers Posidonius, aber im Unterschied zu diesem differenziert er zwischen technischem Wissen (sagacitas) und Weisheit (sapientia). Nur ersteres sei verantwortlich für den Verlust des natürlichen Maßes, die Weisheit dagegen könne durch ihr Bewußtsein für den kosmischen Ordnungszusammenhang den Menschen wieder zur Harmonie führen. Dieses scheinbar simple Plädoyer für die Restitution des Goldenen Zeitalters durchkreuzt Seneca jedoch: Die Tugenden – das, was den Menschen eigentlich ausmache – seien erst das Ergebnis des bewußten Umgangs mit den Verlockungen der Zivilisation. Die Philosophie, welche ein gelungenes Leben ermöglicht, ist Seneca zufolge ebenfalls durch diese Sekundarität gekennzeichnet.110 Auch Rousseau, der immer wieder als Gewährsmann für ein ‚Zurück zur Natur‘ herhalten muß, läßt über den hypothetischen Charakter des Naturzustandes keinen Zweifel: Es handele sich um einen Zustand, „den es nicht mehr gibt, vielleicht nie gegeben hat und wahrscheinlich nie geben wird, über den man aber dennoch rechte Begriffe nötig hat, um den jetzigen Zustand richtig beurteilen zu können“111 . Rousseau rekurriert auf den Naturzustand, um die schädliche Wirkung von Kulturtechniken illustrieren zu können. Er spricht sich dabei jedoch nicht gegen zivilisatorischen Fortschritt und Bildung generell aus, sondern gegen einen falschen Umgang mit den Wissenschaften, für welche nicht jeder tauge. Damit ist ein weiterer Topos der Kulturkritik angesprochen: der Einspruch gegen bloße Wissensquantifizierung und gegen ein Bildungsideal, das den Menschen von sich selbst entfremdet. Hierzu gehören ebenso Nietzsches Polemik gegen den stillosen und handlungslahmen ‚Bildungsphilister‘ wie Schillers Bemängelung einer ‚Zerstückelung‘ des Wesens des Menschen im zivilisatorischen Pro-
110 Zur Figur der Apocatastasis und Senecas „begrifflicher Urzeugung“ siehe Konersmann, „Kulturphilosophie“, a. a. O., 15f. Ralf Konersmann, „Kulturkritik und Wiederherstellungserwartung“, Lili 161, Jg. 41, 2011, S. 59–76. 111 Jean-Jacques Rousseau, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen. 1755, in Schriften zur Kulturkritik, hg. von Kurt Weigand, 4. Aufl., Hamburg: Meiner 1983 [1955], S. 61– 269, S. 67. Rousseau bezichtigt Vertreter der Naturrechtslehren wie Hobbes und Locke einer petitio principii – sie hätten bei dem Versuch, die Natur des Menschen aus ihren Zeitgenossen zu destillieren, vergessen, daß viele der menschlichen Verhaltensweisen erst ein Ergebnis des kritisierten Zivilisationsprozesses seien. Wie Paul Geyer zeigt, entlarvt der zweite Diskurs damit das naturrechtliche Kriterium des aufklärerischen Kritikbegriffs, wie er sich in der Encyclopédie d’Alemberts und Diderots findet, als „illusorische Projektion.“ Paul Geyer, „Kritik des Kritikbegriffs“, in Proteus im Spiegel. Kritische Theorie des Subjekts im 20. Jahrhundert, hg. von Paul Geyer und Monika Schmitz-Emans, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 27–41, S. 31.
38 | 2 Kierkegaards Kulturkritik
zeß der Spezialisierung.112 Aber auch hier findet sich wieder eine typische Ambivalenz der neuzeitlichen Kulturkritik, welche die Irreversibilität der Kultur anerkennt: Aus der Kritik an der Kultur hat sich eine Kritik in der Kultur entwickelt, „die das Pensum der Restitution unmittelbar der Kultur selbst und speziell der philosophischen Besinnung anvertraut“.113 Die moderne Kulturkritik muß also ihre Kriterien selbst hervorbringen und das kulturkritische ‚Außen‘ als Referenzpunkt konstruieren, das hat bereits die reflexive Artifizialität von Rousseaus Naturzustand gezeigt. Auch die vermeintlich selbstevidente Authentizität des Menschen ist davon betroffen: Klagen über seine Entfremdung sind immer mit der Frage konfrontiert, was ihm wirklich eigentümlich sei. Hier treten Definitionen ex negativo auf den Plan, und in der Neuzeit ist es vor allem die ‚Masse‘ – als abstraktes Publikum und öffentliche Meinung wie als konkrete Ansammlung einer Menschenmenge –, in deren Abgrenzung sich Authentizität als Individualität konstituiert. Wieder ist Rousseau wegweisend: Mit seiner Geringschätzung der „Herde, die man Gesellschaft nennt“114 , hat er einen weiteren Topos der Kulturkritik geprägt. Daß er massenpsychologische Dynamiken mit scheiternden Selbstverhältnissen verknüpft – „man wagt nicht mehr als der zu erscheinen, der man ist“ –, hat ihm sogar den Ruf eingetragen, Entfremdungstheoretiker avant la lettre zu sein.115 Wenn der Kritiker rigoros auf das Ganze abzielt, dann stellt sich unmittelbar die Frage, warum seinem Urteil zu trauen sei und warum es nicht selbst von dem umfassenden Übel affiziert sein solle. Der Verweis auf den Zeitgeist, dessen Statthalter oder, wie im Falle Nietzsches, dessen Stiefkind man sei, ebenso wie Rousseaus Berufung auf die selbstevidente und übermächtige Autorität einer Stimme des Herzens dienen der Rechtfertigung der Position des Kritikers.116 Auch die Demonstration radikaler Authentizität fungiert als Garant der Immunität des Spre-
112 Friedrich Nietzsche, „Unzeitgemäße Betrachtungen I: David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller“, in KGW, Abt. 3, Bd. 1, S. 155–238, S. 163; Friedrich Schiller, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, in Sämtliche Werke in zehn Bänden, hg. von Hans-Günther Thalheim, Bd. 8, Neuaufl., Berlin: Aufbau Verlag 2005 [1980–1990], S. 305–408, 322f. 113 Konersmann, „Kulturkritik und Wiederherstellungserwartung“, a. a. O., S. 70. 114 Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Wissenschaften und Künste, in Schriften zur Kulturkritik, hg. von Kurt Weigand, 4. Aufl., Hamburg: Meiner 1983 [1955], S. 1–59, S. 11. 115 Ebd. Die Charakterisierung Rousseaus als Entfremdungstheoretiker hat Rahel Jaeggi vorgenommen; Rahel Jaeggi, Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt/Main: Campus-Verlag 2005, S. 24. 116 Friedrich Nietzsche, „Unzeitgemäße Betrachtungen III: Schopenhauer als Erzieher“, in KGW, Abt. 3, Bd. 1, S. 333–423, S. 358. Zu Rousseaus Berufung auf die Stimme seines Herzens siehe Konersmann, Kulturkritik, a. a. O., S. 75.
2.2 Nach Rousseau: Kierkegaards Kritik der Kultur | 39
chers. Er überzeugt durch sein Auftreten, durch die Inszenierung einer Kompromißlosigkeit, die ihm selbst zum Schaden geraten kann. Auch hier hat Rousseau den Anfang gemacht: Folgt man seinen Confessiones, so habe er das Wagnis auf sich genommen, als derjenige aufzutreten, der er wirklich gewesen sei – und das habe ihm inmitten seiner konformen und opportunistischen Zeitgenossen eine außerordentliche Perspektive ermöglicht. Rousseau beharrt zudem auf seiner eigenen Außergewöhnlichkeit: Er sei wie niemand, den er sonst kenne.117 Daraus läßt sich jedoch kein absolutes Kriterium für seine Kritik ableiten; ein verbindliches Menschenbild steht nicht mehr zur Verfügung. Es gehört zu den Zumutungen des modernen Menschen, dieses aus sich selbst generieren zu müssen. Notfalls zählt allein die subjektive Einzigartigkeit: Wenn ich auch, so Rousseau, „nicht besser bin, so bin ich wenigstens anders“118 .
2.2 Nach Rousseau: Kierkegaards Kritik der Kultur Kierkegaards Verweise auf Rousseau sind spärlich. Das heißt jedoch nicht (wie von der Forschung zumeist angenommen), daß dieser keine Rolle für die Konzeption von Kierkegaards Philosophie gespielt hat.119 In den expliziten Erwähnungen verwendet Kierkegaard seinen kulturkritischen Vorgänger vor allem zur Ab-
117 „Ich lese in meinem Herzen und kenne die Menschen. Ich bin nicht wie einer von denen geschaffen, die ich gesehen habe; ich wage sogar zu glauben, daß ich nicht wie einer der Lebenden gebildet bin.“ Jean-Jacques Rousseau, Die Bekenntnisse, übers. von Alfred Semerau und Dietrich Leube, in Werke, Bd. 1–4, München: Artemis & Winkler 1978–1981, Bd. 2, S. 9. 118 Ebd.; vgl. Geyer, „Kritik des Kritikbegriffs“, a. a. O., S. 34f. 119 In Kierkegaards Bibliothek befanden sich Rousseaus Émile in französischer wie dänischer Version sowie die Bekenntnisse in der dänischen Übersetzung; vgl. Auktionsprotokol over Søren Kierkegaards Bogsamling, hg. von H.P. Rohde, Kopenhagen: Det Kongelige Bibliotek 1967, S. 61f., S. 100 (ASKB 939–43; 1922–25). Zur Rezeption Rousseaus durch Kierkegaard siehe Ronald Grimsley, „Kierkegaard and Rousseau“, in ders., Kierkegaard and French Literature. Eight Comparative Studies, Cardiff: University of Wales Press 1966, S. 89–111. Rezeptionsgeschichtliche Forschungen konstatieren meist eine fehlende systematische Lektüre der Schriften Rousseaus durch Kierkegaard; tonangebend für diese Sicht ist die Studie von Olaf Carlsen, Rousseau og Danmark. Et paedagogik- og laerdomshistorisk laengdesnit til belysning af Rousseaus indflydelse på dansk paedagogik til 1900, Aarhus: Universitetsforlaget 1953, bes. S. 152. Vincent A. McCarthy folgt Carlsen, zieht jedoch ein noch deutlicheres Fazit – es gebe „keinerlei Gründe zu der Annahme, daß Rousseau irgendeinen wirklichen Einfluß auf Kierkegaard gehabt habe, weder direkt noch indirekt“; Vincent A. McCarthy, „Jean-Jacques Rousseau: Presence and Absence“, in Kierkegaard and the Renaissance and Modern Traditions, Tome I, Philosophy, hg. von Jon Stewart, Aldershot: Ashgate 2009 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 5), S. 147–165, S. 160 (meine Übers.).
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grenzung. So legt er in einem Journaleintrag mit dem Titel „Rousseau“ dar, warum Rousseau in seinen Klagen über die entfremdete Gesellschaft demonstriere, daß er das „christliche Ideal“ eines selbstlosen Leidens für andere nicht verstanden habe.120 In Kierkegaards Verständnis ist Rousseaus Kulturkritik von Egoismus und Hochmut getragen – also von genau dem, so könnte man ergänzen, was Rousseau einst seinen Zeitgenossen vorgeworfen hat. Aufgrund von Eigenliebe, so ein weiterer Journaleintrag von 1851, habe sich Rousseau von den Menschen abgewandt und sei in die Gegenwelt der Natur geflüchtet. Kierkegaard versteht Rousseaus Emphase einer natura incorrupta nicht als rhetorische Strategie einer postrestitutiven Kritik; vielmehr begreift er sie als Indiz für Rousseaus scheiternde Existenz. Er stilisiert Rousseau zum Negativvorbild, zu einem Repräsentanten des 19. Jahrhunderts avant la lettre, für den Weltflucht und Resignation bequeme Reaktionsweisen auf die Herausforderungen der Moderne darstellen. Die Abwertung Rousseaus dient zudem der Konstitution von Kierkegaards Leitbild Sokrates. Rousseau wird als Strohmann in Stellung gebracht, im Verglich mit dem sich das Sokratische Philosophieren umso deutlicher kennzeichnen läßt: Erst habe Sokrates sich, so Kierkegaard über den antiken Denker, mit der Natur beschäftigt, dann sei er fortgeschritten zu einer Auseinandersetzung mit den Menschen. Dabei sei Sokrates geblieben, während es in der modernen Zeit umgekehrt verlaufe: „Man beginnt damit, mit Menschen zu tun zu haben, und dann wird man dessen müde und wendet sich der Natur zu. Beispiel: Rousseau.“121 Rousseau ist jedoch nicht nur als Abgrenzungsfigur für Kierkegaards kulturkritische Philosophie bedeutsam. Die Präferenz für bestimmte Themen und die Art ihrer Behandlung sprechen für eine tiefere Inspiration Kierkegaards durch den Franzosen. Sie legen es nahe, Kierkegaard in die Tradition einer philosophischen Kulturkritik zu stellen, die in moderner Form bei Rousseau ihren Anfang nahm.
2.2.1 Kulturkritik als Gottesdienst Kierkegaard will seine Schriften als Kulturkritik göttlicher Provenienz verstanden wissen. Rückblickend stellt er in der posthum veröffentlichten Schrift Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller sein Werk als Ausführung eines göttlichen Auftrages dar: Jedoch indem ich nun die Feder in die Hand nehme, vermag ich, so wie man wohl spricht[,] man könne den Fuß nicht rühren, gleichen Augenblicks nicht sie zu rühren; in diesem Zu-
120 SKS 24, 311, NB23:214 / T 4, 311. 121 SKS 24, 364, NB24:70 / T 5, 23f. (Übers. geringfügig geändert).
2.2 Nach Rousseau: Kierkegaards Kritik der Kultur |
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stande kommt über das[,] was jenes Verhältnis betrifft[,] nicht eine Zeile zu Papier. Mir ist[,] als hörte ich eine Stimme, die zu mir sagt: dummer Mensch, was bildet er sich ein, weiß er nicht, daß Gott an Gehorsam mehr Lust hat denn am Fett von Widdern; tue er das Ganze als eine Pflichtarbeit. Da werd’ ich ganz ruhig, da ist auf einmal Zeit[,] jeden Buchstaben mit meiner langsameren Feder zu schreiben, nahezu sorgsam. Und wacht jene Leidenschaft des Dichters einen Augenblick neu in mir auf, so ist mir, als hört’ ich eine Stimme zu mir sagen, so wie ein Lehrer zu einem Schuljungen spricht, wenn er sagt: halt die Feder nur recht ordentlich und schreib jeden Buchstaben gleich genau. Und da kann ich es tun, da trau ich mich nicht anders, da schreib ich jedes Wort, jede Zeile so gut wie ohne vom nächsten Wort, von der nächsten Zeile zu wissen. Und wenn ich es dann hinterdrein lese, so befriedigt es mich dennoch ganz anders. Denn selbst wenn es so wäre, daß vielleicht der eine oder andre glühende Ausdruck mir entwischte, die Hervorbringung ist eine andre, ist nicht aus der Leidenschaft des Dichters oder Denkers, sondern aus der Gottesfurcht, und für mich ein Dienst Gottes.122
Seine ganze Arbeit sei eigentlich nichts anderes gewesen als die eines Kopisten – „die gesamte Schriftstellerei hat in gewissem Sinne eine ununterbrochene Gleichmäßigkeit gehabt, so als ob ich nichts anderes bestellt hätte denn jeden Tag ein bestimmtes Stück aus einem gedruckten Buche abzuschreiben.“123 Auch wenn Kierkegaard immer wieder betont, er spreche „ohne Vollmacht“124 , so kommt seine Selbstdarstellung einem modernen Martyrium doch sehr nahe: Er habe sich gegen die ‚Forderungen der Zeit‘ gerichtet, habe nicht der öffentlichen Meinung nach dem Mund geredet, sondern es gewagt, als einzelner Stellung zu beziehen. Gerade dank des Spottes des ‚Publikums‘ konnte er demonstrieren, was es bedeutet, ein Einzelner zu sein. Immer wieder vermochte er seine Zeitgenossen so auf die Zumutungen einer individuellen Existenz hinzuweisen – und „daß man die Menschen zwinge[,] aufmerksam zu werden und zu urteilen, ist nämlich das Gesetz für das wahre Martyrium“125 . Kierkegaard nimmt für seine Schriften in Anspruch, Wahrheit auszudrücken, und das heißt für ihn, inmitten einer säkularisierten Welt auf der Existenz eines Gottes zu beharren: Der Leser wird jetzt vielleicht darauf aufmerksam werden, warum ich mit so vieler Anstrengung und Aufopferung tagaus tagein daran gearbeitet habe zu verhindern, daß das Unwahre
122 SKS 16, 52f. / GWS, 68f. Hirsch übernimmt weitestgehend die Interpunktion des dänischen Originals. Um die Lesbarkeit zu erleichtern, ist die Zeichensetzung von mir behutsam angepaßt worden; sie wird hier wie auch im folgenden in eckigen Klammern ergänzt. 123 SKS 16, 56 / GWS, 72. Zu der Ambivalenz einer „Stilisierung nach unten“ siehe Sabine Mainberger, Schriftskepsis. Von Philosophen, Mönchen, Buchhaltern, Kalligraphen, München: Fink 1995, S. 76; speziell zu der Metapher des Kopisten in Kierkegaards Selbstinterpretation: ebd., S. 95–100. 124 Vgl. SKS 16, 66 / GWS, 74. 125 SKS 16, 32 / GWS, 45.
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zum Vorschein komme, das Unwahre, welches doch, wie es das immer tut, mir auch Geld verschafft hätte, Ehre, Ansehen, Beifall usw., das Unwahre, daß das, was ich vorzutragen hatte, die ‚Forderung der Zeit‘ [‚Tidens Fordring‘] sei, daß es der nachsichtigen Beurteilung eines hochgeehrten Publikums anheimgestellt sei, item daß es seinen Fortgang ganz allein schulde genanntem hochgeehrten Publikum. . . dem Beifallsklatschen der Gegenwart [Samtidens Bifald]. Gerade umgekehrt mußte ich. . . darüber wachen, daß das Wahre ausgedrückt werde, daß es einzig und allein Gottes Beistand gewesen ist und daß ich weder dem Publikum noch der Gegenwart etwas schulde außer dem, was es mir an Unbill getan hat; das Wahre. . . daß zu einer Zeit, wo alles Generalversammlung und Verein und An-, Ein- und Niedersetzung von Ausschüssen [General-Forsamling og Selskab og Comiteers Op-, Ned- og Hensættelse] war, indessen doch nichts geschah, daß zu dieser Zeit einem einsamen schwächlichen Menschen Fähigkeit und Kraft vergönnt ward[,] nach einem Maßstabe zu arbeiten, der vermuten lassen müßte, daß es mehr sei als die Arbeit bloß eines Ausschusses; kurz, es war religiös meine Pflicht. . . mit meinem Existieren als Schriftsteller [Forfatter-Existeren] das Wahre auszudrücken, des ich jeden Tag gewahr und gewiß worden war, daß ein Gott da ist [at der er en Gud til].126
Wenn Kierkegaard sich auf Gott beruft, dann tritt er damit in keiner Weise als Vertreter der Kirche auf; im Gegenteil, er wendet sich gegen einen institutionalisierten Glauben und attackiert in seinen letzten Lebensjahren sogar explizit die dänische Staatskirche. Kierkegaards Glaubensverständnis stellt die individuelle Existenz in den Mittelpunkt. Seine Kulturkritik, auch wenn sie hinsichtlich der Berufung auf die absolute Instanz eines Gottes anachronistisch anmutet, ist ebenso wie diejenige Rousseaus eine „Säkularisierungskonsequenz“127 . Gott wird dem durch die Kultur korrumpierten Individuum zur Aufgabe: „Wenn ein Existierender nicht den Glauben hat, so ist weder Gott, noch auch ist Gott da, unerachtet Gott doch ewig verstanden ewig ist.“128 Löwith begreift Kierkegaards Gottesbegriff daher als Steigerung der Philosophie Hegels ebenso wie Feuerbachs: „Hegels Satz, daß Gott wesentlich nur ‚im Denken‘ ist, weil der vernommene Geist derselbe wie der vernehmende ist, verwandelt sich so über Feuerbachs Grundsatz vom anthropologischen Wesen der christlichen Wahrheit bei Kierkegaard zu der existentiellen These, daß Gott nur da ist in der Subjektivität und für die Subjektivität eines je eigenen ‚Gottes-Verhältnisses‘.“129
126 SKS 16, 51 / GWS, 66f. (Anm.). Übersetzung geringfügig modifiziert. 127 Als solche beschreibt Konersmann die moderne Kulturkritik; sie sei „das Selbstbeobachtungsorgan der gottverlassenen und ihrer eigenen Zeitlichkeit überantworteten menschlichen Welt“; Konersmann, Kulturkritik, a. a. O., S. 29. 128 SKS 27, 354, Papir 340:10. Die einzige deutsche Übersetzung findet sich in Søren Kierkegaard, Die Tagebücher, ausgewählt und übers. von Theodor Haecker, Bd. 1, Innsbruck: Brenner 1923, S. 284. 129 Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, a. a. O., S. 451.
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Kierkegaards Konzeption eines radikal subjektiven Gottesverhältnisses verweist auf das, was Paul Tillich als „Dimension der Tiefe“130 bezeichnet, etwas, das jeder Inkulturation und Manifestation von spezifischen religiösen Inhalten vorausgeht und zugrunde liegt. Die „religiöse Dimension“, so Tillich, konstituiert „das Sein des Menschen, sofern es ihm um den Sinn seines Lebens und des Daseins überhaupt geht“.131 Sie schwinde jedoch; und Tillich muß der Moderne gegenüber konstatieren, „daß der Mensch die Antwort auf die Frage nach dem Sinn seines Lebens verloren hat, die Frage danach, woher er kommt, wohin er geht, was er tun und was er aus sich machen soll in der kurzen Spanne zwischen Geburt und Tod“.132 Man traue sich nicht mehr, „mit unbedingtem Ernst“ existentielle Fragen zu stellen, nicht einmal mehr, „irgendwelche Antworten auf diese Fragen zu hören“.133 Tillichs Diagnose der modernen Kultur läßt an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig: „Wenn wir Religion als das Ergriffensein von einem letzten, unbedingten Anliegen verstehen, müssen wir eingestehen, daß der typische moderne Mensch sich keines solchen Anliegens bewußt ist. Was man für ein Wiederaufleben der Religion gehalten hat, ist der oft verzweifelte und meist vergebliche Versuch, das Verlorene wiederzugewinnen.“134 Kierkegaards Schriften, so vielfältig sie auch sind, sprechen alle im Namen dieser Tiefendimension. Sie zielen auf das von Tillich konstatierte Ausweichen vor den existentiellen Fragen und auf das Verdrängen des ‚unbedingten Anliegens‘. Auf vielerlei Weise adressieren sie ein Phänomen, welches im folgenden als existentielle Amnesie bezeichnet wird. Sie legen den Finger in die Wunde und beschwören geradezu das moderne Gefühl einer metaphysischen Obdachlosigkeit, wie es z.B. die vielzitierte Klage des ‚jungen Menschen‘ in der Wiederholung aufruft: Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welchem Lande man ist, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts. Wo bin ich? Was heißt denn das: die Welt? Was bedeutet dies Wort? Wer hat mich in das Ganze hineinbetrogen, und läßt mich nun dastehen? Wer bin ich?. . . Wie bin ich Teilhaber geworden in dem großen Unternehmen, das man die Wirklichkeit nennt?135
130 Paul Tillich, „Die verlorene Dimension“, in Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht, Bd. 1–14, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 1959–1975, Bd. 5 (Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie), S. 43–50, S. 44. 131 Ebd. 132 Ebd., S. 43. 133 Ebd., S. 44. 134 Ebd. 135 SKS 4, 68 / W, 70f.
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Kierkegaards Kritik setzt sich mit den Variationen des von Tillich später beschriebenen Verlustes der Tiefendimension bzw. der existentiellen Amnesie auseinander: Verdrängung und Substitution. Die spekulative Philosophie und Theologie des 19. Jahrhunderts tragen laut Kierkegaards Diagnose entscheidend zu der menschlichen Selbstentfremdung bei: Ein popularisierter Hegelianismus setzt an die Stelle individueller Verantwortung und eigenständigen Handelns den vermeintlich notwendigen Gang der Weltgeschichte und des Zeitgeistes, zu deren Sprachrohr sich die Tagespresse stilisiert. Damit verbunden ist Kierkegaard zufolge die Hast des 19. Jahrhunderts, welches sich keiner Sache mehr intensiv und ernsthaft widme. Stattdessen dominiere eine allzu schnelle Bereitwilligkeit, sich einem abstrakten ‚System‘ unterzuordnen oder dessen Vollendung zu verkünden – dies sind kulturelle Phänomene, in denen Kierkegaard Hegels Proklamation des Abschlusses der Philosophie gespiegelt sieht. Die Rigorosität seiner Kritik gründet sich auf der Evidenz der existentiellen Tiefendimension; sie verleiht Kierkegaard einen unerschütterlichen Standpunkt.136 Dies bedeutet jedoch nicht, daß er inhaltliche Kriterien für eine gelungene Existenz ins Feld führt. Die Simplizität der Stadien- oder Sphärentheorie trügt: Die von dieser als Ziel dargestellte christliche Existenz oder ‚Religiosität B‘ ist kein Zustand, für den es allgemeinverbindliche Kriterien gäbe, sondern eine lebenslange Aufgabe, die individuell immer wieder neu zu lösen ist. Kierkegaards Kulturkritik operiert nicht mit fixen Kriterien, sondern sie verweist auf die universelle Struktur der menschlichen Existenz und eine damit verbundene Offenheit der Religiosität: Es gilt, „ganz man selbst zu werden, ein einzelner Mensch, dieser bestimmte einzelne Mensch, einsam Gott gegenüber, einsam in dieser ungeheuren Anstrengung und dieser ungeheuren Verantwortung“137 . Religiosität ist nicht
136 Vgl. Calvin O. Schrag, der Tillich und Kierkegaard aufeinander bezieht: Calvin O. Schrag, „The Kierkegaard-Effect in the Shaping of the Contours of Modernity“, in Social and Political Philosophy: Kierkegaard and the ‘Present Age’, hg. von Daniel W. Conway und K. E. Gover, London und New York: Routledge 2002 (Søren Kierkegaard. Critical Assessments of Leading Philosophers, Bd. 4), S. 316–332, S. 328 (Nachdruck des gleichnamigen Beitrages aus Kierkegaard in Post/Modernity, hg. von M. Matustik und M. Westphal, Bloomington: Indiana Unversity Press 1995, S. 1–17). 137 SKS 11, 117 / KT, 3. Zu Kierkegaards Konzeption der Verantwortung, die „zwei entgegengesetzte Dimensionen“ umfaßt, welche „in ihrer Widersprüchlichkeit zusammengehören: die Autonomie des Individuums, das per Selbstwahl die Normen seines Handelns generiert, und die Heteronomie des Einzelnen, der in seinen Handlungsentscheidungen von Bedingungen abhängig ist, die seinem Verfügungsbereich vorausliegen und ihn überschreiten“ – weswegen Kierkegaard das Selbstverhältnis als Gottesverhältnis bestimmt, siehe Ludger Heidbrink, Kritik der Verantwortung. Zu den Grenzen verantwortlichen Handelns in komplexen Kontexten, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2003, S. 78f.
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an bestimmte Inhalte gebunden und nicht institutionell vermittelbar, stattdessen muß jeder das Verhältnis zu Gott oder seine ‚Tiefendimension‘ selbst bestimmen in der Art, wie er sich zu der Erfahrung seines ‚Gesetztseins durch ein Anderes‘ verhält.138 Diese Erfahrung birgt das Potential vielfältiger (Selbst-)Verfehlungen, die nicht nur als psychologische, sondern auch als kulturelle Phänomene beschreibbar sind. Dem widmen sich die folgenden Interpretationen der Schriften Die Krankheit zum Tode und Eine literarische Anzeige. Dort wird ebenfalls deutlich, daß Entfremdung und Authentizität dialektisch aufeinander bezogen und die kritisierten kulturellen Erscheinungen daher nicht einfach zu verwerfen sind. Die modernen Lebensbedingungen bieten vielmehr ausgezeichnete Möglichkeiten der Selbstwerdung. Kierkegaards Kulturkritik im Namen des Glaubens votiert nicht für eine einfache „Inkulturationsverweigerung“, wie Frido Ricken sie als einen prägnanten Modus derjenigen Kritik beschreibt, die sich aus religiösen Quellen speist.139 Stattdessen verwendet seine Kritik die Pendelbewegung von Inkulturation des Glaubens (z.B. dessen Verflochtenheit in die bürgerlichen Gewohnheiten und die politische Situation des dänischen Golden Zeitalters, in einer institutionalisierten ‚Kristenhed‘ kulminierend140 ) und Inkulturationsverweigerung geschickt für sich: Ein wahres Selbst- und Gottesverhältnis entsteht in der Kultur, indem es sich an deren Mißständen abarbeitet. Kierkegaard, das läßt sich vorerst festhalten, akzeptiert nicht nur die Irreversibilität der Kultur; er schreibt ihr auch authentizitätsfördernde Funktionen zu.
138 Zu der Beschreibung des Menschen siehe den Eingang der Krankheit zum Tode: Der Mensch ist ‚Selbst‘, dieses ist ‚durch ein Andres gesetzt‘ oder, anders ausgedrückt: der Mensch ist mit dem Daß seiner Existenz konfrontiert, welche er nicht verursacht hat. Das Selbst beinhaltet Bewußtsein, daher ist das (an dieser Stelle noch sehr weit gefaßte) Gottesverhältnis zumindest implizit immer schon vorhanden: Das Selbst ist „ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, und, indem es sich zu sich selbst verhält, zu einem Anderen sich verhält.“ SKS 11, 130 / KT, 9. 139 Der religiöse Glaube, so Ricken, erschließe eine die Kultur übersteigende Dimension des menschlichen Lebens und fungiere daher als Einspruchsinstanz gegen die Kultur. Gleichzeitig setze Religion jedoch Kultur voraus, um dem Menschen überhaupt vermittelt werden zu können. Religiöse Kulturkritik müsse sich daher immer zu diesen widersprüchlichen Forderungen positionieren; Friedo Ricken, „Religion als Kulturkritik“, in Religion und Kulturkritik, hg. von Thomas M. Schmidt und Matthias Lutz-Bachmann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, S. 63–72. 140 Kierkegaard bezeichnet den institutionalisierten Glauben als Kristenhed, von der er das Kristendom als wahre Christlichkeit abgrenzt; vgl. SKS K23, 425 (Kommentar zu NB19).
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2.2.2 Das Gitter der Kritik Daß die moderne Kulturkritik ihren Anfang nimmt als „eine Tendenz ohne Namen“,141 zeigt sich auch in der Terminologie Kierkegaards.142 Obwohl der Sache nach in seinen Schriften vorhanden – das sollten die einleitenden Bemerkungen deutlich gemacht haben –, spricht Kierkegaard nicht explizit von Kulturkritik. Allein schon die Belege für die wörtliche Verwendung von ‚Kultur‘ sind rar. Wenn Kierkegaard von Cultur spricht, dann meint er meist eine oberflächliche Weltlichkeit in Abgrenzung von einer individuellen Innerlichkeit und eines wahren Christentums.143 Zudem setzt er Cultur, nicht unüblich zu der Zeit, häufig mit bürgerlicher Bildung gleich,144 wozu wesentlich gesellschaftlicher Benimm und geschäftige Verständigkeit gehören: Je mehr in der Welt Kultur [Cultur], Bildung [Dannelse] und Verstand [Forstand] überhand nehmen, je mehr die Menschen nur noch im Miteinander-Vergleichen leben: desto allgemeiner breitet sich eine gewisse Fertigkeit aus, mit den Bestimmungen des Geistes [Aandens Bestemmelser] gönnerhaft [prokuratoragtigt] umzugehen. Überall weiß man Ausflüchte. . . und Entschuldigungen, bald frech, bald kleinlaut beruft man sich auf das Beispiel anderer, so daß man stets einen entscheidenden Eindruck vom Geist vermeidet. Kultur und Bildung und Verständigkeit und gesellschaftliches Leben [Omgangs-livet] arbeiten gerade darauf hin, die Menschen, religiös verstanden, zerstreut, geistesabwesend [aandsfraværende] zu machen.145
Kierkegaard richtet seine Kritik zwar auch auf Bildung, aber sie umfaßt doch mehr. Wenn daher von Kierkegaards Kulturkritik gesprochen wird, dann ist damit eine Kritik gemeint, die im oben definierten Sinne auf das Ganze der Kultur, d.h. auf die Lebenswelt des 19. Jahrhunderts zielt und nicht nur auf einige ihrer Elemente.
141 Werner Schneiders, „Vernünftiger Zweifel und wahre Eklektik. Zur Entstehung des modernen Kritikbegriffes“, Studia Leibnitiana 17.2, 1985, S. 143–161, S. 146. 142 Der Erstbeleg des Begriffs in Dänemark, das hat Jung gezeigt, findet sich 1897 in Harald Høffdings Monographie über Rousseau; vgl. Jung, Zeichen des Verfalls, a. a. O., S. 21. 143 So z.B. in der Nachschrift, Zweiter Teil (SKS 7, 496 / AUN2, 256f.) und in einem Journaleintrag von 1852: SKS 24, 487, NB25:69. Die Konkordanz der SKS verzeichnet sieben Einträge zu ‚Cultur‘, davon fünf in den Journalen. 144 Vgl. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/Main und Leipzig: Insel Verlag 1994, S. 188. Kierkegaard kritisiert nicht die Zweckfreiheit der bürgerlichen Bildung, sondern gerade die „Ausbildung“ einer berechnenden Klugheit. Gleichzeitig wendet er sich jedoch, das wird im folgenden gezeigt, gegen den Führungsanspruch, den das Bürgertum – an der Spitze Johan Ludvig Heiberg – mit der zweckfreien Bildung verknüpft und für sich in Anspruch nimmt. 145 SKS 15, 265 / BÜA, 125f.
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Während seine junghegelianischen Zeitgenossen in Deutschland ‚Kritik‘ bereits zur Bezeichnung „des Übergangs radikaler Theorie in verändernde Praxis“ gebrauchen, verwendet Kierkegaard den Begriff hauptsächlich gemäß seiner Etymologie: Unter ‚Kritik‘ versteht er ein Urteil, das sich meist auf einen Text bezieht.146 So benutzt er ‚Kritiker‘ als Synonym für ‚Rezensent‘. Den Rezensenten gegenüber nimmt er eine abwertende Haltung ein, sie seien Opportunisten, die sich nach dem massenhaften Publikumsgeschmack richteten und eine Kultur der Hastigkeit und Oberflächlichkeit förderten, indem sie suggerierten, es wäre ausreichend, die Besprechung eines Buches zu lesen und nicht dieses selbst. Das beste sei, so Kierkegaard, „wenn man es, mit den Rezensenten [Recensenterne] machen könnte wie mit Ratten: man richtet einen dazu ab, den anderen zu beißen.“147 Dies ist Kierkegaard harscheste Kritik an den Rezensenten; seine anderen diesbezüglichen Anmerkungen fallen ebenfalls negativ aus. Auch wenn die Absicht der Kritiker nicht immer eine gehässige sein mag, so tragen sie dennoch zu der Tendenz des 19. Jahrhunderts bei, die Aufmerksamkeit für das Besondere zu verlieren und das Bewußtsein individueller Existenz zu tilgen: „Es gibt Kritiker [Kritikere], die, weil ihnen vollkommen das Auge fehlt für das Individuelle, danach streben, alles von einem allgemeinen Standpunkt aus zu betrachten, und die daher, damit es so allgemein wie möglich werden kann, so hoch aufsteigen wie möglich, bis sie eigentlich überhaupt nichts sehen außer einem weiten Horizont.“148 Kierkegaards Urteil, das zeigt das Zitat, bezieht sich nicht generell auf die Tätigkeit des Kritisierens, auch nicht auf das Verfassen von Rezensionen. Vielmehr nimmt es lediglich an einer bestimmten Erscheinungsform der Kritik Anstoß: der Kritik als Sparte der Tageszeitungen. Dies hindert Kierkegaard nicht daran, selbst auf dem Gebiet tätig zu werden. Er versteht Literaturkritik als eine willkommene Möglichkeit, seine pseudonyme Autorschaft zu ergänzen und auf indirekte Weise seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen: Bisher habe ich mich dienend verhalten, indem ich den Pseudonymen dazu verhalf, Schriftsteller [Forfattere] zu werden, was, wenn ich mich nun künftig dazu entschließen würde, das bisschen Produktivität, der gegenüber ich indulgent sein könnte, in Form von Kritik [Critik] zu äußern, so dass ich, was ich zu sagen hätte, in Kritiken [i Critiker] niederlegte, die aus irgendeiner Schrift meine Gedanken herausentwickelten, so dass sie doch auch in der Schrift liegen könnten. Damit würde ich doch vermeiden, Schriftsteller zu werden.149
146 Röttgers, „Kritik“, a. a. O., 651, S. 656. 147 SKS 27, 124, Papir 110 / T1, 66; vgl. SKS 18, 280, JJ:422. Siehe hierzu Begonya Sáez Tajafuerce, „A Literary Review. A Rhetorical Experiment or ‘Watchmann, Hallo’“, Kierkegaard Studies Yearbook, 1999, S. 50–70, bes. S. 55–61. 148 SKS 27, 126, Papir 113:2 (meine Übers.). 149 SKS 18, 279, JJ:419 / DSKE 2, 290.
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Im Rahmen dieser Überlegungen ist Eine literarische Anzeige entstanden – eine knapp 120 Seiten starke Auseinandersetzung mit der Kultur des 19. Jahrhunderts, die ihren Ausgang von der Besprechung eines Romans nimmt. Doch hierzu später. Daß Kritik „zentral zum Selbstverständnis“ Kierkegaards gehört, ist allgemein anerkannt.150 Nicht berücksichtigt wird jedoch die Komplexität und Ambivalenz dieses Konzeptes. Kritik ist Kierkegaard zufolge eine Haltung des Einspruches, die nicht zur Weltflucht werden darf. Als negative Erscheinungsformen der Kritik gelten ihm nicht nur oberflächliche Literaturkritiken, sondern auch die Totalisierung der Ironie. Das Mißverhältnis der Ironie zur Wirklichkeit, so Kierkegaard, zeige sich schon allein darin, daß die ironische Richtung „wesentlich kritisch [critisk]“151 sei. Eine derartige Haltung kehre sich angesichts der unliebsamen Wirklichkeit von dieser ab und schwelge geradezu in den vielen alternativen Möglichkeiten. Einem solchen Kritiker, so lautet auch Kierkegaards Skepsis gegenüber der Deutschen Romantik, geht es nicht um die Wirklichkeit und ihre Veränderung, sondern um phantastische Parallelwelten. Es finden sich aber auch andere Ansätze einer Bestimmung der Kritik. In der Wiederholung wird sie als eine geistesgegenwärtige aufmerksame Beobachtung begriffen. Dort heißt es: Hört man dagegen einen Pastor eine wohleinstudierte Predigt herunterdeklamieren, in welcher er zu mehreren Malen in einem künstlich geschraubten und verschraubten Passus. . . bezeugt, was er sage, sei der einfältige Glaube, der sich nicht auf zierliche Redensarten verstehe, aber im Gebete vermöge er zu erreichen, was er in Poesie, Kunst und Wissenschaft, nach seinem Wort und vermutlich aus guten Gründen, vergeblich versucht, so setzt man seelenruhig das Mikroskop aufs Auge, so läßt man das Ohr das Gesagte nicht einfach verschlucken, sondern zieht die Jalousie vor, das Gitter der Kritik [Kritikens Rist], das jeden Laut und jedes Wort prüft.152
Zwar handelt es sich um die Figurenrede des Pseudonyms Constantin Constantius, jedoch ist die skeptische Involviertheit in der Gegenwart, die sich in dem Zitat zeigt, repräsentativ für Kierkegaards Kulturkritik. Auch die Metaphorik unterstreicht: Es geht Kierkegaard um die Diagnose einer Krankheit, zu welcher der Mensch zwar strukturell veranlagt ist, die aber im 19. Jahrhundert verheerend um sich zu greifen scheint – der Krankheit zum Tode. Ähnlich einem Arzt oder Labortechniker beobachtet und analysiert Kierkegaard diese.
150 Rahel Jaeggi und Tilo Wesche, „Einführung: Was ist Kritik?“, in Was ist Kritik, hg. von dens., Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009, S. 7–20, S. 12f. 151 SKS 1, 312 / BI, 281. 152 SKS 4, 12 / W, 7.
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Das ‚Gitter der Kritik‘ verschafft Distanz zu dem Geschehen: Wie eine Jalousie sorgt es für eine kontrollierbare Ausgrenzung des ‚Draußen‘, das durch die Lamellen immer noch beobachtbar ist, ohne daß der Betrachter sichtbar wäre. Erwähnt in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Mikroskop, weckt das ‚Gitter‘ auch Assoziationen an ein Raster zur minutiösen Ausmessung eines Präparats. Auf letzteres zielt ein Journaleintrag von 1847, in dem Kierkegaard die Repräsentativität des von ihm Kritisierten – Kopenhagen im 19. Jahrhundert – überdenkt. Im Vergleich mit explosionsartig wachsenden Städten wie Berlin und Paris, in denen die sozialpolitischen und kulturellen Veränderungen der Moderne unübersehbare Probleme darstellen, ist die dänische Hauptstadt ein beschauliches Städtchen. Aber gerade deswegen ist sie ein hervorragender Gegenstand der kritischen Beobachtung, und hier sieht Kierkegaard seine Aufgabe: Ganz Europa arbeitet an einer Demoralisation – aber in Kph. sind die Verhältnisse so klein, dass meine Beobachtungen und Berechnungen sie gänzlich bewältigen können. Das aber wird äußerst interessant werden. Ich bin wie ein Arzt [Læge], dem ein vollständiges Präparat [et fuldstændigt Præparat] vorliegt, jedoch nicht so groß, dass es nicht zu überschauen wäre.153
Das Ergebnis der Analyse des Präparats ‚Kopenhagen‘ hat Kierkegaards gesamte Autorschaft inspiriert. Die Kulturphänomene, die er in Eine literarische Anzeige untersucht, werden drei Jahre später in der Krankheit zum Tode in den Kontext einer generellen existentiellen Struktur gestellt. Das dort entwickelte Schema der Selbstverfehlungen verdeutlicht, daß Kierkegaards Polemik nicht als Ressentiment abzutun ist. Die von ihm kritisierten Verhaltensweisen seiner Zeitgenossen geraten nicht als einzelne Fehlschritte ins Visier, sondern als Indizien für etwas Tiefergehendes: Sie verweisen auf Formen der Selbstentfremdung, welche hinter dem Wesen des Menschen zurückbleiben. Der folgende Überblick über diese Verzweiflungsformen und ihre Dialektik dient der Analyse von Kierkegaards Kulturkritik als Grundlage. Mit dem dort entwickelten Begriffsbesteck läßt sich die drastische Polemik der Literarischen Anzeige inklusive der Auseinandersetzung mit dem ‚Publikum‘ und der ‚Masse‘ in ihren zeitgenössischen Konstellationen präzise untersuchen.
153 SKS 20, 168f., NB2:67 / DSKE 4, 188f.; vgl. István Czakó, „Das Zeitalter der ‚Reflexion‘ und ‚Nivellierung‘: Kierkegaards Eine literarische Anzeige als kritische Diagnose“, in Subjektivität und Wahrheit. Akten des Schleiermacher-Kierkegaard Kongresses in Kopenhagen Oktober 2003, hg. von Niels-Jørgen Cappelørn et al., Berlin: De Gruyter 2006, S. 635–654, S. 636.
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2.3 Die Krankheit zum Tode oder „daß der Zustand des Menschen. . . allezeit kritisch ist“ 1849 erscheint die Krankheit zum Tode mit dem Untertitel Eine christliche psychologische Erörterung zur Erbauung und Erweckung. Als Autor ist ‚Anti-Climacus‘ genannt, Herausgeber ist ‚S. Kierkegaard‘.154 Die Klassifikation als Erörterung (im Dänischen Udvikling) verweist auf die Hegelsche Begriffsentwicklung, kontrastiert diese gleichwohl mit einem Zweck, der von Hegel ausdrücklich aus der Philosophie verwiesen wurde: der Erbauung.155 Der Name Anti-Climacus kann als christliches alter ego des Pseudonyms Climacus gelesen werden (Climacus behauptet, kein Christ zu sein), ruft aber auch einen reichen Bilderschatz der Geistesgeschichte auf: Nicht der Aufstieg des Geistes wird propagiert, wie es das platonische Linien- und Höhlengleichnis, die biblische Jakobsleiter und ihre Interpretation durch den spanischen Mystiker San Juan de la Cruz versinnbildlichen und mit deren Semantik auch die Hegelsche Philosophie arbeitet,156 sondern ein Abstieg des wissenschaftlichen Geistes in die konkrete Existenz. Dies ist auch der Hintergrund der Kennzeichnung der Schrift als erbaulich. Anstatt „sich mit dem reinen Menschen zum Narren halten zu lassen“, so heißt es im Vorwort, „oder mit der Weltgeschichte das Verwunderungsspiel zu spielen“157 , geht es um die wirkliche Beziehung zum Leben. Diese zeigt sich in der Gestalt der Sorge: „Alles christliche Erkennen, wie streng seine Form im übrigen auch sei, muß besorgt sein; diese Besorgnis ist die Beziehung zum Leben, zur Wirklichkeit des Persönlichen.“158 Im folgenden wird ein Überblick geboten über die in der Krankheit zum Tode entwickelte existentiell-psychologische Struktur des Menschen, seine diesbezügliche Aufgabe, deren Verfehlungen und den dialektischen Zusammenhang von Verzweiflung und Selbstwerdung. Damit ist die Grundlage geschaffen für eine
154 Der Origninaltitel lautet: Sygdommen til Døden. En christelig psychologisk Udvikling til Opbyggelse og Opvækkelse. Af Anti-Climacus. Udgivet af S. Kierkegaard. 155 Vgl. G.W.F. Hegel, „Über den Vortrag der Philosophie auf Universitäten. Schreiben an Friedrich von Raumer, 2.8.1816“, in TWA, Bd. 4 (Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808–1817), S. 418–425, S. 424 sowie ders., Phänomenologie, a. a. O., S. 17. 156 William McDonald untersucht die Umkehrung des Leiterbildes bei Kierkegaard, allerdings in Hinblick auf Climacus’ Schriften: William McDonald, „Retracing the Circular Ruins of Hegel’s Encyclopedia“, in Concluding Unscienftic Postscript to „Philosophical Fragments“, hg. von Robert L. Perkins, Macon, Georgia: Mercer University Press 1997 (International Kierkegaard Commentary, Bd. 12), S. 227–245, S. 238. 157 SKS 7, 117 / KT, 3f. 158 SKS 11, 117 / KT, 3f.; SKS 11, 117 / KT, 4. Kierkegaards Verständnis des Erbaulichen und deren Bedeutung für die ‚Wiederholung‘ der Philosophie wird separat in Kapitel 4.6 behandelt.
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anschließende Analyse von Kierkegaards Kulturkritik, die sich spezifisch dem 19. Jahrhundert widmet.
2.3.1 Die Konstitution des Menschen, seine dialektische Krankheit und ihr Arzt Dem gesamten Unternehmen der Krankheit zum Tode liegt die anthropologische Frage nach dem Wesen des Menschen zugrunde. Dieses wird anfänglich (gemessen an der Ankündigung im Vorwort) erstaunlich abstrakt behandelt.159 Der erste Abschnitt bestimmt den Menschen als ‚Geist‘, weiterhin als Reflexivität: „Was aber ist Geist?“, so setzt die Definition an. „Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnisse, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.“160 Das „Verhältnis“ wird wiederum als eine „Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit“ definiert.161 Menschsein beinhaltet die permanente Aufgabe, sich zu sich selbst als einem Widersprüchlichen zu verhalten, wozu erst einmal das Daß der jeweils eigenen Existenz zu akzeptieren ist. Auf diese Weise wird bereits eingangs suggeriert: In einem gelingenden Selbstverhältnis ist ein Gottesverhältnis notwendig enthalten. ‚Gott‘ wird in der Krankheit zum Tode zunächst als ‚ein Anderes‘ eingeführt: Wir sind mit dem Daß unserer Existenz konfrontiert; selbst wenn wir uns entschieden, uns das Leben zu nehmen – es lag nicht in unserer Hand, dieses zu beginnen. Was die Existenzphilosophie im Ausgang von Heidegger als ‚Geworfenheit‘ bezeichnen wird, ist hier als ‚Gesetztsein‘ beschrieben.162 Für Anti-Climacus ist die Frage nach dem Akteur des Setzens bzw. Werfens leicht zu beantworten – der Setzende ist ‚das Andere‘, ist ‚Gott‘, im zweiten Teil der Krankheit zum Tode noch konkreter: der christliche Gott.
159 Theunissen hat gezeigt, daß die Definition des Selbst zu Beginn der Krankheit zum Tode nicht auf eine deduktive Vorgehensweise hinweist, sondern als das vorangestellte Ergebnis der „negativistischen Methode“ zu verstehen ist: Aus der phänomenologischen Diagnose der Verzweiflung, der ‚Krankheit‘, wird die ‚Gesundheit‘, das authentische Selbstsein, erst entwickelt; vgl. Michael Theunissen, „Kierkegaard’s Negativistic Method“, in Kierkegaard’s Truth: The Disclosure of the Self, hg. von Joseph H. Smith, New Haven und London: Yale University Press 1981, S. 381–423, S. 396. 160 SKS 11, 129 / KT, 8. 161 SKS 11, 129 / KT, 8. 162 Theunissen versteht nicht die Selbsterfahrung eines Daß der gegenwärtigen Existenz, sondern ein Element der Synthese (die Notwendigkeit der individuellen Vergangenheit) in Analogie zu Heideggers und Sartres ‚Geworfenheit‘; Theunissen, „Kierkegaard’s Negativistic Method“, a. a. O., S. 407.
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Eine wahre Existenz ist ein gelingendes Selbstverhältnis als ‚Konkretion‘ der widerstreitenden Elemente.163 Dieses gelingende Selbstverhältnis impliziert per definitionem immer ein entsprechendes Verhältnis zu ‚dem Anderen‘, welches Anti-Climacus wenige Seiten später als Gottesverhältnis bezeichnet: „Das Selbst ist die bewußte Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit, die sich zu sich selbst verhält, deren Aufgabe es ist[,] sie selbst zu werden, etwas[,] das sich nur vollbringen läßt durch das Verhältnis zu Gott.“164 Die existentielle Aufgabe besteht also in dem Austarieren der Elemente, und sie ist nicht nur schwierig, sie ist auch permanent. Dies unterstreicht Anti-Climacus durch die Metaphorik des Zusammenwachsens (Konkretion) als eines langwierigen organischen Prozesses ebenso wie durch Bilder der Bewegung – ein Selbst zu werden sei eine „Bewegung an Ort“,165 und hierbei komme es auf das richtige Bewegtsein an: Die Entwicklung muß mithin darin bestehen, daß man unendlich von sich selber loskommt in Verunendlichung des Selbst, und daß man unendlich zu sich selber zurückkehrt in der Verendlichung. . . Indes ist ein Selbst jeden Augenblick, in dem es da ist, im Werden, denn das Selbst der Möglichkeit. . . nach ist nicht wirklich da, ist lediglich das, was zu Dasein kommen soll.166
Selbstwerdung, das sollte deutlich geworden sein, ist mühsam, und es gibt viele Formen des Scheiterns. Anti-Climacus faßt diese prägnant zusammen in dem Begriff der Verzweiflung: „Wird hingegen das Selbst nicht es selbst, so ist es verzweifelt, ob es nun davon wisse oder nicht.“167 Das Verfehlen des Selbst, das Scheitern an der existentiellen Aufgabe nennt Anti-Climacus in Anlehnung an die biblische Lazarusgeschichte die Krankheit zum Tode.168 Es gehe jedoch nicht um den körperlichen, sondern um den geistigen Tod. Letzterer sei das wahrhaft ‚Entsetzliche‘, das ‚größte Übel‘, aber leider seien sich die Menschen kaum dessen bewußt. „Allein der Christ weiß“, so heißt es am Ende der Einleitung, „was unter der Krankheit zum Tode zu verstehen ist“169 . Im 19. Jahrhundert, das ist die impli-
163 Konkretion wird von Kierkegaard gemäß der Hegelschen Etymologie verstanden: als Zusammenwachsen (concrescere); vgl. SKS 11, 146 / KT, 26; Theunissen, „Kierkegaard’s Negativistic Method“, a. a. O., S. 411. 164 SKS 11, 146 / KT, 25f. 165 SKS 11, 151 / KT, 32. 166 SKS 11, 146 / KT, 26. Hier scheint eine implizite Referenz zu Fichtes ‚Tathandlung‘ vorzuliegen. Einen Überblick über die aktuelle Diskussion des sachlichen Verhältnisses von Kierkegaard und Fichte bietet folgender Sammelband: Jürgen Stolzenberg et al. (Hg.), Kierkegaard und Fichte. Praktische und religiöse Subjektivität, Berlin und New York: De Gruyter 2010. 167 SKS 11, 146 / KT, 26. 168 Vgl. Joh 11,1–45; SKS 11, 123–125 / KT, 5–7. 169 SKS 11, 125 / KT, 7.
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zite Diagnose, gibt es jedoch keine Christen im eigentlichen Sinne. Man wage es nicht mehr, „ganz man selbst zu werden, ein einzelner Mensch, dieser bestimmte einzelne Mensch, einsam Gott gegenüber, einsam in dieser ungeheuren Anstrengung und dieser ungeheuren Verantwortlichkeit“,170 noch schlimmer: man habe vergessen, daß diese existentielle Zumutung und Chance überhaupt besteht. Anti-Climacus tritt als emphatischer Christ auf. Er ist der Seelenarzt, der weiß, was die Krankheit zum Tode wirklich ist. Wie ein Mediziner vertraut er nicht auf die Selbstaussagen des Menschen: Im allgemeinen nimmt man an, wenn ein Mensch nicht selber sage, daß er krank ist, so sei er gesund, ganz zu schweigen wenn er es selber sagt, er sei gesund. Der Arzt hingegen sieht die Krankheit anders an. Und warum? Weil der Arzt eine bestimmte und ausgebildete Vorstellung davon hat, was gesund sein heißt, und gemäß dieser prüft er den Zustand des Menschen. Der Arzt weiß: so wie es eine Krankheit gibt, die nur Einbildung ist, ebenso auch eine Gesundheit; er wendet daher in letzterem Fall zunächst Mittel an, um die Krankheit ans Licht zu ziehen.171
Was für Mittel sich Anti-Climacus vorstellt, um die Diagnose bei einem konkreten Menschen stellen zu können, wird nicht explizit erwähnt, betrachtet er doch die Krankheit in ihrer allgemeinen Form und analysiert verschiedene typische Krankheitsbilder. Die phänomenologische Analyse der Krankheit zum Tode kann jedoch selbst als ein Mittel gelten, um die Krankheit überhaupt erst bewußt zu machen, schließlich bestehe sie bei vielen in einer permanenten Verdrängung: Gleich wie der Arzt wohl sagen muß, es lebe vielleicht kein einziger Mensch, der ganz gesund sei, ebenso müßte man, wo man den Menschen recht kennte, sagen, es lebe da kein einziger Mensch, ohne daß er denn doch ein bißchen verzweifelt sei, ohne daß da doch tief im Innersten eine Unruhe wohnte. . . eine Angst vor einem unbekannten Etwas, oder vor einem Etwas, mit dem er es nicht einmal sich getraut Bekanntschaft zu stiften, eine Angst vor einer Daseinsmöglichkeit oder eine Angst vor sich selber, so daß er doch. . . mit einer Krankheit herumgeht. . . welche gelegentlich aufzuckend, in und mit einer ihm selbst unerklärlichen Angst, sich bemerklich macht, daß sie da innen sitzt.172
Anti-Climacus thematisiert auch das Problematische einer Verwendung der Krankheits- und Arztmetapher in diesem Kontext. Hierbei ist vor allem die Dialektik der Krankheit entscheidend. Sie betrifft sowohl ihre Erscheinung und Diagnose als auch ihre Heilung:
170 SKS 11, 117 / KT, 3. 171 SKS 11, 139 / KT 19. 172 SKS 11, 138 / KT, 18.
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Nicht verzweifelt sein kann nämlich gerade verzweifelt sein bedeuten, und es kann bedeuten, erlöst sein aus dem Verzweifeltsein. . . Es ist mit dem nicht verzweifelt Sein nicht wie mit dem nicht krank sein; denn nicht krank sein kann doch nicht heißen, daß man krank ist, jedoch nicht verzweifelt sein kann gerade heißen, daß man verzweifelt ist.173
Hier zeigt sich nun auch der Unterschied zu dem gewöhnlichen Verständnis von einer Erkrankung, bei der „das Übelbefinden die Krankheit ist“.174 Wer sich gesund fühlt, kann krank sein, und umgekehrt – sich krank zu fühlen, ist ein Zeichen der Gesundung. Dies treibt Anti-Climacus auf eine dialektische Spitze: Es gibt keine unmittelbare geistige Gesundheit, kein ursprüngliches Selbstsein. Ent-Fremdung von sich selbst, so könnte man sagen, geht der Ver-Zweiflung, der inneren Zerrissenheit voraus. „Das Übelbefinden ist abermals dialektisch“, das betont Anti-Climacus ausdrücklich, und weiter: „niemals dies Übelbefinden verspürt [zu] haben, heißt gerade verzweifelt sein.“175 Eine unmittelbare ‚Gesundheit‘ des Geistes widerspricht der Veranlagung des Menschen als reflexiver Synthese von Widersprüchlichem. Der Mensch muß verzweifeln, sich gespalten fühlen, um überhaupt die Aufgabe der Konkretion beginnen zu können. Die Krankheit zum Tode ist daher im Grunde genommen eine Krankheit zum Leben – Verzweiflung ist Chance: „Verzweiflung ist nämlich, eben weil sie ganz und gar dialektisch ist, diejenige Krankheit, von der gilt: es ist das größte Unglück, sie nie gehabt zu haben – eine wahre Gottesgabe sie zu bekommen.“176 An dieser Stelle heißt es, zwei möglichen Mißverständnissen zuvorzukommen. Es ist nicht damit getan, zu verzweifeln oder mit ein wenig Verzweiflung eine bewußte Existenz zu führen, da die Verzweiflung „die allergefährlichste Krankheit ist, wenn man sich von ihr nicht heilen lassen will“177 . Anders gesagt: Man kann nicht ohne, aber man kann auch nicht mit der Krankheit wahrhaft leben. Mit der Gesundung ist es nicht einfacher bestellt, denn die Gefahr des Rückfalls droht beständig. Es wird, um Kierkegaards Metaphorik zu erweitern, keine Immunität ausgebildet. Stattdessen gilt: „soll es wahr sein, daß ein Mensch nicht verzweifelt ist, so muß er jeglichen Augenblick die Möglichkeit zunichte machen.“178 Rekonvaleszenz bedeutet in diesem Fall keine Restitution. Der Zustand des Menschen,
173 SKS 11, 141 / KT, 21. 174 SKS 11, 141 / KT, 21. 175 SKS 11, 140f. / KT, 21. 176 SKS 11, 142 / KT, 22. Diesbezüglich knüpft Anti-Climacus auch an seine anthropologische Definition an: Die Fähigkeit, verzweifeln zu können, sei das entscheidende Distinktionsmerkmal zwischen Mensch und Tier; vgl. SKS 11, 131 / KT, 10. 177 SKS 11, 142 / KT, 22. 178 SKS 11, 131 / KT, 11.
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so Anti-Climacus’ Diagnose, bleibt „allezeit kritisch“, aber die Krankheit ist auch jederzeit heilbar, und zwar umso besser, je intensiver sie ist.179
2.3.2 Verzweiflungsformen Gemäß der komplexen Definition des Selbstseins gibt es viele Formen, dieses zu verfehlen. Anti-Climacus verwendet zwei Beschreibungsebenen: eine psychologisch-phänomenologische im ersten Teil und eine theologische in der zweiten Hälfte der Schrift. In letzterer wird Sünde als ‚Potenzierung‘ der Verzweiflung analysiert, dabei ist das Selbst „nicht mehr das bloß menschliche Selbst“, sondern etwas, was Anti-Climacus „in der Hoffnung, nicht mißverstanden zu werden, das theologische Selbst nennen möchte, das Selbst Gott gegenüber“180 . Für ein Verständnis der Verzweiflung im kulturkritischen Kontext ist vor allem der erste Teil relevant. Auf ihm liegt daher im folgenden der Fokus.
2.3.2.1 Verzweiflung auf die Art betrachtet, daß „auf die Momente der Synthese reflektiert wird“ Anti-Climacus kategorisiert die Verzweiflung in Hinblick auf die Synthese (Endlichkeit und Unendlichkeit; Möglichkeit und Notwendigkeit) sowie anhand des Bewußtseinsgrades. Die Verzweiflung der Unendlichkeit besteht in einem Mangel an Endlichkeit: Derart Erkrankte leiden an der Tyrannei ihrer eigenen Phantasie, welche Erkenntnis, Wille und Gefühl vollkommen in Beschlag nimmt.181 Eine Verbindung zur Wirklichkeit, eine Korrektur der Vorstellungen und Ideen durch die soziale Umwelt findet nicht mehr statt. Gemäß der Dialektik der Krankheit zum Tode ist Phantasie, mit Referenz auf Fichte als Bedingung der Reflexion verstanden, notwendig für die Selbstwerdung, denn „das Selbst ist Reflexion, und die Phantasie ist Reflexion, ist Spiegelbild des Selbsts, welches die Möglichkeit
179 SKS 11, 141 / KT, 21. Je stärker die Verzweiflung, desto ausgeprägter ist das Bewußtseins des Menschen seiner selbst als Geist; vgl. SKS 11, 159f. / KT, 41f. 180 SKS 11, 193 / KT, 77f. 181 Zu einer Erläuterung des phantastischen Gefühls, siehe SKS 11, 147 / KT, 27: Das Selbst werde zu einer Art „phantastischer Gefühligkeit, die unmenschlich keinem Menschen mehr zugehört, sondern auf unmenschliche Weise sozusagen empfindsam am Schicksal des einen oder andern Abstraktums teilnimmt, z.B. an der Menschheit im allgemeinen (in abstracto).“ Der phantastisch Fühlende ist „in gewisser Weise unendlich geworden, jedoch nicht derart, daß er mehr und mehr er selber wird, denn er verliert sich selbst immer mehr.“ Ähnlich verläuft das phantastische Wollen und Erkennen, vgl. SKS 11, 147f. / KT, 27f.
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des Selbsts ist“182 . Es besteht jedoch die Gefahr, sich in den Möglichkeiten zu verlieren, wie Anti-Climacus später unter der Rubrik Verzweiflung der Möglichkeit detailliert beschreibt. Wenn keine Wechselwirkung von Phantasie und Wirklichkeit, von Wunschbild und Realität stattfindet, beginnt der unendliche Regreß des Phantastischen: „Das Phantastische ist überhaupt dasjenige, was einen Menschen dergestalt ins Unendliche hinausführt, daß es ihn lediglich von ihm selber fortführt und ihn dadurch abhält, zu sich zurückzukehren.“183 Die Verzweiflung der Endlichkeit zeichnet sich dagegen durch einen Mangel an Unendlichem, d.h. durch fehlende Phantasie aus. Anti-Climacus nennt diese Verzweiflungsform auch Borniertheit und totale Weltlichkeit. Der Selbstverlust besteht hier darin, „daß man ganz und gar verendlicht wird, daß man[,] anstatt ein Selbst zu sein[,] eine Zahl geworden ist“184 – hier verschränkt sich die allgemeine Betrachtung der psychischen Struktur des Menschen und ihrer möglichen Störungen mit Kierkegaards kulturkritischer Beurteilung des 19. Jahrhunderts. Der zeitgenössische Mensch lasse sich sein Selbst von den anderen „ablisten“, er verliere es durch seine Ausrichtung auf weltlichen Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung, kurzum, „indem er sich darauf verstehen lernt, wie es in der Welt zugeht, vergißt ein solcher Mensch da sich selbst. . . getraut sich nicht[,] an sich selber zu glauben, findet es allzu gewagt[,] er selbst zu sein, und weit leichter und sicherer[,] so zu sein wie die andern. . . eine Ziffer zu werden, mit[zugehen] in der Menge“185 . Im Zeitalter der Masse verbreitet sich die Verzweiflung der Endlichkeit wie eine Epidemie; jedoch werde sie nicht als solche wahrgenommen, denn ein derart Verzweifelter habe „gerade dadurch, daß er sich selbst verloren hat, die Vervollkommnungsfähigkeit gewonnen[,] um im Handel und Wandel so richtig mitzugehn, ja um sein Glück zu machen in der Welt“186 . Er habe die gesellschaftlichen Anforderungen und materiellen Werte derart internalisiert, daß er abgeschliffen sei „wie ein rollender Kiesel, kursfähig wie eine gangbare Münze“187 .
182 SKS 11, 147 / KT, 27. 183 SKS 11, 147 / KT, 27. 184 SKS 11, 149 / KT, 29f. 185 SKS 11, 149 / KT, 30. Diese Verzweiflungsform erinnert an Heideggers Konzeption des Man, vgl. Roger Poole, „The Unknown Kierkegaard: Twentieth-Century Receptions“, in The Cambridge Companion to Kierkegaard, hg. von Alastair Hannay und Gordon D. Marino, Cambridge: Cambridge University Press 1998, S. 48–75, S. 52f. Heidegger bezeichnet das Man als Existential, als notwendig zur authentischen Existenz gehörig. Wenn entsprechend Kierkegaards kulturkritischer Dialektik die Verfehlung des Selbstseins diesem vorgängig ist, wäre auch bei Kierkegaard die Selbstverfehlung aufgrund der Orientierung an ‚den anderen‘ als ein Existential zu verstehen; siehe Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt, München: Fink 1989, S. 47. 186 SKS 11, 149f. / KT, 30. 187 SKS 11, 150 / KT, 30.
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Die genannten Verzweiflungsformen lassen sich auch anhand der Bestimmung des menschlichen Selbst als ein Verhältnis von Möglichkeit und Notwendigkeit betrachten: Die Verzweiflung der Möglichkeit entspricht der Verzweiflung der Unendlichkeit, und die Verzweiflung der Notwendigkeit der Verzweiflung der Endlichkeit. Anti-Climacus’ separierende Vorgehensweise ermöglicht es, unterschiedliche Aspekte hervorzuheben. Vor allem die Metaphorik der Bewegung spielt in dem Spannungsverhältnis von Möglichkeit und Notwendigkeit eine tragende Rolle. Anti-Climacus verdeutlicht so seine Definition des Selbst, das „der Möglichkeit nach. . . ebenso sehr möglich wie notwendig“ sei, „denn es ist ja es selbst, aber es soll es selbst werden“188 . Selbstwerdung, verstanden als Akzeptanz des Daß der individuellen Existenz, ihrer Möglichkeiten und Beschränkungen, ist Bewegung auf der Stelle – auf einer nicht wählbaren Stelle. Das Selbst reagiert auf die AnRegungen der Möglichkeit. Auch hier ist der Zustand des Menschen permanent kritisch: Läuft die Möglichkeit nun die Notwendigkeit über den Haufen, so daß das Selbst in der Möglichkeit sich selber entläuft, so daß es nichts Notwendiges hat, zu dem es zurück soll: dann ist dies die Verzweiflung der Möglichkeit. Dies Selbst ist eine abstrakte Möglichkeit, es zappelt sich müde in der Möglichkeit, aber es kommt nicht von Ort, und auch nicht zu irgendeinem Ort, denn das Notwendige ist eben der Ort; man selbst werden ist ja eben eine Bewegung an Ort. Werden ist eine Bewegung von Ort, aber man selbst werden ist eine Bewegung an Ort.189
Die Verzweiflung der Möglichkeit wäre ein Sich-Selbst-Entlaufen durch zuviel vorschnelle Bewegung, und die Verzweiflung der Notwendigkeit wäre ein Erstarren auf der Stelle. Anti-Climacus bemüht den Topos einer Entfernung des Menschen von sich selbst, der im 19. Jahrhundert erst durch Hegel, dann durch Marx und die Junghegelianer eine neue Hochkonjunktur erlebt hat. Aber Anti-Climacus setzt eigene Akzente: Nicht nur, daß er wieder einen Gottesbegriff ins Spiel bringt und damit die Säkularisierung des Geistes ignoriert, welche von Hegels Begriffsphilosophie und Marx’ sozio-politischer Eschatologie vorgenommen worden ist. Durch die Überlegungen zur Bewegung remetaphorisiert Kierkegaard die SelbstEntfremdung auf plastische Weise. Die Vorstellung des Selbstseins als Bewegung, ihrer Verfehlungen als Erstarrung, vorgetäuschte Bewegung, Voreiligkeit und Hast bereitet die Grundlage für Kierkegaards Kulturkritik. Zudem, daß wird später zu zeigen sein, ist auch Kierkegaards Entwurf einer posthegelianischen Philosophie von der Vorstellung geleitet, beim Leser existentielle Bewegungen zu initiieren.
188 SKS 11, 151 / KT, 32. 189 SKS 11, 151 / KT, 32.
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Vorerst gilt es, sich der Verzweiflung der Notwendigkeit zuzuwenden. Diese ist gekennzeichnet durch Hoffnungslosigkeit, durch Festgefahrensein im Dasein: Deterministen wie Fatalisten haben ihr Selbst verloren, weil sie ihr Leben als vollkommen von Notwendigkeit dominiert verstehen und Möglichkeiten der eigenen Verantwortung nicht wahrhaben. Es gibt eine Variante der Verzweiflung der Notwendigkeit, welches ein neues Phänomen des 19. Jahrhunderts zu sein scheint und welches Anti-Climacus in deutlicher Anspielung auf seine Zeitgenossen als „Spießbürgerlichkeit“ [Spidsborgerlighed] kennzeichnet:190 Der Spießbürger führe die Möglichkeit „eingesperrt im Käfig des Wahrscheinlichen rings umher“191 und bilde sich ein, sie zu beherrschen. Damit hebt Anti-Climacus einen weiteren Aspekt der verzweifelten Existenz hervor, welche er bereits als Verzweiflung der Endlichkeit beschrieben hat: Das Aufkommen der Statistik, als deren Ergebnis er die Einordnung des Individuums in eine ‚Masse‘ problematisiert hat, fördere auch den Verlust des Vertrauens in die Offenheit der Existenz, darin, daß „bei Gott in jeglichem Augenblick“ alles möglich sei.192 Die Selbstzufriedenheit des Spießbürgers ist auf wackligem Grund gebaut, er ist unfähig, mit dem Plötzlichen, dem Einbruch des Unerwarteten in sein Leben umzugehen. Dann hilft, so Anti-Climacus, „das Dasein mit Schrecknissen, welche die Papageienweisheit der Alltagserfahrung überschreiten, dann verzweifelt die Spießbürgerlichkeit, das heißt, dann wird es offenbar, daß sie Verzweiflung schon gewesen ist“193 . Indem die unbewußte Verzweiflung offenbar wird, ist sie einerseits gesteigert, da der Betroffene Leid empfindet, andererseits bringt sie ihn der Gesundung näher.
2.3.2.2 „Verzweiflung gesehen unter der Bestimmung Bewußtsein“ In einem erneuten Zugriff analysiert Anti-Climacus die Verzweiflung hinsichtlich ihres Bewußtseinsgrades.194 Gemäß der Definition des Selbst als selbstreflexives Verhältnis gilt: Je mehr der Mensch sich bewußt ist, verzweifelt zu sein, desto näher ist er seinem wahren Selbst – aber gleichzeitig desto ferner, da er wissentlich
190 SKS 11, 157 / KT, 39; vgl. Bruce H. Kirmmse, „Psychology and Society: The Social Falsification of the Self in The Sickness Unto Death“, in Kierkegaard’s Truth: The Disclosure of the Self, hg. von Joseph H. Smith, New Haven und London: Yale University Press 1981, S. 167–192, S. 177–178. 191 SKS 11, 157 / KT, 39. Zu der sozialen Typologie, die den psychologischen Verzweiflungsformen inhärent ist, sowie zu deren typischer Erscheinung im 19. Jahrhundert, des Spidsborgers, vgl. Kirmmse, „Psychology and Society“, a. a. O., bes. S. 177–186. 192 SKS 11, 155 / KT, 37. 193 SKS 11, 156 / KT, 38. 194 SKS 11, 157ff. / KT, 39ff.
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in der Verzweiflung verharrt. Als Verzweiflung der Schwachheit bezeichnet Kierkegaard das Phänomen, nicht man selbst sein zu wollen. Meist leben die derart Verzweifelten in unreflektierter Unmittelbarkeit und nehmen sich als „ein Stück mehr innerhalb des Bereichs der Wirklichkeit und Zeitlichkeit“195 wahr, d.h. ohne auf Ewigkeit und Möglichkeit als Aspekte ihres Selbst zu reflektieren. Sie sind mehr passiv als aktiv, und so bricht die in ihnen schlummernde Verzweiflung dann auch durch eine äußere Veränderung aus: Diesem unmittelbaren Selbst widerfährt nun also. . . etwas, das es zur Verzweiflung bringt; auf andre Art kann es hier nicht geschehen, da das Selbst keine Reflexion in sich hat; was zur Verzweiflung bringt, muß von außen her kommen, und die Verzweiflung ist reines Erleiden. Dasjenige, darin der Unmittelbare sein Leben hat, oder, sofern er doch ein klein bißchen Reflexion in sich hat, der Teil davon, an welchem er im besonderen hängt, wird ihm geraubt ‚durch einen Schlag des Schicksals‘, kurz, er wird, wie er es nennt, unglücklich, das heißt, die Unmittelbarkeit in ihm bekommt einen solchen Knacks, daß sie sich selbst nicht wiederherstellen kann: er verzweifelt.196
Die subjektive Erfahrung des Verzweifeltseins verschwindet jedoch, sobald die äußere Situation wiederhergestellt ist. Dann nimmt der Verzweifelte sein altes Leben wieder auf – „er fängt an, wo er aufgehört hat, ein Selbst ist er nicht gewesen, und ein Selbst ist er nicht geworden, sondern lebt nun weiter fort, rein unmittelbar bestimmt“197 . In dem Fall, in dem keine Rückkehr in das vorige Leben möglich ist, bleibt der Betroffene durch die Verzweiflung, Traurigkeit und Enttäuschung mit sich selbst konfrontiert. Er ist sich so immerhin seiner selbst bewußt, aber er leistet nicht die Aufgabe, sein Selbst zu übernehmen. Stattdessen betont er, wenn er von seinem Schicksalsschlag berichtet, daß er nie wieder er selbst werde, und er lebt, indem er die anderen nachäfft und auf ihre, nicht auf seine Weise existiert. AntiClimacus kategorisiert eine solche unbewußte Verzweiflung der Schwachheit, die anläßlich etwas Irdischem verzweifelt, als „verzweifelt nicht man selbst sein wollen, oder noch niedriger: verzweifelt kein Selbst sein wollen, oder am allerniedrigsten: verzweifelt ein anderer sein wollen als man selbst, ein neues Selbst sich wünschen“198 . Die aktuelle Existenz, ihre kontingenten Bedingungen und den jeweilige Spielraum von Möglichkeiten lehnen die derart Verzweifelten jedenfalls ab.
195 196 197 198
SKS 11, 165 / KT, 49. SKS 11, 166f. / KT, 49f. SKS 11, 167f. / KT, 51. SKS 11, 168 / KT, 51.
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Es klang bereits an: Reflexion ist bedeutsam zur Entwicklung der Verzweiflung wie zu ihrer Klassifizierung. Beginnt der unmittelbar Verzweifelte auf sich selbst zu reflektieren, „so wandelt sich die Verzweiflung etwas ab; es entsteht etwas mehr Bewußtsein vom Selbst, und vermöge dessen davon, was Verzweiflung ist, und davon, daß der Zustand, in dem man ist, Verzweiflung ist“199 . Theoretisch besteht nun die Chance, die beschwerliche Aufgabe der Selbstwerdung auf sich zu nehmen und derart den Weg aus der Verzweiflung zu finden. Dies ist jedoch selten, denn „indem nun das Selbst mit einem gewissen Maße von Reflexion in sich daran geht, das Selbst zu übernehmen, stößt es auf die eine oder andre Schwierigkeit in der Zusammensetzung des Selbsts“200 und schreckt vor dieser zurück. Selbstwerdung, so merkt der Betroffene zu seiner Entmutigung, ist kein Wunschkonzert. Meist gibt er hier auf, er will sein Selbst nicht. Das beschwerliche Unterfangen einer durchdringenden Reflexion, einer schonungslosen und gleichzeitig bejahenden Bestandsaufnahme seiner Existenz bricht er ab, und die „Frage nach dem Selbst in tieferem Sinne wird eine Art von blinder Tür im Hintergrund seiner Seele“201 . Der halbherzig Reflektierende „nimmt auf sich, was er in seiner Sprache sein Selbst nennt, das will heißen, was ihm an Fähigkeiten. . . gegeben sein mag, alles dies jedoch nimmt er auf sich mit der Richtung nach außen hin, dem (wie es heißt) Leben gegenüber. . . er geht sehr vorsichtig um mit dem bißchen Reflexion in sich“, und im Laufe der Jahre vergißt er die Verzweiflung. Er führt ein erfolgreiches bürgerliches Leben, er ist Christ – allerdings nur so, wie er „in Holland Holländer“ wäre –, gar „einer von den gebildeten Christen“ und versteht sich selbst als tiefsinnig. Die Frage nach der Unsterblichkeit beschäftigt ihn, „und mehr als einmal hat er den Pastor gefragt, ob es eine solche Unsterblichkeit gebe, ob man wirklich sich selber wiedererkennen werde“, etwas, so Anti-Climacus geradezu boshaft, „das ja auch für ihn ein ganz eigenes Interesse haben muß, sintemal er ein Selbst nicht hat“202 . Ein „bedeutender Fortschritt“ dieser Verzweiflungsform besteht in der Verzweiflung über die Schwachheit, nicht man selbst sein zu wollen, denn hier ist das Bewußtsein potenziert: Der Verzweifelte versteht selbst, daß es Schwachheit ist, sich das Irdische so zu Herzen zu nehmen. . . Anstatt aber nun richtig abzubiegen von der Verzweiflung fort zum Glauben hin, indem er sich vor Gott unter seine Schwachheit demütigt, vertieft er sich in die Verzweiflung
199 SKS 11, 169 / KT, 52. 200 SKS 11, 169 / KT, 53. 201 SKS 11, 171 / KT, 55. 202 SKS 11, 171 / KT, 55. Sämtliche Zitate dieses Absatzes finden sich hier.
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und verzweifelt über seine Schwachheit. Dadurch kehrt sich der ganze Gesichtspunkt um, er wird sich seiner Verzweiflung nun deutlicher bewußt, daß er am Ewigen verzweifle, er verzweifelt über sich selbst, daß er schwach genug hat sein können, dem Irdischen so große Bedeutung beizulegen, und dies wird ihm nun verzweifelt der Ausdruck dafür, daß er das Ewige. . . verloren hat.203
Anti-Climacus verweist explizit auf die Steigerung hinsichtlich der Verzweiflung als Krankheit (negativ erfahren aus der Sicht des Betroffenen), aber auch als Heilmittel (aus der Sicht des Arztes). Schließlich sei es unmöglich, am Ewigen zu verzweifeln, „ohne eine Vorstellung. . . zu haben, daß etwas Ewiges in ihm [dem Selbst, B.-L.] ist“204 . Diese Form der Verzweiflung ist im Gegensatz zu der vorigen zu schmerzhaft, um verdrängt zu werden. Die Chancen auf Heilung stehen hier besser, denn „in jedem Augenblick aber, da die Verzweiflung offen gehalten wird, ist auch die Möglichkeit der Erlösung da“205 . Allerdings verzeichnet das sorgfältige Auge Anti-Climacus’ eine Strategie, sich der ‚Erlösung‘ zu entziehen: die Verschlossenheit. Die Metapher des Transits weiter ausgestaltend, beschreibt Anti-Climacus die letzte Stufe der Verzweiflung, nicht man selbst sein zu wollen, als einen verzweifelten Stolz: „Jene blinde Tür, von der im Vorhergehenden gesprochen worden. . . ist hier eine richtige, freilich aber sorgfältig verschlossene Tür, und hinter ihr sitzt gleichsam das Selbst und paßt auf sich selber auf, indem es damit beschäftigt ist. . . nicht es selbst sein zu wollen und dennoch Selbst genug ist[,] um sich selber zu lieben.“206 Es ist Bewußtsein da von dem Selbst, auch von den Zumutungen, dieses zu akzeptieren. Es findet jedoch keine Bewegung statt, keine tätige Konkretion. Stattdessen „marschiert“ der Verzweifelte in der Verschlossenheit „auf der Stelle“207 . Dies ist die stärkste Form der Verzweiflung der Schwachheit: Der Verzweifelte baut seine Existenz regelrecht auf Selbstverneinung, auf Trotz – auf die Verzweiflung, verzweifelt man selbst sein zu wollen. Hier ist das Bewußtsein vom Selbst und von der Verzweiflung wiederum gesteigert. Zudem ist ihr Anlaß nun nicht mehr äußerlich, sondern sie wird als das wahrgenommen, was sie ist: als vom Selbst ausgehend. Der trotzig Verzweifelnde will nicht die Grenzen der Möglichkeiten seiner Existenz anerkennen. Er will unbeschränkt schöpferisch über sich verfügen können. Er hat das gesteigerte Bewußtsein von einem unendlichen Selbst, aber dieses unendliche Selbst ist „ei-
203 SKS 11, 176 / KT, 61. 204 SKS 11, 176 / KT, 61. 205 SKS 11, 177 / KT, 62. Zur Erlösung als göttlicher Handlung im Prozeß der Selbstwerdung siehe Kapitel 4.5. 206 SKS 11, 177 / KT, 62. 207 SKS 11, 180 / KT, 66.
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gentlich bloß die abstrakteste Form, die abstrakteste Möglichkeit des Selbst“208 . Genau das will der Trotzende sein, und dazu reißt er sein Selbst los von der Macht, die es gesetzt hat, bzw. „von der Vorstellung, daß eine solche Macht da sei“209 . Er will sein Selbst von Grund auf neu gestalten; anstatt es sich tätig und unter kontingenten Bedingungen anzuverwandeln, verlangt er zu „bestimmen, was er in seinem konkreten Selbst mit dabei haben will und was nicht“210 . Diese Erscheinung der Verzweiflung trägt blasphemische Züge. Sie ist jedoch gerade deswegen der Heilung näher, da der „Mißbrauch des Ewigen, das im Selbst ist“211 , eine Wahrnehmung des Ewigen voraussetzt. Der Trotzige geht lediglich in die falsche Richtung: „Auch die Verzweiflung, welche der Durchgang zum Glauben ist, geschieht vermöge des Ewigen; vermöge des Ewigen hat das Selbst den Mut, sich selbst zu verlieren, um sich selbst zu gewinnen, hier hingegen will es nicht damit anheben, sich selbst zu verlieren, sondern will es selbst sein.“212 Anti-Climacus untergliedert das Phänomen des Trotzes anhand des Aspektes der Handlung bzw. des Leidens. Das handelnd-trotzige Selbst, das verzweifelt es selbst sein will, ist ein hypothetisches Selbst, es ‚experimentiert‘ lediglich, legt sich nicht fest: „Die negative Form des Selbst [als reine Möglichkeit] übt so sehr die Lösegewalt wie die Bindegewalt aus; es kann durchaus jeden Augenblick willkürlich von vorne anfangen, und wie weit auch ein Gedanke verfolgt werde, die gesamte Handlung liegt innerhalb einer Hypothese.“213 Leiden entsteht dann, wenn das derart experimentierende Selbst etwas in sich wahrnimmt, was ihm nicht gefällt, was es aber nicht einfach auflösen kann. Der Trotzige will keine Hilfe, und „hat er sich dessen vergewissert, daß dieser Pfahl im Fleisch. . . so tief nagt, daß er nicht von ihm zu abstrahieren vermag, so will er gleichsam ihn auf ewig übernehmen“214 . Ein derart Verzweifelter pocht geradezu auf seine Qual und nimmt sie zum Anlaß, am ganzen Dasein Ärgernis zu nehmen, gegen das er nun antritt. Auch hier ist eine Steigerung möglich: Je mehr Bewußtsein in dem Leiden ist, desto mehr „potenziert sich die Verzweiflung und wird zum Dämonischen“215 . Das Dämonische ist dadurch gekennzeichnet, daß dem Trotzigen die Qual zum einzi-
208 SKS 11, 182 / KT, 68. 209 SKS 11, 182 / KT, 68. 210 SKS 11, 182 / KT, 68. Ferner heißt es, der Trotzige wolle „nicht in dem ihm gegebenen Selbst die ihm gestellte Aufgabe erblicken“, sondern „vermöge dessen, daß er die unendliche Form ist, es selber konstruieren.“ SKS 11, 182 / KT, 68. 211 SKS 11, 181 / KT, 67. 212 SKS 11, 181 / KT, 67. 213 SKS 11, 183 / KT, 69. 214 SKS 11, 184 / KT, 71. 215 SKS 11, 185 / KT, 72.
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gen Sinn seines Lebens wird. Er will sein Leid als Beweis ins Feld führen gegen die Möglichkeit einer gelingenden Existenz überhaupt. Derart versteht er sich als erhaben über andere Menschen: Eben auf diese Qual wirft er sich dann mit seiner ganzen Leidenschaft, die zuletzt zu einem dämonischen Rasen wird. Gesetzt auch, es geschähe, gesetzt auch, Gott im Himmel und alle Engel erböten sich[,] ihm herauszuhelfen, nein, jetzt will er nicht[,] jetzt ist es zu spät, es war einmal, daß er gern alles darangegeben hätte, um dieser Qual quitt zu werden, man ließ ihn warten. . . jetzt will er lieber wider alles rasen, lieber der von der ganzen Welt, vom Dasein Verunrechtete sein, welchem es gerade von Wichtigkeit ist, darauf zu achten[,] daß er seine Qual bei der Hand habe, daß niemand sie ihm fortnehme – denn alsdann könnte er es ja nicht beweisen. . . daß er recht hat.216
Diese dämonische Verzweiflung begreift sich selbst als eine Revolte gegen das Dasein. Sie ist eine Auflehnung gegen ‚das Andere‘, das es gesetzt hat. Anti-Climacus spricht nicht von einem expliziten Gottesbewußtsein eines derart Verzweifelnden, jedoch deutet das obige Zitat das Umschlagen des Dämonischen in Sünde an. Diese ist Gegenstand des theologischen Teils der Krankheit zum Tode, in welchem es darum geht, mit dem Bewußtsein von Gott zu verzweifeln. Für die Grundlegung der anschließenden Analyse von Kierkegaards Kulturkritik, die sich spezifisch dem 19. Jahrhundert zuwendet, wird der theologische Teil ausgeklammert – was nicht bedeutet, daß die Rolle des Glaubens außer acht zu lassen ist, gilt doch für den verzweiflungsfreien Zustand: „Indem es sich zu sich selbst verhält, und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat.“217 Diese Beschreibung eines gelungenen Selbstseins, und damit schließen die Überlegungen zur Krankheit zum Tode, gilt Anti-Climacus als Definition des Glaubens.
2.3.3 Zusammenfassung: Die Krankheit zum Tode als Grundlage für eine Analyse der Kulturkritik Kierkegaards Mit scharfem Begriffsbesteck und mikroskopischem Blick seziert Anti-Climacus die verschiedenen Varianten und Intensitätsgrade der Verzweiflung, über die in diesem Zusammenhang nur ein summarischer Überblick gegeben wurde. Festzuhalten ist für die folgenden Überlegungen dies: Kierkegaard operiert mit dem flexiblen Ideal einer Existenz, das nicht inhaltlich bestimmt ist, sondern strukturell. Gelingendes Selbstsein beinhaltet Reflexion auf die aktuelle Situation der indi-
216 SKS 11, 185 / KT, 72. 217 SKS 11, 129 / KT, 10.
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viduellen Existenz, auf deren Möglichkeiten und Beschränkungen. Dazu gehört auch die Erfahrung des Geworfenseins, welche bei Anti-Climacus im Gegensatz zu späteren Denkern der Existenz als Gesetztsein durch einen christlichen Gott begründungslos dahingestellt wird.218 Die Reflexion ist eine notwendige Bedingung der Selbstwerdung. In der Krankheit zum Tode wie auch in anderen Schriften Kierkegaards hat ‚Reflexion‘ mehrere Bedeutungen. Sie bezeichnet nicht nur die kognitive Fähigkeit, sondern setzt viel basaler an: Reflexion ist ein Zurückgeworfenwerden auf sich selbst in extremer Betroffenheit.219 Kierkegaard verbindet Reflexion zudem mit Phantasie, der Fähigkeit zu Entgrenzung. Nicht nur der Spießbürger, der Wahrscheinlichkeiten berechnet, hat daher ‚zuviel Reflexion‘, sondern ebenso der Dichter, der schwärmerisch eine mögliche Welt nach der anderen entwirft. Es klingt noch eine weitere Bedeutung von Reflexion an: Spiegelung. So heißt es bereits in der Bestimmung des Wesens des Menschen: „Das Selbst ist Reflexion, und die Phantasie ist Reflexion, ist Spiegelbild des Selbsts, welches die Möglichkeit des Selbst ist.“220 Die Möglichkeit des Selbst geht verloren in der Verzweiflung der Notwendigkeit, in welcher der Betroffene die „Papageienweisheit der Alltagserfahrung“221 nachplappert. Diese Alltagserfahrung wird maßgeblich bestimmt durch das, was ‚man‘ tut – und so überschneidet sich die Verzweiflung der Notwendigkeit mit der der Endlichkeit: Jeder versucht, „so zu sein wie die andern, eine Nachäffung zu werden“222 . Hier wird nicht die Möglichkeit des je eigenen Selbst gespiegelt, sondern das Verhalten der anderen. Halten wir fest: Reflexion ist untrennbar von dem Selbst, wie es Kierkegaard konzipiert, und sie ist auf vielfältige Weise an dem Scheitern der Selbstwerdung beteiligt. In der von Kierkegaard 218 Siehe z.B. Albert Camus’ Geschichte des Malentendu, die als eine ironische Replik auf Kierkegaards Lob des Ärgernisses gelesen werden kann, welches das Incognito des Erlösers darstellt – so Rainer Thurnher. Auch die Vereinzelung wird von Camus anders bewertet: „Während die Zumutung der Aussonderung für Kierkegaard nur einen Probierstein mehr auf dem christlichen Heilsweg abgibt, sieht Camus in ihrer Unannehmbarkeit ein letztes und entscheidendes Incitament auf jenem Weg der metaphysischen Revolte, an dessen Ende der Gottestod im Nietzsche’schen Sinne steht.“ Rainer Thurnher, „Das Incognito als Signatur der Heilsbotschaft bei Camus und Kierkegaard“, in Die Sprachen der Religion, hg. von Florian Uhl und Artur R. Boelderl, Berlin: Parerga 2003, S. 131–150, S. 150. 219 Demnach trifft Kierkegaard auch nicht Böhmes Kritik an dem modernen Reflexionsmodell: „Der Fehler am Reflexionsmodell ist im Grunde gar nicht, dass nach ihm sich Selbstbewusstsein durch Reflexion konstituiert, es geht auch gar nicht um die Frage, ob Selbstbewusstsein reflexiv ist – es gibt beides –, der Fehler ist vielmehr, Reflexion nur als einen kognitiven Akt zu verstehen.“ Gernot Böhme, Ich-Selbst. Über die Formation des Subjekts, München: Fink 2012, S. 20. 220 SKS 11, 147 / KT, 27. 221 SKS 11, 156 / KT, 38. 222 SKS 11, 149 / KT, 30.
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beschriebenen Gegenwart taucht sie in mehreren Varianten auf. Sie ist nicht nur Gegenstand seiner Kultur- und Philosophiekritik, sondern verweist auch auf die Möglichkeit der Heilung oder ‚Erlösung‘, wie es in der Krankheit zum Tode heißt. Dies wird Kapitel 4.5 anhand der Erbaulichen Rede „Der rechte Beter“ zeigen. Die Dialektik der Verzweiflung verdeutlicht: Selbstsein ist keine Urbestand, sondern das Ergebnis eines Durchgangs durch Verzweiflung. Genau genommen kann daher auch nicht von Selbst-Entfremdung gesprochen werden, denn der Zustand des Nicht-Selbstseins ist dem des Selbstseins vorgängig. Damit entspricht Kierkegaards Konzeption der These Gernot Böhmes einer „Geburt des Subjekts aus dem Schmerze“223 . Was Böhme von dem Zusammenhang zwischen körperlichem Schmerz und Persönlichkeitsbildung behauptet, gilt auch für den in der Krankheit zum Tode dargestellten psychischen Schmerz: „Es ist nämlich die betroffene Selbstgegebenheit gerade dort, wo sie zur fast unerträglichen Bedrängnis wird, was den Anlass dazu gibt, in sich eine Instanz der Selbständigkeit herauszubilden, die geeignet ist, das, was mich unausweichlich angeht, lebenspraktisch zu bewältigen.“224 Die unbewußte Verzweiflung ist für den Betroffenen am angenehmsten; er verspürt keinen Schmerz. Sie ist aber auch am gefährlichsten, denn der Prozeß der Gesundung verläuft über eine Intensivierung der Krankheit als einer Steigerung des Bewußtseins, überhaupt ein Selbst als Aufgabe zu haben. Wie eine Heilung von der Verzweiflung stattfindet, bleibt vage und ist, das betont Anti-Climacus zu Beginn ausdrücklich, auch nicht Gegenstand der Schrift. Anti-Climacus verweist lediglich auf den Idealzustand eines reflexiven Selbstverhältnisses, das ein Gottesverhältnis impliziert, und er betont, daß es sich nicht darauf beläuft, diesen Zustand einmalig zu erschließen. Vielmehr, so die FichteReminiszenz, ist es eine andauernde Tätigkeit mit der permanenten Gefahr des ‚Rückfalls‘. Was jedoch veranlaßt diese Tätigkeit? Innerhalb der Verzweiflung ist dies eindeutig: Schicksalsschläge, Identitäts- und Sinnkrisen verstärken die Verzweiflung, machen sie überhaupt erst bewußt oder führen zu einer Auseinandersetzung mit der Geworfenheit der eigenen Existenz durch ‚etwas Anderes‘. AntiClimacus verwendet häufig den Ausdruck, den Weg in den Glauben einschlagen bzw. in die andere Richtung gehen. Was führt dazu, an der Wegscheide die richtige Richtung zu nehmen? Das, was von Kierkegaards Denken als kanonisch gilt: ein
223 Böhme, Ich-Selbst. Über die Formation des Subjekts, a. a. O., S. 11. 224 Ebd. Kierkegaard zieht die Bezeichnung ‚Selbst‘ der des ‚Subjekts‘ oder der ‚Subjektivität‘ vor, weil er, so Herman Deuser, mit letzteren vor allem die idealistische Philosophie assoziiert, gegen deren Vernachlässigung der konkreten Existenz er Einspruch erhebt; Hermann Deuser, „Kierkegaards Verteidigung der Kontingenz: ‚Daß etwas Inkommensurables in einem Menschenleben ist‘“, Kierkegaardiana 15, 1991, S. 104–116, S. 104. Dies betrifft jedoch nicht die Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, in welcher der ‚subjektive Denker‘ als vorbildlich gilt.
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Sprung, eine Entscheidung. Damit ist es jedoch nicht so leicht getan, das Problem wird auf diese Weise nur verschoben. Der Zusammenhang von Entscheidung, Reflexion und einem göttlichen Gnadenakt, auf den Anti-Climacus als ‚Erlösung‘ hinweist, wird im vierten Kapitel dieser Arbeit geklärt. Vorerst ist anzuerkennen, daß Anti-Climacus nicht nur die Krankheit zum Tode diagnostiziert, sondern auch den Prozeß der Gesundung vorantreibt, indem er die Krankheit verstärkt, sozusagen eine Schwitzkur verabreicht. Die Lektüre der Krankheit zum Tode, in der detailliert die verschiedenen Varianten und graduellen Schattierungen der Erscheinungsformen der Verzweiflung beschrieben werden, reißt diejenigen, die unbewußt verzweifelt sind, aus ihrer Unmittelbarkeit. Der Lesende ist konfrontiert mit einem Modell des Selbstseins, zu dem er Stellung beziehen muß, selbst wenn er dieses ablehnt. Derart wird Reflexion angeregt – zwar keine hinreichende, aber immerhin eine notwendige Bedingung der Selbstwerdung. In dieser Hinsicht ist die Krankheit zum Tode auf genau die Weise erbaulich, wie in ihrem Vorwort definiert – sie äußert Besorgnis und zeigt den Grund dafür: In der Moderne habe man die Aufgabe der Selbstwerdung vergessen. Laut Kierkegaard wird diese existentielle Amnesie durch die Kultur des 19. Jahrhunderts gefördert, aber auch durch die spekulative Philosophie. Dies wird im dritten Kapitel untersucht. Dort wird auch die Erinnerungshilfe nach Sokratischem Vorbild erörtert. Ein Mittel dieser mahnenden Erinnerung ist die Irritation und das Involvieren des Lesers. Die Krankheit zum Tode macht den Leser darauf aufmerksam, ein Selbst zu haben. Wie in den anderen Schriften Kierkegaards kann sich der Leser auch hier nicht der Betroffenheit entziehen: tua res agitur.225 Der kranke wie der gesunde Zustand des Selbstverhältnisses wird in der Metaphorik der Bewegung beschrieben. Dabei fällt auf, daß man selbst werden einerseits als „eine Bewegung an Ort“226 definiert wird, andererseits aber auch der Durchgang, der Weg und die Richtung betont werden. Derjenige, der verzweifelt nicht er selbst sein will und sich regelrecht hieran festklammert, so heißt es, sei einer, „welcher in der Verschlossenheit auf der Stelle marschiert“227 – eine irritierende Formulierung, wenn sie mit der Formel der Selbstwerdung verglichen wird,
225 Vgl. SKS 4, 128 / FZ, 31. Hirsch übersetzt das von Kierkegaard frei nach Horaz (ep. I 18, 84) auf Latein Zitierte ins Deutsche. Ähnliches findet sich in Kierkegaards Journalen: „In al[ten] Zeiten glaubte man, was man hörte[,] ginge einen selbst [Een selv] an: de te fabula, alles ginge einen an; jetzt glaubt ein jeder, dass er eine Fabel erzählen kann, die die ganze Menschheit angeht, nur nicht ihn.“ SKS 18, 236, JJ:306 / DSKE 2, 244. 226 SKS 11, 151 / KT, 32. 227 SKS 11, 180 / KT, 66.
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laut der „man selbst werden. . . ja eben eine Bewegung an Ort“ ist.228 Ein genaues Lesen hebt die Ambivalenz auf: Der Ort, an dem die Bewegung stattfindet, ist das zu konkretisierende Selbst. Von ihm kann man sich nicht entfernen, ohne die Selbstwerdung zu verfehlen. Es gilt für jeden Menschen, unter den gegebenen Bedingungen seine jeweiligen Potentiale zu realisieren. Die Bewegung auf der Stelle in der Verschlossenheit der verzweifelten Selbstverneinung ist daher eine Bewegung, die sich von dem Selbst fortbewegt. Die verschiedenen Verzweiflungsphasen und -formen sind immer zu durchschreiten, wie das Bild der Tür unterstreicht. Diese aspektreiche Metaphorik der Bewegung spielt in Kierkegaards Verständnis einer kulturkritischen Philosophie, welche sich um die Lebensbedingungen ihrer Zeitgenossen sorgt, eine entscheidende Rolle. Die Performanz seiner Philosophie – einer Philosophie, die Bewegung darstellt und initiiert – ist Gegenstand des vierten Kapitels. Der Zustand des Menschen ist allzeit kritisch, das ist eine der Hauptaussagen der Krankheit zum Tode. Die Krise ist der Struktur des Selbst inhärent: Sie ist notwendige Voraussetzung der Selbstwerdung, und diese ist ein unabschließbarer Prozeß. Selbstwerdung findet immer unter kontingenten Bedingungen statt. Die Kultur des 19. Jahrhunderts fördert die unbewußte Verzweiflung, d.h. die Selbstvergessenheit, aber auch die ‚Verzweiflung der Notwendigkeit‘ und ‚der Endlichkeit‘. Mit diesen Formen der Verzweiflung setzt sich Eine literarische Anzeige auseinander, dabei besonders die sozialen und kulturellen Phänomene des Publikums, der Masse und der Reflexion analysierend. Die Dialektik, welche die Krankheit zum Tode drei Jahre später beschreibt, greift bereits hier: Die kritisierten Phänomene sind nicht nur Übel, sondern auch Heilmittel – sie bieten hervorragende Möglichkeiten der Selbstwerdung.
2.4 Die Verzweiflung des 19. Jahrhunderts 2.4.1 Eine literarische Anzeige als Kulturkritik Im März 1846 erscheint eine Rezension mit ungewöhnlichem Umfang: Eine Literarische Anzeige über die Novelle Zwei Zeitalter von Thomasine Gyllembourg.229 Gleich zu Beginn betont Kierkegaard, die Rezension sei nicht für „kritische Zei-
228 SKS 11, 151 / KT, 32. 229 Gyllembourg hat anonym publiziert, jedoch ist es in intellektuellen Kreisen ein offenes Geheimnis gewesen, daß die Mutter Heibergs hinter dem Epithet ‚Verfasser der Alltagsgeschichte‘ steht. Das Pseudonym weist auf Gyllembourgs Novelle Eine Alltagsgeschichte (1828) zurück, die den Grundstein für eine erfolgreiche Serie legte. Zu Gyllembourgs schriftstellerischer Tätigkeit,
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tungsleser [critiske Avislæsere] bestimmt, sondern für vernünftige Geschöpfe, welche so viel Zeit und Geduld aufbringen, ein kleines Buch lesen zu können“230 . Der Text setzt also mit einer contradictio in adiectio ein, wenn er entgegen seines eindeutigen Titels suggeriert, eigentlich keine Rezension zu sein – oder zumindest nicht so eine, wie sie seine Zeitgenossen gewohnt sind. Das Tableau von Kierkegaards Kulturkritik öffnet sich damit bereits im Vorwort: Hauptgegenstand seines Einspruchs gegen die Kultur des 19. Jahrhunderts ist das ‚Publikum‘, das Ergebnis eines medialen Strukturwandels. Mit dem erstarkenden Phänomen der Tagespresse als Massenmedium sind alle weiteren Kritikpunkte verbunden, die Kierkegaard im Laufe der Literarischen Anzeige entwickelt: eine falsch verstandene Bildung, Hyperreflexion bei gleichzeitiger Apathie, Voreiligkeit, Neid und Entindividualisierung. Kierkegaard wiederholt das, was Gyllembourg als ihr Vorhaben kennzeichnet: zu spiegeln. Wie die Novelle die bürgerlichen Lebensverhältnisse zu Anfang des 19. Jahrhunderts spiegelt, so spiegelt Kierkegaard durch die Form – einer erweiterten Rezension – die Novelle. Wir haben es sogar mit einer dreifachen Brechung zu tun: Auf die Spiegelmode im 19. Jahrhundert, aber auch auf die Komödiengattung des Sittenspiegels anspielend, beteuert Gyllembourg im Vorwort zu Zwei Zeitalter, den „häuslichen Widerschein [Reflex]“231 aufzeigen zu wollen,
ihrer Rolle im Goldenen Zeitalter Dänemarks und für einen inhaltlichen Überblick über Zwei Zeitalter (To Tidsaldre) siehe Katalin Nun, „Gyllembourg’s Two Ages and her Portrayal of Everyday Life“, in Kierkegaard and His Contemporaries. The Culture of Golden Age Denmark, hg. von Jon Stewart, Berlin und New York: De Gruyter 2003, S. 272–279, sowie die Einleitung von Emanuel Hirsch zu der deutschen Übersetzung von LA, vii–xxiv. 230 SKS 8, 9 / LA, 3. Eine literarische Anzeige wurde lange Zeit von der Forschung als schriftstellerischer „Seitensprung“ Kierkegaards angesehen und nicht für philosophisch relevant gehalten; Emanuel Hirsch, „Geschichtliche Einleitung zur siebzehnten Abteilung“, in LA, S. vii–xi, S. vii. Dem 1998er Forschungsseminar des Kopenhagener Kierkegaard Research Centers ist es zu verdanken, mit diesem Vorurteil aufgeräumt zu haben. Es zeigt, wie sehr die vermeintliche Buchbesprechung eine wohlüberlegte Erwiderung auf den philosophischen Diskurs ihrer Zeit war. Als wegweisend sei daher auf das Kierkegaard Studies Yearbook 1999 verwiesen, das die Ergebnisse des genannten Forschungsseminars veröffentlicht. 231 Thomasine Gyllembourg, „To Tidsaldre“, in Samlede Skrifter af Forf. til „En HverdagsHistorie“, Bd. 1–12, 3. Aufl., Kopenhagen: Reitzel 1884 [1845], Bd. 12, S. 1–243, S. 3. Der Kontext legt es nahe, dänisch ‚Reflex‘ als ‚Reflexion‘ zu verstehen und nicht als biologisches Konzept einer Reaktion auf einen Reiz – auch war dessen begriffsgeschichtliche Hochkonjunktur im 19. Jahrhundert bereits vorüber; vgl. Georges Canguilhem, Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert, aus dem Französischen übers. und durch ein Vorwort eingeleitet von Henning Schmidgen, München: Fink 2008. Zur Untersuchung des Spiegelbooms und der Metapher des Spiegels, der im 19. Jahrhundert „zur fixen Größe in der bürgerlichen Weltformel“ wird, siehe Ralf Konersmann, Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts, Frankfurt/Main: Fischer 1991,
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den die drastischen Veränderungen in Folge der Französischen Revolution erzeugen. Die Handlung der Novelle reflektiert diesen Widerschein, jedoch in einem bestimmten Licht. Gyllembourg zitiert aus Prosper Mérimées Vorrede zu seiner Chronique du temps de Charles IX: „Es dünkt mich lehrreich, die Sitten jener Zeit mit den unsern zu vergleichen und bei letzteren darauf zu achten, wie die kräftigen Leidenschaften abgenommen haben zum Besten unsrer Ruhe und vielleicht auch unsers Glücks.“232 Auf diese implizite und komplexe Weise – mehrfach reflektiert – wird die Ende des 16. Jahrhunderts von Charles Perrault ausgelöste querelle des Ancients et des Modernes aufgerufen. Perrault hat die Frage zugunsten seiner Gegenwart beantwortet. Dies tut Gyllembourg nicht eindeutig. Ihre Begeisterung ist verhalten, wenn sie die Jahre um 1794 mit den 1840ern vergleicht; der Vorzug letzterer scheint sich auf Stabilität in den äußeren Verhältnissen und einer größeren Verbreitung von Bildung zu belaufen. Kierkegaards Rezension reflektiert nun indirekt die Kultur seiner Gegenwart, indem er die Novelle Gyllmenbourgs wiedergibt – (über sie) reflektiert –, welche wiederum die ‚Spiegelung‘ der Kultur im häuslichen Leben und in den Charakteren einzelner Personen literarisch bricht. Durch die Länge der ‚Rezension‘ und die Widerspiegelung der Novellenhandlung vermeidet Kierkegaard, den von ihm verpönten Kritikern zugerechnet zu werden. Nicht nur Kierkegaard zufolge fällen diese vorschnell oberflächliche Urteile, wie die Reaktion Heibergs auf Kierkegaards Literarische Anzeige verdeutlicht: Auch ich habe mit großem Vergnügen diese Kritik [Critik] gelesen. Was man in unseren sogenannten kritischen [critiske] (d.h. mäkelnden und naserümpfenden) Zeiten vollkommen vergessen hat, daß nämlich die Kritik damit beginnen muß, rezeptiv zu sein, bevor sie zu ihrer produktiven Arbeit fortschreitet, das zeigt sich hier praktisch und auf hervorragende Weise.233
Kierkegaards ‚Rezension‘ ist wohlwollend, auch das mag die Anerkennung des intellektuellen Magnaten bewirkt haben, und sie gibt der Novelle durch die lange Inhaltsangabe und eine ausführliche Charakteristik der handelnden Figuren viel Raum. Der zweite Teil der Schrift, die Kierkegaard als „Ausbeute an Beobachtun-
bes. S. 16. Zum speculum consuetudinis, auf das Gyllembourgs Vorwort ebenfalls rekurriert, vgl. ebd., S. 136. 232 Prosper Mérimée, Chronique du temps de Charles IX. Zitiert nach Emanuel Hirsch, „Vorbericht des Übersetzers über Thomasine Gyllembourg: ‚Zwei Zeitalter‘“, in LA, S. xiii–xxxii, S. xxi. 233 Brief Heibergs an Kierkegaard, 2. April 1846, in Niels Thulstrup (Hg.), Breve og Aktstykker vedrørende Søren Kierkegaard, Bd. 1–2, Kopenhagen: Munksgaard 1953–1954 (im folgenden zit. als B&A), Bd. 1, S. 151–152, S. 151 (meine Übers.).
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gen über die zwei Zeitalter“ (Udbytte for Iagttagelsen af de tvende Tidsaldere)234 bezeichnet, weist jedoch eine sehr eigenständige Interpretation der dargestellten Verhältnisse auf. Kierkegaard spitzt die Situation zu – er dramatisiert sie, wie es Gyllembourg ausdrückt: „Wenn ich meine Novelle mit Ihrem Buch vergleiche, so reich ausgestattet mit tiefgründigen, treffenden und klugen Beobachtungen, dann erscheint mir mein Werk eine einfache Romanze zu sein, von welcher ein Poet den Gegenstand genommen und ein Drama geschrieben hat.“235 Zum einen ergänzt Kierkegaard die Darstellung der Lebensverhältnisse im 19. Jahrhundert, zum anderen entwickelt er einen theoretischen Rahmen, der sich nicht in der Novelle findet. So ist die im folgenden zu analysierende kulturkritische Dichotomie von Leidenschaft und Reflexion eine Kreation Kierkegaards, und auch die Kategorien der Nivellierung und des Publikums finden sich nicht in Gyllembourgs Text; sie haben „de facto nichts mit diesem zu tun“.236 Der Spagat zwischen einer aufmerksamen Kritik, die ihren Gegenstand zur Geltung kommen läßt, und dem Projekt, über die Kritik indirekt eigene Ideen zu veröffentlichen – „ausgehend von irgendeiner Schrift“ eigene Gedanken zu entwickeln, aber so, daß „sie doch auch in der Schrift liegen könnten“237 –, ist Kierkegaard damit gelungen.
2.4.2 Verzweiflung in Eine literarische Anzeige Aus Gyllembourgs Erzählung, die sich um Familien- und Liebesbande spinnt und dieselben Figuren bzw. deren Kinder und Enkel zur Zeit der Französischen Revolution und der Restauration aufsucht, entwickelt Kierkegaard prägnante Charakterstudien der dargestellten Personen. Die in der Novelle beschriebene Revolutionszeit dient ihm, auch wenn er sich politisch nicht mit dieser identifiziert, als Kontrastfolie, vor der sich die Übel der Gegenwart um so schärfer kennzeichnen lassen. Die Akteure, die im zweiten Teil von Gyllembourgs Schrift auftauchen (d.h. im Rahmen der Handlung, die in den 1840ern spielt), sind laut Kierkegaard in ihrer Persönlichkeit alle von der Kultur des 19. Jahrhunderts negativ gezeichnet.
234 SKS 8, 58 / LA, 63. 235 Brief Gyllembours an Kierkegaard, 26. April 1846, in B&A, Bd. 1, S. 154–157, S. 155 (meine Übers.); vgl. Nun, „Gyllembourg’s Two Ages“, a. a. O., S. 295. 236 Katalin Nun, „Thomasine Gyllembourg: Kierkegaard’s Appreciation of the Everyday Stories and Two Ages“, in Kierkegaard and his Danish Contemporaries, Tome III, Literature, Drama and Aesthetics, Aldershot: Ashgate 2009 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 7), S. 151–167, S. 163. 237 SKS 18, 279, JJ:419 / DSKE 2, 290.
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Auch wenn Kierkegaard die Phänomenologie der Verzweiflung erst später systematisiert und veröffentlicht, so läßt sich mit ihr seine Analyse der Figuren treffend präzisieren. Diese sind einerseits der „Widerschein des Zeitalters“238 , andererseits treibt letzterer wiederum nur das Ungleichgewicht hervor, das in der Struktur der menschlichen Psyche potentiell enthalten und eigentlich jederzeit zu berücksichtigen ist. Die Gegenwart, welche bestimmte Verzweiflungsformen fördert, ist ein Zeitalter der Masse. Sie ist, so Kierkegaards Diagnose, „wesentlich verständig, reflektierend, leidenschaftslos, flüchtig in Begeisterung aufflammend und gewitzt in Indolenz ausruhend“239 . Dementsprechend leiden die Personen an Varianten der Verzweiflung der Endlichkeit (in Hinsicht auf die Definition des Menschen als Synthese) und der Verzweiflung der Schwachheit (bezüglich des Zusatzes, die Synthese müsse sich ihrer selbst bewußt sein). Aber tun wir es Kierkegaard gleich und illustrieren die zeittypischen Verzweiflungsformen in Betrachtung der Personen. Die schillerndste Hauptfigur, Frau Kommerzienrätin Waller, führt ein bürgerlich saturiertes Leben: Sie hat einen älteren wohlhabenden Kaufmann geheiratet und sich geschickt in dessen soziale Kreise eingefügt. Sie hat die „plattierte Kunstfertigkeit, alles Beliebige zu sein: liebenswürdig und dann doch wieder beschwerlich mit ihrem geschäftigen Wichtigtun, geputzt und dann doch wieder nahezu bloßgestellt mit ihrem golddurchwirkten Kleide, tugendhaft und kokett, gebildet und dann den wesentlich Gebildeten doch wieder peinlich berührend“240 . Ihr Charakter hat keine ‚Wesentlichkeit‘, sie ruht nicht in sich selbst, stürzt sich daher in das Amüsement, glänzt im Mittelpunkt von Parties und liebt den neu eröffneten Kopenhagener Vergnügungspark Tivoli. Ihr Lebensmotto, so Kierkegaard, läßt sich durch die Umkehrung der Worte Plinius’ zusammenfassen: „alles zur Schaustellung, nichts nach dem Gewissen.“241 Frau Waller ist nicht nur als literarische Figur ein Prototyp; auch gemessen an dem Schema der Krankheit zum Tode stellt sie die Verzweiflung der Endlichkeit geradezu in Reinform dar: Sie hat es in der bürgerlichen Welt zu Erfolg gebracht; indem sie deren Regeln geschickt befolgt hat, lebt sie nun wie eine „Dame von
238 Wiederholt greift Kierkegaard in seiner Charakterstudie die Formulierung Gyllembourgs auf, den Widerschein der historischen Veränderungen im Privatleben darstellen zu wollen, z.B. SKS 8, 51 / LA, 54; SKS 8, 52 / LA, 55; SKS 8, 56 / LA, 59. 239 SKS 8, 66 / LA, 72. Auch im Original heißt es: „Nutiden er væsentligen den forstandige, den reflecterende, den lidenskabsløse, den flygtigt i Begeistring opblussende og kløgtigt i Indolents udhvilende.“ 240 SKS 8, 52 / LA, 56. 241 SKS 8, 54 / LA, 58. Bei Plinius (ep. I, 22,5) heißt es „omina ad conscientiam, nil ad ostentationem“; vgl. die Anmerkung Hirschs in LA, 153 (Anm.).
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Welt“242 . Sie ist „kursfähig wie eine gangbare Münze“243 . Wie der in der Krankheit zum Tode dargestellte unbewußt Verzweifelnde hat sie „emsig zu tun mit allerlei weltlichen Angelegenheiten“244 . Die Hyperreflexion des 19. Jahrhunderts zeigt sich in ihrem Fall ganz plastisch als Widerspiegelung des Verhaltens anderer, als ‚Nachäffung‘ des erfolgreichen Großbürgertums, in das sie eingeheiratet hat. Indem sie sich ausschließlich an den anderen orientiert, nur in deren Blicken existiert und sich „darauf verstehen lernt, wie es in der Welt zugeht“245 , vergißt sie ihr Selbst. Frau Waller empfindet ihre Verzweiflung zwar nicht als solche, dennoch krankt sie an deren schlimmsten, der Heilung fernsten Form: Sie ist sich weder bewußt, ein Selbst zu haben, noch daß ihr Zustand ein verzweifelter ist. Eine weitere Hauptfigur ist Frau Wallers Stieftochter. Marianne Waller lebt nach der erneuten Heirat ihres Vaters nur noch als ‚Hausmamsell‘ in ihrem Elternhaus, derart muß sie ihrer Stiefmutter zu Diensten sein. Ihren ehemaligen Verlobten namens Ferdinand Bergland, welcher die Bindung aufgrund von finanziellen Sorgen aufgelöst hat, liebt sie noch immer – so die Beschreibung der Novelle. Kierkegaard legt den Schwerpunkt der Charakterstudie vor allem darauf, daß die junge Frau sich mit dem Entschluß Ferdinands widerstandslos abfindet. Kierkegaards Erklärung: Es mangelt ihr an Illusion oder an dem „Vorschuß der Unendlichkeit, aus dem die. . . Jahre [hindurch] gelebt werden muß, welche die Liebenden vereinen“246 . Die für das 19. Jahrhundert typische Verständigkeit spiegelt sich in Mariannes vorschneller Akzeptanz der Situation. Ihre Reflexion vermag nicht Möglichkeiten und Hoffnungen zu entwickeln, sie kreist stattdessen um die Schwierigkeiten der Wirklichkeit, pflegt aber auch ihre Liebe in einer von den äußeren Verhältnissen vollkommen zurückgezogenen Innerlichkeit. Marianne vermag Ferdinands Entschluß gegenüber „keinerlei Widerstand zu leisten, sie ist selbst von einer kummervollen Reflexion angerührt, in ihren Erwiderungen klingt in die wehmütige Kenntnis der Wirklichkeit eine Resignation hinein“247 . Obwohl Marianne sich durch die Innerlichkeit zumindest ihres Selbst bewußt ist, leidet sie doch an der Krankheit zum Tode: Sie nimmt die Aufgabe nicht auf sich, Möglichkeit und Notwendigkeit in ein harmonisches Verhältnis zu bringen, sondern findet sich vorschnell mit der gegebenen Situation ab. Auch wenn sie sich in die Innerlichkeit zurückzieht, leidet sie an der Verzweiflung der Endlichkeit und, ‚gesehen unter der Bestimmung Bewußtsein‘, an der Verzweiflung der Schwach-
242 243 244 245 246 247
SKS 8, 53 / LA, 57. SKS 11, 150 / KT, 30. SKS 11, 149 / KT, 30. SKS 11, 149 / KT, 30. SKS 8, 50 / LA, 53. SKS 8, 50 / LA, 53.
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heit: Sie nimmt ihr Selbst nicht als Aufgabe an. Zwar wird nicht erwähnt, ob sie mit ihrer Existenz hadert – was ein Indiz dafür wäre, ‚verzweifelt nicht man selbst‘ oder ‚verzweifelt ein anderer‘ sein zu wollen –, jedoch läßt sich ihre widerstandslose Kapitulation vor dem, was ihr Glück zerstört, als diejenige Form der Verzweiflung der Schwachheit begreifen, welche Anti-Climacus als „verzweifelt kein Selbst sein wollen“ tituliert.248 In Mariannes ‚Verzweiflung der Schwachheit‘ über ‚etwas Irdisches‘ spiegelt sich das leidenschaftslose, verständige 19. Jahrhundert. Auch an Ferdinand Bergland, ihrem ehemaligen Verlobten, werden die Eigenschaften des Jahrhunderts als Verzweiflung sichtbar. Er verzweifelt zwar an etwas Irdischem – der einer Heirat konsekutiven Notwendigkeit, eine Familie zu ernähren –, jedoch liegt hier eigentlich eine Variante der Verzweiflung der Möglichkeit vor: Ferdinand sei irregegangen, so lautet Kierkegaards Diagnose, an dem „der Möglichkeit eigenen kühnen Vordersatz des Lebens“, indem er „in die Mannigfaltigkeit der Pläne und der Studien auch ein Liebesverhältnis einbezogen hat, und nun daran ist, am Nachsatz zu scheitern“249 . Vor der Verwirklichung, der Konkretion seiner phantasierten Vorhaben schreckt Ferdinand zurück. Obwohl er eigentlich all das tut, was Kierkegaard als notwendig für die Selbstwerdung propagiert (er faßt einen radikalen Entschluß, indem er die Beziehung zu Marianne auflöst), demonstriert Ferdinand damit doch nur seine Verzweiflung: In seinem Fall ist „die scheinbare Kraft, die zum Fassen des Entschlusses gehört,“ lediglich „Ausdruck der Ohnmacht, und der von ihm angegebene Grund daher ein wesentlich zufälliger“250 . Die eigentliche Ursache sei vielmehr „das Mißverhältnis zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, welches sich jetzt auf diese Einzelheit stürzt, so als ob die der Grund wäre“251 . Kierkegaard gründet sein Urteil auf eine Theorie der Selbstwerdung, welche er später in der Krankheit zum Tode explizit entwickeln wird. Ähnlichkeiten zeigen sich bereits in der Metapher der Bewegung: Wofern der sich Entschließende nicht, in eben dem Augenblick, da er sich entschließt, nicht zu wollen, sich im Dienst einer höheren Idee befestigt, ist seine Entschließung und Handlung eine Hohlheit. . . Ferdinand ist durch seinen Entschluß im Wesentlichen nicht klarer geworden als er zuvor war, er hat lediglich Hals über Kopf sich zurückgezogen in Dunkelheit über sich selbst, den Fuß zurückziehen ist das Einzige, was er tut, und mit dem Schritt zurück ist in Hinblick auf die Idealität seiner eignen Persönlichkeit kein Schritt vorwärts geschehen.252
248 SKS 11, 168 / KT, 51. 249 SKS 8, 51 / LA, 54. 250 SKS 8, 51 / LA, 54f. 251 SKS 8, 51 / LA, 55. 252 SKS 8, 52 / LA, 55.
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Die Dominanz des Materiellen in der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts und Ferdinands Verzweiflung der Möglichkeit steigern sich so zu einer für ihn verhängnisvollen Verzweiflung über das Irdische. Obgleich nicht erwähnt wird, wie sehr sich Ferdinand seines Selbst bewußt ist – es heißt lediglich, in einer „wesentlichen Betrachtung des Daseins“253 habe er sich selbst nicht verstanden –, weist der rabiate Akt des Entschließens in die Richtung des Trotzes als des verzweifelten Vorhabens, entgegen aller Widerstände man selbst sein zu wollen und keine Hoffnung auf Hilfe zuzulassen.254 Entsprechend dem Genre – wir haben es mit einer Gesellschaftskomödie in Novellenform zu tun – findet in Gyllembourgs Zwei Zeitalter die unvermutete Rettung dann aber tatsächlich statt. Sie kommt von dem fünfzigjährigen Junggesellen Lusard. Dieser ist soeben von einer Weltreise zurückgekehrt und sucht jetzt unter den Nachkommen der Verwandten seiner Mutter einen Adoptivsohn und Erben. Nach einigen Irrungen und Wirrungen findet er ihn schließlich in Ferdinand Bergland. Nun geht es Kierkegaard nicht um eine Analyse der Handlung, sondern um eine isolierte Betrachtung der Charaktere. Und so wundert es schon nicht mehr, daß er auch Lusard eine Verzweiflung diagnostiziert. Im 19. Jahrhundert, so scheint es, ist eine nicht-verzweifelte Existenz nicht möglich. Als Kind des Revolutionszeitalters (er hat im ersten Teil der Novelle als unehelicher Sohn für allerlei Wirbel gesorgt) nagt jedoch an Lusard eine für das 19. Jahrhundert eher untypische Verzweiflung: die der Unendlichkeit. Er ist Idealist, konkretisiert seine Ansichten nicht in Interaktion mit seinen Mitmenschen und vermag seine Pläne trotz vorhandener finanzieller Möglichkeiten sein Leben lang nicht zu verwirklichen (daher in seinem fünfzigsten Lebensjahr der plötzliche Entschluß, seinen Reichtum einem jungen Paar zu vermachen).255 Seit seiner Jugend „spaltet eine
253 SKS 8, 52 / LA, 55. 254 Vgl. SKS 11, 184f. / KT, 70f.: „Indes, auch dies ist eine Form von Verzweiflung, daß man nicht hoffen will auf die Möglichkeit der Behebung der irdischen Not, eines zeitlichen Kreuzes. Dies will nun dieser Verzweifelte, der verzweifelt er selbst sein will, nicht. Hat er sich dessen versichert, daß dieser Pfahl im Fleisch. . . so tief nagt, daß er nicht von ihm zu abstrahieren vermag, so will er gleichsam ihn auf ewig übernehmen. Er nimmt so an ihm Ärgernis, oder richtiger, er nimmt ihn zum Anlaß, am ganzen Dasein Ärgernis zu nehmen. . . Denn hoffen auf die Möglichkeit der Hilfe hin, besonders denn in Kraft des Absurden, daß alles möglich ist bei Gott, nein, das will er nicht. Und bei einem andern Hilfe suchen, nein, das will er nicht, um alles in der Welt, er will lieber. . . mit aller Höllenpein er selbst sein als Hilfe suchen.“ 255 Vgl. die Beschreibung der „Verzweiflung der Unendlichkeit“ in der Krankheit zum Tode, in der die Phantasie als „unendlichmachende Reflexion“ sich verselbständigt und ein phantastisches Gefühl (z.B. Mitleid mit der gesamten Menschheit), einen phantastischen Willen und phantastische Erkenntnis zur Folge hat. Lusard läßt sich treffend als ein an der Unendlichkeit Verzweifelnder charakterisieren, der in „abstrakter Isoliertheit“ sein Selbst verliert; SKS 11, 148 / KT, 28.
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schwärmerische Verschlossenheit“256 seine Seele. Die Gespaltenheit weist bereits wörtlich auf die Selbstverfehlung hin, die in der ausbleibenden Konkretion der Syntheseelemente liegt und die Anti-Climacus später als Verzweiflung kategorisiert. Trotzdem ist Lusard nicht nur eine anachronistische Figur, denn auch er reflektiert übermäßig. Er ist leidenschaftslos und zieht keine Konsequenzen aus seinen Betrachtungen. Lusard, so Kierkegaard unter Anwendung der Bewegungsmetaphorik der Krankheit zum Tode, ist eine Individualität, „die stehen geblieben ist“257 . Dies fordere „auch ein Moment von Reflexion und von Reflexion in sich, und anderseits ist es wieder ein Widerschein des Zeitalters, welches, selbst ohne Entscheidung, an ihm nicht die Macht geübt hat, ihn hinreißen zu können“258 . Ausgehend von dem konventionellen Figurenrepertoire einer heiteren Novelle gelingt es Kierkegaard, die Haupteigenschaften des 19. Jahrhunderts kritisch aufzuzeigen. Die Ähnlichkeit zu den in der Krankheit zum Tode explizierten Formen der Selbstverfehlung verdeutlicht zudem, daß es sich nicht nur um einzelne zu beklagende Phänomene im Sinne eines fortschrittsfeindlichen Ressentiments handelt. Die Kultur des 19. Jahrhunderts, ihre sozialen und politischen Strukturen, ihre technischen Erfindungen und medialen Veränderungen wirken sich auf das Ganze der menschlichen Existenz aus. Jedoch waltet auch hier die in der Krankheit zum Tode dargelegte Dialektik: Die Hyperreflexion beinhaltet nicht nur die Chance ihrer Überwindung, sondern auch der Selbstwerdung, wie Kierkegaard im Anschluß an die Charakterstudie in einer separaten Untersuchung der Reflexion zeigt.
2.4.3 Im Gefängnis der Reflexion: gula, invidia und superbia Wiederkehrendes Element in Kierkegaards Schriften ist eine Auseinandersetzung mit der „Reflexionskultur“259 . Während die Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift sich polemisch mit dem Reflexionsbegriff der Hegelianer auseinan-
256 SKS 8, 57 / LA, 60. 257 SKS 8, 56 / LA, 60. 258 SKS 8, 57 / LA, 61. 259 G.W.F. Hegel, „Über das Wesen der philosophischen Kritik überhaupt und ihr Verhältnis zum gegenwärtigen Zustand der Philosophie insbesondere“, in TWA, Bd. 2 (Jenaer Schriften 1801– 1807), S. 171–187, S. 181. Vgl. Claus-Artur Scheier, „Die Frühromantik als Kultur der Reflexion“, in Früher Idealismus und Frühromantik. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795-1805), hg. von Walter Jaeschke und Helmut Holzhey, Hamburg: Meiner 1990 (Philosophisch-literarische Streitsachen, Bd. 1), S. 69–79. Die „Reflexionskultur“ der Frühromantik wirkt sich in Form ihrer Popularisierung auf das 19. Jahrhundert aus. Ausschließlich darauf zielt Kierkegaard in Eine literarische Anzeige.
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dersetzt – dazu mehr im dritten und vierten Kapitel –, adressiert die Literarische Anzeige ‚Reflexion‘ als Phänomen des öffentlichen wie privaten Lebens. Kierkegaard entledigt den Begriff jeglichen akademischen Ballasts und versteht ihn in der Anzeige auf zweierlei Weise: ‚Reflexion‘ bedeutet hier eine kognitive Funktion, sie ist Nachdenken und der Umgang mit Wissen. Sie bezeichnet jedoch auch ein soziales Phänomen. Hier nimmt Kierkegaard ‚Reflexion‘ wörtlich; sie ist das Spiegeln des Verhaltens anderer. Die kognitive und die soziale Funktion sind aufeinander bezogen und steigern sich zu einer für das 19. Jahrhundert charakteristischen Erscheinung, der ‚Nivellierung‘.
2.4.3.1 Reflexionskritik als Bildungskritik: monströse Verständigkeit und Wissensvöllerei Kierkegaard bringt die beschriebenen Selbstverfehlungen mit dem im 19. Jahrhundert vorherrschenden Bildungskonzept in Verbindung. Damit folgt er dem Hegelschen Grundsatz, daß „der Geist der Entfremdung seiner selbst. . . in der Welt der Bildung sein Dasein“ habe,260 zeigt sich jedoch skeptisch gegenüber der Vorstellung, Bildung könne die Entfremdung aufheben – zumindest disqualifiziert er Bildung, wie sie im 19. Jahrhundert praktiziert wird. Kierkegaards Bildungsbegriff weist mehrere semantische Facetten auf: Er ist einerseits identisch mit ‚Reflexion‘, welche die Unmittelbarkeit der Existenz aufhebt261 – also mit etwas der Selbstwerdung Förderlichem, folgt man der Krankheit zum Tode. Im 19. Jahrhundert begegnet Reflexion laut Kierkegaard jedoch hauptsächlich als geschäftstüchtiges Kalkül und entindividualisierende Anwendung von Geboten der Verständigkeit. Zudem adressiert Kierkegaard ‚Bildung‘ als zwei Weisen, mit Wissen umzugehen; hier lassen sich eine quantitative und eine qualitative Komponente unterscheiden. Wenn Kierkegaard bloße Informationsaufnahme mit dem Ziel der Quantifizierung des Wissens kritisiert, verweist er implizit auf den
260 Hegel, Phänomenologie, a. a. O., S. 391. Vgl. Reinhart Koselleck, „Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung“, in Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen, hg. von dems., Stuttgart: Klett-Cotta 1990, S. 11–46, S. 25. 261 Die Korrelation von Bildung und Reflexion ist im 19. Jahrhundert nichts Ungewöhnliches, sie findet sich z.B. bei Wilhelm von Humboldt, der sein Bildungskonzept auf folgender Diagnose aufbaut: „wir haben durch die Reflexion einen doppelten Menschen aus uns gemacht.“ Bildung wäre demnach die Gestaltung der Zweiheit zu einer reflektierten Einheit. Brief an Friedrich Schiller vom 30.4.1803, in Friedrich Schiller, Briefwechsel (Briefe an Schiller 1.1.1803–17.5.1805), in Werke. Nationalausgabe [Historisch-kritische Ausgabe], hg. i. A. d. Stiftung Weimarer Klassik u. d. Schiller-Nationalmuseums von Norbert Oellers, 1940 begründet von Julius Petersen, Redaktor Georg Kurscheidt, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese und Siegfried Seidel, Bd. 1–43, Weimar: Hermann Böhlaus Nachf. 1943–laufend, Bd. 40.1, S. 55–62, S. 57.
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qualitativen Aspekt der Bildung als eigenständigen Wissenserwerb. Dieser dient ihm auch zur Diskreditierung einer voreiligen Ergebnisorientiertheit seiner Gegenwart (die als Resultat eines popularisierten Hegelianismus gelten kann, wie Kapitel 3.3 zeigt). Wesentliche Bildung ist ein gemäß der später in der Krankheit zum Tode entwickelten Kriterien angemessen ausgebildetes, d.h. konkretisiertes Selbstverhältnis. Qualitative Bildung als Wissenserwerb kann wesentliche Bildung fördern; sie ist jedoch für diese nicht notwendig.
2.4.3.1.1 Apathie, Gärung, Verstopfung und Skorbut Kierkegaard konstatiert eine „abnorme Verständigkeit“262 seiner Zeitgenossen. Sie geht einher mit dem „Verlust zu wollen“263 , d.h. mit der Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, Stellung zu beziehen und zu handeln. Existieren heißt, sich eigenverantwortlich zu Handlungen zu entschließen. Dies bedeutet nicht, in Situationen eines eindeutigen ‚Entweder-Oders‘ eine Möglichkeit zu wählen. Das ‚Entweder-Oder‘ gilt es vielmehr erst selbst zu generieren. Ein Für und Wider läßt sich immer finden, und durch die Propagierung des Verstandesgebrauchs im Fahrwasser der Aufklärung, so läßt sich Kierkegaards Argumentation zusammenfassen, sei der Mensch zu bequem zum Handeln geworden: „Sobald hingegen das Individuum keine wesentliche Begeisterung mehr in sich hat, sondern verwöhnt ist dadurch, daß es sich jedesmal, wenn es handeln soll, den Verstand in die Quere kommen läßt: so kommt der Mensch nie in seinem Leben dazu, die Wegscheide zu entdecken.“264 Es werden aus den Überlegungen keine Konsequenzen für das eigene Leben gezogen, und jedes Verhalten wird durch ‚Reflexion im voraus‘ und ‚umerklärende Reflexion‘ bedeutungslos gemacht. Auf diese Weise habe seine Generation, so Kierkegaard, „einen Wechselbalg des Verstandes“265 erzeugt. Reflexion sei der Kontrahent der Leidenschaft, der Gegner eines existentiellen Pathos. Auch wenn Kierkegaard die Französische Revolution aus politischen Gründen nicht gutheißt, so preist er dennoch die Selbstverhältnisse ihrer Akteure. Die Revolutionszeit sei „wesentlich leidenschaftlich“ gewesen, die Menschen hätten die „Spannkraft der Innerlichkeit“ gehabt, denn sie seien in ihrem Handeln von einer Idee gelenkt, in allem „Streben nach außen“ gleichzeitig „wesentlich nach innen gekehrt“.266 Den politischen Proklamationen seiner Zeitgenossen begegnet
262 263 264 265 266
SKS 8, 65 / LA, 71. SKS 8, 65 / LA, 71. SKS 8, 65 / LA, 70f. SKS 8, 66 / LA, 71. SKS 8, 60 / LA, 64; SKS 8, 60 / LA, 65.
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Kierkegaard dagegen mit Skepsis – jedoch nicht ob ihrer sozialen, sondern ob ihrer existentiellen Auswirkungen: Eine leidenschaftliche tumultuarische Zeit wird alles über den Haufen werfen, alles umstoßen; eine revolutionäre, aber leidenschaftslose und reflektierende Zeit verwandelt die Kraftäußerung in ein dialektisches Kunststück: nämlich das, alles bestehen zu lassen, aber ihm hinterlistig seine Bedeutung zu entwinden; statt in einem Aufruhr gipfelt sie darin, die innerliche Wirklichkeit der Verhältnisse zu ermatten in einer Reflexionsspannung, welche gleichwohl alles bestehen läßt und das ganze Dasein in eine Zweideutigkeit verwandelt hat.267
Die Kritik an der Übermacht der Reflexion entspricht der Verzweiflungsanalyse in der Krankheit zum Tode: Seine Zeitgenossen, so Kierkegaard, leiden an der Verzweiflung der Endlichkeit, an der Borniertheit, welche durch einen Mangel an Phantasie und durch Dominanz des Kalküls entsteht: „Entscheidung ist das kleine Zauberwort, das vom Dasein respektiert wird“268 – leidenschaftlicher Mut zum Handeln fördert die Selbstwerdung. Dieser wird jedoch durch die Reflexion regelrecht ‚zerdacht‘. Den Menschen im 19. Jahrhundert fehlt es an Illusion, so heißt es in einer Variation der Krankheitsmetaphorik: „Gleich wie Skorbut durch Grüngemüse geheilt wird, so hat ein durch Reflexion Erschöpfter nicht so sehr Stärke nötig als ein bißchen Illusion.“269 Diese Illusion ist jedoch eher als individuelles Vorstellungsvermögen und Hoffen zu verstehen denn als politische Ideologie. Die politischen Ideen seiner Zeit versteht Kierkegaard nicht als handlungstreibend und verändernd, sondern als Fäulnis und Zersetzung individueller Selbstverhältnisse. Bereits in seiner Erstlingsschrift Aus eines noch Lebenden Papieren hat er darauf hingewiesen, daß das 19. Jahrhundert kein Zeitalter der Handlung (Gjerning) sei, sondern eine Epoche der Gärung (Gjæring).270 Mit dem Gleichklang der dänischen Begriffe spielend, betont er deren semantische Opposition. Indem er derart auf die im 19. Jahrhundert prominente Metapher der Gärung rekurriert, nimmt Kierkegaard zugleich sublim Stellung zu dem philosophisch-politischen Aktivismus der Junghegelianer,
267 SKS 8, 74f. / LA, 82. 268 SKS 8, 64 / LA, 70. 269 SKS 8, 65 / LA, 70. 270 „Det er en Gjærings-Periode, siger Politikerne, idetmindste er det ingen Gjernings-Periode.“ SKS 1, 27. Die deutsche Übersetzung kann das Wortspiel nicht wiedergeben: „Es ist eine Gärungsperiode, sagen die Politiker, zum mindesten ist es keine Periode der Tat.“ LP, 57. Bereits in dieser frühen Schrift (1838) fungiert Gyllembourg als positives Vorbild eines schriftstellerischen Handelns, anhand dessen der junge Kierkegaard das Scheitern Hans Christian Andersens deklariert; vgl. Hjördis Becker, „From ‘Weltanschauung’ to ‘Livs-Anskuelse’: Kierkegaard’s Existential Philosophy“, Humana Mente – Journal of Philosophical Studies 18, 2011, S. 1–18, bes. S. 7f.
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welche ‚Gärung‘ als Vorbereitung auf eine verändernde Praxis verstehen.271 So spricht Marx 1848 von einer „revolutionären Gärung“272 in Deutschland, der nicht durch Kriegszüge nach außen Luft gemacht werden dürfe. Außerdem habe sich „der Verwesungsprozeß des Hegelschen Systems“ gar „zu einer Weltgärung entwickelt“.273 Damit variiert Marx eine Formulierung aus dem Kritischen Journal der Philosophie. Dort bemüht sich der junge Hegel, die Unruhe seiner Gegenwart „auch als eine Gärung [zu] betrachten, durch welche der Geist aus der Verwesung der verstorbenen Bildung zu einem neuen Leben sich emporringt“.274 Ein derart fruchtbringender Prozeß ist im Verständnis Kierkegaards nicht mit Bildung zu verbinden; er konstatiert vielmehr eine blasenschlagende Hyperthermie der Bildung als übermäßiger Reflexion und obsessivem Wissenskonsum. Die Verständigkeit im 19. Jahrhundert sei eine „dyspeptische abnorme Verständigkeit“275 . Die Überlagerung von Krankheits- und Verdauungsmetaphorik, die bereits in der Anspielung auf die skorbuterzeugende Mangelernährung zum Tragen gekommen ist, steigert sich in dem Bild von dem verstopften Verstand fast schon zur Kardinalsünde der gula: Der Mensch stopft gierig immer mehr Wissen in sich hinein, ohne es zu verdauen, d.h. ohne es auf seine individuelle Existenz zu beziehen. Kierkegaards Zeitgenossen seien wie jemand, der „den Mund so voll Essen hat, daß er aus dem Grunde nicht zum Essen kommen kann und es damit enden muß, daß er Hungers stirbt“276 , heißt es in der Nachschrift noch drastischer. Die Tagespresse macht Informationen leicht und schnell zugängig – zu leicht und zu schnell, findet Kierkegaard. Man habe im 19. Jahrhundert „vor Freude am Ergebnis vergessen, daß ein Ergebnis noch keinerlei Wert hat, wenn es nicht selbst erworben worden ist“277 . Die Gegenwart sei „vielleicht im Durchschnitt so wissend wie keine Generation zuvor es gewesen ist, aber sie ist ohne Leidenschaft“278 , d.h. im 19. Jahrhundert sei man nur geschult in dem schnellen Konsum von Wissen, nicht aber darin, die eigene Persönlichkeit anhand dieses Wissens zu entwickeln. Kierkegaard bezieht sich damit implizit auf das Bildungsideal Humboldts, setzt aber auch in die kulturkritische Litanei gegen einen lebensfeindlichen Wissens-
271 Zur Semantik der Gärung siehe Michael Gamper, Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskursund Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765–1930, München: Fink 2007, S. 185. 272 Karl Marx und Friedrich Engels, „Die auswärtige deutsche Politik und die letzten Ereignisse zu Prag“, in MEW, Bd. 5, S. 202–205, S. 202. 273 Marx, Die Deutsche Ideologie, a. a. O., S. 17. 274 Hegel, „Über das Wesen der philosophischen Kritik“, a. a. O., S. 184. 275 SKS 8, 73 / LA, 80. 276 SKS 7, 250f. / AUN1, 271. 277 SKS 1, 356 / BI, 332. 278 SKS 8, 99 / LA, 111.
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wahn ein, wie sie prominent in Rousseaus erstem Diskurs entwickelt wurde und im 19. Jahrhundert anläßlich der medialen Veränderungen erneut erstarkte. So findet sich auch bei Schopenhauer und Nietzsche die metaphorische Verbindung von Wissen und Verdauung: Schopenhauer mahnt in „Ueber Lesen und Bücher“, so, wie man sich „durch zu viele Nahrung den Magen verdirbt und dadurch dem ganzen Leib schadet; so kann man auch durch zu viele Geistesnahrung den Geist überfüllen und ersticken“279 . Nietzsche wird später ähnlich wie Kierkegaard argumentieren, wenn er bemängelt, der „moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln“, aber einen „Bildungs-Entschluss“ vereiteln.280
2.4.3.1.2 Abfertigung des Daseins im Vorübergehen: Zeitschriftenkultur Wenn Kierkegaard gegen Reflexion und Wissensüberfluß Einspruch erhebt, dann votiert er damit gleichwohl nicht für einen Rückgang in eine sentimentale Urtümlichkeit.281 Er schätzt Bildung durchaus – solange sie hilfreich bei der Selbstwer-
279 Arthur Schopenhauer, „Ueber Lesen und Bücher“, in Sämtliche Werke, nach der 1., von Julius Frauenstädt bes. Gesamtausg. neubearb. und hg. von Arthur Hübscher, Bd. 1–7, Leipzig: Brockhaus 1937–1941, Bd. 6 (Parerga und Paralipomena, Bd. 2), S. 588–598, S. 589. 280 Friedrich Nietzsche, „Unzeitgemäße Betrachtung II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“, in KGW, Abt. 3, Bd. 1, S. 239–330, S. 269. Zur indirekten, durch die Schriften Georg Brandes’ vermittelten Kierkegaard-Rezeption Nietzsches siehe Thomas H. Brobjer, „Nietzsche’s Knowledge of Kierkegaard“, Journal of the History of Philosophy 41.2, 2003, S. 251–263. Meines Erachtens enthalten die Unzeitgemäßen Betrachtungen zwar einen indirekten, jedoch deutlichen Hinweis auf eine Anerkennung der kulturkritischen und philosophischen Leistungen Kierkegaards. In der von Nietzsche beschriebenen Zeit gerate die Philosophie in eine „unwürdige Lage“; sie bleibe „gelehrter Monolog des einsamen Spaziergängers, zufällige Jagdbeute des Einzelnen“; ebd., S. 282. Nietzsche spielt hier nicht nur auf Rousseaus Les rêveries du promeneur solitaire an, sondern auch auf eine Beschreibung Kierkegaards aus Entweder – Oder: „Mein Leid ist meine Ritterburg, die einem Adlerhorste gleich hoch auf des Berges Spitze zwischen Wolken liegt; niemand kann sie erstürmen. Von ihr stoße ich hernieder in die Wirklichkeit und packe meine Beute [Bytte]; jedoch bleibe ich nicht da unten, ich bringe meine Beute heim, und diese Beute ist ein Bild, das ich hineinwebe in die Tapeten meines Schlosses.“ SKS 2, 51 / EO1, 45f. 281 Kierkegaard empfiehlt zwar „grønt Primitivitet“ als Heilmittel für den Skorbut der Wissensüberladung, aber diese Primitivität – verstanden als das Allgemein-Menschliche der existentiellen Aufgabe, ein Selbst- und Gottesverhältnis zu entwickeln – ist eine sekundäre Primitivität, eine Besinnung auf das Eigentliche in Anbetracht des Uneigentlichen; SKS 27, 421, Papir 370 / T 2, 119. Zu Kierkegaards Begriff der Primitivität als Gegenentwurf zu ‚Bildung‘, siehe Arne Grøn, „Dannelse og karakter“, Kritisk forum for praktisk teologi 58, 1994, S. 19–35, bes. S. 24–26.
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dung ist. In Furcht und Zittern findet sich eine Beschreibung dessen, was Kierkegaard später wesentliche Bildung nennt: Was ist denn Bildung [Dannelse]? Ich sollte meinen, sie sei der Lehrgang, den der Einzelne durchläuft, um sich selber einzuholen [for at indhente sig selv]; und wer diesen Lehrgang nicht durchlaufen will, dem hilft es sehr wenig, wenn er in dem alleraufgeklärtesten Zeitalter [i den mest oplyste Tidsalder] geboren ist.282
Zugang zu Information und Wissensvermehrung sind kein Ersatz für eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Frau Kommerzienrätin Waller wirkt zwar gebildet, ist sie doch immer auf dem neuesten Stand der Feuilletonkultur. Ein ‚wesentlich Gebildeter‘ findet dies jedoch seicht und abstoßend, darauf hat Kierkegaard in seiner Charakterstudie hingewiesen. Die sich im 19. Jahrhundert ausbreitende Wissenskultur ist eine Zeitschriftenkultur; statt eine intensive Auseinandersetzung mit Büchern anzuregen, schafft sie leichtverständliche Übersichten, die sich einer breiten Leserschaft erschließen. Mit seiner Polemik gegen die Zeitschriftenkultur antizipiert Kierkegaard die Kritik Nietzsches an einer „allgemeine[n] Vergröberung des europäischen Geistes“283 durch die „Wirkung des Zeitungslesens“ und Nietzsches Klage darüber, daß „bei weitem das Meiste, was gelesen wird. . . Zeitung oder Zeitungs-Art“ sei.284 So heißt es in einem Tagebucheintrag von 1847: Nun kamen also die gelehrten Zeitschriften [de lærde Tidsskrifter] auf. Es war der Gedanke der Zeitschriften, zur Übersicht zu verhelfen; aber so wurden dann die Zeitschriften eine selbständige Literatur. Diese ist nun in erster Linie das Unglück der heutigen Zeit. Die Zeitschriften wurden immer kurzlebiger [ephemære]; die Forderungen der Zeit [Tidens Fordringer] wurden schließlich die Forderungen des Augenblicks. Die Tagespresse schleppte nun eine Masse Menschen mit, die in einem lediglich hemmenden Verhältnis zur Literatur stehen. Aber diese Masse bleibt unbelehrbar, und schließlich muß die eigentliche Literatur ihr Zugeständnisse machen.285
Eine gründliche Gelehrsamkeit zu erwerben, so stellt Kierkegaard in der Literarischen Anzeige fest, gelte bei Jüngeren bereits als überholt und lächerlich.286 An-
282 SKS 4, 140 / FZ, 47. 283 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Herbst 1884 – Herbst 1885, in KGW, Abt. 7, Bd. 3, S. 159. 284 Ebd., S. 160; vgl. Renate Reschke, „‚Pöbel-Mischmasch‘ oder Vom notwendigen Niedergang aller Kultur. Friedrich Nietzsches Ansätze einer Kritik der Masse“, in Dies., Denkumbrüche mit Nietzsche. Zur anspornenden Verachtung der Zeit, Berlin: Akademie-Verlag 2000, S. 47–69, S. 61. 285 SKS 27, 420, Papir 370 / T 2, 117. Hirsch übersetzt ‚Masse‘ mit ‚Menge‘ – im obigen Zitat wurde das dänische ‚Masse‘ aus sachlichen Gründen beibehalten; siehe Kapitel 2.5. 286 Vgl. SKS 8, 68 / LA, 74.
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erkennung finde dagegen derjenige, der „in einem zur Subskription aufgelegten Plane ein paar Grundlinien zu einem allumfassenden System hinzuwerfen“ in der Lage ist.287 Ein solcher Autor gestalte seinen Überblick mit einem derart finiten Gestus, „daß bei dem Leser (des Subskriptionsplanes) der Eindruck entstünde, er habe das System allbereits gelesen“288 . Dergestalt wird der Anspruch, mit dem Hegel aufgetreten ist – ein allumfassendes und abschließendes System entworfen zu haben – im 19. Jahrhundert als Zerrbild wiederholt:289 Es ist Mode, eine Menge an Wissen vorweisen und dieses systematisieren zu können. Da niemand (nicht einmal der Wissenschaftler selbst) sich intensiv mit einer Sache auseinandersetzt, fällt nicht auf, daß dieses Wissen oberflächlich und unabgeschlossen ist. Wenn Kierkegaard den Bildungsstand im 19. Jahrhundert mit dem der Aufklärung vergleicht, ist das Fazit eindeutig: Nicht nur die Zeit der wesentlichen Bildung, auch die „Zeit der Enzyklopädisten ist vorüber“290 . So entstehe weder wirkliche Gelehrsamkeit und tiefgründiges Wissen noch Persönlichkeitswerdung und Selbstbildung. Stattdessen werden seine Zeitgenossen, so Kierkegaard, „im Vorübergehen mit dem ganzen Dasein und mit allen Wissenschaften fertig“291 . Vermeintliche Bildung greift auch in diejenigen Fragen des Lebens ein, die zuvor mit existentiellem Pathos entschieden wurden. Diese werden nun auf eine Regelanwendung der gesellschaftlichen Etikette reduziert: Für alles hat man Handbücher, und Bildung im allgemeinen wird bald darin bestehen, daß man einen größeren oder kleineren Inbegriff von solchen Handbücherbetrachtungen vollkommen beherrscht, und man exzelliert darin nach Maßgabe seiner Fertigkeit, das einzelne hervorzuholen, ebenso wie ein Setzer die Buchstaben hervorholt.292
Alles müsse den vermeintlich verständigen Kriterien genügen, die in der Öffentlichkeit zirkulieren. Eigentliche Handlung – laut Kierkegaard ein Verhalten, zu
287 SKS 8, 68 / LA, 74. 288 SKS 8, 68 / LA, 74. 289 Daß die Literarische Anzeige indirekt die ‚Reflexion‘ Hegels im 19. Jahrhundert attackiert, behauptet auch Merold Westphal: „While there may be a couple of allusions to Hegel in Two Ages, he is not mentioned, and any implicit critique of the larger argument of the book is not that the present age has read too much Hegel or thought too much about him but in a certain way it mirrors him, with or without intending to, and with or without realizing that it is doing so. Here ‘reflection’ signifies Reflexion as a Reflexionsbestimmung and points to an objective, mirror-like relation between something and its other.“ Merold Westphal, „Kierkegaard and the Role of Reflection in Second Immediacy“, in Immediacy and Reflection in Kierkegaard’s Thought, hg. von Paul Cruysberghs et al., Leuven: Leuven University Press 2003, S. 159–179, S. 167. 290 SKS 8, 68 / LA, 74. 291 SKS 8, 68 / LA, 75. 292 SKS 8, 99 / LA, 111.
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dem sich das Individuum leidenschaftlich entschließt – findet daher nicht mehr statt.293 Die Metaphorik der Bewegung, die in der Krankheit zum Tode die Verzweiflungsformen bezeichnet, faßt die Misere des 19. Jahrhunderts anschaulich zusammen: Vorschnell fertige man im Vorübergehen das ganze Dasein ab, aber auf diese Weise geschehe keine Auseinandersetzung mit der eigenen Existenz, man vermöge nicht, sich selbst einzuholen. Das 19. Jahrhundert mache viel Aufsehens und Wirbel, aber eigentlich sei es gekennzeichnet von Bewegungslosigkeit: „Ein jeder weiß viel, wir wissen alle, welchen Weg man gehen soll und die vielen Wege, die man gehen kann, aber niemand will gehen.“294
2.4.3.2 Reflexionskritik als Sozialkritik: Nivellierung und Vermassung Reflexion dominiert das gesellschaftliche Leben nicht nur indirekt über eine falsche Auffassung von Bildung. Kierkegaard zufolge gestaltet sie das soziale Verhalten auch direkt. Alles, was getan oder unterlassen wird, geschieht mit Hinsicht auf das, was man tut. Dies mündet in eine Spiegelung des Verhaltens anderer und in Neid. Neid ist das sozialpsychologische Pendant der Verzweiflung der Schwachheit: Wer sich permanent mit anderen vergleicht, will verzweifelt nicht er selbst sein. Anstatt leidenschaftlich das zu verfolgen, was für die eigene Existenz sinnvoll erscheint, anstatt sich selbst mit den jeweiligen Möglichkeiten und Beschränkungen zu akzeptieren und so sich selbst ‚einzuholen‘, äfft er die anderen nach und beneidet sie. Das 19. Jahrhundert ist in Kierkegaards Darstellung keine Epoche der Demokratie, Egalität oder Gerechtigkeit, sondern des Neides: „Die Reflexionsspannung stellt sich zuletzt als Prinzip auf, und wie in einer leidenschaftlichen Zeit Begeisterung das einigende Prinzip ist, so wird in einer leidenschaftslosen und stark reflektierten Zeit Neid das negativ-einigende Prinzip.“295 Der moderne Neid trägt zudem das Merkmal, das Exzellente nicht einmal mehr negativ anzuerkennen und dadurch zu fördern, sondern „er will es herunter ha-
293 James L. Marsh versteht Kierkegaards Kritik an einer abstrakten Reflexion, in der Ideen wie Papiergeld zirkulieren und welche alles zu „second hand Preisen“ kaufe, parallel zu Marx’ Beurteilung der ökonomischen Situation des 19. Jahrhunderts; James L. Marsh, „Marx and Kierkegaard on Alienation“, in Two Ages, hg. von Robert L. Perkins, Macon, Georgia: Mercer University Press 1984 (International Kierkegaard Commentary, Bd. 14), S. 155–174, S. 169. 294 SKS 8, 99 / LA, 111; vgl. auch SKS 8, 67 / LA, 72: „Muß man von der Revolutionszeit sagen, daß sie in die Irre fahre, so muß man von der Gegenwart sagen, daß sie übel fährt.“ 295 SKS 8, 78 / LA, 86.
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ben, will das Ausgezeichnete verkleinert haben, so daß es wirklich nicht mehr das Ausgezeichnete ist“296 . Neid bewirkt langfristig die Einebnung individueller Unterschiede: „Der sich fest einrichtende Neid ist die Nivellierung, und während eine leidenschaftliche Zeit spornt, hebt und stürzt. . . tut eine reflektierte leidenschaftslose Zeit das Gegenteil, sie würgt und hemmt, sie nivelliert.“297 Dies affiziert nicht nur die Selbstverhältnisse der Menschen, sondern ist auch ‚negativ einigend‘, denn durch die Nivellierung entsteht ein neues gesellschaftliches Phänomen: das, was Kierkegaard als ‚Publikum‘ [Publikum] bezeichnet. Durch die Wortwahl vermeidet er, das Phänomen der ‚Vermassung‘ auf eine soziale Schicht zu beziehen. Jeder ist unabhängig von seinem sozialen Status „dumpfe Menge“ [dvaske Mængde],298 sobald er sein Urteilen und Verhalten an dem orientiert, was der öffentliche Diskurs vorgibt, d.h., so Kierkegaard wörtlich in Anspielung auf die kalkulierende Verständigkeit, sobald er sich auf den „kleinsten gemeinsamen Nenner“299 mit dem Abstraktum gibt, welches die Tagespresse als Zielgruppe adressiert. Derart wird die Nivellierung nicht nur zu einem Indiz für die Verzweiflung der Schwachheit, sondern auch für eine weitere Kardinalsünde: Hochmut. Entsprechend der Dialektik der Krankheit zum Tode, die gezeigt hat, wie Schwachheit und hochmütiger Trotz ineinander umschlagen, zeigt sich auch im Hochmut des Publikums eine verzweifelte Selbstverfehlung – durch die Identifikation mit dem Publikum vermeidet man die Herausforderung des individuellen Selbstseins: Die Bestimmung ‚Publikum‘ ist jenes Blendwerk der Reflexion, das mit seiner Gaukelei die Individuen eingebildet gemacht hat, weil jedermann sich dieses Ungeheuerlichen [z.B. im Namen des Publikums zu einer ganzen Nation zu sprechen; B.-L.] anmaßen kann, im Vergleich mit dem die konkreten Gebilde der Wirklichkeit dürftig scheinen; Publikum ist das Märchen des Verstandes, welches phantastisch die Einzelnen dazu erhebt, noch mehr zu sein als König eines Volkes.300
Doch das Gefühl der Macht, in welcher sich der einzelne durch seine Partizipation am Publikum wähnt, täuscht. Das innere Prinzip des Publikums, die Nivellierung (und als solche der Neid) entmächtigt den einzelnen hinsichtlich dessen, was ihn
296 SKS 8, 80 / LA, 89. 297 SKS 8, 80 / LA, 89. Zum Konzept der Nivellierung vgl. Alastair Hannay, „Levelling and Einebnung“, in ders., Kierkegaard and Philosophy, London und New York: Routledge 2003, S. 163–178 sowie Alastair Hannay, „Kierkegaard’s Levellings and the Review“, Kierkegaard Studies Yearbook, 1999, S. 71–95. 298 SKS 8, 89 / LA, 100. 299 SKS 8, 91 / LA, 102. 300 SKS 8, 89 / LA, 99f.
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wirklich und hauptsächlich angeht: existentiell relevante Entscheidungen zu treffen. Invidia und superbia gehen eine unheilvolle Verbindung ein, die Kierkegaard als Gefängnis mit mehreren Schließanlagen beschreibt: Der Neid der Reflexion im Individuum hindert in ihm die pathetische Entscheidung; und ist es dann beinahe[,] als wolle es ihm gelingen, so bringt ihn der Reflexionswiderstand der Umgebung zum Stehen. Der Neid der Reflexion hält Wille und Kraft gleichsam gefangen. Zuerst muß also der Einzelne das Gefängnis zerbrechen, in dem die eigne Reflexion ihn festhält, und wenn es dann geglückt ist, steht er noch nicht im Freien, sondern in dem großen Gefängnisgebäude, welches die Reflexion der Umgebung darstellt, und hat zu diesem dank dem Reflexionsverhältnis in sich selbst abermals ein Verhältnis, aus dem allein religiöse Innerlichkeit ihn befreien kann, möge er gleich die Unwahrheit des Verhältnisses noch so sehr durchschauen.301
So wird der einzelne zu klaustrophobischer Starre verurteilt. Kierkegaard illustriert die Bewegungslosigkeit nicht nur durch das Bild des Gefängnisses, sondern auch durch eine meteorologische Metapher: „Die Abstraktion der Nivellierung“, so Kierkegaard, werde etwas „Stehendes, wie man so von einem Passat sagt, und sie verzehrt alles.“302 Eine derartige Selbstverfehlung ist in der Struktur des Menschseins potentiell enthalten. Im 19. Jahrhundert scheint sich jedoch die Hyperreflexion in Verbindung mit dem medialen Strukturwandel zu einer in solchen Ausmaßen bislang unbekannten Verzweiflung zu verfestigen. Auch wenn Kierkegaard die vermeintlich moderne Perspektive eines Seelenarztes und Gesellschaftstheoretikers einnimmt, so beschwört er im Hintergrund einen Kontext herauf, der die von ihm beschriebene Situation deutlich dramatisiert: Das 19. Jahrhundert steht unter dem Paradigma der Kardinalsünden gula, invidia und superbia. Bei genauerem Hinsehen enthält jedoch bereits diese drastische Gegenwartsanalyse die später in der Krankheit zum Tode entworfene Dialektik: Die Kultur des 19. Jahrhunderts bietet durch Reflexion – als Verständigkeit, Wissensüberfluß wie auch als Nivellierung – ausgezeichnete Möglichkeiten der Selbstwerdung: Kierkegaard legt z.B. Wert darauf, daran zu erinnern, „daß nicht die Reflexion selbst oder an sich selbst etwas Verderbliches ist“, sondern „daß im Gegenteil ihre Durcharbeitung die Bedingung dafür ist, intensiver zu handeln“303 . Als Nachdenken kann Reflexion das Bewußtsein für die Notwendigkeit eines leidenschaftlichen Entschlusses schärfen (je mehr Für- und Gegenargumente, umso bedeutsamer wird der Akt der Entscheidung), und auch als soziales Phänomen der Nivellierung vermag die Reflexi-
301 SKS 8, 78 / LA, 86f. 302 SKS 8, 83f. / LA, 87. 303 SKS 8, 105 / LA, 118.
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on ein examen rigorosum zu sein, durch welches jeder einzelne „die Wesentlichkeit der Religiosität in sich selber“ gewinnen könne304 – hierzu ausführlich im folgenden Kapitel.
2.5 Masse, Menge und das „Phantom Publikum“ Das Phänomen der Massendynamik, welches Kierkegaard nicht nur als Menge [Mængde], sondern ob der Verschränkung mit der Tagespresse auch als Publikum bezeichnet, ist ein zentraler Bestandteil seiner Kulturkritik. Für Kierkegaard ist ‚Publikum‘ ein Spezifikum ausschließlich der Moderne; die Geschichte kenne zwar Menschenmengen, aber kein Publikum. Das vorige Kapitel hat gezeigt, inwiefern Nivellierung dem Publikum wesentlich ist: Nivellierung werde durch die Tagespresse vorangetrieben, welche wiederum erst durch den medialen Strukturwandel des ausgehenden 18. Jahrhunderts an Dominanz gewinnen konnte.305 Die Masse als Publikum ist im 19. Jahrhundert ein neues und überwältigendes Phänomen. Kierkegaard, das wird im folgenden entwickelt, sieht im Publikum zwar auch dialektisches Potential, seine Beschreibung bildet jedoch in erster Linie das Furchtbare, Grauenhafte ab – ‚Publikum‘ begegnet als etwas Absolutes, als totale Verzweiflung. Analog zu der Rolle, die Hegel der Entzweiung in der Geschichte des Geistes zuschreibt, läßt sich auch Verzweiflung hinsichtlich der individuellen Geistwerdung als notwendiges Antriebsmoment des Geistes verstehen. Die Gefahr, daß in der Moderne aus dem Motor der Geistesentwicklung eine starre, d.h. „unseligste“ oder „absolute“ Entzweiung wird,306 gilt auch für die Verzweif-
304 SKS 8, 84 / LA, 93. 305 Zur Zeit der Französischen Revolution, so Kierkegaard, habe die Tagespresse zwar Menschen zu gemeinsamen gewaltvollen Handlungen aufwiegeln können, jedoch habe sie kein Publikum hervorgerufen. Die Menschenmenge war eine konkrete raum-zeitliche Erscheinung, und auch die Presse hatte „den Charakter des Konkreten in Beziehung auf das Entzweischlagen“ angenommen. Das Kierkegaardsche Publikum entsteht als virtuelle („abstrakte“) Einheit erst durch die beschriebene öffentliche Hyperreflexion; vgl. SKS 8, 86 / LA, 96f. Auch dem Altertum sei der Begriff des Publikums fremd gewesen, „weil da das Volk selber en masse als Gesamtheit in der Situation der Handlung auftreten mußte, Verantwortung für das tragen mußte, was der Einzelne aus ihrer Mitte bewerkstelligte.“ SKS 8, 87 / LA, 97. Zum medialen Strukturwandel im 19. Jahrhundert siehe Merold Westphal, „Kierkegaard’s Sociology“, in Two Ages, hg. von Robert L. Perkins, Macon, Georgia: Mercer University Press 1984 (International Kierkegaard Commentary, Bd. 14), S. 133– 155, bes. S. 143. 306 Vgl. G.W.F. Hegel, „Vorrede zu Hinrichs Religionsphilosophie“, in TWA, Bd. 11 (Berliner Schriften), S. 42–67, S. 42; ders., „Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie“, a. a. O., S. 22; vgl. Stuke, Philosophie der Tat, a. a. O., S. 41.
2.5 Masse, Menge und das „Phantom Publikum“ |
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lung. Es ist das moderne Publikum, das in sich eine solche Gefahr der totalen Entfremdung birgt, einer Verzweiflung en masse, der nur mit dem Äußersten begegnet werden kann. Kierkegaard zufolge müssen die Qualitäten des Publikums ins Extrem getrieben werden. Erst dann kann sich das Potential des Publikums entfalten, die massenhafte Entfremdung aufzuheben. In Kierkegaards Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Publikums spitzt sich nicht nur seine Kulturkritik zu, auch sein Entwurf einer Philosophie nach der Philosophie und sein Selbstverständnis als Schriftsteller konstellieren sich in Hinblick auf das Publikum. Kierkegaards implizite Massentheorie ist jedoch nicht nur werkintern von Relevanz. Auch innerhalb des modernen Massendiskurses nimmt Kierkegaard eine außergewöhnliche und vor allem wegweisende Position ein, welche bislang kaum Aufmerksamkeit erfahren hat. Nicht nur, um die Bedeutung der Massentheorie Kierkegaards für seine Philosophie herauszuarbeiten, ist deren Verortung innerhalb des modernen Massendiskurses hilfreich. Letzterer selbst wird von Kierkegaards Position erhellt. Die Semantik der Masse wird daher im Kontext der aktuellen Diskussionen über die Massengesellschaft analysiert (2.5.1). In Auseinandersetzung mit einem Text Heibergs, der mutmaßlichen Inspirationsquelle Kierkegaards (2.5.2), und einer Betrachtung der semantischen Vor- und Nachgeschichte des modernen Massendiskurses werden anschließend Kategorien geschaffen, anhand derer die Eigentümlichkeit der Kierkegaardschen Position deutlich wird (2.5.3). In Kierkegaards Behandlung der Masse als Publikum kristallisieren sich zudem Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu der posthegelianischen Position der Junghegelianer und Marx’ heraus (2.5.4). Die Differenz kulminiert in den Konsequenzen, welche Kierkegaard für sein Philosophieverständnis zieht (2.5.5).
2.5.1 Die „Antiquiertheit der Masse“? Die Zeiten, in denen der Begriff Masse als „Angstmetapher“307 fungiert, sind vorbei. Die Wirkung von Burkes Beschreibung der Greueltaten der crowd während der Französischen Revolution hat nachgelassen.308 Trotzdem ist ‚Masse‘ weit da-
307 Vgl. Norbert Krenzlin (Hg.), Zwischen Angstmetapher und Terminus. Theorien der Massenkultur seit Nietzsche, Berlin: Akademie-Verlag 1992. 308 1791 erscheint in Deutschland die diskursleitende Übersetzung von Edmund Burkes Reflections on the Revolution in France; vgl. Gamper, Masse lesen, Masse schreiben, a. a. O., S. 135–143. ‚Crowd‘ wird von dem Übersetzer mit ‚Masse‘ wiedergegeben. Zu Burkes Position siehe J. Mommsen, „Edmund Burke und die Französische Revolution“, in Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung. Studien zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Theodor
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von entfernt, positiv konnotiert zu sein. Immer wieder wird sie zur Diffamierung kultureller Erscheinungen als Massenkultur aus dem Hut gezaubert oder dient der Profilierung einzelner Intellektueller. Der von Nietzsche formulierte und von José Ortega y Gasset wirkungsstark verbreitete Einwand des Intellektuellen gegen eine Masse, die auf einmal „Hauptperson“ geworden sei, sich „an die Rampe geschoben“ habe und die „Helden“ verdränge, dient Positionen wie der Peter Sloterdijks als Referenz.309 Derartige Klagen über die Massenkultur und die Macht eines durch die Medien manipulierbaren Publikums wirken jedoch anachronistisch. Gegenwärtig ist ‚Masse‘ in den Fokus einer Forschungsrichtung geraten, welche die besonderen Phänomene, die sich durch den realen oder virtuellen Zusammenschluß von Menschen ergeben, als Schwärme, Multituden oder Netzwerke bezeichnet. Die Untersuchung der „nicht-linearen Kausalität“ und der besonderen Intelligenz solcher Kollektive steht dabei im Zentrum der Diskussion.310 Zu der Entmystifizierung der Publikumsmasse hat auch die konstatierte Vermassung des Medienangebotes beigetragen: Die „Medienmasse der Massenmedien“, so z.B. Arno Orzesseks Urteil, sorge für eine heterogene Öffentlichkeit. Diese wirke nicht mehr entindividualisierend, sondern im Gegenteil authentizitätsfördernd: „Heute ist der Einzelne als Elementarteilchen von den Medienmassen der Massenmedien umgeben, aus deren Angebot er die nötigen Stoffe wählt, um in seiner Teilöffentlichkeit satisfaktionsfähig zu bleiben.“311 Theoretiker der modernen Massengesellschaft diskutieren, ob die gegenwärtige Situation, die eine Entscheidung für oder gegen „segmentierte“ Öffentlichkeiten fordert, „womöglich als demokratische Tugend der Emanzipation, nämlich als Freisetzung individueller Verantwortung zu beSchieder, hg. von Kurt Kluxen und Wolfgang J. Mommsen, München et al.: Oldenbourg 1968, S. 39–66. 309 José Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, autorisierte Übersetzung von Helene Weyl. Mit einem Nachwort von Gerhard Hauck, Hamburg: Rowohlt 1984 [1830], S. 8; vgl. Urs Marti, „Der grosse Pöbel- und Sklavenaufstand“. Nietzsches Auseinandersetzung mit Revolution und Demokratie, Stuttgart und Weimar: Metzler 1993, S. 205; Peter Sloterdijk, Die Verachtung der Massen. Versuch über die Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000, S. 10–13, 94f. 310 Vgl. hierzu stellvertretend den Sammelband von Eva Horn und Lucas Marco Gisis (Hg.), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld: Transcript 2009, und den darin enthaltenen Beitrag von Niels Werber („Schwärme, soziale Insekten, Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Eine Ameisenfabel“, S. 183–202, S. 190f.), der den „Ebenenwechsel vom Einzelindividuum“ zur „kollektiver Intelligenz“ beschreibt. Der Name der Reihe – Masse und Medium – veranschaulicht, daß ‚Masse‘ inzwischen anstandslos als deskriptive Kategorie verwendet wird. 311 Arno Orzessek, „Einleitung“, in Zerstreute Öffentlichkeiten: Zur Programmierung des Gemeinsinns, hg. von Jürgen Fohrmann und Arno Orzessek, München: Fink 2002, S. 7–11, S. 11.
2.5 Masse, Menge und das „Phantom Publikum“ |
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grüßen“ wäre.312 Konfrontiert mit dem Angebot der Medien, so auch Christoph Menke, bilde das „nachdisziplinäre“ Subjekt“ im 21. Jahrhundert durch die „Verknüpfung von Kreation und Adaption“ die „Meta-Fähigkeit“ der „flexiblen Anpassung“ aus.313 Michael Makropoulos kennzeichnet diese Fähigkeit, welche durch die „massenkulturelle Erfahrung“ trainiert werde, als „spezifische Disposition der Selbstentfaltung, in der die Positivierung der Kontingenz optimierungslogisch habitualisiert und institutionalisiert wird“314 . Auch wenn ‚Masse‘ heute kaum mehr als Angstmetapher wirkt und ihre raumzeitliche Konkretion als Menschenmenge bei großen Sportereignissen, Konzerten oder politischen Aktionen weniger durch Emergenz315 überrascht als ein Sekundärphänomen ihrer vorab stattgefundenen virtuellen Organisation durch das Internet darstellt, bleibt die Masse in den Diskursen über die moderne Kultur präsent. Sie mag als konkrete raum-zeitliche Menschenmenge an theoretischer Sprengkraft verloren haben, darin ist Günther Anders zuzustimmen.316 Trotzdem ist sie alles andere als antiquiert, denn die Überlegungen der zeitgenössischen Kultur-, Medien- und Sozialtheoretiker fundieren auf den Massendiskursen der letzten 300 Jahre. Das aktuelle Interesse an der Geschichte des Begriffs, seiner semantischen Vielfältigkeit und seinem metaphorischen Potential spricht für ein Bewußtsein dieser Abhängigkeit.317 Masse ist hierbei gerade als unscharfer oder weiter Begriff interessant: Sie erscheint als ein „zwischen Metapher und Begriff schwankendes, semantisch mehrfach determiniertes und immer wieder neu konstruierbares Konzept, so dass unter verschiedenen Bezeichnungen der gleiche
312 Ebd. 313 Christoph Menke, „Ein anderer Geschmack. Weder Autonomie noch Massenkonsum“, in Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, hg. von Christoph Menke und Juliane Rebentisch, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2010, S. 226–239, S. 233. 314 Michael Makropoulos, Theorie der Massenkultur, München: Fink 2008, S. 127. Das so erzeugte Verständnis von Kontingenz, das Makropoulos in Anlehnung an Hans Blumenbergs Die Sorge geht über den Fluß als „Möglichkeitsoffenheit“ definiert (ebd., S. 10), ließe sich als Gegengewicht zu der von Kierkegaard diagnostizierten modernen Tendenz einer bornierten Verzweiflung der Endlichkeit interpretieren. 315 ‚Emergenz‘ wurde zum ersten Mal 1875 von dem britischen Philosophen George Henry Lewes verwendet, um die unvorhersehbaren und nicht-additiven Qualitäten einer Entität zu klassifizieren; siehe Urs Stäheli, „Emergenz und Kontrolle in der Massenpsychologie“, in Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, hg. von Eva Horn und Lucas Marco Gisis, Bielefeld: Transcript 2009, S. 85–99, S. 88. 316 Günther Anders, „Die Antiquiertheit der Masse“, in ders., Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2 (Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution), München: Beck 1980, S. 79–90. 317 Vgl. Gamper, Masse lesen, Masse schreiben, a. a. O.
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Gegenstand und unter gleicher Bezeichnung verschiedene Phänomene erfasst werden“318 können. Das auffällig breite Bedeutungsspektrum der Masse stützt sich fast immer auf die Bildung von Oppositionspaaren. Als Pöbel ist sie der Kontrahent der Bildungselite ebenso wie der Nation oder des Volkes, als Lumpenproletariat das, wovon sich das revolutionstreibende Proletariat abzugrenzen hat. Sie ist das zeitungslesende Publikum im Gegensatz zu dem einzelnen Leser eines Buches. Masse verkörpert zudem Leidenschaft im Gegensatz zur Vernunft; auch gilt sie mal neuplatonisch als Materie und Stoff im Gegensatz zur allgemeinen Form, mal als zersetzende Ansammlung von Atomen im Gegensatz zu einem Organismus, dann wieder (gemäß ihrer Etymologie) als vereinheitlichender Brei oder Teig in Opposition zum einzigartigen Individuum.319 Die vielfältige Bildlichkeit unterstreicht: Bevor sich die Sozialwissenschaften dem Phänomen der Masse im Rahmen von Sozialstatistik und ‚Massenpsychologie‘ zu widmen begannen, fand die Auseinandersetzung mit der Masse auf literarische Weise statt. In der frühen Phase der „modernen Diskurs- und Imaginationsgeschichte der ‚Masse‘“, so auch Michael Gamper, „kam dem Medium Literatur eine grundsätzliche Bedeutung zu“.320 Gamper berücksichtigt diesbezüglich die Schriften der Junghegelianer; Kierkegaard findet jedoch keine Erwähnung. Folgt man dem Forschungstenor, dann setzt erst mit Nietzsche der moderne Massendiskurs ein.321 Kierkegaards Überlegungen werden in diesem Kontext so gut wie nicht wahrgenommen. Sie bieten jedoch eine originelle Perspektive nicht nur innerhalb der Diskussion ihrer Zeit. Kierkegaard ergänzt die soziale, politische, psychologische und ästhetische Dimension der Masse um einen religiösen Aspekt,322 und er etabliert das außergewöhnliche Projekt, 318 Helmut König, Zivilisation und Leidenschaften. Die Masse im bürgerlichen Zeitalter, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992, S. 98; Michael Gamper, „Dichtung als Medium der Menschenmenge. Literatur und ihre Funktion für den ‚Masse‘-Diskurs“, in Massenfassungen. Beiträge zur Diskurs- und Mediengeschichte der Menschenmenge, hg. von Susanne Lüdemann und Uwe Hebeskus, München: Fink 2010, S. 89–105, S. 93. 319 Zur Etymologie von ‚Masse‘ und ihrer Begriffsgeschichte siehe Max Jammer und Eckart Pankoke, „Masse, Massen“, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 1–13, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971–2007, Bd. 5, Sp. 825–832; siehe auch Reinhart Koselleck und Bernd Schönemann, „Volk, Nation, Masse“, in Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. 1–8, Stuttgart: Klett-Cotta 1972– 1997, Bd. 7, S. 141–431, bes. S. 366–368, 380–382. 320 Gamper, „Dichtung als Medium der Menschenmenge“, a. a. O., S. 91. 321 Vgl. den Sammelband von Krenzlin, Zwischen Angstmetapher und Terminus. Theorien der Massenkultur seit Nietzsche, a. a. O. 322 Die Unterscheidung, die Dieter Hertz-Eichenrode zu Analysezwecken zwischen sozialen, politischen und psychologischen Dimensionen der ‚Masse‘ als Gegenstand der Diskussionen im frü-
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bei aller Kritik an der Masse diese als Konstituens für ein Philosophieren nach Hegel wertzuschätzen.
2.5.2 Atomismus und Theatrokratie. Heibergs Kritik am ‚Publikum‘ 1842 veröffentlicht Heiberg „Volk und Publikum“, einen Essay, der einige Aspekte der Kritik antizipiert, die Kierkegaard wenig später an ‚Masse‘ und ‚Publikum‘ üben wird.323 Bei genauer Hinsicht zeigt sich jedoch: Die Schrift stellt keine schlüsselfertige Vorformulierung dar, wie in der gegenwärtigen Forschung behauptet.324 Kierkegaards Position läßt sich vielmehr in Abgrenzung von Heibergs Beurteilung der sozio-politischen und medialen Veränderungen des 19. Jahrhunderts trennscharf profilieren. Heiberg analysiert die gesellschaftliche Situation vor dem Hintergrund der Rechtsphilosophie Hegels, deren Rezeption in Dänemark er zwölf Jahre zuvor mit seinen Briefen an einen Kleinstadtpfarrer angeregt hatte.325 Heiberg rekurriert da-
hen 19. Jahrhundert getroffen hat, wird im folgenden übernommen; vgl. Dieter Hertz-Eichenrode, „‚Massenpsychologie‘ bei den Junghegelianern“, International Review of Social History 7, 1962, S. 231–259, bes. S. 239. 323 Johan Ludvig Heiberg, Folk og Publicum, in Prosaiske Skrifter, Bd. 1–11, Kopenhagen: Reitzel 1861–1862, Bd. 6, S. 263–283. Ursprünglich herausgegeben in Intelligensblade 6 (1. Juni 1842), von dems., S. 133–155. Auf deutsch ist der Beitrag erstmalig erschienen als Johan Ludvig Heiberg, „Volk und Publikum“, übers. von Hjördis Becker, Zeitschrift für Kulturphilosophie (ZKph) 4.2, 2010, S. 349–358. Die folgenden Überlegungen erweitern meinen diesbezüglichen Kommentar; Hjördis Becker, „Heibergs ‚Volk und Publikum‘. Die Menschenmenge und die Aufgabe des Intellektuellen“, Zeitschrift für Kulturphilosophie 4.2, 2010, S. 359–368. 324 So vertritt z.B. George Pattison die Auffassung, Kierkegaard übernehme die Kritik Heibergs ohne wesentliche Veränderungen; George Pattison, „The Present Age: The Age of the City“, in ders., Kierkegaard, Religion and the 19th Century of Culture, Cambridge: Cambridge University Press 2002, S. 50–71, S. 65. 325 Johan Ludvig Heiberg, „Breve fra Christen Trane til en Landsbypræst“, in Prosaiske Skrifter, Bd. 1–11, Kopenhagen: Reitzel 1861–1862, Bd. 10, S. 256–291 (ursprünglich veröffentlicht in Kjøbenhavns flyvende Post, 16., 20. und 24. Juni 1834). Rezeptionsgeschichtlich gilt Heiberg als derjenige, der die Verbreitung der Philosophie Hegels in Dänemark bewirkt hat. Wie Stewart zeigt, hat die Einschätzung, Heiberg sei in Dänemark der erste gewesen, der die Werke Hegels zur Kenntnis nahm, jedoch eher in der Selbstdarstellung Heiberg ihren Grund als in der Sache selbst: „It has become a fixed point of dogma in the secondary literature, that with this work [Über die menschliche Freiheit, 1824; B.-L.], Heiberg was the first to present Hegel’s thought to the Danish realm“; Jon Stewart, „Heiberg and the Beginnings of the Hegel Reception in Denmark“, Hegel-Studien 39/40, 2005, S. 141–181, S. 152. Es hatten vor Heiberg andere dänische Intellektuelle persönlichen Kontakt zu Hegel, und es finden sich bereits vor 1824 vereinzelte Referenzen auf Hegels Schriften in dänischen Publikationen. Eine erste systematische Auseinandersetzung hat
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bei hauptsächlich auf ‚Masse‘ als atomistischen Gegenspieler des Staates, der als funktionierender Organismus mit verschiedenen Organen und Gliedmaßen verstanden wird. Ein Staat, so auch Hegel, bestehe nicht aus der Summe seiner Bürger, sondern sei ein in sich gegliedertes Ganzes, in dem die Stände als „vermittelndes Organ“ zwischen der Regierung und den Interessen der „besonderen Kreise und der Einzelnen“ stehen. Der Einzelne könne nur „als Mitglied eines Allgemeinen“ in Erscheinung treten, sonst drohe die Gefahr, daß die Einzelnen zur „Darstellung einer Menge und eines Haufens, zu einem bloß unorganischen Meinen und Wollen, und zu einer bloß massenhaften Gewalt gegen den organischen Staat kommen“326 . Heibergs Paraphrase lautet fast identisch: Der Staat ist ein Organismus, aber in einem Organismus ist es nur das Organische, was Gültigkeit und Berechtigung hat. . . Aber folglich ist in dem Organismus des Staates nichts politisch befugt außer dem, was in sich selbst organisiert ist, also Stände und Korporationen. . . Nur durch diese Zwischenglieder, die selbst Organisationen sind, kommt der Einzelne zu politischer Befugnis innerhalb des ganzen großen Organismus, aber er selbst kann sich dieses Recht nicht zuteilen, und von all seinen abstrakten Menschenrechten kann er es nicht ableiten.327
Heiberg verlagert den Schwerpunkt seiner Überlegung jedoch von der staatlichen auf die kulturelle Einheit. Der Staat sei auf den verbindenden Volkscharakter angewiesen. Während Hegel vom „Volke, dieser unorganischen Gesamtheit“328 spricht, ist bei Heiberg der Volksbegriff eindeutig positiv konnotiert. Das Lebensprinzip des Organismus ‚Staat‘ bestehe nicht nur in seiner ständischen Ordnung, sondern auch in einer gemeinsamen kulturellen Identität. Dies zeigen Heibergs
1822 Frederik Christian Sibbern, Philosophieprofessor und Lehrer Kierkegaards, in Om Erkjendelse og Granskning. Til Indledning i det akademiske Studium sowie in Logikkens Elementer geleistet; vgl. Stewart, Kierkegaard’s Danish Contemporaries, a. a. O., S. 172. Siehe auch Jon Stewart, A History of Hegelianism in Golden Age Denmark, Bd. 1–2, Kopenhagen: Museum Tusculanum Press 2007, Bd. 1 (The Heiberg Period: 1824–1836). 326 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., S. 471 (§ 302; Kursivierung teilweise getilgt). Alle Zitate des Absatzes finden sich hier. 327 Heiberg, „Volk und Publikum“, a. a. O., S. 252f. Klaus Müller-Wille zeigt, inwiefern die Kritik an einem vermeintlichen Atomismus auch durch die einflußreiche Aristophanes-Interpretation Heinrich Theodor Rötschers geprägt sein könnte; Klaus Müller-Wille, „Phantom Publikum. Theatrale Konzeptionen des corps politique in der dänischen Ästhetik von Andersen bis Kierkegaard“, in Kollektive Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist und andere unfaßbare Körper, hg. von Michael Gamper und Peter Schnyder, Freiburg im Br.und Berlin: Rombach 2006, S. 105–127, S. 108; vgl. H. Theodor Rötscher, Aristophanes und sein Zeitalter. Eine philologisch-philosophische Abhandlung zur Alterthumsforschung, Berlin: Vossische Buchhandlung 1827. 328 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., S. 472 (§ 302; Kursivierung getilgt); vgl. ebd., S. 473f. (§ 303).
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Äußerungen über den Nationalcharakter der Dichtung in Anlehnung an Johann Gottfried Herder: Der Volkscharakter wirke „unbewußt“ in den Schriften der großen Dichter und Denker. Ausschließlich indirekt übe das Volk seinen „wesentlichen Einfluß“ aus, „der die Literatur zu einer Nationalliteratur macht“.329 Wie Herder gesteht Heiberg damit dem Volk zu, nicht „tote Massen“ zu sein, sondern daß „ein lebender Geist“ in ihnen walte.330 Im Gegensatz zu Herder betont Heiberg jedoch, daß die regulative Funktion, durch welche Dichtung die minderwertige Kollektivform ‚Masse‘ in deren hochwertige Version ‚Volk‘ verwandele,331 nicht von der Gemeinschaft selbst ausgehe. Vielmehr seien „Auserwählte“ nötig, „deren Bestimmung es ist, der Menge voraus zu eilen. . . und das Banner der Kultur in bislang unbetretenen Erdboden zu pflanzen“332 . Die Schrift „Volk und Publikum“ stellt in gewisser Weise auch eine Abrechnung mit der breiten Öffentlichkeit dar, welche das Bildungsangebot abgelehnt hat, das Heiberg ihr als Herausgeber mehrerer politisch-literarischer Zeitschriften und vor allem als Dramenautor und Direktor des königlichen Theaters in Kopenhagen meinte bereitet zu haben. Besonders mit den Vaudevilles nach dem Vorbild Eugène Scribes hatte Heiberg das Ziel verfolgt, die ‚Menschen der Straße‘ zu bilden: „Du sollst zur Bühne aufschauen“, so klingt es in Anlehnung an Schillers Überlegungen zur Schaubühne, „wie zu einer besseren, höheren Stufe als die der Gasse, von der du kommst“333 .
329 Heiberg, „Volk und Publikum“, a. a. O., S. 354. 330 Johan Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in Werke in zehn Bänden, hg. von Martin Bollacher, Frankfurt/Main: Dt. Klassiker Verlag 1985–2000, Bd. 6, S. 477. 331 Vgl. Michael Hampe, „Dichtung als Medium der Menschenmenge. Literatur und ihre Funktion für den ‚Masse‘-Diskurs“, in Massenfassungen. Beiträge zur Diskurs- und Mediengeschichte der Menschenmenge, hg. von Susanne Lüdemann und Uwe Hebeskus, München: Fink 2010, S. 89– 105, S. 100–102. 332 Johan Ludvig Heiberg, „Indlednings-Foredrag til det i November 1834 begyndte logiske Cursus paa den kongelige militaire Høiskole (1853)“, in Prosaiske Skrifter, Bd. 1–11, Kopenhagen: Reitzel 1861–1862, Bd. 1, S. 461–516, S. 506 (meine Übers.). 333 Johan Ludvig Heiberg, „Skuespilhuset. En Dialog“, in ders., Danmark. Et malerisk Atlas, in Poetiske Skrifter, Bd. 1–11, Kopenhagen: Reitzel 1862, Bd. 8, S. 175–188, S. 182. Vgl. Bruce H. Kirmmse, Kierkegaard in Golden Age Denmark, Bloomington, Ind. et al.: Indiana University Press 1990, S. 157; Leonardo F. Lisi, „Heiberg and the Drama of Modernity“, in Johan Ludvig Heiberg. Philosopher, Littérateur, Dramaturge, and Political Thinker, hg. von Jon Stewart, Kopenhagen: Museum Tusculanum Press 2008, S. 421–448; András Nagy, „Heiberg and the Drama of Modernity“, in ebd., S. 357–394, S. 358.
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Das großangelegte Projekt, Idealität in den Alltag aller Dänen einzuführen,334 erfüllte jedoch nicht die Erwartungen Heibergs. Sein Scheitern bringt er in dem Essay „Volk und Publikum“ in einen kausalen Zusammenhang mit der generellen Ablehnung geistiger Autorität, ein Phänomen des 19. Jahrhunderts und angeblich Konsequenz der Ermächtigung der ‚Masse‘ durch die Tagespresse. Die ‚Masse‘ sei nicht mehr indirekt als ‚Volk‘ geistig tätig; sie beschränke sich nicht mehr darauf, die Kreativität der Künstler und Intellektuellen durch ihren Volkscharakter zu inspirieren. Das explosionsartige Wachstum der Medien, damit verbunden das von Habermas beschriebene Eindringen der Gesetze des Marktes in die bürgerliche Öffentlichkeit,335 habe vielmehr unbefugte Individuen – Mitglieder der Masse – zu Schriftstellern erhoben: Will das Volk sich nicht mehr mit dem unbewußten Einfluß auf die Literatur begnügen lassen, dann kann es natürlich nicht länger in der Eigenschaft eines Volkes wirken, denn das bewußte Individuum fordert bestimmte Individuen heraus; das Volk muß sich also in eine atomistische Menge auflösen, eine Masse, d.h. ein Publikum, das selbst schreibt. Zu diesem Verhältnis ist man nun wirklich auch gekommen, und die journalistische Literatur ist deren mächtigster Erzeuger und Erhalter; sie ist es, die die unbefugten Individuen emanzipiert hat.336
Weder das von Alexis de Tocqueville entwickelte Konzept einer Publikumselite als einer mediengewandten gebildeten Führungsschicht, welche die öffentliche Meinung bestimme,337 noch Heibergs Vorstellung einer zur Partizipation erziehbaren ‚Masse‘ scheint unter diesen Bedingungen umsetzbar.
334 Heiberg hatte bei seinem Unternehmen wohl eher die untere Mittelschicht als die industrielle Arbeiterschaft vor Augen; vgl. Peter Vinten-Johansen, „Johan Ludvig Heiberg and his Audience in Nineteenth-Century Denmark“, in Kierkegaard and His Contemporaries. The Culture of Golden Age Denmark, hg. von Jon Stewart, Berlin und New York: De Gruyter 2003, S. 343–355, S. 351. 335 Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 17. Aufl., Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1987 [1962], S. 194. Heibergs „Volk und Publikum“ ist somit ein frühes Zeugnis der Entstehung der „Massenkultur“, die „sich ihren zweifelhaften Namen eben dadurch [erwirbt], daß ihr erweiterter Umsatz durch Anpassung an die Entspannungs- und Unterhaltungsbedürfnisse von Verbrauchergruppen mit relativ niedrigem Bildungsstandard erzielt wird, anstatt umgekehrt das erweiterte Publikum zu einer in ihrer Substanz unversehrten Kultur heranzubilden.“ Ebd., S. 199. 336 Heiberg, „Volk und Publikum“, a. a. O., S. 354. 337 Er wisse wohl, so Tocqueville, daß in demokratischen Ländern keine gebürtigen Aristokraten mehr zu finden seien, aber er sei überzeugt: Durch „industrielle, kommerzielle, und selbst eine wissenschaftliche oder literarische Vereinigung“ lasse sich „etwas ihnen Entsprechendes künstlich schaffen.“ Alexis de Tocqueville, „Über die Demokratie in Amerika“, in Das Zeitalter der Gleichheit. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, hg. von Siegfried Landshut, Stuttgart: Kröner 1954, S. 3–118, S. 105f. Vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, a. a. O., S. 167.
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Ungebildet und ohne Leitung, sich ihrer Position in der organischen Einheit des Staates nicht bewußt, so läßt sich Heibergs Argumentation zusammenfassen, vertreten die einzelnen Individuen ihre egoistischen Interessen ohne Rücksicht auf das ‚Ganze‘. Dies münde schließlich in einen „philiströsen Privatgebrauch der Presse“338 durch die vielen. Heibergs Fazit: ‚Publikum‘ ist im 19. Jahrhundert die „adäquate Bezeichnung für die Masse“339 . Die Masse als Publikum ist das Ergebnis einer atomisierenden Zersetzung und einer gescheiterten Aufklärung von oben: „Erst nachdem die Organisation aufgelöst wird und also die Vernunft daraus entweicht, wird Volk, Gemeinde oder Gesellschaft zu einem Publikum.“340 Was Heiberg beklagt und mit dem Terminus ‚Publikum‘ auf den Punkt bringt, ist ein durch die Presse verstärkter gesellschaftlicher Strukturwandel, den Nietzsche als Theatrokratie bezeichnen wird: die Ausrichtung der Kunst an der ‚rohen Masse‘, deren Nervenreizung und sinnliche Erregung kalkuliert wird. Während Heiberg das Phänomen des Publikums als Indiz für einen gesamtgesellschaftlichen Atomismus betrachtet und das kausale Verhältnis zwischen der „allgemeine[n] Emanzipations-Idee des Zeitalters“341 und dem Publikum nicht eindeutig bestimmt, betont Nietzsche die von der Kunst ausgehende Dominierung aller gesellschaftlichen Bereiche durch die Masse. So hält er Wagner vor, es nicht vermocht zu haben, sich zum Beherrscher der Theatrokratie aufzuschwingen und stattdessen Bayreuth zu einem Ort des siegreichen Massenaufstands gemacht zu haben.342 Wie Menke zeigt, hat Nietzsches Theatrokratiekritik antike Wurzeln. Bereits Platon äußert sich abwertend gegenüber der theatrokratía, der ‚schlimmen Massenherrschaft‘ in den Künsten, welche die ehemalige ‚Herrschaft der besten‘ verdrängt habe. Als charakteristisch für die Theatrokratie bezeichnet Platon die Frechheit des Publikums, sich anzumaßen, urteilen zu können.343 Menke zufolge ist das Entscheidende jedoch nicht, wer urteilt, sondern wie geurteilt wird:
338 Heiberg, „Volk und Publikum“, a. a. O., S. 354. 339 Ebd., S. 352. 340 Ebd., S. 354, S. 352, vgl. S. 355. 341 Ebd., S. 360. 342 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. Sommer 1872 bis Ende 1874, in KGW, Abt. 3, Bd. 4, S. 389. Nietzsches harsche Kritik an Wagner findet sich in Friedrich Nietzsche, „Der Fall Wagner. Ein Musikantenproblem“, in KGW, Abt. 6, Bd. 3, S. 1–47; vgl. Christoph Menke, „‚Ästhetisierung‘. Zur Einleitung“, in „Ästhetisierung“. Der Streit um das Ästhetische in Politik, Religion und Erkenntnis, hg. von Ilka Brombach, Dirk Setton und Cornelia Temesvári, Zürich: Diaphanes 2010, S. 17–22, S. 17. 343 Vgl. Platon, Nomoi 700e–701a. Laut Platon habe die Einbildung, ein jeder verstehe sich auf alles, und die Verachtung der Gesetze in der musischen Kunst ihren Ursprung genommen (vgl. Nomoi 701a); Menke, „‚Ästhetisierung‘. Zur Einleitung“, a. a. O., S. 18f.
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„Theatrokratie, Ästhetisierung der Künste bedeutet, dass das Urteilen aufgrund von Einsicht ersetzt wird durch ein Urteil der Sinne, das sich nur auf Einzelnes und Oberflächliches, auf Reize richten kann.“344 Die damit verbundene Destruktion kultureller und gesellschaftlicher Normen schaffe jedoch die Möglichkeit zu deren Erneuerung.345 Während man im 21. Jahrhundert das positive Potential einer modernen Theatrokratie anerkennt, sieht Heiberg nur deren zerstörerische Kraft. Er weiß daher keinen anderen Rat, als der „rohen Masse“ im Theater „gehörig Kappzaum“ anzulegen.346
2.5.3 Kierkegaard „wider alle Tyrannei, auch der großen Zahl“ Heiberg hat vor Kierkegaard die Bezeichnung ‚Publikum‘ für die gesellschaftlichen Veränderungen geprägt, mit denen Kopenhagen im 19. Jahrhundert konfrontiert war. Auch wenn Heiberg und Kierkegaard einander an Polemik in nichts nachstehen und ‚Publikum‘ als einen Schimpfbegriff verwenden, unterscheidet sich dessen Denotation in den Schriften Kierkegaards und Heibergs fundamental: Heibergs ‚Publikum‘ bezeichnet eine große und vor allem unverbundene Anzahl ungebildeter Individuen, die mit Hilfe der Presse ihren egoistischen Anliegen denjenigen Raum in der Öffentlichkeit verschaffen, der Heiberg zufolge eigentlich für die gelehrte Diskussion des Gemeinwohls vorbehalten sei. Seine Vorstellung von ‚Publikum‘ ist durch die Opposition von Organismus und Atomismus geprägt, und er fürchtet die Zersetzung der nationalen Stabilität durch Einzelinteressen. Dagegen ist für Kierkegaards Publikumsverständnis die Polarisierung von vereinheitlichender Masse und einzigartigem Einzelnen essentiell. Heibergs Gegenüberstellung von Volk und Publikum ersetzt Kierkegaard durch die Opposition von Individuum und Publikum. Bei beiden, Heiberg wie Kierkegaard, ist ‚Publikum‘ nicht notwendig auf eine raum-zeitliche Konkretion angewiesen, wie sie z.B. während einer Theateraufführung anzutreffen ist. Heibergs Publikumsbegriff negiert jedoch das vereinheitlichende Moment, auf welches Kierkegaards Kritik am Publikum abzielt. Im Unterschied zu Heiberg nimmt Kierkegaard damit zentrale Gedanken der Massenpsychologie vorweg, welche gegen Ende des 19. Jahrhunderts prominent wer-
344 Menke, „‚Ästhetisierung‘. Zur Einleitung“, a. a. O., S. 18. 345 Ist, so Menkes Überlegung, „die Ästhetisierung von Politik, Wissen und Religion gerade als Erosion ihrer Normativität nicht bloß ihre Zerstörung, sondern die Quelle. . . ihrer Erneuerung? Bedürfen also Politik, Wissen und Religion vielleicht sogar um ihrer selbst willen der Ästhetisierung?“ Menke, „‚Ästhetisierung‘. Zur Einleitung“, a. a. O., S. 21. 346 Heiberg, „Volk und Publikum“, a. a. O., S. 356.
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den wird. Diese identifiziert ‚Masse‘ als das „Verschwinden der bewußten Persönlichkeit“ aufgrund von „Fernwirkung“, „Nachahmung“, „Suggestion“ oder eines rückkoppelnden „wechselseitigen Reflektierens“347 . Die Reflexion führt nicht nur zu dem in der Literarischen Anzeige beschriebenen Neid, sondern auch zum Verlust jeglichen individuellen Willens und Verantwortungsgefühls.348 Drastisch beschreibt Kierkegaard in dem Gesichtspunkt über meine Wirksamkeit als Schriftsteller, „wie selbst gutmütige und brave Menschen, sobald sie ‚Menge‘ werden, gleichsam zu ganz anderen Wesen werden“, indem sie ihre Meinung und ihr Verhalten durch das „Schneegestöber von Klatsch und Nachrede“ bestimmen lassen.349
2.5.3.1 Opium für die Verzweifelten. Presse, Öffentlichkeit und der Weltgeist wider das „Allgemein-Menschliche“ Wenn Kierkegaard im Gegensatz zu Heiberg die Einheit des Publikums als das wesentliche Charakteristikum der modernen Masse bestimmt, wendet er sich nicht gegen Einheit per se. Vielmehr geht es ihm um die Entlarvung der Einheit als einer falschen Einheit. In der Literarischen Anzeige beschreibt er drei Arten der Kollektivbildung, und er kennzeichnet eine davon sogar als erstrebenswert: die Gemeinschaft von Menschen, die sich aus individuellen Motiven für den Grund des Zusammenschlusses begeistern.350 Verhalten sich die einzelnen Mitglieder der Vereinigung allerdings nicht wie ein „wohl instrumentierte[s] volle[s] Orchester“, sondern en masse zu einer Idee oder einem Vorhaben, d.h. „ohne die nach
347 Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, mit einer Einführung von Helmut Dingeldey, Stuttgart: Kröner 1973, S. 11; Gabriel Tarde, „Le public et la foule“, in L’ opinion et la foule, Paris: Alcan 1922, S. 1–63, S. 54; vgl. Stäheli, „Emergenz und Kontrolle in der Massenpsychologie“, a. a. O., S. 97. Einen Überblick über die Massenpsychologie gibt Serge Moscovici, Das Zeitalter der Massen: eine historische Abhandlung über die Massenpsychologie, München: Hanser 1984. 348 Zu einer ausführlichen Analyse der ethischen Implikationen des Publikums siehe Pia Søltoft, „A Literary Review: The Ethical and the Social“, Kierkegaard Studies Yearbook, 1999, S. 110–129. 349 SKS 16, 45 / GWS, 60. Kierkegaard differenziert nicht zwischen Menge [Mængde] und Masse [Masse]. Aufgrund der konzeptionellen Ähnlichkeiten zu der Massenpsychologie, die mit ‚Masse‘ das Moment der spezifischen Verbundenheit einer großen Anzahl von Menschen bezeichnet, wird im Kontext von Kierkegaards Publikumskritik ebenfalls von ‚Masse‘ gesprochen. Zur Unterscheidung von ‚Menge‘ und ‚Masse‘ und das hierfür entscheidende ‚Wir-Erlebnis‘ siehe Wilhelm Vleugels, „Der Begriff der Masse“, Jahrbuch für Soziologie: eine internationale Sammlung 2, 1926, S. 176–201, bes. S. 194–197. 350 „Wenn die Individuen (jedes im Besonderen) sich zu einer Idee wesentlich in Leidenschaft verhalten, und sodann im Verein sich zu der gleichen Idee wesentlich verhalten: so ist das Verhältnis das vollkommene und normale. Das Verhältnis ist individuell besondernd (ein jeder besitzt sich für sich selbst) und ideell vereinigend.“ SKS 8, 61 / LA, 55f.
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innen gekehrte individuelle Besonderung“, so entstehe Gewaltsamkeit und Zügellosigkeit.351 Wenn das Zusammenrotten gar Selbstzweck wird und für den Zusammenschluß kein Grund besteht – es „keinerlei Idee gibt für die Individuen en masse und auch keinerlei individuell besondernde wesentliche Gekehrtheit nach innen“ –, so entsteht etwas, was Kierkegaard als „Roheit“ [Raahed] bezeichnet: Es „drängen und schieben die Individuen sich an- und aufeinander in nichtsnutziger Äußerlichkeit.“352 In einem solchen Zusammenschluß reiben sich die einzelnen aneinander auf, sie kehren sich „gegenseitig widereinander in aufhaltender und trostlos zudringlicher nivellierender Wechselseitigkeit“353 . Während die erste Art der Kollektivbildung laut Kierkegaard für die Zeit der Französischen Revolution als repräsentativ gelten kann, dominiere im 19. Jahrhundert die letzte Form, der Zusammenschluß um der Vermassung willen. Kierkegaard attackiert die Vermassung weder von der Warte des Geistesaristokraten noch als wohlhabender Erbe eines Kopenhagener Magnaten. Für ihn ist nicht die soziale oder politische Dimension der Masse entscheidend, sondern die psychologische. Jeder Mensch habe die Veranlagung zur Selbstauflösung in der Masse; jeder werde zu Publikum „in den Stunden, in denen er Nichts ist, denn in den Stunden, in denen er das Bestimmte ist, das er ist, gehört er nicht zu ‚Publikum‘“354 . Damit antizipiert Kierkegaard die Position Tardes, der ‚Masse‘ abkoppelt vom sozialen Status. Wenn Tarde jedoch von einer „masse cérébrale“355 sprechen wird, dann adressiert er damit die kriminelle Disposition bestimmter Individuen aus physiologischen Gründen. Kierkegaard dagegen kritisiert Masse-Sein als etwas, was in der Struktur des menschlichen Geistes angelegt ist – als Möglichkeit der Selbstverfehlung, der Verzweiflung, aber auch der radikalen Selbstwerdung, die jedoch äußerst schwer zu realisieren ist. Schließlich würden die einzelnen durch die Massensuggestion regelrecht betäubt. Sie gerieten so sehr in den Bann des vermeintlich größeren, wichtigeren ‚Ganzen‘, daß sie die existentielle Aufgabe der Selbstwerdung gar nicht mehr wahrnähmen: „Das Numerische versetzt den Menschen in einen exaltierten Zustand, so wie durch Opium.“356
351 SKS 8, 61 / LA, 56. 352 SKS 8, 61 / LA, 56. 353 SKS 8, 62 / LA, 56f. 354 SKS 8, 88 / LA, 99. 355 Gabriel Tarde, Études pénales et sociales, Lyon und Paris: A. Storck und G. Masson 1892, S. 365; vgl. Michael Gamper, „Charisma, Hypnose, Nachahmung. Massenpsychologie und Medientheorie“, in Trancemedien und Neue Medien um 1900. Ein anderer Blick auf die Moderne, hg. von Marcus Hahn und Erhard Schüttpelz, Bielefeld: Transcript 2009, S. 351–373, S. 371. 356 SKS 26, 126 NB32:14 (meine Übers.). Norbert Bolz kürt Kierkegaard aufgrund dieses Zitats zum „Anti-Marx“; Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt, a. a. O., S. 49 (Anm. 9).
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In den Untersuchungen zu Kierkegaards Verständnis der ‚Masse‘ wird dementsprechend auch hauptsächlich deren negatives Potential hervorgehoben (und Kierkegaards Ausführungen legen dies nahe, analysiert er doch in der Krankheit zum Tode die Verzweiflungsformen dezidiert als Krankheit, nicht als Heilmittel).357 Das Aufgehen in der Masse begegnet in erster Linie als Ersatzidentität des modernen Menschen. „Wo sich das Ich als zu schwach erweist,“ so Kodalle, „sich zum unverwechselbaren Selbst zu bilden, breitet sich nur verstärkt die Sucht nach Surrogaten des Selbst, nach Steigerung des Selbstgefühls auf Kosten anderer aus“358 . Bei dieser Selbstverfehlung, das wurde bereits angedeutet, spielt die Presse eine tragende Rolle: „Daß überhaupt das sich selbst verratende Individuum wähnen kann, es partizipiere kraftvoll am Leben, verdankt es nach Kierkegaard einem Phantom: der öffentlichen Meinung.“359 Die Öffentlichkeit, die Kierkegaard beschreibt, ist jedoch nicht das von Heiberg kritisierte Publikum dilettierender publizierender Privatleute. Es ist auch weit entfernt von dem Kantischen Ideal einer sich selbst aufklärenden vernünftigen Öffentlichkeit. Kierkegaards Kritik an der öffentlichen Reflexion ähnelt eher Hegels abschätziger Behandlung des „Vernünftelns“ in der Öffentlichkeit.360 Kierkegaard betont jedoch weniger die kognitiven Unzulänglichkeiten der öffent-
357 Indem Walter Dietz von einer Verzweiflung en masse spricht, deutet er deren dialektischen Charakter zumindest an, auch interpretiert er das Aufgehen in der Masse als stärkste Verzweiflungsform, welche Kierkegaard in der Krankheit zum Tode (allerdings ohne explizite Verbindung zur Masse) als dämonisch kennzeichnet: „Der Mensch, der im Grunde seines Wesens nicht haben kann resp. will, dass Gott Gott ist, und daher in geheimer oder offener Revolte selber sein will wie Gott (vgl. Gen 3,5), dieser Mensch findet seine Heimat in der Masse.“ Walter Dietz, „Verzweiflung en masse: Kierkegaards Einzelner und die Kritik der Masse“, in Vernunft der Aufklärung – Aufklärung der Vernunft. Hans-Martin Gerlach zum 65. Geburtstag gewidmet, hg. von Konstantin Broese et al., Berlin: Akademie-Verlag 2006, S. 185–205, S. 187. 358 Klaus-M. Kodalle, Die Eroberung des Nutzlosen. Kritik des Wunschdenkens und der Zweckrationalität im Anschluß an Kierkegaard, Paderborn et al.: Schöningh 1988, S. 174. 359 Ebd. 360 Vgl. Kant: „Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. . . Daß aber ein Publicum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich.“ Immanuel Kant, Was ist Aufklärung, in Kant’s Gesammelte Schriften, Abt. 1–4, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin u.a.: Reimer u.a. 1900–2010, Abt. 1, Bd. 8, S. 33–42, S. 36. Hegel dagegen betont die Beschränktheit der Öffentlichkeit und die dem inhärente politische Gefahr: „Der Begriff des Monarchen ist der schwerste Begriff für das Räson[n]ement, d.h. für die reflektierende Verstandesbetrachtung, weil es in der vereinzelten Bestimmung stehenbleibt.“ Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., S. 446 (§ 279); zu Kant und Hegels divergierenden Bewertung des öffentlichen Räsonnements siehe Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, a. a. O., S. 42, S. 129, S. 138f.
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lichen Diskussion als vielmehr deren Ausbleiben. Es werde lediglich von der Presse suggeriert, daß eine breite Leserschar sich über das Zeitungswesen bilden könne. Zudem nivelliere Reflexion als Neid eher die Unterschiede der Meinungen, anstatt einen differenzierenden Diskurs zu ermöglichen. Diesen Aspekt von Kierkegaards Öffentlichkeitskritik, die wesentlich Medienkritik ist, hat bereits Eine literarische Anzeige erörtert. In den Schriften über sich selbst ergänzt Kierkegaard seine Bedenken: basierend auf seiner im sogenannten Korsarenstreit gesammelten Erfahrung geißelt er eine von der Presse ausgehende Manipulation, Verantwortungslosigkeit und Feigheit.361 Die Zeitungen und ihre anonym bleibenden Redakteure könnten „zehntausend mal tausend dahin bringen“, ihre Behauptungen unreflektiert „nachzureden“.362 Da der jeweilige Verfasser eines Artikels immer hinter dem Massenmedium zurücktrete, brauche er keine Verantwortung mehr zu übernehmen für seine Aussagen, von denen „er vielleicht in Person in der Lage der Einzelnheit nicht den entferntesten Mut hätte auch nur das Geringste zu sagen“363 . Generell sei Anonymität der „Hauptquell der modernen Demoralisation“364 , und indem die Zeitungen mit dieser operierten, wirkten sie zusätzlich auf das von ihnen manipulierte Publikum. Nachdrücklich betont Kierkegaard, „daß überhaupt die Presse, die ja die abstrakte unpersönliche Mitteilung darstellt. . . ganz gleich[,] ob das[,] was sie sagt[,] wahr ist oder nicht, gewaltig dazu beiträgt zu demoralisieren, weil all das Unpersönliche, das mehr oder minder das Unverantwortliche und Reuelose ist, demoralisierend ist“365 . Das unpersönlich Dargestellte, so ein weiterer Kritikpunkt, begegnet mit der verführerischen Notwendigkeit des ‚Zeitgeistes‘ oder der ‚Weltgeschichte‘. Die Presse, so könnte man Kierkegaards Einwände pointieren, inszeniert sich geradezu als das Sprachrohr des Hegelschen Weltgeistes. Hegels Vollendungsgestus aufgreifend, feiert die Presse die Gegenwart und die demokratischen Errungenschaften. Darin manifestiert sich jedoch nur die Verzweiflung – nicht man selbst sein zu wollen bzw. mehr als man selbst sein zu wollen: „Mitten in allem Jubel über unsere Zeit und das neunzehnte Jahrhundert erklingt im Verborgenen der
361 Kierkegaards Kritik und die von ihm vorgenommene Enttarnung des bis dahin pseudonymen Autors Peder Ludvig Møller provozierte die Satirezeitschrift Corsaren zur Veröffentlichung einer Reihe heute noch populärer Kierkegaardkarikaturen. Damit wurde Kierkegaard über Nacht zur Witzfigur Kopenhagens und Zielscheibe öffentlicher Demütigungen. Zum Korsarenstreit siehe den Sammelband International Kierkegaard Commentary, Bd. 13: The Corsair Affair, hg. von Robert L. Perkins, Macon, Georgia: Mercer University Press, 1990, sowie Elias Bredsdorff, „The Corsair“, Bibliotheca Kierkegaardiana 12, 1983, S. 128–142. 362 SKS 16, 90 / GWS, 104. 363 SKS 16, 90 / GWS, 103. 364 SKS 16, 38 / GWS, 51. 365 SKS 16, 38 / GWS, 51.
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Ton einer verborgenen Verachtung dessen: Mensch zu sein. . . Alles, alles will mit, welthistorisch will man sich in dem Totalen betören, keiner will ein einzelner existierender Mensch sein.“366 Das Vertrauen in „Geist“, so Kierkegaard, sei in seinem Jahrhundert weit verbreitet, man glaube „voll und ganz“ an den „Zeitgeist“ [Tidens Aand], den „Weltgeist“ [Verdens Aand], auch an den „Menschengeist“ [Menneske-Aand] – jedoch nicht an den individuellen Geist und eine damit verbundene selbstverantwortliche Existenz.367 Nicht nur für Marx, auch für Kierkegaard ist die Masse daher die „empirische Einspruchsinstanz gegen die Metaphysik“.368 Marx zufolge zeigen die „wirklichen Massen“369 das verdrängte, dem Hegelianschen System nicht kompatible Elend und erklären derart dessen Versöhnungs- und Vollendungsgedanken für nichtig. Für Kierkegaard ist die Masse insofern Einspruchsinstanz gegen die spekulative Metaphysik, als sie deren Unzulänglichkeit in concreto demonstriert: die Nichtberücksichtigung, gar Nivellierung des Besonderen. In der Masse fungiert das Prinzip des Numerischen als Maßstab für das Wahre, und das ‚Publikum‘ kann sich daher mit Hilfe der Presse als Manifestation des Zeit- oder Weltgeistes verstehen. Kierkegaard dagegen will den Menschen als Einzelnen wahrgenommen wissen; darin unterscheidet sich seine posthegelianische Philosophie wesentlich von derjenigen der Junghegelianer, für welche der Mensch als Gattungswesen oder Vertreter des Proletariats thematisch wird. Kierkegaard verliert jedoch nicht die allgemeine Struktur des menschlichen Geistes aus dem Blick. Daß der menschliche Geist ein Verhältnis aus Gegensätzen ist, welches sich zu sich selbst und seinem Grund verhält, ist das Allgemeine, dem sich keiner entziehen kann, aber jeder einzelne hat diese strukturelle Aufgabe individuell zu realisieren. Kierkegaard setzt dem Hegelschen Allgemeinen, an dem der Einzelne nur durch Abstraktion von seiner Besonderheit teilhat, aber auch dem Gattungsgedanken der Junghegelianer das „Allgemein-Menschliche“370 entgegen, welches der Mensch ausschließlich als einzelnes Selbst entsprechend der in der Krankheit zum Tode vorgenommenen Geistdefinition verwirklichen könne. Folge man dagegen Marx’ Neudefinition des Allgemeinen, so Kierkegaard, dann würden alle Menschen zu gleichen Arbeitern in einer Fabrik, die alle das Gleiche
366 SKS 7, 324 / AUN2, 59f. 367 SKS 13, 96 / ZS, 106; vgl. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, a. a. O., S. 143f. 368 König, Zivilisation und Leidenschaften, a. a. O., S. 130. 369 Karl Marx und Friedrich Engels, „Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Kunsorten“, in MEW, Bd. 2, S. 3–223, S. 164. 370 Dän. det Almene-Menneskelige; vgl. SKS 3, 95 / EO2, 99; SKS 8, 242 / ERG, 151.
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aus einem Topf äßen; folge man Stirners Ansatz, so verlöre der Mensch überhaupt jede Konkretion, indem er sich bis zur völligen Nacktheit entblöße.371 Kierkegaards Begriff des Allgemein-Menschlichen ist gekoppelt an sein Bildungsverständnis: Im Gegensatz zu klassischen Bildungstheorien, die Bildung als Vermittlung des Allgemeinen an das Individuum verstehen, begreift Kierkegaard die leidenschaftliche Auseinandersetzung mit der Aufgabe der Selbstwerdung, die jeder einzeln zu bewältigen hat, als wahre oder wesentliche Bildung. Das bedeutet, daß jeder an dem Allgemein-Menschlichen partizipiert, indem er die fundamentalen Fragen der Existenz jeweils für sich allein beantwortet. Auf diese Art, so Arne Grøn, leiste Kierkegaard eine Umformulierung des Allgemeinen: „Das Allgemeine ist keine im voraus bestehende Bestimmung, nach welcher sich der einzelne zu bilden hat. . . Stattdessen ist das Allgemeine das AllgemeinMenschliche, verstanden als. . . die grundlegenden Fragen, die eine menschliche Existenz aufwirft und auf die der einzelne selbst eine Antwort finden muß.“372 Das Publikum ist Kierkegaard zufolge der Hemmschuh der wesentlichen Bildung. Es verhindert die Realisation des Allgemein-Menschlichen, indem es dem einzelnen suggeriert, er partizipiere bereits an ‚Geist‘, wenn er sich der Übermacht der großen Zahl, hauptsächlich in Gestalt der öffentlichen Meinung, beuge. In diesem Kontext wird auch deutlich, daß Kierkegaards Abwertung der Masse keinerlei sozialen Dünkel enthält, im Gegenteil: Dem Publikum als Masse einer „eingebildete[n], halbstudierte[n], durch Presseschmeicheleien demoralisierte[n] Bourgoisie“373 stellt er den „gemeinen Mann“ [menige Mand]374 entgegen. Die ärmsten sozialen Schichten – von Hegel und Marx als ‚Masse‘ bezeichnet – verfügen über das Antidotum gegen die ‚Masse‘, wie Kierkegaard sie versteht. Existentielles Pathos und wesentliche Bildung findet sich in den meisten Haushalten – allerdings nicht in den Salons und Studierstuben, sondern in der Küche und auf der Hin-
371 Vgl. Kierkegaard, „Das Eine, das not tut“, in Zeitwende 3 (1927), S. 1–7, S. 5 (zit. nach Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, a. a. O., S. 316) / Pap. IX B 22 (BOAms.5.16). Siehe auch Anton Hügli, „Kierkegaard und der Kommunismus“, in Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, hg. von Michael Theunissen und Wilfried Greve, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979, S. 511–538, S. 513. Auf diese konstitutive Differenz in der Neuprägung eines Allgemeinen hat bereits Löwith hingewiesen: „Nur als einzelnes Selbst kann der Mensch jetzt das Allgemeinmenschliche realisieren, aber nicht dadurch, daß er ein Gattungswesen (Marx) wird, oder von seiner ganzen Konkretion abstrahiert (Stirner)“; Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, a. a. O., S. 316. 372 Grøn, „Dannelse og karakter“, a. a. O., S. 32 (meine Übers.). 373 Kierkegaard, „Das Eine, das not tut“, S. 7 (zit. nach Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, a. a. O., S. 317). 374 SKS 22, 250 NB12:178 (meine Übers.).
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tertreppe. So sei eine verliebte Dienstmagd „wesentlich gebildet“, ebenso ein „in kraftvollem Entschluß wesentlich begeisterter“ Arbeiter.375 Halten wir fest: In der Masse als einem psychologischen Phänomen identifiziert sich der einzelne mit einem falschen, von der Presse kreierten Allgemeinen, und er erliegt dem Anschein, nur durch die Teilhabe an diesem ein sinnvolles Leben führen zu können. Weltgeschichtlich scheint alles entschieden, und so pflegt das 19. Jahrhundert wesentlich eine apathische Zuschauerkultur. Partizipation an einem vermeintlichen Allgemeinen findet nur durch leidenschaftsloses, persönlich nicht engagiertes Reflektieren statt, welches individuelle Handlungsgründe relativiert und nivelliert.
2.5.3.2 Kierkegaards unbehaglicher Konservativismus Das Urteil, auf geradezu blasphemische Weise ein falsches Allgemeines zu propagieren und so Apathie zu fördern, trifft auch diejenigen Zeitgenossen Kierkegaards, die sich alles andere als untätig verstanden wissen wollen, sondern Handlung auf ihre Fahnen geschrieben haben. Auch die kommunistischen Aktivisten betrieben Kierkegaard zufolge dasselbe wie der mediale Mainstream. Indem sie die Gleichheit aller Menschen zur operativen Prämisse erhöben, nivellierten sie alle Besonderheiten und vergingen sich daher an der dem Menschen wesentlichen Individualität. Kierkegaard kritisiert den Kommunismus wie folgt: Die Kommunisten hierzulande und anderenorts kämpfen für die Mschen-Rechte [Menschenrechte, B.-L.]. Gut, das tue ich auch. Eben deswegen kämpfe ich mit aller Macht gegen die Tyrannei der Mschen-Furcht. Der Kommunismus führt maximal zur Tyrannei der Mschen-Furcht (man sehe nur, wie Frankreich in diesem Augenblick von ihr beherrscht wird); eben dort beginnt das Xstt. [Christentum, B.-L.]. Das, wovon der Kommunismus so viel Aufhebens macht, hält das Xstt. für etwas Selbstverständliches; dass alle Mschen vor Gott gleich sind, also wesentlich gleich sind. Aber dem Xstt. schaudert vor dieser Abscheulichkeit, die Gott abschaffen will und Furcht erzeugen will vor der Menge der Mschen, vor der Mehrheit, vor dem Volk, vor dem Publikum.376
Kierkegaards Einwand, einzig vor Gott seien alle gleich, darf jedoch nicht vorschnell als reaktionäres Ressentiment oder beschwichtigende Strategie einer „af-
375 SKS 8, 60 / LA, 65. 376 SKS 20, 339, NB4:113 / DSKE 4, 387. Einen Überblick über die Rezeption kommunistischer und sozialistischer Theorien in der dänischen Öffentlichkeit und eine Diskussion der Frage, wie Kierkegaard den Kommunismus verstanden haben könnte, bietet Hügli, „Kierkegaard und der Kommunismus“, a. a. O., S. 511–538.
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firmativen Kultur“377 etikettiert werden. Zwar weist die Empfehlung, die Kierkegaard 1847 gegenüber Christian VIII. ausgesprochen hat (die Unruhen herunterzuspielen und keine Zugeständnisse zu machen),378 in eine derartige Richtung. Kierkegaards Position ist jedoch weder reaktionär noch Ausdruck sozialer Härte. Er betont, sich mit den Armen und Unterprivilegierten zu identifizieren, deren Gesellschaft er öffentlich und demonstrativ sucht: Ich wollte mit dem einfachen Mann [den simple Mand] leben; es befriedigte mich so unbeschreiblich, freundlich und mild und aufmerksam und anteilnehmend gegenüber gerade derjenigen Klasse der Gesellschaft zu sein, die nur allzu verlassen in dem sogenannten ‚christlichen Staat‘ ist. . . Denn alle greifen nach den höheren, den stärker distinguierten Verhältnissen in der Gesellschaft, und wenn sie erst einmal da sind – wer schert sich da noch um den einfachen Mann aus dem Volk [den menige Mand i Folket]?379
Kierkegaard adressiert den individualpsychologischen Aspekt einer übereifrigen Egalisierung, ohne gegen Demokratie per se zu votieren oder sich abschätzig gegenüber dem armen Bevölkerungsteil Dänemarks auszusprechen.380 Hermann Deuser und Bruce H. Kirmmse betonen sogar, daß der Adressat von Kierkegaards
377 Vgl. Herbert Marcuse, „Über den affirmativen Charakter der Kultur“, in Schriften, Bd. 1–9, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1978–1987, Bd. 3, S. 186–226. 378 SKS 21, 220–226, NB9:42 / T3, 161–167; vgl. Hermann Deuser, Kierkegaard. Die Philosophie des religiösen Schriftstellers, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1985, S. 86. Kierkegaards Verhältnis zum König ist jedoch alles andere als von blinder Loyalität gezeichnet. Seine Beschreibungen der Audienz bei König Christian VIII. lassen eher auf höfliche Distanz schließen (u.a. vermeidet Kierkegaard den Handkuß), auch nimmt er sich vor, Einladungen zu Audienzen so selten wie möglich nachzukommen; vgl. SKS 21, 220–226, NB9:42 / T3, 161–167. 379 SKS 22, 250, NB12:178 (meine Übers.). Zu Kierkegaards Verhältnis zu dem ‚gemeinen Mann‘ und der armen Bevölkerung Kopenhagens siehe Hjördis Becker-Lindenthal, „Common Man“, in Kierkegaard’s Concepts, Tome II, Classicism to Enthusiasm, hg. von Steven M. Emmanuel, William McDonald und Jon Stewart, Aldershot: Ashgate 2014 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 15), S. 11–16; sowie Jørgen Bukdahl, Søren Kierkegaard and the Common Man, übers. und mit Anmerkungen versehen von Bruce H. Kirmmse, Grand Rapids, Michigan und Cambridge, UK: William B. Eerdmans Publishing Company 2001. 380 Zu einer ausführlichen Diskussion der politischen Verortung Kierkegaards siehe Graham M. Smith, „Kierkegaard From the Point of View of the Political“, History of European Ideas 31, 2005, S. 35–60. Smith weist darauf hin, daß „Kierkegaard’s own society is the occasion for his comments, but his comments are guided by a wider framework. This makes it possible for Kierkegaard to have a potentially radical message that often appears couched in reactionary terms“ (ebd., S. 53). Kierkegaards Kritik an der Aufbruchsstimmung seiner Zeit sei daher metapolitisch zu verstehen: „For Kierkegaard, modern politics fails to recognise that the key to community and equality is the attainment of individuality, and that this can only be achieved through a spiritual understanding of the human. To attempt to understand the human in any other terms, be it selfinterest, history, or even rationality, is to sell what it is to be a human seriously short. In modern
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politischer Skepsis entgegen dem ersten Anschein weniger in Vertretern einer radikalen Demokratie oder des Kommunismus zu suchen ist als im konservativen und liberalen Hegelianismus Kopenhagens. Erst die philosophischen Denkvoraussetzungen der spekulativen Reflexionsphilosophie hätten im öffentlichen Diskurs einer Egalität zur Dominanz verholfen, welche die ethische Verantwortung des einzelnen zu ignorieren erlaubte.381 Auch wenn es, wie Adorno äußert, „wenig behaglich“ um Kierkegaards Konservativismus bestellt ist,382 so muß dennoch dem Umstand Aufmerksamkeit geschuldet werden, daß sich viele seiner Einwände gegen die „Tyrannei der großen Zahl“383 an demokratische und kommunistische Bestrebungen richten. Tatsächlich spiegelt sich jedoch in der Wahl seines Kontrahenten dessen Fähigkeit, die Misere aufzuheben – allerdings vollkommen anders, als es dieser selbst versteht. Erinnern wir uns: Gemäß der Dialektik der Krankheit zum Tode beinhaltet das größte Übel gleichzeitig das beste Mittel für dessen Überwindung. Der Kommunismus, so Kierkegaard, verfehle das Hauptproblem der Moderne, die existentielle Amnesie. Nur wahre Religiosität könne dieses Problem lösen, jedoch – und das ist die entscheidende Pointe Kierkegaards – enthalte der Kommunismus religiöse Elemente. Die „Stärke im Kommunismus“, so heißt es in einem Journal, „ist offenbar die in ihm dämonisch enthaltene Ingredienz an Religiosität, sogar christlicher Religiosität“384 . Der Kommunismus ist das politische Pendant zu dem individualpsychologischen Trotz. Er ist insofern dämonisch, als er die Gleichheit des Menschen vor Gott zu ersetzen trachtet durch eine selbstkreierte materielle Gleichheit. Wie jedoch der Trotz von allen Verzweiflungsformen aufgrund des ausgeprägten Selbstund Gottesbewußtseins die gefährlichste Erscheinung der Krankheit und gleichzeitig der möglichen Heilung am nahesten ist, so birgt auch der Kommunismus das Potential, die Verzweiflung en masse aufzuheben: Indem der Kommunismus den Gleichheitsgedanken regelrecht ad absurdum führt, so Kierkegaard, öffnet er die Augen für die einzig wahre Gleichheit und könne eine Kehrtwende zu wahren
politics, democracy, liberalism, levelling, the Press, and the Crowd are all manifestations of this concept of man“ (ebd., S. 57). 381 Deuser, Kierkegaard. Die Philosophie des religiösen Schriftstellers, a. a. O., S. 97. Deuser zitiert aus Kirmmses Dissertation: Bruce H. Kirmmse, Kierkegaard’s Politics. The Social Thought of Søren Kierkegaard in its Historical Context, Diss. 1977, S. 514f. 382 Adorno, „Kierkegaard noch einmal“, a. a. O., S. 573; vgl. Deuser, Kierkegaard. Die Philosophie des religiösen Schriftstellers, a. a. O., S. 84. 383 SKS 13, 27 / WS, 17. 384 „Styrken i Communismen er aabenbart den i samme dæmonisk indeholdte Ingredients af Religieusitet endog christelig Religieusitet“ (Pap. X-6 B 41; BOAms.5.25; meine Übers.).
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Selbst- und Gottesverhältnissen initiieren.385 Diese Dialektik ist der Hintergrund von Kierkegaards Aussage, daß aus der politischen eine religiöse Bewegung werden könnte: „Selbst noch ’48 sieht es wirklich so aus, als wäre alles Politik; aber es wird sich noch zeigen, daß die Katastrophe umgekehrt auf die Reformation antwortet: da sah alles aus wie eine religiöse Bewegung und wurde Politik, nun sieht alles wie Politik aus, aber wird zu einer religiösen Bewegung werden.“386
2.5.3.3 Sich von der Masse „überfahren“ lassen: der Philosoph als Märtyrer Als religiösen Aspekt der Egalisierungsbemühungen versteht Kierkegaard deren Potential, die Aufhebung der Verzweiflung initiieren zu können. Kierkegaard zufolge ist ein authentisches Selbstverhältnis notwendig verbunden mit dem Glauben an einen Gott, vor dem jeder einzelne sich für sein Leben zu verantworten habe. Kierkegaard betont auch, daß Jesus sich an den einzelnen gerichtet habe: Darum wurde Christus gekreuzigt, weil er, ob er sich gleich an alle wandte, nicht mit [der] Menge zu schaffen haben wollte, weil er auf keinerlei Weise eine Menge zur Hilfe haben wollte, weil er in dieser Hinsicht unbedingt der Abstoßende war, Parteiung nicht stiften, Abstimmung nicht zulassen wollte, sondern das sein, was er war, die Wahrheit, die zum Einzelnen sich verhält.387
Die Masse sei die Unwahrheit, das wiederholt Kierkegaard in dem Gesichtspunkt fast schon wie eine Litanei, und die Wertschätzung der Individualität das entscheidende Merkmal der christlichen Wahrheit. Dies ist auch das Kriterium für rigorose Aussprüche wie „es ist mehr Christlichkeit in dem Sokratischen Vorgehen enthalten als in dem Sankt Bernhards“ – denn Bernhard von Clairvaux predigte zu seinen Zuhörern als Masse, um sie für Kreuzzüge zu gewinnen, während
385 In diesem Sinne gilt: „das Dämonische enthält immer das Wahre umgekehrt“ („det Dæmoniske indeholder altid det Sande omvendt“; Pap. X-6 B 40; BOA ms.5.26; meine Übers.). 386 Pap. X B 63 (1848; BOAms.6.6; meine Übers.); vgl. Kirmmse, „Kierkegaard and 1848“, a. a. O., S. 167. 387 SKS 16, 89 / GWS, 102. Nicht nur Jesus, auch Sokrates habe sich von der Masse ferngehalten. Auch wenn Kierkegaard nicht explizit auf die Gemeinsamkeiten beider eingeht, so gestattet der politische Aspekt (Parteienbildung) eine derartige Verbindung, betont doch Sokrates in Gorgias: „O Polus, ich bin kein Staatsmann. . . Nämlich ich verstehe für das[,] was ich sage[,] nur einen Zeugen aufzustellen[,] den, mit dem ich jedesmal rede, die Andern alle lass ich gehen, und nur von dem einen weiss ich die Stimme einzufordern, mit den Andern aber rede ich nicht einmal.“ Platon, Gorgias 474a, in Platon, Werke, 2 Theile in 5 Bdn. Übers. von Friedrich Schleiermacher (mit Anm.), 3. Aufl., Berlin: Reimer 1855–1862, 2. Theil, Bd. 1, S. 3–116, S. 51.
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Sokrates den Einzelnen adressierte.388 Laut Kierkegaard bezeugen die politischen Veränderungen um 1848 die Notwendigkeit der Kategorie des Einzelnen: Und meine ganze Ansicht von der Masse, welche zu ihrer Zeit selbst die Einsichtsvolleren doch vielleicht ein wenig übertrieben fanden: jetzt, 1848, dank den Gebärden des Daseins. . . jetzt wird der Einwand wohl eher sein, daß ich nicht genug übertrieben habe. Und jene Kategorie ‚der Einzelne‘, die für sonderlich und eines Sonderlings Erfindung angesehen wurde. . . ich geb es nicht her, daß ich sie seinerzeit entscheidend an den Tag gestellt habe, ich geb es nicht her für ein Königreich.389
Angesichts der kulturellen Situation des 19. Jahrhunderts sei keine politische Bewegung gefordert, vor allem aber keine Massenbewegung – der grundsätzliche Fehler, den Kierkegaard seinen Zeitgenossen vorwirft, ist, Reformatoren en masse sein zu wollen.390 Es gehe einzig darum, ein Bewußtsein von Individualität zu erzeugen, und so lautet Kierkegaards Motto: „Die Bewegung ist: fort vom Publikum zum ‚Einzelnen‘. Religiös gibt es nämlich kein Publikum, sondern nur Einzelne; denn das Religiöse ist der Ernst, und der Ernst ist: der Einzelne, jedoch so, daß jeder Mensch, unbedingt jeder Mensch, der Einzelne sein kann, ja sein soll, so wie er es denn ja ist.“391 Dies ist der Grund, auf dem Kierkegaard seine Autorschaft aufbaut (bzw. rückblickend so verstanden wissen will). Es gilt, die Masse aufzutrennen, dafür habe er seine Schriften anfänglich am ‚Publikum‘ ausgerichtet: „Hier wurde, maieutisch, der Anfang gemacht mit einer Sensation, und dem, was dazugehört, dem Publikum. . . und die Bewegung war maieutisch, die ‚Menge‘ abzuschütteln[,] um den Einzelnen zu fassen zu bekommen.“392 Mit dieser Haltung unterscheidet sich Kierkegaard grundsätzlich von den anderen Vertretern des frühen Massendiskurses, und die Konsequenzen, die er aus seiner Kritik an der Masse zieht, sind außergewöhnlich. Er will die Masse nicht als
388 SKS 25, 249, NB28:4 (meine Übers.); vgl. George Pattison, „A Simple Wise Man of Ancient Times: Kierkegaard on Socrates“, in Socrates in the Nineteenth and Twentieth Centuries, hg. von Michael Trapp, Aldershot et al.: Ashgate 2007, S. 19–35, S. 29. Zu der Sonderstellung Sokrates’ hinsichtlich des christlichen Verständnisses des Einzelnen siehe Kapitel 4.4.2. 389 SKS 16, 49 / GWS, 64; vgl. Kirmmse, „Kierkegaard and 1848“, a. a. O., S. 170. Vgl. auch Kierkegaards Genugtuung, daß seine Betonung des Einzelnen vor 1848 als Übertreibung wahrgenommen wurde, „mit welcher ich mich wohl sogar lächerlich gemacht hätte – bis dann das Jahr 48 zeigte, daß es Wahrheit war“; GWS, 126 (Anm. 19), aus dem gestrichenen Entwurf Pap. X-5 B 247 zu Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller. 390 Vgl. SKS 24, 208, NB23:6. Zu Kierkegaards Abwertung auch der religiösen Reformbemühungen wie z.B. N.F.S. Grundtvigs siehe Kirmmse, „Kierkegaard and 1848“, a. a. O., S. 170. 391 SKS 13, 17 / WS, 9; vgl. Kirmmse, „Kierkegaard and 1848“, a. a. O., S. 170. 392 SKS 13, 15 / WS, 7f. Auf das Konzept der indirekten Mitteilung, auf das Kierkegaard hier anspielt, wird in Kapitel 4.1 ausführlicher eingegangen.
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Masse verändern, kontrollieren oder instrumentalisieren, wie es Heiberg, Le Bon, Marx und Nietzsche vorschwebt. Heiberg möchte der ungebildeten Masse mit dem ‚Banner der Kultur‘ vorauseilen und ihr als Vollstrecker des Weltgeistes den Weg weisen. Die Massenpsychologen werden über Möglichkeiten der Massenmanipulation nachdenken, und auch Marx ist der verarmten Masse nur insofern positiv gegenüber eingestellt, als sich aus ihr das handlungskräftige Proletariat formen läßt. So hofft er, „daß unter der breiten Masse der Armen und Deklassierten eine Gruppe zu finden“ ist, durch welche die „ins Unerträgliche gesteigerte Trostlosigkeit ihres Daseins denjenigen Punkt erreiche, an dem die bloße Quantität der Masse in die neue Qualität einer revolutionären Klasse umschlage“, und es sei dann das Proletariat, das „die ganze Masse mit sich fortreißen“ und in Interaktion mit der neuen Philosophie für die Aufhebung der Entfremdung sorgen werde.393 Angesichts der kulturzersetzenden Massenhaftigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen – „Pöbelmischmasch“394 – sieht Nietzsche den neuen Philosophen als Züchter und Befehlshaber der Masse.395 Die Liste des repressiven, manipulierenden und verleugnenden Umgangs mit der Masse ließe sich fortsetzen. Kierkegaard dagegen unternimmt es, sich der Masse zuzuwenden, und zwar nicht als ihr Führer, sondern als ihr Opfer. Er stilisiert sich zum Märtyrer der modernen (d.h. der abstrakten) Masse des Publikums. Das sei das einzige, was seiner Gegenwart noch helfen könne, wie er in einem Brief an den Juristen J.L.A. Kolderup-Rosenvinge betont. Dessen Meinung, die gesellschaftliche Instabilität könne nur noch einer starken Führungspersönlichkeit wie dem französischen General Cavaignac anvertraut werden, stellt Kierkegaard entgegen, daß er dort, wo Kolderup-Rosenvinge einen Tyrannen erwarte, auf einen Märtyrer hoffe.396 Sich als Einzelner für die Wahrheit totschlagen zu lassen gilt
393 Marx, Die Deutsche Ideologie, a. a. O., S. 61; vgl. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, a. a. O., S. 391. Zur Differenzierung von Masse und Proletariat bei Marx siehe HertzEichenrode, „‚Massenpsychologie‘ bei den Junghegelianern“, a. a. O., S. 256f. An dieser Stelle ist Löwiths Fazit zu modifizieren, Kierkegaards und Marx’ Kulturkritik unterschieden sich hinsichtlich ihrer Konsequenzen dahingehend, daß Kierkegaard auf den Einzelnen, Marx dagegen auf die Masse setze: Indem Kierkegaard die Realität des modernen Publikums anerkennt und betont, daß der einzelne Mensch erst im Ausgang von diesem ein Selbst wird, setzt Kierkegaard in gewisser Weise genauso auf die ‚Masse‘ wie Marx auf das Proletariat als deren Aufhebung; vgl. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, a. a. O., S. 195. 394 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in KGW, Abt. 6, Bd. 1, S. 301. 395 Vgl. Friedrich Nietzsche, „Jenseits von Gut und Böse“, in KGW, Abt. 6, Bd. 2, S. 1–255, S. 128– 130 (Nr. 203); siehe hierzu Marti, „Der grosse Pöbel- und Sklavenaufstand“, a. a. O., S. 213. 396 SKS 28, 409 / B, 193 (Brief 268, August 1848); vgl. Kirmmse, „Kierkegaard and 1848“, a. a. O., S. 172; Joakim Garff, „‘You Await a Tyrant whereas I Await a Martyr’: One Aporia and its Biographical Implications in A Literary Review“, Kierkegaard Studies, 1999, S. 130–148.
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Kierkegaard als Essenz des Christentums, welche gleichwohl dessen historischen Rahmen sprengt: In dem Briefwechsel mit Kolderup-Rosenvinge wird ausgerechnet Sokrates als vorbildlicher Märtyrer ausgewiesen.397 Der terminus a quo ist entscheidend für jegliche Veränderung, die Kierkegaard in einem weiteren Brief an Kolderup-Rosenvinge als Bewegung beschreibt. Um eine Bewegung definieren und durchführen zu können, so Kierkegaards ‚kleine Theorie der Bewegung‘, ist nicht nur ein Ziel nötig, sondern auch ein Ausgangspunkt. Wird die Veränderung nur mit Hinsicht auf das zu Erreichende angegangen, so entstehe keine Bewegung, sondern lediglich Tumult. Ohne Markierung des Ausgangspunktes läßt sich eine Bewegung weder sinnvoll ausführen noch der so entstandene „Wirbel“ wieder anhalten: Die meisten meinen, wenn man nur einen festen Punkt hat, wohin man will, so ist die Bewegung kein Wirbel [Hvirvel]. Aber das ist ein Mißverständnis. Das, worauf es eigentlich ankommt, ist ein fester Ausgangspunkt [Punkt at gaae ud fra]. Anzuhalten ist nicht möglich mit einem Punkt, der voraus liegt, sondern mit einem, der hinten liegt. . . Und das ist der Unterschied zwischen politischer und religiöser Bewegung [politisk og religieus Bevægelse]. Jede bloß politische Bewegung [politisk Bevægelse], die also ohne das Religiöse oder gottverlassen [uden det Religieuse eller gudforladt] ist, ist Wirbel.398
Kierkegaard spielt auf die zweifache Bedeutung des Wortes ‚Bremse‘ an, wenn er Sokrates als denjenigen beschreibt, der im antiken Athen sowohl Veränderungen initiiert als auch angehalten habe: Sokrates nannte sich selbst bekanntlich eine ‚Bremse‘ [‚Bremse‘]. Er erklärt das ganz richtig in der Bedeutung der Erweckung [Opvækkelse], und auch er war ja ein Revolutionär. Aber in einem anderen Verständnis ist es doch gewiß, daß er auch das Anhaltende [den Standsende] war. Er hielt just einen sophistischen Wirbel [Hvirvel] an; er kam den Sophisten auf die Schliche, mit seinem Bremsenstich [Bremsestik] trieb er sie so sehr voran. . . daß die Sophistik unterging und der Einzelne sich des festen Punktes hinter ihm bewußt wurde. Die Sophistik meinte auch einen Punkt festzulegen, wohin die Bewegung sollte, und daß diese so davor gesichert war, Wirbel zu sein. Aber die Sokratische Dialektik war unermüdlich darin, es offenbar zu machen, daß auf diese Art und Weise doch gar nichts fest wurde. Sokrates dagegen hatte den festen Punkt hinter sich; er ging von sich selbst und von Gott [fra sig selv og fra Guden] aus; er kannte sich selbst, er besaß sich selbst [eiede sig selv]. Mit der Kraft, die er daraus zog, hielt [standsede] er die Sophistik an, die wie die Politik ständig danach
397 Was Kierkegaard zufolge ein christlicher Märtyrer und Sokrates gemeinsam haben, ist das Bewußtsein ihres Selbst und dessen göttlichen Grundes, wie es die Krankheit zum Tode erläutert. Dazu in Kapitel 4.4.2. 398 SKS 28, 400 / B, 186.
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fragt, wohin man gelangen soll, statt danach zu fragen, wovon man ausgehen soll [hvorfra man skal gaae ud].399
Sokrates habe auf den terminus a quo hingewiesen, auf die individuelle Existenz und die damit einhergehende Verantwortung. Dafür sei er gestorben – dafür habe er sich, so Kierkegaard wörtlich, überfahren lassen: Ja[,] sicherlich wurde Sokrates auch überfahren [overkjørt], das muß jeder werden, der auf diese Weise gebraucht wird. . . Zu unterliegen ist die Überlegenheit des Märtyrers [Martyrs Overlegenhed], er siegt als der tote Mann, der zurückkehrt. Der tote Sokrates hielt den Wirbel an, was der lebende Sokrates nicht vermocht hatte; aber der lebende Sokrates hatte intellektuell verstanden, daß nur ein toter Mann siegen konnte, ein Opfer, und er hatte ethisch verstanden, sein ganzes Leben darauf anzulegen, dies zu werden.400
Es ist viel diskutiert worden, inwiefern Kierkegaard sich selbst als Märtyrer verstanden hat. Einerseits betont er wiederholt, keine „Vollmacht“401 für seine Forderungen nach einem wahren Christentum gehabt zu haben, andererseits inszeniert er sich nach dem sogenannten Korsarenstreit rückblickend als Märtyrer, dabei direkt auf Sokrates und Jesus von Nazareth verweisend. Von der durch den Korsar angestachelten Öffentlichkeit gepeinigt, habe er erst verstanden, was Christentum bedeute: „Was habe ich gelitten an der Verfolgung durch die Pöbelhaftigkeit [Pøbelagtighedens Forfølgelse] und an der menschlichen Undankbarkeit. In Wahrheit wäre mir jedoch ohne dies eine Seite des Christentums vollkommen entgangen. So eine hochgestimmte Handlung der Nächstenliebe [Kjerlighed til Andre] zu erleben und sie derart belohnt zu sehen“ sei wesentlich für die imitatio Christi.402 Inwiefern jedoch ist Kierkegaards öffentliche Diffamierung, an der sich zu seinem Leid selbst die von ihm so geschätzte einfache Bevölkerung Kopenhagens beteiligte,403 ein christliches Opfer für diese und ein Anhalten des ‚Wirbels‘, wie
399 SKS 28, 401 / B, 187. Ausführlich zu Kierkegaards Auseinandersetzung mit der Selbstbeschreibung Sokrates’ als Viehbremse siehe Kapitel 4.4. 400 SKS 28, 401 / B, 188. 401 Vgl. SKS 16, 58 / GWS, 74. 402 SKS 23, 47, NB15:69 (meine Übers.). 403 Vgl. SKS 16, 69 / GWS, 86f.: „Wahrlich, nichts bin ich minder gewesen als vornehm, und habe, selbst von geringer Herkunft, den gemeinen Mann [den menige Mand] geliebt, das, was man so die einfache Klasse [den simple Classe] nennt; das habe ich, weiß ich, getan; denn schwermütig fand ich meine Freude daran – und doch ist es eben er, den man auf mich gehetzt hat, dem man eingebildet hat, ich sei vornehm.“
2.5 Masse, Menge und das „Phantom Publikum“ | 111
es Sokrates vermochte? Der „Einzelne in der höchsten Potenz“,404 auf seiner Individualität beharrend, ist in der Lage, das Publikum als Masse zu provozieren und so dessen Eigenschaften in extrema aufzuzeigen. Indem er die radikale Konsequenz der dem Publikum innewohnenden Massendynamik verdeutlicht – den unverhohlenen Angriff vieler auf einen einzelnen –, hofft er, daß die Masse sich in ihr Gegenteil wandelt und die einzelnen sich ihrer Vermassung bewußt werden und sich ihr entziehen. In Anspielung auf die vom Lukasevangelium dargestellte Verurteilung Jesu durch Herodes verbietet Kierkegaard sich Mitleid; die Menschen im Publikum sollten weniger ihn als ihre eigene Selbstverfehlung betrauern: „weinet nicht über ihn, sondern weinet über euch selbst.“405 Durch sein aufsehenerregendes Verhalten in der Kopenhagener Öffentlichkeit – exzentrische Kleidung, Gespräche mit Obdachlosen und Tagelöhnern – und indem er seine Person überhaupt der Öffentlichkeit preisgibt (bzw. dies nachträglich so inszeniert), gestaltet Kierkegaard sich zum hyperbolischen Gegenentwurf des „unpersönlichen Etwas“, des „X“, als das der moderne Schriftsteller der Öffentlichkeit begegnet.406 Damit wendet er sich auch gegen die vermeintliche Evidenz eines massenmedialen Zeitgeistes, dem sich der einzelne unterzuordnen habe.407 Kierkegaard setzt sich als einzelner für das Allgemein-Menschliche ein, an dem seine Zeitgenossen wiederum nur als einzelne partizipieren können. Kierkegaard hat diese Philosophie des emphatischen Einzelnen nicht nur in seinen Schriften formuliert, er hat sie an seiner Person gezeigt. Schenkt man seinen Selbstaussagen Glauben, so ist Kierkegaards Auftreten von vornherein auf Provokation angelegt gewesen. Zu demonstrieren, was der einzelne Mensch durch die Unterordnung unter die Tyrannei der großen Zahl werde und worin seine eigentliche Existenzaufgabe bestehe, sei etwas, „was man weder mit 10 Büchern erreicht, welche die Lehre vom Einzelnen entwickeln, [noch] mit zehn Vorlesungen“408 . Stattdessen
404 Anton Hügli, „Der Einzelne“, in Lexikon Existentialismus und Existenzphilosophie, hg. von Urs Thurnherr und Anton Hügli, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 56–58, S. 57. 405 SKS 8, 91 / LA, 102; vgl. Luk 23,28. Hirsch versteht die biblische Anspielung als Indiz, daß Kierkegaard sich in dem Korsarenstreit als Christusnachfolge begreift; LA, 159 (Anm. 154). 406 SKS 16, 38 / GWS, 52. Die Ausgestaltung der pseudonymen Autorpersönlichkeiten kann als ein weiterer Zug innerhalb Kierkegaards Strategie verstanden werden, einer Zeit, die verlernt hat, was es heißt, ‚ich‘ zu sagen, genau dies auf extreme Weise vorzuführen; vgl. SKS 27, 428, Papir 371:1 / T2, 121. 407 Vgl. auch die Anmerkung, mit der Kierkegaard seine Gegenwartsdiagnose beginnt: „Es ist mir mit der Forderung der Zeit ergangen, wie es mir seinerzeit mit der Militärdienstpflicht erging: ich erhielt unverzüglich meinen Abschied, und beidemal war dies ganz nach meinem Wunsch.“ SKS 8, 13 / LA, 7 (Anm.). 408 SKS 16, 94 / GWS, 108.
112 | 2 Kierkegaards Kulturkritik
erwirke man dies „in gegenwärtigen Zeiten einzig und allein damit[,] daß man das Lachen dahin bringt, sich auf einen zu richten, damit[,] daß man die Menschen ein bißchen böse macht, und also damit, daß man sie dahin bringt, einem mit Hohn. . . immerzu das vorzuwerfen“409 . Kierkegaards Darstellung, nur unter dem Einsatz der eigenen Person für seine Theorie des Einzelnen eingetreten zu sein, ist jedoch cum grano salis zu nehmen – immerhin hat Kierkegaard auch nach dem Korsarenstreit ausgiebig publiziert. Seine Schriften zeugen davon, daß auch dem Wort in der von ihm gepriesenen Dyade aus Wort und Tat entscheidende Bedeutung beizumessen ist. Dies wird in den folgenden Kapiteln geschehen.
2.6 Zusammenfassung: Postrestitutivität und kulturkritische Dialektik Kierkegaards Haupteinwand gegen die moderne Kultur lautet: Sie fördert existentielle Amnesie. Gegenüber dieser massenhaften Verzweiflung der Endlichkeit, der Orientierung an vermeintlichen Notwendigkeiten, Wahrscheinlichkeiten und bürgerlichen Klugheitsregeln erinnert Kierkegaard an „das Unbedingte [det Ubetingede]“410 , ohne das der Mensch nicht leben könne. Damit verweist Kierkegaard auf etwas, was mit Tillich als religiöse Tiefendimension bezeichnet werden kann – darauf, ein Einzelner ‚vor Gott‘ zu werden, d.h. das jeweils individuelle ‚Gesetztsein‘ anzuerkennen und mit dessen kontingenten Möglichkeiten und Beschränkungen selbstverantwortlich umzugehen. Kierkegaards Verständnis von Religiosität ist daher ein vollkommen anderes als das von Marx bekämpfte. Während für Marx „die Kritik der Religion. . . im Keim die Kritik des Jammertales“ ist,411 welches durch die Illusion eines Himmelreiches als Tranquilizer wirke, ist für Kierkegaard Glaube gerade das, was das Individuum zu kompromißlosen Entscheidungen und eigenverantwortlichem Handeln bewegt. Nicht Religion, sondern Masse, so Kierkegaard wörtlich, ist das „Opium“412 des modernen Menschen. Das massenhafte Publikum ist zentral für Kierkegaards Kritik und sein darauf basierendes Philosophieverständnis. Der falschen Einheit, die das Publikum propagiert, indem es sich als Repräsentant des Welt- oder Zeitgeistes versteht, stellt Kierkegaard die Konzeption eines Allgemein-Menschlichen als existentielle 409 SKS 16, 94 / GWS, 108f. 410 SKS 13, 26f. / WS, 16f. 411 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, a. a. O., S. 379. 412 SKS 26, 126, NB32:14 (meine Übers.); vgl. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, a. a. O., S. 378.
2.6 Zusammenfassung: Postrestitutivität und kulturkritische Dialektik |
113
Aufgabe der individuellen Geistwerdung entgegen. Diese Aufgabe gilt es für jeden einzelnen individuell zu lösen. Eine Philosophie, die sich dem widmen will, steht vor neuen Herausforderungen. Gräb-Schmidt spricht gar davon, daß Kierkegaard der Philosophie „mit der Behauptung eines individuellen Allgemeinen“ einen „Paradigmenwechsel par excellence“ zumute.413 Mit Hilfe des ‚Publikums‘ sucht Kierkegaard zudem die Immunität seines kulturkritischen Sprechens zu behaupten: Er habe nicht um die Anerkennung des Publikums geworben, sondern sich ihm als Märtyrer geopfert und so der „Tyrannei der großen Zahl“414 seine Theorie des Einzelnen als kritisches Korrektiv entgegengesetzt. Zwar verweist Kierkegaard auf den ‚einfältigen‘ und ‚einfachen‘ Menschen als Vorbild für eine wahre, d.h. sich leidenschaftlich und als Einzelner mit dem Allgemein-Menschlichen auseinandersetzende Existenz, aber dieser simple Mand scheint angesichts der Presse, die eine immer größere Leserschaft anspricht, nicht nur ein idealisierter, sondern auch ein irreversibel im Schwinden begriffener Typus zu sein. Es bleibt daher nichts anderes übrig, als sich durch die nivellierende Reflexion ‚hindurchzuarbeiten‘ und ihr Potential wertzuschätzen, eine intensivere Selbstwerdung veranlassen und das existentielle Pathos steigern zu können. Die Dialektik der Reflexion bezieht sich auf die angesprochene kognitive wie auf die soziale Dimension. Als Nachdenken kann Reflexion das Bewußtsein für die Notwendigkeit eines leidenschaftlichen Entschlusses schärfen (je mehr Für- und Gegenargumente, umso bedeutsamer wird der Akt der Entscheidung). In konsequenter Anwendung auf den Glauben führt Reflexion schließlich, das wird in den folgenden Kapiteln detailliert erläutert, zu einem Zusammenprall von menschlichem Verstand und christlichen Paradoxa: Die Menschwerdung Gottes ist Kierkegaard zufolge entgegen der ‚Einbildung‘ der Spekulation nicht rational einsichtig, ebensowenig der Gedanke der Erbsünde. Auf diese Weise wird die Entscheidungssituation zugespitzt – der einzelne ist mit der Wahl konfrontiert, entweder den Sprung in den Glauben zu wagen oder aber Ärgernis zu nehmen. Im 19. Jahrhundert, so Kierkegaard weiterhin, werde Bildung irrtümlicherweise als Christsein angesehen. Dies propagiere die humanistische Elitekultur, mit Heiberg und Bischof Jacob Peter Mynster an der Spitze. Mynster zufolge, so Kierkegaards skeptische Paraphrase, gelte die Formel, „das Christliche sei: Bildung [Dannelse]“415 . Dem hält Kierkegaard entgegen: Dannelse sei nur eine Ausbildung des Geschmacks und zudem eine „gefährliche“ Bildung [farefulde Dannelse],416 denn sie münde nicht in christlichen Eigenschaften wie Mitleid und 413 414 415 416
Gräb-Schmidt, „Die Rationalität von Kierkegaards Theologie“, a. a. O., S. 43. SKS 13, 27 / WS, 17. SKS 24, 89 / T4, 247. SKS 21, 119, NB7:81 (meine Übers.).
114 | 2 Kierkegaards Kulturkritik
Barmherzigkeit, sondern in Hochmut, in Einbildung. Um innerhalb des Kulturchristentums wahrhafter Christ zu werden, sei daher die konsequente Reflexion geradezu eine Notwendigkeit: „In der Christenheit – Christ werden ist entweder werden[,] was man ist (die Innerlichkeit der Reflexion, oder die Reflexion der Verinnerlichung), oder es ist erst einmal aus einer Einbildung herausgerissen werden, was wiederum eine Bestimmung der Reflexion ist.“417 Aus diesem Grund habe das Christentum eine „neue Waffenlehre“ [ny Vaabenlære] nötig, welche „ganz und gar von der Reflexion durchdrungen“ [gjennemtrængt af Reflexion] sein müsse.418 Darin spiegelt sich wiederum Kierkegaards Selbstverständnis als moderner Märtyrer: Aber es ist doch wohl offenbar, daß die Christenheit irregegangen ist in Reflexion und Gescheitheit [at Christenheden er løbet vild i Reflexion og Klogskab]. Unmittelbares Pathos [Pathos], und wenn einer gleich in unmittelbarem Pathos sein Leben opferte: hilft zu nichts; man verfügt über allzu viel Reflexion und Klugheit[,] um nicht seine Bedeutung zunichte zu machen. Selbst ein Märtyrer muß, damit er in diesen Zeiten Nutzen stifte, Reflexion [Reflexion] haben, um die Zeit dermaßen zu verstricken, daß sie wirklich hängen bleibt, indem sie ihn zu Tode schlägt – und daß dann die Erweckung [Opvækkelsen] folgen kann. Auf diese Weise verstehe ich mich in meiner schriftstellerischen Wirksamkeit: sie macht der Christenheit Sinnentrug [Christenhedens Sandsebedrag] offenbar und schafft freie Sicht für das Christwerden.419
Der Journaleintrag verdeutlicht: Kierkegaards Kritik an seinem Zeitalter stützt sich zwar auf sein Auftreten als ‚Einzelner‘ und auf den Akt des Selbstopfers, jedoch ist letzteres nicht ausreichend. Daher reagiert Kierkegaard auf die Übel des 19. Jahrhunderts unter Anwendung dieser selbst – Reflexion ist mit Reflexion zu begegnen. Kierkegaards Philosophie kann als Beispiel einer ‚Waffenlehre‘ des Christentums verstanden werden, welche moderne Existenzbedingungen berücksichtigt, ohne sie zu affirmieren. Seine Schriften reagieren dabei, das wird das nächste Kapitel zeigen, auf die Unzulänglichkeiten der hegelianischen Philosophie genauso wie auf die der spekulativen Theologie. Auch als soziales Phänomen mit dem Ergebnis der Nivellierung vermag die Reflexion ein „examen rigorosum“420 auf dem Weg der Selbstwerdung zu sein. Die Nivellierung werde „der scharfe Zuchtmeister, der sich der Erziehung an-
417 SKS 16, 37 / GWS, 50. Auf Dänisch heißt es: „I Christenheden – at blive Christen er enten at vorde hvad man er (Reflexionens Inderlighed, eller Inderliggjørelsens Reflexion), eller det er først at rives ud af en Indbildning, hvilket igjen er en Reflexionens Bestemmelse.“ 418 SKS 16, 34 / GWS, 47. 419 SKS 16, 67f. / GWS, 85f. 420 SKS 8, 84 / LA, 93.
2.6 Zusammenfassung: Postrestitutivität und kulturkritische Dialektik |
115
nimmt“421 . Durch sie könne man wesentlich gebildet werden, denn sie verhelfe dazu, „ein wesentlicher Mensch“422 zu werden, und so könne es „in Wahrheit bildend sein, in einer Zeit der Nivellierung zu leben“423 . Den psychologischen Effekt, den die radikale Egalisierung haben könnte, beschreibt Kierkegaard als purgatorium: Die Abstraktion der Menschheit, diese Selbstentzündung des Menschengeschlechts [Menneske-Slægtens Selvantændelse], welche durch die Reibung [Friktion] veranlaßt ist, die da entsteht, wenn die Besonderung der individuellen Innerlichkeit in der Religiosität ausbleibt, wird etwas Stehendes. . . und sie verzehrt [fortærer] alles, aber durch sie können die Individuen, jedes im besonderen, wiederum religiös erzogen werden, daß sie im examen rigorosum der Nivellierung [i Nivelleringens examen rigorosum] die Wesentlichkeit der Religiosität in sich selber gewinnen.424
Wie aber schlägt die Hyperreflexion und Nivellierung in das Gegenteil, in Glaube und individuelles Selbstsein um? Daniel W. Conway legt in seiner Interpretation der Literarischen Anzeige den Finger in die Wunde: „Worauf basiert Kierkegaards Glaube, daß einige Individuen das examen rigorosum der Nivellierung zu überleben vermögen?“425 Kierkegaards Gott, so Conways berechtigte Skepsis, ähnele einem deus ex machina. Wie jeder einzelne in dem Opiumtaumel des Numerischen plötzlich seiner Selbstverfehlung bewußt werden und den Willen zum Sprung in den Glauben entwickeln soll, bleibt unklar. Zugestanden, daß diese Veränderung eine je individuelle ist und daher nicht bis ins Detail präzisiert werden kann, so bleibt doch die Frage offen, wie in dem leidenschaftslosen Zeitalter der Masse plötzlich die Kraft entsteht, gegen den Strom zu schwimmen. Der Gnadenakt eines Gottes erscheint als einziger Ausweg: Kierkegaard, so Conways Fazit, ermahne seine Zeitgenossen weniger dazu, zu ‚springen‘, als sich auf göttliche Gnade vorzubereiten.426 Damit verschiebt Conway aber nur das Problem: Wie wiederum kann eine solche Vorbereitung stattfinden? Diese Frage, zusammen mit der Erörterung der diesbezüglichen Rolle der Reflexion, ist Gegenstand von Kapitel 4.5. Glaube ist laut Kierkegaard nicht nur eng verknüpft mit der Aufgabe, individuelle Verantwortung zu übernehmen, sondern auch damit, Christlichkeit als Einzelner derart erst hervorzubringen. In der Kristenhed Christ zu werden bedeu-
421 SKS 8, 84 / LA, 94. 422 SKS 8, 85 / LA, 94. 423 SKS 8, 84 / LA, 93. 424 SKS 8, 84 / LA, 93. 425 Daniel W. Conway, „Modest Expectations: Kierkegaards Reflections on the Present Age“, Kierkegaard Studies Yearbook, 1999, S. 21–49, S. 36 (meine Übers.). 426 Vgl. ebd., S. 38
116 | 2 Kierkegaards Kulturkritik
tet alles andere als in der Geschichte des Christentums ‚zurückzugehen‘ und der Moderne die Traditionen eines vermeintlichen Urchristentums entgegenzustellen. Wahres Christentum läßt sich nicht wiederherstellen. Die Menschwerdung Gottes, so Kierkegaard, ist selbst ein Zeichen der Postrestitutivität. Sie verdeutlicht, daß der Sündenfall nicht ungeschehen gemacht werden kann, und wertet so die Zeitlichkeit des Menschen auf: Er kann nur in der Zeit, d.h. unter den jeweiligen historischen, sozialen und kulturellen Bedingungen, gläubig werden: „Dies ist die Konsequenz des Hervortretens Gottes in der Zeit, welches verhindert, daß das Individuum sich nach rückwärts hin zum Ewigen verhält, da es nun durch das Verhältnis zu dem Gott in der Zeit nach vorwärts hin dazu kommt, in der Zeit ewig zu werden.“427 Christlich verstanden, so heißt es auch in der Nachschrift, „ist das Sich-Umsehen, selbst wenn man die anmutige, bezaubernde Landschaft der Kindheit erblickte, Verderben.“428 Lots Frau, das wurde bereits einleitend gezeigt, wird daher zum warnenden Sinnbild der postrestitutiven religiösen Kulturkritik Kierkegaards. Wie auch Gräb-Schmidt betont, ist Kierkegaards Verweis auf ein wahres Christentum „nicht als ein back to the roots, als ein Hinter-die-GeschichteZurückgehen aufzufassen“429 und seine religiöse Kulturkritik nicht als Versuch zu interpretieren, „das Verlorene wiederzugewinnen“.430 Im Gegensatz zu kulturkritischen Modellen mit eindeutigen Zukunftsvisionen – sei es die Restitution eines ehemaligen Zustandes oder die Kreation von neuen Gesellschaftsformen – beschreibt Kierkegaard weder vor- noch rückwärtsgewandte Utopien. Wenn er sich wie Marx der Masse zuwendet, dann tut er es nicht, um sie als Proletariat für das feststehende telos einer klassenlosen Gesellschaft zu mobilisieren. Marx’ säkularisierter, universaler Eschatologie stellt Kierkegaard eine individuelle Heilserwartung entgegen. Der Prozeß, den er anregen möchte, indem er die Masse zu zertrennen sucht, ist offen: Letztlich ist es dem einzelnen und der Gnade Gottes überlassen, ob Selbstwerdung gelingt und wie diese aussieht. Entfremdung wird nicht notwendig durch den Gang der Geschichte aufgehoben, sondern muß durch jeden einzelnen zu jedem Zeitpunkt bewältigt werden.431 Kierkegaards Verbindung von Existenz, Religiosität und Christentum mag nicht jedem einleuchten. Die Konzepte werden jedoch nicht in dogmatischer
427 SKS 7, 531 / AUN2, 297. 428 SKS 7, 547 / AUN2, 316. 429 Gräb-Schmidt, „Die Rationalität von Kierkegaards Theologie“, a. a. O., S. 26. 430 Tillich, „Die verlorene Dimension“, a. a. O., S. 44. 431 Auch Kirmmse betont, daß es im Rahmen von Kierkegaards radikaler Individualisierung des Geistes unmöglich sei, „to specify what a culture and a society ought to be, for the task of fulfilling the promise of the human spirit is an open-ended and individual one. However, it is possible to specify what a culture ought not to be“; Kirmmse, „Psychology and Society“, a. a. O., S. 192.
2.6 Zusammenfassung: Postrestitutivität und kulturkritische Dialektik |
117
Verengung aufeinander bezogen, sondern dienen der offenen Frage, wie unter modernen Bedingungen zu leben ist. Dieser Problematik begegnet Kierkegaard häufig auf eine Weise, die anachronistisch anmutet. Er schenkt Denkern Aufmerksamkeit, über welche seine Zeitgenossen längst hinausgegangen zu sein glauben. Kierkegaards Auseinandersetzung mit Meister Eckhart und Sokrates, das wird im folgenden deutlich, ist jedoch alles andere als konventionell. So destruiert Kierkegaard die bürgerliche Bildungshybris durch das Eckhartsche Konzept der Ent-Bildung, und er versteht Sokrates nicht als Vertreter der Anamnesis-Lehre, sondern kürt ihn zum Vorbild für christliche Selbstwerdung avant la lettre, habe er doch deren Postrestitutivität verstanden: Begriff schon Sokrates das Mißliche dran, sich spekulierend selbst aus der Existenz zurück in die Ewigkeit zu nehmen, wo doch am Existierenden kein anderer Mißstand war als der, daß er existierte, und dann freilich der, daß das Existieren das Wesentliche war: jetzt ist das Sich-Zurücknehmen überhaupt unmöglich. Vorwärts muß er, zurück ist es unmöglich.432
Das Verhältnis zu seinen Zeitgenossen will Kierkegaard nicht nur unter dem Vorzeichen einer imitatio Christi verstanden wissen, sondern auch als Nachahmung Sokrates’. Dessen beiläufige Selbstinterpretation als Viehbremse wird zum Zentrum von Kierkegaards Philosophie. Kierkegaard richtet sich nicht nur gegen die vorschnelle und massenhafte Kultur des 19. Jahrhunderts, sondern auch gegen den Hegelianismus, welcher ihm zufolge mit dieser Kultur in wechselseitiger Abhängigkeit steht. Die von Jesus wie von Sokrates gelebte Verbindung von Wort und Tat sucht Kierkegaard in einer Philosophie zu wiederholen, die auf die modernen Rezeptionsbedingungen reagiert. Seine Schriften, das wird an ausgewählten Texten gezeigt, simulieren Handlungen: Es geht darum, existentielle Bewegungen in Form von Stimmung – Bewegtheit – oder auch als Verstehensbewegungen zu erzeugen. Auf diese Weise soll der Leser als einzelner aus dem ‚Publikum‘ herausgetrennt werden; er soll sich an seinen terminus a quo erinnern und seiner existentiellen Verantwortung gewahr werden. Kierkegaards Philosophie, so die im folgenden zu explizierende These, sucht die besondere Bewegung der Selbstwerdung anzuregen. Die folgenden Kapitel widmen sich daher der Performanz von Kierkegaards Schriften, welche aus seiner Kultur- und seiner Philosophiekritik gleichermaßen entsteht.
432 SKS 7, 191 / AUN1, 200.
3 Philosophiekritik Die folgenden Abschnitte zeigen die Reziprozität von Kierkegaards Kritik der zeitgenössischen Philosophie und der Kultur des 19. Jahrhunderts; diese bedingen einander und bleiben unzertrennlich aufeinander bezogen. Folgt man Kierkegaard, dann krankt sowohl die Kultur als auch die Philosophie des 19. Jahrhunderts an der Sucht eines Zuviel und Zuschnell – und damit ist auch für die Philosophiekritik das Paradigma der Todsünde, in diesem Fall der gula, konstitutiv. Das Zuviel und Zuschnell spiegele sich, so Kierkegaards Argumentation, in dem Konzept der Weltgeschichte und in dem Gestus der Vollendung. Zudem dominiere es den intellektuellen Diskurs des 19. Jahrhunderts nicht aus Gründen, die in der Sache lägen, sondern sei motiviert durch persönliche Interessen der Intelligenzija: Es gehe nicht um eine aufrichtige Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels, sondern um eine Steigerung der Auflagenzahl der eigenen Veröffentlichungen. Einkommenssicherung und das Streben nach akademischer Reputation, aber auch nach öffentlicher Popularität hätten Priorität. Kierkegaard kritisiert daher weniger Hegels Philosophie per se als ihre Folgen: die unkritische und opportunistische Adaption durch seine dänischen Epigonen (3.1) sowie den öffentlichen Hype eines simplifizierten spekulativen Denkens. Anhand Kierkegaards Auseinandersetzung mit der Popularisierung von Hegels Konzept der Weltgeschichte (3.2), mit der Vorschnelligkeit eines spekulativen Systemdenkens (3.3) sowie mit der sogenannten Universitätsphilosophie (3.4) lassen sich nicht nur die wesentlichen Elemente seiner Philosophiekritik rekonstruieren, sondern auch der Modus dieser Kritik und die Strategien für eine Philosophie nach der Philosophie herleiten (3.5). Vor allem die Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken – der locus classicus der Kierkegaardschen Philosophiekritik – dient im folgenden zur Analyse einer Kritik, die sich in Zurückweisung des Konzeptes der Weltgeschichte und des Hegelschen Vollendungsgestus, aber auch eines unreflektierten Hegel-Epigonentums entfaltet.
3.1 In Kürze vorab: Kierkegaards Hegelrezeption Daß Kierkegaards häufig pauschale Philosophenschelte auf die Philosophie Hegels im weitesten Sinne abzielt, ist Forschungstenor. Niels Thulstrups grundlegende Untersuchung Kierkegaards Relation to Hegel hat die Spuren Hegels in den einzelnen Werken verfolgt, Kierkegaards Hegel-Lektüre rekonstruiert und die zentrale Bedeutung der Hegelschen Philosophie für Kierkegaards Schriften aufge-
3.1 In Kürze vorab: Kierkegaards Hegelrezeption |
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zeigt.433 Thulstrup hat auch die entscheidende Rolle der Vermittler erarbeitet, und er betont nachdrücklich, daß Kierkegaards „Hegelverständnis besonders von den Interpretationen der Rechtshegelianer geprägt [blieb], so wie er sie in seinen letzten Studienjahren kennengelernt hat“434 . Eine zentrale These Thulstrups lautet daher: „Seine Beurteilung des Hegelianismus war ablehnend, zuerst in mancher Hinsicht. . . zuletzt in jeder Hinsicht, obwohl er Hegel gegenüber Achtung bewahrte, während seine Verachtung für dessen Anhänger von Jahr zu Jahr stieg.“435 Auch Stewart wendet sich kritisch gegen Interpretationen, welche das Verhältnis von Kierkegaard zu Hegel als durchgehend negativ beschreiben; diese hätten in den letzten zwanzig Jahren die Kierkegaardforschung zu Unrecht dominiert: Folgt man der Rezeptionsgeschichte. . . dann ist die allgemein anerkannte Annahme, daß Kierkegaard einer der Hauptkritiker Hegels gewesen ist. . . Wenige haben jedoch Kierkegaards Verhältnis zu Hegel in einer Art untersucht, welche die kulturellen und historischen Umstände wirklich berücksichtigt, unter denen Kierkegaard geschrieben hat.436
433 Die in der Philosophiegeschichte wie Psychologie zur Genüge betonte Ambivalenz einer heftigen Abgrenzung und ‚Aufhebung‘ zeigt sich auch hier – wie die Junghegelianer bleibt Kierkegaard in seiner Hegel-Kritik auf diesen bezogen. Darauf, so Thulstrup, weise schon seine philosophische Terminologie; Niels Thulstrup, Kierkegaards Verhältnis zu Hegel und zum spekulativen Idealismus 1835–1846. Historisch-analytische Untersuchung, Stuttgart et al.: Kohlhammer 1972, S. 9. Die interpretatorischen Möglichkeiten, die ein solcher ‚Einfluß‘ erzeugt, haben innerhalb der Forschung zu einer starken Polarisierung geführt und heftige Auseinandersetzungen provoziert. Hermann Schweppenhäusers Verdikt, daß „die Kierkegaardsche Kritik am flagrant mißdeuteten Hegelschen Idealismus“ sich als „Selbstbestrafung für den eigenen“ erweise, welcher „allzu schwerelos verlockend in der Phantasie spukt“ (Hermann Schweppenhäuser, Kierkegaards Angriff auf die Spekulation. Eine Verteidigung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1967, S. 23), hat z.B. Thulstrup dazu veranlaßt, Schweppenhäusers Arbeit als ein „typisches Epigonenwerk“ in Abhängigkeit von Adorno und Marcuse zu bezeichnen, als „ein beklagenswertes Zeugnis dessen, wie weit man sich von echter Wissenschaftlichkeit und sauberer Philosophie entfernen“ könne (Thulstrup, Kierkegaards Verhältnis zu Hegel, a. a. O., S. 175). Für eine distanziertere Untersuchung von Kierkegaards Hegelrezeption siehe Heiko Schulz, „Kierkegaard über Hegel. Umrisse einer kritisch-polemischen Aneignung“, Kierkegaardiana 21, 2000, S. 152–178. Schulz betont, daß Kierkegaards Hegelrezeption „wesentlich produktiver Art“ gewesen sei: „Sie hat typologisch gesehen also nicht darin ihr Spezifikum, daß diese Auseinandersetzung umschlägt in eine umfassende Produktion über den rezipierten Autor. Ihr charakteristisches Merkmal liegt vielmehr darin, daß diesem eine zentrale – und sei es polemisch motivierte – Funktion bei der Formierung und Profilierung des eigenen Denkweges zukommt“; ebd., S. 153. Einen Überblick über die Forschung zu Kierkegaards Hegelinterpretation bietet Jon Stewart, Kierkegaard’s Relations to Hegel Reconsidered, Cambridge et al.: Cambridge University Press 2003, S. 3–29. 434 Thulstrup, Kierkegaards Verhältnis zu Hegel, a. a. O., S. 11f. 435 Ebd., S. 12. 436 Stewart, Kierkegaard’s Relations to Hegel Reconsidered, a. a. O., S. 3 (meine Übers.).
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Die Dichotomie Hegelianer/Anti-Hegelianer destruierend, arbeitet Stewart die Nuancen der Bedeutung Hegels für Kierkegaards jeweilige Schriften heraus. Seine Analyse des sozialen, kulturellen und historischen Kontextes zeigt zudem, daß selbst in der Phase der heftigsten Hegel-Polemik, in der Furcht und Zittern und die Nachschrift entstanden sind, nicht Hegel, sondern der dänische Hegelianismus Gegenstand der Auseinandersetzung und rigorosen Ablehnung war.437 Als Adressat von Kierkegaards Hegel-Kritik, so bringt es Kodalle auf den Punkt, darf nicht Hegel selbst gelten, sondern der „Second-Hand-Hegelianismus“438 in Dänemark. Zudem ist nachgewiesen, daß Kierkegaard, wenn er die Philosophie Hegels kritisiert, seine Kritik auf die anderer Autoren aufbaut, vor allem Friedrich Adolf Trendelenburgs. Dessen immanente und kleinteilige Kritik bringt Kierkegaard in einem größeren Feldzug gegen die Vernachlässigung der konkreten individuellen Existenz in Stellung.439 Kierkegaards explizite Thematisierung der Philosophie Hegels ist daher auch weniger von sachlicher Akribie geprägt als von süffisanter Polemik und plakativer Narrativität. So beschreibt er das von der Wissenschaft der Logik explanierte Konzept der Bewegung im Stil eines Detektivromans als ein zwielichtiges Geschehen – deren Täter: „drei vermummte, verdächtige Gestalten“440 (Negation, Übergang und Vermittlung). Eine intensive Kritik der Logik, dies suggeriert Kierkegaard weiterhin, wäre eine Auseinandersetzung mit einem bald überholten Aberglauben und daher Zeitverschwendung: Wofern ein Mensch sich die Unbequemlichkeit machen wollte[,] in der Hegelischen Logik. . . alle abenteuerlichen Wichtel und Kobolde anzuhalten und zu sammeln, die als geschäftige Burschen der logischen Bewegung voranhelfen, so wird vielleicht eine spätere Zeit verblüfft sein zu erfahren, daß das, was alsdann als abgedankte Witze dastehen wird, einmal eine große Rolle in der Logik gespielt hat.441
437 Stewart, Kierkegaard’s Relations to Hegel Reconsidered, a. a. O., S. 33f. 438 Kodalle, „Adornos Kierkegaard“, a. a. O., S. 78. Kodalle verwendet die These vom „SecondHand-Hegelianismus“, um Adornos Kritik an der Kierkegaardschen Hegel-Kritik als unangemessen zu kennzeichnen; ebd., S. 77f. 439 Zur Funktion Trendelenburgs für Kierkegaards Hegel-Kritik siehe Darío González, „Trendelenburg: An Alley Against Speculation“, in Kierkegaard and His German Contemporaries, Tome I, Philosophy, hg. von Jon Stewart, Aldershot: Ashgate 2007 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 6), S. 309–334. 440 SKS 4, 384 / BA, 83. 441 SKS 4, 320 / BA 9 (Anm.). Hügli weist darauf hin, daß bereits Trendelenburg in den Logischen Untersuchungen die These aufgestellt hat, daß Hegels Idee des Werdens und der dialektischen Entwicklung des Denkens auf einer Erschleichung beruhe, und deswegen „begnügen sich Kierkegaards Pseudonyme mit einigen polemischen Seitenhieben“; Hügli, Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens bei Søren Kierkegaard, a. a. O., S. 92. Siehe auch
3.2 Wider das „weltgeschichtliche Gebrüll“ |
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Derart polemische Verrisse lassen leicht übersehen, daß Kierkegaard bei allem, was er an der hegelianischen Philosophie auszusetzen hat, das ursprüngliche Unternehmen Hegels selbst ob seiner Originalität wertschätzt. Im Gegensatz zu den Hegel-Epigonen, so Kierkegaard, nehme er Hegel ernst: „Mag es Hegels Bewunderern vorbehalten bleiben, ihn zu einem Faselhans zu machen; ein Gegner wird ihn immer in Ehren zu halten wissen, weil er etwas Großes gewollt hat, wenn er es auch nicht erreicht hat.“442 Die folgenden Überlegungen bauen auf den Arbeiten zu Kierkegaards Hegelrezeption auf. Dies betrifft auch die Frage nach der Angemessenheit seiner Kritik an Hegel: Statt der sachlichen Adäquatheit der Polemik steht deren Funktion für Kierkegaards Beurteilung der Philosophie im 19. Jahrhundert und für seinen Entwurf einer Philosophie nach der Philosophie im Vordergrund. Die folgenden Erörterungen berücksichtigen den von Stewart eingeklagten kulturellen und historischen Kontext, und sie stellen Kierkegaards Kritik des Hegelianimus in einen Zusammenhang mit den Bemühungen der Junghegelianer um eine posthegelianische Philosophie.
3.2 Wider das „weltgeschichtliche Gebrüll“ In Kierkegaards Umgang mit dem Konzept der Weltgeschichte zeigt sich, was charakteristisch für seine Haltung gegenüber Hegel ist: Kierkegaard kritisiert weniger Hegels Unternehmen, den notwendigen Gang der Weltgeschichte darstellen zu wollen, als Hegels vorschnelle Vereinnahmung durch die Universitätsphilosophie und eine medial strukturierte Öffentlichkeit.443 Mit aller Schärfe wendet sich Kierkegaard gegen den Hegelianismus als Modeerscheinung. Dabei kritisiert er nicht nur die akademische Strömung, sondern auch und vor allem einen simplifizierten Hegelianismus als Kulturphänomen: „In unserer Zeit ist ja keine Re-
Trendelenburgs Kritik an der Logik Hegels, die in der bündigen Zurückweisung von Hegels Prinzip der Bewegung als „vorausgesetzte[s] Vehikel des dialektisch erzeugenden Gedankens“ kulminiert; Friedrich Adolf Trendelenburg, Logische Untersuchungen, Bd. 1–2, 2. Aufl., Leipzig: Hirzel 1862 [1840], Bd. 1, S. 39. In der Nachschrift bezeichnet es Climacus explizit als Trendelenburgs Verdienst, „daß er die Bewegung als die unerklärliche Voraussetzung“ erfaßt habe; SKS 7, 107 / AUN1, 102. 442 SKS 7, 106 / AUN1, 103 (Anm.). 443 Daß Kierkegaards Verwerfung des euphorischen Geschichtsdenkens im 19. Jahrhundert nicht bedeutet, daß er selbst „keinen Sinn für das Geschichtliche“ gehabt habe, wie lange Zeit behauptet wurde, zeigt Hermann Schmidt durch eine Engführung der Gedanken Kierkegaards und Walter Benjamins; Hermann Schmidt, „Der Historiker als rückwärtsgewandter Prophet im Denken Kierkegaards und Walter Benjamins“, Kierkegaard Studies Yearbook, 2004, S. 275–294.
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de davon, daß sich ein einzelner Gelehrter oder Denker mit der Weltgeschichte beschäftigt; nein, die ganze Zeit ruft und schreit ja nach der Weltgeschichte.“444 Die Popularisierung der Philosophie Hegels, gegen die Kierkegaard Einspruch erhebt, begegnet in den Rubriken der Tageszeitungen ebenso wie in den Wirtshäusern und bürgerlichen Salons. Es wirkt chic, Hegelianische Floskeln im Munde zu führen, es ist en vogue, eine weltgeschichtliche Perspektive selbst auf alltägliche und private Ereignisse anzuwenden, mehr noch: dies scheint geradezu notwendig und weltgeschichtlich angebracht – „es ist die Forderung unserer Zeit, daß man welthistorisch brülle“445 . Die existentielle Amnesie, hervorgerufen durch das urbane Phänomen der Menschenmasse und eine falsch verstandene Demokratie, werde, so Kierkegaard, durch die leichtfertige Anwendung des Hegelschen Konzeptes der Weltgeschichte legitimiert und verstärkt. Vor dem Hintergrund einer im 19. Jahrhundert kulminierenden Weltgeschichte gilt es als eitel, sich mit seinem „eigenen kleinen Selbst“ auseinanderzusetzen und sich derart irgendeine Bedeutung in dem „von der Weltgeschichte in Anspruch genommenen. . . in diesem spekulativ-bedeutungsvollen 19. Jahrhundert“ zusprechen zu wollen.446 Dies entlaste Kierkegaards Zeitgenossen von der Eigenverantwortung für ihr Leben – fälschlicherweise, sei doch die „Entscheidung vor Gott“, in den Tivoli zu gehen, genauso gewichtig wie die „Entscheidung vor Gott“, als Kronprinz die Regierung anzutreten.447 An dieser Stelle greift Kierkegaard ein dominantes und öffentlich kontrovers diskutiertes technisches Phänomen des 19. Jahrhunderts auf: die Eisenbahn und ihr Tempo.448 In einer Zeit, „in der es per Eisenbahn geht“, so Kierkegaard ironisch gleichermaßen gegenüber technischem Opportunismus wie blindem Glauben an den Weltgeist, sei der ganze Trick, „in den ersten besten Wagen zu springen und das Weitere der Weltgeschichte zu überlassen“449 . Eigenes Fehlverhalten erscheine dem Individuum bedeutungslos, es nehme daher überhaupt nicht mehr Stellung zu seinen eigenen Handlungen, und die philosophische Spekulation pflichte ihm auch noch bei.450 Der Anpassung an das, was weltgeschichtlich 444 SKS 7, 125 / AUN1, 123. 445 SKS 7, 169 / AUN1, 174. 446 SKS 7, 25 / AUN1, 14. 447 SKS 7, 450 / AUN2, 206. 448 Zur Kulturgeschichte der Eisenbahn siehe Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main: Fischer 1989. 449 SKS 7, 69 / AUN1, 60. 450 Vgl. SKS 7, 134 / AUN1, 133: „Welthistorisch wird der Mensch dagegen leicht dazu verleitet, anzunehmen, daß es, wenn er ein unbedeutender Mensch ist, keine unendliche Bedeutung habe,
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notwendig und vom Zeitgeist des 19. Jahrhunderts gefordert scheint, und der vermeintlich unbekümmerten Abgabe der Verantwortung liege jedoch ein tiefes Unbehagen zugrunde: Mitten in allem Jubel über unsere Zeit und das neunzehnte Jahrhundert erklingt im Verborgenen der Ton einer verborgenen Verachtung dessen: Mensch zu sein; mitten in der Wichtigtuerei der Generation findet sich eine Verzweiflung darüber: Mensch zu sein. Alles, alles will mit, welthistorisch will man sich in dem Totalen betören, keiner will ein einzelner existierender Mensch sein. Daher vielleicht auch die vielen Versuche, an Hegel festzuhalten, selbst von Leuten, die das Mißliche seiner Philosophie gesehen haben. Man fürchtet, wenn man ein einzelner existierender Mensch wird, spurlos zu verschwinden, so daß nicht einmal Tageblätter, geschweige denn kritische Journale, geschweige denn welthistorische Spekulanten einen erblicken können.451
Die modernen Verwirrungen, die Kierkegaard in der Literarischen Anzeige kulturkritisch beschreibt, haben ihr Pendant in der „spekulativen Verwirrung“, nämlich in der Verwechslung des Ethischen mit dem Weltgeschichtlichen.452 Als ‚ethisch‘ definiert Kierkegaard das Bewußtsein radikaler Verantwortlichkeit für das je eigene, individuelle Leben, und genau das sei in Vergessenheit geraten in der Philosophie des frühen 19. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu den Junghegelianern wendet Kierkegaard sich damit auch implizit gegen eine allgemeine Beschreibung des Menschen und die Festsetzung eines telos für die Entwicklung der Menschheit. Folgt man Kierkegaards Argumentation, könnte man den deutschen Junghegelianern genauso wie den dänischen Hegel-Epigonen existentielle Amnesie vorwerfen. Alle haben „in einer Art welthistorischer Distraktion“ vergessen, „was es heißt, Mensch zu sein, und zwar nicht, was es heißt, Mensch überhaupt zu sein – auf etwas Derartiges einzugehen, dazu würde man wohl sogar die Spekulation bekommen –, sondern was es heißt, daß du und ich und er, daß wir jeder für sich Menschen sind“453 . Was es heißt, daß jeder auf seine Weise Mensch sei, haben die Überlegungen zu der Krankheit zum Tode bereits ausgeführt – Kierkegaard versteht Geist als spezifisches Merkmal des Menschen. ‚Geist‘ ist jedoch erst einmal nur Potential jedes Individuums, dessen lebenslange Aufgabe es ist, aus den entgegengesetzten Erfahrungen von Freiheit und Notwendigkeit, Zeitlichkeit und Unendlichkeit eine individuelle Einheit zu bilden. Kierkegaard wendet sich damit auch gegen Vor-
ob er fehle, und daß, wenn er ein sehr großer Mensch ist, die Größe den Fehltritt zu etwas Gutem machen könne.“ 451 SKS 7, 324 / AUN2, 59f. 452 Kierkegaard rekurriert immer wieder auf eine vielfältige „Verwirrung“ seiner Zeit, siehe z.B. in SKS 7, 222 / AUN1, 141. 453 SKS 7, 116 / AUN1, 113.
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stellungen eines kulturellen Vererbens, denn für die Selbstwerdung sei Tradition irrelevant: Und doch gibt es diese Verwirrung, deren sich die moderne Spekulation[,] wenn auch nicht direkt[,] schuldig macht, so doch sie oft veranlaßt, daß nämlich ohne weiteres (gleichwie das Tierexemplar sich zur Art verhält) das Individuum sich zur Entwicklung des MenschenGeistes verhalten läßt, als wäre Geistes-Entwicklung etwas, worüber eine Generation zugunsten der anderen testamentarisch disponieren könnte, als wären nicht die Individuen als Geist bestimmt, sondern die Generation.454
Jegliche Geistesentwicklung sei Aktivität eines Selbst, so Kierkegaards kompromißlose Definition, und „das geistig entwickelte Individuum nimmt im Tode seine Entwicklung mit sich“455 . Die überstürzte Identifikation mit einem vermeintlichen Weltgeist, wie sie Kierkegaard seinen Zeitgenossen vorwirft, weicht daher nicht nur der existentiellen Verantwortung aus. Sie führt auch zu Entfremdung,456 da die wesentlich menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten zugunsten der Vernunft beschnitten werden: „Im Begreifen der Weltgeschichte steigt man vom Niederen zum Höheren auf; die Stadien der Phantasie und des Gefühls sind zurückgelegt, und das des Denkens als des höchsten ist das letzte“, aber „in bezug auf die Existenz steht das Denken gar nicht höher als die Phantasie und das Gefühl, sondern ist diesen nebengeordnet“457 . Die Vergötterung einer vermeintlich vernünftigen Weltgeschichte sei das spezifische Kennzeichen eines ‚objektiven Denkers‘ – der versage jedoch in Hinblick auf das, worauf es wirklich ankomme: selbst Geist zu werden.
3.3 Wider ein vorschnelles Ende Wie bei Marx, Engels, Feuerbach, Bauer, Hess und Cieszkowski stellt auch bei Kierkegaard Hegels Anspruch, die Philosophie vollendet zu haben, das entscheidende Moment seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie seiner Zeit dar. Während die Junghegelianer jedoch Hegel bis zu einem gewissen Grad zustimmen und auch wertschätzend anerkennen, daß Hegel die Philosophie, wie sie bis dahin betrieben wurde, abgeschlossen habe – repräsentativ hierfür ist das Feuerbachsche Diktum, „die Vollendung der neueren Philosophie ist die Hegelsche
454 SKS 7, 316 / AUN2, 49f. 455 SKS 7, 316 / AUN2, 50. 456 Hierin stimmt Kierkegaard mit Feuerbach überein; vgl. Feuerbach, „Zur Beurteilung“, a. a. O., S. 241. 457 SKS 7, 314 / AUN2, 48; SKS 7, 317 / AUN2, 51.
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Philosophie“458 –, positioniert Kierkegaard sich und sein Pseudonym Johannes Climacus grundsätzlich ablehnend gegenüber Hegels Vollendungsgestus. Der zelebrierte Abschluß, so Kierkegaard, werde durch die falsche Vorstellung suggeriert, alles könne begrifflich erfaßt, systematisch geordnet, vermittelt und aufgehoben werden. Kierkegaards Kritik der Vollendungsrhetorik basiert daher hauptsächlich auf zweierlei: auf einer Skepsis gegenüber dem idealistischen Systemdenken (3.3.1) und auf seiner Interpretation der Methode des ‚Darüberhinausgehens‘ nicht nur als akademischer Show,459 sondern auch als Blasphemie (3.3.2).
3.3.1 Systematische Voreiligkeit Abgesehen davon, daß kein Mensch das Ganze des Lebens und der Geschichte überblicken könne und jedes allumfassende System daher per se falsch sei,460 wendet Kierkegaard gegen Hegels Vollendungsgestus vor allem eines ein: Hegel habe ein entscheidendes Detail vergessen. Es sei ungeheuerlich, daß man durch ihn „ein System bekommen habe, das fertige absolute System – ohne eine Ethik zu haben“461 . Wie in Furcht und Zittern ausgeführt, erkennt Kierkegaard die Hegelsche Sittlichkeit, die das Individuum auf das Allgemeine bezieht, nicht als hinreichend für eine Ethik an.462 Ihm geht es vielmehr um die Fragen der individuellen Lebensführung und der radikalen Verantwortung, die er nicht in der Philosophie des Rechts beantwortet findet. Eine solche Ethik verlange von dem Denker, sich selbst als existierend zu verstehen – und das sei eine lebenslange Aufgabe: „In der Existenz ist das Individuum eine Konkretion, die Zeit konkret, und selbst während das Individuum überlegt, ist es für den Gebrauch der Zeit ethisch verantwortlich.
458 Vgl. Feuerbach, „Grundsätze“, a. a. O., S. 295 (§ 19). 459 Vgl. SKS 7, 337 / AUN2, 74. 460 Vgl. SKS 7, 114 / AUN1, 111; siehe auch SKS 7, 146 / AUN1, 147, wo Climacus auf die Metapher des Theatrum mundi zurückgreift: Gott sei der einzige Zuschauer der Weltgeschichte. 461 SKS 7, 116 / AUN1, 112. Zu diesem Kritikpunkt Kierkegaards vgl. Hartmut Rosenau, „System und Christologie. Schellings und Kierkegaards Kritik des systematischen Denkens“, in Kierkegaard und Schelling. Freiheit, Angst und Wirklichkeit, hg. von Jochem Hennigfeld und Jon Stewart, Berlin und New York: De Gruyter 2003, S. 85–208, S. 188f. 462 Die Ablehnung der Hegelschen Sittlichkeit als Existenzmodell zeigt sich auch in der ambivalenten Figur des Gerichtsrates William, der diese repräsentiert. William trägt karikative Züge, und sein rigoroses Votum für ein Leben gemäß dem Sittlich-Allgemeinen wird durch die „mehrstimmige Interaktion“ mit anderen Figuren in Entweder – Oder „mikrodialogisch unterwandert“; Schmidt, Vielstimmige Rede vom Unsagbaren, a. a. O., S. 159, S. 158.
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Existenz ist kein abstraktes Werk der Hast, sondern ein Streben und ein andauerndes Inzwischen.“463 Daß Hegel überhaupt eine systematische Vollendung der Geistesgeschichte durch seine Philosophie suggerieren konnte, liege an zwei Taschenspielertricks: Zum einen habe er es geschickt vermocht, „die gesamte neuere Philosophie so anzuordnen, daß es aussieht, als ob er [Hegel] der Abschluß des Ganzen wäre und alles Vorhergehende auf ihn hinzielte“464 , wie das Pseudonym Nikolaus Notabene vermerkt. Zum anderen, so Climacus’ Ergänzung, habe „der geehrte Herr Philosoph. . . die Szene von der Existenz hinüber auf das Papier“465 verlegt. Selbst wenn daher Kierkegaards Kritik an der Logik Hegels sachlich nicht mit dieser Schritt zu halten vermag, wie viele bemängeln,466 so ist sein Einwand gegen den Hegelschen Anspruch, ‚das Ganze‘ – mithin auch die individuelle Existenz einschließlich deren Aufgabe, Endliches und Unendliches in einem Selbst zu synthetisieren – begriffen und abschließend dargestellt zu haben, unanfechtbar: Weit treffender als jeder immanente, rein logische Einwand ist Kierkegaards ontologisches Argument: Hegels Vermittlung von Endlichkeit und Unendlichkeit vollzieht sich im Medium der Möglichkeit, der Abstraktion. Der Widerspruch zwischen dem Begriff des Endlichen und dem Begriff des Unendlichen ist etwas völlig anderes als der Widerspruch zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen.467
Die für die Philosophie des 20. Jahrhunderts folgenreiche Proklamation, daß sich die Wirklichkeit des einzelnen Menschen „schlechterdings nicht spekulativ denken“ lasse, kurzum die von Kierkegaard monierte „Ohnmacht des Begriffs im Verhältnis zur Wirklichkeit“468 , ist demnach wesentlich bezogen auf Kierkegaards strukturelle Kritik an Hegels Vollendungsanspruch.
463 SKS 7, 478 / AUN2, 236. 464 SKS 4, 517f. / V, 228f. 465 SKS 7, 387 / AUN1, 133 (Anm.). 466 So beruht laut Bernard Cullen Kierkegaards Kritik entweder auf dessen Unverständnis oder auf einer absichtlichen Fehllektüre; Bernard Cullen, „Hegel on the Human and the Divine, in the Light of the Criticisms of Kierkegaard“, in Hegel and His Critics. Philosophy in the Aftermath of Hegel, hg. von William Desmond, Albany: Suny Press 1989, S. 93–103, S. 93. Hügli zeigt, daß der für die Kierkegaardsche Definition des Selbst konstitutive Dualismus von Endlichkeit und Unendlichkeit von Hegels Vorwurf der ‚schlechten Unendlichkeit‘ getroffen wird; Hügli, Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens bei Søren Kierkegaard, a. a. O., S. 118. 467 Hügli, Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens bei Søren Kierkegaard, a.a.O., S. 121. 468 SKS 11, 230 / KT, 120 (Kursivierung getilgt); vgl. Axel Hutter, „Metaphysikkritik“, in Lexikon Existentialismus und Existenzphilosophie, hg. von Urs Thurnherr und Anton Hügli, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 175–178, S. 176.
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3.3.2 Weitergegangen? Spekulation als Blasphemie Die Voreiligkeit der Spekulation trifft, so Kierkegaard, auch das Verständnis dessen, was es heißt, Christ zu sein: „Mit der reinen Menschheit ist man bald fertig, und mit der Weltgeschichte auch. . . Mit dem Glauben ist man, abstrakt gesehen, fertig“469 – aber die Frage, was es für das Individuum bedeute, wirklich zu glauben, sei damit noch nicht einmal angesprochen. Kierkegaard definiert Christsein als Anerkennung der radikalen Selbstverantwortung bei gleichzeitiger Akzeptanz der paradoxalen Zumutungen des Christentums an den menschlichen Verstand.470 Glaube ist für Kierkegaard kein unmittelbares religiöses Gefühl, sondern vermittelte Unmittelbarkeit, d.h. eine Unmittelbarkeit nach der Reflexion.471 Reflexion sei wesentlich für den Glauben: Christliche Vorstellungen wie die Menschwerdung Gottes, die Erbsünde und die Erlösung durch Jesus Christus könnten nicht spekulativ aufgehoben und durch historisch-systematische Analyse ihrer Widersprüchlichkeit entledigt werden. Stattdessen entschließe sich jeder Gläubige in Konfrontation mit ihnen, den Sprung in den Glauben zu wagen: Das Dialektische am Problem fordert Gedankenleidenschaft – nicht um es verstehen zu wollen, sondern um zu verstehen, was es heißt, in der Weise mit dem Verstande zu brechen, und mit dem Denken, und mit der Immanenz, um denn den letzten Fußhalt der Immanenz, die Ewigkeit dahinten, zu verlieren, und, angebracht im Äußersten der Existenz, kraft des Absurden zu existieren.472
469 SKS 7, 231 / AUN2, 56. 470 Nur wenn beides zusammenkommt, spricht Kierkegaard von einem Christsein im emphatischen Sinne (Religiosität B). Dagegen ist Religiosität A gekennzeichnet durch eine „Dialektik der Verinnerlichung“ (SKS 7, 505 / AUN2, 267) und durch die „Totalität des Schuldbewußtseins“ (SKS 7, 509 /AUN2, 271, Anm.). Sie unterscheidet sich daher auch nur graduell von der ethischen Interpretation des Lebens oder dem ethischen Stadium und ebensowenig von der Innerlichkeit einer heidnischen Religiosität, für die Kierkegaard wiederholt Sokrates anführt: „Denn für dieses ‚Wenn‘ [die Möglichkeit der Unsterblichkeit] setzt er sein ganzes Leben dran, er wagt zu sterben, und er hat sein ganzes Leben mit der Leidenschaft der Unendlichkeit so eingerichtet, daß es als annehmbar empfunden werden mußte – wenn es eine Unsterblichkeit gibt“ (SKS 7, 185 / AUN1, 192). Religiosität B dagegen ist nur nach Christi Geburt möglich; in ihr ist „das Erbauliche ein Etwas außerhalb des Individuums“ und dieses Paradox-Erbauliche entspricht der „Bestimmung von Gott in der Zeit als einzelnem Menschen“ (SKS 7, 510 / AUN2, 272, Anm.). Schuldbewußtsein wird zu Sündenbewußtsein. Religiosität B bestimmt die ewige Seligkeit „nicht als Aufgabe für das Denken, sondern gerade paradox als abstoßend [daß die Sünden durch ein Selbstopfer Gottes vergeben werden] im Hinblick auf neues Pathos“ (SKS 7, 506 / AUN2, 267). 471 Vgl. Gerhard Schreiber, „Glaube und ‚Unmittelbarkeit‘ bei Kierkegaard“, Kierkegaard Studies Yearbook, 2010, S. 391–426. Die Nähe dieser Konzeption zu Hegel betont Westphal, „Kierkegaard and the Role of Reflection in Second Immediacy“, a. a. O., S. 163. 472 SKS 7, 517 / AUN2, 281.
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Selbst wenn man Hegels Konzeption einer Geistesentwicklung akzeptierte, so ließe sich Kierkegaards Gedankengang zusammenfassen, dann wäre das Christentum dennoch nicht als eine vorläufige Stufe in dieser abzutun: Das Christentum komme nach, nicht vor dem Selbstbewußtsein der Vernunft. Die hegelianische Philosophie habe das Prinzip des Widerspruchs dadurch getilgt, daß sie Vermittlung und Aufhebung zur generellen Methode gemacht habe.473 Die Widersprüche des Christentums lassen sich laut Kierkegaard jedoch nicht aufheben. Paradoxa wie die Inkarnation seien gleichzeitig wahr und widersprüchlich; sie verlören bei Vermittlungsversuchen daher ihren christlichen Gehalt. Es gehöre zum Christwerden wesentlich dazu, Anstoß zu nehmen. Christsein sei schwer, fordere Demut – wozu auch die Kapitulation des menschlichen Verstandes gehöre – und totales Vertrauen in die göttliche Erlösungsbereitschaft.474 Deswegen lobt Kierkegaard, trotz aller Distanzierung von dessen Anthropomorphismus,475 Feuerbachs Angriff auf die christlichen Dogmen: Im Gegensatz zu den spekulativen Zeitgenossen nehme er Anstoß an ihnen und beschreibe sie als Zumutung. Auch wenn Feuerbach in Das Wesen des Christentums philosophisch andere Konsequenzen ziehe, habe er dem Christentum einen Dienst getan. Eine fragmentarische Notiz von 1844 lautet: „Feuerbachs indirekter Dienst dem Christentum gegenüber als verärgerte Individualität. Die Illusion, die es in unserer Zeit braucht, um sich ärgern zu lassen, denn das Christentum ist so mild wie möglich gemacht worden.“476
473 SKS 7, 377 / AUN2, 5. 474 Kierkegaard ist entgangen, daß er mit dieser Forderung Hegels Philosophie nicht unbedingt fern steht. Das Paradox, zentral für Kierkegaards Verständnis des Christentums, ist Dirk Westerkamp zufolge „das Spiegelbild der paradoxen Leidenschaft des Verstandes, zuletzt noch den eigenen Untergang zu wollen – ein Gedanke, hinter dem Hegels Grundprämisse aus der Wissenschaft der Logik stehen dürfte, demzufolge nur im Untergang Vollendung erreicht wird.“ Dirk Westerkamp, Via negativa. Sprache und Methode der negativen Theologie, München: Fink 2006, S. 186. 475 Laut Scheier betreibt Kierkegaard „die ‚existentielle‘ Zersetzung der feuerbachschen Anthropologie“; Scheier, Kierkegaards Ärgernis, a. a. O., S. 19. Kierkegaard hat sich 1842 in einer öffentlichen Stellungnahme in der Zeitschrift Fædrelandet (12. Juni 1842, Nr. 904) ausdrücklich gegen seine Zuordnung zu demselben philosophischen Lager wie Feuerbach ausgesprochen. Vgl. Jonathan Malesic, „Illusion and Offense in Philosophical Fragments: Kierkegaard’s Inversion of Feuerbach’s Critic of Christianity“, International Journal for Philosophy of Religion 62.1, 2007, S. 43–55, S. 46. 476 Pap. V B 9 (Ergänzung zu Pap. V B 8; PSms.2; meine Übers.). Auch wenn in Kierkegaards Schriften die expliziten Verweise auf Feuerbach spärlich gesät sind, wie Czakó zeigt, hat er sich doch intensiv mit dessen Werk auseinandergesetzt; vgl. István Czakó, „Kierkegaards FeuerbachBild im Lichte seiner Schriften“, Kierkegaard Studies Yearbook, 2001, S. 396–413. Der Appendix in den Philosophischen Brocken mit dem Titel „Das Ärgernis am Paradox (Eine Gehörstäuschung)“ stellt, so die These Malesics, eine dezidierte Antwort auf Feuerbachs Vom Wesen des Christen-
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Laut Kierkegaard könne die Spekulation nur deswegen das Christentum in sich aufheben, weil sie es immer mit ihrem eigenen Konstrukt zu tun habe und nicht mit dem, was das Christentum wirklich sei: ein „Existenzwiderspruch“477 . Die Unbekümmertheit der spekulativen Philosophie im Fahrwasser Hegels gegenüber der Frage, „inwieweit etwas in der begrifflichen Unterscheidung steckt, die zwischen einem Etwas und der Auffassung dieses Etwas unterscheidet“, habe Konsequenzen für die Spekulation selbst: Wenn das Christentum selbst in der Auffassung der Spekulation (von ihm) besteht, dann kommt da ja keine Mediation zustande, denn dann gibt es ja keinen Gegensatz. . . Aber dann tut man vielleicht besser, die Spekulation zu fragen, was denn Spekulation sei. Doch siehe da, dann erfährt man, die Spekulation ist die Versöhnung, ist die Mediation – ist das Christentum. Sind aber Spekulation und Christentum identisch, was soll es dann heißen, daß man sie mediiert? Und ferner, dann ist das Christentum wesentlich Heidentum; denn die Spekulation wird doch wohl nicht leugnen, daß das Heidentum Spekulation gehabt hat.478
Man mag Skepsis gegenüber der Schlüssigkeit dieser Argumentationskette haben, sie überzeugt jedoch durch die Rigorosität in der Zurückweisung des Selbstverständnisses der Spekulation, einen Fortschritt gegenüber dem Christentum darzustellen. Auch hier ist Kierkegaards Einspruch motiviert durch die praktischen Konsequenzen der Spekulation; letztere betreffen ebenso individuelle Lebensgestaltungen wie die Kultur insgesamt. Durch die Kategorie der Vermittlung werde die existentielle Aufgabe des einzelnen nihiliert, Ewiges und Zeitlich-Kontigentes in einer einzigartigen Synthese zu vereinen. So steige die Orientierung an kleinkrämerischen, unwesentlichen Zielen zum einzigen Lebensinhalt auf: Die Vermittlung sei „ein Aufstand der relativen Zwecke gegen die Majestät des Absoluten, das auf die gleiche Ebene mit all dem anderen gebracht werden soll, und gegen die Würde des Menschen, der zu einem Dienstmann nur der relativen Zwecke gemacht werden soll“479 .
tums dar, und Kierkegaard habe Feuerbach gerade aufgrund seiner Kritik am Christentum als Philosoph wertgeschätzt: „although Kierkegaard ultimately thinks Feuerbach insists on the understanding where he should allow the paradox to grant him faith, Kierkegaard nonetheless held Feuerbach in great esteem as a philosopher who managed to avoid the typical philosophical sin of denying the offensiveness of the paradox“; Malesic, „Illusion and Offense in Philosophical Fragments“, a. a. O., S. 53. Zur Bedeutung des Ärgernisses siehe Hartmut Rosenau, „Søren Kierkegaard – das Ärgernis der Christenheit“, Theologische Revue 101.6, 2005, S. 459–472. 477 SKS 7, 348 / AUN2, 87. 478 SKS 7, 341 / AUN2, 79. 479 SKS 7, 381 / AUN2, 126. Zur Distanzierung von den relativen Zielen als mystische kenosis im Prozeß des Christwerdens und einer nicht-hegelianischen Reflexion siehe Kapitel 4.5.
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Die Hegelianische These einer Versöhnung, in der „Staatsmacht, Religion und die Prinzipien des Geistes zusammenfallen“,480 interpretiert Kierkegaard genauso wie die Junghegelianer als faulen und vor allem voreiligen Frieden, der sich im Falle Dänemarks in der Errichtung der dänischen Staatskirche spiegele. Zur Veranschaulichung seiner Kritik an dem simplifizierten Bürger- und Christsein greift Kierkegaard auf eine populäre Metapher der Aufklärung zurück, die Maschine: Die menschliche Existenz hat sozusagen Feuer gefangen durch eine spontane Entzündung, was die Bedeutung der 48er Katastrophe ist, und ist damit zu erklären, daß die Ewigkeit ausgelöscht wurde, weil ihr zu dienen endlich gemacht wurde. Der christliche Staat versteht es natürlich so, daß er das Christentum als einen Teil seiner hat, aber dies ist ein Mißverständnis. Laß’ mich ein Bild verwenden. Man denke sich eine Maschine, die mit zwei Rädern konstruiert ist, deren Ziel und ursprüngliches Arrangement es war, daß ein Rad in die entgegengesetzte Richtung des anderen drehte, so daß die Rotation des einen mit dem anderen in Beziehung tritt und der Rotation des anderen gegenwirkt. Würde jemand behaupten, er hätte eine Maschine dieses Typs, und darauf hinweisen, daß sie beide Räder hätte – aber, wohlgemerkt, daß sie nicht in entgegengesetzter Richtung rotierten, sondern gemeinsam in eine – dann wäre das selbstverständlich nicht wahr. Es ist nicht dieselbe Maschine.481
Die unangemessene Vereinigung von Staat und Kirche spiegelt sich laut Kierkegaard auch in einem veränderten Glaubensbegriff. Vor dem Hintergrund der vorschnellen Proklamation der Versöhnung sei das Erlösungsbedürfnis der Menschen aufgehoben worden, und das Christsein werde mißverstanden als eine Angelegenheit des Wissens, nicht der individuellen Existenz.482 Der Mensch könne sich selbst erlösen durch Bildung, so scheint es, und das Konzept der Gnade sei vollkommen in Vergessenheit geraten. Analog zu seiner kulturkritischen Bestandsaufnahme interpretiert Kierkegaard daher auch die philosophische Spekulation und deren Popularisierung anhand des Paradigmas der Todsünden, und er reaktiviert die mittelalterliche Kritik an der curiositas. So begehe der vermeintlich Gebildete, der weltgeschichtliches Wissen anhäuft und, wie in Kapitel 2.4.3 gezeigt, an einer „dyspeptischen Verständigkeit“483 leidet, die Sünde der gula. Die 480 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, a. a. O., S. 365. 481 Pap. XI-3 B 126 (1855; Oi3ms.3.2; meine Übers.); vgl. Kirmmse, „Kierkegaard and 1848“, a. a. O., S. 173. 482 Selbst wenn die Philosophie sich pro forma mit der Erlösung befasse, werde sie ihr nicht gerecht, denn diese verliere als Beschreibungskategorie ihren Gehalt – sie könne nur erfahren werden. Dies hat Kierkegaard, inspiriert von der Glaubenslehre Schleiermachers, bereits in den frühen Journalaufzeichnungen erläutert (SKS 17, 30ff., AA:13 / DSKE 1, 31ff.); vgl. Deuser, „‚Philosophie und Christentum lassen sich doch niemals vereinen‘“, a. a. O., S. 15. 483 SKS 8, 73 / LA, 80. Kierkegaard unterscheidet nicht zwischen Verstand und Vernunft im Sinne Kants oder Hegels; vgl. C. Stephen Evans, Passionate Reason: Making Sense of Kierkegaard’s
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Spekulation als akademische Disziplin sei eine der gefährlichsten Versuchungen, denn sie verleite zu infantiler superbia: Gesetzt, der Spekulant wäre nicht der verlorene Sohn. . . sondern das unartige Kind, das nicht da bleiben will, wo Existierende hingehören, in die Kinder- und Erziehungstube der Existenz, wo man nur durch die Innerlichkeit des Existierens ein Mann wird, sondern das in Gottes Rat mit hinein will, indem es beständig schreit, daß es ewig, göttlich, theozentrisch gesehen kein Paradox gebe.484
Damit, so Kierkegaards Urteil, ist die Spekulation als akademische Disziplin wie als Kulturform nicht über das Christentum hinausgelangt. Im Gegenteil, sie bleibe hinter diesem zurück, sündigend im Bewußtsein des Erlösungsangebotes. Indem die Hegelianische Spekulation sich als Vollendung und Aufhebung des Christentums darstelle, führe sie sogar zu einer Wiederholung des Heidentums auf zweiter Stufe: „Die Spekulation bekommt nämlich Heidentum als Resultat des Christentums heraus.“485 Damit legitimiere sie ein heidnisches Christentum, d.h. ein Kultur-Christentum, in dem es für das Christsein ausreichend ist, „daß man einen Taufschein in der Schublade liegen hat“486 . Anstatt das Christentum als theoretisches Konstrukt entweder durch die Methode der Vermittlung oder durch historische Erklärungen kognitiv bewältigen zu wollen,487 solle der Philosoph lieber sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegen: „Sind Sie ein Christ oder nicht? Hier wird nicht gefragt, ob Sie weitergehen, sondern ob Sie es sind.“488
Philosophical Fragments, Bloomington und Indianapolis: Indiana University Press 1992, S. 188 (Anm. 7); Jacob Howland, Kierkegaard and Socrates. A Study in Philosophy and Faith, Cambridge: Cambridge University Press 2006, S. 108. 484 SKS 7, 196 / AUN1, 206. 485 SKS 7, 335 / AUN2, 72. 486 Vgl. SKS 7, 334 / AUN2, 71. 487 Daß Kierkegaard sowohl den Rechts- als auch den Linkshegelianern – gemäß der ursprünglichen Unterscheidung Strauß’ in Bezug auf den Status der Religion – vorwirft, die subjektive Wahrheit des Christentums in objektives Wissen aufzulösen, ergo unchristlich zu sein, zeigt das erste Kapitel der Nachschrift mit dem Titel „Die historische Betrachtungsweise“. Dort heißt es: „Wer aber [die Bibel] angreift, muß sich ja ebenso davon Rechenschaft gegeben haben [wie der, der die Bibel verteidigt], ob dann, wenn der Angriff im größtmöglichen Ausmaß Erfolg hätte, sich etwas anderes als das philologische Resultat. . . ergäbe“; SKS 7, 35 / AUN1 23f. 488 SKS 7, 56 / AUN1, 48. Zum akademischen Trend des ‚Darüberhinausgehens‘ siehe den Kommentar zu „at gaa videre“ in SKS K4, S. 259f.
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3.4 Wider die Universitätsphilosophie oder: Falsche Wiederholungen Kierkegaards Philosophiekritik ist in erster Linie Kritik an einer institutionalisierten Philosophie, genauer: an einem unreflektierten und opportunistischen Hegelianismus. Seinen akademisch tätigen Zeitgenossen wirft er dreierlei vor: Sie seien ob ihrer existentiellen Amnesie geistlos und nur an Reputation und Einkommenssicherung orientiert (3.4.1). Um Aufmerksamkeit zu erzeugen, repetierten sie den Hegelschen Vollendungsgestus und bedienten sie die populären Konzepte ‚Weltgeschichte‘ und ‚System‘. Dabei gehe zum einen Originalität verloren, zum anderen erfüllten die spekulativen Denker im Fahrwasser Hegels nicht ihre Absichtsbekundungen, über letzteren hinauszugehen oder selbst ein vollständiges System aufzustellen. Diese vollmundigen Versprechen werden von Kierkegaard aufgrund ihrer außeruniversitären Wirkung kritisiert (3.4.2). Anhand der Metaphorisierung des universitären Diskurses als Papageiengeplapper illustriert Kierkegaard seinen Hauptvorwurf: Die Universitätsphilosophie zerstöre das Wesen der Philosophie (3.4.3). Dabei rekurriert Kierkegaard auf den Vater der Professorenpolemik, auf Schopenhauer (3.4.4). Kierkegaards beißende Kritik basiert auf einer Generalisierung von Vorwürfen, die den starken Eindruck erwecken, ursprünglich ad personam gerichtet gewesen zu sein, vor allem gegen Johan Ludvig Heiberg und Hans Lassen Martensen. Ebenso wie Heiberg die Vermittlung der Hegelschen Philosophie initiiert und maßgeblich beeinflußt hat, sorgte Martensen für die Prominenz des spekulativen Denkens an der Kopenhagener Universität.489 Persönliche Aversionen und Enttäuschungen bezüglich der eigenen Exklusion aus dem intellektuellen Heiberg-Zirkel und dem akademischen Netzwerk Martensens mögen eine Rolle in Kierkegaards Feldzug gegen die Universitätsphilosophie gespielt haben, sie sind jedoch nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Genausowenig geht es im folgenden darum, die Angemessenheit seiner pauschalen Diffamierung der dänischen akademia zu überprüfen.490 Vielmehr geschieht die Zusammenfassung von Kierkegaards Philosophenschelte in Hinblick auf seinen Entwurf einer Philo-
489 Vgl. Curtis L. Thompson, „Hans Lassen Martensen: A Speculative Theologian Determining the Agenda of the Day“, in Kierkegaard and His Danish Contemporaries, Tome II, Theology, hg. von Jon Stewart, Aldershot: Ashgate 2009 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 7), S. 229–266. 490 So liefert Poul Martin Møller, Philosophieprofessor und Mentor Kierkegaards, das beste Gegenbeispiel: Er hat sich fundiert mit den Werken Hegels auseinandergesetzt und Zurückhaltung bezüglich der euphorischen Popularisierung der Spekulation gezeigt.
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sophie nach der Philosophie, welche nicht nur in ihrem Inhalt, sondern auch in ihrem Stil philosophiekritisch motiviert ist.
3.4.1 Geistlose Unternehmer des Geistes Der Einwand gegen Hegels Vernachlässigung des Individuums spiegelt sich in Kierkegaards Angriff auf Vertreter der Universitätsphilosophie wie der Universitätstheologie.491 In Anspielung auf seine eigene Geistdefinition als individuelle, reflexive Syntheseleistung von Endlichem und Unendlichem bereitet Kierkegaard seinen akademischen Zeitgenossen den Vorwurf der Geistlosigkeit: Will man nun annehmen, daß das abstrakte Denken das Höchste ist, so folgt daraus, daß die Wissenschaft und die Denker stolz die Existenz verlassen und es uns anderen Menschen überlassen, das Schlimmste zu erdulden. Ja[,] es folgt daraus zugleich etwas für den abstrakten Denker selbst, daß er nämlich, da er ja doch selbst auch ein Existierender ist, in irgendeiner Weise distrait sein muß.492
Die existentielle Amnesie, die Kierkegaard allen Zeitgenossen vorwirft, nimmt im universitären Bereich ridiküle Züge an, denn wenn der „spekulierende und hochwohlgeborene Herr Professor das ganze Dasein erklärt, hat er in seiner Distraktion vergessen, wie er selbst heißt: nämlich, daß er ein Mensch ist. . . nicht ein phantastisches 3/8 von einem §“493 . Selbst die existentielle Angst, grundlegend für die Selbstwerdung, erscheine bei den Akademikern profanisiert als eine Sorge darüber, „welche Universität die beste Lebensstellung biete“494 . In unternehmerischer Geschäftigkeit seien die Akademiker eifrig dabei, sich an den „Forderungen der Zeit“495 auszurichten. Das bedeute, alle Geschehnisse und historischen Personen welthistorisch zu „schlachten“ und „in Paragraphen einzusalzen“496 . Folgt man Kierkegaard, so dominiert statt Wahrheitssuche purer Opportunismus
491 Kierkegaard differenziert nicht zwischen Theologie und Philosophie als universitärer Disziplin, beide werden als spekulatives Denken charakterisiert. Dies ist ein weiteres Indiz für die These, daß Kierkegaards Kritik sich nicht gegen die Philosophie per se richtet, sondern gegen eine ihrer Erscheinungsformen, gegen eine unkritisch hegelianisierende Spekulation – und die dominiere als Methode auch die Theologie. So hegt Kierkegaard Skepsis gegenüber der Ansicht, „daß es in unserer Zeit für den Theologen eine Notwendigkeit ist, Philosoph zu sein, um die Forderungen der Zeit zu befriedigen“ (SKS 4, 510f. / V, 220). 492 SKS 7, 274 / AUN2, 1f. 493 SKS 7, 135 / AUN1, 134. 494 SKS 7, 276 / AUN2, 3. 495 SKS 4, 511 / V, 220. 496 So sei man z.B. mit Lessing verfahren; vgl. SKS 7, 104 / AUN1, 99.
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die Universitäten. Die Professoren arbeiteten auf dem Niveau der ‚Halbgebildeten‘ und richteten sich an der Nachfrage des ‚Publikums‘ aus. Wie auf den Straßen, in literarischen Salons und Zeitungsredaktionen findet auch an den Universitäten eine Nivellierung statt, die laut Kierkegaard sogar zu einer Opposition von wesentlichem Denken und akademischer Tätigkeit führt: Der wesentliche Denker [den væsentlige Tænker] setzt immer die Sache auf die Spitze [Sagen paa Spidsen]; das ist just das Eminente – und nur wenige können ihm folgen. Dann kommt der Professor und nimmt das ‚Paradoxe‘ fort – ihn kann eine große Masse. . . verstehen; und so glaubt man, daß nun die Wahrheit wahrer geworden sei! Selbst wenn ein außerordentlicher Denker den Gedanken ‚ein System‘ faßte, er würde es niemals fertig bekommen – so rechtschaffen wäre er. Aber bloß ein kleiner Hinweis an einen Professor, was er wollte – und sofort hat der Professor das System fertig. Der Professor scheint immer ein ganz anderer Typ Denker [Karl af Tænker] zu sein – derart muß sich das zeigen, wenn die Aufgabe sich in dem Medium reflektiert, im Publikum oder darin, daß alle und jeder ein Denker ist. Jeder wesentliche Denker kann den Prof. nur komisch finden. Prof. ist das, was Leporello im Verhältnis zu D. Juan ist, nur zusätzlich, daß er sich großes Ansehen in den Augen der Halbstudierten zusammenlügt.497
Aufgrund der Anpassung an das Massenpublikum hält Kierkegaard einen Vergleich mit den antiken Sophisten für angebracht: Diese Legionen Pfarrer und christlichen Dozenten [christelige Docenter], sie sind alle Sophisten [Sophister], ernähren sich – das ist ja nach der Bestimmung des Altertums das Wesen des Sophisten – davon, daß sie denen, die nichts verstehen, etwas einbilden [at bilde Dem, som Intet forstaae, Noget ind] und dann diese Menschenmenge zur Instanz dafür machen, was Wahrheit, was Christentum sei.498
Dementsprechend werde sich auch gar nicht ernsthaft mit Hegels Philosophie auseinandergesetzt: Aus strategischen Gründen bereite man sich nicht die Mühe einer fundierten Hegel-Kritik, schließlich wolle keiner die Reputation auf sich ziehen, die Hegelsche Philosophie (welche in popularisierter Form als sehr leicht zugänglich gelte) nicht verstanden zu haben.499 Stattdessen betrieben die Akademiker einen regelrechten Wettbewerb des ‚Darüberhinausgehens‘500 . Sie seien 497 SKS 22, 162, NB12:32 (meine Übers.). 498 SKS 13, 405f. / A, 329f. 499 Sie trauten sich nicht, so Kierkegaard, „etwas anderes zu sagen, als daß es prachtvoll ist, daß sie es verstanden haben – desungeachtet, daß das doch in gewissem Sinne unmöglich ist, da niemand durch diese Philosophie dahin geführt werden kann, sich selbst zu verstehen, was doch wohl eine absolute Bedingung für alles andere Verstehen ist.“ SKS 7, 283 / AUN2, 11f. (Übers. geringfügig modifiziert). 500 Vgl. „Wie es im kleinen wohl schon diesen oder jenen gegeben hat, dem nicht gerade groß daran gelegen war, Hegel zu verstehen, wohl aber an dem Profit, den man dadurch hat, daß man
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dabei jedoch wie Leute, „die auf dem Land wohnen, die ihre Briefe immer ‚per‘ einer größeren Stadt datieren müssen, [und] so lauten die Adressen hier an N.N. per Hegel“501 . Die unter den Professoren kursierende Selbstzuschreibung, über Hegel hinausgegangen zu sein, überführt jene letztlich der geistigen Provinzialität.
3.4.2 Falsche Versprechungen Zum akademischen bon ton gehört im 19. Jahrhundert die Präsentation der Gedanken in einem fertigen System. Auch wenn es die Sache nicht gestattet, einen endgültigen Abschluß anzunehmen, so wird doch immer wieder vollmundig eine allumfassende und abschließende Systematisierung verkündet. Aus zwei Gründen findet Kierkegaard dies unredlich. Zum einen beruhe der werbewirksame Vollendungsgestus auf einer Vorspiegelung falscher Tatsachen, denn nachdem der Systematiker anfänglich „mit der Emphase der Spekulation“ erklärt hat, „erst am Schluß des Ganzen wird alles klar“,502 muß er am Ende der jeweiligen Schrift meist eingestehen, daß entgegen der Ankündigung der Schluß doch noch ausstehe. Das sei aber wissenschaftlich unlauter, noch dazu „lächerlich, alles als fertig zu behandeln und dann zum Schluß [Slutning] zu sagen: der Schluß [Slutning] fehlt. Fehlt nämlich der Schluß am Schluß, dann fehlt er auch am Anfang. Das sollte also am Anfang gesagt worden sein. Fehlt aber der Schluß am Anfang, dann heißt das: es ist kein System vorhanden“503 . So habe man es dann anstatt mit einer Enzyklopädie nur mit akademischer Akrobatik zu tun, und dem Leser werde lediglich vorgegaukelt, der Autor hätte ein System. Gleichzeitig ist es aber auch, so ließe sich Kierkegaards zweiter Einwand zusammenfassen, ethisch verwerflich, denn den Lesern werde suggeriert, Erkenntnis wäre generell ein abschließbarer Vorgang, der zudem nicht eigenständig zu leisten sei, sondern getrost an die Spekulation als Königsdisziplin der Philosophie abgegeben werden könne. Derartige Systemversprechungen seien daher nicht nur sachlich falsch, sondern entmündigend und unmoralisch.
sogar weiter geht als Hegel, so ist es auch in bezug auf etwas so Großes und Bedeutendes wie das Christentum recht verlockend, weiter zu gehen. Man muß denn also das Christentum dabei haben, nicht gerade um des Christentums willen, sondern damit es sich mit dem Weitergehen gut ausnimmt“ (SKS 7, 337 / AUN2, 74). 501 SKS 18, 109, FF:176 / DSKE 2, 112; vgl. Robert L. Perkins, „Commentary on Hegel and Kierkegaard“, in Hegel and His Critics. Philosophy in the Aftermath of Hegel, hg. von William Desmond, Albany: State University of New York Press 1989, S. 104–110, S. 104. 502 SKS 7, 22 / AUN1, 11. 503 SKS 7, 22 / AUN1, 11.
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Kierkegaard stellt den spekulativen Akademikern Gotthold Ephraim Lessing entgegen. Lessing fungiert als Vorbild für einen verantwortlichen Denker, der die unabschließbare Wahrheitssuche zur Aufgabe eines jeden Menschen, unabhängig von dessen Bildungsstand, deklariert. Im Gegensatz zur Hybris des spekulativen Systematikers verweise Lessing mit Demut auf die Stellung des Menschen. Kierkegaard zitiert aus den Theologischen Streitschriften: Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke, und sagte: Vater, gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!504
Mit ätzender Ironie imaginiert Kierkegaard die Reaktion der spekulativen Philosophen auf die Bescheidenheit Lessings: Damals, als Lessing diese Worte sagte, war das System ja wohl noch nicht fertig; ach, und nun ist er tot! Hätte er jetzt gelebt, jetzt, wo das System größtenteils fertig ist, oder wenigstens in Arbeit ist und bis zum Sonntag fertig wird: jetzt, glaube mir, hätte L. mit beiden Händen zugegriffen, er hätte weder die Zeit, noch die Höflichkeit, noch die heitere Laune gehabt, gleichsam mit Gott ‚gerade und ungerade‘ zu spielen, und im Ernst die linke Hand zu wählen. Aber das System hat ja auch mehr als das, was Gott in seinen beiden Händen hat, schon in diesem Augenblick hat es mehr, geschweige denn erst am kommenden Sonntag, wenn es ganz bestimmt fertig wird.505
Da Erkenntnis bezüglich der Stellung des Menschen zu sich selbst, Gott und Welt nicht nur von jeder Generation, sondern von jedem Individuum neu zu leisten sei, seien die Denker des 19. Jahrhunderts in keiner Weise über Lessing hinausgegangen; im Gegenteil, Lessing sei der Wahrheit viel näher gewesen: „Somit reden sie ja beide, Lessing und der Systematiker, von einem fortgesetzten Streben; der Unterschied ist nur der, daß Lessing dumm oder wahrhaftig genug ist, es ein fortgesetztes Streben zu nennen, der Systematiker aber klug und unwahrhaftig genug, es das System zu nennen.“506 Vor diesem Hintergrund erscheinen nicht nur die Veröffentlichungen von unabgeschlossenen Quasi-Systemen, sondern auch Vorankündigungen eines demnächst zu veröffentlichenden Systems verwerflich, suggerieren sie doch die Möglichkeit einer umfassenden und allgemeinen Auseinandersetzung mit der Wahrheit. Das Versprechen von Systemen ist laut Kierkegaard
504 Gotthold Ephraim Lessing, „Eine Duplik“, Theologiekritische Schriften III, in Werke, hg. von Herbert Göpfert et al., Bd. 1–8, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970–1979, Bd. 8, S. 29–101, S. 33; vgl. SKS 7, 103 / AUN1, 98f. 505 SKS 7, 103 / AUN1, 99. 506 SKS 7, 105 / AUN1, 101.
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sogar dominanter als der Vollendungsgestus. Um sich eine Reputation zu schaffen oder den jeweiligen Status in der öffentlichen Wertschätzung aufrechtzuerhalten, verliere man sich in Systemankündigungen und vorläufigen Erläuterungen, Andeutungen und Hinweisen507 – das Vorhaben werde jedoch nie ausgeführt. Kierkegaard richtet sich gegen diese exzessive Paratextualität weniger aus fachinternen als aus moralischen Gründen: Bei dem Versprechen eines Systems handele es sich um ein zweifach falsches Versprechen; zum einen werde es de facto nicht eingelöst, zum anderen werde suggeriert, daß es potentiell einlösbar wäre. Letzteres habe Folgen für das Selbstverhältnis derjenigen, denen das Versprechen gemacht wird, denn sie begnügen sich mit der Vorläufigkeit, anstatt das Risiko einer eigenständigen, existentiellen Erkenntnissuche (und das heißt bei Kierkegaard bekanntlich immer: Selbstwerdung) zu wagen. Im Gegensatz zu den Junghegelianern ist es nicht Weltferne, die Kierkegaard der Universitätsphilosophie vorwirft, sondern gerade deren Allianz mit der Alltagskultur. Diese münde in eine mißliche Wechselwirkung: Ebenso wie Geschäftstüchtigkeit und werbewirksame Effekthascherei in die Lehrstühle eingezogen sei, habe Spekulation, Weltgeschichte und Systemdenken den öffentlichen Diskurs und das Selbstverständnis der Menschen geprägt. Eine derart ‚verwirklichte‘ Philosophie bewirkt nicht die Aufhebung der Entfremdung oder eine Versöhnung, wie sie Marx propagiert. Im Gegenteil: Die popularisierte posthegelianische Philosophie zementiert den kritischen Zustand der Kultur – die existentielle Amnesie.
3.4.3 Falsche Wiederholungen Anstatt auf einem fundierten Verständnis der Hegelschen Philosophie – und zu einem solchen gehört laut Kierkegaard immer die Rückbindung an die eigene Existenz – beruhten die akademischen Arbeiten auf unreflektierten Wiedergaben der Hegelschen Gedanken. Umfangreiche Bücher seien geschrieben worden, so Kierkegaard in Anspielung auf die Veröffentlichungen von Frederik Christian Sibbern, die nichts weiter täten als Hegels Philosophie zusammenzufassen: „Man hat ein großes Buch darüber geschrieben, und erst alles gesagt, was Hegel gesagt
507 Wie z.B. Heiberg, der zehn Jahre nach einer großen Ankündigung eines umfassenden ästhetischen Systems in Kjøbenhavns Flyvende Post eine Schrift zur Logik als ‚Vorarbeit‘ deklariert und nach weiteren acht Jahren sein Vorhaben wiederum verschiebt; vgl. Lasse Horne Kjældgaard, „The Age of Miscellaneous Announcements: Paratextualism in Kierkegaard’s Prefaces and Contemporary Literary Culture“, in Prefaces and Writing Sampler, hg. von Robert L. Perkins, Macon, Georgia: Mercer University Press 2006 (International Kierkegaard Commentary, Bd. 9), S. 7–28, S. 18.
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hat, darauf auf dieses oder jenes Spätere Rücksicht genommen, was alles nur ablenkt und eine distrahierende Weitläufigkeit über das breitet, was sich ganz kurz sagen läßt.“508 Damit schwinde nicht nur Originalität und Kreativität aus den Universitäten, sondern auch das Verständnis dessen, was es heiße, ‚wesentlich zu denken‘ und ‚wesentlich gebildet‘ zu sein.509 Gegen das sogenannte ‚objektive Denken‘ hat Kierkegaard bereits zu Beginn seines Schaffens eingewandt: „Was nützte es mir dazu, wenn ich eine sogenannte objektive Wahrheit herausfände; wenn ich mich durch die Systeme der Philosophen hindurcharbeitete und sie auf Verlangen Revue passieren lassen könnte?“510 Der Abwertung des ‚objektiven‘, d.h. des spekulativen, welthistorischen Denkens dient die Metapher des Papageien, welche in der Nachschrift wiederholt verwendet, jedoch nicht expliziert wird. Der Papagei läßt sich als Karikatur der Eule verstehen, dem Sinnbild der Philosophie und der Weisheit: Der Universitätsprofessor wird als „sehr geehrter Papagei“511 adressiert, dessen vermeintlich objektives Denken die Menschheit anstifte, ihre eigene Existenz als eine leere Wiederholung von Normen und Gebräuchen zu führen, da es „alles aufs Resultat abstellt und der ganzen Menschheit zum Betrügen durch Abschreiben und Hersagen des Resultats und des Fazits verhilft“512 . Kierkegaard prägt als Gegenentwurf das Konzept des subjektiven Denkens. Dieses bedeutet nicht impulsives Schwärmertum, welches selbstgenügsam auf eine strukturierte Auseinandersetzung mit der Tradition verzichtet. Im Gegenteil,
508 SKS 7, 113 / AUN1, 110. Vgl. Frederik Christian Sibbern, Bemærkninger og Undersøgelser, fornemmelig betreffende Hegels Philosophie, betragtet i Forhold til vor Tid, Kopenhagen: Reitzel 1838. Kierkegaard hat ein Exemplar besessen, wie das Auktionsprotokoll verzeichnet: Auktionsprotokol over Søren Kierkegaards Bogsamling, a. a. O., S. 54 (ASKB 778). 509 Vgl. die Charakterisierung des wesentlichen Denkens in SKS 20, 162, NB12:32. 510 SKS 17, 24, AA:12 / DSKE 1, 24; vgl. Gräb-Schmidt, „Die Rationalität von Kierkegaards Theologie“, a. a. O., S. 36. 511 Im Original heißt es „Ramser“ (SKS 7, 179); Hirsch übersetzt „Herleierer“ (AUN1, 186). Das dänische „Ramser“ hat kein direktes Pendant im Deutschen. Dem Dansk Ordbog von 1829 zufolge ist ein Ramser jemand, der „eine Menge Worte in ununterbrochener Folge von sich gibt, vor allem ohne nachzudenken; hastig erzählend, schwatzend, plappernd“ („fremsiger en Mængde Ord i en fortsat følge, især naar det skeer uden Eftertanke; fortæller hastigt, svadser, prater“). Ramser ist gleichzeitig eine alternative Bezeichnung für rapster (Räuber), und ein ramsfugl ist ein Raubvogel; Videnskabernes Selskabs Bestyrelse (Hg.), Dansk Ordbog, Bd. 5, Kopenhagen: P.D. Kiøppings Bogtrykkeri 1829, S. 30, 31, 38. Die angelsächsische Wiedergabe mit parrot scheint dem dänischen Ausdruck und seinen Konnotationen am besten gerecht zu werden; vgl. Søren Kierkegaard, Concluding Unscientific Postscript to ‘Philosophical Fragments’, hg. und übers. von Howard V. Hong und Edna H. Hong, in Kierkegaard’s Writings, Bd. 1–26, Princeton, NJ: Princeton University Press 1978–2000, Bd. 12.1, S. 196. 512 SKS 7, 73 / AUN1, 65.
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in intensivem Bezug zur eigenen Existenz und unter unerbittlicher Infragestellung des eigenen Selbstverständnisses arbeitet sich der subjektive Denker an dem überlieferten Wissen, an den philosophischen wie theologischen Konzepten und Methoden ab. Wiederholungen sind daher nicht per se verwerflich: Als WiederHolung, d.h. als Aktualisierung und individuelle Revitalisierung der überlieferten Geistesgeschichte sind sie vielmehr unverzichtbar. Wie die folgenden Kapitel zeigen sollen, geht es Kierkegaard um den Modus des Umgangs mit der Tradition, darum, „solo die Urschrift der individuellen, humanen Existenzverhältnisse, das Alte, Bekannte und von den Vätern Überlieferte, noch einmal, womöglich auf eine innerlichere Weise, durchlesen zu wollen“513 . Die Universitätsprofessoren dagegen pflegten einen falschen Umgang mit der Tradition, sie ‚wiederholten‘ diese ohne jeglichen Selbstbezug, wie Kierkegaard an dem Extrem des Descartschen de omnibus dubitandum zeigt: Die Forderung nach methodischem Zweifel werde als Slogan repetiert, ohne sich der Gefahr der Verzweiflung auszusetzen.514 Kierkegaard verwendet daher zur Kritik der Universitätsphilosophie nicht nur die Metapher des Papageien – dümmlich, buntgefiedert und aufmerksamkeitsheischend –, sondern auch die des Monsters: Man schrecke berechtigterweise davor zurück, dem spekulativen Denker und Universitätsprofessor in das Gesicht zu schauen, denn es sei zu befürchten, daß man entdecke, daß dieser „keine richtigen Augen hat, sondern Glasaugen, und die Haare einer Fußmatte“515 . Die Vorstellung einer künstlichen Gestalt, zusammengefügt aus Stroh und einem Spazierstock516 ruft noch ein weiteres Bild auf, das der Vogelscheuche. Auch wenn Vogelscheuchen gewöhnlich nicht der Abschreckung von Eulen dienen, so wird doch eines deutlich: Weisheit ist im Umfeld der blutleeren Professorenpuppen nicht zu finden.
3.4.4 „Ein Donnerwetter von Grobheiten.“ Kierkegaards ambivalente Allianz mit Schopenhauer Kierkegaards Polemik gegenüber der dänischen akademia zeigt eine frappierende Ähnlichkeit zu Schopenhauers Invektive gegen die „Katheder-Philosophen“.517
513 SKS 7, 573 / AUN2, 344. 514 Vgl. SKS 7, 231 / AUN1 249. 515 SKS 7, 180 / AUN1, 186. 516 SKS 7, 180 / AUN1, 187. 517 Arthur Schopenhauer, „Ueber die Universitäts-Philosophie“, in Sämtliche Werke, nach der 1., von Julius Frauenstädt bes. Gesamtausg. neubearb. und hg. von Arthur Hübscher, Bd. 1–7, Leipzig: Brockhaus 1937–1941, Bd. 5 (Parerga und Paralipomena, Bd. 1), S. 149–210, S. 149, S. 155.
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Auch Schopenhauer wendet sich in der Schrift Ueber die Universitätsphilosophie gegen die Artifizialität des philosophischen Diskurses an den Universitäten; dieser sei bloße „Spiegelfechterei“,518 und die akademisch tätigen Philosophen befleißigten sich in dem Kunststück des „aerobatischen Ganges“519 . Dies täten sie aus Angst, „die Erde zu berühren, als wo sie, auf das Reale, Bestimmte, Einzelne und Klare stoßend, lauter gefährliche Klippen antreffen würden, an denen ihre Wort-Dreimaster scheitern könnten“520 . Kierkegaard und Schopenhauer kritisieren die Lebensferne der Universitätsphilosophie, und beide verwenden hierbei eine ähnliche Metaphorik – auch Schopenhauer verweist auf eine „aufgeputzte Drahtpuppe“,521 die an den Universitäten die Stelle der Philosophie einnehme. Ebenso spricht Schopenhauer sich gegen die unheilige Allianz von Universitätsphilosophie und Religion aus, allerdings polemisiert er gegen die Anpassung der Akademiker an die staatlichen Auflagen der jeweiligen Landesreligion,522 während Kierkegaard die Adaption von Religion und Theologie an die Methode der spekulativen Philosophie als „philosophische Verflüchtigung“ (philosophiske Forflygtigelse) des Christentums kritisiert.523 Es ist unklar, wann genau Kierkegaard sich mit Schopenhauer auseinandergesetzt hat; fest steht, daß er durch seinen Universitätslehrer P. M. Møller bereits 1837 Kontakt mit Schopenhauers Gedanken hatte und dessen Hauptwerke besaß, u.a. die 1844er Ausgabe von Die Welt als Wille und Vorstellung und Parerga und Paralipomena (1851)524 – Schriften, in denen Schopenhauer seinen Angriff auf die sogenannte Universitätsphilosophie ausgeführt hat. Explizite Erwähnung findet
518 Schopenhauer, „Ueber die Universitäts-Philosophie“, a. a. O., S. 207. 519 Ebd., S. 175. 520 ebd. 521 Ebd., S. 207. 522 Es sei die Folge dieser Anpassung, daß die „unter diesen Beschränkungen Lehrenden“ nichts weiter täten, „als nach neuen Wendungen und Formen zu suchen, unter welchen sie den in abstrakte Ausdrücke verkleideten und dadurch fade gemachten Inhalt der Landesreligion aufstellten, der alsdann Philosophie heißt“; ebd., S. 151. 523 SKS 19, 246, Not8:52 / DSKE 3, 264; zu der Prägung dieser Formel im Rahmen von Kierkegaards Auseinandersetzung mit dem deutschen Theologen Philipp Marheineke siehe Heiko Schulz, „Die spekulative Verflüchtigung des Christentums. Philipp Marheinekes System der christlichen Dogmatik und seine Rezeption bei Søren Kierkegaard“, Kierkegaard Studies Yearbook, 2003, S. 20–47, S. 35. 524 Diese sind ebenso wie Die beiden Grundprobleme der Ethik (1841) und Ueber den Willen in der Natur (1836) im Auktionsprotokoll verzeichnet; Auktionsprotokol over Søren Kierkegaards Bogsamling, a. a. O., S. 53, S. 62 (ASKB 772, 944). Zu dem biographischen Kontext von Kierkegaards Schopenhauer-Rezeption siehe Garff, Sören Kierkegaard. Biographie, a. a. O., S. 803–810.
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Schopenhauer allerdings erst 1854,525 und in dieser Reihe von Journaleinträgen beschäftigt Kierkegaard sich dann auch hauptsächlich mit dessen Kritik der deutschen akademia. Schenkt man Kierkegaards Selbstaussagen Glauben, so hat erst 1854 eine Wahrnehmung der Polemik Schopenhauers und der diesbezüglichen Gemeinsamkeiten stattgefunden – dann allerdings mit Vehemenz: In gewisser Hinsicht ist es mir fast unbehaglich [er det mig næsten ubehageligt], daß ich dazu gekommen bin, Schopenhauer zu lesen. Ich habe eine so unbeschreiblich skrupulöse Angst, Ausdrücke und dergleichen von einem andern zu benutzen, ohne das kenntlich zu machen. Aber seine Ausdrücke sind zuweilen mit meinen so verwandt, daß ich schließlich vielleicht aus übertriebener Ängstlichkeit ihm zuschreibe, was doch Meines ist.526
Demnach hätte Kierkegaard erst acht Jahre nach der Veröffentlichung der Nachschrift, in der seine Philosophenschelte die oben beschriebene Form erreicht, von Schopenhauers diesbezüglicher Position erfahren. Nun soll es hier nicht darum gehen, die Wahrhaftigkeit von Kierkegaards Journaleinträgen zu bestimmen. Das Unbehagliche, das Kierkegaard beschreibt, läßt sich jedoch nicht nur als eine unheimliche Erfahrung in Bezug auf die eigene Identität verstehen, wie Patrick Stokes es tut.527 Sie kann auch als die unangenehme Erkenntnis interpretiert werden, bereits lange vor der eigentlichen Auseinandersetzung mit dem Werk eines Philosophen unbewußt von dessen flüchtiger Lektüre Gebrauch gemacht zu haben. Der Vergleich mit Schopenhauers Angriff auf die sogenannte Universitätsphilosophie beruht an dieser Stelle jedoch nicht auf einem rezeptionsgeschichtlichen
525 Folgt man der Argumentation von H. und E. Hong, so findet sich ein implizites Schopenhauerzitat bereits 1844 in den Erbaulichen Reden: Siehe deren Anmerkung Nr. 172 in Søren Kierkegaard, Eighteen Upbuilding Discourses, in Kierkegaard’s Writings, hg. von Howard H. Hong und Edna H. Hong, Bd. 1–26, Princeton, NJ: Princeton University Press 1978–2000, Bd. 5, S. 524. 526 SKS 26, 233, NB32:137 / T 5, 307 (Anm.). Vgl. Niels Jørgen Cappelørn, „Historical Introduction. When and Why Did Kierkegaard Begin Reading Schopenhauer?“, in Schopenhauer – Kierkegaard. Von der Metaphysik des Willens zur Philosophie der Existenz, hg. von dems. et al., Berlin und Boston: De Gruyter 2012, S. 19–32, bes. S. 31. Der genannte Band bietet eine erstmalige philosophiegeschichtliche wie systematische Untersuchung der Bedeutung Schopenhauers für Kierkegaards Werk. 527 Stokes deutet dänisch ubehagelig im Freudschen Sinne. Er interpretiert Kierkegaards Aussage in Zusammenhang mit dessen Bemerkung über die inversive Stellung der Initialen seines Namens (Kierkegaard verwendet hier die Initialen seines Vor- und des dänischen Mittelnamens Søren Aabye) und Arthur Schopenhauers als Indiz für Kierkegaards Wahrnehmung Schopenhauers als unheimliches Spiegelbild seiner selbst: „A. S. (Anmerkung: Recht wunderlich, ich heiße: S. A. Wir verhalten uns wohl auch umgekehrt [omvendt] zueinander.“ SKS 25, 352, NB29:95 / T 5, 195, Anm.); vgl. Patrick Stokes, „Kierkegaard’s Uncanny Encounter with Schopenhauer 1854“, in Kierkegaard and Great Philosophers. Acta Kierkegaardiana, hg. von Roman Kralik et al., Bd. 2, 2007, S. 68–79, S. 70.
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Forschungsinteresse.528 Vielmehr dient er dazu, Kierkegaards Position schärfer auszuleuchten und derart die Funktion seiner Kritik der „Professorenphilosophie“529 im Rahmen einer Philosophie nach der Philosophie zu bestimmen. Zwei Aspekte sind hierfür besonders aufschlußreich: Zum einen Schopenhauers Verfemung Hegels und der Hegelianer gleichermaßen, zum anderen die Diffamierung der im Staatsdienst tätigen Philosophen als Sophisten. Kierkegaard unterscheidet zwischen Hegel und den Hegel-Epigonen. Er richtet die Spitze seiner Kritik vor allem gegen letztere. Schopenhauer läßt zwar keinen Zweifel an seiner Abneigung gegenüber dem „ekelhaften Hegeljargon“530 an den Universitäten, jedoch richtet er seine Kritik fast ausschließlich ad personam:531 Es ist Hegel, den Schopenhauer zum Prototypen für eine „glänzendste Kathederphilosophie“532 kürt. Schopenhauer rekurriert jedoch nicht nur auf Hegel als Repräsentanten, sondern auch als Verursacher des vermeintlichen akademischen Mißstandes; es sei Hegel gewesen, der die „Afterphilosophie“533 initiiert habe. Damit verunglimpft Schopenhauer gleichzeitig jeden Versuch einer posthegelianischen Philosophie, den Vollendungsgestus Hegels als Gestus ernst zu nehmen und in ihm den Ausgangspunkt für eine Philosophie nach der Philosophie zu suchen. Beiden Polemiken, Kierkegaards wie Schopenhauers, ist der Vergleich mit den antiken Sophisten zentral. Die Philosophieprofessoren, so Schopenhauer, hätten wie diese nur ihr finanzielles Auskommen und Ansehen im Sinn. Wie Kierkegaard versteht er sie als das Gegenteil eines wahren philosophischen Denkers – „daß es mit der Philosophie so recht eigentlicher, bitterer Ernst seyn könne, läßt wohl. . . kein Mensch sich weniger träumen, als ein Docent derselben“534 –, jedoch ergänzt er seine Kritik um die verschwörungstheoretische Ansicht, daß sie „dem Wirken der ächten Philosophen hemmend und feindlich entgegentreten, ja, sich gegen sie verschwören, um nur was ihre Sache fördert zur Geltung
528 Siehe hierzu Cappelørn, „When and Why Did Kierkegaard Begin Reading Schopenhauer“, a. a. O. 529 SKS 25, 390, NB30:13 / T 5, 209. 530 Schopenhauer, „Ueber die Universitäts-Philosophie“, a. a. O., S. 177. 531 Schopenhauers Kritik der Philosophie nimmt streckenweise Züge einer persönlichen Fehde an. Als junger Privatdozent hielt er bekanntlich seine Vorlesung zu derselben Zeit wie sein renommierter älterer Kollege Hegel. Zu den biographischen Hintergründen siehe Rüdiger Safranski, Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990, S. 375. 532 Schopenhauer, „Ueber die Universitäts-Philosophie“, a. a. O., S. 155. 533 Ebd., S. 154f. 534 Ebd., S. 151.
3.4 Wider die Universitätsphilosophie oder: Falsche Wiederholungen |
143
zu bringen“.535 In seiner expliziten Auseinandersetzung mit Schopenhauer zeigt Kierkegaard sich verhalten ob dessen Abscheu gegenüber den „Parasiten der Philosophie“.536 Zwar vermerkt er in „Dankbarkeit und Freude“, Schopenhauers „ganzes Dasein“ sei „eine der Professoren-Philosophie beigebrachte tiefe Wunde“,537 aber er bezweifelt, daß Schopenhauer sich selbst gegenüber aufrichtig gewesen sei, und überlegt, ob dessen Einspruch im Namen einer wahren Philosophie nicht doch durch verletzten Stolz ob der ausbleibenden akademischen Anerkennung motiviert sein könnte. Dementsprechend kehrt Kierkegaard Schopenhauers Argument gegen diesen selbst. Würde man Sokrates fragen, so Kierkegaard, was er unter einem Sophisten verstehe, so würde er folgendes antworten: Es sei freilich entscheidend genug[,] einen Mann zum Sophisten zu stempeln, wenn er aus der Philosophie Gewinn ziehe, aber daraus folge nicht, daß der Verzicht auf Gewinn genug sei, um zu entscheiden, daß man nicht Sophist sei. Nein, das Sophistische liegt in dem Abstand zwischen dem, was man versteht, und dem, was man ist; der, dessen Wesensart seinem Verstehen nicht entspricht, der ist Sophist. Aber dies ist der Fall mit Schopenhauer.538
Es ist offensichtlich, daß zu dem Zeitpunkt, an dem Kierkegaard sich skeptisch gegenüber Schopenhauer zeigt, ihn selbst ein ähnlicher Vorwurf trifft. Wie Schopenhauer lebt er von einem geerbten Vermögen, und ebenso, wie Schopenhauer sich um eine akademische Karriere bemüht hat, liebäugelt Kierkegaard lange Zeit damit, sich um ein Pastorat zu bewerben und als Theologe in den Staatsdienst zu treten.539 Die unbehagliche Erkenntnis der Ähnlichkeit zu Schopenhauer hat Kierkegaard dazu veranlaßt, die eigene Position zu evaluieren und seine zukünftige Autorrolle neu zu konzipieren. Dies mag zum einen die Rigorosität gefördert haben, mit der Kierkegaard dann im Folgejahr seinen Angriff auf die dänische Staatskirche in Der Augenblick und einer Reihe von Artikeln in der Zeitschrift Fædrelandet geführt und somit alle Brücken in den Staatsdienst endgültig abge-
535 Ebd., S. 165. 536 Ebd. 537 SKS 26, 141, NB32:35 / T 5, 264. Zur Wertschätzung Schopenhauers durch Kierkegaard und seiner Skepsis gegenüber dessen Aufrichtigkeit siehe Philipp Schwab, „Reduplikation. Zum methodischen Hintergrund von Kierkegaards später Auseinandersetzung mit Schopenhauer“, in Schopenhauer – Kierkegaard. Von der Metaphysik des Willens zur Philosophie der Existenz, hg. von Niels Jørgen Cappelørn et al., Berlin und Boston: De Gruyter 2012, S. 81–102, S. 87f. 538 SKS 26, 141, NB32:35 / T 5, 265. 539 Wie bereits erläutert, schließt Kierkegaards Kritik der Universitätsphilosophie die Theologen ob ihrer spekulativen Methode ein – zudem setzt er spekulatives Denken und die Institutionalisierung der Wahrheitssuche gleich. Sein Ansinnen, als Pastor in den Staatsdienst zu treten, unterscheidet sich gemäß seiner eigenen Kategorien daher nicht von Schopenhauers Versuch, Professor zu werden.
144 | 3 Philosophiekritik
brochen hat.540 Zum anderen hat es aber auch den Kurs bestätigt, den Kierkegaard bereits eingeschlagen hatte: für die mediale Wirksamkeit seiner Kritik zu sorgen und dabei auch nicht davor zurückzuschrecken, selbst Gegenstand des öffentlichen Spottes zu werden. Schopenhauer dagegen habe sich isoliert, er „lebt zurückgezogen und sendet dann zwischendurch einmal ein Unwetter [en Torden af Grovheder; wörtlich: Donnerwetter von Grobheiten] aus – welches totgeschwiegen wird“541 . In dieser Hinsicht, so Kierkegaards Fazit, „ähnelt [A. S.] S. A. überhaupt nicht“542 .
3.5 „Schwierigkeiten bereiten“. Leseraktivierung Kierkegaards Philosophiekritik bestimmt den literarischen Stil seiner Schriften. Sein Einwand gegen einen vermeintlichen Fortschritt und vorschnellen Abschluß der Philosophie, gegen epistemische Gier und Hast spiegelt sich in dem Modus eines Schreibens, welches auf das Tempo der Lektüre abzielt. Philosophiekritik und Philosophie sind daher bei Kierkegaard genausowenig voneinander zu trennen wie Form und Inhalt seiner Werke. In der Nachschrift fungiert die Philosophiekritik als basso continuo der Gedankenentwicklung, und sie trägt wesentlich dazu bei, auch in theologisch-philosophischen Erörterungen wie z.B. der Weltgeschichte oder der Vermittlung hartnäckig das zu verfolgen, worauf es laut Kierkegaard in der Philosophie wesentlich ankommt: die Aufmerksamkeit des Lesers auf dessen eigene Existenz zu richten. Indem die Nachschrift exzessiv untergliedert und fast bis zur Unverständlichkeit systematisiert ist, führt sie den abstrakten, vermeintlich objektiven Stil der Spekulation ad absurdum. Genau dadurch, durch die provokative Zumutung der Lektüre, wirft sie den Leser auf sich selbst und seine eigenen Verstehensleistungen zurück. Die Konsequenzen, die Kierkegaard Climacus in der Nachschrift aus der Philosophiekritik ziehen läßt, sind dieselben wie die seiner Kulturkritik. Wieder einmal
540 So auch die These Stokes: „Kierkegaard’s uncanny encounter with his inverted, demonic double Schopenhauer in the summer of 1854 invokes a self-assessment of Kierkegaard’s activity of authorship at a critical time.“ Zwar sei es „absurd to suggest that the attack of 1855 could not have happened without this encounter; the process leading up to The Moment and the attack upon Christendom was already well underway by the time Kierkegaard begins reading Schopenhauer in 1854. . . Yet as part of Kierkegaard’s overall progression, this encounter stands as an important path-marker on the road to the crisis of 1855“; Stokes, „Kierkegaard’s Uncanny Encounter with Schopenhauer 1854“, a. a. O., S. 77f. 541 SKS 25, 355, NB29:95 / T 5, 198. 542 SKS 25, 356, NB29:95 / T 5, 198. Auch hier verwendet Kierkegaard die Initialien seines Vorund Mittelnamens Søren Aabye.
3.5 „Schwierigkeiten bereiten“. Leseraktivierung |
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dient die Eisenbahn als Bildspender: „Unmittelbar gegenhalten zu wollen gegen ein ganzes Zeitalter, dazu habe ich keine Zeit, und überdies denke ich: Es geht damit, daß man wider ein ganzes Zeitalter gegenhalten will, ebenso wie wenn ein Passagier im Wagen sich an dem Sitz vor ihm hält, um den Wagen anzuhalten.“543 Das einzige, was helfe, sei vom Zug abzuspringen. Das ‚Außen‘, welches dieses Zitat signalisiert, ist jedoch kein sauber abgetrenntes Reservat eines authentischen Selbstverhältnisses und einer von den Belangen des modernen Lebens unberührten Wahrheitssuche. Kultur und Selbst bleiben aufeinander bezogen – es kommt lediglich darauf an, es langsam anzugehen und sich nicht von den weltgeschichtlichen Versprechungen einer popularisierten Spekulation in die Irre führen zu lassen: „Wenn man so aus dem Wagen aussteigt (und besonders in unserer Zeit ist man, wenn man mit der Zeit lebt, ständig auf der Eisenbahn) und niemals vergißt, daß die Aufgabe das Gegenhalten ist, da die Anfechtung die ist, zu schnell fertig zu werden, so gibt es nichts Gewisseres, als daß die Aufgabe fürs Leben ausreicht.“544 Während die kulturkritische Rhetorik der Entschleunigung545 im 21. Jahrhundert auf die Gestaltung des individuellen Alltags abzielt und vor allem in der Selbsthilfe-Rubrik floriert, dient bei Kierkegaard ‚Entschleunigung‘ hauptsächlich der Konzeption einer kulturkritisch motivierten Philosophie. Was vermag eine solche zu leisten? Es sind Umwege und Hindernisse, die das Fortkommen verlangsamen, und dies gilt auch für eine Philosophie, die sich in den Dienst der konkreten Existenz stellt. Ihr Adressat ist das Individuum als selbstverantwortlicher Gestalter seiner Lebenszeit, und so ist gefordert, auf den Prozeß des Lesens aufmerksam zu machen – auf den zeitlichen wie den reflexiven Prozeß: In der Existenz ist das Individuum eine Konkretion, die Zeit konkret, und selbst während das Individuum überlegt, ist es für den Gebrauch der Zeit ethisch verantwortlich. Existenz ist kein abstraktes Werk der Hast, sondern ein Streben und ein andauerndes Inzwischen. . . die Aufgabe wird an das Individuum in der Existenz gebracht, und just, als es. . . sich anschickt zu beginnen, wird ein anderer Anfang als vonnöten entdeckt, der Anfang des ungeheuren Umweges, der in dem der Unmittelbarkeit Absterben besteht. . . 546
Das Absterben von der Unmittelbarkeit, welches Kierkegaard in den Erbaulichen Reden unter einem mystischen Paradigma behandelt, wie Kapitel 4.5 zeigen wird, beinhaltet auch humorvolle Umwege. So beantwortet Kierkegaard die Frage nach
543 SKS 7, 153 / AUN1, 155. 544 SKS 7, 153 / AUN1, 155. 545 Der gegenwärtige Entschleunigungsdiskurs erhielt wichtige Impulse von Sten Nadolnys Roman Die Entdeckung der Langsamkeit, welcher die Langsamkeit von den Konnotationen geistiger Beschränktheit befreite; Sten Nadolny, Die Entdeckung der Langsamkeit, München: Piper 1983. 546 SKS 7, 478 / AUN2, 236.
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der Möglichkeit eines philosophischen Schreibens, welches die oben genannten Mängel meidet, nicht direkt. Er exemplifiziert die Antwort, indem er vorerst die Situation detailliert ausgestaltet, in welcher sein Sprachrohr Climacus Schlüsse aus der Bestandsaufnahme der Kultur und ihrer Interaktion mit der zeitgenössischen Philosophie zieht. Ausführlich wird beschrieben, wie Climacus an einem Sonntag nachmittag in einem Parkcafé sitzt, eine Zigarre raucht und über die Bedeutung seines Lebens sinniert. Der gespannte Leser sitzt ihm virtuell gegenüber, und er muß warten, bis der paffende Climacus ihn teilhaben läßt an seinen Überlegungen. Letztere sind alles andere als universell und systematisch; Climacus treibt in Gedanken dahin, diese sind zufällig, persönlich und unverbunden. Schließlich teilt er dies mit: Du wirst nun, sagte ich zu mir selbst, allmählich alt, ohne etwas zu sein und ohne dir eigentlich etwas vorzunehmen. Dagegen siehst du überall, wo du dich in der Literatur oder im Leben umsiehst, die Namen und Gestalten der Gefeierten. . . oder hörst von ihnen reden, von den Wohltätern der Zeit, die der Menschheit dadurch zu nützen verstehen, daß sie das Leben immer leichter machen, die einen durch Eisenbahnen, andere durch Omnibusse und Dampfschiffe, wieder andere durch das Telegraphieren, noch wieder andere durch leichtfaßliche Übersichten und kurze Mitteilungen von allem Wissenswerten; und schließlich siehst du die wahren Wohltäter der Zeit, die zu nützen verstehen, indem sie die Geistesexistenz kraft des Gedankens systematisch immer leichter und doch immer bedeutungsvoller machen: und was tust du?547
Die Antwort wird noch einmal hinausgezögert; der Leser muß sich in Geduld üben, denn Climacus beschreibt vorerst, wie er eine zweite Zigarre anzündet und eine Weile an ihr zieht. Dann schießt ihm die Antwort durch den Kopf: Es sei seine Aufgabe, „überall Schwierigkeiten zu machen“548 . Diese Schwierigkeiten, die Climacus als essentiell für sein Autorverständnis definiert, begegnen dem Leser in Kierkegaards Gesamtwerk auf vielerlei Ebenen. Die indirekte Mitteilung ist eine ihrer bekanntesten Formen.549 Aber auch das, was auf den ersten Blick als sehr direkte Mitteilung und zudem für die spekulative Philosophie konventionelle Gestalt gilt, wird als Hindernis in Stellung gebracht. So erfüllt die Nachschrift die formalen Anforderungen eines philosophischen Systems; sorgsam ist sie in Teile, Kapitel und Paragraphen aufgeteilt – nur kollidiert dies mit ihrem Titel unwissenschaftliche Nachschrift. Ebensowenig entspricht die große Anzahl der Seiten der bescheidenen Ankündigung einer Nachschrift zu einer bereits publizierten Untersuchung, und minutiöse Untergliede-
547 SKS 7, 171 / AUN1, 177. 548 SKS 7, 172 / AUN1, 177. 549 Vgl. zur indirekten Mitteilung Kapitel 4.1 dieser Arbeit.
3.5 „Schwierigkeiten bereiten“. Leseraktivierung |
147
rungen der Schrift (der Teile in Sektionen, der Kapitel in Divisionen, der Divisionen ob der fehlenden Beschreibungsmöglichkeiten in A und B) führen das vermeintlich objektive Denken der von Kierkegaard als mainstream verfemten Philosophie des 19. Jahrhunderts ebenso ad absurdum wie die Appendices und die halbseitigen Paragraphenüberschriften.550 Jedoch nicht nur das. Die systematischen Wucherungen scheinen dazu angelegt, beim Leser Verwirrung und Irritation hervorzurufen. Mitten im Text stolpert man nicht nur über die Reflexion der Gliederung, sondern gar über ihre Revision. Inmitten einer langen Erörterung der Schuld heißt es plötzlich: Indes ist die Schwierigkeit wohl eine andere; denn wenn die Schuld aus dem Existieren erklärt wird, so scheint der Existierende ja unschuldig gemacht zu werden, es scheint, daß er die Schuld auf den abwälzen könnte, der ihn in der Existenz angebracht hat[,] oder auf die Existenz selbst. In dem Falle ist das Schuldbewußtsein nichts anderes als ein neuer Ausdruck für das Leiden in der Existenz, und die Untersuchung ist nicht weiter gekommen als im § 2, weshalb § 3 ja fortfallen oder als Anhang zum § 2 behandelt werden könnte.551
So sehr sich die Lesegewohnheiten des 19. von denen des 21. Jahrhunderts auch unterscheiden mögen, derartige Blüten des Systems provozieren heute wie damals die Frage: Was geht mich das an? Und genau dies ist das erklärte Ziel der Nachschrift, in der es einleitend heißt, daß das Problem nicht die Frage nach der Wahrheit des Christentums ist, sondern die Frage nach dem Verhältnis des Individuums zum Christentum, daß es sich also nicht um den systematischen Eifer des gleichgültigen Individuums handelt, die Wahrheiten des Christentums in §§ zu arrangieren, sondern um die Sorge des unendlich interessierten Individuums betreffs seines Verhältnisses zu einer solchen Lehre.552
Vordergründig scheint Climacus’ Unternehmen gescheitert zu sein: Den Anforderungen des ‚subjektiven Denkens‘, nämlich von den „casibus des Lebens“553 auszugehen und „mit der Wohnstube zu tun“554 zu haben, wird er selbst nicht gerecht. Auch hat er laut eigener Aussage sein persönliches Verhältnis zu dem
550 In Hinblick auf die Kritik an den falschen Versprechungen und Systemankündigungen der von Kierkegaard kritisierten Universitätsphilosophie ließe sich der Titel der Nachschrift als Versprechen und ihr opulenter Text als deren Nichterfüllung durch over-achievement verstehen. 551 SKS 7, 480f. / AUN2, 238. 552 SKS 7, 24f. / AUN1, 14. 553 SKS 7, 564 / AUN2, 336. 554 SKS 7, 422 / AUN2, 173. Ähnlich Climacus’ Selbstbeschreibung, er habe seine „Feder darin geübt, so konkret wie möglich das Alltägliche nachzubilden und darzustellen.“ SKS 7, 422 / AUN2, 172.
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summum bonum zum Gegenstand der Untersuchung erheben wollen.555 Je mehr jedoch die Autorpersönlichkeit Johannes Climacus in dem Paragraphendschungel verschwindet, desto stärker wird der Leser auf sich selbst zurückgeworfen – seine Verstehensversuche, seine Geduld und letztlich die Frage, wie es um die eigene Glückseligkeit bestellt sei. Worauf die Nachschrift durch ihr inszeniertes Scheitern ex negativo aufmerksam macht, ist das Motto des Kierkegaardschen Entwurfes einer posthegelianischen Philosophie: Philosophie verlangt keine existentielle Amnesie im Nachvollzug der Weltgeschichte oder eines abstrakten Systems, sondern das ständige Bewußtsein der radikalen Verantwortung für das eigene Leben: tua res agitur.556
3.6 Zusammenfassung: Wider die falsche Verwirklichung der Philosophie Vehement destruiert Kierkegaard den Vollendungsgestus Hegels, vor allem aber dessen Imitation durch die dänischen Hegel-Epigonen. Die falschen Versprechungen seiner akademischen Zeitgenossen, an einem abschließenden System zu arbeiten, dessen Veröffentlichung immer wieder verschoben wird, und die damit verbundene Verheißung der Spekulation, Erkenntnis lasse sich vollenden und abstrakt darstellen, führt Kierkegaard ad absurdum. Durch Übererfüllung – wir haben es mit einer veröffentlichten und penibel gegliederten, systematischen Schrift zu tun – straft sie die Suggestionen der dänischen Hegel-Epigonen Lügen: Die Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift ist zwar wissenschaftlich gemäß dem Hegelschen Philosophieverständnis, aber sie ist alles andere als abschließend, im Gegenteil: Die Frage nach der Glückseligkeit muß der Leser für sich selbst beantworten, die Nachschrift hat nur versucht, sie für Climacus zu klären. Anstatt einer Vollendung demonstriert Climacus in einem Appendix zur Nachschrift die Zurücknahme des systematischen Anspruchs, ja, seines Systems überhaupt. Gerade darin liege der hermeneutische Gehalt für den Leser: „Die Verständigung mit ihm als einzigem Leser ist ja gerade der Widerruf des Buches.“557
555 Vgl. die Einleitung, in der es heißt: „Ich, Johannes Climacus, hier in der Stadt geboren, bin nun 30 Jahre alt, und recht und schlecht ein Mensch, so wie die meisten Leute, nehme an, daß mir sowohl wie einem Dienstmädchen und einem Professor ein höchstes Gut in Aussicht steht, das ewige Seligkeit genannt wird; ich habe gehört, daß einem das Christentum dieses Gut bedingt; nun frage ich: Wie komme ich in ein Verhältnis zu dieser Lehre?“ SKS 7, 25 / AUN1, 14. 556 SKS 4, 128 / FZ, 31. 557 SKS 7, 563 / AUN2, 335.
3.6 Zusammenfassung: Wider die falsche Verwirklichung der Philosophie |
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Kierkegaards Philosophiekritik, das sollte deutlich geworden sein, zielt weniger auf die Philosophie Hegels und noch weniger auf die Philosophie per se. Vielmehr richtet sie sich gegen das im 19. Jahrhundert dominante Verständnis von Philosophie, speziell auf den dänischen Hegelianismus. Das spekulative Denken, wie es an den Universitäten, aber auch in der Öffentlichkeit betrieben werde, verdränge das Bewußtsein, für die eigene Existenz verantwortlich zu sein. Die radikale Verantwortung Angesicht zu Angesicht mit Gott bei gleichzeitiger Akzeptanz der Gnade ist laut Kierkegaard jedoch der Kern des Christentums, und durch die spekulative Erklärung dessen werde das Existentielle gemeinsam mit dem wahrhaft Christlichen getilgt: Das 19. Jahrhundert habe „das Verhältnis umgekehrt und das Christentum in eine philosophische Lehre verwandelt. . . die begriffen werden soll, und das Christentum in eine Belanglosigkeit“558 . Kritik an der Philosophie bedeutet bei Kierkegaard Kritik an der Spekulation als Mode und schließt daher auch die Kritik an der zeitgenössischen spekulativen Theologie ein. Kierkegaard adressiert seine Polemik an die dänischen Intellektuellen; deren Beteuerungen, über die Themen der abendländischen Geistesgeschichte einschließlich des Christentums längst hinausgegangen zu sein, entlarvt er als Hybris. Die hegelianisierenden Vollendungsgesten sind nicht nur leer, sondern lächerlich, zeugen sie doch von einer pennälerhaften Ignoranz gegenüber dem, was es wirklich zu erkunden gilt, der Existenz: Wie es für den Lehrer verdrießlich sein muß, und wie man in der Schule im Allgemeinen den mittelmäßigen Schüler daran erkennt, daß er kaum zehn Minuten, nachdem die Aufgabe gestellt worden ist, mit seinem Blatt Papier angelaufen kommt und sagt: ich bin fertig: so kommen im Leben die mittelmäßigen Menschen sogleich angelaufen und sind fertig, und zwar je größer die Aufgabe ist, desto schneller werden sie fertig; und so muß es für die Macht, die das Dasein lenkt, ermüdend sein, mit solch einer Generation zu tun zu haben. Die Heilige Schrift redet von der Langmut Gottes gegen die Sünder. . . aber welche Engelsgeduld gehört nicht dazu, mit solchen Menschen zu tun zu haben, die sogleich fertig sind.559
Kierkegaards rigoroser Angriff auf voreilige Akademiker zielt auch auf deren vermeintlichen Opportunismus: Aus Gründen der Einkommenssicherung passe man sich den ‚Forderungen der Zeit‘ an; man befriedige das Bedürfnis nach weltgeschichtlicher Spekulation und kündige umfassende Systeme an, von deren Vorveröffentlichung man profitiere. In der abschätzigen Darstellung der Universitätsprofessoren als moderne Sophisten stimmt Kierkegaard mit Schopenhauer überein: Beide werfen der Universitätsphilosophie vor, weder sachlich angemessen sich mit der Tradition auseinanderzusetzen noch sich selbst auf eine aufrichtige
558 SKS 7, 346 / AUN2, 85. 559 SKS 7, 369 / AUN2, 112.
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Wahrheitssuche zu begeben, also weder Philosophie nach dem Weltbegriff, um mit Kant zu sprechen, noch nach dem Schulbegriff 560 zu betreiben, sondern bloß intellektuelle Kunststücke zum öffentlichen Wohlgefallen aufzuführen. Es ist rezeptionsgeschichtlich nicht möglich, Schopenhauer eindeutig als direktes Vorbild der Philosophenschelte Kierkegaards zu identifizieren. Jedoch hat Kierkegaards nachträgliche Auseinandersetzung mit Schopenhauer entscheidend zu seinem kritischen Selbstverständnis als Autor beigetragen und seine Vorstellung von einer angemessenen Philosophiekritik und einer daraus resultierenden anderen Philosophie wesentlich konturiert. Dem modernen Sophismus der Universitätsprofessoren gilt es mit einer sokratischen Haltung zu begegnen, und das bedeutet auch: Der wesentliche Denker zieht sich nicht in die Isolation zurück, im Gegenteil, er setzt sich gezielt dem Spott der Öffentlichkeit aus. Die Strategie, den wesentlichen Denker in Opposition zu dem Intellektuellen im Staatsdienst zu beschreiben, teilt Kierkegaard mit Feuerbach – in der Darstellung beider ist es „ein spezifisches Kennzeichen eines Philosophen. . . kein Professor der Philosophie zu sein“561 . Wie bei Feuerbach und den Junghegelianern entwickelt sich Kierkegaards Philosophie nach der Philosophie in provokativer Abgrenzung von einer institutionalisierten Lehre und Forschung. Im Gegensatz zu den Junghegelianern kann Kierkegaard jedoch nicht freudig verkünden, daß dadurch, daß die Philosophie „vom Katheder herabgestiegen“ sei, sie von einer bloßen „Professorenangelegenheit“ sich „zur Sache des Menschen, des ganzen, freien Menschen“ entwickelt habe.562 Gerade die vermeintlich wirklichkeitsnahe Philosophie ist problematisch, denn sie fördert das Grundproblem der modernen Kultur: uneigentliches Existieren.563 Durch die Anpassung der akademia an die bürgerliche Gesellschaft – Massenmedien, geschäftige Klugheit, Gier und Eile – geht die Möglichkeit der Kritik verloren. Wohlgemerkt, Kierkegaard plädiert nicht dafür, „die stille Behausung der Philosophie zu umfrieden, auf daß der Welt Lärm und Mühsal nicht störend dahin dringe“564 . Er setzt sich vielmehr für eine Philosophie ein, die sich den
560 Immanuel Kant, Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, in Kant’s Gesammelte Schriften, Abt. 1– 4, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin u.a.: Reimer u.a. 1900–2010, Abt. 1, Bd. 9, S. 22. 561 Feuerbach, „Zur Beurteilung“, a. a. O., S. 241. 562 Ebd. 563 Es geht jedoch weniger um eine eindeutige Zuschreibung von Verantwortung als um eine Reziprozität, betont Kierkegaard doch auch, „wenn es unserer Zeit nicht vorbehalten wäre, das Existieren rein zu unterlassen, so wäre es undenkbar, daß eine solche Weisheit wie die Hegelsche als das Höchste hätte angesehen werden können.“ SKS 7, 270 / AUN1, 293 (Anm.). 564 SKS 4, 524 / V, 236.
3.6 Zusammenfassung: Wider die falsche Verwirklichung der Philosophie |
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Phänomenen der menschlichen Existenz zuwendet und den einzelnen auf sich selbst aufmerksam macht. Kierkegaard fordert daher eine Konkretisierung der Philosophie, ihre angemessene Realisation. Gegen Marx’ und Feuerbachs Forderung nach einer Verwirklichung der Philosophie565 könnte man daher mit Kierkegaard einwenden: Die Philosophie ist bereits verwirklicht, und sie hat bereits Auswirkungen auf das konkrete Leben – jedoch negative. Ihre Interaktion mit der Kultur verstärkt die Entfremdung. Die Popularisierung der Hegelschen Philosophie hat nicht nur zu einer kollektiven Betörung durch das Konzept der Weltgeschichte geführt, sondern auch spekulative Finessen dem individuellen Entschluß und der radikalen Verantwortung übergeordnet. Kurzum: Die falsche Verwirklichung der Philosophie manifestiert die existentielle Amnesie. Im Gegensatz zu Marx und den Junghegelianern gibt es bei Kierkegaard keinen ‚universellen Menschen‘, dessen Entfremdung es aufzuheben gilt. Kierkegaard bekämpft vehement die Idee eines notwendigen, dem Menschen einsichtigen Verlaufs einer vernünftigen Weltgeschichte. Der säkularisierten Eschatologie, wie sie Marx und die Junghegelianer im Anschluß an Hegel vertreten, hält er die unberechenbare, unverständliche, die paradoxe Gnade Gottes entgegen: Jesus Christus widme sich jedem Erlösungsbedürftigen einzeln. Kierkegaard, so ließe sich zusammenfassen, fordert eine erneute, eine andere Verwirklichung der Philosophie, die nicht außer acht läßt, daß Autor wie Leser existieren. Es geht Kierkegaard um eine angemessene Auseinandersetzung mit der Tradition, um eine Rezeptionshaltung, welche bereit ist, das eigene Selbstverständnis in Frage zu stellen. Die existentielle Auseinandersetzung mit dem philosophischen Kanon ist keine papageienhafte Repetition, wie sie (gemäß der Darstellung Kierkegaards) an den Universitäten gelehrt wird. Den falschen Wiederholungen der Philosophie durch seine akademischen Zeitgenossen setzt Kierkegaard eine andere Wiederholung entgegen. Wie das nächste Kapitel zeigen wird, demonstrieren seine Texte Wiederholungen auf stilistischer und narrativer Ebene, und durch die Reaktivierung von Anachronismen und die Remetaphorisierung von Begriffen ‚wieder-holen‘ sie ein Verständnis von Philosophie, welches im 19. Jahrhundert verlorenzugehen droht.
565 Vgl. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, a. a. O., S. 391. Feuerbach hat 1828 in einem Brief an Hegel die „Verwirklichung und Verweltlichung der Idee“ gefordert; G.W.F. Hegel, Briefe von und an Hegel, hg. von Johannes Hoffmeister, Bd. 1–4, 3. Aufl., Hamburg: Meiner 1969 [1952–1960], Bd. 2, S. 245; vgl. Stuke, Philosophie der Tat, a. a. O., S. 52.
4 Kierkegaards Wiederholung der Philosophie Kierkegaard beschränkt sich nicht auf eine Kritik der Philosophie seiner Zeit, er entwirft auch eine Alternative. Sein Entwurf kreist um das Konzept der Wiederholung: Kierkegaards Philosophie nach der Philosophie, so die im folgenden zu explizierende These, beruht auf einer Methode der Wiederholung. Diese Methode aktualisiert unterschiedliche Bedeutungen von ‚Wiederholung‘. Im Kontext der indirekten Mitteilung läßt sich die Widerrufung der Aussage als Wiederholung im Sinne eines Zurückholens verstehen.566 Ebenfalls im Dienst einer indirekten Mitteilung begegnen dem Leser zudem Wiederholungen gemäß dem üblichen Sprachgebrauch, denn Kierkegaards Schriften zeigen das, was sie meinen, sie führen es vor – sie wiederholen das Gesagte performativ. Dabei spielen literarische Formen eine besondere Rolle (4.1). Die Anwendung der Wiederholung als performative Repetition betrifft aber auch die Textkonstitution als solche. So besteht die Schrift Forord aus nichts anderem als einer Wiederholung von Vorworten, die den Gestus der Vollendung konterkarieren: Nichts kommt zum Abschluß, nichts wird beendet – es wird (scheinbar) nicht einmal richtig angefangen, da es bei der Reihe von Vorworten bleibt und der Haupttext fehlt. Der Anfang von Kierkegaards Philosophie scheint auf der Stelle zu treten, um Vorläufiges und Kontingentes kreisend. In literarischem Gewand problematisiert Forord Aufgabe wie Gegenstand der Philosophie und widerspricht Hegels Wissenschaftsverständnis (4.2). Kierkegaard hat zwar keine explizite Theorie der Wiederholung als Methode formuliert, seine Schrift Die Wiederholung. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie kann jedoch als eine solche gelesen werden. Sie bezieht sich vordergründig auf das Leben als Wiederholung, aber die Einheit von Sein und Denken, auf die Kierkegaard immer wieder hinweist, legt eine Interpretation dieser Schrift als methodischer Überlegung nahe. Diese berücksichtigt auch Kierkegaards implizites Lektüremodell, das auf eine Aktivierung des Lesers abzielt (4.3). Das derart entwickelte Konzept einer Wiederholung im Sinne von Wieder-, von ZurückHolung567 wird anschließend angewandt auf Kierkegaards Umgang mit der philosophischen Tradition: Anstatt wie seine hegelianisierenden Zeitgenossen zu betonen, über die Konzepte und Denker der Philosophiegeschichte ‚hinausgegangen‘ zu sein, sie hinter sich gelassen zu haben und einen Umgang mit ihnen nur noch in historischer Perspektive als legitim anzuerkennen, aktualisiert Kierkegaard das Zurückgelassene der Philosophie. Dies betrifft zum einen das Verständnis einer
566 SKS 7, 239 / AUN1, 258. Hirsch übersetzt hier „Tilbagekaldelse“ als „Zurücknahme“. 567 Diese Lesart wird auch von dem dänischen Original evoziert: Gjentagelsen bedeutet wörtlich Wieder–Nehmen.
4.1 Die indirekte Mitteilung: Literarisierung, Performanz, Widerrufung |
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Praxis des Philosophierens, wie Kierkegaard es durch Sokrates repräsentiert sieht (4.4), zum anderen das von Meister Eckhart propagierte Gottes- und Weltverhältnis (4.5). In beiden Fällen spielen Metaphern eine entscheidende Rolle. Die katachrestische Bezeichnung Sokrates’ als Viehbremse und Hebamme wiederholt performativ, was Kierkegaard als das Ziel des sokratischen Philosophierens auszeichnet: dem Hörer resp. Leser bei der Gewahrwerdung seines Selbst zu helfen, um ihn dann allein zu lassen und keine Verstehenshilfe zu bieten. Kierkegaard sagt nicht nur, was seiner Auffassung nach der sokratische Ansatz ist, er zeigt es auch, läßt es den Leser wiederholt empfinden. In der Rede „Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – damit, daß Gott siegt“ findet eine Remetaphorisierung des in der Philosophie wie in der Alltagskultur des 19. Jahrhunderts prominenten Reflexionsbegriffes statt: Es komme, so Kierkegaard, auf die individuelle Spiegelung Gottes an, nicht auf die spekulative Erklärung. Gleichzeitig wiederholt Kierkegaard das Eckhartsche Konzept der Bildung in seiner ursprünglich metaphorischen Bedeutung. Diese Remetaphorisierung kann als Gegenentwurf zu der von ihm kritisierten bürgerlichen Vorstellung von Bildung gelten. Die Einübung von Geduld, die während der Lektüre der genannten Rede praktiziert wird, stellt das Hauptelement einer Kierkegaardschen (Anti-)Rhetorik dar. Alle Formen der Wiederholung dienen der christlichen Beredsamkeit (4.6). In den genannten Wiederholungen nehmen Literarisierung und Performanz entscheidende Funktionen ein, weswegen vorerst einige grundlegende Überlegungen, Begriffsklärungen und Verweise auf die diesbezügliche Forschungssituation erfolgen.
4.1 Die indirekte Mitteilung: Literarisierung, Performanz, Widerrufung Dezidiert gibt Kierkegaard dem Raum, was die Philosophie in der Nachfolge Hegels als unphilosophisch aus ihrem Gegenstandsbereich ausgeschlossen hat. Das Zufällige und das Besondere, Stimmungen und Erbauliches, existentielle Nöte und Prozesse der Selbstwerdung stellen den Brennpunkt seiner Philosophie nach der Philosophie dar. Was vermittelt werden soll, ist keine propositionale Erkenntnis, sondern ein Bewußtsein für die Verantwortung des individuellen Seins und Aufmerksamkeit gegenüber dem, was dieses fördert. Statt Wissen gilt es, ein Können mitzuteilen, etwas, was die Philosophie im 19. Jahrhundert radikal vernachlässige: „Und dieses ist wiederum die Verwirrung der Moderne, vollständig vergessen zu haben, daß es eine Mitteilung gibt, die Könnens-Mitteilung heißt, daß man diese ganz abgeschafft hat, oder wohl sogar unsinnigerweise das, was als
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Können mitgeteilt werden soll, als Wissen mitgeteilt hat.“568 Anders ausgedrückt: Man wird kein authentisches Selbst, indem man liest, was dieses ausmacht, sondern indem man sich zu sich selbst verhält, Stellung nehmend zu dem, was man liest. Auf dieser Einsicht basiert Kierkegaards Konzeption der indirekten Mitteilung, die er 1847–1848 als Vorlesungsreihe entwirft und anhand derer er rückwirkend seinem Gesamtwerk eine einheitliche Absicht zuschreibt, nämlich die, den Leser auf seine existentielle Verantwortung aufmerksam zu machen.569 Entsprechend gilt, daß der Leser nicht einfach der Autorpersönlichkeit Folge leisten darf; er muß die Erkenntnis seiner einmaligen individuellen Existenz am eigenen Leibe empfinden, er muß auf eigenen Füßen stehen: „Allein zu stehen – mit der Hilfe eines Anderen. Aber muß er allein stehen – mit der Hilfe eines Anderen, dann darf er gerade nicht die geringste vorteilhafte Vorstellung von diesem Anderen haben, denn sonst wird ihm ja diese Vorstellung zu einem Hindernis dafür, allein zu stehen.“570
4.1.1 Literarisierung Es gilt daher, einen Lektüreprozeß zu gestalten, der vorschnelle und eindeutige Schlußfolgerungen verhindert und den Leser auf seine aktiven Verstehensleistungen aufmerksam macht. Literarische Darstellungsformen sind ein vorzügliches Mittel dieser Strategie. Sie dienen Kierkegaard außerdem dazu, sich als religiöser Schriftstelller explizit von der systematischen Philosophie seiner Zeitgenossen abzugrenzen.571 Schließlich propagiert die Philosophie seit ihrem Bestehen eine Skepsis gegenüber Rhetorik und kunstvoller Verschriftlichung, welche sie als unphilosophisch aus ihrem Repertoire auszuschließen sucht.572 Stattdessen defi-
568 SKS 27, 414 / Søren Kierkegaard, Die Dialektik der ethischen und der ethisch-religiösen Mitteilung, übers. von Tim Hagemann, Bodenheim: Verlag Philo 1997, S. 66f. Kierkegaards Theorie der indirekten Mitteilung findet sich in den Journalen (SKS 27, 389–434, Papir 364–371). Da nur in Auszügen in den Tagebüchern enthalten (T 2, 111–127), zitiere ich im folgenden aus der genannten Übersetzung Hagemanns. 569 Vgl. Tim Hagemann, „Zur Entstehungsgeschichte von Kierkegaards ‚Dialektik‘“, in Kierkegaard: Die Dialektik der ethischen und der ethisch-religiösen Mitteilung, Bodenheim: Verlag Philo 1997, S. 9–13. 570 SKS 27, 403 / Kierkegaard, Dialektik, a. a. O., S. 35. 571 Dies hat dazu geführt, daß einige Forscher Kierkegaards Werk sogar ausschließlich als das eines Dichters verstehen; vgl. die einflußreiche Untersuchung von Louis Mackey, Kierkegaard. A Kind of Poet, Philadelphia, Pennsylvania: University of Pennsylvania Press 1971. 572 Daß die Sprache der Philosophie jedoch immer schon literarisch ist, sei durch den Hinweis Konersmanns in Erinnerung gerufen, „daß wir, wenn wir denken und schreiben, einer Sprach-
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niert sie sich über scharfe Begrifflichkeiten und klare Argumentationsstrukturen. Zwar hat es immer wieder Divergenten und Gegenstimmen wie Giambattista Vico oder Michel de Montaigne gegeben, dennoch haben sich Descartes’ Regeln der Methode als repräsentativ für die Philosophie durchgesetzt. Die Forderung, nur solche Sachverhalte in einem philosophischen Text zu behandeln, die sich dem Denken klar und deutlich präsentieren,573 reicht weit zurück in die Anfänge des abendländischen Denkens. Auch Hegels Plädoyer für eine strenge Begrifflichkeit ist von der Vorstellung geprägt, alles – bzw. das Wesentliche – auf den Begriff bringen zu können.574 Metaphern und Allegorien, jegliche literarische Formen gelten einem derartigen Philosophieverständnis entweder als sprachliches Unvermögen des Autors oder als vorläufiger Ausdruck dessen, was der menschliche Geist aufgrund seiner historischen Position in seiner bislang nicht abgeschlossenen Entwicklung noch nicht präzise zu fassen vermag.575 Es ist Hans Blumenbergs Verdienst, darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß literarische Formen in der Philosophie keine Verlegenheitslösungen darstellen: So manches ist nicht eindeutig sprachlich bestimmbar, und es sind absolute Metaphern, welche in diesen Fällen trotzdem die philosophische Auseinandersetzung ermöglichen.576 Daß Literarizität zudem in der gesamten Geschichte der Philosophie stillschweigend eine genuin philosophische Rolle gespielt hat, zeigt auch die Forschung der letzten zwanzig Jahre, vor allem die grundlegenden Arbeiten Gottfried Gabriels und Christiane Schildknechts.577
wirklichkeit begegnen, in der vor uns und mit uns andere geredet haben und immer weiter mitreden. Die Situation der Normalität, das angeblich voraussetzungslose und reine Sprechen über die Sachen, die klare Expression des nichts als Vernunftgemäßen, ist selber eine Fiktion: die Fiktion der Nichtfiktionalität. . . In diesem durchaus nichttrivialen Sinn läßt sich sagen, daß die Sprache der Philosophie literarisch ist und daß es auch gar nicht anders sein kann. Jene Konfusion von Sprache und Wissen, von Literatur und Philosophie, vor der man uns warnen zu müssen glaubt, ist längst schon eingetreten, als die Philosophen zu sprechen und zu schreiben begannen.“ Konersmann, Komödien des Geistes, a. a. O., S. 16 und S. 17. 573 Vgl. René Descartes, Discours de la Méthode/Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung, übers. und hg. von Lüder Gäbe, Hamburg: Meiner 1960, S. 30, S. 31. 574 Vgl. Hegels Vorrede zur Phänomenologie, a.a.O., bes. S. 14f. 575 Vgl. Giovanni Battista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, übers. von Vittorio Hösle und Christoph Jermann, Bd. 1–2, Hamburg: Meiner 1990, Bd. 2, S. 189. 576 Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, a. a. O., S. 12f. 577 Vgl. das von Gottfried Gabriel und Temilo van Zantwijk geleitete Forschungsprojekt zur Heuristik im Spannungsfeld von Wissenschaft und Poesie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und dessen Forschungsband Darstellung und Erkenntnis. Beiträge zur Rolle nichtpropositionaler Erkenntnisformen in der deutschen Philosophie und Literatur nach Kant, hrsg. von Brady Bow-
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Kierkegaards Theorie einer indirekten Mitteilung dient diesen Untersuchungen häufig als Basis. So betont Gabriel, der für eine Erweiterung des Erkenntnisbegriffes auf nicht-propositionale Wahrheiten votiert, mit Referenz auf Kierkegaard: „Ethisches ‚Wissen‘, wenn man das Wort noch gebrauchen will, ist jedenfalls kein propositionales Wissen in dem Sinne, daß man es durch die Anerkennung einer Aussage als wahr erwirbt.“578 Auch Christiane Schildknechts Untersuchungen sind inspiriert von Kierkegaard. Seine literarischen Formen seien prototypisch für zwei von vier „epistemischen Linien“ des Nicht-Propositionalen: einer Erkenntnis im Bereich des Ethischen (im Sinne einer Haltung) sowie einer Erkenntnis im Bereich des Subjektiven, die sich dem Zufälligen, Flüchtigen und Multiperspektivischen zuwendet.579 Schildknecht versteht die erstgenannte Erkenntnis als dem Propositionalen diametral entgegengesetzt: Für eine im Sinne einer Haltung oder Einstellung verstandene ethische Erkenntnis gilt damit zum einen das, was für praktisches Wissen insgesamt bestimmend ist: die Differenz zwischen einem Können und dessen Analyse in Theorieform; zum anderen kommt hier – insbesondere bei Lichtenberg und Kierkegaard – die unauflösbare Gebundenheit ethischer Erkenntnis an den subjektiv-existentiellen Standpunkt zum Tragen, der durch die direkte Mitteilung in objektiv-behauptender Form ausgelöscht würde. Im Hinblick auf die Frage der Unsagbarkeit gilt für den Bereich des Ethischen demnach, daß propositionale (theoretische)
man, Paderborn: Mentis, 2007 (im folgenden Darstellung und Erkenntnis). Gabriel und Schildknecht zeigen in Auseinandersetzung mit den Werken Platons, Montaignes, Descartes’, Wolffs und Lichtenbergs, wie sich die philosophische Funktion literarischer Formen durch die gesamte Geschichte der Philosophie zieht: Gottfried Gabriel, Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart: Metzler 1991, bes. S. 32–88; Christiane Schildknecht, Philosophische Masken. Literarische Formen der Philosophie bei Platon, Descartes, Wolff und Lichtenberg, Stuttgart: Metzler 1990. 578 Gabriel, Zwischen Logik und Literatur, a. a. O., S. 44. Das Verständnis von Propositionalität und Nicht-Propositionalität orientiert sich im folgenden an Schildknechts Definition. Dieser zufolge sind zwei Kriterien entscheidend für Propositionalität und bestimmen unter negativen Vorzeichen die Formen der Nicht-Propositionalität: das Kriterium der Wahrheitswertfähigkeit, „demzufolge eine notwendige und hinreichende Bedingung für Propositionalität eine Struktur ist, die dem Gehalt von Aussage- oder Behauptungssätzen entspricht (‚daß p‘), verbunden mit einem sich daraus ergebenden Anspruch auf Wahrheitswertfähigkeit“ sowie das Kriterium der Begrifflichkeit, „demzufolge Begrifflichkeit eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Propositionalität ist“; Christiane Schildknecht, „‚Ein seltsam wunderbarer Anstrich‘? Nichtpropositionale Erkenntnis und ihre Darstellungsformen“, in Darstellung und Erkenntnis. Beiträge zur Rolle nichtpropositionaler Erkenntnisformen in der deutschen Philosophie und Literatur nach Kant, hg. von Brady Bowman, Paderborn: Mentis 2007, S. 31–43, S. 36; vgl. auch Christiane Schildknecht, Sense and Self. Perspectives on Nonpropositionality, Paderborn: Mentis 2002, S. 15. 579 Schildknecht, „‚Ein seltsam wunderbarer Anstrich‘“, a. a. O., S. 33. Die zwei weiteren „epistemischen Linien“ beziehen sich auf eine Erkenntnis im Bereich des Fundamentalen sowie des Ästhetischen; vgl. ebd., S. 34, S. 35.
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Aussagbarkeit die praktische Komponente des Ethischen nicht nur nicht erfaßt, sondern die subjektive Komponente darüber hinaus aufgrund der Objektivität von Begriffen letztlich nur verfälschen kann.580
Dem gegenüber ist einzuwenden, daß ein Autor durchaus propositionale Aussagen über authentisches Selbstsein machen kann – ohne daß die Selbstwerdung des Lesers dadurch behindert würde –, und nichts anderes ist Kierkegaards explizite Beschreibung des Selbstseins als „ganz man selbst zu werden, ein einzelner Mensch, dieser bestimmte einzelne Mensch, einsam Gott gegenüber, einsam in dieser ungeheuren Anstrengung und dieser ungeheuren Verantwortung“581 . Der Leser – und das ist das Entscheidende – darf nur nicht glauben, daß mit der Kenntnisnahme des Satzes seine eigene Selbstwerdung erledigt sei.582 Gabriel hebt als Kennzeichen der indirekten Mitteilung Kierkegaards hervor, er „meinte etwas anderes, als er sagte“583 . Diesbezüglich ist jedoch auf die Pluralität der Darstellungsformen der indirekten Mitteilung hinzuweisen und auf die damit einhergehende Varianz ihrer Funktionen. Ohne den Anspruch zu erheben, einen genuinen Beitrag zur weiteren Erforschung von Kierkegaards indirekter Mitteilung zu leisten,584 seien an dieser Stellen deshalb einige klärende Unterscheidungen angebracht. Die Ironie, auf die später genauer eingegangen wird, ist nur eine Form der indirekten Mitteilung: Hier meint Kierkegaard tatsächlich etwas anderes, als er sagt (sofern wir das, was ein Autor ‚wirklich meint‘, bestimmen können). Dies geschieht nicht nur auf der Satzebene und ist auch nicht nur durch die pseudonymen Verfasser- oder Herausgeberpersönlichkeiten motiviert:585 Rückblickend bezeichnet Kierkegaard die ganze Schrift Entweder –
580 Ebd. 581 SKS 11, 117 / KT, 3. 582 Diese Problematik begegnet auch in Platons Dialogen. Praktisches Wissen ist dort nichts Unsagbares, im Gegenteil, es ist häufig Gegenstand der Untersuchung; jedoch besteht kein Zweifel daran, daß es nicht dadurch erworben wird, daß man Sätze als wahr anerkennt, sondern indem man es einübt: Tugendhaft wird man in Handlungssituationen, nicht im Gespräch. Vgl. Wolfgang Wieland, „Platons Schriftkritik und die Grenzen der Mitteilbarkeit“, in Romantik. Literatur und Philosophie. Internationale Beiträge zur Poetik, hg. von Volker Bohn, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987, S. 24–44, bes. S. 36, S. 37. 583 Gabriel, Zwischen Logik und Literatur, a. a. O., S. 45. 584 Hierfür sei auf die Arbeit Philipp Schwabs hingewiesen, die bislang umfassendste Untersuchung über die Funktion der indirekten Mitteilung in Kierkegaards Gesamtwerk: Philipp Schwab, Der Rückstoß der Methode. Kierkegaard und die indirekte Mitteilung, Berlin und Boston: De Gruyter 2012. 585 Die „Entstehung eines Zweitsinns durch das Scheitern des Erstsinns“ kann auch durch die Interaktion der pseudonymen Verfasser- und Herausgeberstimmen bewirkt werden, wenn diese einander innerhalb eines Werkes widersprechen (Intrapseudonymität wie in dem Verhältnis von
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Oder als Ironie, nämlich als strategischen ersten Schritt in dem Vorhaben, seine sensationslustigen Zeitgenossen mit einer ästhetisch reizvollen und inhaltlich provokativen Schrift zu ködern (man denke an eine der spannnendsten Mikroerzählungen in Entweder – Oder, das Tagebuch des Verführers) und so in eine hintergründige existentielle Auseinandersetzung „hineintäuschen“ zu können.586 Ein weiterer entscheidender Aspekt der indirekten Mitteilung, der bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren hat, ist ihre Performanz.
4.1.2 Performanz In Form der indirekten Mitteilung trifft Kierkegaard nicht nur (ironische) Aussagen, er vollzieht auch Handlungen. Diese können wie im Falle der Ironie in der Täuschung oder Verwirrung des Lesers bestehen (wenn Kierkegaard etwas anderes sagt, als er meint). Manchmal meint Kierkegaard jedoch genau das, was er sagt, und er zeigt dies auch; er unterstützt seine Aussagen performativ, d.h. das, was er direkt aussagt, wird noch einmal indirekt mitgeteilt. Wenn z.B. in den Schriften Die Wiederholung und Vorworte der ineffabile Charakter des Besonderen thematisiert wird, so veranschaulicht eine Kette von Metaphern und Vergleichen die Unmöglichkeit, den Gegenstand begrifflich ‚auf den Punkt‘ zu bringen (vgl. Kapitel 4.3.3). Auch die Zurücknahme der Mitteilung, das Widerrufen der Aussagen, wie es z.B. Climacus gegen Ende der Nachschrift und der Philosophischen Brocken vornimmt, ist eine performative Demonstration dessen, was diese Schriften direkt mitteilen: Philosophische Werke sind entgegen dem Philosophieverständnis des 19. Jahrhunderts nicht abschließbar und können keinen Anspruch auf Vollendung und absolute Gültigkeit erheben. Da Philosophie es im Verständnis Kierkegaards mit der Existenz als einer Aufgabe zu tun hat, die jeder für sich selbst lösen muß, vermag die Philosophie nur auf letztere aufmerksam zu machen und sie anzuregen, nicht jedoch, fertige Antworten zu präsentieren. Aus diesem Grund, so Kierkegaard, „muß alle Mitteilung durch eine doppelte Reflexion hindurch gehen, die erste ist die, in der sie mitgeteilt wird, die zweite ist die, in der sie zurückgenommen wird“587 . Dies gilt nicht nur für einzelne Aussagen, sondern auch für ganze Werke; und Formen, die für die Philosophie untypisch sind, eignen
Gerichtsrat William und dem Ästhetiker in Entweder – Oder) oder werkübergreifende Ergänzungen vornehmen (Interpseudonymität; z.B. bemerkt Climacus in der Nachschrift, Williams Ausführungen über die Ehe seien nicht schlüssig); vgl. Schmidt, Vielstimmige Rede vom Unsagbaren, a. a. O., S. 6, S. 129, S. 159. 586 SKS 16, 35 / GWS, 48. 587 SKS 27, 397 / Kierkegaard, Dialektik, a. a. O., S. 27.
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sich vorzüglich für eine derartige Widerrufung. In der Nachschrift verweist Climacus auf die Wiederholungsschrift seines pseudonymen Kollegen als Beispiel für eine derartige Strategie: Denn dadurch, daß die Mitteilung in Form des Experiments geschieht, formt sie sich selbst in einen Widerstand, und das Experiment befestigt eine bodenlose Tiefe zwischen dem Verfasser und dem Leser und setzt die Geschiedenheit der Innerlichkeit zwischen sie, so daß das direkte Verständnis unmöglich gemacht ist. Das Experiment ist die bewußte, Schabernack spielende Zurücknahme der Mitteilung, was für einen Existierenden, der für Existierende schreibt, immer von Wichtigkeit ist, damit das Verhältnis nicht in das eines Plapperers verwandelt wird, der für Plapperer schreibt.588
Experimentierende Genreanwendungen, Gattungsüberschreitungen und Fragmentarisierungen demonstrieren eine Alternative zur „Systemsucht“589 der HegelEpigonen, vermögen sie doch „mit ihrer nicht-diskursiven Struktur Aspekte des Offenen, Nicht-Fixierten, Unbestimmten, Facetten- und Prozeßhaften in ausgezeichneter Weise darzustellen“590 . Literarische Darstellungsformen mit performativer Funktion finden sich bei Kierkegaard aber nicht nur auf Text-, sondern auch auf Satzebene: Wie Kapitel 4.4.3 zeigt, dienen spannungsreiche Bildlichkeit und Katachresen weniger als Dekorum denn als Mittel der Irritation des Lesers – sie evozieren logische Widersprüche und provozieren so selbstreflexive Verstehensprozesse. Der Begriff der Performanz, der hier vorerst in der Bedeutung ‚Handlung‘, ‚Demonstration‘ und ‚Zeigen‘ verwendet wurde, bedarf ob seiner heterogenen Verwendung in unterschiedlichen Disziplinen einer ausführlichen Klärung. In der Sprachwissenschaft dient Performativität zur Kennzeichnung derjenigen Sprechakte, die eine Handlung vollziehen,591 in der Kunstwissenschaft zur Beschreibung der Prozeßhaftigkeit (anstelle des Werkcharakters) vor allem der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts,592 und in der Theaterwissenschaft verweist er auf
588 SKS 7, 239 / AUN1, 258. 589 So Schleiermachers prägnante Formulierung in Schleiermacher, Ueber die Religion, a. a. O., S. 207 und S. 272. 590 Schildknecht, „‚Ein seltsam wunderbarer Anstrich‘?“, a. a. O., S. 37. Wie Lorentzen zeigt, fußt die Widerrufung der Aussagen in der Nachschrift auch auf der Vorstellung, daß es keine Analogie gebe, in der die paradoxe Religiosität angemessen und abschließend ausgedrückt werden könnte; Lorentzen, Kierkegaard’s Metaphors, a. a. O., S. 145; vgl. SKS 7, 515 / AUN2, 278f. 591 Vgl. John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte. 1955 gehaltene, 1962 posthum veröffentlichte Vorlesungen über How to do Things With Words, deutsche Bearbeitung von Eike von Savigny, Stuttgart: Reclam 1979, S. 29. 592 Vgl. Dieter Mersch: „Die Grundlage von Kunst bildet jetzt der Akt, die Handlung: Einfache Vorgänge, die sich durch Verben notieren lassen, die wiederum Ereignisse beschreiben. Nichts
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die Schwerpunktverlagerung von text- zu aufführungszentrierten Konzepten.593 In den Kulturwissenschaften schließlich bezeichnet der performative turn den Wandel der Auffassung von Kultur als ‚Text‘ zu ihrer Interpretation als ‚Inszenierung‘.594 Poststrukturalistische Theorien differenzieren zwischen Performativität und Performanz: Während Performativität die Vorstellung eines autonomen Handlungssubjektes verneint und an dessen Stelle den Regelapparat eines konventionellen Zeichensystems setzt, beinhaltet das Konzept der Performanz die Prämisse eines intentional agierenden Subjekts.595 Die folgenden Überlegungen schließen sich deshalb dem Sprachgebrauch aktueller Forschungen zu nichtpropositionalen Darstellungsformen in der nachkantischen Philosophie an und verwenden den Begriff Performanz. Dieser bezeichnet in dem genannten Kontext nicht nur die Handlung, die der Autor vollzieht, sondern auch die Handlung, zu welcher der Leser resp. Hörer durch die Lektüre angeregt werden soll. So kürt Brady Bowman „das performative Element, die Absicht, eine (selbstreferentielle) Denk-Handlung auf Seiten des Lesers zu veranlassen“ zu einem der „hervorstechendsten Merkmale der vielfältigen Darstellungsformen der deutschen Philosophie nach Kant“.596 Die im folgenden analysierten performativen Eigenschaften der Schriften Kierkegaards, die vor allem durch Literarizität bewirkt werden, sind im Kontext einer performativen Philosophie zu verstehen, die prominente Vorläufer in dem Werk J. G. Fichtes, aber auch Hegels vorweisen kann.597
anderes bedeutet Performativität. Das Performative betrifft den Vollzug, seine Zeitlichkeit, das Ereignis der Setzung“; Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 217 (Kursivierung getilgt). 593 Vgl. Erika Fischer-Lichte und Jens Roselt, „Attraktion des Augenblicks. Aufführung, Performance, performativ und Performativität als theaterwissenschaftliche Begriffe“, Paragrana 10.1, 2001, S. 237–253. 594 Vgl. Erika Fischer-Lichte, „Vom Text zur ‚Performance‘. Der ‚performative turn‘ in den Kulturwissenschaften“, in Schnittstelle: Medien und Kulturwissenschaften, hg. von Georg Stanitzek und Wilhelm Voßkamp, Köln: Dumont 2001, S. 111–115. Eine Übersicht über die Verwendung von ‚Performativität‘ in der Theaterwissenschaft und deren Übertragung in die Kulturwissenschaften bietet Andreas Kotte, Theaterwissenschaft. Eine Einführung, Köln: Böhlau 2005, S. 145–154. 595 Vgl. Andreas Hetzel, „Performanz, Performativität“, in Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 1–11, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992–2014, Bd. 10, S. 839–862, S. 840. 596 Brady Bowman, „Einleitung“, in Darstellung und Erkenntnis. Beiträge zur Rolle nichtpropositionaler Erkenntnisformen in der deutschen Philosophie und Literatur nach Kant, hg. von dems., Paderborn: Mentis 2007, S. 9–30, S. 13. 597 „Tathandlung und Genese bestimmen“, so Christoph Asmuth, „nicht nur den Inhalt der Wissenschaftslehren Fichtes, sondern auch die Form ihrer Darstellung“; Christoph Asmuth, „Tun, Hören, Sagen. Performanz und Diskursivität bei J.G. Fichte“, in Darstellung und Erkenntnis. Beiträge zur Rolle nichtpropositionaler Erkenntnisformen in der deutschen Philosophie und Literatur
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Auch wenn sich keine explizite Formulierung einer performativen Philosophie bei Kierkegaard findet, so hat doch vor allem die Schrift Die Wiederholung als Grundlage und Inspirationsquelle für derartige theoretische Reflexionen gesorgt, z.B. basiert Jacques Derridas Theatralik einer Schreibweise, die auf der Unaufhebbarkeit des Singulären insistiert, auf Kierkegaards Konzept der Wiederholung.598 Poststrukturalistische Literaturtheorien verstehen die Wiederholung auch als Auflösung der Autorintentionalität in einen unendlichen Regreß von Signifikanten; sie suggerieren, wir hätten es mit Derridaschen „Schreibmaschinen“ und „Verschiebungsautomaten“ zu tun.599 Demgegenüber wird in dieser Arbeit an der Intentionalität der Kierkegaardschen Schriften festgehalten – jedoch ist dabei der Begriff ‚Intentionalität‘ weit gefaßt: Er beruht auf der Annahme einer philosophischen Funktion der Signifikantenketten, des Metaphorischen, der Widersprüche, Widerrufungen und Wiederholungen – es wird eine gezielte Erzeugung von Bewegung vorausgesetzt. Diese hat Gilles Deleuze dazu veranlaßt, Kierkegaard als Revolutionär der Philosophie zu sehen: Kierkegaard und Nietzsche gehören zu denjenigen, die die Philosophie um neue Ausdrucksmittel bereichern. . . Was nun in ihrem gesamten Werk verhandelt wird, ist die Bewegung. He-
nach Kant, hg. von Brady Bowman, Paderborn: Mentis 2007, S. 76–93, S. 86. Auch Hegel setzt Performanz bewußt ein: „Insofern nun der Satz ‚Sein und Nichts ist dasselbe‘ die Identität dieser Bestimmungen ausspricht, aber in der Tat ebenso sie beide als unterschieden enthält, widerspricht er sich in sich selbst und löst sich auf. Halten wir dies näher fest, so ist also hier ein Satz gesetzt, der, näher betrachtet, die Bewegung hat, durch sich selbst zu verschwinden. Damit geschieht an ihm selbst das, was seinen eigentlichen Inhalt ausmachen soll, nämlich das Werden. Der Satz enthält somit das Resultat, es ist dieses an sich selbst. Der Umstand aber, auf den hier aufmerksam zu machen ist, ist der Mangel, daß das Resultat nicht selbst im Satze ausgedrückt ist; es ist eine äußere Reflexion, welche es in ihm erkennt.“ Hegel, Wissenschaft der Logik I, a. a. O., S. 93; vgl. Brady Bowman, „‚Werden der Wissenschaft‘. Gehalt und methodisches Ideal der Hegelschen Darstellungsform“, in Darstellung und Erkenntnis. Beiträge zur Rolle nichtpropositionaler Erkenntnisformen in der deutschen Philosophie und Literatur nach Kant, hg. von dems., Paderborn: Mentis 2007, S. 271–282, S. 274. Kierkegaard hat die Performanz von Hegels Logik und die Ähnlichkeiten zu seiner eigenen performativen Philosophie nicht wahrgenommen. 598 Zur Bedeutung der Schrift für den Poststrukturalismus siehe Samuel Weber, „‚Einmal ist Keinmal‘. Das Wiederholbare und das Singuläre“, in Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, hg. von Gerhard Neumann, Stuttgart und Weimar: Metzler 1997, S. 434– 448. 599 Klaus Müller-Wille, „Theorie als Performanz. Einleitende Bemerkungen zum Versuch, das Singuläre noch einmal zu denken“, in Wunsch–Maschine–Wiederholung, hg. von Klaus MüllerWille, Detlef Roth und Jörg Wiesel, Freiburg im Br.: Rombach 2002, S. 11–29, S. 14; Barbara Sabel Bucher, „Poetik der Wiederholung: Søren Kierkegaards Gjentagelsen (1843)“, in Wunsch– Maschine–Wiederholung, hg. von Klaus Müller-Wille, Detlef Roth und Jörg Wiesel, Freiburg im Br.: Rombach 2002, S. 47–62, S. 56.
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gel werfen sie vor, bei der falschen Bewegung, bei der abstrakten logischen Bewegung, d.h. bei der ‚Vermittlung‘ stehenzubleiben. . . Es genügt ihnen folglich nicht, bloß eine neue Repräsentation der Bewegung vorzulegen; die Repräsentation ist bereits Vermittlung. Es handelt sich im Gegenteil darum, im Werk eine Bewegung zu erzeugen, die den Geist außerhalb jeglicher Repräsentation zu erregen vermag; es handelt sich darum. . . die mittelbaren Repräsentationen durch direkte Zeichen zu ersetzen; Schwingungen, Rotationen. . . auszudenken, die den Geist direkt treffen. Dies ist die Idee eines Theatermanns, eines Regisseurs – seiner Zeit voraus. Gerade in diesem beginnt mit Kierkegaard und Nietzsche etwas völlig Neues.600
Die im folgenden behandelten Schriften Kierkegaards werden als zweifach performativ verstanden: Zum einen, sofern sie zeigen, was sie sagen (Philosophiekritik, die Unaufhebbarkeit des Besonderen etc.), zum anderen, sofern sie der gezielten Aktivierung des Lesers dienen. Diese Funktionen, das wird in den anschließenden Sektionen herausgearbeitet, sind vor dem Hintergrund einer Philosophie nach der Philosophie zu verstehen – einer facettenreichen Wieder-Holung der Philosophie.
4.2 Wiederholte Vorworte: Performative Kritik und das Darstellungsproblem der Philosophie Im Unterschied zu der Paragraphenwucht der Nachschrift kommt die Vorwortsammlung leichtfüßig daher: als „Unterhaltungslektüre für einzelne Stände je nach Zeit und Gelegenheit“601 , als „heiteres Büchlein“602 , kurzum: als Literatur. Die 1844 veröffentlichte Sammlung besteht aus insgesamt neun Vorworten, von denen das erste den Rahmen zu acht folgenden separaten Vorworten bildet.603 Autor und Herausgeber ist Nikolaus Notabene, ein Pseudonym, das vorerst – gemessen an dem üblicherweise der Zerstreuung dienenden Genre Morskabslæsning – unpassend zu sein scheint. Notabene begründet seine Motivation, statt philosophischer Abhandlungen nur noch Vorworte zu veröffentlichen, aus einem
600 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, aus dem Französischen von Joseph Vogl, München: Fink 1997, S. 24; vgl. Müller-Wille, „Theorie als Performanz“, a. a. O., S. 23. 601 So der Untertitel; vgl. dänisch Forord. Morskabslæsning for enkelte Stænder efter Tid og Leilighed af Nicolaus Notabene. Zur Popularität des Genres Morskabslæsning in Dänemark zu Anfang des 19. Jahrhunderts siehe Kjældgaard, „The Age of Miscellaneous Announcements“, a. a. O., S. 8. 602 So Climacus’ wohlwollendes Urteil in seinem „Blick auf ein gleichzeitiges Bemühen in der dänischen Literatur“, einem Appendix der Nachschrift. SKS 7, 245 / AUN1, 265. 603 Die Vorworte folgen der Tradition der Gattung und tragen keine Titel. Sie sind jedoch, bis auf das erste Vorwort, numeriert. Dies führt im folgenden zu der etwas prekären Beschreibungssituation, daß das Vorwort zu der Vorwortsammlung ‚erstes Vorwort‘ genannt wird, während das erste Vorwort der Sammlung als ‚Vorwort Nr. 1‘ bezeichnet wird.
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ehelichen Zwist; seine Frau fühle sich durch seine schriftstellerische Tätigkeit betrogen und habe ihm jede Arbeit an einem philosophischen Opus untersagt. Das bürgerliche Tableau täuscht jedoch, nur vordergründig haben wir es mit einem banalen Problem in ansonsten geregelten und harmonischen Verhältnissen zu tun. Vor der häuslichen Kulisse marschieren sämtliche Elemente der Philosophiekritik Kierkegaards auf, und die Lektüre gestaltet sich weniger unterhaltsam, als es der Untertitel suggeriert. Schon durch die ungewöhnliche Textgestalt – neun Prätexte ohne Haupttext – ist für die Irritation des Lesers gesorgt. Wie die Nachschrift baut die Vorwortsammlung hermeneutische Hindernisse auf. Gleich zu Anfang bereitet Derridas „teuflisch einfache Frage“, was Vorworte tun,604 besondere Schwierigkeiten: Gemäß der von Gérard Genette entwickelten Kategorisierung haben wir es entweder mit einem Prätext und einem wie auch immer zu beschreibenden Textkorpus zu tun – dann wäre das erste Vorwort als ein fiktives (Notabene ist eine von Kierkegaard entworfene Autorrolle), auktoriales (Notabene gibt an, Autor der Sammlung zu sein), auch aktoriales Vorwort (Notabene erscheint in einigen Texten als handelnde Person) zu klassifizieren,605 dem die anderen Vorworte als Sinneinheit folgen. Robert L. Perkins scheint diese Lesart zu vertreten, wenn er Vorworte als einen „geschickt getarnten“ Bildungsroman versteht.606 Seiner These, daß Notabene eine intellektuelle Entwicklung durchlaufe und am Ende ein revidiertes Philosophieverständnis zeige, ist jedoch nur bedingt zuzustimmen, zeigt sich dieses Philosophieverständnis doch bereits in dem ersten Vorwort klar und deutlich. Zudem sind die Vorworte jeweils in sich semantisch geschlossen und durch nichts weiter verbunden als durch die Erzählerstimme, von der im ersten Vorwort lediglich versichert wird, daß sie dieselbe sei – sie erscheint jedoch, wie gleich zu zeigen ist, als äußerst polyphon. Eine weitere Möglichkeit der Kategorisierung in der Folge Genettes besteht darin, Vorworte als eine Reihe autologischer und emanzipierter Vorworte aufzufassen. Genette unterscheidet jedoch nicht ausdrücklich zwischen dem autologischen Vorwort als „Vorwort über Vorworte“607 und dem alleinstehenden Vorwort anderen Inhalts. Im Fall von Notabenes Vorwortsammlung ist allein das erste Vorwort autologisch gemäß der Definition; es thematisiert sowohl die Gattung des
604 Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, mit einem Vorwort von Harald Weinrich, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 190; vgl. Jacques Derrida, La Dissémination, Paris: Éditions du Seuil 1972, S. 14. 605 Genette, Paratexte, a. a. O., S. 174–176. 606 Robert L. Perkins, „Reading Kierkegaard’s Prefaces with ‘Continual Reference to Socrates’“, in Prefaces and Writing Sampler, hg. von dems., Macon, Georgia: Mercer University Press 2006 (International Kierkegaard Commentary, Bd. 9), S. 111–138, S. 111, S. 112. 607 Genette, Paratexte, a. a. O., S. 227.
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Prätextes als auch das Verfassen speziell dieses Vorwortes. Die weiteren Vorworte sind nicht selbstreflexiv, aber sie sind ob ihrer Deklaration als Vorworte bei gleichzeitigem Fehlen eines Haupttextes und fehlenden Bezügen zueinander trotzdem als emanzipiert zu bezeichnen. Notabene spricht sogar selbst von einer Emanzipation der Vorwort-Gattung. Wenn er dem Vorwort attestiert, es habe „in der neueren Wissenschaft“ den „Todesstoß“ empfangen608 , dann rekurriert er implizit auf Hegels Vorrede zur Phänomenologie des Geistes. Hegel charakterisiert dort Prätexte generell als unphilosophisch: Eine Erklärung, wie sie einer Schrift in einer Vorrede nach der Gewohnheit vorausgeschickt wird. . . scheint bei einer philosophischen Schrift nicht nur überflüssig, sondern um der Natur der Sache willen sogar unpassend und zweckwidrig zu sein. Denn wie und was von Philosophie in einer Vorrede zu sagen schicklich wäre – etwa eine historische Angabe der Tendenz und des Standpunkts, des allgemeinen Inhalts und der Resultate, eine Verbindung von hin und her sprechenden Behauptungen und Versicherungen über das Wahre –, kann nicht für die Art und Weise gelten, in der die philosophische Wahrheit darzustellen sei.609
Auch persönliche Angaben des Autors gelten Hegel als unphilosophisch, denn der Verfasser sei unwesentlich; an ihm zeige sich nur die „Zufälligkeit der Person“, über die sich der mit Notwendigkeit entwickelnde Weltgeist Ausdruck verschaffe.610 Hegels Tilgung des Vorwortes aus dem philosophischen Textkorpus und die Verbannung der Persönlichkeit des Autors aus der Philosophie entspricht seiner Absichtserklärung, „daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näherkomme – dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein“.611
608 SKS 4, 468 / V, 174. 609 Hegel, Phänomenologie, a. a. O., S. 11. Notabene bezieht sich auch auf Hegels Wissenschaft der Logik. Seine polemische Schlußfolgerung, „wenn man das Buch mit der Sache beginnt und das System mit Nichts, so bleibt ersichtlich nichts übrig, was man in der Vorrede sagen könnte“ (SKS 4, 468 / V, 174), verweist auf den Beginn der Logik, in der Hegel fordert, mit der „Sache selbst“ zu beginnen, welche er als „das reine Sein“, das mit dem Nichts eine Einheit bilde, bestimmt; vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik I, a. a. O., S. 35; vgl. die Anmerkung Hirschs in V, 272 (Anm. 293). Die philosophische Wahrheit, so Hegel, könne generell nicht vorweg als Ergebnis präsentiert werden, denn um dieses verstehen zu können, sei der Gang durch das philosophische System unverzichtbar; vgl. McDonald, „Retracing the Circular Ruins of Hegel’s Encyclopedia“, a. a. O., S. 229. Daß Hegels Begründung eigentlich auf einem Philosophieverständnis beruht, welches Leserorientierung und Prozessualität der Philosophie einschließt – der Leser lernt erst durch den Prozeß des Lesens das System zu verstehen, weswegen eine Vorwegnahme der Ergebnisse in einem Vorwort sich erübrigt –, berücksichtigt Notabene nicht. 610 Hegel, Phänomenologie, a. a. O., S. 14. 611 Ebd.
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In diesem Kontext stellt Notabenes Vorwortsammlung nicht nur die Verlegenheitslösung eines konfliktscheuen Ehemannes dar, dessen schriftstellerische Erzeugnisse von der Gattin verbrannt werden, sobald sie die Gestalt eines Paragraphen annehmen.612 Forord ist gleichzeitig eine dezidierte Reaktion auf die Entwicklung der Philosophie im 19. Jahrhundert. „Die neueste wissenschaftliche Methode“, so Notabene gleich im ersten Vorwort, „hat mich drauf aufmerksam gemacht, daß es zu einem Bruch kommen mußte; mein Verdienst ist es, die Sache mit dem Bruch ernst zu nehmen“, und da das Vorwort verstoßen worden sei, sei es „hohe Zeit, daß es sich wie alles andere emanzipiere“613 . Das klingt geradezu avantgardistisch, denn laut Genette steht die vollständige und ernsthafte Emanzipation des Vorwortes immer noch aus, auch könne sie „in jedem Fall nur ein Spiel oder eine Herausforderung sein“614 . Im folgenden wird die Herausforderung angenommen. Es gilt zu untersuchen, was es mit Notabenes emanzipierten Vorworten auf sich hat. Die Probleme, die literaturwissenschaftliche Klassifizierungen in diesem Fall bereiten, dienen als Ausgangspunkt für die Untersuchung der Funktion der Vorwortsammlung. Dabei soll nicht verschwiegen werden, daß letztere auch mit der Absicht konzipiert worden sein mag, den dänischen Literaturbetrieb zu desavouieren. Stewart rückt den biographischen Kontext Kierkegaards in den Vordergrund seiner Interpretation der Vorwortsammlung: Diese sei der unverhohlenste Angriff auf Heiberg in Kierkegaards Gesamtwerk, eine persönliche Revanche für dessen abschätzige Rezensionen von Entweder – Oder und der Wiederholung.615 Laut Stewart dient das argumentum ad hominum ausschließlich dem Ziel eines polemischen Amüsements: „Was auch immer es [Forord, B.-L.] sein mag, es kann nicht als gehaltvolle philosophische Stellungnahme oder Kritik aufgefaßt werden.“616 Stewart zieht dieses Fazit in Hinblick auf seine Hauptthese einer Differenz von Kierkegaards vermeintlicher Kritik der Philosophie Hegels und der Polemik gegenüber dessen dänischen Epigonen. Auch wenn dem zuzustimmen ist, darf dabei nicht die
612 SKS 4, 472 / V, 179. 613 SKS 4, 468 / V, 174; vgl. Kjældgaard, „The Age of Miscellaneous Announcements“, a. a. O., S. 8–15. Daß Notabene keine explizite Diskussion der Position Hegels zu der Gattung des philosophischen Vorwortes unternimmt, bestätigt Stewarts These: Die Anspielungen auf Hegels Philosophie, selektiv und meist implizit, dienen auch in Vorworte eher der Kritik eines unreflektierten Hegel-Epigonentums und nicht Hegels; vgl. Stewart, Kierkegaard’s Relations to Hegel Reconsidered, a. a. O., S. 420. 614 Genette, Paratexte, a. a. O., S. 227. 615 Stewart, Kierkegaard’s Relations to Hegel Reconsidered, a. a. O., S. 422. 616 Ebd., S. 446 (meine Übers.).
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Möglichkeit außer acht geraten, daß auch eine nicht ausschließlich an Hegel adressierte Polemik philosophische Relevanz haben kann. Dieser Möglichkeit soll im folgenden nachgegangen werden. In Erwiderung auf Genette gilt zudem zu zeigen: Auch wenn bzw. gerade weil die Vorwortsammlung spielerisch daherkommt, ist sie mehr als ein literarisches Spiel – sie nimmt eine entscheidende philosophische Funktion ein. Sie ist, so die zu entwickelnde These, performative Philosophiekritik und Demonstration eines Philosophierens, das die Konsequenzen aus dieser Kritik zieht. Dabei macht sie auch auf ein bis dahin vernachlässigtes Thema der Philosophie aufmerksam: das ihrer Darstellung.
4.2.1 Zuverlässig nur im Abbruch: Nikolaus Notabene Die Autorrolle von Nikolaus Notabene ist irritierend vielseitig. Nach der anfänglichen Beschreibung seiner aktuellen Lebenssituation als intellektueller Pantoffelheld unter der Fuchtel einer gewitzten Ehefrau werden die Bilder aus der bürgerlichen Stube seltener, und Notabenes Stimme oszilliert zwischen der Euphorie eines schriftstellernden Kleingeistes und der raffinierten Ignoranz eines modernen Sokrates. So beschreibt er noch im Vorwort Nr. 1 ohne offensichtliche Skepsis die Mechanismen des Buchmarktes und gewinnträchtige Publikationsstrategien, um im darauffolgenden Vorwort plötzlich die Hoffnung eines „lyrischen Dichters“ zu äußern, daß fernab vom Publikumsrummel „insgeheim ein Leser sitze, welcher ihm eine herzliche Aufnahme bereitet. . . und mit dem Verfasser im Verborgenen redet“617 . Ähnliche Dissonanzen bestehen zwischen Vorwort Nr. 5 und Nr. 6: Im Vorwort Nr. 5 schwelgt Notabene geradezu in Gedanken über die Nützlichkeit und Notwendigkeit des Vereinswesens. Im darauffolgenden Vorwort dagegen wirkt seine Naivität schon weniger glaubwürdig, wenn er ausführt, „dem Gebildeten hingegen ist es wahrlich zu wenig, mit einem einzelnen Menschen zu tun zu haben, selbst dann, wenn dieser Mensch er selber wäre“618 . Die Persönlichkeit Notabenes, so scheint es, läßt sich nicht eindeutig bestimmen. Vordergründig mag dies der werkgeschichtlichen Tatsache geschuldet sein, daß Kierkegaard bereits vorliegende Vorworte verwendet hat.619 Gemessen an der
617 SKS 4, 479 / V, 187. 618 SKS 4, 494 / V, 204. 619 Wie Stewart nachweist, hat Kierkegaard bei der Gestaltung der Vorwortsammlung auf bereits vorhandene Texteinheiten zurückgreifen können. So sollte das erste der Vorworte ursprünglich als Satire auf Heiberg in der Neujahrszeit 1844 erscheinen, und das siebente Vorwort war von Kierkegaard anfänglich als Vorwort zu Der Begriff Angst geplant; vgl. Stewart, Kierkegaard’s Relations to Hegel Reconsidered, a. a. O., S. 419.
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kunstvollen Ausgestaltung der anderen pseudonymen Autorpersönlichkeiten wäre es jedoch ein leichtes für ihn gewesen, auch Notabene eine einheitlichere Stimme zu verleihen. Die Ambiguität der fiktiven Verfasseridentität ist jedoch in dem größeren Kontext von Kierkegaards performativer Philosophiekritik zu verstehen, welche die Suggestion des spekulativen Textes sprengt, eindeutig, notwendig und in sich geschlossen zu sein. Sussmans These, die narrativen Strukturen der Schriften Kierkegaards injizierten „ein Element der Unzuverlässigkeit in einen philosophischen Diskurs, welcher im Stile Hegels oft die Objektivität eines universellen Wissens behauptet“,620 ist demnach auf die Rolle der Pseudonyme zu übertragen. Auch diese sind narrative Elemente, die wie im Fall Notabenes dazu dienen können, durch unzuverlässiges Sprechen die traditionelle Autorität des Verfassers zu destruieren. Zwar weist die Sprecherfigur Notabene eine erstaunliche Varianz charakterlicher wie intellektueller Eigenschaften auf, sie bleibt sich jedoch in einer Hinsicht treu: Das, was Notabene schreibt (oder gegen den Willen seiner Frau zu schreiben plant), kennzeichnet er als kontingent, vorläufig und unabgeschlossen. Diese Haltung demonstriert er in den Vorworten durch Gesten der Zurückhaltung, der Revision oder gar des Abbruchs. So betont Notabene im Vorwort Nr. 6, seine Schrift „erschrickt nicht über dem Gedanken, daß ihr Standpunkt vielleicht gar balde von einem neuen Standpunkt verdrängt werden wird“621 , und im Vorwort Nr. 7 übt er sich in Bescheidenheit angesichts der Bedeutung seines Schreibens: Wer dessen gewiß ist, daß ein jeder auf sich selber gewiesen ist, und daß dies die Hauptsache ist, er allein ist mein Leser; aber deshalb kann ich nicht mit Bestimmtheit wissen, ob er nicht schon weiter ist als ich. Mittlerweile glaube ich immerhin, daß es auf die eine oder andre Weise für einen solchen Bedeutung hat, zu lesen[,] was ich schreibe, während es mir, um es abermals zu wiederholen, natürlich niemals beikommen könnte, mich hinzusetzen und in die Wichtigkeit hineinzusteigern, als ob es um andrer willen notwendig wäre, daß ich ein Buch schriebe.622
Der Notabene des Vorwortes Nr. 5 dagegen ist wiederum so zufrieden mit seinem im ‚Verein für Branntweinabstinenz‘ gehaltenen Vortrag (für dessen Publikation
620 Sussman, The Hegelian Aftermath, a. a. O., S. 155 (meine Übers.). 621 SKS 4, 495 / V, 205. Die „erhabene Selbstverleugnung“ schwankt hier wiederum zwischen naiver Selbstzufriedenheit des bürgerlichen Hobbyschriftstellers und beißender Ironie. Letztere betrifft auch das sonst an keiner Stelle beteuerte „Streben zum Ganzen“, welches „billig denkende“ Rezensenten verstehen werden (SKS 4, 495f. / V, 205). 622 SKS 4, 505 / V, 215. Vgl. eine ähnliche Geste der Zurücknahme in dem Appendix zu der Nachschrift, wo Climacus betont, die „ganze Schrift handelt in der Abseitigkeit des Experiments von mir selbst, einzig und allein von mir selbst. . . wie werde ich ein Christ?“ Das Buch sei daher „ganz und gar überflüssig“; SKS 7, 560 / AUN2, 331.
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er ein Vorwort verfaßt), daß er seinen Schreibfluß bremsen muß mit den Worten „ich breche mein Vorwort ab; der Gedanke an unsre Gesellschaft und ihre Bestrebung reißt mich alsogleich hin“623 . Ein derartiger Gestus des abrupten Endes, das keinen Abschluß eines Gedankenganges, gar eines Systems, beansprucht, stellt eine provozierend profane Erwiderung auf den hegelianischen Vollendungsgestus dar. In Vorwort Nr. 7 bezieht Notabene dann auch explizit Position gegen die allseits gefeierte Vollendung der Philosophie: „Wer mein Leser sein soll, muß mithin mit mir darin einig sein, daß die Wissenschaft in unsrer Zeit, wenn sie auch mit allem fertig ist, doch glücklicherweise die Pointe des Ganzen vergessen hat.“624
4.2.2 Dienst an der Philosophie: die Wiederholung des Kontingenten Die Pointe des Ganzen ist, das hat das 3. Kapitel ausführlich gezeigt, das Selbstverhältnis des einzelnen und nicht die Reflexion des Weltgeistes oder das Ende der Geschichte. Es gilt, sich selbst zu verstehen, so Notabene im Vorwort Nr. 7, und man komme bei diesem Unterfangen „langsamer voran und zugleich mit ziemlicher Beschwer“625 . Da Notabene wie Climacus das je individuelle Selbstverständnis als transzendentale Bedingung jeglichen Verstehens begreift,626 zeigt er sich skeptisch ob der Popularität der Philosophie, denn „wie bei einem vollen Orchester tönt es aus aller Munde: ‚Philosophie ist die Forderung der Zeit‘“627 . Dem vermeintlich einfältigen Notabene sind die Kundgebungen seiner Zeitgenossen, sich erfolgreich und abschließend mit der spekulativen Philosophie auseinandergesetzt zu haben, rätselhaft: So erfreulich es auch ist, die Philosophie rings im Lande sich ausbreiten zu sehen, so daß man bald keinen Menschen mehr findet, der nicht von ihrem Geist berührt. . . wäre, so hat gleichwohl diese Freude nicht vermocht, bei mir den Zweifel zu besiegen, ob wirklich alle die Vielen. . . verstehen, was gesagt worden ist, und was sie selbst gesagt haben.628
Es wirkt zu schön, um wahr zu sein, und so hegt Notabene dann auch den Verdacht, daß es schlichtweg an diplomatischem Geschick liege, daß niemand sein Unverständnis eingestehe; die Menschen seien so weltklug, es nicht zu verraten,
623 SKS 4, 492 / V, 201. 624 SKS 4, 505 / V, 214. 625 SKS 4, 502 / V, 211. 626 Vgl. die Nachschrift, in der es heißt, sich selbst zu verstehen sei „eine absolute Bedingung für alles andere Verstehen.“ SKS 7, 283 / AUN2, 12. 627 SKS 4, 511 / V, 221. 628 SKS 4, 510 / V, 219f.
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wenn sie die Philosophie – und damit ist die spekulative Philosophie der HegelEpigonen gemeint – nicht verstünden. Notabene, der von sich beteuert, die Philosophie aufrichtig zu lieben,629 schmerzt es, sie so verleugnet zu sehen. Er wolle ihr daher zur Hilfe eilen: „Meine Absicht ist also, der Philosophie einen Dienst zu tun; meine Eignung dafür ist, daß ich so dumm bin, sie nicht zu verstehen, ja noch viel dümmer – so dumm, das zu verraten.“630 Das ist auch Notabenes Motivation für die Publikation einer philosophischen Zeitschrift, als deren Programm er das Vorwort Nr. 8 schreibt. Es ist vor allem dieses umfangreiche Vorwort, das die Tölpelhaftigkeit der vorigen Texte der Sammlung in einem anderen Licht erscheinen läßt: Notabene mag ein angepaßter Ehemann sein, aber er ist ein Philosoph im ursprünglichen Sinne des Wortes. Er scheut nicht die Beschwerden einer Wahrheitssuche, mutig wählt er sein eigenes Unverständnis zum Ausgangspunkt, und dadurch, daß er die Suche in einer Zeitschrift beschreiben will, beteiligt er sogar die Öffentlichkeit. Notabene, daran läßt das Vorwort Nr. 8 keinen Zweifel mehr, ist ein moderner Sokrates. Die „unfaßbare Dummheit“631 seiner vorigen Äußerungen wie die, daß er zu der „chaotischen Masse“ gehöre, an dem die Gebildeten eine „organisierende Wirkung“ übten632 – ein Seitenhieb auf Heibergs elitären Bildungsbegriff –, entpuppt sich vor diesem Hintergrund als Ironie. Notabene kehrt die Stoßrichtung um: Es ist nicht der Gebildete, der die Einfältigen zu sich emporzieht, sondern umgekehrt. Es ist der einfältige Einzelne, der die Masse der vermeintlich Gebildeten zum wahren Philosophieren anregt, wenn er von seinen Zeitgenossen eine Erklärung dessen fordert, was er nicht versteht: Die Hegelische Philosophie hat jetzt hier bei uns mehrere Jahre geblüht. Wenn nun diese Philosophie, nachdem sie alles andre erklärt hat, einen Schritt weiter tut und sich selber erklärt, welch eine schöne Aussicht. . . Ich leugne mithin nicht, daß Hegel alles erklärt hat. . . Ich bleibe auf festem Boden und sage: ich habe Hegels Erklärung nicht verstanden.633
629 „Die Philosophie liebe ich, die Philosophie habe ich geliebt von meiner frühen Jugend auf.“ SKS 4, 512 / V, 223. Notabene reaktiviert damit die Bedeutung der philosophia als Wahrheitsliebe, welche er gegen soziale Klugkeitsregeln ebenso wie gegen die Spekulation als Modeerscheinung in Opposition bringt. 630 SKS 4, 512 / V, 222. 631 So Stephen Crites, „The Unfathomable Stupidity of Nicolaus Notabene“, in Prefaces and Writing Sampler, hg. von Robert L. Perkins, Macon, Georgia: Mercer University Press 2006 (International Kierkegaard Commentary, Bd. 9), S. 29–40. 632 SKS 4, 519 / V, 230. 633 SKS 4, 516f. / V, 227.
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Auch wenn Hegel in diesem Fall namentlich erwähnt wird, dient er eher als Repräsentant des dänischen Hegelianismus und nicht seiner eigenen Philosophie. Notabene wendet sich gegen die dänischen Hegel-Epigonen, indem er Hegels Philosophie ernster nimmt, als diese es tun. Schließlich betont Hegel im Vorwort zur Phänomenologie des Geistes, Philosophie als Wissenschaft geschehe auf dem Boden eines „reine[n] Selbsterkennen[s] im absoluten Anderssein“ – als solches ließe sich auch die Auseinandersetzung mit der „unwissenschaftlichen“ Person als dem ‚Anderen‘ der Wissenschaft auffassen. Gleichzeitig (und darauf scheint Notabene zu beharren) habe jedes Individuum das Recht, zu fordern, „daß die Wissenschaft ihm die Leiter wenigstens zu diesem Standpunkte reiche, ihm in ihm selbst denselben aufzeige.“634 Notabene inszeniert sich als ‚unwissenschaftliche‘ Person, die sich heroisch der zeitgenössischen Philosophie zur Verfügung stellt, und so wird er durch seine vermeintliche Simplizität auch seinem Vornamen – Nikolaus, Sieger des Volkes – gerecht.635 Auf seiner Einfältigkeit beharrend, die Leiter nicht fassen könnend, destruiert er indirekt Hegels Definition des Geistes, denn wäre Notabene implizit schon Geist, ließen sich seine hermeneutischen Probleme durch intensives ‚Nach-Denken‘ der spekulativen Philosophie aufheben. Notabenes demonstratives Scheitern des Versuches, die Bildungsstufen des allgemeinen Geistes zu durchlaufen, und seine daraus resultierende provokative Frage, ob er „kraft ihrer [der Dummheit] aufhöre, ein Mensch zu sein“636 , verweist auf Kierkegaards Geistdefinition als ausschließlich individuellen Geist und die damit verbundene Aufgabe der Selbstwerdung, und sie widerlegt den Totalitätsanspruch der Philosophie Hegels. Während Kierkegaard jedoch, trotz dessen Scheiterns, das Wagemutige und Neuartige von Hegels Projekt wertschätzt,637 trifft Hegelianer wie Heiberg die Polemik uneingeschränkt, repetieren sie doch, zumindest in der Darstellung Kierkegaards, unkritisch ein voreilig abgeschlossenes, unschlüssiges Systems des Geistes. Auch dies wird in der Vorwortsammlung auf performative Weise angegriffen: Heiberg hat in seiner Einführung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Philosophie oder die spekulative Logik betont, daß es Aufgabe der Einleitung sei, „in die Philosophie hineinzuführen, das heißt, das Denken aus der Region der Repräsentation, in welcher der Alltagsverstand
634 Hegel, Phänomenologie, a. a. O., S. 29, vgl. ebd., S. 31; vgl. Crites, „The Unfathomable Stupidity of Nicolaus Notabene“, a. a. O., S. 36f. 635 Viel Aufmerksamkeit hat der Name bislang nicht erhalten; so findet sich z.B. in der Übersicht über Kierkegaards Pseudonyme zu Nikolaus Notabene nur knapp vermerkt, er sei ein anonymer Verfasser ohne persönliches Anliegen (anonym forfatter uden personligt ærinde); Birgit Bertung, Paul Müller und Fritz Norlan (Hg.), Kierkegaard. Pseudonymitet, Kopenhagen: Reitzel 1993, S. 148. 636 SKS 4, 519 / V, 231. 637 SKS 7, 106 / AUN1, 103.
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sich bewegt, zu dem Punkt zu führen, wo der Begriff und mit ihm die Philosophie beginnt“638 . Prätexte wie Einleitungen und Vorworte fungieren laut Heiberg lediglich als Vorbereitungen auf die Philosophie, zählen selbst jedoch nicht zu dieser. Notabenes Unternehmen, nichts als Vorworte zu schreiben, ließe sich daher auch als hartnäckig wiederholter, jedesmal scheiternder Versuch interpretieren, den Bereich der Vorstellungen und des Alltäglichen hinter sich zu lassen und sich und seine Leser auf die Philosophie ‚vorzubereiten‘. Notabene kann trotz wiederholter Anläufe von dem Bereich des Alltäglichen – konstitutiv für die konkrete Existenz eines jeden – nicht abstrahieren; immer wieder wartet er mit Bemerkungen bezüglich seiner häuslichen Situation auf. Selbst unter der genannten Prämisse Perkins, daß Notabenes Denken eine Entwicklung durchlaufe und schließlich in dem Vorwort zu einer fiktiven philosophischen Zeitschrift gipfele, ist das, was Notabene dort als philosophisch bezeichnet – seine Zeitgenossen mit seiner Ignoranz zu konfrontieren –, diametral entgegengesetzt zu Heibergs Definition der Philosophie als abstraktem zeitlosen Denken. Es handele sich bei den Vorworten um eine „vorgetäuschte Bewegung“639 , so Notabene beiläufig – das heißt, es findet gerade keine Entwicklung statt, weder eine vom Tölpel zum Bildungsbürger noch eine vom Alltäglich-Konkrekten zum Abstrakt-Theoretischen. Die Reihe der Vorworte demonstriert daher ein wiederholtes Scheitern der Philosophie in der Nachfolge Hegels: Das Individuelle, Konkrete und Kontingente, so zeigt sie, läßt sich nicht abstreifen. Notabenes Pointe ist nun, daß dies gar nicht nötig sei – es läßt sich vielmehr gerade in Auseinandersetzung mit dem philosophieren, was die Philosophie des 19. Jahrhunderts als unphilosophisch auszuschließen sucht: „Durch etwas ganz Unbedeutendes, durch eine Kleinigkeit“ bekomme man Gelegenheit, das zu entdecken, was selbst der „sorgfältigen Beobachtung“ entfalle.640 Notabenes Projekt, nichts als Vorworte zu schreiben, welche „das Gepräge des Zufälligen ebenso wie Dialekte, Idiome, Provinzialismen“641 tragen, kann daher als ein weiterer
638 Johan Ludvig Heiberg, „Ledetraad ved Forlæsningerne over Philosophiens Philosophie eller den speculative Logik ved den kongelige militaire Høiskole“, 1831–1832, in Prosaiske Skrifter, Bd. 1–11, Kopenhagen: Reitzel 1861–1862, Bd. 1, S. 111–380, S. 113 (meine Übers.). Horne Kjældgaard versteht Vorworte als Persiflage einer Kultur der Paratextualität, welche wirkliches Philosophieren immer wieder aufschiebt. Als Repräsentant dieser Kultur sei vor allem Heiberg Zielscheibe der Kritik gewesen; vgl. Kjældgaard, „The Age of Miscellaneous Announcements“, a. a. O., S. 21, S. 23. 639 SKS 4, 469 / V, 175. 640 SKS 4, 467 / V, 173. 641 SKS 4, 467 / V, 173.
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Dienst für die Philosophie verstanden werden. Vorworte böten schließlich eine außerordentliche, bislang unterschätzte Möglichkeit der Erkenntnis: Man hat in der Wissenschaft überaus viel getan[,] um die Literatur zu ordnen und dem Werk jedes einzelnen Verfassers seinen Platz in der Gegenwart anzuweisen, und dem Werk der Gegenwart im Geschlecht; kein Mensch aber denkt daran, welchen Vorteil es hätte, wenn man den einen oder anderen Literaturbeflissenen dazu abrichten könnte, nichts als Vorreden zu lesen, dies aber so erschöpfend zu tun, daß er mit den allerfrühesten Zeiten begönne und fortführe durch alle Jahrhunderte hindurch bis hin zu unseren Tagen.642
Auch Notabenes Beschreibungen seines Ehelebens oder seiner bürgerlichen Geschäfte (z.B. die Vermietung eines Kellers) dienen der Strategie, dem Zufälligen als epistemischem Gegenstand Aufmerksamkeit – Notabene! – zukommen zu lassen. Zwar handelt es sich bei Notabene um eine fiktive Autorpersönlichkeit mit zudem widersprüchlichen Zügen, als Autor ist Notabene jedoch äußert präsent. Seine Sprecherhaltung (so stark diese auch variiert) und der Textinhalt sind sogar nicht voneinander zu trennen. Während Hegel betont, die Philosophie habe „das Zufällige zu entfernen“643 , und von einem philosophischen Text fordert, daß die vermeintlich kontigente Autorpersönlichkeit im Werk keine Spuren zu hinterlassen habe,644 zelebriert Notabene die individuelle Ausgangslage seines Denkens und Schreibens – auch oder gerade, wenn es sich wie im Vorwort Nr. 8 explizit um eine philosophische Zeitschrift handelt. Die Simulacra-Vorworte erheben demnach einen performativen Einspruch gegen die Vorstellung, ein philosophischer Text sei die notwendige Manifestation eines sich historisch entwickelnden überindividuellen Geistes. Sylviane Agacinski spricht diesbezüglich sogar von einer Revolte nicht nur des Vorwortes als Gattung, sondern auch des Autors: „Zusammen mit dem Vorwort – welches immer der Ort für die Rede des Autors über sich selbst gewesen ist – ist es auch der Autor als solcher (als schreibende Instanz), der sich auflehnt, der sich weigert, sich selbst aus dem Werk ausschließen zu lassen, der sich selbst zur Schau stellt und der darauf besteht, seinen Platz in dem Text zu markieren.“645 Beharrlich und immer wieder zieht der Verfasser der Vorworte
642 SKS 4, 467 / V, 173. 643 Die philosophische Betrachtung, so Hegel, habe „keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen. Zufälligkeit ist dasselbe wie äußerliche Notwendigkeit, d.h. eine Notwendigkeit, die auf Ursachen zurückgeht, die selbst nur äußerliche Umstände sind.“ Hegel, Die Vernunft in der Geschichte. Zweiter Entwurf: Die Philosophie der Weltgeschichte, a. a. O., S. 29. 644 Ders., Phänomenologie, a. a. O., S. 14. 645 Sylviane Agacinski, Aparté: Conceptions and Deaths of Søren Kierkegaard, Tallahassee, Florida: Florida State University Press 1988, S. 232 (meine Übers.).
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die Aufmerksamkeit auf sich, als Autor ist er nicht zu ignorieren, und auch das spiegelt sich in seinem Namen: Notabene! Die Vorwortsammlung ist mehr als Kierkegaards gekränktes argumentum ad Heiberg, und sie ist auch mehr als ein bloßes literarisches Spiel. Sie unternimmt die Wiederbelebung dessen, was im 19. Jahrhundert als unphilosophisch aus dem philosophischen Diskurs ausgeschlossen wird: des Kulturellen, Zufälligen, auch des Persönlichen. Daß Kierkegaard die Texte als Vorworte und nicht als Fragmente, Essays etc. tituliert, entspricht deren philosophischer Funktion: Das Vorwort ist nur ein Ort für all das, was die Philosophie gern neutralisierte, ausschlösse, begrenzte, aufhöbe – in Notabenes Worten: das Partikuläre, das Idiomatische, das Dialektische etc. In dieser Hinsicht ist die Emanzipation des Vorwortes in eine viel generellere Strategie eingeschrieben, welche darauf abzielt, eine bestimmte philosophische Ordnung anzufechten und zu unterminieren.646
4.2.3 Ob mangelnden Begriffs: Literarisierung der Philosophie Kierkegaards Vorwortsammlung demonstriert nicht nur un- bzw. vorsystematisches Denken, wenn Notabene seinen Gedanken die Form von Vorworten anstatt von systematischen Abhandlungen gibt. Die Sammlung macht auch auf die Schwierigkeit aufmerksam, den treffenden Begriff zu finden, und auf den damit einhergehenden semantischen Verlust. Dies betrifft bereits die Kategorisierung von Texten. Was ist eigentlich ein Vorwort? fragt Notabene in dem ersten Vorwort, in dem er den Gegenstand der Sammlung begrifflich zu bestimmen sucht. Statt einer eindeutigen Antwort vermag er jedoch nur mit einer Reihe von disparaten Vergleichen aufzuwarten: Ein Vorwort schreiben heißt gleichsam die Sense wetzen, gleichsam die Guitarre stimmen, gleichsam mit einem Kinde plaudern, gleichsam aus dem Fenster spucken. . . Ein Vorwort schreiben heißt gleichsam die Türglocke eines Mannes ziehen[,] um ihn zu foppen; gleichsam am Fenster einer jungen Maid vorbeigehen und das Pflaster begucken, es heißt gleichsam mit dem Stock Lufthiebe tun nach dem Winde, gleichsam den Hut schwenken, obschon man niemanden grüßt. Ein Vorwort schreiben heißt gleichsam etwas getan haben, das dazu berechtigt, eine gewisse Aufmerksamkeit zu beanspruchen, gleichsam etwas auf dem Gewissen haben, das die Verantwortlichkeit reizt.647
Ein tertium comparationis dieser unterschiedlichen Bestimmungen läßt sich nicht finden, und so stellt Notabenes „lyrische“ Bestimmung, ein Vorwort sei Stim-
646 Ebd., S. 233 (meine Übers.). 647 SKS 4, 469 / V, 175.
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mung,648 dann auch eine Zufluchtnahme bei dem Unbegrifflichen dar. Der Leser wird jedoch angeregt, aktiv zu werden und sich selbst auf die Suche nach Gemeinsamkeiten der genannten Vergleiche zu begeben. So avanciert bei Kierkegaard die literarische Gestaltung „zu einer Präsentationsform impliziten philosophischen Wissens und ethischen Denkens, das eine wesentlich subjektive Dimension erhält und erst in der aktiven Rezeption des Lesers oder Hörers zur Aussage kommt“649 . Dabei zeigt sich: Ein Vorwort zu schreiben wie zu lesen bedeutet zu handeln – an einer Haustür zu klingeln ebenso wie zu dieser zu eilen, um sie zu öffnen. Die Tat des Autors mag dem Leser nicht immer sinnvoll erscheinen, oftmals begegnet sie lediglich als Ärgernis. Die Semantik der Tat und des Ärgernisses ist jedoch konstitutiv für Kierkegaards Philosophie nach der Philosophie. Das werden die folgenden Sektionen detaillierter zeigen. Notabenes Akkumulation der Vergleiche zur Beschreibung der VorwortGattung bearbeitet ein Hauptthema der Philosophiekritik Kierkegaards: die Vernachlässigung des Besonderen zugunsten des Allgemeinen. Genausowenig wie es sich auf den Begriff bringen läßt, was ein Vorwort ist, läßt sich alles andere erschöpfend definieren. Was Notabene im ersten Vorwort auf der Mikroebene der Begriffsbestimmung demonstriert, wiederholt sich auf der Makroebene des Textkorpus: Die Aneinanderreihung der extrem unterschiedlichen Vorworte veranschaulicht auf narrativer Ebene die philosophische Schwierigkeit, eine gemeinsame Definition des Divergenten zu finden, und sie demonstriert zugleich den Ausweg – was sich nicht kurz und bündig definieren läßt, ist in der Varianz darzustellen. Damit lenkt Notabene die Aufmerksamkeit auf ein vernachlässigtes philosophisches Problem: das der Darstellung. Dabei scheint er nicht zu berücksichtigen, daß er einen Mitstreiter hat – Hegel. Im Vorwort zur Phänomenologie betont Hegel die Schwierigkeit der Darstellung in der Philosophie: „Das leichteste ist, was Gehalt und Gediegenheit hat, zu beurteilen, schwerer, es zu fassen, das schwerste, was beides vereinigt, seine Darstellung hervorzubringen.“650 Hegels diesbezügliche Sensibilität ist Kierkegaard entgangen. In der Nachschrift wirft Climacus Hegel gar vor, daß die Begriffsbestimmungen des Denkens ihre Überzeugungskraft nicht aus sich selbst generieren, sondern narrativen Strategien verdanken: „Diese Erzählung, daß die Selbstreflexion ‚so lange fortfährt bis‘, lenkt die Aufmerksamkeit von dem ab, was dialektisch die Hauptsache ist: wie die Selbstreflexion aufgehoben wird.“651 Ebensowenig wie es Hegel gelingt,
648 SKS 4, 469 / V, 175. 649 Angelika Jacobs, Stimmungskunst von Novalis bis Hofmannsthal, Hamburg: Igel 2014, S. 206. 650 Hegel, Phänomenologie, a. a. O., S. 13. 651 SKS 7, 307 / AUN2, 39 (meine Hervorh.). Zu der Funktion des Zitats im Kontext von Kierkegaards Kritik der Hegelschen Logik siehe Lore Hühn, „Sprung im Übergang. Kierkegaards Kritik
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persönliche Reminiszenzen aus seiner Begrifflichkeit zu tilgen, lasse sich die Literarizität seines philosophischen Systems verleugnen,652 denn, so ließe sich ergänzen, Literarizität kann aus keinem Text entfernt werden, auch nicht aus einem philosophischen. Wenn Kierkegaard die pseudonyme Erzähler-, manchmal sogar Herausgeberrolle intensiv ausgestaltet, Rahmenerzählungen entwickelt, anekdotische Exkurse einfügt und sich vielfältiger literarischer Stilmittel bedient, so zelebriert er geradezu (gemessen an den Konventionen der Philosophie) deren Literarizität. Das Projekt einer hyperbolischen Literarisierung der Philosophie, das Kierkegaard in seinem Gesamtwerk unternimmt und welches die Vorwortsammlung in nuce demonstriert, hat eine dreifache Funktion: Sie dient erstens der Vergegenwärtigung des untilgbaren literarischen Elements in der Philosophie und, damit verbunden, des Darstellungsproblems. Sie ist daher Selbstaufklärung der Philosophie. Sie stellt zweitens eine Kritik an der Dominanz des Hegelschen Philosophierens (eines vermeintlich objektiven, entpersönlichten Stils) dar. Die intensive charakterliche Ausgestaltung des Pseudonyms Notabene, letztlich auch die Polyphonie seiner Autorstimme, ist eine indirekte Kritik des Hegelschen Sprechens. Kierkegaard, so Henry Sussman, zünde „eine ganze Batterie diskursiver Waffen gegen die Verkündigungen der allwissenden hegelianischen Erzählerstimme“653 . Gleichzeitig jedoch, das darf drittens nicht vergessen werden, entspricht die demonstrative Literarisierung notwendig dem behandelten Gegenstand von Kierkegaards Philosophie: Würde jemand sagen, dies sei nur Deklamation und ich besäße nur etwas Ironie, etwas Pathos und etwas Dialektik, womit ich wirkte, dann würde ich sagen: Was soll der, der das Ethische darstellen will, anders haben? Sollte er vielleicht versuchen, es objektiv auf §§ und geläufig auf eine mechanisch abzuleiernde Formel zu bringen, um so durch die Form sich
an Hegel im Ausgang von der Spätphilosophie Schellings“, in Kierkegaard und Schelling. Freiheit, Angst und Wirklichkeit, hg. von Jochem Hennigfeld und Jon Stewart, Berlin und New York: De Gruyter 2003, S. 133–183, S. 140. 652 Auf Hegels individuellen, häufig emotionalen Stil und den Gegensatz zu seiner programmatischen Vorrede der Phänomenologie hat Kierkegaards Universitätslehrer P. M. Møller zehn Jahre vor dessen Auseinandersetzung mit der Gattung des Vorwortes aufmerksam gemacht: Poul Martin Møller, Rezension zu „Om Poesie og Konst i Almindelighed, med Hensyn til alle Arter deraf, dog især Digte-, Maler-, Billedhugger-, og Skuespilkonst. Foredrag over almindelig Æsthetik og Poetik. Af Dr. Frederik Sibbern, Professor af Philosopien, Første Deel. København 1834“, In: Dansk Litteratur-Tidende 12 (1835); siehe Kjældgaard, „The Age of Miscellaneous Announcements“, a. a. O., S. 10, S. 11. Narrativität ist natürlich nicht gleichzusetzen mit Literarizität; schließlich ist sie vielen mündlichen Überlieferungen wesentlich. Im genannten Fall ist Narrativität jedoch Ausdruck der Literarizität. 653 Sussman, The Hegelian Aftermath, a. a. O., S. 63 (meine Übers.).
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selbst zu widersprechen? Ich glaube, daß es Ironie, Pathos und Dialektik ist, was verlangt wird (quod desideratur), wenn es das Ethische ist, was aufzuzeigen war (quod erat demonstrandum).654
Was Kierkegaard als das Ethische bestimmt, ist nicht in einem System darzustellen; es ist vielmehr überhaupt nicht abstrakt zu behandeln, sondern nur performativ anzuregen. Der Leser sei daher bei der Lektüre auf seine Selbstverantwortlichkeit aufmerksam zu machen. Literarische Formen wie Ironie, aber auch narrative Strukturen wie Rahmenerzählungen und verselbständigte Vorworte erwirken eine textuelle Komplexität, die verstärkt die Interpretationstätigkeit des Lesers herausfordert. Dadurch ermöglichen sie die indirekte Vermittlung dessen, was direkt nicht kommuniziert werden kann – der Selbstwahrnehmung des Lesers als verstehendes, Entscheidungen treffendes, tätiges Individuum.655
4.2.4 Philosophische Klingelstreiche Die indirekte Mitteilung, in deren Dienst die Literarisierung der Philosophie steht, hat laut Kierkegaard zwei Aspekte. Auf den ersten hat Kierkegaard selbst wiederholt hingewiesen: Eine indirekte Mitteilung soll „hineintäuschen in das Wahre“656 . Im sensationslüsternen und hastigen 19. Jahrhundert gelte es, den Leser mit leichter Lektüre zu ködern – deswegen auch die Kennzeichnung der Vorwortsammlung nicht nur als Literatur, sondern als amüsante Literatur für jedermann nach Lust und Laune, als „Unterhaltungsliteratur für einzelne Stände je nach Zeit und Gelegenheit“, so der Untertitel. Kierkegaard hat über dieses Verständnis der indirekten Mitteilung nachträglich seine frühen Schriften wie Entweder – Oder inklusive des pikanten Tagebuch des Verführers dem Gesamtprojekt einer (Re)Individualisierung seiner Zeitgenossen zugeordnet. Um die spezifische Aufgabe der Philosophie zu erfüllen und der Selbstwerdung des einzelnen zu dienen, wird (anstatt gemäß der cartesianischen Methode nach Klarheit und Deutlichkeit zu streben) gezielt für narrative Ausschweifung gesorgt. Die indirekte Mitteilung, das haben die obigen Ausführungen gezeigt, ist jedoch nicht nur unterhaltsam. Sie
654 SKS 7, 142f. / AUN1, 143. 655 Vermittlung kennzeichnet meines Erachtens deutlicher als der von Kierkegaard verwendete Terminus der Mitteilung, worauf es ihm ankommt: kein abstraktes Wissen zu kommunizieren – das wäre z.B. ‚jeder Mensch ist selbstverantwortlich vor die Aufgabe eines authentischen Verstehens, Entscheidens und Handelns, kurzum einer individuellen Existenz gestellt‘ –, sondern dies den Leser an sich selbst erfahren zu lassen. Im folgenden wird jedoch der bekannte Kierkegaardsche Terminus Mitteilung verwendet. 656 SKS 16, 35 / GWS, 48.
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sorgt auch für die Irritation des Lesers. Hermeneutische Verwirrung, so zumindest die implizite Prämisse Kierkegaards, werfe den Leser auf sich selbst zurück, aktiviere ihn und wecke in ihm das Bewußtsein seiner Selbstverantwortung für sein Verstehen und Handeln. Anhand der Vorworte exemplifiziert Kierkegaard die Konfrontationsleistung eines philosophischen Textes, seine Fähigkeit, den Leser aus der Reserve zu locken. Zu philosophieren, so ließe sich in Anlehnung an Notabenes wiederholte Bestimmungsversuche des Vorwortes formulieren, „heißt gleichsam die Türglocke eines Mannes ziehen[,] um ihn zu foppen“657 . Auch die oben geschilderte Schwierigkeit, Notabene charakterlich zu bestimmen – mal erscheint er als tölpelhafter Kleinbürger, dann wieder als scharfsinniger Freigeist –, dient der Leserirritation und -aktivierung. Der Leser soll lernen, sich nicht auf die Autorität eines Autors zu verlassen. Dies gilt zwar für alle Texte, besonders aber für die der Philosophie. Notabene scheut sich nicht, die Argumentation angesehener Denker zu hinterfragen. Wenn er schließlich im Vorwort Nr. 8 eingesteht, die Philosophie zu lieben, jedoch die philosophischen Texte seiner Zeit nicht zu verstehen und gerade deshalb eine philosophische Zeitschrift gründen zu wollen, reaktiviert er das antike Element der Wahrheitsliebe als Spezifikum der Philosophie – im Gegensatz zu Hegel und den Hegel-Epigonen will er dezidiert nicht daran mitwirken, „daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näherkomme – dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein“658 . Philosophie soll Liebe bleiben, sie soll werben, Opfer bringen und die Entbehrungen einer ritterlichen Minne auf sich nehmen.659 Auf das unverdrossene Streben des einzelnen komme es an, und so wartet Notabene dann auch mit einem Philosophieverständnis auf, das dem 19. Jahrhundert als antiquiert gilt: Er halte es für das beste, sich die Philosophie „als eine unsichtbare Stimme zu denken, die zu einem tönt, als käme sie aus dem eigenen Innern, obwohl sie aus den Wolken kommt“660 . Anstatt Hegel als Autorität Folgschaft zu leisten, nimmt Notabene gegenüber dem vermeintlich objektiven Wissen seiner Zeitgenossen eine sokratische Haltung ein. Die ‚teuflisch einfache Frage‘ nach der Funktion von Vorworten findet daher in Kierkegaards Vorwortsammlung eine daimonische Antwort: Sie irritiert den Leser und regt dazu an, selbst die Suche nach
657 SKS 4, 469 / V, 175. 658 Hegel, Phänomenologie, a. a. O., S. 14. 659 Notabene verwendet vor allem im ersten Vorwort Fragmente der mittelalterlichen Minnewerbung und der romantischen Liebesidylle, er beschreibt seine schriftstellerische Tätigkeit aber auch unverblümt als „Gelüste“, das er „von je gehegt“ habe (SKS 4, 470 / V, 177). Vor diesem Hintergrund wird auch die possenhaft wirkende Eifersucht der Ehefrau verständlich. 660 SKS 4, 522 / V, 234.
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Wahrheit zu beginnen – nach Selbsterkenntnis.661 Vorworte stellen damit nicht nur eine Reihe von emanzipierten Paratexten dar, sondern auch einen Metatext zu Kierkegaards Entwurf einer Philosophie nach der Philosophie.662 Die Sammlung demonstriert, worauf es in dieser Philosophie ankommt: der in Kultur wie Philosophie florierenden Voreiligkeit Einhalt zu bieten und dies in der Form der Wiederholung zu zeigen. Forord, im Dänischen den Singular wie den Plural bezeichnend, kann demnach auch als ein indirektes Vorwort zu einer performativen Philosophie gelesen werden.
4.3 Die Wiederholung 4.3.1 Constantius’ Experiment und die Verzweiflung des jungen Menschen 1843 erscheint Die Wiederholung. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie. Der pseudonyme Autor trägt den sprechenden Namen Constantin Constantius.663 Das Buch ist in drei Sinnabschnitte geteilt: Auf Constantius’ Überlegungen zur Wiederholung als philosophischer Kategorie, seine Gedanken über die scheiternde Liebesbeziehung eines jüngeren Bekannten und die Beschreibung seines Versuches, ein Reise-Erlebnis zu wiederholen, folgen Briefe des Bekannten in-
661 Aufgrund dieser sokratischen Haltung ist laut Mark C.E. Peterson die philosophische Relevanz der Vorworte schwer zu überschätzen: Die Sammlung sei „the most appropriate kind of philosophical writing: a writing in which the author is the subject and that encourages the readers to become their own best subjects as well“; Mark C.E. Peterson, „Ringing Doorbells: Eleven Books and Authentic Authorship in Preface VII“, in Prefaces and Writing Sampler, hg. von Robert L. Perkins, Macon, Georgia: Mercer University Press 2006 (International Kierkegaard Commentary, Bd. 9), S. 87–109, S. 106. Auch Harvie Ferguson betont den repräsentativen Charakter der Vorwortsammlung für Kierkegaards Werk, jedoch versteht er sie als Demonstration der Entfremdung in der Moderne, als scheiternde Selbstwerdung: Vorworte seien „adequately configured to the actual experience of modern life. There is no text to follow Kierkegaard’s many prefaces because there is no selfhood immanent in the prefatory character of contemporary existence.“ Harvie Ferguson, „Before the Beginning: Kierkegaard’s Literary Hysteria“, in Prefaces and Writing Sampler, hg. von Robert L. Perkins, Macon, Georgia: Mercer University Press 2006 (International Kierkegaard Commentary, Bd. 9), S. 41–65, S. 42. 662 Siehe die Kategorisierung bei Genette, Paratexte, a. a. O., S. 258. 663 Die folgenden Überlegungen geschehen in Bezug auf eine Philosophie nach der Philosophie und erheben nicht den Anspruch, eine umfassende Interpretation der komplexen Schrift Die Wiederholung zu bieten, welche als eines der schwierigsten Werke Kierkegaards gilt. Hierfür sei auf die gründliche Einführung verwiesen, die Elisabeth Strowick ihrer psychoanalytischpoststrukturalistischen Untersuchung der Wiederholung voranstellt: Elisabeth Strowick, Passagen der Wiederholung. Kierkegaard– Lacan – Freud, Stuttgart und Weimar: Metzler 1999.
4.3 Die Wiederholung |
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klusive einer kurzen Zwischenbemerkung von Constantius. Abschließend wendet Constantius sich mit einer Widmung an den Leser. Constantius’ Rede ist wie die Notabenes auffällig heterogen: Er beginnt seinen Text mit offensichtlich (durch die Terminologie und geschichtliche Verweise als solche explizit gekennzeichneten) philosophischen Reflexionen zur ‚Wiederholung‘, schweift jedoch immer wieder ab, um dann nach ein paar Seiten dazu überzugehen, „ein bißchen von der Entdeckungsreise“ zu erzählen, die er unternommen hat, „um Möglichkeit und Bedeutung der Wiederholung zu erproben“664 . Constantius beschreibt seine Reise nach Berlin, von der er sich, das wird durch seine Bewertung der dortigen Ereignisse deutlich, eine identische Reproduktion seiner Erinnerungen erhofft hatte. Sie entpuppt sich als eine Reihe von Enttäuschungen: Sein Wirt ist jetzt verheiratet, die Berliner Luft sommerlich-staubig anstatt frostig-klar, zudem stellt sich das euphorische Rezeptionserlebnis des letzten Theaterbesuches nicht ein. Als dann auch noch der Harfenspieler am Brandenburger Tor einen anderen Mantel trägt als von Constantius erinnert (er hatte „einen graumelierten Rock an statt des lichtgrünen“, der Constantius’ „Wehmut Sehnsucht war“665 ), reist Constantius kurzentschlossen wieder zurück nach Kopenhagen – um dort seine Wohnung vollkommen verändert in dem Durcheinander eines Großputzes wiederzufinden. Constantius’ Resümee lautet daher: Es gibt keine Wiederholung. Man brauche sich nicht einmal von der Stelle zu bewegen, um dies festzustellen – „nein, man sitzt ruhig in seiner Stube; wenn alles eitel ist und dahinfährt, so reist man ja geschwinder als auf der Eisenbahn, obschon man selber stille sitzt“666 . Constantius versteht unter ‚Wiederholung‘ eine exakte Reproduktion des Geschehenen, wie er es erinnert. Daß Erinnerungen sich ebenso verändern wie der Erinnernde, berücksichtigt Constantius nicht. Er identifiziert sich nicht mit Veränderung, sondern empfindet sie als Widerfahrnis, wie der kraftvolle Vergleich mit der Eisenbahn illustriert. Sein gescheitertes Experiment hat regelrecht traumatische Spuren hinterlassen. Von nun an ist es Constantius’ Ziel, „Einförmigkeit“ zu beschwören, indem er, „die Welt vergessend“, sich in seiner Wohnung verschanzt und den Alltag in diesem Mikrokosmos vollständig zu kontrollieren sucht: „Eine monotone und einförmige Ordnung war hergestellt in meiner ganzen Haushaltung. Alles, was nicht gehen konnte – es stand an seinem bestimmten Platz, und was da gehen konnte, das ging seinen vorgeschriebnen Gang: meine Stubenuhr, mein Diener und ich selber, der mit abgemessenen Schritten die Dielen auf und ab ging.“667 664 665 666 667
SKS 4, 26f. / W, 23. SKS 4, 44 / W, 45. SKS 4, 48f. / W, 49. SKS 4, 50 / W, 51.
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Der namenlose „junge Mensch“, an dessen Leben Constantius aus „psychologischem Interesse“ Anteil nimmt,668 ist, so Constantius, ebenfalls vor das Problem der Wiederholung gestellt. Er bilde sich nämlich ein, daß er ein Mädchen liebe, von dem er sich getrennt hat. Constantius zufolge war sie ihm lediglich Anlaß, das Poetische in sich zu wecken und Dichter zu werden.669 Als Dichter, so Constantius’ Urteil, brauche der junge Mensch die Sehnsucht nach einer idealisierten Frau; eine konkrete Beziehung stünde seiner Schaffenskraft nur im Wege. Ihm reiche daher die Erinnerung. Den jungen Mann quälen jedoch Zweifel ob seiner Entscheidung. Seine Briefe an Constantius bringen eine tiefe Melancholie zum Ausdruck; er hadert mit sich selbst: Soll er nicht doch die Trennung rückgängig machen und das Mädchen heiraten? Einziger Trost in dieser Qual ist ihm das Buch Hiob, von dessen wiederholter Lektüre er Constantius begeistert berichtet. Er warte, so der junge Mann, auf ein ähnliches ‚Gewitter‘, auf eine Zurechtweisung durch Gott, wie sie Hiob vor seiner Rehabilitierung erlebt hat. In seinem Falle, so der Wunsch des jungen Mannes, solle das Gewitter seine Persönlichkeit zerschmettern und ihn auf diese Weise zum Ehemann tauglich machen.670 Die Wiederholung, zu welcher er sich zu zwingen hofft – die Wiederaufnahme der Beziehung zu seiner Geliebten in Form der Ehe – tritt jedoch nicht ein. Drei Monate später berichtet der junge Mann von der Hochzeit seiner ehemaligen Verlobten mit einem anderen, und erleichtert interpretiert er plötzlich seine Reaktion auf diese Nachricht als Wiederholung: „Sie ist verheiratet; mit wem[,] weiß ich nicht; denn als ich es im Blatte las, ward ich gleichsam vom Schlag gerührt. . . Ich bin wieder ich selbst, hier habe ich die Wiederholung; ich verstehe alles[,] und das Dasein erscheint mir schöner denn je.“671 Dieser Brief ist der letzte der von Con668 SKS 4, 56 / W, 58. Die Schrift, das suggeriert der Untertitel Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie, hat es mit der individuellen Existenz zu tun und nicht mit dem absoluten Geist. Wie die Krankheit zum Tode, die sich als ‚psychologische Erörterung‘ verstanden wissen will, beinhaltet diese Selbstbeschreibung nicht notwendigerweise eine Abkehr von der Philosophie, sondern beharrt auf der Untersuchung des subjektiven Geistes als vernachlässigter Disziplin der Philosophie des Geistes (welche von Hegel durchaus behandelt wurde, u.a. in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 3. Teil, 1. Abt., §§ 387–482). Karl Rosenkranz’ Psychologie oder die Wissenschaft vom subjektiven Geist (Königsberg 1837) mag hierfür eine Inspiration gewesen sein. Vgl. Joachim Ringleben, Die Krankheit zum Tode von Sören Kierkegaard. Erklärung und Kommentar, Göttingen: Vandenhoeck 1995, S. 24. 669 „Er fing selber an, das Mißverständnis zu begreifen, das angebetete junge Mädchen war ihm allbereits beinahe lästig. Dennoch war sie die Geliebte, die Einzige, die er je geliebt, die Einzige, die er jemals zu lieben imstande sein würde. Anderseits jedoch liebte er sie nicht, denn er sehnte sich bloß nach ihr. . . Das junge Mädchen war nicht seine Geliebte, sie war der Anlaß, der in ihm das Poetische aufweckte und ihn zum Dichter machte.“ SKS 4, 15 / W, 10. 670 Vgl. SKS 4, 81 / W, 83. 671 SKS 4, 87 / W, 88f.
4.3 Die Wiederholung |
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stantius herausgegebenen Sammlung. Er endet euphorisch, geradezu ekstatisch. Der junge Mann verkündet, wieder dort zu sein, wo seine Sehnsucht ihn zu Anfang der Liebesbeziehung hingetragen habe, „dort, wo die Ideen erbrausen“672 . Rauschhaft auch der letzte Satz, den wir von ihm lesen: „Hoch lebe des Gedankens Flug, hoch lebe des Lebens Fährnis in der Idee Dienst. . . lebe der Tanz in des Unendlichen Wirbel, hoch lebe der Wellenschlag, der tief im Abgrund mich birgt, lebe der Wellenschlag, der empor mich schleudert über die Stirne.“673 Es ist zweifelhaft, ob das, was der junge Mann zurückbekommen hat, als Wiederholung zu feiern ist. Eher scheint er in ein falsches Selbstverhältnis zurückgefallen zu sein. Sein Verhalten trägt alle Züge der in der Krankheit zum Tode beschriebenen Verzweiflung: der Verzweiflung der Unendlichkeit (betrachtet in Hinblick auf die Synthese) und, gesehen unter der Bestimmung Bewußtsein, der Verzweiflung des Trotzes als Bestreben, verzweifelt man selbst sein zu wollen. Der junge Mann verfehlt sein wahres Selbst; er scheitert an der Aufgabe der Synthese von Endlichem und Unendlichem. Eine ‚Aufhebung‘ seines Verliebtseins in der Ehe wäre eine der Möglichkeiten gewesen, die Vermittlung von Endlichem und Unendlichem, Idee und Wirklichkeit existentiell zu leisten, wie es Gerichtsrat William in Entweder – Oder erläutert. So ist der junge Mann, anstatt eine Wiederholung zu erleben, lediglich aus der melancholischen in die dämonischen Version der Verzweiflung geraten: einer isolierten Identität ohne Weltverhältnis, ohne Demut gegenüber dem ‚Anderen‘, seien es Mitmenschen oder Gott. Constantius läßt diesen Brief unkommentiert stehen. Der Leser erfährt nicht, ob er seine These, es gebe keine Wiederholung, durch die Geschichte des jungen Mannes revidiert. Zudem stellt sich die Frage, ob Constantius und der junge Mann überhaupt eine angemessene Vorstellung von einer Wiederholung haben. Constantius beginnt seine Schrift mit philosophischen Bestimmungsversuchen, welche in Bezug auf die Wiederholung ein schwieriges Unterfangen sind, wie die folgenden Ausführungen zeigen. Auch scheint Constantius mehr zu verstehen, als er auf sein Leben anwenden kann – zumindest wird das durch die Kluft zwischen seinen scharfsinnigen und besonnenen Überlegungen zur Wiederholung und seinem unreflektierten Auftreten in Berlin, das ans Lächerliche grenzt, suggeriert. Sein rigoroses Urteil, es sei keine Wiederholung möglich, entspringt der enttäuschten Hoffnung auf eine identische Repetition seiner Erinnerung. Das entspricht jedoch in keiner Weise den komplexen Überlegungen und Bestimmungsversuchen, die Constantius zuvor angestellt hat. Auch das Verständnis des jungen Mannes bleibt weit hinter diesen zurück: Er möchte in der Erinnerung an seine
672 SKS 4, 88 / W, 90. 673 SKS 4, 88 / W, 90.
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idealisierte Geliebte leben und begreift die Wiederherstellung einer Situation, die ihm dies erlaubt, schließlich als Wiederholung. Beide, Constantius wie der junge Mann, halten an einem Verständnis fest, welche das Statische und von ihnen Kontrollierbare favorisiert. Constantin Constantius wird seinem Namen gerecht, und auch sein junger, stürmischer Freund klammert sich an die Konstanz des erinnerten Bildes seiner Geliebten, mit dem er seine poetischen Gefühle immer wieder selbst heraufbeschwören kann. Wiederholung, so scheint es, ist Stillstand.
4.3.2 Noch einmal, anders Kehren wir an den Anfang zurück, um Constantius’ Bestimmungsversuche der Wiederholung zu betrachten. Bezeichnenderweise beginnt seine Schrift mit einem Verweis auf Diogenes: „Als die Eleaten die Bewegung leugneten, trat, wie jedermann weiß, Diogenes als Opponent auf; er trat wirklich auf; denn er sprach nicht ein Wort; sondern ging lediglich einige Male auf und nieder und meinte damit jene hinreichend widerlegt zu haben.“674 Gleich zu Beginn werden mehrere semantische Netze aufgespannt. Performanz, das suggeriert der Einleitungssatz, scheint eine tragende Rolle bei der Bestimmung der Wiederholung zu spielen. Die Wiederholung wird auch als Gegenteil der Erinnerung bezeichnet, zudem rückt Constantius sie in Opposition zur Philosophie Hegels, wenn er betont, daß die Wiederholung „eigentlich das ist, was man irrtümlich die Vermittlung genannt hat“675 . Constantius leistet keine systematische Definition der Wiederholung, vielmehr verweisen die Begriffe ‚Vermittlung‘, ‚Erinnerung‘ und ‚Wiederholung‘ wechselseitig aufeinander: Es wird in unserer Zeit nicht geklärt, woher die Vermittlung kommt, ob sie aus der Bewegung der zwei Momente sich ergibt, und in welchem Sinne sie alsdann in diesen bereits im voraus enthalten ist, oder ob sie etwas Neues ist, das hinzukommt, und alsdann wieso. In dieser Hinsicht ist die griechische Erwägung des Begriffs Bewegung (ϰίνησις), welcher der modernen Kategorie des ‚Übergangs‘ entspricht, höchst beachtenswert. Die Dialektik der Wiederholung ist leicht, denn was sich wiederholt, ist gewesen, sonst könnte es sich nicht wiederholen; aber eben dies, daß es gewesen ist, macht die Wiederholung zu etwas Neuem. Wenn die Griechen sagten, daß alles Erkennen ein sich Erinnern ist, so sagten sie: das ganze Dasein, welches da ist, ist da gewesen; wenn man sagt, daß das Leben eine Wiederholung ist, so sagt man: das Dasein, welches da gewesen ist, tritt jetzt ins Dasein. Wenn man die Kategorie der Erinnerung oder der Wiederholung nicht besitzt, so löst das ganze Leben sich auf in leeren und inhaltslosen Lärm. Die Erinnerung ist die heidnische Lebensbetrach-
674 SKS 4, 9 / W, 3. 675 SKS 4, 9 / W, 3; SKS 4,25 / W, 21 (meine Hervorh.).
4.3 Die Wiederholung |
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tung, die Wiederholung die moderne; die Wiederholung ist das Interesse der Metaphysik; und zugleich dasjenige Interesse, an dem die Metaphysik scheitert, die Wiederholung ist die Losung in jeder ethischen Anschauung. . . 676
Mit einer präziseren Bestimmung wartet Constantius nicht auf, und nur vor dem Hintergrund anderer Schriften Kierkegaards läßt sich dieser andeutungsreiche Verweisungszusammenhang erhellen.677 Im Gegensatz zu Hegels abstraktem Verständnis der ‚Vermittlung‘ (so zumindest Climacus’ Kritik in der Nachschrift), ist die Wiederholung auf das konkrete Leben bezogen, genauer: auf eine Bewegung des Übergehens. Vermittlung ist das Prinzip der individuellen Entwicklung. Vor dem Hintergrund der Krankheit zum Tode lassen sich diachrone und synchrone Aspekte einer solchen Vermittlung voneinander unterscheiden. Geprägt von vergangenen Erfahrungen und Taten, verhält der Mensch sich in der Gegenwart und plant für die Zukunft. Das Erinnerte wird wiederholt, jedoch in veränderter Form, angepaßt an die neue Situation und mit einer anderen Haltung. Kierkegaard läßt durch Constantius (der den Satz anscheinend selbst nicht versteht) verlauten: „Wiederholung und Erinnerung sind die gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung; denn wessen man sich erinnert, das ist gewesen, wird rücklings wiederholt; wohingegen die eigentliche Wiederholung sich der Sache vorlings erinnert.“678 Kontinuierlich geht so Vergangenes in Aktuelles über, das besagt das diachrone Element der Wiederholung. Im Laufe seines Lebens verändert sich das Selbst kontinuierlich in der Wiederholung des Erlebten. Jeder einzelne Mensch ist vor diese Aufgabe existentieller Vermittlung gestellt – nichts anderes bedeutet der Satz „die Wiederholung ist die Losung in jeder ethischen Anschauung“679 . Der synchrone Aspekt der Selbstwerdung fordert zudem die Vermittlung von Ewigem und Zeitlichem, von Freiheit und Notwendigkeit zu jedem Zeitpunkt. Wie Deuser betont, besteht die existentielle Wirklichkeit in dem unendlichen Prozeß
676 SKS 4, 425f. / W, 22. 677 Auf die Schwierigkeit, aus der alleinigen Lektüre der Wiederholung ein Verständnis zu gewinnen, hat Jochen Schmidt aufmerksam gemacht. Schmidt verweist auf Furcht und Zittern als notwendigen Konterpart der Wiederholung. Ihm zufolge werde die Wiederholung zu einem „Wunder“, das ausschließlich „kraft des Absurden“ möglich ist, wie es die Intervention Gottes in der Abrahamgeschichte zeige; Schmidt, Vielstimmige Rede vom Unsagbaren, a. a. O., S. 179f. Ausgehend von der These, „daß das ganze Leben eine Wiederholung ist“ (SKS 4, 9 / W, 3), versteht die von mir vertretende Interpretation dagegen die Wiederholung in dem Kontext eines zu konkretisierenden Selbstverhältnisses als einer lebenslangen Aufgabe, die von jedem geleistet werden kann. Diese Aufgabe beinhaltet Glauben, bezieht sich aber nicht nur auf die radikalen Formen einer Suspension des Ethischen oder religiöser Grenzerfahrungen. 678 SKS 4, 9 / W, 3. 679 SKS 4, 25f. / W, 22.
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einer Doppelbewegung, „eben der Wiederholung, die nicht bei der Welt der Ideen und auch nicht bei der Welt der Fakten zur Ruhe kommen kann“680 . Eine gelungene Selbstwerdung darf in keiner der Welten zur Ruhe kommen. Bewegung in Form einer ständigen Revidierung des Selbstverständnisses, einer ständigen Erprobung der Werte in Interaktion mit der Welt der Fakten, d.h. in Form einer Wiederholung des Denkens im Sein, ist das Prinzip einer gelingenden Existenz. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß nicht nur der junge Mensch, der sich in der Welt der Ideen einrichtet, an der Verzweiflung krankt, sondern auch Constantius, der versucht, die Veränderung aus seinem Leben auszusperren, indem er seine eigenen vier Wände nicht mehr verläßt. Wiederholung ist durch eine bestimmte Haltung zur Veränderung gekennzeichnet – die der Akzeptanz und Gelassenheit. Nicht ohne Grund zeigt sich die Wiederholung als Text ironisch gegenüber Constantius’ Experiment, das Vergangene identisch zu reproduzieren (und seiner Reaktion angesichts des Scheiterns): Nicht nur, daß Constantin Constantius schon auf der Reise durch Dampfschiffgeschaukel und Postkutschengerüttel derartig in die Bewegung hineingerät, daß er sich kaum wieder herausfindet, in Berlin angekommen, wird die Sache noch prekärer. . . Wo Constantin Constantius sich in eleatischer Manier den unveränderten Stillstand, die Konstanz, erhofft, wird er von der Bewegung regelrecht heimgesucht. Die Bewegung stößt ihm äußerlich zu, sie ist keine, die er macht, d.h. die er wählt als von ihr gewählt.681
Die hintergründige Forderung der Wiederholungsschrift lautet: Es gilt, die Veränderungen, die das Leben mit sich bringt, zu den eigenen zu machen, auf Kontingenz kreativ zu reagieren und sich selbst zu verändern, ohne sich zu verlieren. In Kierkegaards Metaphorik der Fahrt gesprochen: Es kommt darauf an, auf rechte Weise in Bewegung zu sein, sich weder wie von der Eisenbahn in rasantem Tempo davontragen zu lassen, selbst stillsitzend und dabei „hunderttausend Meilen sich selber voraus [hundrede tusinde Mile forud for sig selv]“ zu sein,682 noch in neurotischer Starre einzurichten. Weder der junge Mann noch Constantius haben das verstanden.
4.3.3 Die Entdeckung der Wiederholung und ihre Darstellung in der Philosophie In der neueren Philosophie, so heißt es zu Beginn der Wiederholung, werde die Wiederholung eine entscheidende Rolle spielen – wie die Griechen gelehrt haben,
680 Deuser, Kierkegaard. Die Philosophie des religiösen Schriftstellers, a. a. O., S. 48. 681 Strowick, Passagen der Wiederholung, a. a. O., S. 43f. 682 SKS 10, 83 / CR, 78.
4.3 Die Wiederholung |
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„daß alles Erkennen ein sich Erinnern sei, ebenso wird die neuere Philosophie lehren, daß das ganze Leben eine Wiederholung ist“683 . Die Abgrenzung von der Erinnerung hat einen theologischen Grund: Gemäß der griechischen AnamnesisLehre kann sich der Mensch an die vor seiner Geburt geschauten Ideen erinnern; es gibt nichts, was ihn prinzipiell von der Wahrheit trennt. Entsprechend christlicher Auffassung ist jedoch nach dem Sündenfall der Zugang zur göttlichen Wahrheit versperrt. Er wird zum Gegenstand der Eschatologie, muß doch der Mensch die Bedingung der Wahrheit erst wiedererlangen, durch Gnade wie individuelle Anstrengung. Daher ist die Erinnerung die „heidnische Lebensbetrachtung, die Wiederholung die moderne“684 . Die Differenz zur Anamnesis-Lehre wird in Kapitel 4.4. detailliert anhand von Kierkegaards Sokrates-Figur untersucht; an dieser Stelle soll die bemerkenswerte Erwähnung einer neueren Philosophie im Vordergrund stehen. Letztere ist eine Philosophie nach Hegel, eine Philosophie, welche die Vermittlung nicht mehr abstrakt denkt. Vertreter werden keine genannt.685 Da es den Sinn der Wiederholung und ihre konstitutive Funktion für eine neue Philosophie erst noch zu entdecken gilt, hat Kierkegaards Schrift es nicht nur mit dem Experiment eines Constantin Constantius zu tun. Sie ist auch ein disziplinärer Versuch. Die Wiederholung stellt die in Kierkegaards Werk expliziteste Formulierung einer Philosophie nach Hegel dar. Kierkegaards Überlegungen verweisen auf Hegels Logik der Metaphysik als dessen Entwurf einer ‚letzten‘, einer metaphysikkritischen Metaphysik. Auch Hegels Zugriff, so Kierkegaards Kritik, werde nämlich dem ‚Interesse der Metaphysik‘ nicht gerecht – der Wiederholung als dem Singulären, Individuellen, als der existentiellen Bewegung. Deswegen ist die Wiederholung „zugleich dasjenige Interesse, an dem die Metaphysik scheitert“686 . Kierkegaards Wiederholung kann somit als ein Versuch gedeutet werden, das philosophieimmanente Ablösungsgeschehen zu radikalisieren. Auch Kierkegaard widmet sich dem Interesse der Metaphysik, aber derart, daß er ihre bekannte Gestalt zerstört. Wir haben es mit einem Text zu tun, der eher als Briefnovelle inklusive Rahmenerzählung zu kategorisieren wäre denn als konventionelle metaphysische Abhandlung. Es geht um existentielle Erfahrungen von (fiktiven) Personen, nicht um Allgemeinbegriffe. Trotzdem haben wir es mit einer Philosophie zu tun – mit der neueren Philosophie. Diese rückt die Wiederholung in ihr Zentrum: als Gegenstand, aber auch und vor allem als Methode.
683 SKS 4, 9 / W, 3. 684 SKS 4, 25 / W, 22. 685 Von Leibniz wird jedoch wohlwollend gesagt, er habe eine „Ahnung“ von der Bedeutung der Wiederholung gehabt (SKS 4, 9 / W, 3). 686 SKS 4, 25 / W, 22.
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Was die Wiederholung als Gegenstand betrifft, so finden sich keine konkreteren Bestimmungen als die oben genannten. Ohne andere Texte Kierkegaards zu Hilfe zu nehmen, bleibt der Verweisungszusammenhang von Vermittlung, Erinnerung und Wiederholung verworren. Zur wechselseitigen Bestimmung von Erinnerung und Wiederholung wird eine Metaphernreihe in Gang gesetzt, die, gemessen an dem, was man im 19. Jahrhundert als ‚Philosophie‘ zu bezeichnen gewohnt war, ins vermeintlich Unphilosophische führt und disparate Assoziationsfelder öffnet. Seitenlang werden Bilder und Vergleiche bemüht, auch ein Zusammenhang mit der Hoffnung angedeutet: „Die Hoffnung ist eine liebliche Maid, die den Händen entschlüpft; die Erinnerung ist eine schöne alte Frau, mit der man jedoch im Augenblick nichts anzufangen weiß; die Wiederholung ist ein geliebtes Eheweib, dessen man niemals leid wird“ – was ist jedoch das Gemeinsame von einem „unverschleißbaren Kleid“ und „dem täglichen Brot“, als welche die Wiederholung auch bezeichnet wird?687 Wie in der Vorwortsammlung wird die Schwierigkeit der Begrifflichkeit demonstriert; wiederholt finden Übertragungen statt, jedoch keine Rückübersetzung der Metaphernreihe in einen philosophischen Terminus.688 Der Gegenstand der Schrift – die Wiederholung – wird so zur Methode. Die Methode führt den Gegenstand vor, genauer: Es wird wiederholt und performativ gezeigt, was die Wiederholung nicht ist, nämlich ein allgemeiner Begriff. Das heben gegen Ende der Schrift die rauschhaft-begeisterten Ausführungen des jungen Mannes hervor, welche man vorerst nicht ernst zu nehmen geneigt ist (zumindest nicht als philosophische Aussagen): „So gibt es also eine Wiederholung. Wann tritt sie ein? Ja, in irgendeiner menschlichen Sprache läßt sich das nicht gut sagen. Wann ist sie eingetreten für Hiob?“689 Hier zeigt sich: Genausowenig wie die Wiederholung im individuellen Leben planbar und erzwingbar ist, ist sie mit den konventionellen Mitteln der Philosophie zu greifen. Dies wird deutlich in der Form des Textes. Er bricht sämtliche Genre-Regeln und entspricht weder den im 19. Jahrhundert üblichen Anforderungen an einen philosophischen noch an einen literarischen Text. Constantius zeigt sich dessen bewußt, wenn er betont: Einem gewöhnlichen Rezensenten wird das Buch möglicherweise die gewünschte Gelegenheit geben, ausführlich Licht darüber zu verbreiten, daß es keine Komödie ist, keine Tragödie, kein Roman, kein Epos, kein Epigramm, keine Novelle, sowie es unverzeihlich zu finden, daß man vergeblich ein 1.2.3. herauszustellen sucht.690
687 688 689 690
SKS 4, 10 / W, 4. Vgl. Sabel Bucher, „Poetik der Wiederholung“, a. a. O., S. 55. SKS 4, 79 / W, 82. SKS 4, 92 / W, 92.
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Wie Forord stellt Gjentagelsen den Versuch dar, eine Philosophie zu entwerfen, die sich dem Nicht-Repräsentierbaren, dem Zufälligen, dem Existentiellen widmet. Dieses kann nicht mit einem bündigen „eins zwei drei kokolorum“ hergeleitet,691 sondern nur zwischen den Zeilen evoziert werden. Wo die Sprache ob ihrer Allgemeinheit versagt, wird das Zeigen, wird Performanz entscheidend. Die Wiederholung selbst gibt hierfür Hinweise: Als Constantius von der Heirat seines Berliner Wirts erfährt und ihm Glück wünschen will, ihm aber in der fremden Sprache nichts Passendes einfällt, greift er auf eine „pantomimische Bewegung“692 zurück und legt die Hand auf sein Herz. Kierkegaard zufolge kommt es, das hat das vorige Kapitel gezeigt, im Leben auf die rechte Bewegung an, und der Maßstab für deren Angemessenheit liegt in jedem Existierenden selbst. Daher kann die Philosophie keine generellen Aussagen über die Wiederholung als Bewegung treffen. Sie kann aber die Bewegung zu ihrem methodischen Prinzip erklären und sie so zeigen. Laut Elisabeth Strowick inszeniert Kierkegaards Wiederholung die „Bewegung der Schrift“693 . Als deren pars pro toto könne die Fähigkeit des Schauspielers Beckmann gelten, gegangen zu kommen.694 Denn während seiner Berlinreise besucht Constantius eine Aufführung von Nestroys Talisman im Königstädter Theater, und begeistert schildert er Beckmanns Auftritt: Er kann nicht bloß gehen, er kann auch gegangen kommen. Dies Gegangenkommen ist etwas ganz anderes, und vermöge dieser Genialität improvisiert er zugleich die gesamte szenische Umgebung. Er kann einen wandernden Handwerksburschen nicht bloß darstellen, er kann gegangen kommen als solch ein Bursch, und dies dergestalt, daß man alles erlebt, aus dem Staube der Landstraße das freundliche Dorf erblickt. . . 695
Kierkegaards Schrift ist auch ein ‚Gegangenkommen‘. Sie „stellt die Bewegung der Schrift possenhaft aus und entzieht die Wiederholung auf diese Weise der Repräsentation“696 . Strowicks aufmerksame Beobachtung berücksichtigt jedoch nur das ‚Mitkommen‘ der gleichzeitigen szenischen Umgebung und ihrer Ereignisse. Die existentielle Wiederholung beinhaltet aber auch das, was in der Vergangenheit geschehen ist. Sie hat vergangene Szenerien und Handlungen in sich aufgehoben, in veränderter Form sind diese in der Wiederholung präsent. Das wird zwar nicht durch die Überlegungen zur Posse veranschaulicht, jedoch weist
691 692 693 694 695 696
SKS 7, 182 (im Original auf deutsch) / AUN1, 189. SKS 4, 28 / W, 25. Strowick, Passagen der Wiederholung, a. a. O., S. 75. Vgl. ebd., S. 75–77. SKS 4, 38 / W, 37. Strowick, Passagen der Wiederholung, a. a. O., S. 77.
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Constantius’ rätselhafte Widmung an den Leser in diese Richtung: Obwohl er das Wort führe, so Constantius, habe der Leser es nur scheinbar mit ihm zu tun, sondern vielmehr mit dem jungen Mann. Er selbst sei eine verschwindende Person, „gleichsam eine Gebärerin im Verhältnis zu dem Kinde, das sie gebiert“697 . Die anfängliche Erzählung von Constantius’ nicht stattfindender ‚Bewegung‘ wird in den Briefen des jungen Mannes auf dessen Weise wiederholt – sie ist in ihnen präsent, jedoch in anderer Gestalt. Auch auf der Makroebene bietet der Text somit ein performatives Beispiel für eine Wiederholung.
4.3.4 Die Wiederholung als Lektüre, die Lektüre als Wiederholung Trotz aller Ingredienzien für eine inspirierende Lektüre – eine Entdeckungsreise und eine unglückliche Liebe, gewürzt mit philosophischen und theologischen Reminiszenzen – gestaltet sich das Lesen der Wiederholung alles andere als unkompliziert. Man wird nicht richtig schlau aus dem Büchlein, traut weder dem Urteil Constantius’ noch dem des jungen Mannes, wenn es um die Bestimmung der Wiederholung geht. Stattdessen wird der Leser der Wiederholung immer wieder auf seinen Leseprozeß zurückverwiesen. Dies geschieht gleich zu Beginn durch die geschilderten Metaphorisierungen der Wiederholung: Die Metaphernreihe gerät unter den Augen des Lesers zum irritierenden „Verschiebungsautomaten“, so Barbara Sabel Bucher.698 Provoziert durch die kontinuierliche Verbindung von Disparatem und durch die fortlaufende Übersetzung eines Bildes in ein anderes, ist der Leser mit der Sinnkonstitution als seiner eigenen Aktivität konfrontiert. Dadurch, daß die Reihe der Signifikanten ständig fortgeführt wird – auch im großen Stil durch die Erzählungen Constantius’ und durch die Briefe des jungen Mannes, die ebenfalls unterschiedliche Bestimmungsversuche der Wiederholung darstellen –, wird dem Leser zu spüren gegeben, was Lesen eigentlich ist: nicht die eindeutige „Substitution eines Signifikanten gegen ein Signifikat, sondern einer Lektüre gegen eine andere Lektüre, einer Praxis gegen eine andere Praxis“699 . Laut Sabel Buchers psychoanalytisch-poststrukturalistscher Interpretation führt dies bei der Wiederholung zu einer zwanghaften Vereinnahmung durch den Text. Die-
697 SKS 4, 96 / W, 97. 698 Sabel Bucher, „Poetik der Wiederholung“, a. a. O., S. 56. 699 Ebd., S. 59. Sabel Bucher basiert ihre Interpretation auf Eckhard Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung. Phänomenologie poetischer Sprache, München: Fink 1995. Lobsien unterscheidet im Auseinandersetzung mit Kierkegaards Wiederholungsschrift eine „rhetorische (oder semiotische) Wiederholung“ von einer „ästhetische[n] (oder hermeneutische[n]) Wiederholung“, und das Zusammenwirken beider konstituiere die „Erfahrung von Texten“; ebd., S. 22f.
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ser sei eine „Maschine, die den Leser auf die Bedingungen seines Lesens stößt, indem es [das Lesen, B.-L.] sich seiner Zeit, seines Begehrens und seines Körpers bemächtigt, ihn zwingt, sich immer wieder durch den Text zu bewegen, um sein Begehren stillzustellen, ihn auf unbestimmte Zeit in die Wiederholungsmaschine hineinnimmt“700 . Die Wirkung der Wiederholung auf den Leser läßt sich jedoch auch als dessen Emanzipation lesen: Immerhin gilt es, ihn in ‚Bewegung‘ zu setzen – und zwar in Selbstbewegtheit, nicht in zwanghaftes Getriebensein. Dazu ist ein Impuls nötig, und diesen liefert die Wiederholung auf vielfältige Weise, unter anderem durch die verwendete Metaphorik. Einer weiteren Impulsgebung des Lesers dient paradoxerweise die Langeweile. Nicht nur durch die Beschreibungen der Einförmigkeit von Constantius’ peniblem Alltag langweilt man sich, die gesamte Textgestaltung stellt ein Hindernis für eine spannende, selbstvergessene Lektüre dar: „Zum Bummler wird der Text v. a. aber durch seine inhaltliche und formale Heterogenität; unter dem Gesichtspunkt der Lektüre ist Gjentagelsen geradezu ein Ärgernis. Denn es verlagert die Verantwortlichkeit für die Textkonstitution in die Praxis der Lektüre.“701 In Entweder – Oder findet sich ein Hinweis auf eine solche Funktion der Langeweile: Es ist recht sonderbar, daß Langeweile, die ihrerseits ein so ruhiges und stetiges Wesen ist, eine solche Kraft hat, einen in Bewegung zu bringen [at sætte i Bevægelse]. Die Langeweile übt eine geradezu magische Wirkung aus, nur daß diese Wirkung nicht anziehend[,] sondern abstoßend ist [ikke er tiltrækkende men frastødende].702
Durch die Langeweile wird der Leser nicht in den Text ‚hineingezogen‘, er kann vielmehr Abstand nehmen. Langeweile beinhaltet ein reflexives Moment – der Leser leidet erst an ihr, wenn er sich bewußt ist, daß er sich langweilt. Auch Strowick versteht die Langeweile des Lesers als Bedingung für dessen Aktivierung: „Die Langeweile ist für Kierkegaard das negative Bewegungsprinzip, eine Bewegung, die die Bewegung hervorbringt“, und diese ziele darauf, das geschehen zu lassen, was die Existenz ausmache, „denn nirgendwo anders als in der Langeweile liegt das Interesse, das Ereignis, der Zufall“703 .
700 Sabel Bucher, „Poetik der Wiederholung“, a. a. O., S. 61. 701 Ebd., S. 51. 702 SKS 2, 275 / EO1, 304. 703 Strowick, Passagen der Wiederholung, a. a. O., S. 70. Strowick stützt ihre Überlegungen nicht nur auf die Wiederholung, sondern auch auf die Ausführungen zur Langeweile im Rahmen der Wechselwirtschaft in Entweder – Oder und auf Walter Benjamins These, Langeweile sei „immer die Außenseite des unbewußten Geschehens“; Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 1054; vgl. Strowick, Passagen der Wiederholung, a. a. O., S. 67–71.
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Neben der Provokation durch metaphorische Verschachtelungen, Gattungsüberschreitungen und Langeweile stellt die Evokation von Stimmungen ein wesentliches Element des Lektüremodells dar, welches der Schrift Die Wiederholung zugrunde liegt. Die Erklärung, die Constantius in seiner abschließenden Widmung an den Leser gibt, suggeriert eine hermeneutische Selbstverständlichkeit, ein Einvernehmen von Leser und Autor, und genau dadurch irritiert sie. Denn die Widmung lüftet weder das Rätsel der Wiederholung, noch hebt sie das Ärgernis der Lektüre auf, wenn sie plötzlich betont, das einzige, worauf es ankomme, sei die Stimmung: Du wirst also die Verschiedenheit der Übergänge verstehen, und mag dir gleich ab und an, wenn das Sturzbad der Stimmung plötzlich sich über dich ergießt, dabei ein wenig wunderlich zumute werden, so wirst du doch hinterdrein sehen, wie alles verschieden abgewandelt ist, je das eine im Verhältnis zum andern, sowie, daß die einzelne Stimmung ziemlich korrekt ist, und dies ist eine Hauptsache, weil das Lyrische hier so wichtig ist.704
Was heißt es, die „einzelne Stimmung“ sei „ziemlich korrekt“, sogar die „Hauptsache“? Und um was für eine Stimmung handelt es sich eigentlich? Hier sind wieder Constantius’ ästhetische Überlegungen zur Posse aufschlußreich. Im Gegensatz zur Tragödie und Komödie ist die Wirkung der Posse nicht gattungsspezifisch: Jede allgemeinere ästhetische Bestimmung scheitert an der Posse, und diese vermag auf keinerlei Weise eine Gleichförmigkeit der Stimmung bei dem mehr gebildeten Publikum zu erzeugen; denn da die Wirkung zum großen Teil auf der Selbsttätigkeit, der Produktivität des Zuschauers beruht, kommt die Individualität in einem ganz andern Sinne dazu, sich geltend zu machen, und ist in ihrem Genusse enthoben aller ästhetischen Verpflichtungen dazu, traditionell zu bewundern, zu lachen, gerührt zu werden usw.705
Die Wiederholung ähnelt der Posse: Sie erfüllt weder die Kriterien einer philosophischen Schrift entsprechend den Gepflogenheiten des Hegelianismus noch die einer Novelle, eines Bildungsromans oder Dramas – keinerlei Konventionen legen dem Leser eine bestimmte Rezeptionshaltung nahe. Ein weiteres tertium comparationis drängt sich auf: Die Posse versucht nicht, allgemeine Aussagen über den Menschen zu machen und diesbezügliche Lehren abzuleiten, sondern widmet sich der „zufälligen Konkretion“:706 Wenn eine Einteilung ihren Gegenstand nicht ideell erschöpft, so ist die zufällige in jeder Weise vorzuziehn, weil sie die Phantasie in Bewegung bringt. . . Wenn man in einem Theater
704 SKS 4, 96 / W, 97. 705 SKS 4, 34 / W, 32f. 706 SKS 4, 33 / W, 31.
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von einem Menschen eine Vorstellung empfangen will, so muß man entweder eine schlechthin durchgeführte in der Idealität konkrete Schöpfung verlangen, oder das Zufällige.707
Auf die Unmöglichkeit einer allgemeinen Bestimmung der Wiederholung zielt auch die Behauptung der oben zitierten Widmung, „daß die einzelne Stimmung ziemlich korrekt ist, und dies ist eine Hauptsache, weil das Lyrische hier so wichtig ist“708 . Analog zu Notabenes ‚lyrischer‘ Bestimmung, ein Vorwort sei Stimmung,709 ist auch die Wiederholung als Schrift ‚lyrisch‘ zu verstehen. Es geht um die Evokation von Stimmungen anläßlich konkreter Einzelfälle. Wie die Posse widmet sich die Wiederholung der zufälligen Konkretion: den Wiederholungsversuchen Constantius’ und des jungen Mannes. Daß diese scheitern und beide die Wiederholung nicht recht verstehen bzw. keine wirkliche Bewegung vollbringen, ist für eine solche Interpretation nicht kontraindikatorisch. Auch Extrema und Abweichungen sind hilfreich. Dies wird ebenso durch die Posse unterstrichen, deren Darstellerensemble nach dem Zufallsprinzip zusammengestellt ist: „Man braucht noch nicht einmal jemanden auszuschließen wegen eines Leibesfehlers; vielmehr würde eine solche Zufälligkeit gerade einen vortrefflichen Einschlag geben.“710 Jeder der beiden, Constantius wie der junge Mann, ist auf seine Weise ein „defektes Exemplar“711 , denn sie vermögen es nicht, die jeweils ihrige existentielle Wiederholung zu vollziehen. Die Wiederholung gibt es nicht, und so dient der Fall von Constantius und dem jungen Mann dazu, den Leser ‚zu bewegen‘, d.h. seine Phantasie in Gang zu bringen und seine Stimmung zu berühren, um den Möglichkeiten seiner Wiederholung nachzuspüren. Stimmungen sind jedoch flüchtig, und das Ende der Wiederholung, das die einzelne Stimmung in den Vordergrund stellt, ist kaum befriedigend – es ist kein Schluß. Gibt er nicht vollkommen enerviert auf, so wird der Leser es dem jungen Mann gleichtun und, wie dieser die Hiob-Erzählung, die Wiederholung noch einmal lesen, eventuell nur bestimmte Passagen, aber diese vielleicht mehrfach. Nun soll es nicht darum gehen, das Buch Hiob mit der Wiederholung zu vergleichen. Die Beschreibung der Hiob-Lektüre durch den jungen Mann liefert jedoch Anhaltspunkte für eine existentielle Theorie des Lesens. Dieses Lesen, so die These, ist ein Wiederholen. Gleich zu Anfang seines euphorischen Berichts über Hiob betont der junge Mann die Wichtigkeit einer wiederholten Lektüre. „Sie haben Hiob
707 SKS 4, 37 / W, 36. 708 SKS 4, 96 / W, 97. 709 SKS 4, 469 / V, 175. 710 SKS 4, 36 / W, 35. 711 SKS 4, 36 / W, 35.
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doch gelesen?“ fragt er Constantius – „Lesen Sie ihn, lesen Sie ihn wieder und immer wieder!“712 Auf diese Weise erhalten dieselben Passagen fortlaufend eine neue Bedeutung, die ob ihrer Vielfältigkeit und, so könnte man ergänzen, ob ihrer radikalen Abhängigkeit von der Verfaßtheit des Lesers unmöglich zu beschreiben ist. „Obwohl ich das Buch immer wieder gelesen,“ wundert sich der junge Mann, „ist jedes Wort mir neu. Jedesmal, wenn ich zu einem Worte komme, wird es zum ersten Mal geboren oder entsteht es mit einer Ursprungsmacht in meiner Seele“713 . Was der junge Mann hier beschreibt, ist der Prozeß der Sinnkonstitution, eine Bewegung zwischen Text und Leser, die vielfältige Verstehensmöglichkeiten aufruft. Dieser Prozeß läßt sich, wie Cornelia Rosebrock unter Rückgriff auf Wolfgang Isers Phänomenologie des Lesens demonstriert, als Wiederholung beschreiben: Im Repertoire fiktionaler Texte kehrt ständig Bekanntes wieder, bleibt sich in dieser Wiederholung aber nicht gleich; denn die Schemata des Textes werden im dynamischen Wechsel von Thema und Horizont aus ihrem zuvorigen Funktionszusammenhang gelöst. . . und können als solche durch die Wiederholung unter veränderten Bedingungen thematisch werden. Im Lesen werden so ständig (teils negierende) Rückgriffe auf gebildete innere Objekte konstituiert; auf diese wird nicht – wie etwa in einer Erinnerung – als fertige und gegebene zurückgegriffen, sondern sie werden wiederholend erneut festgestellt, das heißt, sie befinden sich im Leseakt als Wiederholungsprozeß unausgesetzt im Werden, verfestigen sich also nicht zu einer Identität.714
Bereits bei erstmaliger Lektüre eines Textes wird ‚Bekanntes‘ während des fortschreitenden Lesens ‚wiederholt‘, werden vorige Textabschnitte vor einem sich verändernden Hintergrund verstanden. Jede erneute Lektüre repetiert die vorige
712 SKS 4, 72 / W, 75. 713 SKS 4, 73 / W, 76. 714 Cornelia Rosebrock, Lektüre und Wiederholung, Kassel: Zentrale Druckerei der Universität/ Gesamthochschule Kassel 1994, S. 43f. Rosebrock bezieht sich auf Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink 1976, S. 308–311. Rosebrock vertritt die These, daß das Wiederholen den Lektüreprozeß auf allen Ebenen konstituiert – bereits die „Signifikationsbewegung selbst muß als ein Vorgang des differenten Wiederholens beschrieben werden, die Bedeutungszuweisung als ein Akt der Wiederholung tradierter Sinnkomplexe aus der Sprachtradition“ (Rosebrock, Lektüre und Wiederholung, a. a. O., S. 15). Kierkegaards Unterscheidung von Erinnerung und Wiederholung liefert die Grundlage für Rosebrocks generelle Interpretation des Lesens als Wiederholung: „Wiederholungsphänomene beim Lesen sind so selbstverständlich, daß sie zunächst nicht erklärungsbedürftig erscheinen. Etwas in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort Geschehenes, Gedachtes oder Empfundenes wird lesend innerlich vergegenwärtigt – also wiederholt. Es wird nicht eigentlich erinnert, weil es sich. . . um das erstmalige Erleben des Lesers handelt, und vor allem auch deshalb nicht, weil das Geschehen beim Lesen grundsätzlich nicht als Vergangenes geschaut, sondern aktuell ausgebildet wird“ (ebd., S. 23).
4.3 Die Wiederholung |
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und revidiert so das Verständnis. Diese hermeneutische Form der Wiederholung hat auch psychologische Aspekte. Wer seine Rezeption nicht durch die von Kierkegaard kritisierten bildungsbürgerlichen Gepflogenheiten bestimmen läßt, sondern stattdessen mit „des Herzens Auge“ liest, wie der junge Mann es formuliert, der versteht „wie in Hellsichtigkeit das Einzelne auf die verschiedenste Weise“715 . Eine solche Lektüre ist existentiell: Anhand eines Buches liest der Leser sich gleichsam selbst, so hintergründig diese Auseinandersetzung auch sein mag. Durch die Aktualisierung vergangener Erlebnisse während des Verstehensprozesses wiederholt der Leser sich selbst in dem von Kierkegaard bedeuteten Sinn. Schließlich, so Rosebrock, erfordert das Lesen als „inneres Erleben bloß symbolisch repräsentierter Wirklichkeit“ von jedem Lesenden „die Vermittlung mit der eigenen Wirklichkeit, also die Wiederherbeiholung und Gestaltung eigener Motive“716 . Die Lektüre übt und vollzieht die existentielle Aufgabe der Konkretion des Selbst: Der Wiederholung als die Bewegung, mit der das unzugängliche Reale oder das NichtPräsente in die Existenz geholt wird, ist es nach Kierkegaard zuzuschreiben, daß sich der Existierende in einem Willensakt zu seinem eigenen Werden verhält: Das, was dem Subjekt ohne die Beteiligung seines Willens zugefügt wurde und nun seine Konstitution und sein Dasein bestimmt, gilt es zu wiederholen, um es anzueignen.717
Kierkegaards Lektüremodell verlangt vom Leser jedoch mehr als die Akzeptanz der jeweils eigenen Persönlichkeit. Ein Blick auf die Definition des authentischen Selbstseins in der Krankheit zum Tode präzisiert: Es geht nicht nur darum, sich selbst anzuerkennen, sondern sich als ein durch ein Anderes gesetztes Selbst zu akzeptieren.718 Gerade dies vollbringt der junge Mann nicht, und auch seine HiobLektüre vermag ihn nicht von seinem Wahn zu heilen, sich selbst und seine Welt (eine Welt der Ideen) vollkommen erdichten zu wollen. Der junge Mann öffnet sich nicht dem Anderen (der Geliebten, der Gesellschaft), er übt sich nicht in demütiger Akzeptanz seines ‚Geworfenseins‘ in diese bestimmte historische, soziale und kulturelle Situation, sondern er meint, sein Selbst in totaler Isolation selbst schaffen zu können – er versucht, par force das Selbst zu sein, das er sein möchte. Der junge Mann bleibt daher verzweifelt, und er versteht die Wiederholung Hiobs so,
715 SKS 4, 72 / W, 75. 716 Rosebrock, Lektüre und Wiederholung, a. a. O., S. 25. Rosebrock weist auch auf die „psychisch größere Reichweite“ der Wiederholung hin, die „durch die Verkleidung des Eigenen im Bild des Anderen nicht im gleichen Ausmaß wie die Erinnerung der Zensur des Ichs unterliegt“ (ebd., S. 44). 717 Ebd., S. 43. 718 SKS 11, 129 / KT, 9.
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wie es für ihn am bequemsten ist. Die Profanität der von außen kommenden Veränderung, die in der Hochzeit seiner ehemaligen Geliebten besteht, interpretiert er nur allzu bereitwillig als seine Wiederholung: wie Hiob habe er alles zweifach zurückempfangen. Der Leser der Wiederholung wundert sich zu Recht über die rhetorische Frage des jungen Mannes, welche die Ähnlichkeit zu Hiobs Wiederholung überschwenglich suggeriert, indem sie ‚zweifach‘ nonchalant so deutet, daß es paßt: „Hab ich nicht mich selbst zurückempfangen, gerade auf die Art, daß ich die Bedeutung davon zwiefältig empfinden mußte?“719 Während Hiob jedoch immer auf Gott bezogen bleibt, selbst wenn er ihn in Frage stellt und verflucht, vergißt der junge Mann sein unabänderliches ‚Gesetztsein durch ein Anderes‘. Lesen, so hat sich gezeigt, ist Wiederholen auf verschiedenen Ebenen. Existentielles Lesen wiederholt das Selbst als ein verändertes Selbst. Der junge Mann ist ein Beispiel für eine wiederholende Lektüre. Sie scheitert jedoch: In ihr reproduziert er lediglich seine Identität, ohne diese in Frage zu stellen. Er demonstriere damit, so Pattison, eine bad practice des Lesens, denn er lese ästhetisch und nicht ethisch-religiös.720 Die existentielle Lektüre beinhaltet immer auch ein kenotisches Element – zumindest die Bereitschaft, Vorstellungen und Illusionen bezüglich der eigenen Identität aufzugeben: „Der Text bearbeitet uns, um uns aufzubauen, aber gemäß der spezifischen Bedeutung von Kierkegaards Kategorie der ‚Dialektik der Inversion‘, das heißt, durch eine sorgsame und langsame Dekonstruktion all unserer Ansprüche, das zu sein, was wir, bis jetzt, glaubten oder behaupteten zu sein.“721 Kierkegaard zufolge ist hierfür jedoch, das wird Kapitel 4.5 zeigen, eine Intervention Gottes nötig.
4.3.5 Die Wiederholung als Methode einer Philosophie nach der Philosophie Als Kategorie einer ‚neueren Philosophie‘ stellt die Wiederholung keine einfache Reproduktion von etwas Vorigem dar, sondern dessen Aktualisierung unter anderen Umständen – „eben dies, daß es gewesen ist, macht die Wiederholung zu etwas Neuem“722 . Die Schrift Die Wiederholung verdeutlicht dieses Verständnis performativ, indem sie verschiedene Wiederholungen vollzieht. Auf der Satzebene demonstriert sie anhand der aufeinander verweisenden Metaphorisierungen den
719 SKS 4, 87f. / W, 89. 720 Vgl. George Pattison, „Learning to Read the Signs of the Times“, in ders., Kierkegaard, Religion and the Nineteenth-Century Crisis of Culture, Cambridge: Cambridge University Press 2002, S. 222–244, S. 224. 721 Ebd., S. 234 (meine Übers.). 722 SKS 4, 25 / W, 22.
4.3 Die Wiederholung |
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offenen, sich beständig wiederholenden Bedeutungsprozeß, und auf der Textebene repetiert sie Constantius’ Geschichte in der des jungen Mannes. Wiederholen läßt sich auch als eine Rücknahme, als eine Widerrufung verstehen – das suggeriert das dänische Gjentagelse ebenso wie das deutsche ‚Wieder-Holen‘ –, und auch diese Form des Wiederholens führt die Schrift vor. Die philosophischen Überlegungen, die ob der Umsicht und Bedächtigkeit, mit der sie Constantius eingangs vorträgt, fast schon chiastisch zu der darauf folgenden schmollenden Starrköpfigkeit wirken, werden durch das Experiment der Berlinreise widerrufen. Dieses Experiment stellt „die bewußte, Schabernack spielende Zurücknahme der Mitteilung“723 dar. Die Briefe des jungen Mannes wiederum widerrufen das Ergebnis des Experiments, indem sie beteuern, es gebe durchaus eine Wiederholung, der junge Mann habe sie schließlich selbst erlebt. Keiner von beiden, weder Constantius noch der junge Mann, wirkt überzeugend, und so ist Constantius’ Lob des Posthorns, das für ihn die Unmöglichkeit der Wiederholung symbolisiert, nur als erneute Widerrufung zu deuten. Der Satz sagt jedoch mehr, als Constantius selbst versteht: Es lebe das Posthorn! Es ist mein Instrument. . . vornehmlich deshalb, weil man diesem Instrument niemals mit Sicherheit den gleichen Ton entlocken kann; denn es liegt in einem Posthorn eine unendliche Möglichkeit, und wer es an seinen Mund setzt und in ihm seine Weisheit kund macht, er wird sich nie einer Wiederholung schuldig machen, und wer seinem Freunde anstatt einer Erwiderung ein Posthorn reicht zur gefälligen Benutzung, der sagt nichts und erklärt alles.724
Das Posthorn veranschaulicht lediglich die Unmöglichkeit einer identischen Reproduktion, und sein „differenter Mono-Ton“725 symbolisiert daher durchaus die Wiederholung als philosophische Kategorie: Es erklingt Vergangenes in neuen Schwingungen. Auch die Erwähnung des Posthorns hat daher eine performative Funktion. Sie ist innerhalb der pseudonymen Rede eine Gabe Kierkegaards an den Leser – er „sagt nichts und erklärt alles“. Was das implizite Lektüremodell der Wiederholung von dem Leser fordert, läßt sich auch auf die Philosophie als Disziplin übertragen. So, wie es für den Leser gilt, der Schrift Die Wiederholung durch wiederholte Lektüre immer wieder ‚neue Töne‘ zu entlocken und dadurch auch das eigene Dasein zu modifizieren, so gilt es Kierkegaard zufolge für den Philosophen, die Tradition unter den Voraussetzungen und Belangen der Gegenwart zu ‚wiederholen‘ und dieser dabei neue Impulse zu geben. Im Unterschied zu der von Kierkegaard kritisierten akademi-
723 SKS 7, 239 / AUN1, 258. 724 SKS 4, 48 / W, 49. 725 Strowick, Passagen der Wiederholung, a. a. O., S. 17.
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schen Mode des 19. Jahrhunderts, über die Überlieferungen der Philosophiegeschichte ‚hinauszugehen‘ und diese als vorige Etappen einer Entwicklung des Geistes höchstens historisch zu berücksichtigen, ‚wieder-holt‘ die von Kierkegaard entworfene posthegelianische Philosophie Konzepte, Metaphern, Theorien und Praxen der philosophischen Tradition. Die Wiederholung als Schrift holt die performative Philosophie des Diogenes, dessen Auftreten sie eingangs zitiert, zurück in die Philosophie des 19. Jahrhunderts, und sie wiederholt die Betonung der Bewegung in einer Zeit, in der man an existentieller Starre und Verzweiflung krankt. Was Die Wiederholung nur andeutet – die Methode einer ‚Wieder-Holung‘ –, soll nun anhand von zwei Beispielen erläutert werden: Kierkegaards Auseinandersetzung mit der Sokrates-Figur sowie mit dem Reflexionsverständnis Meister Eckharts.
4.4 Sokrates noch einmal: Viehbremsen und Hebammen Die Verweise auf Sokrates ziehen sich durch Kierkegaards gesamtes Werk. Wieder und wieder rekurriert Kierkegaard auf den antiken Denker, sei es in der Arbeit Über den Begriff der Ironie, sei es in den Philosophischen Brocken, der Nachschrift, den posthum veröffentlichten Schriften über sich selbst oder in den Journalen. Diese umfangreiche Auseinandersetzung, die es anhand der genannten Werke im folgenden zu untersuchen gilt, ist nicht historisierend, sondern aktualisierend. Kierkegaard, so die These, wiederholt Sokrates, und zwar auf verschiedene Weisen: Er ‚holt‘ die sokratische Praxis des Philosophierens aus der Antike in das 19. Jahrhundert und paßt sie an die neue kulturelle Situation an, zu welcher auch die Schriftlichkeit gehört (4.4.1). Auch die Figur des Sokrates wird unterschiedlich wiederholt; er erscheint als Wegbereiter der Spekulation und als deren Überwinder.726 Hierbei spielt die Modifizierung der Anamnesis-Theorie eine entscheidende Rolle, was Konsequenzen für das Konzept der Maieutik hat (4.4.2). Die
726 Die vielfältige Interpretierbarkeit der Sokrates-Figur, hervorgerufen durch die Diskrepanz der Überlieferungen und die Divergenz der sich auf Sokrates berufenden Schulen beschreibt Gernot Böhme. Er votiert dafür, auf historische Rekonstruktionsversuche zu verzichten und stattdessen nicht von Sokrates, sondern von dessen „Typ“ zu sprechen: Gernot Böhme, Der Typ Sokrates, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 25–36. Im folgenden geht es nicht um die Erforschung einer vermeintlich originalen Philosophie des Sokrates. Vielmehr schließe ich mich Böhmes Prämisse an, und wenn von Sokrates gesprochen wird, bedeutet dies immer: die Figur oder der Typ Sokrates im Verständnis Kierkegaards. Wie Muench nachweist, orientiert sich Kierkegaard hauptsächlich an dem Sokrates der Apologie; Paul Muench, „Apology: Kierkegaard’s Socratic Point of View“, in Kierkegaard and the Greek World, Tome I, Socrates and Plato, hg. von Jon Stewart und Katalin Nun, Aldershot: Ashgate 2010 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 2),
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von Kierkegaard verwendeten Metaphern der Hebamme und der Viehbremse dienen nicht nur der drastischen Veranschaulichung seiner Sokrates-Interpretation, sondern gleichzeitig einer weiteren ‚Wiederholung‘: einer Rücknahme der Mitteilung. Die Katachresen, der permanente semantische Clash und das Nebeneinander konträrer Bildbereiche führen letztlich dazu, daß Kierkegaard genau das praktiziert, was Sokrates tat – den Leser respektive Hörer zu irritieren und sich ihm als Autorität zu entziehen (4.4.3).
4.4.1 Die Wiederholung des Sokratischen Philosophierens Daß Sokrates der daimon war, der Kierkegaard ein Leben lang inspiriert hat,727 zeigt sich am deutlichsten in Kierkegaards Journaleinträgen, u.a. in dem erst posthum veröffentlichten Augenblick Nr. 10. Kierkegaard analysiert die Kultur des 19. Jahrhunderts als Wiederholung der Situation Athens zur Zeit des Sokrates, und er basiert sein Selbstverständnis als Autor auf Sokrates’ Interaktion mit den Athener Bürgern. Ein Vergleich, den Sokrates in der Apologie vornimmt, ist Dreh- und Angelpunkt dieser Identifikation: Er sei, so Sokrates, eine Viehbremse, die von den Göttern der Stadt gesandt wurde, weil diese aufgrund ihrer Größe zu Trägheit neige und des Ansporns bedürfe.728 Kierkegaard beteuert, wie Sokrates in göttlicher Kommission zu handeln; auch seine Aufgabe bestehe darin, die Zeitgenossen zu provozieren und aus selbstgefälliger Scheinharmonie auf-
S. 3–25, bes. S. 10f. Eine ausführliche Version von Muenchs Beitrag findet sich in Kierkegaardiana 24 (2007), S. 132–163. 727 Vgl. Bruce H. Kirmmse, „Socrates in the Fast Lane: Kierkegaard’s The Concept of Irony on the University’s Velocifère. Documents, Context, Commentary, and Interpretation“, in The Concept of Irony, hg. von Robert L. Perkins, Macon, Georgia: Mercer University Press 2001 (International Kierkegaard Commentary, Bd. 2), S. 17–99, S. 99. 728 Vgl. Platon, Apologie, 30e-31a. Kierkegaard verweist explizit auf die Textstelle: „Dies hat er selber ironisch richtig gefaßt an jener Stelle der Apologie, an der er sagt, er sei gleichsam eine Gabe der Götter und dies näher dahin bestimmt: er sei eine Bremsfliege, wie sie der griechische Staat gleich einem großen und edlen aber trägen Pferd nötig habe.“ SKS 1, 256 / BI, 217. Vermutlich hat Kierkegaard die Ausgabe von Friedrich Ast verwendet: Platonis quae exstant opera. Accedunt Platonis quae feruntur scripta, Bd. 1–11, hg. von Friedrich Ast, Leipzig: Weidmann 1819–1832 (ASKB 1144–1154), Bd. 7, S. 130f. Für eine detaillierte Untersuchung der Metapher der Viehbremse im Kontext von Kierkegaards Sokrates-Interpretation siehe Hjördis Becker-Lindenthal, „Gadfly: Kierkegaard’s Relation to Socrates“, in Kierkegaard’s Literary Figures and Motifs, Tome I, Agamemnon to Guadalquivir, hg. von Jon Stewart und Katalin Nun, Aldershot: Ashgate 2014 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 16), S. 259–277.
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zuscheuchen.729 Wie im antiken Athen dominieren auch im Kopenhagen des 19. Jahrhunderts Sophisten den öffentlichen Diskurs und prägen Denken und Selbstverständnis der Zeitgenossen – mit dem einzigen Unterschied, daß 1800 nach Christi Geburt die Lage noch drastischer ist als 500 v. Chr.: Die ‚Christenheit‘ liegt in einem Abgrund von Sophistik, weit weit schlimmer als zu der Zeit, da die Sophisten in Griechenland in Blüte standen. Diese Legionen Pfarrer und christlichen Dozenten, sie sind alle Sophisten, ernähren sich. . . davon, daß sie denen, die nichts verstehen, etwas einbilden und dann diese Menschenmenge zur Instanz dafür machen, was Wahrheit, was Christentum ist.730
Die Strategie, die Kierkegaard als die einzig mögliche erachtet, ist der sokratische Gestus der Ignoranz. In einem kulturellen und intellektualisierten Christentum, dessen Vertreter einzig auf karrierefördernde Breitenwirkung abzielten, helfe nur noch der Rückgriff auf Sokrates’ Taktik des zur Schau getragenen Nichtwissens. Letzteres wird im oben beschriebenen Sinne wiederholt: Das Sokratische Nichtwissen erscheint unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts als Kierkegaards provozierende Proklamation, er sei, trotz Taufschein und Konfirmation, kein Christ: „Das einzige Gegenstück [Analogie], das ich für mich habe, ist: Sokrates; meine Aufgabe ist eine Sokratische Aufgabe, nämlich die Bestimmung des Christseins einer Prüfung zu unterziehen; selber nenne ich mich nicht einen Christen (und halte so den Platz für das Ideal frei), aber ich kann offenbar machen, daß die andern es noch weniger sind.“731 Daß es sich dabei nicht nur um eine bloße Kopie der Sokratischen Haltung handelt, sondern um eine kreative Auseinandersetzung mit dieser, wird anhand der Täuschungsfrage deutlich. Kierkegaard weicht hier von den im 19. Jahr-
729 Kierkegaard zufolge charakterisiert die bewußte Exposition gegenüber öffentlichem Spott beide in einem gewissen Sinne sogar als Märtyrer. Er gründet seine ungewöhnliche Kennzeichnung Sokrates’ als vorchristlichen Märtyrer auf dessen Akzeptanz des Todesurteils: Sokrates sei ein „Märtyrer der Gedanklichkeit unter den Menschen, ebenso groß als Charakter wie als Denker“ gewesen; SKS 13, 405 / A, 329. 730 SKS 13, 405f. / A, 329f. Für eine detaillierte Analyse der Analogie, welche der Augenblick Nr. 10 zwischen der Situation Kierkegaards und Sokrates’ zieht, siehe Muench, „Apology: Kierkegaard’s Socratic Point of View“, a. a. O., bes. S. 10f. Wenn Kierkegaard Sokrates als Kontrahenten der Sophisten darstellt, wiederholt er Platons strategische Entgegensetzung von Philosophie und Sophistik. Aus heutiger Sicht wäre Sokrates jedoch durchaus den Sophisten zuzurechnen; vgl. Böhme, Der Typ Sokrates, a. a. O., S. 28; siehe auch Gernot Böhme, „Demarcation as a Strategy of Exclusion: Philosophers and Sophists“, in The Knowledge Society. The Growing Impact of Scientifc Knowledge and Social Relations, hg. von G. Böhme und N. Stehr, Boston und Dordrecht: Reidel 1986, S. 57–66. 731 SKS 13, 405 / A, 329.
4.4 Sokrates noch einmal: Viehbremsen und Hebammen |
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hundert üblichen Sokrates-Interpretationen ab, welche Sokrates’ Beteuerung, unwissend zu sein, als gezielte Täuschung seiner Gesprächspartner verstehen.732 Kierkegaard unterscheidet zwischen ‚empirischer‘ Unkenntnis und Unwissen in Hinblick auf den ‚Grund allen Daseins‘. Sokrates sei durchaus sehr gebildet und belesen gewesen, darin stimmt Kierkegaard in den damaligen Forschungstenor ein. Im ‚philosophischen Sinne‘ könne Sokrates jedoch als vollkommen unwissend gelten: „Betreffs des allem zu Grunde Liegenden, betreffs des Ewigen, des Göttlichen war er unwissend. . . insofern das Einzige, was er darüber aussagen konnte, war, daß er darüber nichts wisse.“733 Sokrates’ Aussage als authentisch interpretierend, wiederholt Kierkegaard selbst jedoch den sokratischen Gestus in Täuschungsabsicht: Seine Verwirrung hinsichtlich des Christseins ist gespielt. Schließlich hat Kierkegaard durchaus präzise Kriterien dafür, was Christsein bedeutet, und demonstriert diese öffentlich: Er tritt als ‚Einzelner‘ auf und übernimmt die Verantwortung für sein Handeln rigoros und ohne Rücksicht auf Konventionen und Personen. Auf diese Weise suggeriert Kierkegaard, dem wahren Christsein (wie er es versteht) zumindest näher zu sein als seine Zeitgenossen, auf deren diesbezügliches Versagen er beständig hinweist.
732 David Possen zeigt, daß Kierkegaard im Gegensatz zu den Akademikern seiner Zeit – u.a. auch Hegel – der Sokratischen Ironie eine andere Funktion zuspricht als die der Täuschung: David D. Possen, „Protagoras and Republic: Kierkegaard on Socratic Irony“, in Kierkegaard and the Greek World, Tome I, Socrates and Plato, hg. von Jon Stewart und Katalin Nun, Aldershot: Ashgate 2010 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 2), S. 87–104, S. 88. Vgl. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, a. a. O., S. 174 (§ 81, Zusatz 1). John Lippitt bezieht das damals ungewöhnliche Verständnis auf gegenwärtige SokratesInterpretationen; John Lippitt, Humor and Irony in Kierkegaard’s Thought, New York et al.: St. Martin’s Press 2000, S. 137–146. Bekanntlich ist Sokrates’ Denken und Handeln von mehreren Quellen überliefert, d.h. durch die Darstellungen Xenophons, Platons und Aristophanes’ vermittelt. Kierkegaard ist sich der Schwierigkeit bewußt, „das rein Sokratische herauszufinden“ (SKS 1, 102 / BI, 40), wie Böhme positiv vermerkt (Böhme, Der Typ Sokrates, a. a. O., S. 185). Kierkegaard meint trotzdem, als genuine Eigenschaft des historischen Sokrates dessen aufrichtige Unwissenheit herausstellen zu können: „Gleich Simson faßt Sokrates um die Säulen, welche die Erkenntnis getragen, und stürzt nun alles nieder in das Nichts der Unwissenheit. Daß dies echt sokratisch ist, wird gewiß jeder zugeben; platonisch dagegen wird es nie.“ SKS 1, 102 / BI, 40. 733 SKS 1, 227f. / BI, 175. Kierkegaard sieht hierin die Besonderheit der Sokratischen Ironie: „Sokrates ist, wenn er erklärte, nichts zu wissen, gleichwohl wissend gewesen, da er von seiner Unwissenheit ein Wissen hatte, obwohl auf der andern Seite dies Wissen doch kein Wissen von ‚etwas‘ war, das will heißen, keinerlei positiven Inhalt hatte, und insofern also ist seine Unwissenheit ironisch gewesen.“ SKS 1, 306 / BI, 274. Zu Kierkegaards Ironiebegriff in diesem Zusammenhang siehe K. Brian Soderquist, The Isolated Self: Irony as Truth and Untruth in Søren Kierkegaard’s On the Concept of Irony, Kopenhagen: Reitzel 2007, S. 63.
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In einer anderen Hinsicht jedoch versteht Kierkegaard Sokrates’ Intentionen als täuschend: Sokrates habe seine Gesprächspartner in Hinblick auf die Art der Unterhaltung irregeführt (immerhin habe er die jungen Männer Athens in etwas hineingelockt, was nur scheinbar eine Belehrung seiner selbst war, sondern auf die Enthüllung ihres Unwissens abzielte). Aus diesem Grund bezeichnet Kierkegaard Sokrates als Vorbild und Inspiration für seine eigene Theorie der indirekten Mitteilung. Sokrates habe seine Gesprächspartner mit einer vermeintlich einfachen Frage in ein Gespräch verwickelt und auf diese Weise, nämlich indirekt, die Existenz der jungen Männer hinterfragt, wie Nikias es Lysimachos gegenüber beschreibt: Du scheinst gar nicht zu wissen, dass[,] wer der Rede des Sokrates nahe genug kommt, und sich mit ihm einlässt ins Gespräch, unvermeidlich, wenn er auch von etwas ganz anderem zuerst angefangen hat zu reden, von diesem so lange ohne Ruhe herumgeführt wird, bis er ihn da hat, dass er Rede stehen muss über sich selbst, auf welche Weise er jetzt lebt, und auf welche Weise er das vorige Leben gelebt hat; wenn ihn aber Sokrates da hat, dass er ihn dann gewiss nicht eher herauslässt, bis er dies Alles gut und gründlich untersucht hat.734
Diese Form der Täuschung ist entscheidend für die indirekte Mitteilung. Auch er habe, so Kierkegaard in der nachträglichen Interpretation seiner ‚ästhetischen‘ Werke, den Leser mit einer Lektüre geködert, die etwas anderes gewesen sei, als sie vorgegeben habe, nämlich keine Unterhaltungslektüre, sondern eine Präparierung für Kierkegaards christliche Erweckungsstrategie: Indes unter dem alles umfassenden Gesichtspunkt der gesamten Wirksamkeit als Schriftsteller ist die ästhetische Schriftstellerei eine Täuschung; dies ist die tiefere Bedeutung der ‚Pseudonymität‘. Aber eine Täuschung, das ist ja ein häßlich Ding. Darauf würde ich antworten: man lasse sich von dem Wort ‚Täuschung‘ nicht täuschen. Man kann einen Menschen täuschen über das Wahre, und man kann, um an den alten Sokrates zu erinnen, einen Menschen hineintäuschen in das Wahre. Ja, eigentlich vermag man einzig und allein auf diese Weise einen Menschen, der in einer Einbildung [Indbildning] befangen ist, in das Wahre hineinzubringen, dadurch nämlich[,] daß man ihn täuscht.735
734 Platon, Laches 187e–188a. In: Platon, Werke, a. a. O., 1. Theil, Bd. 1, S. 213–246, S. 230; vgl. William McDonald, „Indirection and Parrhesia: the Roles of Socrates’ Daimonion and Kierkegaard’s Styrelse in Communication“, in Søren Kierkegaard and the Word(s). Essays on Hermeneutics and Communication, hg. von Poul Houe und Gordon D. Marino, Kopenhagen: Reitzel 2003, S. 127–138, S. 128. 735 SKS 16, 35 / GWS, 48. Siehe auch: „Man beginnt also. . . nicht so: ich bin Christ, du bist kein Christ; sondern so: du bist Christ, ich bin kein Christ. Oder man beginnt nicht so: es ist Christentum, was ich verkündige, und du lebst in bloß ästhetischen Bestimmungen, nein, man beginnt so: laß uns vom Ästhetischen reden; die Täuschung liegt darin, daß man so redet, eben um zum Religiösen zu kommen.“ SKS 16, 36 / GWS, 49.
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Kierkegaard wiederholt in seiner Autorschaft die Haltung des Sokrates, wie sie in den frühen Platonischen Dialogen überliefert ist. Das, was Sokrates 500 v. Chr. auf dem Forum Athens durch das Gespräch bewirkt hat, läßt sich in der Moderne nicht reproduzieren. Kierkegaard operiert zu Beginn des massenmedialen Zeitalters. Um die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu ziehen, die Faszination zu erhalten und existentielle Erschütterungen auszulösen, ist mehr nötig als eine Unterhaltung auf dem Marktplatz. So sehr Kierkegaard in den Gassen Kopenhagens das Gespräch gesucht hat und deswegen verhöhnt worden ist, so sehr er sogar die Sokratische Gestalt ‚wiederholt‘ hat (statt der Nase war sein gekrümmter Rücken Gegenstand des Spottes) – denselben Effekt konnte er damit nicht erzielen. Die öffentliche Aufmerksamkeit sucht sich im 19. Jahrhundert schnell eine andere Zielscheibe, und der einzelne Bürger folgt dem Fokus der Tagespresse. Kierkegaard verlegt sein sokratisches Wirken daher in eine rege Publikationstätigkeit. Es ist die zuvor beschriebene Literarizität seiner Philosophie, mit der er den Leser fasziniert und schließlich in eine existentielle Auseinandersetzung ‚hineintäuscht‘.
4.4.2 Existentielle Amnesie Kierkegaards Kritik des 19. Jahrhunderts, das wurde schon mehrfach angedeutet, kreist um die Verfehlung der existentiellen Aufgabe – man habe vollkommen vergessen, was es heißt, zu existieren.736 Der Ausdruck ist mit Bedacht gewählt: Kierkegaard stellt seine Kulturkritik in ein semantisches Spannungsfeld von Sündenmetaphorik und Anamnesistheorie; beide werden wiederholt, d.h. neu gedacht vor dem Hintergrund einer aufsteigenden Kultur der Medien und des Wissens. Der Platonische Sokrates agiert bekanntlich vor dem Hintergrund der Annahme, die Seele habe vor ihrer Inkorporation die Ideen geschaut und dann vergessen. Das derart vorhandene Wissen könne jedoch wieder erinnert werden. Dazu ist Unterstützung nötig, eine Art Geburtshilfe, die sich in Sokrates’ Selbstbezeichnung als Hebamme spiegelt.737 Kierkegaard greift beides auf, die
736 SKS 7, 220 / AUN1, 234. 737 Vgl. Platon, Theaitetos 150a–150d. Zu der Rezeption des Theaetet durch Kierkegaard siehe Marius Timmann Mjaaland, „Theaetetus: Giving Birth, or Kierkegaard’s Socratic Maieutics“, in Kierkegaard and the Greek World, Tome I, Socrates and Plato, hg. von Jon Stewart und Katalin Nun, Aldershot: Ashgate 2010 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 2), S. 115–146. Timmann Mjaaland betont die kreative Übernahme der dort erläuterten Maieutik durch Kierkegaard. Er bezeichnet sie als Wiederholung gemäß der emphatischen Definition Kierkegaards: „his maieutics is not a simple copy of the Socratic pattern, but a genuinely new application of the maieutic problem in a different historical and spiritual context.“ Ebd., S. 116.
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Anamnesistheorie wie die Maieutik. Er interpretiert sie neu und zeigt sich dabei skeptisch gegenüber der Gestalt des Sokrates, wie sie der späte Platon überliefert. Kierkegaards Wiederholung der Anamnesistheorie enthält zudem einen Twist: Die Menschen seien alles andere als unwissend; vielmehr ist es gerade einem Zuviel an Wissen geschuldet, daß die Menschen vergessen haben, was Existieren bedeutet.738 Wie in Kapitel 2.4.3 beschrieben, akkumulieren Kierkegaard zufolge seine Zeitgenossen Wissen – mit der einzigen Absicht, es für das gesellschaftliche oder geschäftliche Vorankommen zu instrumentalisieren.739 Ein solches Wissen bleibt extern, es führt nicht zu einem Bildungsprozeß im Sinne Humboldts. Der Anstieg des Wissens, so läßt Kierkegaard es Anti-Climacus auf den Punkt bringen, korrespondiert nicht mit zunehmender Selbstkenntnis.740 Dies ist das entscheidende distinktive Merkmal von Kierkegaards Auseinandersetzung mit der Anamnesistheorie: Während Sokrates gemäß der Platonischen Vorstellung den Athener Bürgern hilft, sich von dem nur allzu menschlichen, kontingenten Wissen zu befreien und sich stattdessen an die ewige und allgemeine Wahrheit der Ideen zu erinnern, zielt Kierkegaards Kritik auf das abstrakte unmenschliche Wissen741 und rehabilitiert die Kontingenz der individuellen Existenz, an die es sich zu erinnern gilt. Seine Zeitgenossen spürten zwar ein Unbehagen, könnten aber nicht dessen Ursache erkennen, so Kierkegaard. Dem Chaos des 19. Jahrhunderts könne daher nur ein Sokrates abhelfen: „Man meint, die Welt bedürfe einer Republik, und man meint, einer neuen Gesellschaftsordnung zu bedürfen und einer neuen Religion: niemand aber denkt daran, daß es doch wohl ein Sokrates ist, dessen diese, gerade von vielem Wissen verwirrte Welt bedarf.“742 Die ‚Wieder-Holung‘ der Sokrates-Figur, die Kierkegaard hier vornimmt, basiert auf einer Unterscheidung zwischen einer platonischen Anamnesisdoktrin und der Sokratischen Anwendung einer solchen Theorie: Im Sinne Platos hieße dies[,] das Dasein stärken mit dem erbaulichen Gedanken, daß der Mensch nicht mit leeren Händen in die Welt hinausgetrieben worden sei, d.h. damit, daß man sich vermöge der Erinnerung an seine reiche Mitgift besinnt; in sokratischem Sinne
738 Climacus betont, daß „man overhovedet ved den megen Viden havde glemt hvad det er at existere og hvad Inderlighed har at betyde“; SKS 7, 220 / AUN1, 234. 739 Vgl. Paul Muench, „The Socratic Method of Kierkegaard’s Pseudonym Johannes Climacus: Indirect Communication and the Art of ‘Taking Away’“, in Søren Kierkegaard and the Word(s). Essays on Hermeneutics and Communication, hg. von Poul Houe und Gordon D. Marino, Kopenhagen: Reitzel 2003, S. 139–150, S. 140. 740 Vgl. SKS 11, 147 / KT, 27f. 741 SKS 11, 147 / KT, 28. 742 SKS 11, 205 / KT, 92.
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heißt es, die ganze Wirklichkeit verwerfen und den Menschen auf seine Erinnerung verweisen, welche sich fort und fort immer weiter zurückzieht gegen eine Vergangenheit hin, die ihrerseits sich so weit zurückzieht in der Zeit, wie der Ursprung jener adligen Familie, dessen niemand sich entsinnen konnte.743
Sokrates’ Umgang mit der Vorstellung der Anamnesis hat Kierkegaard zufolge eine postrestitutive Funktion. Sie ist ein Element der elenktischen Methode, keine Doktrin, sondern, so Kierkegaard, ein Mythos,744 dessen sich Sokrates zur Irritation und Beunruhigung seiner Gesprächspartner bediene. Wir seien schon viel zu weit von dem ursprünglich geschauten Wissen entfernt, als daß wir auf dieses zurückgreifen könnten. Dessen gewahr zu werden, daß keine ewigen Ideen Orientierung spenden, sondern daß letztere selbst generiert werden muß, ist laut Kierkegaard der erste Schritt zur Selbstwerdung. Durch eine Unterhaltung mit Sokrates werde der Glaube an bislang unangezweifelte Autoritäten – Traditionen, Regeln, Personen – destruiert. Dadurch werden die Gesprächspartner auf sich selbst zurückgeworfen und mit der existentiellen Aufgabe konfrontiert, eigenständig Kriterien für ihr Leben zu finden und diesbezügliche Entscheidungen zu fällen. Folgt man Kierkegaard, dann grenzt Sokrates’ oben zitiertes Verständnis der Anamnesis an Sündenbewußtsein. Die Frage der Kompatibilität der Sokratischen Existenz mit dem Christentum ist zentral für Kierkegaards Auseinandersetzung mit seinem antiken Vorbild. Dies betrifft auch die Re-Interpretation von Sokrates’ postrestitiver Maieutik: Mal scheint es, als ob Sokrates helfen könne, ein ‚Selbst‘ zu gebären, und als ob er auch selbst ein solches gehabt habe. Wie Brian Soderquist jedoch zeigt, macht Kierkegaards Sokrates nur den ersten Schritt innerhalb der Doppelbewegung der Ironie. Diese befreie zwar von überlieferten Werten und unmittelbaren Belangen, führe aber nicht zu einem Selbst. Die Sokratische Ironie stellt sowohl Motor als auch Hindernis für ein gelingendes Selbstverhältnis dar, wie es die Krankheit zum Tode definiert: Wahres Selbstsein müsse in dem einzigartigen, endlichen Lebenskontext des jeweiligen Individuums realisiert, müsse konkretisiert werden. Sokrates’ Ironie vollführe nur eine Bewegung hinein in die Unendlichkeit und Freiheit, scheinbar notwendige soziale Normen brechend und so die Bande der Weltlichkeit lösend; er kehre jedoch nicht in die Gefilde der Wirklichkeit zurück. Aus diesem Grund wird er als zwischen Himmel und Erde
743 SKS 1, 120 / BI, 62. 744 So die Interpretation Possens, der die pragmatische Funktion, welche das Anamnesiskonzept für Sokrates einnimmt und auf welche Kierkegaard rekurriere, anhand des Dialoges Menon herausarbeitet: David D. Possen, „Meno: Kierkegaard and the Doctrine of Recollection“, in Kierkegaard and the Greek World, Tome I, Socrates and Plato, hg. von Jon Stewart und Katalin Nun, Aldershot: Ashgate 2010 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 2), S. 27–44, S. 29.
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schwebend dargestellt, verfehlt er doch die Aufgabe der Synthesenbildung von Endlichem und Unendlichem.745 Vor allem in den Philosophischen Brocken wird betont, daß nur Jesus Christus die Geburt des Selbst bewirken könne, denn er allein vermöge das hierfür notwendige Sündenbewußtsein zu erzeugen. Dieses sei ein Gnadengeschenk. Die Ambivalenz, die sich hinsichtlich der Frage nach der Bedeutung Sokrates’ für die Selbstwerdung entfaltet, kann jedoch durch die Interpretation seiner Gestalt als Wegbereiter Christi gemildert werden: Kierkegaard versteht Sokrates als von Gott gesandt mit dem Auftrag, den Menschen zu verdeutlichen, daß sie sich nicht mehr aus eigener Kraft der Wahrheit nähern könnten. Sokrates’ elenktische Dialoge bereiteten so auf das göttliche Geschenk der Sündenvergebung vor. Diese ist laut Kierkegaard nötig für wahres Selbstsein und ausschließlich durch die Inkarnation kommunizierbar.746 Deswegen ist es angemessener (wenngleich komplizierter), nicht von einer durch Sokrates bewirkten Geburt des Selbst, sondern von der Geburt eines Bewußtseins der Aufgabe der Selbstwerdung und einem damit verbundenen Erlösungsbedürfnis zu sprechen: Sokrates, so Kierkegaard, sei der erste gewesen, der auf die Bedeutung der individuellen Verantwortung für das jeweils eigene Leben hingewiesen habe – er habe die Kategorie des ‚Einzelnen‘ [den Enkelte] regelrecht entdeckt.747 Für Sokrates war es historisch ausgeschlossen, Christ zu werden. Kierkegaard zufolge ist er jedoch einer Christwerdung so nahe gekommen, wie es ihm möglich war. Dies, so Kierkegaard, unterscheide ihn von den Kulturchristen des 19. Jahrhunderts, vor allem von den spekulativen Denkern. Während seine philosophischen und theologischen Nachfahren sich eifrig bemühten, die menschliche Vernunft zu glorifizieren, das Leben in Allgemeinbegriffen zu erfassen und die christlichen Paradoxa spekulativ zu tilgen, habe Sokrates an seiner Unwissenheit festgehalten. In der Nachschrift wird dies als Demut interpretiert; die Sokratische Ignoranz sei „der mit der ganzen Leidenschaft der Innerlichkeit festgehaltene Ausdruck dafür, daß die ewige Wahrheit sich zu einem Existierenden verhält“,
745 Vgl. Soderquist, The Isolated Self, a. a. O., S. 2, S. 82. Vgl. auch die fünfzehnte These in Kierkegaards Schrift über die Ironie: „Ebenso wie die Philosophie mit dem Zweifel, ebenso beginnt ein Leben, das menschenwürdig genannt werden kann, mit der Ironie“; SKS 1, 65 / BI, 4. 746 Vgl. SKS 4, 258 / PB, 52; vgl. Howland, Kierkegaard and Socrates, a. a. O., S. 140f. 747 SKS 16, 103 / GWS, 118. Auch Böhme versteht Sokrates als „anthropologische Innovation“ (Böhme, Der Typ Sokrates, a. a. O., S. 32). Er weist jedoch darauf hin, daß die Interpretation der Sokratischen Haltung als Individualismus christlich geprägt sei und nicht der Überlieferung entspreche (ebd., S. 61).
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und dieses Paradox habe Sokrates sein ganzes Leben lang akzeptiert.748 Seine Innerlichkeit sei daher ein „Analogon zum Glauben“749 . Nun soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, daß Sokrates als Figur unterschiedliche Funktionen im Werk Kierkegaards einnimmt und daß die Aussagen über ihn deswegen stark variieren. Am stärksten fällt die Sokratesdarstellung der Philosophischen Brocken aus dem Œuvre heraus: Das gesamte Projekt der Brocken – die Frage nach der individuellen Glückseligkeit und deren Relation zu einem in der Vergangenheit in die Welt getretenen Erlöser – beschreibt Climacus als das Unternehmen, über Sokrates hinauszugehen. Das impliziert, daß Sokrates’ Lebenshaltung und Denkweise im 19. Jahrhundert nicht mehr angemessen seien. In der Forschungsliteratur ist dieser Ansatz kontrovers diskutiert worden, handelt es sich bei dem Sprecher der Brocken doch um denselben pseudonymen Autor, der in der Nachschrift Sokrates’ Philosophie als non plus ultra charakterisiert und zudem gegen die Mode des ‚Darüberhinausgehens‘ wettert.750 Ich halte in diesem Kontext die Interpretation David Possens für überzeugend, derzufolge die Brocken „eine sorgsam orchestrierte Scheinvorstellung“ darstellen.751 Climacus’ Beteuerung, daß er „unbestreitbar weiter als das Sokratische“ gehe,752 ist als eine polemische Replik auf Hans Lassen Martensen zu verstehen.753 Martensen hatte den akademischen Trend des ‚Darüberhinausgehens‘ forciert und vollmundig den Fortschritt über sämtliche Denker der abendländischen Geistesgeschichte verkündet.754 Der moderne christliche Denker, so Martensen, nehme den höchsten Standpunkt des Wissens ein. Martensen geht sogar so weit, spekulatives Den-
748 SKS 7, 185 / AUN1, 193. 749 SKS 7, 188 / AUN1, 196. 750 Mit einer vermeintlichen Transformation der Sokrates-Figur „vom Schurken zum Helden“ beschäftigt sich Merold Westphal, Becoming a Self: A Reading of Kierkegaard’s Concluding Unscientific Postscript, West Lafayette, Indiana: Purdue University Press 1996, S. 121. Climacus nimmt in der Nachschrift selbst Bezug auf die Brocken, die er als Parodie der Spekulation verstanden wissen möchte; vgl. Stewart, A History of Hegelianism in Golden Age Denmark, a. a. O., S. 336f. Howland weist darauf hin, daß die Brocken als ernsthafter Versuch gelesen werden können, christlich über Sokrates ‚hinauszugehen‘, allerdings interpretiert er diese Aufhebung gleichzeitig als wesentlich sokratisch und setzt dabei auch einen neuen Akzent – es gehe um das Hinausgehen über sich selbst; Howland, Kierkegaard and Socrates, a. a. O., S. 184. 751 Possen, „Meno“, a. a. O., S. 37. Siehe auch Possens Dissertation über Søren Kierkegaard and the Very Idea of Advance Beyond Socrates, Diss. University of Chicago, 2009. 752 SKS 4, 306 / PB, 107. 753 Es ist Stewarts Verdienst, auf Martensen als den Adressaten dieser Polemik hingewiesen zu haben; Stewart, A History of Hegelianism in Golden Age Denmark, a. a. O., S. 336f. Siehe auch den bereits genannten Kommentar zu „at gaa videre“ in SKS K4, 259–260. 754 Vgl. Possen, „Meno“, a. a. O., S. 38.
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ken als eine Art Co-Wissen mit Gott zu definieren.755 Für Kierkegaard ist dies reine Blasphemie, spekulativer Hochmut, den es zu destruieren gilt. Er läßt Climacus daher Martensens Vorgehensweise des Überschreitens imitieren, um es schließlich in Verwirrung und Unwissen versanden zu lassen: „Aber weiter gehen als Sokrates, wenn man doch wesentlich das Gleiche sagt wie er, nur nicht ganz so gut, das ist zum mindesten nicht sokratisch.“756 Das Unternehmen steht und fällt mit der Frage des Sündenbewußtseins und der Fähigkeit, dieses zu denken und sprachlich auszudrücken. Es werde einfach unterstellt, so Kierkegaard, daß Sokrates im Unterschied zu seinen christlichen Nachfolgern kein Sündenbewußtsein gehabt habe –, und wenn es ihm doch zugesprochen werde, dann gelte Sokrates als unfähig, es zu kommunizieren. Climacus versteht sich diesbezüglich alles andere als fortgeschritten; vermag er doch auch nicht zu sagen, was Sünde ist. Niemand könne das allein aufgrund seines Bildungsstandes oder des Hineingeborenseins in eine christliche Kultur. Ein Sünden- und Erlösungsbewußtsein, so Kierkegaard, ist keine kulturelle Selbstverständlichkeit. Es ist nicht wissenschaftlich herzuleiten oder rational zu erklären, sondern abhängig von einer göttlichen Offenbarung sola gratia.757 Auch wenn Sokrates aufgrund seiner historischen Situiertheit nicht von der Menschwerdung Gottes berührt gewesen sein konnte, so besaß er doch (zumindest im Verständnis Kierkegaards) etwas dem Sündenbewußtsein Ähnliches. Den Ausführungen des deutschen Theologen F. C. Baur folgend, interpretiert Kierkegaard Sokrates’ Bemerkung, er wisse nicht, ob er etwas Göttliches in sich habe oder aber „ein noch absonderlicheres Untier als Typhon sei“758 , als Zeichen für Sokrates’ Entdeckung der menschlichen Disposition zum Bösen, das laut Baur durchaus als Analogon des christlichen Sündenbewußtseins gelten könne.759
755 Vgl. Hans Lassen Martensen, „The Autonomy of Human Self-Consciousness in Modern Dogmatic Theology“, in Between Hegel and Kierkegaard: Hans L. Martensen’s Philosophy of Religion, übers. von Curtis L. Thompson und David J. Kangas, Atlanta: Scholars Press 1997, S. 73–147, bes. S. 144–147; Kierkegaard hat die lateinische Ausgabe und die dänische Übersetzung besessen (siehe ASKB 648; 651). 756 „Men at gaae videre end Socrates, naar man dog væsentligen siger det Samme som han, kun ikke slet saa godt, det er idetmindste ikke socratisk.“ SKS 4, 306 / PB, 107. 757 Vgl. David D. Possen, „Kierkegaard on Socrates’ Self-Knowledge – and Sin“, in Kierkegaard and the Greek World, Tome I, Socrates and Plato, hg. von Jon Stewart und Katalin Nun, Aldershot: Ashgate 2010 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 2), S. 73–86, S. 81. 758 SKS 4, 251f. / PB, 45; vgl. Platon, Phaedrus 229e-230c. 759 Vgl. Possen, „Kierkegaard on Socrates’ Self-Knowledge – and Sin“, a. a. O., S. 73. Zu Kierkegaards selektiver Lektüre von Baurs Das Christliche des Platonismus, oder Sokrates und Christus, siehe ferner David D. Possen, „F. C. Baur: On the Similarity and Dissimilarity between Jesus and Socrates“, in Kierkegaard and His German Contemporaries, Tome II, Theology, hg. von Jon Ste-
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Kierkegaard zielt keineswegs auf eine Nivellierung des Unterschiedes zu einem christlichen Sündenbewußtsein.760 Dadurch jedoch, daß Sokrates „beinahe irre an sich selber [raadvild over sig selv]“761 geworden und dem Delphischen Orakel hilflos und demütig gegenübergestanden habe, zeige sich an ihm, worauf es bei der Selbstwerdung ankomme, nämlich die notwendige Offenheit gegenüber dem göttlichen Gnadengeschenk des Sündenbewußtseins zu entwickeln. Diese Offenheit gelte es für jeden Menschen zu erlangen, auch noch 1800 n. Chr., mit oder ohne Taufschein.762 Verglichen mit den spekulativen Denkern des 19. Jahrhunderts sei Sokrates somit einem wahren Christsein sogar näher gewesen. Idealiter, so könnte man die Argumentation paraphrasieren, geht das Christentum über den antiken Denker hinaus. Aktualiter fällt es jedoch hinter ihn zurück, denn es praktiziert nicht die sokratische Demut und Eigenverantwortung, nicht die „Leidenschaft der Innerlichkeit im Existieren“763 . Dies ist der Grund für Kierkegaards provokative Charakterisierung Sokrates’ als Christen avant la lettre: „Wohl wahr, er ist kein Christ gewesen, ich weiß es, indessen ich mich allerdings überzeugt halte, daß er es geworden ist.“764 Er ist einer geworden, heißt es, nicht, er wäre einer geworden. Daß Kierkegaard hier nicht, wie es der Sprachgebrauch geböte, den Konjunktiv II verwendet, demonstriert in nuce, was es bedeutet, Sokrates zu wiederholen: Die im Kontext der Kristenhed heraufbeschworene Sokrates-Figur ist Christ.765 Der griechische Denker dient als Vorbild nicht nur eines aufrichtigen Philosophierens und der Selbstsorge, sondern auch des Christseins. Es sei daher fatal, ihn hinter sich zu lassen, wie der dänische Hegelianismus es meine sich erlauben zu können. Aus der Sicht Kierkegaards steht die sokratische Leistung ei-
wart, Aldershot: Ashgate 2010 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 6), S. 23–38. 760 Climacus folgt hier der dogmatischen Theologie, wonach durch den Sündenfall jeder Mensch per definitionem in der Unwahrheit sei und sich nicht von selbst der Wahrheit nähern könne. So betont Climacus, „der Mensch sei die Unwahrheit und sei es durch eigne Schuld; und. . . es sei zuviel, von einem Menschen zu verlangen, daß er dies aus sich selbst entdecken solle.“ SKS 4, 251 / PB, 45. Erst Jesus Christus bringe die notwendige Bedingung für ein Sündenbewußtsein in die Welt; vgl. Howland (2006), 30. 761 SKS 4, 251 / PB, 45. 762 Laut Possen suggeriere Climacus, daß „precisely in and through the ignorance and bewilderment that accompany Socrates’ failure to become a Christian, Socrates provides our best illustration. . . of what it means to succeed in becoming a Christian; namely, we must become earnestly ‘confused’ about ourselves“; Possen, „Meno“, a. a. O., S. 41. 763 SKS 7, 188 / AUN1, 198 (Anm.). 764 SKS 16, 36 / GWS, 49. 765 Auch im dänischen Origninal heißt es: „Sandt han var ingen Christen, jeg veed det, medens jeg rigtignok ogsaa holder mig overbeviist om, at han er blevet det.“ SKS 16, 36.
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ner Individualisierung dem 19. Jahrhundert erst noch bevor. Sokratisches Philosophieren ist ihm zufolge nicht nur nicht überholt, es ist noch nicht einmal eingeholt. Eine Philosophie, die sich der Wahrheit widmet – laut Kierkegaard der Existenz als individueller Geistwerdung –, hat deswegen Sokrates zu wiederholen, ihn wieder zu holen.
4.4.3 Der sokratische Philosoph: Katachresen als Wehenmittel Um Sokrates und sich selbst als Philosophen zu beschreiben, kombiniert Kierkegaard mehrere semantische Felder. Die teilweise konträren Bilder, die er in- und nebeneinanderfügt, dienen dabei gleichzeitig der performativen Aktualisierung des so illustrierten Philosophierens. Während Sokrates in seiner Selbstbeschreibung eher en passant auf die Viehbremse rekurriert,766 interpretiert Kierkegaard diese Metapher als zentrales Charakteristikum der sokratischen Gesprächskunst. Mehrfach wird die Semantik des Beißens, Stechens, Ärgerns und Aufscheuchens bemüht, wobei Sokrates’ implizite Begründung für die Wahl der Metapher erhalten bleibt: Die Viehbremse (der Philosoph) fällt das träge, schläfrig-zufriedene Pferd (die Athener bzw. Kopenhagener Bürger) an. Kierkegaard verweist wiederholt auf die Trägheit, Selbstgefälligkeit und Hybris seiner Zeitgenossen, die aus Bequemlichkeit ein institutionalisiertes Christentum verehren. Er paart das antike Bild der Viehbremse mit dem Motto des wahrhaften Existierens, an welches er erinnern will: Die Erhebung des Bestehenden zur Gottheit ist die selbstgefällige Erfindung des verkehrten weltlichen menschlichen Sinns, der sich zur Ruhe setzen möchte und sich einbilden, daß nunmehr ewiger Friede und Sicherheit sei, nunmehr wir das Höchste erreicht haben. Und siehe da, da kommt ein Einzelner. . . und bildet sich ein, er sei höher als das Bestehende. Doch nein, es ist nicht gesagt, daß er es sich einbildet, sondern es könnte schon möglich sein, daß er die ‚Bremse‘ [‚Bremse‘] wäre, deren das Bestehende bedarf, um nicht in Schlaf zu sinken, oder um nicht, was noch schlimmer wäre, in Selbstvergötterung hinzusinken. Jeder Mensch soll in Furcht und Zittern leben, und so soll auch kein Bestehendes freigestellt sein von Furcht und Zittern. Furcht und Zittern bedeutet, daß man im Werden ist. . . daß ein Gott da ist, was kein Mensch und kein Bestehendes einen einzigen Augenblick vergessen darf.767
Das so definierte ‚Furcht und Zittern‘ ist unbequem, wird nur allzu bereitwillig vermieden, verdrängt und vergessen. Davon profitieren die Autoritäten der Kristenhed, die ihre Macht auf die Befestigung eines angenehmen Kulturchristentums 766 Vgl. Platon, Apologie, 30e. 767 SKS 12, 97 / EC, 82f.
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gründen. Kierkegaard verwendet zu dessen Subversion die indirekte Mitteilung. Auch sie kommt unproblematisch daher, täuscht dann aber in ‚das Wahre‘ hinein. Ein weiteres Mittel zur Desillusionierung des uneigentlich Existierenden ist der Biß der Viehbremse in Form einer direkten Mitteilung. Diese kann nicht ignoriert werden, weil sie bis zur Weißglut reizt: Kannst du dich nicht überwinden, Christ zu werden in der Lage der Gleichzeitigkeit mit ihm, oder kann er in der Lage der Gleichzeitigkeit dich nicht bewegen, dich nicht zu sich ziehen: so wirst du niemals Christ. Du kannst dann mit Ehre, Preis und Dank, mit allen irdischen Gütern dem lohnen, der dir einbildet, du seiest gleichwohl Christ – er betrügt dich. Du kannst dich glücklich preisen, daß du mit keinem gleichzeitig sein mußtest, der es wagte, das zu sagen; du kannst bis zur Raserei aufgebracht werden über die Plage, dem Stich der ‚Bremse‘ [‚Bremsens‘ Stik] gleich, mit einem gleichzeitig zu sein, der dir das sagt: im ersten Falle bist du betrogen, im andern Falle hast du wenigstens die Wahrheit zu wissen bekommen.768
Die Eigenschaft, welche die Metapher der Viehbremse in Kierkegaards Projekt einer sokratischen Interaktion mit den verblendeten Zeitgenossen hervorhebt, ist die Fähigkeit, plötzlichen Schmerz auszulösen, gefolgt von dem Ärgernis eines anhaltenden Juckreizes. Kierkegaard rekurriert auch auf das klassische Epitheton Sokrates’: die Hebamme. Wenn es gilt, die Elenktik mit der Maieutik zu verbinden, stellt er die Metapher der Hebamme jedoch in ungewohnte semantische Kontexte: Mit seinen Fragen untersägte er in aller Stille den Urwald des substantiellen Bewußtseins. . . Aber diese Arbeit, den Wald zu untersägen, währte oft geraume Zeit. . . Wenn sie aber vollbracht war, so hatte das Verhältnis im gleichen Augenblick seinen Gipfel erreicht. . . Wenn man sein Verhalten dergestalt auffaßt, wird man dadurch lebhaft an jene Kunst erinnert, in deren Besitz er selbst zu sein erklärte, der Hebammenkunst.769
Das tertium comparationis des Rodens eines Urwaldes und der Arbeit einer Hebamme läßt sich so gut wie nicht ausfindig machen; die Metaphorik erzeugt Verwirrung, nicht Verständnis. Andere Bilder, die Kierkegaard im Kontext der Maieutik verwendet, bewirken eine ähnliche katachrestische Spannung. Kierkegaards ‚Wiederholung‘ der Hebammen-Metaphorik hat daher einige Irritationen unter seinen Lesern ausgelöst. Das Hebammenbild, so z.B. Ulrika Carlsson, „begegnet uns als unangemessen: es scheint nicht, daß irgend etwas jemals in dem elenktischen Prozeß geboren wird“770 . Kierkegaard tendiere dazu, so auch Soderquist,
768 SKS 12, 76 / EC, 64. 769 SKS 1, 237f. / BI, 196f. 770 Ulrika Carlsson, „Love as a Problem of Knowledge in Kierkegaard’s Either/Or and Plato’s Symposium“, Inquiry 53.1, 2010, S. 41–67, S. 47 (meine Übers.).
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Sokrates’ hebammenartige Interessen „herunterzuspielen“; besonders in der Ironie-Schrift erscheine Sokrates als „eindimensionale, destruktive Figur“.771 Eine Hebamme mag unangenehme Eingriffe vornehmen müssen, ihre Anwesenheit wird jedoch generell als beruhigend und unterstützend empfunden. Der Kierkegaardsche Sokrates ist alles andere als das – er ist hauptsächlich enervierend, eine regelrechte Nervensäge. Das Bild einer sägenden, beißenden und blutsaugenden Hebamme ist verstörend, die Vorstellung einer Viehbremse als Geburtshelfer absurd. Derartige Katachresen sind jedoch, so die These, nicht auf eine rhetorische Unbeholfenheit Kierkegaards zurückzuführen. Vielmehr spiegeln sie Kierkegaards Wiederholung des Sokratischen Philosophierens, mehr noch: Sie setzen es in die Tat um. Kehren wir noch einmal zurück zu Kierkegaards Interpretation des sokratischen Dialogs. In seinen diesbezüglichen Überlegungen weist Kierkegaard auf die unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten der elenktischen Methode hin. Man könne Fragen stellen, um eine Antwort zu erhalten, „welche die begehrte Fülle enthält“, oder „man kann fragen, nicht um der Antwort willen, sondern um durch die Frage den scheinbaren Inhalt auszusaugen [at udsuge] und alsdann eine Leere [Tomhed] zurückzulassen“772 . Kierkegaard kennzeichnet die erste Vorgehensweise als spekulativ, die zweite als ironisch. Im Gegensatz zu Platon habe Sokrates letztere vertreten. In Wirklichkeit seien die Gesprächspartner am Ende der Unterhaltung immer mit der Tatsache konfrontiert gewesen, daß sie nicht auf universelle und objektive Kriterien für die Beantwortung der Sokratischen Fragen zurückgreifen können. Dies ist, wie oben ausgeführt, der erste Schritt auf dem Weg zur Selbstwerdung. Es sei für die jungen Männer eine unangenehme, eine verstörende Erfahrung gewesen; sie hätten sich, so Kierkegaard, in einem epistemischen und ethischen Vakuum zurückgelassen gefühlt: Sokrates brachte „die Individuen unter seine dialektische Luftpumpe [Luftpompe], beraubte sie der atmosphärischen Luft, die sie gewohnt waren einzuatmen, und ließ sie stehen“773 . Die Metapher der Vakuumpumpe vereint das Stechende und Saugende der Viehbremse mit der Leere einer uneigentlichen Existenz. Der so erzeugte Schmerz wird dadurch verstärkt, daß Sokrates nicht bereit ist, seinen Dialogpartnern an-
771 Soderquist, The Isolated Self, a. a. O., S. 64f. 772 SKS 1, 97 / BI, 35. Laut Kierkegaard habe vor allem Hegel den Unterschied, „ob man fragt, um Antwort zu bekommen oder fragt, um zu beschämen [besjæmme]“ übersehen; SKS 1, 305 / BI, 273. 773 SKS 1, 225 / BI, 183.
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schließend als Autorität zur Seite zu stehen und zur Orientierung zu verhelfen.774 Hier wird die Viehbremsenmetaphorik durch den Schlangenbiß variiert, denn zur Beschreibung der postdialogischen Empfindung wiederholt Kierkegaard Alkibiades’ Klage: Ein von Sokrates Verlassener sei „gleichsam von einer Schlange gebissen [bidt af en Slange], ja, er ist gebissen von etwas noch mehr Schmerzendem und an der schmerzhaftesten Stelle, nämlich im Herzen oder in der Seele“775 . Den Schmerz des Schlangenbisses dramatisiert Kierkegaard durch eine Übertragung auf das im 19. Jahrhundert florierende Vampirmotiv: „Der Ironiker ist der Vampyr [Vampyr], welcher dem Liebenden das Blut ausgesaugt hat, und der ihm dabei Kühle zugefächelt, ihn in Schlaf gelullt und mit unruhigen Träumen geplagt hat.“776 Wie die Viehbremse saugt der Vampir Blut, aber er ist nicht unmittelbar aktivierend. Vielmehr initiiert er inmitten der lähmenden (Blut-)Leere eine subkutane Unruhe, die sich langsam entfaltet, bis dem Gebissenen dämmert, in welchem Zustand er sich befindet – der existentiellen Selbstvergessenheit oder: der Krankheit zum Tode. Auch das Bild des Vampirs enthält daher einen semantischen Twist, denn der Biß führt langfristig zu einer Erweckung. Diese nimmt in Kierkegaards Klassifizierung seiner eigenen Werke eine Schlüsselfunktion ein. Er unterscheidet zwischen erbaulichen Schriften und denjenigen Texten, welche den Leser aktivieren und auf die Existenzaufgabe aufmerksam machen: Eine Erwägung [Overveielse] setzt keine Begriffsbestimmungen als gegeben und verstanden voraus; sie darf daher nicht so sehr rühren, abmildern, beruhigen, überreden, wie wecken und die Mschen [Menschen] reizen und das Denken schärfen. Der Augenblick der Erwägung ist ja auch vor der Handlung, und es gilt daher, all die Momente recht in Bewegung zu setzen [at sætte alle Momenterne ret i Bevægelse]. Die Erwägung soll eine ‚Bremse‘ [‚Bremse‘], ihr Kolorit daher ganz anderes sein als das der erbaulichen Rede [opbyggelige Tale], die in Stimmung ruht, während die Erwägung in gutem Sinne ungeduldig sein soll, feurig in Stimmung.777
Die Aufgabe der nicht-erbaulichen Schriften, in Bewegung zu setzen, bereitet auf den Sprung in den Glauben vor, den jeder selbst unternehmen muß. Der Ausdruck alles in Bewegung setzen unterstreicht noch einmal, wie wichtig das Thema
774 „[E]r zog die jungen Leute an sich, aber wenn sie nun zu ihm aufblickten, bei ihm Ruhe finden wollten, in seiner Liebe alles vergessend eine sichere Beruhigung finden wollten. . . so war er fort“; SKS 1, 235 / BI, 194. 775 SKS 1, 109 / BI, 48; vgl. Platon, Symposium 217e-218a. Siehe auch Carlsson, „Love as a Problem of Knowledge“, a. a. O., S. 41–44. 776 SKS 1, 110 / BI, 49. Zu dem Vampirmotiv im 19. Jahrhundert siehe Erik Butler, Metamorphoses of the Vampire in Literature and Film: Cultural Transformations in Europe 1732–1933, Rochester, NY et al.: Camden House 2010, S. 52–82. 777 SKS 20, 211, NB2:176 / DSKE 4, 239.
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der Bewegung für Kierkegaards performative Philosophie ist. Er wiederholt zudem nicht nur Sokrates’ Hinweis auf die Viehbremse, welche das schläfrige Pferd Athen aufscheucht, sondern evoziert auch das Bild einer Hebamme, die eine Geburt unterstützt. In dieser wird zwar entsprechend der Maieutik Kierkegaards nur verstörende Leere hervorgebracht, diese Leere stellt jedoch einen notwendigen Schritt in dem Prozeß der Selbstwerdung dar. Die Viehbremse agiert im Auftrag der Hebamme, wie Kierkegaard 1846 in einem fragmentarischen Journaleintrag feststellt: „Dass mehrere von Platos Dialogen ohne Resultat enden, hat einen weit tieferen Grund, als ich früher gedacht habe. Es ist nämlich eine Widerspiegelung von Sokrates’ mäeutischer Kunst, die den Leser od. Zuschauer selbsttätig [selvvirksom] macht und deshalb nicht im Resultat, sondern mit einem Stachel [Braad] endet.“778 Die individuelle Existenz, die Aufgabe der Selbstwerdung, hat die Philosophie – zumindest gemäß der Darstellung Kierkegaards – im Laufe ihrer Geschichte vergessen und aus ihrem Zuständigkeitsbereich verbannt. Kierkegaards Rückwendung an die Antike und seine Aktualisierung des sokratischen Philosophierens erinnert die Philosophie in dem Moment, in dem sie ihre Vollendung proklamiert, an ihre alte Aufgabe. Im 19. Jahrhundert, so Kierkegaards Fazit, grassiert existentielle Amnesie. Die Philosophie ist daher alles andere als abgeschlossen, sie hat vielmehr erst wieder zu beginnen, wenn auch unter den Bedingungen eines Massen- und Medienzeitalters. Es gilt, den Menschen an seine existentielle Aufgabe der Selbstwerdung zu erinnern und die ‚Geburt‘ des Bewußtseins für diese Aufgabe einzuläuten. Für Kierkegaards in die Irre fahrenden Zeitgenossen sind jedoch starke Ekbolika nötig. Genau dies betont Kierkegaard, wenn er die von Sokrates beiläufig erwähnte Viehbremse in das Zentrum seiner Wiederholung der Maieutik stellt – er initiiert quasi hermeneutisch-existentielle ‚Wehen‘ bei seinem Leser, wenn er diesen mit katachrestischen Bildern konfrontiert. Durch die Kombination der Viehbremsen- mit der Hebammenmetaphorik vollzieht Kierkegaard das, was er sagt: Er setzt den Leser in Bewegung.
4.5 Meister Eckhart noch einmal: die Reflexion Gottes Für eine gelingende Existenz, so die Krankheit zum Tode, ist nicht nur ein reflexives Selbstverhältnis entscheidend, sondern auch das Bewußtsein, sich auf ein ‚Anderes‘ zu gründen. Dieses ‚Andere‘ bestimmt Kierkegaard als den christlichen Gott. Während Kierkegaard das Selbstverhältnis anhand der Wiederholung Sokra-
778 SKS 18, 299, JJ:482 / DSKE 2, 311.
4.5 Meister Eckhart noch einmal: die Reflexion Gottes |
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tes’ erörtert und, zumindest idealiter, beim Leser initiiert, konzipiert er das Gottesverhältnis (und, damit zusammenhängend, ein revidiertes Weltverhältnis) über eine Wiederholung der Gedanken Eckharts von Hochheim. Hierbei spielt der Reflexionsbegriff eine tragende Rolle. Im folgenden gilt es zu zeigen, wie Kierkegaard den Terminus, der seit Beginn der Frühen Neuzeit eine zentrale Funktion für das methodische Selbstverständnis der abendländischen Philosophie einnimmt,779 auf seine metaphorischen Wurzeln zurückwendet.
4.5.1 Problematisierung: Der Reflexion Einhalt gebieten? Kierkegaard kritisiert den Begriff ‚Reflexion‘ im Rahmen seiner polemischen Auseinandersetzung mit Hegels Logik und dem dänischen Hegelianismus, jedoch im Kontext der Popularisierung beider. Seine eigene Verwendung des Begriffs ist vielfältig und hat eine intensive Forschungsdebatte ausgelöst.780 Grøn betont diesbezüglich die Multikontextualität des Reflexionsbegriffes in Kierkegaards Philosophie; jener nehme unterschiedliche Funktionen in subjekt-, religions- und sozialphilosophischer Hinsicht ein.781 Diese Funktionen sind miteinander verflochten, wie die folgende Analyse der Remetaphorisierung zeigen soll. Fest steht, daß Reflexion sich als ein zentrales Motiv durch das Gesamtwerk Kierkegaards zieht und dementsprechend auch in den Rekonstruktionsversuchen seiner Philosophie nach der Philosophie zu berücksichtigen ist. Erinnern wir uns vorerst an den im kulturkritischen Kontext untersuchten Reflexionsbegriff (siehe Kapitel 2.4.3): In seiner Kulturkritik kennzeichnet Kierkegaard ‚Reflexion‘ als charakteristisches Moment des 19. Jahrhunderts. Reflexion bedeutet hier die subjektive Denktätigkeit, die gleichwohl von gesellschaftlichen 779 Scheier zeigt, daß der Reflexionsbegriff, welcher durch Fichte und Hegel einer Hochkonjunktur zugeführt wurde, eine lange und komplexe Vorgeschichte hat. Die Philosophie Hegels und der Hegelianer, auf deren Reflexionsbegriff Kierkegaard kritisch-polemisch abzielt, ist das Resultat des methodischen Geschehens der „Neueren Philosophie“; Claus-Artur Scheier, Die Selbstentfaltung der methodischen Reflexion als Prinzip der Neueren Philosophie. Von Descartes zu Hegel, Freiburg und München: Karl Alber 1973, S. 11. Zur Geschichte des Reflexionsbegriffes siehe Lothar Zahn, „Reflexion“, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 1–13, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971–2007, Bd. 8, Sp. 396–405. 780 Einen Überblick über die Diskussion bietet der Sammelband von Paul Cruysberghs, Johan Taels und Karel Verstrynge (Hg.), Immediacy and Reflection in Kierkegaard’s Thought, Leuven: Leuven University Press 2003. 781 Arne Grøn, „Mediated Immediacy? The Problem of a Second Immediacy“, in Immediacy and Reflection in Kierkegaard’s Thought, hg. von Paul Cruysberghs et al., Leuven: Leuven University Press 2003, S. 87–95, S. 87.
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Maßstäben dominiert wird. Eine literarische Anzeige spielt bereits auf die metaphorische Komponente an – der einzelne spiegele in seinem Denken und Verhalten die ‚Masse‘. Übermäßige Reflexionstätigkeit sei zudem die Manifestation einer falsch verstandenen Bildung. Sie fördere eine existentielle Ignoranz. All diese Aspekte umgibt jedoch eine Ambivalenz: Reflexion ist nicht nur ein Übel des 19. Jahrhunderts, sondern auch dessen Heilmittel. Sie stellt eine hervorragende Möglichkeit der Selbstwerdung dar, und das bedeutet bei Kierkegaard: der Christwerdung. Das von Kierkegaard heftig kritisierte 19. Jahrhundert ist daher nicht nur das Zeitalter der Reflexion, sondern gleichzeitig das Zeitalter des Glaubens par excellence.782 Auch seine schriftstellerische Tätigkeit möchte Kierkegaard in diesem Zusammenhang verstanden wissen. Es geht ihm nicht einfach um das Religiöse, sondern um das Religiöse unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts, und das heißt: das Religiöse, „ganz und gar in die Reflexion hineingesetzt“783 . Eine literarische Anzeige hat gezeigt, wie Reflexion als Nivellierung ein ‚Zuchtmeister‘ in sozialpsychologischer Hinsicht ist. Dies gilt aber auch im epistemischreligiösen Bereich, denn erst das „Durcharbeiten“ [Gjennemarbeide]784 der Reflexion führt zu einem erschütternden Zusammenstoß mit dem Paradox und schafft die Bedingung für einen aufrichtigen Glauben. Nichtsdestoweniger ist letzterer ausschließlich durch den Sprung zu gewinnen, und zu diesem muß sich das Individuum entscheiden. Die Konfrontation mit der Kapitulation des eigenen Reflexionsvermögens mag dabei förderlich sein, sie kann aber auch, das zeigt die Krankheit zum Tode, in dämonischem Trotz münden. Salopp gesagt: Der Mensch springt nicht automatisch, sobald er des Paradoxes des Gottmenschen gewahr wird. Er kann sich nicht in das Christentum „hineinreflektieren“785 , wird nicht rational von der Angemessenheit des Glaubens überzeugt. Vielmehr braucht er Leidenschaft, um sich entgegen allen guten Gründen dazu zu entschließen, gläubig zu werden. Reflexion, auch das hat die Literarische Anzeige erläutert, ist jedoch jeglicher Leidenschaft und Tatkraft diametral entgegengesetzt und verhindert das Entschlußfassen.
782 Das betont auch Paul Cruysberghs Beitrag „Must Reflection be Stopped?“ In: Immediacy and Reflection in Kierkegaard’s Thought, hg. von Paul Cruysberghs et al., Leuven: Leuven University Press 2003, S. 11–24, S. 13. 783 SKS 13, 13 / WS, 5. Auch im Orignial heißt es: „det Religieuse heelt og holdent sat ind i Reflexion“. Dies geschehe jedoch so, daß das Religiöse aus der Reflexion zurück in das Einfältige gebracht werde („dog saaledes, at det heelt og holdent tages ud af Reflexion tilbage i Eenfold“); SKS 13, 13. 784 SKS 8, 105 / LA, 94. 785 Vgl. SKS 13, 13 / WS, 5.
4.5 Meister Eckhart noch einmal: die Reflexion Gottes |
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Soll also Glaube überhaupt möglich sein, muß Reflexion, hier verstanden als Überlegung und Räsonnement, irgendwann zu einem Halt kommen können. Dies ist problematisch und wird nicht eindeutig von Kierkegaard geklärt. Er thematisiert die Frage nach dem Ende der Reflexion über den Umweg einer Diskussion des vermeintlich absoluten Anfangs der Hegelschen Logik. Jedes logisches System, so heißt es in der Nachschrift, beginne mit einem Unmittelbaren, das bereits durch Reflexion gewonnen sei. Jedoch, „wenn nämlich nicht unmittelbar mit dem Unmittelbaren begonnen werden kann“, so der Einwand, „sondern dieser Anfang durch eine Reflexion erreicht werden muß, so wird hier ganz einfältig die Frage gestellt. . . Wie bringe ich die Reflexion zum Stehen, die in Bewegung kam, um jenen Anfang zu erreichen?“786 Schließlich, so Climacus’ Versuch, den Hegelianismus mit dessen eigenem Begriffsarsenal zu schlagen,787 habe Reflexion „die merkwürdige Eigenschaft, daß sie unendlich ist. Aber dies, daß sie unendlich ist, heißt auf alle Fälle, daß sie nicht durch sich selbst anzuhalten ist, weil sie ja, wenn sie sich selbst zum Stehen bringen sollte, sich selbst gebraucht.“788 Daß es sich bei diesen Ausführungen nicht um eine logikimmanente Problematisierung handelt, wird wenige Seiten später deutlich durch die Verbindung mit einem Motiv, das zentral ist für Kierkegaards Konzeption des Glaubens, dem Sprung: Es ist wirklich sonderbar: Die Hegelianer, die in der Logik wissen, daß die Reflexion durch sich selbst zum Stehen kommt. . . sie wissen andrerseits für den täglichen Gebrauch. . . daß die Reflexion sich nur durch einen Sprung zum Stehen bringen läßt.789
Damit ist jedoch wenig geholfen – wieder läßt sich fragen: Woher kommt die Kraft zu dem Entschluß, zu springen? Schließlich verliert das reflektierende Individuum durch das Reflektieren zunehmend „das Sichentscheiden und das In-sichselbst-Zurückkehren der Subjektivität“790 . Handelt es sich hier also um einen unendlichen Regreß? Um sich zum Sprung in den Glauben entschließen zu können, muß die Reflexion anhalten, wozu wiederum ein Willensakt nötig ist, der Kierkegaard zufolge inmitten des Reflexionsgeschehens schwer zu bilden ist. Kierkegaard selbst trennt die Frage, wie der Wille zum Sprung in den Glauben erzeugt wird, nicht von der Frage nach der Willenskraft, die auf Unterbrechung der Reflexion zielt. Die Frage läßt sich anhand seiner Schriften auch nicht eindeutig beantworten. Die Verstricktheit von Reflexion und Glauben entspricht 786 SKS 7, 109 / AUN1, 105. 787 Jedoch weder mit Berechtigung noch mit Erfolg, wie Hügli zeigt; Hügli, Die Erkenntnis der Subjektivität und die Objektivität des Erkennens bei Søren Kierkegaard, a. a. O., S. 18. 788 SKS 7, 109 / AUN1, 105. 789 SKS 7, 111f. / AUN1, 108. 790 SKS 7, 112 / AUN1, 108.
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der zugrundeliegenden Anthropologie Kierkegaards, dabei die Opposition von Aktivität und Passivität durchkreuzend. Cruysberghs erinnert in der Diskussion um den Reflexionsbegriff Kierkegaards unter Hinweis auf Die Krankheit zum Tode daran, daß das Subjekt des Entschlusses immer auf seinen ‚Grund‘ zurückgebunden bleibt, welcher in ihm wirke: „the Kierkegaardian subject is a subjected subject.“791 Wie Grøn in demselben Kontext nachweist, ist Glaube in Kierkegaards Verständnis eine aktive Wahl des Individuums, gleichzeitig aber auch eine passive Entgegennahme [Modtagelse] – wenn auch eine „sehr besondere Weise des Empfanges“792 . Wenden wir uns vorerst dem Willen zu: Er verändert sich, erhält inmitten der ihn eigentlich schwächenden Reflexion plötzlich Dominanz. Was genau führt dazu, daß er die Kraft hat, die Reflexion anzuhalten und sodann den Sprung in den Glauben zu initiieren? Wie wird er zu der Bereitschaft, alles zu wagen, wenn er „ständig im Dienst der Reflexion“ steht?793 Die einzige Möglichkeit lautet, daß der Wille transformiert wird, und zwar von außen. Dieser Einbruch des ‚Anderen‘ durchtrennt den Reflexionsregreß, der dem Gläubigwerden zwar förderlich ist, es aber nicht direkt herbeiführen kann. Nur auf diese Weise läßt sich der Übergang in den Glauben denken – als absoluter Anfang, hervorgerufen durch etwas ‚ganz Anderes‘.794 Das Verhältnis von Reflexion und Glauben ist ein wiederkehrendes Motiv im Werk Kierkegaards und kennzeichnet ihn als Kind seiner Zeit. Kierkegaard beteiligt sich jedoch nicht an der akademischen Diskussion, setzt sich zumindest nicht ausführlich mit dem Reflexionsbegriff Fichtes, Schellings und Hegels auseinander. Der Hegelschen Kritik an der ‚Reflexionsphilosophie‘ begegnet er verhalten, selbst da, wo sie seine Vorbilder trifft.795 Auch die von Hegel vorgenom-
791 Paul Cruysberghs, „Must Reflection be Stopped?“, a.a.O., S. 24. In der englischen Sprache ist die konstitutive Ambivalenz des Subjektbegriffs deutlicher erhalten, daher sei hier die Originalsprache beibehalten. 792 SKS 12, 144 / EC, 136; Grøn, „Mediated Immediacy“, a. a. O., S. 92; zur Verbindung von Aktivität und Passivität im Glauben siehe ebd., S. 93. 793 SKS 2, 185 / EO1, 202. 794 So argumentiert Climacus auch in Hinblick auf den absoluten Anfang der Hegelschen Logik, der, so seine These, kein logikimmanenter, sondern ein existentieller ist: „Nur wenn die Reflexion zum Stehen gebracht wird, kann der Anfang vollzogen werden, und die Reflexion kann nur angehalten werden durch etwas anderes, und dieses andere ist etwas anderes als das Logische, da es ein Entschluß ist. Nur wenn der Anfang, an welchem die Reflexion haltmacht, ein Durchbruch ist, so daß der absolute Anfang – durch die unendlich fortgesetzte Reflexion hindurch – selbst hervorbricht, nur dann ist der Anfang voraussetzungslos.“ SKS 7, 110 / AUN1, 106. 795 Wie z.B. Friedrich Heinrich Jacobi. Zu der Unangemessenheit von Hegels Kritik an Jacobi siehe Birgit Sandkaulen, „Das Nichtige in seiner ganzen Länge und Breite. Hegels Kritik der Re-
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mene Differenzierung von äußerlicher und immanenter Reflexion sowie setzender, absoluter und entfremdeter Reflexion beachtet er nicht.796 Ebenso ignoriert Kierkegaard eventuelle Gemeinsamkeiten und konstitutive Abgrenzungsmöglichkeiten, die sich über die Interpretation einer „Reflexionskultur“ ergeben könnten, wie sie der junge Hegel in „Glauben und Wissen“ beschreibt.797 Er berücksichtigt auch nicht die Unterscheidung von Vernunft und Verstand798 – beide vernachlässigen seiner Meinung nach die Existenz. Die von Hegel geleistete Konzeption einer wiedervereinigenden, vernünftigen Spekulation als Alternative zu der trennenden, verständigen Reflexion ist für Kierkegaard daher irrelevant. Hinsichtlich der Existenz ist für ihn der Unterschied von Spekulation und Reflexion verschwindend gering.799 Kierkegaard will ‚Reflexion‘ nicht als logisch-ontologisches, sondern als existentielles Problem verstanden wissen. Er bezieht sich auf ersteres (d.h. auf die flexionsphilosophie“, Hegel-Jahrbuch, 2003 (Glauben und Wissen. Erster Teil), S. 164–173, bes. S. 167–170. Zu Hegels Kritik an Kant und Fichte siehe Frank Kuhne, „Diskursiver Verstand, intuitiver Verstand und Vernunft“, Hegel-Jahrbuch, 2004 (Glauben und Wissen. Zweiter Teil), S. 155– 159 und Christoph Asmuth, „‚Reflexions-Aberglaube‘. Hegels Kritik an der Transzendentalphilosophie Fichtes“, Hegel-Jahrbuch, 2005 (Glauben und Wissen. Dritter Teil), S. 228–233. In der Nachschrift berücksichtigt Climacus Hegels Kritik an Schellings Konzeption der „intellektuellen Anschauung“ als Selbstreflexion des Ich mit einer kurzen Anmerkung: SKS 7, 306 / AUN2, 38f. (Anm.). 796 Zu der Unterscheidung von äußerlicher und immanenter Reflexion bei Hegel siehe Walter Jaeschke, „Äußerliche und immanente Reflexion – Eine Skizze der systematischen Geschichte des Reflexionsbegriffs in Hegels Logik“, Hegel-Studien 13, 1978, S. 85–117; Marcin Panków, „Hegels Begriff der Reflexion und die Überwindung der Aporien der Klassischen Philosophie“, HegelJahrbuch, 2004 (Glauben und Wissen. Zweiter Teil), S. 108–111. 797 Hegel definiert „Reflexionskultur“ als „Kultur des gemeinen Menschenverstandes, der sich bis zum Denken eines Allgemeinen erhebt, den unendlichen Begriff aber, weil er gemeiner Verstand bleibt, für absolutes Denken nimmt.“ G.W.F. Hegel, „Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie“, in TWA, Bd. 2, S. 287–433, S. 298. Vgl. Sandkaulen, „Das Nichtige in seiner ganzen Länge und Breite“, a. a. O., S. 165; Scheier, „Die Frühromantik als Kultur der Reflexion“, a. a. O. Hegel wendet sich in seiner Kritik der „Reflexionskultur“ gegen den Gegensatz von Glauben und Wissen – eine Position, die Kierkegaard nicht teilt. 798 Vgl. Howland, Kierkegaard and Socrates, a. a. O., S. 188 (Anm. 7). 799 Zwar geht Kierkegaard nicht explizit darauf ein, aber Spekulation kann für ihn keine Lösung des von ihm konstatierten Reflexionsproblems darstellen – schließlich bestehe der „Schritt, den die spekulative Philosophie Hegels über die Reflexionsphilosophie hinaustut“, darin, „daß sie Gott, der für die Reflexionsphilosophen etwas Unbegreifliches bleibt, d.h. nur geglaubt werden kann, zu ihrem einzigen Inhalt und Gegenstand“ hat; Gudrun von Düffel, „Philosophie als Gottesdienst. Hegels Paradigmenwechsel vom formalen zum absoluten Wissen“, Hegel-Jahrbuch, 2003 (Glauben und Wissen. Erster Teil), S. 161–165, S. 161. Aus der Sicht Kierkegaards stellt die Spekulation sogar die negative Steigerung der Reflexion dar.
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akademische Auseinandersetzung mit dem Reflexionsbegriff) nur polemisch. Kierkegaards eigene, nicht-polemische Position ist dagegen versteckt; sein Lösungsvorschlag, so die im folgenden zu explizierende These, deutet sich in der wenig beachteten Erbaulichen Rede über den wahren Beter an. Dort wird das oben skizzierte Problem, welches der Reflexionsbegriff aufspannt, durch die Reflexionsmetaphorik aufgehoben. Diese wiederum bedient sich mystischer Bilder und wiederholt das Denken Meister Eckharts. Undeutliche Formulierungen im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Reflexionsbegriff werden so verständlicher. Die folgenden Kapitel sollen klären, was Kierkegaards Forderung bedeutet, Reflexion müsse im Glauben „ausgeleert“ [udtømt]800 werden. Die Rezeption Eckharts durch Kierkegaard wird dabei einer erneuten Revision unterzogen. Anhand der Metaphorik des Ent-Bildens, Überbildens und Spiegelns läßt sich zeigen, daß die konzeptuellen Anleihen Kierkegaards bei dem mittelalterlichen Theologen größer sind, als bislang vermutet.801
4.5.2 Kierkegaard und Meister Eckhart: mögliche Rezeptionslinien Hinsichtlich der Werke des Mittelalters standen dem 19. Jahrhundert weniger bzw. noch nicht vollständig erschlossene Quellen zur Verfügung. Was aus heutiger Sicht philologisch widerlegt ist, galt damals als Lehrmeinung oder gar Forschungsneuheit. Dies betrifft auch das Werk Eckharts. So wird die Schrift „Von der Abgeschiedenheit“ heute als pseudo-Eckhartisch angesehen,802 genauso wie ihre Quelle, die Nachfolgung des armen Lebens Christi, inzwischen als pseudoTaulerisch gilt. Wenn im folgenden also von Kierkegaards Wiederholung Eckharts gesprochen wird, dann ist dabei, wie schon bei seiner Sokratesrezeption, die Forschungssituation im 19. Jahrhundert die Grundlage; es geht um Eckhart, wie er Kierkegaard überliefert wurde. Erst vor diesem Hintergrund wird die Besonderheit der Kierkegaardschen Wiederholung des mittelalterlichen Denkers deutlich – Kierkegaard folgt nämlich nicht unbedingt dem Forschungstenor seiner Zeit, wie bislang angenommen wurde. 800 SKS 6, 151 / SLW, 169f. (Hirsch übersetzt „ausgeschöpft“). 801 Die Spuren Meister Eckharts im Werk Kierkegaards mit besonderer Berücksichtigung des sogenannten Akosmismus-Argumentes in Entweder-Oder habe ich in meinem Beitrag „Mirroring God“, in Kierkegaard Studies Yearbook, 2012, S. 3–24, untersucht. Die These von der durch Kierkegaards Wiederholung der Eckhartschen Metaphorik geleisteten ‚Aufhebung‘ der Reflexion baut auf den dort erbrachten rezeptionsgeschichtlichen Ergebnissen und Metaphernanalysen auf. 802 So Kurt Ruh, der jedoch auch betont, „daß inhaltlich kaum etwas in diesem Traktat steht, das nicht von Eckhart sein könnte.“ Kurt Ruh, Meister Eckhart. Theologe. Prediger. Mystiker, München: Beck 1985, S. 165.
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Durch die Pietisten, hauptsächlich Johann Arndt und Gerhard Tersteegen, ist Kierkegaard auf die christlichen Mystiker – zu denen bis zum 19. Jahrhundert Eckhart problemlos gezählt wurde803 – generell aufmerksam geworden, sorgten diese doch für die Veröffentlichung von Theologia Deutsch und der Werke Johannes Taulers.804 Zudem stellen sie mystische Konzepte wie Absterben [afdøen, hendøen] und imitatio Christi in das Zentrum der pietistischen Religiosität, welche bedeutsam für Kierkegaards eigenes Verständnis des christlichen Glaubens sind. Wie die neuere Forschung herausgearbeitet hat, liefert der Pietismus aber bestenfalls ein „Hintergrundwissen“ und stellt keine entscheidende Textquelle für Kierkegaard dar.805 Was Kierkegaards Kontakt mit den Gedanken Eckharts betrifft, so scheint eher deren Interpretation durch den Deutschen Idealismus und durch die Hegelianer bedeutsam gewesen zu sein. In Dänemark ist vor allem Martensen als Vermittler der Philosophie Eckharts zu nennen: Im Rahmen seiner Vorlesungen über die spekulative Dogmatik hat er die Gedanken des dominikanischen Mönches der akademischen Diskussion zugängig gemacht und mit seiner Studie Mester Eckart. Et Bidrag til at oplyse Middelalderens Mystik zu dessen erneuter
803 Bereits in Hegels Eckhart-Interpretation deutet sich dessen Wertschätzung als Philosoph an. Eckhart sei ein Repräsentant derjenigen „älteren Theologen“, welche „diese Tiefe [des religiösen Inhalts, zu dem auch die begriffliche Insuffizienz gehört] auf das innigste gefaßt“ hätten, „während bei den jetzigen Protestanten, die nur Kritik und Geschichte haben, Philosophie und Wissenschaft ganz auf die Seite gesetzt worden“ seien; G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, in TWA, Bd. 16, S. 209. Vgl. dazu Peter Šajda, „Does Hegelian Philosophy of Religion Distort Christian Dogmatics and Ethics? (The Debate on Speculative Mysticism)“, Acta Kierkegaardiana 4, 2009, S. 64–83, bes. S. 65–67 sowie Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1–4, München: Beck 1990–1999, Bd. 3 (Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik), S. 228. Die heutige Wahrnehmung Eckharts hat durch Kurt Flasch entscheidende Impulse erhalten; dieser setzt sich dafür ein, Eckhart als Philosophen zu lesen; vgl. seine Monographie Meister Eckhart: Philosoph des Christentums, München: Beck 2010. Alois Maria Haas betont dagegen, das Mystische sei wesentlich für Eckharts Denken. Haas hält die philosophische Interpretation Eckharts als „Vorläufer und Exponenten der. . . Konzeption eines autonomen Selbstvollzugs des menschlichen Denkens“ für unzureichend; auch sei die „aktualisierende Deutung Meister Eckharts im Sinne einer Fichteschen Ich-Lehre so unangemessen wie nur immer denkbar“; Alois Maria Haas, „Die Aktualität Meister Eckharts. Ein Klassiker der Mystik (ca. 1260 bis 1328)“, in Gottes Nähe. Religiöse Erfahrung in Mystik und Offenbarung. Festschrift für Josef Sudbrack, hg. von Paul Imhof, Würzburg: Echter 1990, S. 79–94, S. 87. 804 Vgl. Marie Mikulová Thulstrup, „Studies of Pietists, Mystics, and Church Fathers“, in Kierkegaard’s View of Christianity (Bibliotheca Kierkegaardiana 1), hg. von Niels Thulstrup und Marie Mikulová Thulstrup, Kopenhagen: Reitzel 1978, S. 60–80, S. 64. 805 So Peter Šajda, „Kierkegaard’s Encounter with the Rhineland-Flemish Mystics: A Case Study“, Kierkegaard Studies Yearbook, 2009, S. 559–584, S. 582.
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Wahrnehmung beigetragen.806 Martensen stellt Eckhart als „Patriarch der deutschen Spekulation“ dar, dessen „logischer Enthusiasmus“, mit welchem er über die ewige Vernunft in Gott spreche, gar an Hegel erinnere.807 Auch die damaligen Rezensionen der Monographie veranschaulichen, wie stark Martensens Interpretation von der zeitgenössischen philosophisch-theologischen Debatte geprägt ist.808 Aufgrund der Arbeit Martensens, so die aktuelle Forschung, habe Kierkegaard Eckhart ebenfalls unter den Vorzeichen der Spekulation wahrgenommen.809 Zudem folge Kierkegaard Martensen auch in seiner Kritik an Eckharts vermeintlichem Akosmismus und dessen angeblicher Unentschlossenheit zwischen Offenbarungstheologie und Mystik.810 Weil Kierkegaard wenig für die spekulativen Fragen des Deutschen Idealismus übrig gehabt habe, unter dessen Fittiche das 19. Jahrhundert Eckhart geschoben habe, seien für Kierkegaard die Arbeiten Taulers entscheidener gewesen als diejenigen Eckharts, so Šajda.811 Die Bedeutung Eckharts erscheint vor diesem Hintergrund als verschwindend gering. Die folgende Untersuchung geht den verwischten Spuren Eckharts in Kierkegaards Werk nach. Wo möglich, wird deren eventuelle Herkunft aufgezeigt. Die Arbeit zielt jedoch nicht darauf, einen ‚Einfluß‘ Eckharts auf Kierkegaard rezeptionsgeschichtlich zu ‚beweisen‘. Vielmehr stellt sie die Analyse derjenigen Metaphern in den Vordergrund, die eine Wiederholung des Selbst- und Gottesverhältnisses Eckharts im 19. Jahrhundert nahelegen. Dies geschieht vorwiegend anhand einer Erbaulichen Rede, die in den nächsten Kapiteln das Zentrum der Überlegungen darstellt.
806 Hans Lassen Martensen, Mester Eckart. Et Bidrag til at oplyse Middelalderens Mystik, neue Aufl., Kopenhagen: Reitzel 1851 [1840] (ASKB 649). Martensens Arbeit wurde intensiv und über die Grenzen Dänemarks hinaus rezipiert. In Deutschland erschien 1842 die Übersetzung Meister Eckhart: eine theologische Studie, Hamburg: F. H. Perthes. Die folgenden Verweise beziehen sich auf die zweite Edition der dänischen Ausgabe von 1851. 807 Ebd., S. 3, 49. 808 Vgl. Peter Šajda, „Martensen’s Treatise Mester Eckart and the Contemporary PhilosophicalTheological Debate on Speculative Mysticism in Germany“, in Hans Lassen Martensen. Theologian, Philosopher and Social Critic, hg. von Jon Stewart, Kopenhagen: Museum Tusculanum Press 2012 (Danish Golden Age Studies, Bd. 6), S. 47–72. 809 Siehe Peter Šajda, „Meister Eckhart: The Patriarch of German Speculation who was a Lebemeister: Meister Eckhart’s Silent Way into Kierkegaard’s Corpus“, in Kierkegaard and the Patristic and Medieval Traditions, hg. von Jon Stewart, Aldershot et al.: Ashgate 2008 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 4), S. 237–264. 810 Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit Martensens Kritik an Eckhart vgl. ders., „Does Hegelian Philosophy of Religion Distort Christian Dogmatics and Ethics?“, a. a. O. 811 Ders., „Meister Eckhart: The Patriarch of German Speculation who was a Lebemeister“, a. a. O., S. 251.
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4.5.3 Der wahre Beter 1844, im Jahr der Veröffentlichung der Brocken und zwei Jahre vor der Problematisierung der Reflexion als Methodenbegriff in der Nachschrift, erscheint eine Sammlung Erbaulicher Reden. Darin enthalten: Ein Text mit dem umständlichen Titel „Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – damit, daß Gott siegt“.812 Gewöhnlich wird der Redenkorpus, den Kierkegaard mit ‚S. Kierkegaard‘ unterzeichnet und parallel zu den pseudonymen Werken veröffentlicht hat, als ‚zweite Autorschaft‘ von diesen getrennt behandelt. So sehr dies editionsgeschichtlich legitimiert ist und von Kierkegaards Selbstaussagen unterstützt wird, so sollten doch auch die hermeneutischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, welche ein Bezug der Texte aufeinander eröffnet. Dies ist das Ziel der folgenden Überlegungen. Vorab gilt es jedoch, den Text selbst zu Wort kommen zu lassen. Auch er arbeitet mit Wiederholungen und einer variationsreichen Metaphorik, jedoch unterscheidet er sich von den bislang behandelten Texten durch das Fehlen jeglicher Ironie, einen einfachen Stil und durch eine weniger deutliche Argumentationsstruktur. Der Titel der Rede spielt auf das Markusevangelium an, in dem es heißt: „Denn wer sein Leben will behalten, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinet- und des Evangeliums willen, der wird’s behalten.“813 Die Rede nähert sich dem Paradox des Gewinnens durch Verlieren aus verschiedenen Richtungen und mit unterschiedlichen Metaphern, die jedoch eines gemeinsam haben: Sie wiederholen religiöse Konzeptionen Eckharts. Der Text beginnt mit einem Gedankenexperiment. Der Leser bzw. Zuhörer wird aufgefordert, sich einen öffentlichen Platz vorzustellen. Auf diesem solle er zum Kampf aufrufen, die Kampfbedingungen dabei so günstig darstellend, daß die Erwartung des Sieges zur Gewißheit werde. Man könne, so Kierkegaard, mit einem großen Andrang enthusiastischer Kandidaten rechnen, die alle am Sieg teilhaben wollen. Dies ändere sich jedoch schlagartig: „Wofern aber der Redende sich ein wenig genauer erklärte und auf die Frage des Streitlustigen, wo denn Walstatt und Kampfplatz. . . sei[,] erwiderte: der Kampfplatz ist im Innern eines jeden, und darum ist es das Beste, daß jeder heimgehe“, so würden sich die Freiwilligen zurückziehen und sich stattdessen eine sensationslustige Menge um den Sprecher bilden.814 Auf deren neugierige Frage, worin der Streit und der Sieg denn bestehe, sei mit „im Gebet“ und „in der Einsicht, daß man verloren hat“ zu antworten. Dies wür-
812 Der dänische Titel lautet „Den rette Beder strider i Bønnen og seirer – derved, at Gud seirer“; SKS 5, 361–381 / 4R44, 86–110. 813 Mark 8,35 (Übers. nach der Lutherbibel von 1912); siehe auch Matt 10,39 und Luk 9,24; vgl. Hirschs Anmerkung in 4R44, 215 (Anm. 116). 814 SKS 5, 362 / 4R44, 86f.
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de ein derartiges Amüsement hervorrufen, daß die Ergänzung beinahe überhört werde, „es habe seine Richtigkeit mit dem Gebrauch des Wortes ‚Verlust‘, es sei kein uneigentlicher Ausdruck, sondern bezeichne schlecht und recht das, was die menschliche Sprache und der menschliche Sinn unter einem Verlust und einer Niederlage verstehe, dahingegen müsse ‚siegen‘ in einer hohen und edlen und insofern uneigentlichen Bedeutung genommen werden“.815 Ein selbsternannter Wortführer der Menschenmenge würde schließlich dem Gelächter ein Ende setzen mit der Bemerkung, „er habe die gerade entgegengesetzte Anschauung und wünsche für seine eigene Person am liebsten, Sieger im eigentlichen Sinne zu sein, und zu verlieren im uneigentlichen Sinne“816 . Dies, so Kierkegaard, sei ein „Bild dessen, was im Leben begegnet“817 . Daraufhin setzt Kierkegaard noch einmal an, diesmal mit einem anderen Bild: Wir sollen uns einen Mann vorstellen, der auf dem Marktplatz seine gesamten Habseligkeiten anbietet, zu denen er „jeglichen irdischen Wunsch“ und „Anspruch an das Leben“ dazugelegt hat. Er bietet mit dem Bewußtsein, daß nur durch den totalen Einsatz das Höchste zu erlangen sei. Die „sinnlichen Menschen“818 belustigen sich über seine fehlende Bereitschaft zu feilschen, sie wollen nicht verstehen, was „das Höchste“ sei; ihre „Selbstliebe“ ist „zu engherzig[,] um sich vom Höchsten ergreifen zu lassen“.819 Stattdessen klammern sie sich an Wahrscheinlichkeiten und strategische Erwägungen. Auf diese Weise, so Kierkegaard, könnten sie niemals eine religiöse Erfahrung machen. Dies sei das Ziel aller Menschen; man könne jedoch nicht „unter der Hand versuchen[,] etwas in Erfahrung zu bringen, die unendliche Gewißheit in eine endliche umgewechselt zu bekommen“820 . Seine Rede möchte er daher auch nicht als Unternehmen verstanden wissen, diese Menschen vom Glauben zu überzeugen: Alle Rede von des Betenden Streit mit Gott, von dem eigentlichen Verlust. . . und von dem uneigentlichen Sieg kann darum nicht die Absicht haben, jemanden zu überreden oder das Verhältnis in eine weltliche Rechenaufgabe umzusetzen und Gottes Gnadengabe an den Wagenden umgewechselt zu bekommen in zeitliche Scheidemünze für den Furchtsamen.821
815 SKS 5, 362 / 4R44, 87. 816 SKS 5, 362 / 4R44, 87. 817 SKS 5, 362 / 4R44, 87. Für eine detaillierte Analyse der Kampfmetapher und Überlegungen zur Mystik bei Kierkegaard siehe Wim R. Scholtens, „Kijk, hier barst de taal“. Mystiek bij Kierkegaard, Kampen: Kok 1991, S. 37–39. 818 Das dänische „sandselig“ (SKS 5, 363) spielt in diesem Fall nicht nur auf Genußfreude an, sondern auch auf eine praktische Verständigkeit ähnlich dem englischen „common sense“. 819 SKS 5, 363 / 4R44, 88. 820 SKS 5, 364 / 4R44, 90. 821 SKS 5, 365 / 4R44, 90.
4.5 Meister Eckhart noch einmal: die Reflexion Gottes |
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Aber wie hat man sich das Paradox dann vorzustellen? Zu dessen Erklärung verwendet Kierkegaard wiederum ein anderes Bild: das der Diskussion mit einem Weisen. Dieser läßt in sokratischer Manier den geistig weniger behenden Gesprächspartner (Kierkegaard will sich als letzteren verstanden wissen) die Argumente selbst entwickeln. Der maieutische Effekt: Endlich, nachdem ich bei der Unterredung gleichsam unbeständig hin- und hergeschwankt und nachdem ich viel sowohl versucht wie auch erlitten, stand das, was ich sagen wollte, plötzlich so deutlich vor mir, daß ich in aller Bündigkeit und im Besitz einer unerklärlichen Stärke meine Meinung vorbrachte, dessen gewiß, daß sie ihn überzeugen müsse.822
Seine Meinung stimmt jedoch mit der des Weisen überein – er konnte sie anfangs nur nicht verstehen. Er sei froh gewesen, so Kierkegaard, daß er zu Beginn des Gesprächs dieses nicht abgebrochen oder vor Verdruß seinen weisen Freund gar angeschrien habe. Erst nun sei ihm klar geworden, daß sein Freund ihn mehr liebe, als er es anfänglich begriffen habe. Der ‚Kampf‘ mit Gott im Gebet ist jedoch komplexer. Es geht nicht einfach darum, seine Meinung in einer Angelegenheit zu ändern, nicht darum, seinen Stolz aufzugeben und einzuräumen, man habe sich geirrt. Es geht um unendlich viel mehr – es geht um alles. Dies ist es, was Kierkegaard in dem Bildungsprozeß des Beters beschreibt. Zu Beginn ist der Betende ein verständiger, lebenspraktischer Mensch. Dem entspricht auch seine Vorstellung von einem Gebet. Er denkt, es gehe darum, Gott zu überzeugen von der Notwendigkeit dessen, wofür er betet, darum, „sich bei Gott verständlich zu machen, ihm richtig zu erklären, was dem Beter dienlich sei. . . für den Wunsch ihn richtig zu gewinnen“823 . Gott erscheint manipulierbar, als jemand, mit dem man Geschäfte machen kann zur Sicherung des bürgerlichen Lebensstandards: Einer bete „für die guten Dinge, die ausbleiben; einer für die Ehre, die winkt; einer für das Glück, das er der Geliebten schaffen möchte“824 – die Liste ist unerschöpflich. Der Betende versteht sich selbst zudem uneingeschränkt der göttlichen Wunscherfüllung würdig, und so befindet er selbstzufrieden, er dürfe „sich das Zeugnis geben, daß er allen seinen Verstand anstrenge, um hellsichtig genug zu werden, die fernste Andeutung einer Erfüllung zu gewahren“825 . Auch meine sein Streit, so denkt der Beter, es doch „wohl mit Gott, denn er geht darum, daß recht man könne fröhlich sein in Gott“826 . Ein solcher Beter betet falsch: mit falschen Vorstellungen von Gott, von sich selbst, vom Beten und von dem, was für
822 823 824 825 826
SKS 5, 372f. / 4R44, 100. SKS 5, 371 / 4R44, 97. SKS 5, 370 / 4R44, 97. SKS 5, 371 / 4R44, 98. SKS 5, 371 / 4R44, 97.
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seine Existenz entscheidend ist. Kurz gefaßt: Er mißversteht das Gottesverhältnis als instrumentelle Relation zur Erfüllung existentieller Belanglosigkeiten. Den Wandel eines solchen Menschen zu einem wahren Beter beschreibt Kierkegaard als einen Prozeß des Entleerens, als kenosis. Schrittweise wird der Betende mit dem Scheitern seiner strategisch-berechnenden Gebete konfrontiert – keiner seiner materiellen und profanen Wünsche wird erfüllt. Schritt für Schritt gibt er diese auf: [E]r läßt klein bei klein das fahren, was seinem irdischen Begreifen gemäß das minder Bedeutende ist, da er es nicht recht wagt, Gott damit zu kommen, und weil er Gottes Güte nicht verscherzen möchte, indem er immerzu um dieses bettelt oder jenes, dahingegen bei seinem einzigen Wunsche dem Begehren um so mehr Nachdruck zu verleihen trachtet.827
Zwar hat der Betende in dieser Phase immer noch dieselben falschen Vorstellungen von sich und seinem Gottesverhältnis, aber er nähert sich der Selbstentsagung, die laut Kierkegaard eine notwendige Stufe innerhalb des Bildungsprozesses darstellt: „So sammelt er denn Gott gegenüber seine Seele auf einen einzigen Wunsch, und schon dies bringt etwas Veredelndes mit sich, ist die Bereitung dazu, auf alles zu verzichten“828 . Als nun auch dieser einzige Wunsch nicht erfüllt wird, hat sein Streben kein weltliches Objekt mehr, der Betende „begehrt nichts mehr in dem Äußeren, sein Wunsch trachtet nach nichts, das irdisch ist“. Stattdessen fordert er eine Erklärung – warum hat Gott nicht einmal diesen einen Wunsch erfüllt? Obwohl eine dekathexis (der ‚Abzug‘ des Wunsches oder der sogenannten ‚Bezugsenergie‘) stattgefunden hat, betet der Betende nicht richtig, denn noch versucht er, eine aktive Rolle in dem Gebet einzunehmen. Er sitzt „stille über seinem Verlust, jedoch nicht leer [ledig], denn er grübelt, und auch nicht untätig [uvirksom], denn er sinnt nach über eine Erklärung“829 . Der Streit mit Gott ist jedoch innerlicher geworden; das Leben des Beters hat seinen Schwerpunkt nun nicht mehr in bürgerlicher Geschäftigkeit: „Wenn das Leben tagsüber lärmt, so arbeitet sein Denken[,] den Lärm zu übertäuben, und des Nachts, wenn alles still ist, arbeitet sein Denken. . . es arbeitet am Feiertag so gut wie am Werktag“830 . Was geschehen ist, so denkt der Beter, müsse ihm doch irgendwie dienlich sein, und so zerbricht er sich den Kopf, worin der Nutzen für ihn bestehen könnte. Sein Geist ist daher immer noch durch die Vorstellung einer Mittel-Zweck-Relation strukturiert, der Beter daher immer noch nicht in ein
827 828 829 830
SKS 5, 375 / 4R44, 103. SKS 5, 375 / 4R44, 103. SKS 5, 376 / 4R44, 103. SKS 5, 376 / 4R44, 104.
4.5 Meister Eckhart noch einmal: die Reflexion Gottes |
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wahres Verhältnis zu Gott getreten – „dienlich [tjenligt], ja, das ist der Name für die Brücke, die er vom Schmerze hinüberschlagen will zur Seligkeit, aber ach, die Brücke wird immerfort abgebrochen“831 . Allmählich dämmert dem so verzweifelt Betenden der Gedanke, daß die Erklärung darin besteht, daß „Gott ihm das Verstehen versagt und nichts als Glauben fordert und mithin allein jenes Verstehen mit ihm haben will, das im Unverständlichen ist, denn das ist der Glaube“832 . Schließlich gibt der Betende den Anspruch auf, Gott verstehen zu wollen, können und dürfen. Dieses letzte Stadium in dem Werdensprozeß des Beters beschreibt Kierkegaard in der Metaphorik der imago. Wir sollen uns ein Kind vorstellen, das ein Bild malt, „wirr und unzusammenhängend“, und während es schläft, vollendet „eine freundliche Hand“ das Bild.833 Der Beter ähnelt dem Kind: Er ist zwar fortgeschritten in dem Prozeß der kenosis und kümmert sich nicht mehr um Materielles, aber er wolle „sich selber bilden [danne sig selv]“834 . Der Beter sitzt und zeichnet – oder, so wendet sich Kierkegaard an seinen Leser, „ist der, welcher im Gebete mit Gott um eine Erklärung kämpft, ist er nicht ein Zeichner, soll die Erklärung nicht die Grenzlinie ziehen zwischen ihm und Gott, so daß er dazu gelangt, sich selber gleich zu sein Gott gegenüber?“ Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied: „Dem Kinde mußte auf die Art geholfen werden, daß etwas hinzugetan ward, aber dem Streitenden wird mehr und mehr fortgenommen. Das Äußere und jeglicher Anspruch an das Leben ist ihm fortgenommen worden, nunmehr streitet er um eine Erklärung, aber auch diese erstreitet er sich nicht. Zuletzt bedünkt es ihm, daß er zu rein gar nichts werde“.835 Und genau darauf kommt es an: Jetzt ist der Augenblick da. Wem würde der Streitende wohl zu gleichen wünschen es sei denn Gott, wofern er aber selbst etwas ist oder etwas sein will, ist dies Etwas hinreichend, um die Gleichheit zu hindern. Allein wenn er selbst zu nichts wird, allein dann kann Gott ihn durchleuchten, so daß er Gott gleicht. Wie viel er auch sei, das Gott gleich Sein kann er nicht ausdrücken, Gott kann sich in ihm abdrücken allein, wenn er selbst zu Nichts geworden ist.836
831 SKS 5, 376 / 4R44, 104. 832 SKS 5, 376 / 4R44, 104. 833 SKS 5, 379 / 4R44, 108. 834 SKS 5, 380 / 4R44, 108. 835 SKS 5, 380 / 4R44, 108. 836 SKS 5, 380 / 4R44, 108f. Da es sich im folgenden um Textstellen handelt, welche für die Analyse der mystischen Metaphorik entscheidend sind, seien diese als vollständige Zitate auf dänisch wiedergegeben: „Nu er Øieblikket der. Hvem skulde dog den Stridende ønske at ligne uden Gud; men dersom han selv er Noget eller vil være Noget, da er dette Noget Nok til at hindre Ligheden. Kun naar han selv bliver til Intet, kun da kan Gud gjennemlyse ham, saa han ligner
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Indem der Betende zu Nichts wird, indem er alles, auch sich selbst, verliert, wird er zum wahren Beter und gewinnt ein wahres Gottesverhältnis. Er verwandelt sich in eine imago dei, wie Kierkegaard abschließend mit der Metapher des spiegelglatten Meeres zeigt: „Wenn das Meer alle seine Kraft anstrengt, so kann es das Bild des Himmels gerade nicht widerspiegeln, auch nur die mindeste Bewegung, so spiegelt es den Himmel nicht rein, doch wenn es stille wird und tief, senkt sich das Bild des Himmels in sein Nichts“837 . An dieser Stelle greift Kierkegaard den Titel der Rede auf und fragt, wer den Streit gewonnen habe. Gott einerseits, so seine Antwort, denn er hat nicht die Erklärung gegeben, für die der Betende gekämpft hat. Andererseits habe auch der Betende gesiegt – „oder wäre es kein Sieg, daß er[,] anstatt von Gott eine Erklärung zu empfangen, von Gott verklärt worden ist, und diese seine Verklärung ist, daß er Gottes Bild widerspiegelt?“ 838 In einem schmerzhaften Prozeß hat der Betende sich aller weltlichen Bedürfnisse, schließlich auch aller für sein Selbstverständnis konstitutiven Verstehensbemühungen entledigt. Er habe keine Erklärung [Forklarelse] erhalten, so Kierkegaards Wortspiel, sondern sei selbst verklärt [forklaret] worden – er sei ein anderer geworden: „Ist der Beter ein anderer? Ja, denn er versteht sich selbst anders.“839 Hierfür dankend, sei er endlich zum wahren Beter geworden.
4.5.4 Die Wiederholung des Eckhartschen Bildungsprozesses: Entbildung und Überbildung Die Bilder, die Kierkegaard im Rechten Beter verwendet, weisen zurück auf Martensens Eckhart-Studie. In dieser hat Martensen auch Auszüge aus den Predigten Eckharts veröffentlicht.840 Das ist bislang der stärkste rezeptionsgeschichtliche
Gud. Hvor meget han end er, Guds Lighed kan han ikke udtrykke, Gud kan kun aftrykke sig i ham, naar han selv er bleven til Intet“. 837 SKS 5, 380 / 4R44, 109. „Naar Havet anstrænger al sin Kraft, da kan det netop ikke gjengive Himlens Billede, og selv den mindste Bevægelse, det giver det ikke reent igjen; men naar det bliver stille og dybt, da synker Himlens Billede i dets Intet.“ 838 SKS 5, 380 / 4R44, 109. „Eller var det ikke en Seier, at han istedenfor at faae en Forklaring af Gud, blev forklaret i Gud, hvilken hans Forklarelse er denne, at gjengive Guds Billede.“ 839 SKS 5, 380 / 4R44, 109. 840 Martensen stützt sich auf die Baseler Edition von 1521. Diese enthält neben Predigten Taulers 55 Predigten, die Eckhart zugeschrieben werden; vgl. Martensen, Mester Eckart, a. a. O., S. 19. 1848, vier Jahre nach Veröffentlichung der Rede, verweist Kierkegaard in einem Journaleintrag auf den (inzwischen als unauthentisch erwiesenen) Korpus Johannes Tauler’s Nachfolgung des armen Lebens Christi, dem die pseudo-eckhartsche Schrift Von der Abgeschiedenheit beigefügt ist: SKS 20, 331, NB4:91 / DSKE 4, 378; vgl. Johannes Tauler’s Nachfolgung des armen Lebens Christi,
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Befund für eine Auseinandersetzung Kierkegaards mit den Gedanken Eckharts zur Zeit der Entstehung des Rechten Beters. Da jedoch davon auszugehen ist, daß Kierkegaard bereits Jahre zuvor durch die akademische Mystik-Diskussion und anhand pietistischer Überlieferungen Kontakt mit den Gedanken Eckharts hatte, wird im folgenden auch auf diejenigen Schriften Eckharts verwiesen, deren Rezeption durch Kierkegaard nicht explizit nachgewiesen werden kann, die jedoch eklatante konzeptuelle und metaphorische Ähnlichkeiten aufweisen.841 Folgt man Kierkegaard, dann ist in dem Bildungsprozeß des Beters mehr gefordert als nur der Verzicht auf materielle Güter und ein Entsagen weltlicher Wünsche. Wieder und wieder kreist die Rede um die Forderung, der Betende müsse weltliche Denkweisen, besonders das Konzept der ‚Dienlichkeit‘ – heute würden wir sagen: das Kosten-Nutzen-Denken – aufgeben. Der Appell, das Paradigma der Instrumentalität zu verabschieden, hat ebenso wie die Persiflage der Menschen, die für die „guten Dinge“842 beten, seinen Prototyp in einem drastischen Vergleich, den Eckhart zieht: Aber manche Leute wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und des Käses und deines eigenen Nutzens. So halten’s alle jene Leute, die Gott um äußeren Reichtums oder inneren Trostes willen lieben; die aber lieben Gott nicht recht, sondern sie lieben ihren Eigennutz.843
hg. von Nikolaus Casseder, Frankfurt am Main: Verlag der Hermannschen Buchhandlung, 1821 (ASKB 282). Siehe hierzu Šajda, „Meister Eckhart: The Patriarch of German Speculation who was a Lebemeister“, a. a. O., S. 250f. 841 So findet sich z.B. das biblische Paradox des Gewinns durch vollkommenen Verlust, mit dem die Rede sich auseinandersetzt, nicht in Martensens Selektion. Die Metaphorik des Marktes, auf dem sämtliche weltliche Güter im Austausch für eine ewige Seligkeit geboten werden, verweist auf Eckharts Buch der göttlichen Tröstung. Dort fragt Eckhart: „Wie hât dér alliu dinc gelâzen durch got, der noch ahte und anesihet diz und daz guot?“ Er rät unter Verweis auf Augustinus: „hebe ûf diz und daz guot, sô blîbet lûter güete in ir selber swebende in sîner blôzen wîte: daz ist got.“ Eckhart, „Daz buoch der götlîchen trœstunge“, in Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke, Bd. 1–5, hg. von Josef Quint, Stuttgart: Kohlhammer 1936–1976, Bd. 5, S. 1–105, S. 24f. 842 SKS 5, 370 / 4R44, 97. 843 Eckhart, „Quasi vas auri solidum. Ich hân ein wörtelîn gesprochen. . . “ (Predigt 16b), in Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke, Bd. 1–5, hg. von Josef Quint, Stuttgart: Kohlhammer 1936–1976, Bd. 1, S. 492–495 (bzw. mittelhochdt. S. 257–276), S. 494. Auf Mittelhochdeutsch heißt es: „Aber etlîche liute wellent got mit den ougen anesehen, als sie eine kuo anesehent, und wellent got alsô minnen, als sie eine kuo minnent. Die minnest dû umbe die milch und umbe die kæse und umbe dînen eigenen nutz. Alsô tuont alle die liute, die got minnen tumbe ûzwendigen rîchtuom oder umbe inwendigen trôst; und die minnent got niht rehte, sunder sie minnent irn eigenen nutz.“ Ebd., S. 274. Die dänische Übersetzung durch
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Der Beter muß nicht nur seine weltlichen Wünsche, sondern auch seine GottesVorstellungen aufgeben. Hierzu gehört das anthropomorphe Konzept Gottes – der Gott, zu dem der Betende am Anfang zu beten vermeint, „ist menschlich, hat ein Herz[,] zu fühlen als ein Mensch, Ohren, des Menschen Klage zu hören“, er läßt sich „bewegen durch des Streitenden Schreien“844 . Wenn Kierkegaard eine Abstinenz von derartigen Konzepten fordert, dann stimmt er mit Eckhart überein, der betont, daß alle Begriffe Abbilder des Geschaffenen [crêatiurlîche bilde] sind.845 Entsprechend der mittelalterlichen Ontologie kann Gott als ungeschaffenes Wesen daher nicht von dem menschlichen Verstand begriffen werden. Wohl aber gibt es andere Wege, sich Gott zu nähern, wie Eckhart anhand der Metaphorik des Seelenbeckens zeigt: Nun begehrt Gott nichts mehr von dir, als daß du aus dir selbst ausgehest deiner kreatürlichen Seinsweise nach und Gott Gott in dir sein läßt. Das geringste kreatürliche Bild, das sich je in dich einbildet, das ist so groß, wie Gott groß ist. Warum? Weil es dich an einem ganzen Gotte hindert. Eben da, wo das Bild [in dich (Quint)] eingeht, da muß Gott weichen und seine ganze Gottheit. Wo aber dieses Bild ausgeht, da geht Gott ein.846
Die Aufforderung zur kenosis, zur ‚Entleerung‘ der Seele, begegnet in vielen spirituellen Kontexten, nicht nur in der christlichen Mystik und nicht nur in dem Werk Eckharts. Als mystischer Topos ist sie in der abendländischen Geistesgeschichte prominent geworden und hat vielfältige Metaphorisierungen erfahren. Tauler beschreibt den kenotischen Prozeß als ‚Absterben‘, ‚Abstoßen‘, ‚Verlieren‘ und ‚Ent-
Martensen lautet (die Sätze in andere Reihenfolge gebracht): „Vil Du søge Gud i Sandhed, maa Du være uden alt Hvorfor. Søger Du Gud for din egen Nyttes eller Saligheds Skyld, da søger Du ham ikke i Sandhed. Nogle Folk ville ansee Gud med de samme Øine, som de ansee en Ko (den elsker Du for Melkens Skyld og for Ostens Skyld og for din egen Nytte)“; Martensen, Mester Eckart, a. a. O., S. 22. 844 SKS 5, 370 / 4R44, 96. 845 Vgl. Eckhart, „In hoc apparuit caritas. In dem ist uns erzeiget und erschinen gotes minne“ (Predigt 5b), in Meister Eckhart, Die deutschen Werke, Bd. 1, a. a. O., S. 83–96, S. 92 (Quints Übers. findet sich auf S. 441–449). 846 Eckhart, „In hoc apparuit caritas“, ebd., S. 451. Im mhdt. Wortlaut: „Nû begert got niht mê von dir, wan daz dû dîn selbes ûzgangest in crêatiurlicher wîse und lâzest got got in dir sîn. Daz minneste crêatiurliche bilde, daz sich iemer in dir erbildet, daz ist als grôz, als got grôz ist. War umbe? Dâ hindert es dich eines ganzen gotes. Rehte dâ daz bilde îngât, dâ muoz got wîchen und alliu sîn gotheit. Aber dâ das bilde ûzgât, dâ gât got în.“ Ebd., S. 92f. Martensens Übersetzung lautet: „Gud begjærer Intet mere af Dig, end at Du skal gaae ud af Dig selv efter Din Kreaturlighed og lade Gud være Gud i Dig. Det mindste skabte Billede, der danner sig i Din Sjæl, er ligesaa stort som Gud. Hvorfor? Det røver Dig en heel Gud. Naar Billedet gaaer ind, maa Gud vige med al sin Guddom. Men naar Billedet gaaer ud, da gaaer Gud ind.“ Martensen, Mester Eckart, a. a. O., S. 23.
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blößen‘.847 Die Interpretation der kenosis im Rechten Beter als ‚Ent-Bildung‘ verweist jedoch auf Eckhart.848 In dem Buch der göttlichen Tröstung heißt es: Denn ein recht vollkommener Mensch soll. . . seiner selbst in Gott so entbildet und in Gottes Willen so überbildet sein, daß seine ganze Seligkeit darin liegt, von sich selbst und von allem [Sonstigen (Quint)] nichts zu wissen, vielmehr nur Gott allein zu wissen, nichts zu wollen noch einen Willen zu kennen als Gottes Willen. . . 849
Was bleibt nach einer solchen Ent-Bildung? Die beiden naheliegenden Antworten sind unangemessen. Die eine, der populären Vorstellung von Mystik entsprechend, geht davon aus, daß der Mystiker in einer besonderen Weise Gott gegenüber ‚gefühlig‘ wird. Martensen hat diese romantikaffine Interpretation vehement zurückgewiesen; vor allem die Mystik Eckharts sei weit davon entfernt, in Opposition zur Vernunft zu treten.850 Vielmehr nehme sie eine tragende Rolle in der Geistesgeschichte ein. Als ‚Patriarch der deutschen Spekulation‘, so Martensens hegelianischer Zugriff, verfolge Eckhart gerade keinen Rückzug in das Gemüt oder die Sentimentalität, sondern einen Fortschritt zum Geist. Bekanntlich trennt Eckhart zwischen einem geschaffenen und einem ungeschaffenen, ewigen Intellekt. Letzterer sei Gott, und die Menschen seien durch die scintilla animae, den göttlichen Seelenfunken, mit ihm verbunden.851 Diese
847 Auch Taulers Metaphorik findet sich bei Kierkegaard; vgl. Peter Šajda, „Tauler: A Teacher in Spiritual Dietethics: Kierkegaard’s Reception of Johannes Tauler“, in Kierkegaard and the Patristic and Medieval Traditions, hg. von Jon Stewart, Aldershot et al.: Ashgate 2008 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 4), S. 265–287, S. 282. 848 Bildungskomposita wie diese gelten als Erkennungszeichen der Schriften Eckharts. Er hat sie basierend auf seiner innovativen und wirkungsstarken Übersetzung Bild für Lateinisch imago und exemplum entwickelt; vgl. Ernst Nündel, „Ein Kennwort Meister Eckharts: bilde“, Wirkendes Wort 13, 1963, S. 141–147. 849 Eckhart, „Das Buch der göttlichen Tröstung“, in Meister Eckhart, Die deutschen Werke, Bd. 5, a. a. O., S. 471–497 (mhdt. S. 1–105), S. 477. „Wan en rehte volkomen mensche sol. . . sîn selbes entbildet in gote und in gotes willen sô überbildet, daz alliu sîn sælicheit ist, sich selben und allez niht wizzen und got aleine wizzen, niht wellen noch willen wizzen dan gotes willen.“ Eckhart, „Daz buoch der götlîchen trœstunge“, ebd., S. 21. Es ist in der Forschung ausgiebig diskutiert worden, worauf sich Eckharts Forderung einer kenosis sich bezieht. Haas betont, daß die scholastische Dreiteilung der Seelenkräfte in intellectus, memoria und voluntas für Eckhart nicht entscheidend ist und er nur auf diese rekurrierte, um der scholastischen Tradition Tribut zu zollen; Alois Maria Haas, Sermo mysticus, Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik, Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag 1979, S. 224. 850 Vgl. Martensen, Mester Eckart, a. a. O., S. 1f. 851 Vgl. Eckhart, „Quasi stella matutina. Als ein morgensterne mitten in dem nebel“ (Predigt 9), in Meister Eckhart, Die deutschen Werke, Bd. 1, a. a. O., S. 138–158, S. 151. Zum Unterschied von geschaffenem und ungeschaffenem Intellekt siehe Haas, Sermo mysticus, a. a. O., S. 225, Hans
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Verbindung zu dem göttlichen intellectus purus sei jedoch meist blockiert durch weltliche Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen, durch crêatiurlîche bilde. Der menschliche Intellekt sei daher zu ent-bilden, um die göttliche Potenz in sich zu aktualisieren. Kierkegaard lehnt zwar das Hegelsche Konzept einer Geistesgeschichte ab, mit dem Martensen Eckhart in Verbindung bringt. Die Gleichsetzung eines wahren Gottesverhältnisses mit der menschlichen Geistwerdung dürfte aber seine Anerkennung gefunden haben, stimmt sie doch mit dem ersten Paragraphen der Krankheit zum Tode überein.852 Dies führt zu der zweiten möglichen Mißinterpretation des auf die EntBildung folgenden Geschehens. Sie geht davon aus, daß der Beter sich nun durch eigene Willenskraft selbst zu einem wahren Beter bilden könne. Kierkegaard hat diese Interpretationsmöglichkeit im Rechten Beter angesprochen und zurückgewiesen: Der Beter, der versucht, sich selbst zu entwerfen – zu ‚zeichnen‘ –, scheitert. Was im Zerbrechen dieser letzten Erwartung des Beters enthüllt wird, „ist die Einbildung, dass das Leben in der Überzeugung begründet war, selbst sein Dasein in der Zeitlichkeit formen und kontrollieren zu können“853 .
Hof, Scintilla animae. Eine Studie zu einem Grundbegriff in Meister Eckharts Philosophie, Lund und Bonn: Gleerup Bogförlag und Hanstein Verlag 1952, S. 201f. sowie Niklaus Largier, „‚Intellectus in deum ascensus‘. Intellekttheoretische Auseinandersetzungen in Texten der deutschen Mystik“, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 69.3, 1995, S. 423– 471. 852 Der Frage, inwieweit in der Krankheit zum Tode konzeptuelle Ähnlichkeiten zu Eckhart eine Rolle spielen, ist bislang nicht nachgegangen worden. Die dortige Metaphorik des Gründens und der Reflexion wird fast ausschließlich mit Fichtes ‚Ich‘ in Verbindung gebracht. Es gibt jedoch Forschungsansätze, die Eckhart als Vorläufer des Idealismus begreifen. Haas beharrt gegenüber derartigen Interpretationen auf dem Mystischen von Eckharts Denken: Die Gnade, die laut Eckhart wesentlich für das Eins-Sein von Gott und Mensch sei, entspreche nicht den idealistischen Theorien menschlicher Selbstverwirklichung; vgl. Haas, „Die Aktualität Meister Eckharts“, a. a. O., S. 84. Daß Kierkegaard für die Selbstwerdung die Gnade Gottes als unverzichtbar deklariert, würde demnach stärker in die Richtung Eckharts als Fichtes weisen. Zu Eckharts Ich-Konzeption siehe Kurt Flasch, „Procedere ut imago – Das Hervorgehen des Intellekts aus seinem göttlichen Grund bei Meister Dietrich, Meister Eckhart und Berthold von Moosburg“, in Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposium Kloster Engelberg 1984, hg. von Kurt Ruh, Stuttgart: Metzler 1986, S. 125–134, S. 131; Burkhard Mojsisch, „‚Dieses Ich‘: Meister Eckharts Ich-Konzeption. Ein Beitrag zur ‚Aufklärung‘ im Mittelalter“, in Sein – Reflexion – Freiheit. Aspekte der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes, hg. von Christoph Asmuth, Amsterdam und Philadelphia: Grüner 1997, S. 239– 252. Einen kurzen Überblick über die Diskussion bietet Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, a. a. O., S. 228–230. 853 Michael O. Bjergsø, Kierkegaards deiktische Theologie. Gottesverhältnis und Religiosität in den erbaulichen Reden, aus dem Dänischen übers. von Krista-Maria Deuser und Hermann Deuser, Berlin und New York: De Gruyter 2009, S. 50.
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Allein durch die göttliche Gnade gelangt der entbildete Beter zu wahrer Religiosität; sola gratia wird der Mensch überbildet zu dem, was er seiner Bestimmung nach ist: eine imago dei. Die in diesem Kontext verwendete Metaphorik ist Eckhartschen Ursprungs.854 Um den Aspekt der Gnade hervorzukehren, basiert Eckharts Gedankengang auf dem Bild des Spiegels. Dieser kann die Reflexion nicht beeinflussen, er kann nicht bestimmen, ob oder wie etwas gespiegelt wird, sondern empfängt das Bild ohne eigenen Willen.855 Um die Passivität des Gläubigen zu betonen, greift Eckhart nicht nur auf die Semantik des Spiegelns, sondern auch auf die des Siegelabdrucks und Formens zurück: Ihr sollt wissen, daß das einfältige göttliche Bild, das der Seele eingedrückt ist im Innersten der Natur, unvermittelt empfangen wird; und das Innerlichste und das Edelste, das in der [göttlichen (Quint)] Natur ist, das erbildet sich ganz eigentlich in das Bild der Seele, und dabei ist weder Wille noch Weisheit ein Vermittlendes.856
Diese unterschiedlichen Bildbereiche visualisieren zwei widersprüchliche Eigenschaften des Gottesverhältnisses. Einerseits wird Gott als Stempel oder Siegel verstanden, der sich in der glatten Seelenoberfläche abdrückt. Auf diese Weise entstehen Kopien eines Originals und eine einseitige Abhängigkeit des Geformten von der Form. Andererseits deutet Eckhart die Interdependenz von Gott und Mensch an. Sie zeigt sich in der Spiegelmetaphorik, die auch in der Selektion
854 Auch Frits Florin interpretiert die Spiegelmetaphorik als Hinweis auf Kierkegaards Inspiration durch Eckhart. Er bezieht sich jedoch nicht auf den Rechten Beter, sondern auf eine spätere Rede, in der es heißt: „Reinheit des Herzens; das ist ein bildlicher Ausdruck, der das Herz mit dem Meer vergleicht, und weshalb wohl gerade damit?. . . Wie das Meer in seiner reinen Tiefe des Himmels Höhe wiedergibt, ebenso gibt das Herz, wenn es stille und tief durchsichtig ist, die himmlische Erhabenheit des Guten wieder in seiner reinen Tiefe“ (ERG, 127, 128); „Hjertets Reenhed; dette er et billedligt Udtryk, som sammenligner Hjertet med Havet, og hvorfor vel just med det?. . . Som Havet gjengiver Himlens Høide i sin rene Dybde, saaledes gjengiver Hjertet, naar det er stille dybt gjennemsigtigt, det Godes himmelske Ophøiethed i sin rene Dybde.“ (SKS 8, 222). Vgl. Frits Florin, „Was Kierkegaard Inspired by Medieval Mysticism? Meister Eckhart’s ‘Abgeschiedenheit’ and Kierkegaard’s ‘Ud-sondring’“, Kierkegaardiana 22, 2002, S. 172–190, S. 179. Zur imago dei und Ent-Bildung bei Eckhart siehe auch Käte Meyer-Drawe und Egbert Witte, „Bilden“, in Wörterbuch der philosophischen Metaphern, hg. von Ralf Konersmann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 61–80, S. 67. 855 Vgl. Eckhart, „Quasi vas auri solidum“ (Predigt 16b), in Meister Eckhart, Die deutschen Werke, Bd. 1, a. a. O., S. 265. 856 Eckhart, „Quasi vas auri solidum“ (Predigt 16b), in ebd., S. 493. Mhdt.: „Ir sult wizzen, daz daz einvaltic götlîche bilde, daz in die sêle gedrücket ist in dem innigesten der natûre, âne mittel sich nemende ist; und daz innigeste und daz edelste, daz in der natûre ist, daz erbildet sich aller eigenlîchest in daz bilde der sêle, und hie enist niht ein mittel weder wille noch wîsheit.“ Ebd., S. 268.
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Martensens zu Wort kommt: „Die Seele ist ein gesegneter Spiegel. Nun fragen die Leute, wo das Wesen des Spiegelbildes sei, in dem Spiegel oder in dem Objekt, das das Bild aussendet? Antwort: So lange wie der Spiegel vor dem Gegenstand steht, ist das Bild da, aber sobald der Spiegel zerbricht, ist das Bild verschwunden.“857 Gemäß der Ontologie Eckharts ist Gott reine Erkenntnis – um zu sein, muß er sich selbst erkennen und ist dafür auf die menschliche Seele als Spiegel angewiesen: „Einfältige Menschen denken, sie sollen Gott so auffassen, als stünde er da drüben und sie hier. Aber so verhält es sich nicht. Gott und Ich sind eins in der Erkenntnis. Gottes Wesen ist seine Erkenntnis. Es ist Gott selbst, der mich erkennen läßt, daher ist seine Erkenntnis meine Erkenntnis.“858 Kierkegaard verwendet im Rechten Beter die Semantik des Abdrucks nur einmal – „Gott kann sich in ihm abdrücken allein, wenn er selbst zu Nichts geworden ist“859 –, und er wendet sich gleich im Folgesatz der Semantik der Reflexion zu, wenn er von dem ruhigen Meer spricht. Kierkegaard geht jedoch nicht den ontologischen Implikationen des Bildes nach. Er stellt keine Einheit von Gott und Seele fest, obwohl diese Konzeption in Martensens Eckhart-Studie zitiert wird und im Kontext der Spiegelmetaphorik naheläge: „In der leeren Seele findet Gott eine reine Reflexion seiner selbst; da ruht Gott in der Seele, und die Seele ruht in Gott. Wenn jemand es Gott nähme, in der Seele zu ruhen, würde er ihn seiner Göttlichkeit berauben.“860 Vielmehr spricht sich Kierkegaard explizit gegen die Vorstellung einer solchen Interdependenz aus. Aus der Vorlesung Martensens notiert er:
857 Martensen, Mester Eckart, a. a. O., S. 35f. „Sjælen er et saligt Speil. Nu spørger man, hvor Billedets Væsen er alleregentligst, i Speilet eller i Gjenstanden, hvorfra Billedet kommer? Svar: Saalænge som Speilet staaer for Gjenstanden, er Billedet der; men sønderbrydes Speilet, da forsvinder ogsaa Billedet“ (meine Übers.; Zitat nicht nachweisbar). 858 Ebd., S. 23: „Eenfoldige Folk mene, at de skulle ansee Gud saaledes, at han staaer hist, og de staae her. Saaledes er det ikke. Gud og jeg ere Eet i Erkjendelsen. Guds Væsen er hans Erkjendelse. Det er Gud selv, der gjør, at jeg erkjender, derfor er hans Erkjendelse min Erkjendelse“ (meine Übers.; Zitat nicht nachweisbar). Zu Eckharts „Ontologie des Spiegelbildes“ siehe Dietmar Mieth, Die Einheit von vita activa und vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und Johannes Taulers. Untersuchungen zur Struktur des christlichen Lebens, Regensburg: Pustet 1969, S. 137. 859 SKS 5, 380 / 4R44, 109. 860 Martensen, Mester Eckart, a. a. O., S. 24: „I den rene Sjæl finder Gud et fuldkomment Gjenskin af sig selv, der hviler Gud i Sjælen, og Sjælen hviler i Gud. Hvo der vilde betage Gud at hvile i Sjælen, vilde fratage ham hans Guddom.“ Hegel bezieht sich auf ein ähnliches Zitat Eckharts; Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, a. a. O., S. 209. Laut Jendris Alwast verstehe Hegel die Identität von Gott und Ich als „Vorvertrautheit mit dem Unendlichen“; Jendris Alwast, „‚Ich bin der Kampf‘. Metaphorologische und logisch-ontologische Diskursstrategeme von Identität und Differenz“, Hegel-Jahrbuch, 2004 (Glauben und Wissen. Zweiter Teil), S. 260–266, S. 262.
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Je mehr die neueren Zeiten sich in die Kontemplation des inneren Seins des Menschen versenkt haben, um so stärker ist der Gegensatz von Gott und Mensch verschwunden. Das war früher am deutlichsten von den Mystikern Tauler, Jakob Böhme und Meister Eckhart erkannt worden, die immer wieder zu der Idee zurückkehren, daß es das Wesen der Menschen ist, in Einheit mit Gott zu sein.861
Die Mystiker, so Kierkegaard 1840 in einem Journaleintrag, tilgten die Inkarnation aus dem Glauben; sie hätten „nicht die Geduld, um auf Gottes Offenbarung zu warten“862 . Kierkegaards Wiederholung Eckharts sucht daher die unio mystica auszuklammern. Die Metapher der Reflexion Gottes betont die Gleichheit von Bild und Abbild anstelle der Einheit von Gott und Mensch. Ziel des religiösen Prozesses ist die Verklärung [Forklarelse], wie die rhetorische Frage zeigt, die überlegt, ob es denn kein Sieg wäre, daß der Beter „anstatt von Gott eine Erklärung zu empfangen, in Gott verklärt worden ist, und diese seine Verklärung ist, daß er Gottes Bild widerspiegelt“863 . Trotz der ambivalenten Formulierung – auch im dänischen Original heißt es, der Beter sei in und nicht von Gott verklärt – steht in diesem Kontext nicht die mystische Vereinigung von Gott und Mensch im Zentrum, sondern der Gnadenakt der Transformation des Betenden, der von nun an anders betet, nämlich dankend statt fordernd. Kierkegaard folgt Eckhart hinsichtlich der via purgativa, und er wiederholt auch deren Phasen einer zunehmenden Annihilation, von der dekathexis materieller Güter über die Entsagung sämtlicher weltlicher Bedürfnisse und einer kenosis der Konzepte des menschlichen Intellekts bis schließlich zu der vollkommenen Aufgabe des Vertrauens in den menschlichen Verstand.864 Kierke-
861 Pap. II C 28 (meine Übers.), zit. nach Šajda, „Kierkegaard’s Encounter with the RhinelandFlemish Mystics“, a. a. O., 575f. Der Journaleintrag ist eine Notiz zu Martensens Vorlesung über die spekulative Dogmatik (1838–39). Aus heutiger Sicht stellt Kierkegaards Urteil eine grobe Vereinfachung dar, die der Komplexität der Ontologie Eckharts nicht gerecht wird. Dies ist dem begrenzten Zugang zu Eckharts Schriften im 19. Jahrhundert geschuldet. Weder Kierkegaard noch Martensen, dem Kierkegaard hier folgt, konnten daher die Thomasische Unterscheidung von aequalitas und similitudo anwenden oder Konzepte einer causa effecta und einer creatio continua in die Interpretation Eckharts so einbeziehen, wie es die heutige Forschung vermag; vgl. Johann Kreuzer, „Gottesgeburt und Rückkehr zur eigenen Endlichkeit. Überlegungen zu Meister Eckhart“, in Meister Eckhart: Lebensstationen – Redesituationen, hg. von Klaus Jacobi, Berlin: Akademia 1997, S. 261–278, S. 270; Mieth, Die Einheit von vita activa und vita contemplativa, a. a. O., S. 137f. 862 SKS 27, 236, Papir 26:8 (meine Übers.). 863 SKS 5, 380 / 4R44, 109. 864 Im seinem Traktat „Von dem edeln menschen“ verweist Eckhart auf Augustinus’ Modell eines siebenstufigen Entwicklungsprozesses des inneren Lebens. Auf der vorletzten Stufe findet eine Ent- und Überbildung statt. Laut heutigem Forschungsstand ist es fraglich, ob Eckhart selbst eine strikte Stufenfolge vertreten oder Augustinus nur aus wissenschaftspolitischen Gründen zi-
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gaard deklariert jedoch die darauf folgende via illuminativa zum Ende eines Prozesses, der ursprünglich in der unio mystica mündete. Martensen hat Eckhart für die einfache Ausrichtung dieses Prozesses kritisiert; die Eckhartsche mystische Suche nach Gott als via negativa [Nægtelsernes Vei] bestehe in dem Verzicht auf einen Gott, der sich in der Welt und in zwischenmenschlichen Beziehungen [i Verdensforhold og menneskelige Forhold] manifestiere. Eckhart spreche sich für eine totale Negation der Welt aus, so Martensens Akosmismus-Vorwurf.865 Kierkegaard scheint Martensen in seiner Kritik gefolgt zu sein. In einem Journaleintrag von 1837 vermerkt er: „Der Mystiker geht der Gemeinschaft gerade verlustig und hat sein Ich ja sogar polemisch abgesondert.“866 Vor allem aber die ausführliche Abhandlung des Gerichtsrates William in Entweder – Oder über die Mystiker weist in diese Richtung und wird als Indiz für Kierkegaards Abwertung der Mystik interpretiert: Der Mystiker wähle sich beständig aus der Welt heraus; „die Folge aber davon ist, daß er sich selbst nicht wieder in die Welt zurückwählen kann [at han ikke kan vælge sig selv tilbage i Verden igjen]“867 . Der Rechte Beter vollzieht jedoch genau das, was Martensen kritisiert. Er entleert seinen Intellekt aller Vorstellungen, jeglichen weltlichen Inhalts, um durch Gott verklärt und verändert zu werden. Dies darf meines Erachtens aber nicht als ein Votum Kierkegaards für eine permanente Abkehr von der Welt verstanden werden. Stattdessen, so die These, folgt er Eckharts Entwurf einer Doppelbewegung zurück zur Welt. Diese Doppelbewegung gilt als unmystisch und ist im 19. Jahrhundert selten mit Eckhart in Verbindung gebracht worden. Der prominente Einwand Goethes gegen ein religiöses Schwärmertum und dessen mystische Grundlage trifft Eckhart daher nicht; denn bereits Eckhart betont, daß man sich als imago dei zu bewähren habe.868
tiert hat, so interpretiert Haas die Aussagen Taulers über Eckhart. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, daß Kierkegaard das Konzept der Entbildung als graduellen Prozeß verstanden hat und diesen Eckhart zuschreibt. So trägt z.B. auch der dritte Teil der Einübung im Christentum, in welchem Kierkegaard sein Bildungskonzept entwickelt, auffällige Ähnlichkeiten zu Eckharts „Von dem edeln menschen“. Vgl. Eckhart, „Von dem edeln menschen,“ in Meister Eckhart, Die deutschen Werke, Bd. 5, a. a. O., S. 106–136, S. 111f. Haas, Sermo mysticus, a. a. O., S. 177, S. 196; Henning Nörenberg, „Kierkegaards Phänomenologie der Bildungsprozesse“, Fuge. Journal für Religion & Modernität 10, 2012, S. 7–31. 865 Martensen, Mester Eckart, a. a. O., S. 40f. 866 SKS 19, 152, Not4:25.1 / DSKE 3, 160. Zu den Kommentaren und Anmerkungen über die Mystik in Kierkegaards Journalen siehe Šajda, „Kierkegaard’s Encounter with the Rhineland-Flemish Mystics“, a. a. O., bes. S. 562–565. 867 SKS 3, 237 / EO2, 265; vgl. Šajda, „Meister Eckhart: The Patriarch of German Speculation who was a Lebemeister“, a. a. O., S. 245–247. 868 Zu Goethes Kritik siehe Konersmann, Lebendige Spiegel, a. a. O., S. 130.
4.5 Meister Eckhart noch einmal: die Reflexion Gottes |
235
Kenosis, Ent-Bildung und Abgeschiedenheit sind vorläufige, aber notwendige Phasen eines Gottesverhältnisses, das sich einzig im Umgang mit der Welt realisiert. Diesbezüglich ist für Eckhart das Konzept der Gottesgeburt entscheidend; in der unio mystica werde Gott innerhalb der Seele als Jesus Christus geboren und die Seele in Gott als Gottes Sohn. Wie Frits Florin gezeigt hat, resultiert dies Eckhart zufolge in einer zweiten Bewegung: Der „ethical turn“ versetze den Menschen „entschieden zurück in die Endlichkeit, jedoch vollkommen gewandelt nach dem Sprung der Gottesgeburt“869 . Auch Johann Kreuzer betont in seiner Interpretation von Eckharts Predigt „Intravit Iesus in quoddam castellum“, daß die Gottesgeburt als Rückkehr in die Endlichkeit menschlicher Existenz definiert ist und nicht als kontemplative Reflexion Gottes.870 Eckhart warnt seine Hörer sogar ausdrücklich davor, die innerlich einœde als „äußere“, d.h. als soziale Isolation aufzufassen. Er betont, daß der Mensch nur dann gut sei, wenn er den Mitmenschen gemeine und nütze werde.871 In der „Rede der Unterscheidung“ definiert er Handlung als dem Menschen wesentlich und gottgewollt: Da nun aber der Mensch in diesem Leben nicht ohne Tätigkeit sein kann, die nun einmal zum Menschsein gehört und deren es vielerlei gibt, darum lerne der Mensch seinen Gott in allen Dingen zu haben und unbehindert zu bleiben in allen Werken und an allen Stätten. Und darum: Wenn der anhebende Mensch unter den Leuten etwas wirken soll, so soll er sich zuvor kräftig mit Gott versehen und ihn fest in sein Herz setzen und all sein Trachten, Denken, Wollen und seine Kräfte mit ihm vereinen, auf daß sich nichts anderes in dem Menschen erbilden könne.872
Das, was Gerichtsrat William „sich selbst wieder in die Welt zurückwählen“873 nennt, und das, was Climacus als Hineinreflektieren in die zweite Unmittelbar-
869 Florin, „Was Kierkegaard Inspired by Medieval Mysticism?“, a. a. O., S. 184 (meine Übers.). 870 Kreuzer, „Gottesgeburt und Rückkehr zur eigenen Endlichkeit“, a. a. O., S. 261, S. 275. 871 Eckhart, „Die rede der unterscheidunge,“ in Meister Eckhart, Die deutschen Werke, Bd. 5, a. a. O., S. 137–376 (bzw. Quints Übers. S. 505–538), S. 207; Eckhart, „Quasi stella matutina. Als ein Morgenstern mitten in dem nebel“ (Predigt 9), in ders., Die deutschen Werke, Bd. 1, a. a. O., S. 138–158 (bzw. Quints Übers. S. 462–S. 466), S. 149. 872 Eckhart „Die Rede der Unterscheidung“, ders., Die deutschen Werke, Bd. 5, a. a. O., S. 511. Mhdt.: „Wan nû der mensche niht in disem lebene mac gesîn âne werk, diu menschlich sint. . . dar umbe sô lerne der mensch sînen got haben in allen dingen und ungehindert blîben in allen werken und steten. Und dar umbe, swenne der anehebende mensche iht sol würken mit den liuten, sô sol er sich krefticlîche gotes vor warnen und vesticlîche in daz herze setzen und alle sîne meinunge, gedenken, willen und krefte mit im vereinen, daz sich anders niht enmüge erbilden in dem menschen.“ Eckhart, „Die rede der unterscheidunge“, ebd., S. 211. 873 SKS 3, 327 / EO2, 265.
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keit des Glaubens beschreibt,874 findet sich bereits bei Eckhart. Die AkosmismusVorwürfe, die Kierkegaard den Mystikern bereitet, treffen also nicht Eckhart. Die Tatsache, daß Kierkegaard im Rechten Beter nicht auf die Bewegung zurück zur Welt eingeht, bedeutet nicht, daß Kierkegaard sich im Rechten Beter plötzlich als Anhänger des Akosmismus zu erkennen gibt. Stattdessen beschreibt er lediglich den ersten Teil der Doppelbewegung, die er in anderen Texten als Doppelreflexion definiert. An dem Wendepunkt dieser Bewegung, die vorerst in einer Abkehr von der Welt besteht, wird der Mensch in einem Moment der ‚Verklärung‘ durch Gottes Gnade verändert. Auch wenn Kierkegaard im Rechten Beter nicht die ganze Rückkehr beschreibt, läßt er den Beter deren ersten Schritt vollziehen: Unmittelbar nach dem mystischen Augenblick der Spiegelung Gottes kehrt der Beter bereits zu sich selbst zurück: „Er versteht sich selbst anders“875 . Dieses neue Selbstverständnis ist die Basis für eine uneigennützige Interaktion mit der Welt, wie sie Kierkegaard in Taten der Liebe [Kjerlighedens Gjerninger] 1847 als charakteristisch für wahre Religiosität beschreibt.876 Mit Eckhart könnte man die ‚Verklärung‘, die Kierkegaards Beter erlebt, als Freiheit im Glauben bezeichnen. Diese ist eine Voraussetzung für die von Eckhart geforderte vita activa der Nächstenliebe, aber sie ist nicht notwendigerweise identisch mit Askese: „Was ist Freiheit? Frei ist derjenige, der an nichts gebunden ist. . . Auch Fürstentümer können zur Freiheit gehören, und daß man viele und schöne Dinge besitzt.“877
874 Vgl. Grøn, „Mediated Immediacy“, a. a. O., S. 87–95. 875 SKS 5, 380 / 4R44, 109. 876 Zur Untersuchung des Verhältnisses von Handlung und Religiosität in Kjerlighedens Gjerninger sei exemplarisch auf die Studie Ulrich Lincolns verwiesen: Äußerung. Studien zum Handlungsbegriff in Søren Kierkegaards Die Taten der Liebe, Berlin und New York: de Gruyter, 2000. Lange Zeit ist dieser Aspekt der Nächstenliebe im Werk Kierkegaards nicht berücksichtigt worden. Diesbezüglich war die Interpretation Martin Bubers wirkungsgeschichtlich folgenreich. Buber hat Kierkegaard, vor allem aufgrund dessen Kritik an der Masse, vorgeworfen, sich für ein akosmisches Gottesverhältnis auszusprechen; vgl. Martin Buber, „Die Frage an den Einzelnen“, in ders., Das dialogische Prinzip, Heidelberg: Schneider 1973, S. 199–267, S. 219; vgl. Peter Šajda, „Martin Buber: No-One Can So Refute Kierkegaard as Kierkegaard Himself“, in Kierkegaard and Existentialism, hg. von Jon Stewart, Aldershot et al.: Ashgate 2011 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 9), S. 33–61. Pia Søltoft widerlegt diese Kritik, indem sie auf den Unterschied zwischen den anderen als Masse und dem anderen als „Zwischenbestimmung“, als Gottes Medium hinweist; Pia Søltoft, Svimmelhedens Etik – om Forholdet mellem den enkelte og den anden hos Buber, Lévinas og især Kierkegaard, Kopenhagen: Gads Forlag 2000, S. 75. Auch Hügli beschreibt Bubers Kierkegaardkritik als „Mißverständnis“; Hügli, „Der Einzelne“, a. a. O., S. 56–58. 877 Martensen, Mester Eckart, a. a. O., S. 21: „Hvad er Frihed? Frit er, hvad der ikke hefter ved et Andet. Gud hefter ikke ved Noget, han svæver i sig selv og er fri for alle Ting. Til Frihed hører ogsaa Herredomme, at man besidder mange og skjønne Ting“ (meine Übers.). Das Zitat ist so nicht in der
4.5 Meister Eckhart noch einmal: die Reflexion Gottes |
237
4.5.5 Reflexion nach Eckhart und nach Hegel: Remetaphorisierung und Verdoppelung Kierkegaard folgt Eckhart nicht bis zum Ende des religiösen Bildungsprozesses, und er wiederholt auch nicht dessen Ontologie, denn für sein Verständnis des Christentums ist der Unterschied zwischen Gott und Mensch entscheidend. Er wiederholt jedoch Eckharts Konzeption einer via purgativa und illuminativa sowie einer vita activa. Die von Eckhart geforderte kenosis des Intellekts, eine Entsagung von materiellen Wünschen und eine Nihilierung des profanen menschlichen Selbst- wie Gottesverständnisses mag Kierkegaard als adäquate Antwort auf den Zustand der Philosophie wie der Kultur des 19. Jahrhunderts erschienen sein: Der Intellekt des einzelnen ist regelrecht verstopft mit Wissen, von dem er befreit werden muß, wie Kierkegaard unter Rückgriff auf drastische Verdauungsmetaphern beschrieben hat. Wie gezeigt, tritt ‚Reflexion‘ bei Kierkegaard in zwei Kontexten auf: im bürgerlichen Alltag und im philosophischen Diskurs. In erstem kritisiert er ‚Reflexion‘ als Nachäffung der in den Tageszeitungen geführten Diskussionen und als neidische Nivellierungsbemühungen. Im akademischen Bereich geißelt er die Spekulation als hochmütiges Unterfangen, sich mit Argumenten in den Glauben ‚hineinreflektieren‘ zu wollen, und er positioniert sich quer zu der Diskussion um den methodischen Reflexionsbegriff. Halten wir uns noch einmal vor Augen: Während Hegel seine Dialektik in Abgrenzung zu der von ihm verfemten ‚Reflexionsphilosophie‘ verstanden wissen will, deren Verstandesgebrauch er seine vernünftige Spekulation entgegensetzt, erklärt Kierkegaard die Unterscheidung von Vernunft und Verstand für irrelevant und führt gegen Spekulation wie Reflexion die Existenz ins Feld. Auch in der Logik, so zumindest Kierkegaards Einwand, ist der Wille entscheidend. Um einen Anfang zu statuieren, muß die Reflexion angehalten werden. Wie der Wille dazu erzeugt werde, bleibt in den pseudonymen Werken unklar. Die Erbauliche Rede „Der rechte Beter“ zeigt jedoch einen Weg auf. Sie löst das von Kierkegaard konstatierte gesellschaftliche wie philosophische Problem der Reflexion durch einen Rückgriff auf das Bilderarsenal der Mystik. Es sind aber nicht nur die metaphorischen Wendungen, die Kierkegaard wiederholt. Er fundiert – wenn auch selektiv – seine Vorstellung eines authentischen Selbst-, Welt- und Gottesverhältnisses auf Eckharts Philosophie. Dabei spielt die Rückführung der Spekulation wie der
Quint-Edition enthalten. Die Herausgeber der englischen Übersetzung von Martensens Mester Eckart verweisen auf inhaltliche Übereinstimmungen mit Eckharts Predigt Nr. 44; ders., „The Autonomy of Human Self-Consciousness in Modern Dogmatic Theology“, a. a. O., S. 164 (Anm. 25).
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Reflexion auf ihre metaphorischen Wurzeln eine tragende Rolle:878 Reflexion als Spiegelung Gottes birgt die Lösung für das Problem der von Kierkegaard miteinander gleichgesetzten Reflexion und Spekulation. Im Vergleich mit Kierkegaards junghegelianischen Zeitgenossen, welche den Glauben als Anthropomorphismus, als Selbstbespiegelung des Menschen zu entlarven trachten, erscheint ein solcher Ansatz als anachronistisch.879 Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß es Kierkegaard nicht um die Zementierung alter Herrschaftsverhältnisse durch institutionalisierte Religiosität geht, sondern um die Möglichkeit authentischen Selbstseins unter den Bedingungen der Moderne – und dazu gehört ihm zufolge eine radikale Verantwortlichkeit des einzelnen, basierend auf einem individualisierten Glauben. Um das anachronistische Konzept eines Gnadenaktes – der Transformation des Willens durch Gott – zu beschreiben, greift Kierkegaard auf die Eckhartsche Metaphorik des Überbildens und Spiegelns zurück: Gott reflektiert sich in dem Menschen, wenn dieser allen weltlichen Erwartungen entsagt und auf Verstehensansprüche verzichtet hat. Gott hilft bei der ‚Ent-Bildung‘, indem er die Wünsche des Beters nicht erfüllt. Der Mensch reflektiert durchaus Gott, allerdings nicht so, wie es sich (aus Kierkegaards Sicht) die Spekulation als akademische Disziplin vorstellt. Vielmehr ist der Mensch in seiner Reflexionstätigkeit vollkommen abhängig von Gott. Auch hier kehrt das Motiv des voreiligen, unangebrachten Endes wieder: „Dies ist es, was der neuesten Philosophie in mehrfacher Hinsicht passiert ist, daß sie, weil sie die Aufgabe gehabt hat, eine Irreführung der Reflexion zu bekämpfen, das Ende dieser Arbeit,
878 Diesbezüglich folgt Kierkegaard einem Trend, bildet die Reflexionskritik doch „einen geläufigen Topos der Zeit“, und – so Konersmann in Hinblick auf Heinrich von Kleist – nicht selten werde „der Begriff auf seine metaphorischen Wurzeln zurückgeführt“. Konersmann, Lebendige Spiegel, a. a. O., S. 56. Vgl. auch Ralf Konersmann, „Spiegel“, in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 1–13, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971–2007, Bd. 9, Sp. 1379–1383; ders. „Kleine Geschichte der Spiegelmetapher“, in ders., Lebendige Spiegel, a. a. O., S. 73–173; Niklaus Largier, „Spiegelungen. Fragmente einer Geschichte der Spekulation“, Zeitschrift für Germanistik 9, 1999, S. 616–636. 879 Am bekanntesten ist wohl die Formulierung Feuerbachs: „Die Religion ist die Reflexion, die Spiegelung des menschlichen Wesens in sich selbst“; Ludwig Feuerbach, Vom Wesen des Christentums, in Gesammelte Werke, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Werner Schuffenhauer, Bd. 1–22, Berlin: Akademie Verlag 1967–2004, Bd 5, S. 127 (Kursivierung getilgt). Aber auch bei B. Bauer heißt es: „Das realisirte Selbstbewußtseyn ist jenes Kunststück, daß das Ich sich einerseits wie in einem Spiegel verdoppelt und endlich nachher, wenn es sein Spiegelbild Jahrtausende lang für Gott gehalten hat, dahinter kommt, daß jenes Bild im Spiegel es selber sey. . . Die Religion hält jenes Spiegelbild für Gott, die Philosophie hebt die Illusion auf und zeigt dem Menschen, daß hinter dem Spiegel Niemand steckt.“ Bruno Bauer, Die Posaune des Jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen, Leipzig: Wigand 1841, S. 148; vgl. Stuke, Philosophie der Tat, a. a. O., S. 155.
4.5 Meister Eckhart noch einmal: die Reflexion Gottes |
239
wenn sie damit fertig ist, mit dem Ende von allem verwechselt, anstatt daß das Ende dieser Arbeit höchstens der Beginn der eigentlichen Arbeit ist.“880 Wenn Kierkegaard an die Gnade Gottes erinnert, auf die man sich geduldig und demütig vorzubereiten habe, so gilt dies für jeden Menschen, den Wissenschaftler eingeschlossen. Schließlich geht es unterschiedslos um die Existenz, von der sich Reflexion und Spekulation nicht distanzieren können. Ein absoluter Anfang vermag nur durch einen Willensakt erzeugt zu werden. Kierkegaard zufolge ist dieser – in der Logik wie im Leben – nur durch die Gnade Gottes möglich, der die Reflexion als unendliche Tätigkeit des Intellekts stoppt und den Willen transformiert, indem er sich von dem Menschen spiegeln, d.h. indem er sich reflektieren läßt.881 Der Ausweg aus der von Kierkegaard skizzierten Verirrung in die Reflexion verläuft daher über die Remetaphorisierung des Reflexionsbegriffes. Trotz des Rückgriffes auf Eckhart handelt es sich jedoch, das darf nicht vergessen werden, um keinen Rückschritt. Die Hochkonjunktur der Reflexion im 19. Jahrhundert stellt Kierkegaards Dialektik zufolge vorzügliche Bedingungen für einen Zusammenstoß von Glauben und Wissen dar, der den Prozeß der Ent-Bildung initiieren könnte. Kierkegaard wendet sich nicht nur gegen die Identifikation von Reflexion und Glauben, sondern auch gegen deren simple Kontrastierung: „Man hat stets gemeint, die Reflexion müsse das Christentum zerstören. . . Aber schau, die Reflexion kommt, um den umgekehrten Dienst zu tun, um dem Christentum die Sprungfeder wieder einzusetzen, und zwar so, dass es gegenhalten kann – gegen die Reflexion.“882 Reflexion ist jedoch nicht nur metaphorisch (als imago dei) und auch nicht nur dialektisch (als kognitive Tätigkeit) auf das Christentum bezogen. In letzterer Hinsicht fördert sie es zudem nicht nur ex negativo. Wenn der Sprung in den Glauben stattgefunden hat, kann Reflexion vielmehr dazu beitragen, im Glauben zu bleiben und ihn ständig zu aktualisieren. Insofern sie auf das Leiden gerichtet ist, hilft sie, das Essentielle des Christentums im Bewußtsein zu halten: „Religiös gesehen kommt es nämlich. . . darauf an, daß man das Leiden erfaßt und so dar-
880 SKS 7, 382 / AUN2, 127. 881 Die Aussage, die sich auf die Logik bezieht, gilt auch für den Sprung in den Glauben, wie eine Engführung des ersten und des zweiten Teils der Nachschrift zeigt: „Nur wenn der Anfang, an welchem die Reflexion haltmacht, ein Durchbruch ist, so daß der absolute Anfang – durch die unendlich fortgesetzte Reflexion hindurch – selbst hervorbricht, nur dann ist der Anfang voraussetzungslos“ (SKS 7, 110 / AUN1, 106). Der Existierende müsse „die Kontinuität mit sich selbst verloren haben, muß ein anderer geworden sein. . . und nun dadurch, daß er von Gott die Bedingung empfängt, eine neue Kreatur werden“ (SKS 7, 523 / AUN2, 288). Die Veränderung der Person geschieht hier jedoch angesichts der Menschwerdung Christi, die in dem Rechten Beter keine Erwähnung findet. 882 SKS 21, 68, NB6:93 / T 3, 62.
240 | 4 Kierkegaards Wiederholung der Philosophie
in bleibt, daß die Reflexion auf das Leiden und nicht weg vom Leiden gerichtet ist.“883 Auch hier ist jedoch die Verbindung zur göttlichen Gnade zentral, denn das Leiden ist ein Leiden an der Unfähigkeit, sich selbst umzugestalten. Dies ist die einzige Weise, in der Reflexion und Pathos aufeinander bezogen sind; hier zerstört die Reflexion nicht, wie die Literarische Anzeige kritisiert hat, die existentielle Leidenschaft. Eine Reflexion, welche die Zumutungen des Christentums nicht wegräsoniert, fördert Innerlichkeit und kann in diesem Fall sogar direkt zu einer wahren Existenz beitragen: „Dagegen verhält sich das wesentliche existentielle Pathos zum wesentlichen Existieren; und wesentlich existieren, das ist die Innerlichkeit, und das Handeln der Innerlichkeit ist Leiden. Denn sich selbst umzugestalten vermag das Individuum nicht.“884 Die Reflexion auf das Leiden bewahrt den Menschen vor Hybris und hält ihn bereit für den Gnadenakt der Transformation durch Gott, wie ihn der Rechte Beter in der Spiegelmetaphorik beschreibt. Eine solche Innerlichkeit gilt es zu schützen. Der Gläubige gesteht vor Gott seine Ohnmacht ein, versteckt diese jedoch vor seinen Mitmenschen, um sie nicht zur Diskussion stellen zu müssen. Dies heißt jedoch nicht, daß der Gläubige in die Einsiedelei geht oder „daß ein solcher Religiöser untätig wird, im Gegenteil, er geht ja gerade nicht aus der Welt hinaus, sondern bleibt in ihr“885 . Climacus begründet das weltliche Engagement einerseits durch das so ermöglichte ‚Incognito‘ des Gläubigen. Er definiert diese ‚zweite Unmittelbarkeit‘, d.h. die Unmittelbarkeit nach der Reflexion, jedoch auch als wesentlich für den christlichen Glauben,886 ebenso wie die Krankheit zum Tode das weltliche Dasein als wesentlich zum Selbst gehörig beschreibt. In einer Doppelbewegung entfernt sich das Selbst zwar vorerst unendlich weit von den weltlichen Belangen, es kehrt dann aber verändert in das endliche Leben zurück.887 Nachdem das Individuum sich aus der Endlichkeit ‚herausreflektiert‘, in dem Zusammenstoß von Verstand und Glauben einen kenotischen Prozeß durchlaufen hat und schließlich in einer Spiegelung Gottes verklärt wurde, wie es der rechte Beter erlebt, steht der zweite Teil der religiösen Selbstwerdung an: die Rückkehr in das endliche Leben. Der
883 SKS 7, 403 / AUN2, 150. 884 SKS 7, 394 / AUN2, 141 (Übers. geringfügig modifiziert). 885 SKS 7, 459 / AUN2, 215. 886 SKS 6, 445f. / SLW, 513f. 887 Vgl. Grøn: „If second immediacy is an immediacy after reflection, what then does reflection do? It is a reflection broken in the sense that we are being reflected upon ourselves. This is the passivity of being disclosed in what we are doing. Reflection, however, thereby also offers an understanding of our own brokenness. This self-understanding is part of a second immediacy.“ Grøn, „Mediated Immediacy“, a. a. O., S. 93.
4.5 Meister Eckhart noch einmal: die Reflexion Gottes |
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wahrhaft Gläubige reflektiert dann die Erfahrung der Unendlichkeit, des Göttlichen in der Endlichkeit – das ist die spezifisch menschliche Existenz. Dieser Prozeß wiederholt sich das ganze Leben lang: „Der Existierende ist beständig im Werden; der wirklich existierende subjektive Denker bildet beständig diese seine Existenz denkend nach und setzt all sein Denken in das Werden.“888 Reflexion als permanente Aufmerksamkeit auf das existentielle Werden ist anstrengend. Kierkegaard spielt hier wieder auf den Vollendungsdiskurs des 19. Jahrhunderts an, wenn er Climacus betonen läßt, eine solche Reflexion, auch Reflexion der Innerlichkeit genannt, könne „den sinnlichen Menschen zur Verzweiflung bringen, denn man fühlt doch ständig den Drang, etwas Fertiges zu haben; aber dieser Drang ist von Übel, und man muß ihm absagen“889 . Die Reflexion der Innerlichkeit ist zudem isolierend, daran besteht kein Zweifel. Es gibt jedoch neben der Rückkehr zum weltlichen Alltag noch eine zweite Doppelbewegung, die als Doppelreflexion bezeichnet wird. Die erste Doppelbewegung der unabschließbaren Selbstwerdung ist allen Menschen wesentlich, sie ist universell. Als solche ist sie dem innerlich isolierten Gläubigen präsent: „Die Reflexion der Innerlichkeit ist die Doppelreflexion des subjektiven Denkers. Denkend denkt er das Allgemeine, aber als existierend in diesem Denken und es erwerbend in seiner Innerlichkeit wird er immer mehr subjektiv isoliert.“890 Kierkegaard variiert dieses Konzept der Doppelreflexion. So führt die ‚Doppelreflexion‘ von Subjektivem und Universellem zu einer ‚Doppelreflexion‘ im kommunikativen Kontext: Die Doppelreflexion liegt schon in der Idee der Mitteilung selbst, daß nämlich die in der Innerlichkeit der Isolation existierende Subjektivität (die durch die Innerlichkeit das Leben der Ewigkeit ausdrücken will, wo alle Sozialität und Gemeinschaft undenkbar ist, weil die Existenzkategorie der Bewegung sich hier nicht denken läßt, weshalb sich auch keine wesentliche Mitteilung denken läßt, weil jeder, wie anzunehmen ist, wesentlich alles besitzt) sich mitteilen will, also daß sie zu gleicher Zeit ihr Denken in der Innerlichkeit ihrer subjektiven Existenz haben und doch sich mitteilen will. Dieser Widerspruch kann unmöglich. . . seinen Ausdruck in einer direkten Form finden.891
Eine weitere Variante der Doppelreflexion, wiederum mit der vorigen zusammenhängend, besteht in der Spiegelung der Existenz des Mitteilenden in seinen Worten: „Wenn der Gedanke seinen rechten Ausdruck im Wort gefunden hat, was
888 SKS 7, 85 / AUN1, 78. 889 SKS 7, 85 / AUN1, 78. 890 SKS 7, 73f. / AUN1, 65. 891 SKS 7, 74 / AUN1, 65 (Anm.). In der Forschung wird sich zumeist auf diese Textstelle bezogen und Doppelreflexion daher fast ausschließlich im Kontext der indirekten Mitteilung interpretiert; die anderen Formen der Doppelreflexion, auf die oben hingewiesen wurde, geraten so außer acht.
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durch die erste Reflexion erreicht wird, dann kommt die zweite Reflexion, die das eigene Verhältnis der Mitteilung zum Mitteilenden betrifft und das eigene Verhältnis des existierenden Mitteilenden zur Idee wiedergibt.“892 Der kommunikative Aspekt der Doppelreflexion, das soll keinesfalls suggeriert werden, ist nicht auf Eckhart zurückzuführen. Zudem entwickelt Kierkegaard seine Vorstellung einer angemessenen Reflexion ebenfalls in Abgrenzung von dem Reflexionsbegriff der romantischen Literatur, der er ein phantastisches ‚Wegreflektieren‘ der Wirklichkeit und einen unendlichen, leerlaufenden Selbstbezug vorwirft – zu Unrecht, denn Schlegel selbst warnt davor, „daß dies reine Denken des Gedankens des Ichs nur zu einem ewigen Sichselbstabspiegeln, zu einer unendlichen Reihe von Spiegelbildern führt, die immer nur dasselbe und nichts Neues enthalten“893 . Es darf jedoch nicht außer acht geraten, daß für Kierkegaards Verständnis der Innerlichkeit, für seine Konzeption einer zweiten Unmittelbarkeit sowie für das Verhältnis von logischer Reflexion und Wille die Wiederholung der Spiegelmetaphorik Eckharts eine entscheidende Rolle spielt: Das Problem der Reflexion, eines der Kernthemen der Philosophie des 19. Jahrhunderts, an deren Diskussion Climacus in der Nachschrift teilzunehmen sucht, wird in der Rede über den Beter durch die Remetaphorisierung des Begriffs gelöst.
4.6 Wiederholungen und christliche Redekunst Einmal geöffnet, läßt sich der Fächer der Kierkegaardschen Wiederholung nicht so leicht wieder schließen. In den vorigen Kapiteln ist die Methode der Wiederholung in ihrer Variantenvielfalt untersucht worden. Dabei sind unterschiedliche Schriften Gegenstand der Aufmerksamkeit gewesen: pseudonyme Texte, eine religiöse Rede, systematische Abhandlungen und Journaleinträge. Die Gemeinsamkeiten dieser Texte wie der dortigen Wiederholungen und ihrer Effekte und Funktionen abschließend auf den Punkt zu bringen widerspräche Kierkegaards Widerlegung eines jeglichen Vollendungsanspruches. Daher hat das letzte Kapitel auch nicht den Charakter eines Fazits, sondern einer Rekontextualisierung – es bettet die obigen Untersuchungen in die Diskussion um eine Anti-Rhetorik Kierkegaards ein. Dabei zeigt sich: Die unterschiedlichen Wiederholungen lassen sich als Ma-
892 SKS 7, 77 / AUN1, 68f. 893 Friedrich Schlegel, „Die Psychologie als Theorie des Bewußtseins“, in Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Bd. 1–35, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, München und Paderborn: Schöningh 1958–2006, Bd. 12, S. 324–408, S. 351; vgl. Konersmann, Lebendige Spiegel, a. a. O., S. 212.
4.6 Wiederholungen und christliche Redekunst |
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nifestationen einer christlichen Redekunst unter den Bedingungen der modernen Schriftkultur zusammenfassen.
4.6.1 Die Wiederholung der philosophia im Zeichen der Literarität Erinnern wir uns: Die Wiederholung ist nicht nur Gegenstand einer der Schriften Kierkegaards, sondern stellt auch die implizite Methode seiner posthegelianischen Philosophie dar. Sie begegnet in vielerlei Formen, mit ihrer Semantik als Kompositum (Gjen-tagelse) spielend. Als Zurücknahme ist sie die Widerrufung des Gesagten gemäß der Kierkegaardschen Theorie der indirekten Mitteilung, und als Wieder-Holung bezeichnet sie eine Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition unter Berücksichtigung der aktuellen kulturellen Situation. Aber auch die konventionelle Bedeutung von ‚Wiederholung‘ nimmt eine konstitutive Funktion ein: Kierkegaards Schriften wiederholen seine Philosophiekritik performativ. Zudem tragen Repetitionen von Textelementen oder wiederholte Bestimmungs- und Metaphorisierungsversuche zu dem Ziel bei, eine existentielle Lektüre anzuregen. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Formen der Wiederholung, daß sie sich hintergründig mit dem Hegelianismus auseinandersetzen. Sie führen den populären Vollendungsrausch und die epigonale ‚Systemsucht‘ ad absurdum, rekurrieren aber auch direkt auf Positionen Hegels. So wird die Wiederholung in Abgrenzung von der logikimmanenten Bewegung als existentielle Bewegung charakterisiert. Diese beim Leser zu initiieren ist das Ziel der Methode der Wiederholung. Die Wiederholung als Bewegung der Schrift, auch das haben die vorigen Kapitel gezeigt, geschieht zugunsten des Kontingenten, Persönlichen und Besonderen – dessen, was Hegel aus der Philosophie als Wissenschaft ausgeschlossen hat. Kierkegaards Philosophie nach der Philosophie verweist in Abgrenzung davon auf das antike Verständnis der Philosophie als Liebe zur Weisheit. Was Notabene in den Vorworten expliziert, spiegelt sich in Kierkegaards Darstellung seines Vorbildes Sokrates. Aus Liebe zwingt dieser seine Gesprächspartner dazu, „allein zu stehen“894 , wie Kierkegaard es als Ziel der indirekten Mitteilung definiert. Daß dies alles andere als angenehm ist, zeigt die katachrestische Spannung zwischen den Metaphern der Hebammenkunst und des Viehbremsenbisses. Um die Geburt des Selbstbewußtseins und des existentiellen Verantwortungsgefühls zu ermöglichen, müssen vorerst sämtliche Autoritäten und äußere Orientierungsmöglichkeiten destruiert werden. Die Metaphorik der Vakuumpumpe und des Vampirs un-
894 SKS 27, 403, Papir 336:5 / Kierkegaard, Dialektik, a. a. O., S. 35; vgl. Kapitel 4.1.
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terstreicht, daß Kierkegaard Sokrates’ Vorgehen als Hilfestellung zur Entleerung, zur kenosis interpretiert. Der Kierkegaardsche Sokrates, Wegbereiter des Christentums, fördert durch seine Dialoge eine Ent-Bildung, wie sie Eckhart konzipiert und Kierkegaard in der Rede Der rechte Beter wiederholt. In Hinblick auf den kenotischen Prozeß des rechten Beters ließe sich daher sogar die These wagen, daß die Sokratische Gesprächskunst auf den Gnadenakt der Reflexion Gottes vorbereitet. Aber auch die moderatere Interpretation der Sokrates-Figur als eines Wahrheitssuchenden, der Denken und Tun stets in Übereinstimmung hält, entspricht Sokrates’ Vorbildfunktion für Kierkegaard. Sokrates verkörpert das genaue Gegenteil der von Kierkegaard heftig kritisierten Akademiker seiner Zeit, demonstriert er doch eine Wahrheitssuche, die sich nicht um Ruhm und Einkommen schert und die sich – zumindest in der Interpretation Kierkegaards – der Existenz als genuinem Gegenstand widmet. Für Kierkegaard ist Sokrates daher Philosoph par excellence, ihm strebt er nach. Aber auch wenn Kierkegaard immer wieder Parallelen zieht zwischen seiner Situation im Kopenhagen des 19. Jahrhunderts und der des Sokrates im antiken Athen, so erkennt er doch an, daß sich Sokrates’ Vorgehensweise nicht mehr reproduzieren läßt. Sokrates’ Maieutik geschah im direkten Gespräch, und sein gesamtes Philosophieren gründete in einer Kultur, in der dies möglich war. Der kulturelle Prozeß der Verschriftlichung und Medialisierung ist jedoch nicht umkehrbar. Auch wenn Kierkegaard gelegentlich von Unterhaltungen berichtet, die er in den Gassen Kopenhagens geführt hat, so weiß er, daß sich Sokrates’ Wirkung so nicht wiederholen läßt. Nicht nur die von Kierkegaard diffamierte Universitätsphilosophie, sondern auch die Philosophie als Lebensform, als gelebte Liebe zur Wahrheit, ist unter modernen Bedingungen auf die Schrift angewiesen. In Auseinandersetzung mit Texten Kierkegaards hat Sabine Mainberger daher die These von der Übersetzung der Philosophie als individueller Praxis in die Schriftkultur entwickelt: „Die Philosophie mit dem eigenen Leben auszudrücken. . . das ist für den modernen Denker unmöglich. Für diese Unmittelbarkeit muß unter Bedingungen der Reflexion und allseitigen Mediatisierung etwas anderes eintreten: der Stil.“895 Dem ist zuzustimmen: Kierkegaards Literarisierung der Philosophie stellt den Versuch dar, die sokratische Praxis unter der Voraussetzung der Irreduzibilität der Schriftkultur zu aktualisieren. Laut Meinberger müsse „die immer schon literarisierte Philosophie“ in der Kultur der Medialität „ihre Literarität steigern“, um philosophisch im sokratischen Sinne zu sein: Die Philosophie „kann die sokratische Situation nicht wiederholen, aber sie kann ver-
895 Mainberger, Schriftskepsis, a. a. O., S. 101.
4.6 Wiederholungen und christliche Redekunst |
245
suchen, Äquivalente dafür zu schaffen. Dazu muß sie das Literarische als Chance, ja als Aufgabe nehmen – als die Möglichkeit, literat und zugleich illiterat, antirhetorisch innerhalb unausweichlicher Rhetorik zu sein.“896 Mainberger verneint zwar die Möglichkeit einer Wiederholung des sokratischen Philosophierens, dies betrifft jedoch nicht die Wiederholung in dem von Kierkegaard bedeuteten Sinne – denn diese ist schließlich keine bloße Reproduktion, sondern Adaption des zu Wiederholenden an die jeweilige Gegenwart. Worauf es im folgenden ankommt, ist die von Mainberger angedeutete Paradoxalität der Rhetorik im Kontext einer vielschichtigen Methode der Wiederholung: Inwiefern läßt sich Kierkegaards Wiederholung der Philosophie als ‚antirhetorisch innerhalb unausweichlicher Rhetorik‘ verstehen?
4.6.2 Eine neue Wissenschaft: christliche Redekunst und die Wiederholung des Erbaulichen Kierkegaard reaktiviert gegenüber Hegels Deklaration der Philosophie als Wissenschaft nicht nur ein Verständnis der Philosophie als Liebe, er fordert auch selbst eine neue Wissenschaft. Deren Eigenschaften sind jedoch der Hegelschen Definition von Wissenschaftlichkeit diametral entgegengesetzt. Anstatt „daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näherkomme – dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein“897 –, strebt Kierkegaard nach Etablierung einer christlichen Redekunst: „Eine neue Wissenschaft [en ny Videnskab] sollte eingeführt werden: die christliche Redekunst [christelige Talekunst].“898 Damit durchkreuzt er Hegels Opposition von Philosophie als Wissenschaft und erbaulichem Schrifttum. Während Hegel eindringlich warnt, die Philosophie müsse sich davor hüten, „erbaulich sein
896 Ebd., S. 70. 897 Hegel, Phänomenologie, a. a. O., S. 17. Kierkegaard läßt jedoch unberücksichtigt, daß Hegel die Dialektik des Geistes nach dem Prinzip der Liebe – als Bei-sich-Sein-im-Anderen – versteht. So heißt es in den Vorlesungen zur Ästhetik: „Das wahrhafte Wesen der Liebe besteht darin, das Bewußtsein seiner selbst aufzugeben, sich in einem anderen Selbst zu vergessen, doch in diesem Vergehen und Vergessen sich erst selber zu haben und zu besitzen. Diese Vermittlung des Geistes mit sich und Erfüllung seiner zur Totalität ist das Absolute, jedoch nicht etwa in der Weise, daß sich das Absolute als nur singuläre und dadurch endliche Subjektivität in einem anderen endlichen Subjekt mit sich selbst zusammenschlösse, sondern der Inhalt der sich mit sich im anderen vermittelnden Subjektivität ist hier das Absolute selbst: der Geist, der im anderen Geist erst das Wissen und Wollen seiner als des Absoluten ist und die Befriedigung dieses Wissens hat.“ G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, in TWA, Bd. 14, S. 155. 898 SKS 18, 236, JJ:305 / DSKE 2, 244.
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zu wollen“899 , weil sie sonst ihren Charakter als Wissenschaft unterminiere, verbindet Kierkegaard Wissenschaftlichkeit und christliche Beredsamkeit. Letztere ist jedoch nicht gleichzusetzen mit Erbaulichkeit, wie es häufig in der Forschung geschieht. Vielmehr, das ist im folgenden zu zeigen, stellen die Erbauungsschriften Kierkegaards nur eine Form der von ihm geforderten christlichen Rhetorik dar. Wenden wir uns vorerst dem Erbaulichen zu. Daß Kierkegaard überhaupt einen Großteil seiner Schrift als ‚erbaulich‘ kennzeichnet, ist keine Frömmelei, sondern eine philosophische Tat. Er hält die Exklusion des Erbaulichen aus der Philosophie für unangemessen. Hegels Ablehnung des Erbaulichen habe ihren Grund in dessen persönlicher Abneigung und liege nicht in der Sache: „Es ist merkwürdig mit dem Haß, den Hegel auf das Erbauliche [det Opbyggelige] hat, der überall hervorsticht; aber das Erbauliche ist kein Betäubungsmittel [Opiat], welches einschläfert, es ist das Amen des endlichen Geistes und ist eine Seite der Erkenntnis, die nicht übersehen werden darf.“900 Nach Hegel ist eine unvoreingenommene Verwendung des Begriffes nicht mehr möglich; „der Begriff war desavouiert, als Kierkegaard ihn wiederaufnahm“901 . Die Rehabilitation des Erbaulichen, die Kierkegaard vornimmt, beschreibt Hagemann als Anpassung des Erbaulichen sowohl an die moderne Kultur der Schriftlichkeit als auch an Kierkegaards philosophische Wertschätzung des ‚Einzelnen‘. Seine Erbaulichen Reden stünden nicht mehr, wie von Paulus gefordert, im Dienst der Gemeinschaft, sondern adressieren das selbstverantwortliche Individuum. Sie sollen nicht in der Gruppe der versammelten Gemeinde gehört, sondern von jedem allein gelesen werden.902 Es steht außer Frage, daß Kierkegaard in seiner Re-Interpretation des Erbaulichen auf den Pietismus zurückgreift, welcher die Erbauung individualisiert hat. Dabei dürfe jedoch nicht vergessen werden, so vermerkt Hagemann, daß im Pietismus, vor allem unter dem Einfluß Speners, der ‚Teil‘ um des ‚Ganzen‘ willen erbaut werde und der einzelne nur ‚Zwischenziel‘ der Erbauung sei.903 Kierkegaard dagegen stellt den einzelnen in das Zentrum seiner erbaulichen Schriften. Hagemann schreibt Kierkegaard einen maieutischen Begriff des Erbaulichen zu und deutet damit eine Aufhebung des Hegelschen Verdikts durch eine Art sokratische Erbauung an.
899 Hegel, Phänomenologie, a. a. O., S. 17. Ähnlich äußert sich Hegel in „Über den Vortrag der Philosophie auf Universitäten“, a.a.O., S. 101. 900 SKS 27, 235, Papir 264:6 / T 1, 229f. 901 Tim Hagemann, Reden und Existieren. Kierkegaards antipersuasive Rhetorik, Berlin und Wien: Verlag Philo 2001, S. 62. 902 Vgl. ebd. 903 Ebd., S. 63, S. 64.
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247
Dem gegenüber ist jedoch auf die Unterscheidung hinzuweisen, die Kierkegaard zwischen einer deliberativen Schrift [Overveielse] und einer erbaulichen Rede vornimmt. Nur erstere versieht Kierkegaard mit dem sokratischen Epitheton der Viehbremse. Diese nimmt, das hat das vorletzte Kapitel gezeigt, eine maieutische Funktion ein: Die sokratische Gesprächskunst beunruhigt, verwirrt und regt so idealiter die Entstehung von Selbstbewußtsein in göttlicher Abhängigkeit an. Die Erbaulichen Reden dagegen setzen existentielle Aufmerksamkeit und religiöses Engagement bereits voraus. Sie sind unterstützend bei der andauernden Herausforderung und der paradoxalen Zumutung einer christlichen Existenz. Noch einmal sei der diesbezügliche Journaleintrag aus dem Jahr 1847 zitiert: Eine Erwägung [Overveielse] setzt keine Begriffsbestimmungen als gegeben und verstanden voraus; sie darf daher nicht so sehr rühren, abmildern, beruhigen, überreden, wie wecken und die Mschen [Menschen] reizen und das Denken schärfen. Der Augenblick der Erwägung ist ja auch vor der Handlung, und es gilt daher, all die Momente recht in Bewegung zu setzen [at sætte alle Momenterne ret i Bevægelse]. Die Erwägung soll eine ‚Bremse‘ [‚Bremse‘], ihr Kolorit daher ganz anderes sein als das der erbaulichen Rede [opbyggelige Tale], die in Stimmung ruht, während die Erwägung in gutem Sinne ungeduldig sein soll, feurig in Stimmung.904
Das sokratische Philosophieren, so könnte man paraphrasieren, versetzt in existentielle Bewegung, während die Erbauliche Rede dazu verhelfe, in dieser Bewegung zu bleiben, den Kurs zu halten. Die christliche Redekunst, die Kierkegaard zwei Jahre zuvor fordert, kann aber durchaus als eine Rhetorik interpretiert werden, die beides umfaßt: sokratische Provokation mit dem Ziel der kenosis ebenso wie Erbauung und Ermunterung dazu, die Zumutungen des Glaubens auszuhalten. Als „neue Wissenschaft“ ist die christliche Redekunst laut Kierkegaard „ad modum der Aristotelischen Rhetorik zu konstruieren“905 , was bedeutet, sie solle sich dem Unwahrscheinlichen widmen. Aristoteles, so Kierkegaard weiter, habe die Rhetorik eingesetzt, um Glauben im Verhältnis zur Wahrscheinlichkeit zu wecken. Dagegen gelte es nun das Gegenteil: Die christliche Beredsamkeit [christelige Veltalenhed] würde darin von der Griechischen verschieden sein, dass sie es ausschließlich mit Unwahrscheinlichkeit [Usandsynlighed] zu tun hat, damit zu zeigen, dass es unwahrscheinlich ist, damit man es dann glauben kann. Hier ist die Wahrscheinlichkeit ebenso sehr zu verwerfen wie dort Unwahrscheinlichkeit, aber der Unterschied zum Wissen ist in beiden derselbe.906
904 SKS 20, 211, NB2:176 / DSKE 4, 239. 905 SKS 18, 236, JJ:305 / DSKE 2, 244. 906 SKS 18, 236, JJ:305 / DSKE 2, 244f.; vgl. Hagemann, Reden und Existieren, a. a. O., S. 80.
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Christliche Beredsamkeit fördert also den Prozeß, der in der Rede über den rechten Beter zur Erbauung dargestellt und in den nicht-erbaulichen Schriften auf sokratische Praxis provoziert wurde. Es gilt, sich von Wahrscheinlichkeitsdenken, tradierten Klugheitsregeln und überliefertem Wissen loszusagen.907 Für die religiöse Selbstwerdung stellt derartiges Wissen falschen Ballast dar, es lenkt von dem ‚Unwahrscheinlichen‘ innerhalb des Glaubens ab: von der Menschwerdung Gottes, der gnadenhaften Transformation (durch eine Spiegelung Gottes) und von der Erlösung. Die Redekunst, die Kierkegaard daher fordert, ist eine existentielle Rhetorik, welche der Sokratischen Elenktik ähnelt: Sie leistet kenotische Hilfestellung in einer Kultur der hastigen Völlerei. Wenn der Mensch vor lauter Wissensanhäufung vergißt, sein Leben zu führen, dann besteht die Kunst der Kommunikation in der Fähigkeit zu reduzieren: Wenn ein Mann den Mund so voll Essen hat, daß er aus dem Grunde nicht zum Essen kommen kann und es damit enden muß, daß er Hungers stirbt, besteht dann das Ihm-SpeiseMitteilen darin, daß man ihm den Mund noch voller stopft oder nicht vielmehr darin, daß man dafür sorgt, etwas davon zu entfernen, damit er dazu kommen kann zu essen?908
Eine solche Rhetorik basiert nicht auf Wissen und verweist nicht auf allgemeine Klugheitsregeln. Vielmehr stellt sie das Negativ zu den Überzeugungsstrategien der antiken Rhetorik dar. Indem Kierkegaard sich von diesen distanziert, so auch die These von Angelika Jacobs, wendet er sich von dem allgemeinen, anonymen Wahrheitsbeweis des kantischen oder hegelschen Vernunftsubjektes ab.909 Kierkegaards Ziel ist nicht die Persuasion, welche an die universelle Vernunft des Lesers appelliert. Ihm geht es um die Initiierung einer existentiellen Bewegung und das Durchhalten dieser jeweils individuellen Bewegung als lebenslanger Aufgabe. Die existentielle Bewegung basiert auf einem ‚Bewegtsein‘, auf Stimmung. Wenn Kierkegaard den Leser bewegen will, dann wiederholt er implizit einen weniger beachteten Passus aus der Aristotelischen Rhetorik, welcher die Stimmung des Zuhörers thematisiert.910
907 Auch Hagemann stützt seine These einer „antipersuasiven Rhetorik“ Kierkegaards auf dessen Destruktion des Wahrscheinlichkeitsdenkens im Rechten Beter; vgl. Hagemann, Reden und Existieren, a. a. O., S. 77. 908 SKS 7, 249 / AUN1, 271 (Anm.); vgl. Muench, „The Socratic Method of Kierkegaard’s Pseudonym Johannes Climacus“, a. a. O. 909 Vgl. Jacobs, Stimmungskunst von Novalis bis Hofmannsthal, a. a. O., S. 204–224. 910 Vgl. Aristoteles, Rhet. II.1, 1378a1ff. Aus Aristoteles’ zielgerichteter Affektstimulierung wird jedoch, wie Hagemann und Jacobs mit Rekurs auf Otto Friedrich Bollnows Das Wesen der Stimmungen betonen, die Evokation ungerichteter Aufmerksamkeit; vgl. Hagemann, Reden und Existieren, a. a. O., S. 91; Jacobs, Stimmungskunst von Novalis bis Hofmannsthal, a. a. O., S. 210.
4.6 Wiederholungen und christliche Redekunst |
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Eine Stimmung, das haben Vorworte und Die Wiederholung gezeigt, ist Ausdruck eines Flüchtigen, Besonderen – der Existenz. Durch das ‚Sturzbad‘ der Stimmungen sucht Die Wiederholung den Leser existentiell zu bewegen. Die ‚neue Wissenschaft‘ einer christlich-existentiellen Rhetorik könnte man deswegen auch als Pathopoeia bezeichnen, so Jacobs: „Als Movens religiöser Personwerdung stellen Stimmungen das telos der Kierkegaardschen (Anti-)Rhetorik dar.“911 Besonders eine Stimmung scheint hier sehr effektiv zu sein: Die der Langeweile, hat sie doch die Kraft, „einen in Bewegung zu bringen“912 . Was genau dieser Bewegungseffekt beinhaltet, wird von Kierkegaard nicht weiter präzisiert. Zwei Möglichkeiten liegen jedoch nahe: Langeweile kann zum einen provozieren, in Irritation und Unruhe münden. Zum anderen, daran anschließend, kann sie aber auch der Einübung einer Haltung dienen, die vorerst nicht mit Bewegung assoziiert wird – der Geduld. Viele der Texte Kierkegaards, so pikant, unterhaltsam und kurzweilig sie sich auch darstellen, halten den Übergang zur Langeweile offen. Wiederholungen als Repetition von Gedanken, Beschreibungen und Metaphern tragen dazu wesentlich bei. Die Vorwort-Reihe arbeitet mit einer gespannten Erwartung, die immer wieder enttäuscht wird; der Leser hofft bei jedem Ende eines Vorwortes, daß das nächste Vorwort dem Ganzen endlich einen Sinn verleihen möge. Ähnliches gilt für den Text der Wiederholung, der aus inhaltlichen wie gestalterischen Gründen „zum Bummler“ wird, wie Sabel Bucher angemerkt hat.913 Auch die Polemik in der Nachschrift ist teilweise redundant, vor allem das Paragraphengeflecht vermag frustrierte Langeweile zu erzeugen (sofern es den Leser nicht zu analytischem Ehrgeiz anstachelt). Sogar die Rede über den Beter birgt das Potential zur Langeweile, kreist sie doch wiederholt um das Paradox des Sieges durch totalen Verlust, welches durch eine Reihe von Metaphern und Vergleichen wieder und wieder aus einer anderen Perspektive betrachtet wird. Adorno hat den Stil von Kierkegaards Erbauungsschriften generell als den der Langeweile bezeichnet; sie „affektieren eine predigende Einfachheit, die unablässig in geschwätzige Langeweile umzuschlagen droht“914 . Auch wenn Adorno diese Langeweile mit „Redseligkeit“ verbindet, welche er als „Gefahr von Kierkegaards Produktion insgesamt“ verstanden wissen möchte, erkennt er doch deren strategische Funktion in Kierkegaards Projekt an, das Christentum wieder zum
911 Jacobs, Stimmungskunst von Novalis bis Hofmannsthal, a. a. O., S. 223. 912 Kierkegaard, „Die Wechselwirtschaft. Versuch einer sozialen Klugheitslehre“, in SKS 2, 275 / EO1, 304. 913 Sabel Bucher, „Poetik der Wiederholung“, a. a. O., S. 51. 914 Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, a. a. O., S. 218; vgl. Hagemann, Reden und Existieren, a. a. O., S. 102.
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Ärgernis zu machen.915 Christsein bedeutet für Kierkegaard aber nicht nur Anstoß zu nehmen, sondern auch, das Ärgerliche zu akzeptieren. Hierfür ist Geduld entscheidend, und diese wird in den erbaulichen Schriften nicht nur explizit behandelt, sondern auch eingeübt: Die Texte sind insofern performativ, als sie durch ihre Gestaltung eine Geduldsübung für den Leser bieten.916 Seine Seele erwerben in Geduld und Seine Seele bewahren in Geduld lauten die Titel zweier Reden von 1844. Michael O. Bjergsø weist in seiner Untersuchung dieser Reden auf die zentrale Bedeutung der Geduld für Kierkegaards Konzeption des Selbst hin. Als Aufgabe der Synthesenbildung von Ewigem und Zeitlichem führe sie dazu, inmitten der Anforderungen der Endlichkeit nicht den göttlichen Grund zu vergessen. Bjergsø betont, laut Kierkegaard sei die geduldige Erwartung das, „was hinzukommen muss, damit der Mensch die Bedrohung durch die Zeit überwinden kann und im positiven Sinne gebildet wird“917 . Der rechte Beter wäre demnach vorbildlich für die Selbstwerdung eines jeden, der die ‚Verzweiflung der Endlichkeit‘ überwinden möchte. Es gelte anzuerkennen, so Bjergsø, daß das eigene Leben nicht vollkommen kontrollier- und gestaltbar sei – diese ‚Einbildung‘ habe der rechte Beter loslassen müssen. Das dürfe jedoch nicht in Resignation (laut Kierkegaard eine weitere Verzweiflungsform) münden. Hier komme nun die Geduld ins Spiel als das Vertrauen auf die Gnade Gottes, die hilft, ein religiöses Selbst zu werden. Bjergsø bezeichnet daher die Geduld auch als Analogon zur ewigen Seligkeit.918 Auf diese Weise bleibe der Mensch in existentieller Bewegung, sei die Geduld doch imstande, „den Menschen in Fahrt zu halten, ohne dass er sich selbst über-
915 Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, a. a. O., S. 218, S. 219. 916 Dies kann auch dadurch geschehen, daß sie den Leser mit seiner Ungeduld konfrontieren, welche nach einem anderen Text verlangt; vgl. David D. Possen, „Can Patience Be Taught?“, in Eighteen Upbuilding Discourses, hg. von Robert L. Perkins, Macon, Georgia: Mercer University Press 2003 (International Kierkegaard Commentary, Bd. 5), S. 239–263, S. 244, S. 246. 917 Bjergsø, Kierkegaards deiktische Theologie, a. a. O., S. 49. Siehe auch Bjergsøs gesamte Ausführung zur Geduld: ebd., S. 46–53. 918 Ebd., S. 48. Mit der Selbstwerdung als kontinuierlicher Bewegung im Sinne eines „Unterwegsbleibens“ setzt sich auch Dorothea Glöckner auseinander. Die Anerkennung der „heilvollen Unruhe“ als zentrales Element der Selbstwerdung geht auf Knud Ejler Løgstrup und Liselotte Richter zurück; Dorothea Glöckner, Kierkegaards Begriff der Wiederholung. Eine Studie zu seinem Freiheitsverständnis, Berlin und New York: De Gruyter 1998, S. 165; Knud Ejler Løgstrup, Kierkegaards und Heideggers Existenzanalyse und ihr Verhältnis zur Verkündigung, Berlin: Bläschker 1950, S. 34; Liselotte Richter, Der Begriff der Subjektivität bei Kierkegaard. Ein Beitrag zur christlichen Existenzdarstellung, Würzburg: Triltsch 1934, S. 32. Zur Unruhe als existentieller Kategorie siehe Gabriel Marcel, Der Mensch als Problem, mit einer Einführung von Max Müller, Frankfurt/Main: Knecht 1956. Marcel betont die Korrelation von Angst und Unruhe, die sich nicht nur bei Kierkegaard, sondern wegbereitend bereits bei Blaise Pascal findet; ebd., S. 126–135.
4.6 Wiederholungen und christliche Redekunst |
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holen kann“919 . In der Geduld, so ließe sich zusammenfassen, ist der Mensch auf angemessene Weise in Bewegung: Er vermag „der Zeit zu folgen, ohne im Vergangenen festzusitzen, ohne in etwas Zukünftigem zu schweben oder gar in Distanz zur Zeit ganz zum Stehen zu kommen. Der Mensch muss der Zeit folgen, nicht mehr und nicht weniger. Sich selbst gegenwärtig zu sein, das ist die Aufgabe“.920 Die von Kierkegaard in den Erbaulichen Reden konzipierte und performativ veranschaulichte Geduld stellt seine Antwort auf das Phänomen der Entfremdung dar; Geduld verhindert, daß der Mensch in der Moderne sich selbst „hunderttausend Meilen“ voraus ist.921 Eine Lektüre, die provozierend langwierig ist, übt Geduld ein, denn allein in der Geduld findet sich die Möglichkeit zum Verständnis. Auf diese Weise wird die scharfe Unterscheidung von erbaulichen und deliberativen Schriften wieder eingeebnet. So heißt es im Vorwort zu Der Liebe Tun (Kjerlighedens Gjerninger) von 1847: „Diese christlichen Erwägungen, welche die Frucht vieler Erwägungen sind, wollen langsam verstanden werden, aber dann auch leicht, während sie freilich sehr schwierig werden dürfen, wenn sie jemand sich durch flüchtiges und neugieriges Lesen sehr schwierig macht.“922 Geduldiges, langsames Lesen stellt in einer Kultur der Quantifizierung des Wissens und der flüchtigen Auseinandersetzung mit diesem eine Ausnahme dar; es ist verlernt worden. Geduld ist daher ebenso eine Herausforderung für den Lesenden wie für den Verfasser des Textes, denn es gilt nicht nur, zu verstehen, was Geduld ist, sondern sie zu praktizieren. Auf beiden Seiten der Mitteilung geht es um die Performanz der Geduld: Wer spräche von ihr auf die rechte Art, so daß er sich nicht übereilt in der Ungeduld des Ausdrucks und im Hasten der Redewendung? Wer hörte die Rede über sie auf die rechte Art, auf daß er nicht die Rede verstünde und nun ungeduldig eine neue Rede forderte, und dergestalt zwar die Geduld und Rede darüber begriffe, aber nicht begriffe, daß sie dergestalt nicht zu verstehen sei!923
Geduld ist daher die zentrale Anforderung an die von Kierkegaard geforderte christlich-existentielle Redekunst. Nur so kann in einer Kultur des voreiligen Abschlusses und der Entfremdung eine Selbstwerdung initiiert werden, wie sie im Rechten Beter und in der Krankheit zum Tode dargestellt ist. Geduld ist hierbei eng mit Langeweile verbunden. Hagemann bezeichnet letztere als „Korrekturinstanz“: „Langmut ist das Ziel, die Langsamkeit das Mittel ihrer Einübung, die
919 Bjergsø, Kierkegaards deiktische Theologie, a. a. O., S. 119. 920 Ebd. 921 SKS 10, 83 / CR, 78. 922 SKS 9, 11 / LT, 5. 923 SKS 5, 159 / 4R43, 57.
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Langeweile die Korrekturinstanz, die den Text vor aneignungsunwilliger Lektüre bewahrt.“924 Fassen wir zusammen: Kierkegaards Methode der Wiederholung zielt auf Performanz und auf ‚Ent-Bildung‘ im Dienste der Selbstbildung. Mit gesteigerter Literarität sucht Kierkegaard die sokratische Praxis in der modernen Schriftkultur zu wiederholen. Als ‚Wieder-Holung‘ eines Philosophierens, das auf Nächstenliebe basiert, entwickelt diese Praxis eine christliche Beredsamkeit, welche Stimmungen als existentielle Bewegtheit evozieren will. Diese neue Wissenschaft, die Kierkegaard der Hegelschen Wissenschaftlichkeit der Philosophie entgegenstellt, ist eine rhetorische ‚Anti-Rhetorik‘ gemäß Ziel und Technik: Statt der universellen Vernunft kürt sie individuelle Stimmungen und Haltungen zu ihrem Zentrum; dem Ideal der Kürze stellt sie die Langwierigkeit entgegen. „Der Ciceronianischen brevitas“, darin ist Hagemann unbedingt zuzustimmen, sei daher „die Kierkegaardsche longinquitas an die Seite gestellt“925 . Diese longinquitas ist jedoch nicht nur das rhetorische Ideal der Erbauungsschriften Kierkegaards. Auch in den nicht als erbaulich gekennzeichneten Schriften wie der Vorwortsammlung, der Wiederholung oder der Nachschrift wird mit Langwierigkeit gearbeitet. Die vielfältige Methode der Wiederholung, die anhand dieser Texte dargestellt wurde, ist das vorzügliche Mittel der longinquitas – ob als Repetition von Gedanken, Formulierungen und Textabschnitten oder als Zurücknahme der Mitteilung. Auch die ‚WiederHolung‘ der philosophischen Tradition, sei es der sokratischen Praxis, des Reflexionsbegriffes oder der mystischen Metaphorik, ist hierauf bezogen: Alle untersuchten Wiederholungen zielen auf die Darstellung, Erfahrung und Einübung eines Bewegtseins in Geduld. Christliche Beredsamkeit ist der Puls des Gesamtwerkes. In ihr führen die vielen Bahnen der Kierkegaardschen Philosophie nach der Philosophie wieder zusammen.
924 Hagemann, Reden und Existieren, a. a. O., S. 106. 925 Ebd.
5 Am Ende: auch eine Philosophie der Tat Existentielle Amnesie – so lautet die Diagnose Kierkegaards schonungsloser Untersuchung seines Jahrhunderts. Ihr zufolge sind Öffentlichkeit, Philosophie und Alltagskultur eine unheilvolle Allianz eingegangen. Diese fördert Voreiligkeit, Oberflächlichkeit und Selbstvergessenheit. Der popularisierte Hegelianismus kehrt die Entfremdung (bei Kierkegaard wie bei Hegel Antriebsmoment und notwendige Bedingung von Entwicklung) in absolute Entfremdung, in existentielle Starre. Kierkegaard sucht mit seinen Schriften diese Starre aufzubrechen. Er begreift die vermeintliche Misere im Rahmen einer dialektischen Kulturkritik und pocht auf die Möglichkeit der Selbstwerdung gerade in totaler Verzweiflung. Den verzweifelten Zustand seiner Zeitgenossen beschreibt Kierkegaard mit theologischem Bilderarsenal: Die Kultur ist dominiert von den Kardinalsünden gula, invidia und superbia. Auch die Semantik des Reflexionsbegriffes spielt eine tragende Rolle bei der Analyse der unbewußt verzweifelten Kristenhed: Anstatt die Aufgabe einer selbstverantwortlichen Existenz anzunehmen, die es ausschließlich ‚vor Gott‘ zu rechtfertigen gilt, orientiert der moderne Mensch sich an dem ‚Publikum‘. Er spiegelt das Verhalten anderer und interpretiert Christsein als gebildeten Umgang mit der tradierten christlichen Kultur, d.h. er läßt sich nicht von dem Paradox der Inkarnation herausfordern. Derartige Ärgernisse werden mit Hilfe der spekulativen Theologie und der Philosophie vielmehr ‚wegreflektiert‘ und ‚aufgehoben‘. Gegenüber einer solchen Kultur wiederholt Kierkegaard das Glaubenskonzept Meister Eckharts: In der Rede über den Beter wird Reflexion remetaphorisiert; sie ist eine Spiegelung Gottes. Dafür ist kenosis nötig, eine mystische ‚Entleerung‘ von gesellschaftlichen Verhaltensnormen und praktischer Klugheit. Daß Kierkegaard kenosis anzuregen wünscht, zeigt sich auch in der Metaphorik, mit welcher er sein Vorbild Sokrates beschreibt: Sokrates’ Tätigkeit ähnelt nicht nur der einer Viehbremse, sondern auch der eines Vampirs und einer Vakuumpumpe. Das eingangs beschriebene Gleichnis von der laternenbeleuchteten Kutschfahrt – der von Blumenberg pointiert zusammengefaßten Selbstverdunkelung durch Eigenlicht – wendet sich gegen die Verabsolutierung der Verständigkeit. Kierkegaard kritisiert diese als Reflexion im Sinne eines Nutzen-Kosten-Kalküls. Letztere konstituiert nicht nur das bürgerliche Geschäftsleben, sondern auch das akademische Geschehen. Hier wie dort kommt es auf Reputation und Gewinn an, nicht auf existentielle Wahrheitssuche und aufrichtige Selbstwerdung. Die Universität stellt für Kierkegaard keinen Elfenbeinturm dar; vielmehr zieht er die Philosophie und spekulative Theologie seiner Zeit zur Verantwortung für die von ihm diagnostizierte generelle existentielle Amnesie. Seine Ausführungen zur
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Kultur- und Philosophiekritik verlaufen daher nicht nur parallel, sie greifen auch ineinander: Durch die Popularisierung des Hegelianismus und die Zelebration eines Weltgeistes, der vermeintlich zur Vollendung gekommen sei, förderten die Professoren ‚welthistorisches Gebrüll‘ und Selbstvergessenheit. Kierkegaards Philosophiekritik stellt keine immanente Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie dar. Sie reagiert jedoch auf die Geste der Vollendung, mit der Hegel diese präsentiert hat und welche von einer hegelianisierenden Kultur reproduziert wird. Wie die Junghegelianer operiert Kierkegaard unter dem Vorzeichen der Posteriorität, und auch seine Schriften lassen sich als Entwürfe einer Philosophie nach der Philosophie lesen: Sie beschäftigen sich mit Hegels Anspruch, die Philosophie abgeschlossen und das Ganze des Daseins systematisch und vollständig erfaßt zu haben. Sie pflichten ihm in gewisser Hinsicht bei, wenn sie das Ende der herkömmlichen Metaphysik betonen, jedoch verweisen sie auf den psychologischen, politischen und sozialen status quo, der ihnen zufolge alles andere als eine Versöhnung oder Aufhebung der Entfremdung darstellt. Sie wenden sich den kontingenten Phänomenen der Kultur zu, fordern ein anderes Menschenbild und inszenieren sich in Abgrenzung von der ‚Universitäts-Philosophie‘. Es ist jedoch Vorsicht geboten. Nicht nur wäre es eine Simplifizierung, die Schriften Marx’, Engels’, Feuerbachs, Bauers, Hess’ und Cieszkowskis als einheitliche Philosophie nach der Philosophie darzustellen, auch Kierkegaards Werk läßt sich dem junghegelianischen Unternehmen nur unter Vorbehalt zuordnen. Dies soll abschließend anhand der Ersetzung der Eule, des traditionellen Symbols der Philosophie, gezeigt werden. Hegel illustriert mit der Eule den retrospektiven Charakter seines Denkens. Die Eule der Minerva, so lautet ein vielzitierter Satz aus den Grundlinien zur Philosophie des Rechts, „beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“926 . Die Philosophie widmet sich Hegel zufolge ausschließlich vergangenen Lebensformen. Dies veranschaulicht er mit einem weiteren Bild, dem eines Gemäldes in Grautönen: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen.“927 Die Junghegelianer haben jedoch genau danach gestrebt: nach ‚Verjüngung‘ des Lebens und nach aktiver Gestaltung der Gesellschaft. Der kontemplativen Betrachtung des gegenwärtigen Geschehens und der ex post Auseinandersetzung mit diesem setzen sie die Philosophie der Tat entgegen – eine Philosophie, die Einfluß zu nehmen sucht auf die Zukunft. Zu ihrem Motto wird Cieszkowskis Forderung: „Fort mit den Eulen!“928
926 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a. a. O., S. 28. 927 Ebd. 928 So Cieszkowski, Gott und Palingenesie, a. a. O., S. 21.
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Der nachtaktive Vogel, der im Volksglauben den Ruf trägt, den Tod zu bringen,929 läßt sich schwer als Repräsentant einer vorwärtsgewandten Philosophie inszenieren. Ex negativo bleibt die Eule jedoch bedeutsam, denn in Abgrenzung von ihr konturieren die Junghegelianer ihre posthegelianische Philosophie. Ein regelrechter Metaphern-Schwarm von tagaktiven Vögeln unterstreicht den prophetischen, lebensbejahenden und tatkräftigen Charakter der neuen Philosophie. Adler, Hähne und Singvögel werden dezidiert gegen die Eule in Stellung gebracht. Marx schließt seine Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie bekanntlich mit der Hoffnung auf eine Emanzipation des Menschen, die nur dann geschehen werde, wenn die Philosophie sich in der Aufhebung des Proletariats verwirkliche. Dieser „Auferstehungstag“ werde durch das „Schmettern des gallischen Hahns“ verkündet.930 Selbst weniger radikale posthegelianische Denker stimmen einer Modifikation der Eulen-Metaphorik zu. So betont Carl Ludwig Michelet, Mitglied des ‚Vereins von Freunden des Verewigten‘, in seiner Geschichte der letzten Systeme, daß die Eule der Minerva „dem Hahnenschlage eines neu aufbrechenden Tages“ weichen müsse.931 Sogar der konservative Hegel-Epigone Hermann F. W. Hinrichs will die Philosophie als „Lerche des Himmels“ verstanden wissen, „welche in der Dämmerung von der Erde aufsteigend, der aufgehenden Sonne entgegensingt“, oder als „Adler, der zur Mittagsonne immer höher und höher sich aufschwingend, zuletzt im Licht sich verliert“932 . Damit entspricht Hinrichs der moderaten Vorstellung einer posthegelianischen Philosophie, wie sie Cieszkowski fordert: Nicht jeder posthegelianische Denker vermag der Aufgabe gerecht zu werden, Zukunftsvisionen zu entwerfen und Veränderung zu propagieren, aber er kann zumindest für eine zuversichtliche Haltung gegenüber dem Kommenden sorgen – „da es aber nicht jedem vergönnt ist, ein Adler zu sein, so soll er wenigstens den schlichten Vögeln gleichen, die uns bei Sonnenaufgang mit Gesang ermuntern und beleben.“933 Kierkegaards Schriften sind nun alles andere als liebliches Gezwitscher. Aber auch für sie ist die Abgrenzung von der Eulen-Metapher konstitutiv, und auch sie
929 Vgl. Wolfgang Fritz Haug, „Eule der Minerva“, in Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 1–15, hg. von dems., Berlin: Argument 1994–laufend, Bd. 3, S. 971–979. 930 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, a. a. O., S. 391. 931 Carl Ludwig Michelet, Die Geschichte der letzten Systeme in Deutschland von Kant bis Hegel. Zweiter Theil, Berlin: Duncker und Humblot 1838, S. 623; vgl. Carl Ludwig Michelet, Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, Nr. 88, Mai 1831, S. 697. 932 Vgl. Hermann F. W. Hinrichs, Hinrichs’ Ferienschriften – Pfingsten 1844: die preussische Petitionsfrage nach provinzialständischem und constitutionellem Gesichtspunkte, Halle: A. Schwetschke & Sohn 1844, S. 9f.; vgl. Stuke, Philosophie der Tat, a. a. O., S. 64. 933 Cieszkowski, Gott und Palingenesie, a. a. O., S. 21.
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warten mit einer Vielzahl tagaktiver Vögel auf. Kierkegaard stellt fest, daß das akademische Geschehen überhaupt nicht mehr von der Weisheit der Eule geprägt sei. Seiner Meinung nach ist die Eule schon längst verdrängt worden – und zwar von Papageien, die alles nachplappern, ihr buntes Gefieder effektvoll spreizen und auch außerhalb der Universität eine Kultur des existentiellen Papageientums etabliert haben. Um sich in dieser Situation sowohl von dem Hegelschen Verständnis einer retrospektiven Philosophie (der ‚Eule‘) als auch von den öffentlichkeitswirksamen dänischen Hegelianern (den ‚Papageien‘) abzugrenzen, greift Kierkegaard auf einen unscheinbaren Vogel zurück, den Brachvogel. Was hat es mit diesem auf sich? Der Numenius arquata, dänisch Regnspaaer (wörtlich Regenspäher), ist ein langschnäbeliger Einzelgänger, dem nachgesagt wird, meteorologische Katastrophen anzukündigen. Und genau hiermit identifiziert sich Kierkegaard: „Es gibt einen Vogel, den man Regenspäher [Regnspaaer] nennt, und so bin ich; wenn in der Generation sich ein Unwetter zusammenzuziehen beginnt, dann erscheint die Art von Individualitäten, wie ich es bin.“934 Wie die Vogelmetaphern seiner deutschen Zeitgenossen trägt Kierkegaards Regnspaaer Konnotationen der Veränderung. Während die Junghegelianer jedoch mit einem positiven telos operieren – der Hahn begrüßt die aufgehende Sonne, der Adler fliegt ihr entgegen –, weist Kierkegaard beharrlich auf den Mißstand, der sich nicht weltgeschichtlich lösen, sondern dramatisch zuspitzen wird: Wenn sich seine Zeitgenossen nicht auf die universelle Aufgabe einer individuellen Selbstwerdung besinnen, droht die existentielle Amnesie zum unaufhebbaren Selbstverlust, zu absoluter Entfremdung zu werden. Zwar handelt es sich um eine allgemeinmenschliche Anforderung, trotzdem muß jeder einzelne für sich die Entfremdung aufheben, indem er in ein reflexives Selbstverhältnis tritt. ‚Geist‘ ist Kierkegaard zufolge nur als individuelle Geistwerdung relevant, und das bedeutet: Es gibt keinen allgemeingültigen, vom Gang der Weltgeschichte notwendig evozierten Ausweg aus der Misere, welchen die Menschen im Schulterschluß (ob als ‚Gattung‘ oder ‚Proletariat‘) beschreiten könnten. Auch Kierkegaard fordert eine Verwirklichung seiner Philosophie, allerdings nicht im Sinne einer politischen Direktive. Er vermag keine Richtung vorzugeben, und Zuversicht bei seinen Zeitgenossen zu verbreiten wäre aus seiner Perspektive verhängnisvoll. Es gilt vielmehr, das 19. Jahrhundert aus seinem ‚weltgeschichtlichen Taumel‘, d.h. aus seinem rauschhaften Selbstverlust angesichts der vermeintlichen Vollendung der Geistesgeschichte zu erwecken. Die von Kierke-
934 SKS 18, 271, JJ:391 / DSKE 2, 281; Übers. geringfügig modifiziert (statt „Regenvogel“ ist in diesem Kontext „Regenspäher“ angemessener). Vgl. Simon D. Podmore, Kierkegaard and the Self Before God: Anatomy of the Abyss, Bloomington: Indiana University Press 2011, S. 106f.
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gaard gewählten Vögel verbildlichen nicht nur sein Selbstverständnis als Autor, sie demonstrieren auch die Offenheit der geforderten Veränderung: Anstatt majestätischer Wappentiere mit lang tradierter und konventionalisierter Semantik verwendet Kierkegaard Verweise auf unprätentiöse Vögel. Dem Hahn setzt er den Brachvogel entgegen, dem Adler die Wildgans. Das tertium comparationis gilt es erst herzustellen, und manchmal ist es sogar kontraintuitiv, wie die Analogie zur Wildgans (Vildgaas) zeigt: Während realiter die Wildgans zahm wird, wenn sie unter domestizierten Artgenossen weilt, erhofft sich in Umkehrung dieses Bildes die ‚Wildgans‘ Kierkegaard inmitten des Kultur-Christentums seine bürgerlich saturierten, selbstvergessenen Zeitgenossen an die Aufgabe der Selbstwerdung erinnern zu können.935 Da es kein feststehendes Entwicklungsziel gibt, vermag Kierkegaard keine konkreten Handlungsanweisungen zu geben. Es geht ihm einzig um eine Aktivierung des einzelnen Lesers. Dazu ist Provokation und Irritation nötig. Dies zeigt sich nicht nur in Kierkegaards Wiederholung der sokratischen ViehbremsenMetaphorik, sondern auch anhand der Verwendung einer weiteren Vogelmetapher. In der Streitschrift gegen seinen Zeitgenossen Adolph Peter Adler vertieft Kierkegaard die Analogie des Gegensatzes wild (respektive authentisch) und zahm (respektive entfremdet). Die indirekte Mitteilung sei ein Mittel, unbemerkt in das Leben des Lesers vorzudringen. Sie läßt sich, so können wir ergänzen, als Wildgans verstehen, welche sich vorerst an die zahme Schar anpaßt. Ihr psychologischer Effekt ist dadurch um so stärker. Die Geschichte von Quidam aus Schuldig? – Nicht schuldig?, so Kierkegaard im Buch über Adler weiterhin, habe er so dargestellt, als wäre sie im unmittelbaren Umfeld des Lesers geschehen: Insofern ist die Darstellung der Wirklichkeit so nahe gerückt wie möglich; der in Verzweiflung religiös Kämpfende schwebt sozusagen der Mitwelt gerade über dem Haupt. Sollte das Experiment Eindruck gemacht haben, so müßte es sein wie beim Flügelschlag des wilden Vogels [den vilde Fugls Vingeslag], welcher die zahmen Vögel der gleichen Art, wenn sie, die geruhsam in der verläßlichen Wirklichkeit leben, ihn über dem Haupte hören, dazu bringt, daß sie unwillkürlich mit den Flügeln schlagen, weil jeder Flügelschlag zugleich beängstigend ist und doch auch etwas Verlockendes hat.936
Beunruhigen und Aufscheuchen, in Stimmungen und existentielle Bewegung versetzen – das ist das selbsterklärte Ziel der Schriften Kierkegaards. Auch wenn er keine politische Vision verkündet und keine konkreten Handlungsvorgaben formuliert, läßt sich sein Entwurf einer posthegelianischen Philosophie als eine Philosophie der Tat verstehen: Schriftsteller zu sein, so Kierkegaard, heißt
935 Vgl. SKS 25, 401–403, NB30:24 / T 5, 212f. 936 SKS 15, 101f. / BÜA, 16f.
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handeln.937 Wie seinem Vorbild Sokrates geht es ihm nicht um die schriftliche Fixierung einer objektiven Wahrheit, nicht um die Vollendung eines allumfassenden Systems. Es geht ihm nicht um Theorie, sondern um Praxis, um die Tätigkeit des Philosophierens. Kierkegaards Schriften sind daher performativ in zweifachem Sinne: Sie aktivieren den Leser und suchen ihn zur Selbstwerdung anzuregen, nämlich zu dem Cursus, den jeder einzeln durchlaufen muß, „um sich selber einzuholen“938 . Die sokratische Maieutik läßt sich in der Moderne jedoch nicht einfach reduplizieren. Im 19. Jahrhundert ist die direkte mündliche Interaktion mit jeweils einem Gesprächspartner keine wirkliche Option mehr, um kulturverändernd zu wirken. Kierkegaards Rückgriff auf Sokrates entspricht aber sowohl der Postrestitutivität seiner Kulturkritik als auch seiner Konzeption einer ‚Wiederholung‘ als kreativer Adaption an die jeweilige historische Situation: Er wiederholt dezidiert mit Hilfe der modernen Schriftkultur die Sokratische Praxis. Hermeneutische Schwierigkeiten während der Lektüre seiner Schriften inklusive Langeweile sollen den Leser irritieren und auf sich selbst zurückwerfen. Idealiter machen sie ihn so auf seine Individualität und Aktivität aufmerksam, welche sich nicht nur auf den Verstehensprozeß beläuft. Performanz zeigt sich daher in einem weiteren Sinn: Die Texte demonstrieren das, was sie sagen – sie wiederholen ihre Aussagen in ihrem Stil. Auch auf dieser Ebene greifen daher Wort und Tat ineinander. Indem Kierkegaard auf die Existenz als immer wieder neu zu leistende individuelle Aufgabe hinweist und allein letztere als Allgemeines im Sinne eines ‚Allgemein-Menschlichen‘ anerkennt, mobilisiert er die traditionelle Vorstellung von Philosophie. Auch indem er den kulturellen, d.h. kontingenten Bedingungen der Existenz nachspürt, sprengt er die Grenzen des Zuständigkeitsbereiches einer Philosophie, wie sie Hegel vertreten hat. Kierkegaard läßt sich daher mit Deleuze als Revolutionär im Wortsinne verstehen, wollte er doch „die Metaphysik in Bewegung, in Gang setzen“ und „zur Tat, zu unmittelbaren Taten antreiben“939 .
937 So heißt es 1846 in einem Journaleintrag: „daß es ein Handeln [Handling] ist, Schriftsteller [Forfatter] zu sein, scheint völlig vergessen“ (SKS 20, 34, NB:31 / T 2, 60). Vgl. auch Kierkegaards Bedauern in den Schriften über sich selbst: „Man hat in diesem Zeiten. . . die Vorstellung davon verloren, daß Schriftsteller sein ist und sein soll ein Handeln und darum ein persönliches Existieren“ (SKS 16, 38 / GWS, 51). Das Handeln beinhaltet jedoch nicht nur den verantwortlichen Umgang mit dem eigenen Selbst und die Verwirklichung des Denkens in der eigenen Lebensgestaltung, sondern auch das Verhältnis zu den Mitmenschen, wie Kierkegaards Konzeption der indirekten Mitteilung zeigt. 938 SKS 4, 140 / FZ, 47. 939 Deleuze, Differenz und Wiederholung, a. a. O., S. 24.
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Kierkegaards Denken unterscheidet sich in vielem von dem Projekt der Junghegelianer, das zeigt sich prägnant an der Ersetzung der Eulen-Metapher. Zwar entwerfen auch die Schriften Kierkegaards eine Philosophie nach der Philosophie, diese ist jedoch in ihrer Eigenständigkeit anzuerkennen. Ihr besonderes Kennzeichen ist die Wiederholung, welche als Methode das Gesamtwerk durchzieht und erlaubt, die divergenten Schriften zu einer ‚pan-Kierkegaardianischen‘ Einheit zusammenzufügen. Letztlich bleiben jedoch Etikettierungen wie Philosophie nach der Philosophie und Wiederholung der Philosophie ebenso wie Philosophie der Tat und performative Philosophie Problembeschreibungen. Als tentative Zuordnungen beleuchten sie mehrere Aspekte von Kierkegaards Werk und akzentuieren dessen Heterogenität. Die Schriften Kierkegaards bleiben ambivalent und dadurch offen für die unterschiedlichsten Interpretationen; sie können anachronistisch anmuten und gleichzeitig modernes „Denken in Bewegung“940 darstellen. Sie lassen sich ebenso als religiöse Schriftstellerei wie als „Hyperphilosophie“ und kantische „Kritik der Existenz“ deuten, als Persiflage des Hegelianismus ebenso wie als Auslotung der Möglichkeiten, über Existenz zu sprechen.941 Fest steht am Ende nur eines: Sokrates hat Kierkegaard nicht nur in Hinblick auf das 19. Jahrhundert als Vorbild gedient. Zu jeder Zeit ist der Leser mit Kierkegaards sokratischer Ironie konfrontiert, und diese betrifft als kenotische Hilfestellung grundsätzlich alles, was dem Menschen wichtig sein könnte. Dazu gehört nicht nur das von Climacus nonchalant zusammengestellte Sammelsurium aus „dem Hebräischen, der Bildhauerkunst, dem Ballett und der welthistorischen Beglückung“942 , sondern auch wissenschaftliche Hypothesenbildung. Dem Streben nach abschließender Eindeutigkeit begegnet Kierkegaard als ernsthaft besorgter Spøgefugl, als „Spaßvogel“943 . Immer wieder durchkreuzen die Texte die erbrachten hermeneutischen Ergebnisse. Daher bleibt letztlich nur, noch einmal zu lesen – anders.
940 Konersmann, „Kulturphilosophie“, a. a. O., S. 22. Kierkegaards kulturkritisch motiviertes Philosophieren läßt sich als implizite Kulturphilosophie lesen, denn „während die klassische Metaphysik als Beobachterin einer stehenden Ewigkeit auftrat, deren Unangreifbarkeit sie auf ihre Aussagen übertrug und für ein Wissen in Anspruch nahm, das sie als Prinzipienwissen präsentierte, verwirklicht sich die Kulturphilosophie als ein Denken in Bewegung: als ‚Philosophie nach der Philosophie‘“; ebd. 941 Ricœur, „Doing Philosophy after Kierkegaard“, a. a. O., S. 332f. 942 SKS 7, 88 / AUN1, 81. 943 SKS 7, 88 / AUN1, 81.
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KT
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Namensregister Adorno, Theodor W. 8, 105, 249, 250 Agacinski, Sylviane 172, 173 Alwast, Jendris 232 Anders, Günther 89 Asmuth, Christoph 160, 217 Austin, John L. 159 Bauer, Bruno 25, 238 Becker-Lindenthal, Hjördis 35, 78, 91, 104, 197, 218 Benjamin, Walter 189 Bertung, Birgit 170 Bjergsø, Michael O. 230, 250, 251 Blumenberg, Hans 2, 13, 155 Böhme, Gernot 64, 65, 196, 198, 199, 204 Bollenbeck, Georg 35, 36, 46 Bolz, Norbert 56, 98 Bon, Gustave Le 97 Bowman, Brady 156, 160, 161 Breckman, Warren 20 Bredsdorff, Elias 100 Brobjer, Thomas H. 80 Buber, Martin 236 Bukdahl, Jørgen 104 Butler, Erik 211 Canguilhem, Georges 68 Cappelørn, Niels Jørgen 141, 142 Carlsen, Olaf 39 Carlsson, Ulrika 209, 211 Cieszkowski, August von 21, 254, 255 Climacus, Johannes 6, 7, 15, 17, 50–66, 73, 75, 121, 125, 126, 144, 146–148, 158, 159, 162, 167, 168, 174, 183, 202, 205–207, 215–217, 235, 240–242, 259 Constantius, Constantin 14, 48, 178–192, 195 Conway, Daniel W. 115 Crites, Stephen 169, 170 Cruysberghs, Paul 213, 214, 216 Cullen, Bernard 126 Czakó, István 128
Deleuze, Gilles 162, 258 Derrida, Jacques 163 Descartes, René 155 Deuser, Hermann 32, 65, 104, 105, 130, 184 Dietz, Walter 99 Düffel, Gudrun von 217 Eekert, Geert Van 21, 23, 26 Engels, Friedrich 23, 79, 101 Eßbach, Wolfgang 20 Evans, C. Stephen 130 Ferguson, Harvie 178 Feuerbach, Ludwig 9, 22, 26, 27, 33, 124, 125, 150, 238 Fischer-Lichte, Erika 160 Flasch, Kurt 219, 230 Florin, Frits 231, 235 Gabriel, Gottfried 156, 157 Gadamer, Hans-Georg 28 Gamper, Michael 79, 87, 89, 90, 98 Garff, Joakim 108, 140 Genette, Gérard 163, 165, 178 Geyer, Paul 39 Gisis, Lucas Marco 88 Glöckner, Dorothea 250 González, Darío 120 Gräb-Schmidt, Elisabeth 31, 32, 113, 116, 138 Grøn, Arne 80, 102, 213, 216, 236, 240 Gyllembourg, Thomasine 68 Haas, Alois Maria 219, 229, 230, 234 Habermas, Jürgen 94, 99 Hagemann, Tim 154, 246–249, 252 Hampe, Michael 93 Hannay, Alastair 84 Haug, Wolfgang Fritz 255 Hegel, G.W.F. 19, 21, 22, 24, 26, 27, 29, 50, 75, 76, 79, 86, 92, 99, 130, 151, 161, 164, 170, 172, 174, 177, 199, 217, 219, 232, 245, 246, 254
284 | Namensregister
Heiberg, Johan Ludvig 12, 46, 91–97, 99, 108, 113, 132, 137, 165, 166, 170, 171, 173 Heidegger, Martin 51, 56 Heine, Heinrich 21 Henrich, Dieter 13 Herder, Johan Gottfried 93 Hertz-Eichenrode, Dieter 91, 108 Hess, Moses 22 Hetzel, Andreas 160 Hinrichs, Hermann F. W. 255 Hirsch, Emanuel 68, 69 Hof, Hans 229 Horn, Eva 88 Howland, Jacob 131, 204, 205, 217 Hügli, Anton 18, 102, 103, 111, 120, 126, 215, 236 Hühn, Lore 174 Humboldt, Wilhelm von 76, 79, 202 Hutter, Axel 126 Iser, Wolfgang 192 Jacobs, Angelika 174, 248, 249 Jaeggi, Rahel 38, 48 Jaeschke, Walter 22, 24, 217 Jammer, Max 90 Jung, Theo 46 Kant, Immanuel 99, 150 Kirmmse, Bruce H. 58, 93, 105–108, 116, 130, 197 Kittsteiner, Heinz Dieter 21 Kjældgaard, Lasse Horne 137, 162, 165, 171, 175 Kodalle, Klaus-M. 16, 99, 120 König, Helmut 90, 101 Konersmann, Ralf 13, 19, 20, 28–30, 33, 35–38, 42, 68, 69, 155, 234, 238, 242, 259 Koselleck, Reinhart 76, 90 Kotte, Andreas 160 Krenzlin, Norbert 87, 90 Kreuzer, Johann 233, 235 Kuhne, Frank 217 Largier, Niklaus 230, 238
Lessing, Gotthold Ephraim 136 Lippitt, John 199 Lisi, Leonardo F. 93 Lobsien, Eckhard 188 Löwith, Karl 34, 42, 101, 102, 108 Lorentzen, Jamie 13, 14, 159 Lübbe, Hermann 19 Lühe, Astrid von der 25 Løgstrup, Knud Ejler 250 Møller, Peder Ludvig 7, 12, 100, 132, 140, 175 Mackey, Louis 154 Mainberger, Sabine 244, 245 Makropoulos, Michael 89 Malesic, Jonathan 128, 129 Marcel, Gabriel 250 Marcuse, Herbert 104 Marquard, Odo 4 Marsh, James L. 83 Martensen, Hans Lassen 12, 132, 205, 206, 219, 220, 226, 228–230, 232–234, 236, 237 Marti, Urs 88, 108 Marx, Karl 22, 25, 27, 79, 101, 108, 112, 151, 255 McDonald, William 164, 200 Meister Eckhart 227–229, 231, 234, 235 Menke, Christoph 89, 95, 96 Merlio, Gilbert 35 Mersch, Dieter 160 Meyer-Drawe, Käte 231 Michelet, Carl Ludwig 255 Mieth, Dietmar 232, 233 Mjaaland, Marius Timmann 201 Mojsisch, Burkhard 230 Mommsen, J. 87 Moscovici, Serge 97 Müller, Paul 170 Müller-Wille, Klaus 92, 161, 162 Muench, Paul 196, 198, 202, 248 Nadolny, Sten 145 Nagy, András 93 Nietzsche, Friedrich 38, 80, 81, 95, 108 Nörenberg, Henning 234 Norlan, Fritz 170
Namensregister |
Notabene, Nikolaus 6, 14, 126, 162–175, 177, 243 Nündel, Ernst 229 Nun, Katalin 68, 70 Ortega y Gasset, José 88 Orzessek, Arno 88 Panków, Marcin 217 Pankoke, Eckart 90 Pattison, George 91, 107, 194 Perkins, Robert L. 100, 135, 163 Peterson, Mark C.E. 178 Platon 106, 200 Podmore, Simon D. 256 Poole, Roger 56 Possen, David D. 199, 203, 205–207, 250 Raulet, Gérard 35 Reschke, Renate 81 Richter, Liselotte 250 Ricœur, Paul 259 Ringleben, Joachim 180 Rötscher, H. Theodor 92 Röttgers, Kurt 36, 47 Rosebrock, Cornelia 192, 193 Roselt, Jens 160 Rosenau, Hartmut 125, 129 Rosenkranz, Karl 180 Rousseau, Jean-Jacques 12, 15, 25, 36–40, 42, 46, 80 Ruh, Kurt 218, 219, 230 Sabel Bucher, Barbara 161, 186, 188, 189, 249 Safranski, Rüdiger 142 Šajda, Peter 219, 220, 227, 229, 233, 234, 236 Sandkaulen, Birgit 216, 217 Scheier, Claus-Artur 75, 128, 213, 217 Schildknecht, Christiane 156, 159 Schiller, Friedrich 76 Schivelbusch, Wolfgang 122 Schlegel, Friedrich 242 Schleiermacher, Friedrich 32, 159 Schmidt, Hermann 121 Schmidt, Jochen 125, 158, 183
285
Schneiders, Werner 46 Schönemann, Bernd 90 Scholtens, Wim R. 222 Schopenhauer, Arthur 80, 139, 140, 142, 143 Schrag, Calvin O. 44 Schreiber, Gerhard 127 Schulz, Heiko 119, 140 Schwab, Philipp 143, 157 Schweppenhäuser, Hermann 119 Seneca 37 Sibbern, Frederik Christian 12, 92, 137, 138, 175 Sloterdijk, Peter 88 Smith, Graham M. 104, 105 Soderquist, K. Brian 199, 204, 210 Sokrates 3, 10, 14, 17, 40, 106, 107, 109–111, 117, 127, 143, 153, 166, 169, 185, 196–210, 212, 213, 243, 244, 253, 258, 259 Stäheli, Urs 89, 97 Stamm, Marcello R. 12 Stenlund, Sören 36 Stewart, Jon 91, 92, 119, 120, 165, 166, 205 Stokes, Patrick 141, 144 Stolzenberg, Jürgen 52 Strowick, Elisabeth 178, 184, 187, 189, 195 Stuke, Horst 26–28, 34, 86, 151, 238, 255 Sussman, Henry 29, 167, 175 Søltoft, Pia 97, 236 Taciturnus, Frater 6 Taels, Johan 213 Tarde, Gabriel 97, 98 Tauler, Johannes 226, 228, 233 Theunissen, Michael 51, 52 Thompson, Curtis L. 132 Thulstrup, Marie Mikulová 219 Thulstrup, Niels 69, 70, 119 Tillich, Paul 43, 116 Tocqueville, Alexis de 94 Trendelenburg, Friedrich Adolf 121 Verstrynge, Karel 213 Vico, Giovanni Battista 155 Vinten-Johansen, Peter 94
286 | Namensregister
Vleugels, Wilhelm 97 Vriese, Herbert de 23, 24, 29 Weber, Samuel 161 Werber, Niels 88 Wesche, Tilo 48
Westerkamp, Dirk 25, 31, 128 Westphal, Merold 82, 86, 127, 205 Wieland, Wolfgang 157 Witte, Egbert 231 Zahn, Lothar 213
Sachregister Absurdität 23, 144, 210 Aktivierung 17, 152, 162, 189, 257 Allgemeine, das 47, 48, 101–103, 119, 125, 241, 258 Amnesie 3–5, 16, 43, 44, 66, 105, 112, 122, 123, 132, 133, 137, 148, 151, 212, 253, 256 Anamnesis 10, 203 Andere, der/das 45, 51, 52, 65, 154, 170, 181, 193, 194, 212, 216, 245 Angst 53, 133, 140, 141, 166, 250 Anti-Climacus 7, 15, 50–66, 73, 75, 202 Apathie 68, 77, 103 Armut 2 Aufhebung 4, 19, 20, 22, 28, 32, 76, 87, 105, 106, 108, 119, 128, 129, 131, 137, 151, 170, 181, 205, 218, 246, 254–256 Aufklärung 24, 77, 82, 95, 130 Auflösung 22, 25, 30, 161 Authentizität 6, 8, 36, 38, 45 Autorschaft 6–9, 14, 16, 47, 49, 50, 82, 107, 119, 135, 150, 151, 157, 160, 162, 163, 172, 173, 178, 190, 197, 201, 205, 221, 257
Bürgertum 6, 33, 46, 71, 92, 130, 201, 208, 257 Begriff 3, 14, 27, 31, 35, 47, 52, 76, 80, 86, 87, 89, 99, 102, 117, 125, 126, 155, 158–161, 166, 171, 173, 174, 186, 196, 213, 217, 238, 246 Bewegung 8, 10, 52, 57, 61, 66, 73, 83, 106, 107, 109, 117, 120, 121, 161, 171, 182–185, 187–193, 196, 203, 211, 212, 215, 226, 235, 236, 241, 243, 247–250, 257–259 Bild 3, 67, 79, 80, 85, 130, 139, 193, 208, 210–212, 222, 223, 225, 226, 228, 229, 231–233, 238, 254 Bildung 10, 11, 14, 17, 21, 36, 37, 46, 68, 69, 76, 77, 79–83, 90, 93, 99, 100, 102, 113, 117, 123, 130, 153, 214, 215,
221, 225, 229–231, 235, 238, 239, 244, 252 Christ 50, 52, 53, 60, 114, 115, 127, 131, 167, 198, 200, 204, 207, 209 Christenheit 114, 198 Christentum 2, 3, 32, 33, 103, 110, 114, 116, 128–131, 134, 135, 147–149, 198, 200, 203, 207, 208, 214, 234, 239, 249 Corsaren 6, 7, 12, 100 Dämonische, das 106 Darstellung 29, 70, 83, 92, 112, 149–151, 155, 160, 166, 170, 174, 212, 243, 252, 257 Dialektik 2, 10, 15, 16, 45, 49, 53–56, 65, 67, 75, 84, 85, 105, 106, 109, 113, 121, 127, 174, 175, 182, 194, 237, 239, 245 Egalisierung 104, 115 Eile 150, 170 Einbildung 25, 53, 95, 113, 114, 200, 230, 250 Einzelne, der 4, 41, 81, 85, 86, 88, 92, 101, 107–109, 111–115, 140, 169, 193, 199, 208 Elenktik 16, 209, 248 Ent-Bildung 11, 17, 117, 229–231, 238, 239 Entfremdung 15, 28, 31, 36, 38, 45, 57, 65, 76, 87, 108, 116, 124, 137, 151, 178, 251, 253, 254, 256 Entzweiung 26, 27, 86 Erbauung 50, 66, 245–248, 252 Erlösung 28, 61, 65, 66, 127, 130, 248 Ethik 110, 123, 125, 135, 140, 145, 194 Eule 138, 254–256 Ewigkeit 3, 59, 117, 127, 130, 241, 259 Existential 56 Existenz 3, 4, 22, 31, 33, 40–42, 44, 45, 47, 50–52, 54, 56–61, 63, 65, 73–76, 79, 83, 85, 101, 102, 110, 113, 116, 117, 120, 124–127, 130, 131, 133, 137–139,
288 | Sachregister
144, 145, 147, 149, 151, 154, 158, 171, 176, 180, 181, 184, 189, 193, 200, 202, 203, 208, 210, 212, 217, 224, 235, 237, 239–241, 244, 247, 249, 253, 258, 259 Fortschritt 36, 37, 60, 129, 144, 205, 229 Französische Revolution 77 Freiheit 51, 91, 99, 123, 183, 203, 236 Gärung 25, 34, 77–79 Geduld 6, 17, 68, 146, 148, 153, 233, 239, 249–252 Gegenwart 20, 25, 27, 42, 48, 65, 69–71, 77, 79, 83, 100, 108, 172, 183, 195, 245 Geist 22, 42, 46, 51, 55, 76, 79, 80, 93, 94, 101, 102, 123, 124, 132, 155, 162, 168, 170, 180, 223, 224, 229, 245, 256 Geschichte 5, 19, 22, 26, 28, 30, 35, 36, 64, 86, 89, 116, 125, 155, 168, 181, 195, 212, 213, 219, 238, 255, 257 Gesellschaft 6, 36, 38, 40, 95, 104, 116, 150, 168, 193, 254 Gesetztheit 45, 62, 63, 161, 186, 219 Geworfenheit 51, 65 Glaube 45, 48, 112, 115, 127, 203, 215, 216, 225 Gnade 115, 116, 130, 149, 151, 185, 230, 231, 236, 239, 240, 250 Gott 14, 17, 41, 42, 44, 45, 51–53, 55, 58, 60, 63, 64, 74, 99, 103, 105, 106, 109, 112, 115, 116, 122, 125, 127, 131, 136, 149, 153, 157, 180, 181, 194, 204, 206, 208, 212, 217, 220–229, 231–235, 237–240, 253 Handlung 34, 61, 62, 69, 70, 73, 74, 77, 78, 82, 86, 103, 110, 112, 159, 160, 177, 199, 211, 235, 236, 240, 247, 258 Hast 44, 57, 126, 144, 145 Hebamme 153, 197, 201, 209, 210, 212 Hegelianismus 11, 16, 44, 77, 105, 117, 119–121, 132, 149, 170, 190, 207, 213, 215, 243, 253, 254, 259 Historische Semantik 13 Hochmut 40, 84, 114, 206
Idealismus 119, 219, 220, 230 Illusion 72, 78, 112, 128, 238 Immanenz 127 Individuum 4, 7, 38, 42, 44, 75, 77, 83, 85, 90, 94, 96–99, 101–103, 106, 107, 111–113, 116, 122, 124, 125, 127, 128, 136, 145, 170, 176, 190, 214, 215, 240, 246, 258 Innerlichkeit 25, 46, 72, 77, 85, 114, 115, 127, 131, 159, 192, 204, 207, 235, 240–242 Inszenierung 5, 15, 19, 39, 160 Irdische, das 60, 74, 224 Ironie 14, 48, 136, 157, 158, 167, 169, 175, 176, 196, 199, 203, 204, 210, 221, 259 Irreversibilität 38, 45 Junghegelianer 5, 6, 17, 19, 21, 22, 26, 27, 30, 31, 57, 78, 87, 90, 101, 119, 121, 124, 130, 151, 254–256, 259 Katastrophe 25, 30, 106, 130 Kenosis 194, 228, 235, 240, 244 Kirche 42, 130 Konkretion 52, 54, 61, 73, 75, 89, 96, 102, 125, 145, 147, 190, 191, 193 Kontigenz 89, 167, 184, 202 Krankheit 8, 15, 31, 36, 45, 48–55, 61, 63–67, 71–78, 83–85, 99, 101, 105, 109, 123, 180, 181, 183, 193, 203, 211, 212, 214, 216, 230, 240, 251 Krise 25, 28, 30, 67 Kritik 3, 19, 22, 24, 26, 29, 30, 32, 33, 35, 36, 38–40, 44–49, 55, 57, 64, 67, 69, 70, 75, 78, 81, 83, 91, 92, 95, 96, 99, 100, 104, 107, 112, 114, 118–121, 125, 126, 129, 130, 132–134, 139–144, 147, 149, 150, 152, 165, 166, 171, 174, 175, 183, 185, 201, 202, 213, 216, 217, 219, 220, 234, 236, 255, 259 Kultur 2, 3, 5, 11, 14, 15, 19, 32, 36, 38, 42, 43, 45–48, 65–70, 74, 75, 85, 89, 93, 94, 104, 108, 112, 117, 118, 129, 131, 137, 145, 146, 150, 151, 160, 171, 178, 197, 201, 206, 217, 237, 244, 246, 248, 251, 253, 254, 256, 257
Sachregister |
Kulturkritik 1–3, 11, 13–15, 33–38, 40, 42, 44–46, 48, 49, 51, 57, 63, 68, 86, 87, 108, 116, 144, 201, 213, 253, 258 Langeweile 189, 190, 249, 251, 258 Leidenschaft 41, 63, 70, 77, 79, 83, 90, 97, 113, 127, 128, 204, 207, 214, 240 Lektüre 39, 66, 118, 141, 144, 153, 160, 163, 176, 180, 183, 188–195, 200, 206, 243, 251, 252, 258 Lesen 67, 80, 188, 191–194, 251 Literarisierung 11, 15, 29, 153, 175, 176, 244 Literarizität 13, 20, 29, 33, 155, 160, 175, 201 Literatur 81, 90, 93, 94, 146, 155, 162, 172, 176, 242 Logik 24, 31, 120, 121, 126, 128, 137, 161, 164, 170, 174, 185, 213, 215, 216, 237, 239 Maieutik 10, 13, 16, 107, 196, 201–203, 209, 212, 244, 246, 258 Märtyrer 108, 110, 113, 114, 198 Martyrium 41 Masse 15, 34, 36, 38, 49, 56, 58, 67, 71, 81, 84, 86–99, 101–103, 106–108, 111, 112, 115, 116, 134, 169, 214, 236 Massenmedien 88, 150 Massenpsychologie 90, 96, 97 Menschenmenge 15, 25, 38, 86, 89, 134, 198, 222 Metapher 14, 25, 34, 36, 41, 48, 52, 54, 57, 61, 66, 68, 73, 78, 83, 85, 89, 125, 130, 138–140, 184, 189, 197, 208–210, 218, 221, 225–231, 233, 238, 243, 252, 253, 255, 257, 259 Metaphysik 15, 19, 23–26, 31, 101, 183, 185, 254, 258, 259 Metaphysikkritik 24, 31 Mitteilung, indirekte 146, 176, 200, 209, 257 Moderne 2, 19, 20, 23, 25, 26, 28, 30, 35, 40, 43, 49, 66, 86, 116, 201, 251, 258 Mystik 219, 220, 222, 227–229, 234, 237 Nation 25, 84, 90
289
Natur 2, 21, 37, 40, 99, 140, 164, 231 Neid 68, 83–85, 97, 100 Nivellierung 10, 70, 76, 84–86, 101, 114, 115, 134, 207, 214 Notwendigkeit 22, 27, 51, 55, 57, 58, 64, 67, 72, 73, 85, 100, 107, 113, 114, 123, 133, 164, 166, 172, 183, 223 Objektivität 157, 167 Performanz 4, 11, 13, 17, 33, 67, 117, 152, 153, 158–162, 166, 170, 172, 176, 178, 182, 186–188, 194–196, 208, 212, 243, 250–252, 258, 259 Pflicht 4, 42 Phantasie 55, 56, 64, 74, 78, 84, 119, 124, 190, 191 Philosophiekritik 11, 14, 16, 65, 117, 118, 132, 144, 149, 150, 162, 163, 166, 167, 174, 243, 254 Politik 25, 70, 92, 93, 96, 106, 109 Popularisierung 3, 16, 75, 118, 122, 130, 132, 151, 213, 254 Posteriorität 15, 19, 31, 32, 254 Postrestitutivität 3, 116, 117, 258 Praxis 5, 15, 17, 27, 28, 31, 32, 34, 47, 69, 79, 153, 188, 189, 196, 244, 248, 252, 258 Proletariat 90, 108, 116, 256 Pseudonymität 6, 7, 17, 34, 67, 125, 126, 162, 200 Publikum 10, 16, 26, 36, 38, 42, 49, 68, 84, 86, 87, 90, 91, 93–96, 98–103, 107, 111, 112, 117, 134, 190, 253 Rationalität 2, 3 Reflexion 10, 11, 14, 15, 24, 55, 59, 60, 63, 64, 66–68, 70, 72, 74–80, 82–85, 97, 99, 100, 113–115, 127, 129, 147, 158, 161, 168, 213–217, 221, 230–233, 235, 237–242, 244, 253 Religion 10, 21, 27, 43, 45, 96, 112, 130, 131, 140, 202, 238 Religiosität 3, 7, 8, 42, 44, 46, 86, 105, 112, 115, 116, 127, 159, 194, 219, 231, 236, 238, 257 Repetition 2, 17, 151, 152, 181, 249, 252
290 | Sachregister
Restauration 70 Restitution 2, 36, 38, 54, 116 Revolution 21, 69, 70, 77, 86, 87, 98, 109, 161, 258 Rhetorik 5, 17, 21, 23, 29, 145, 153, 154, 242, 245–249, 252 Romantik 48 Säkularisierung 57 Sünde 55, 63, 130, 206 Schriftsteller 9, 32, 34, 40, 42, 47, 87, 97, 111, 200, 257, 258 Selbstinszenierung 5, 16, 34 Selbstwerdung 4, 10, 15, 16, 45, 50, 52, 55, 57, 60, 61, 64, 66, 67, 73, 75, 76, 78, 81, 85, 98, 102, 113, 114, 116, 117, 124, 133, 137, 153, 157, 170, 176, 178, 183, 184, 203, 204, 207, 210, 212, 214, 230, 240, 241, 248, 250, 251, 253, 256–258 Sorge 50, 66, 89, 133, 147 Spekulation 3, 32, 113, 122–124, 126, 127, 129–133, 135, 137, 144, 145, 148, 149, 169, 196, 204, 205, 210, 217, 220, 229, 237–239 Spiegel 76, 232, 238 spiegeln 6, 68, 210, 239 Sprung 66, 113, 115, 127, 211, 214–216, 235, 239 Stadien 8, 44, 124 Statistik 10, 58 Stil 8, 28, 120, 133, 144, 175, 188, 221, 244, 249, 258 Stimmung 117, 174, 190, 191, 211, 247–249 Stolz 61, 143, 223 Subjektivität 31, 42, 65, 215, 241, 245 Synthese 51, 52, 54, 55, 71, 129, 181 System 19, 22, 30, 44, 82, 101, 125, 132, 134–136, 146, 148, 164, 176, 215, 254 Täuschung 158, 199, 200 Tagespresse 10, 13, 15, 44, 68, 79, 81, 84, 86, 94, 201 Tat 6, 11, 14, 17, 27, 28, 30, 34, 78, 112, 117, 161, 174, 210, 246, 254, 257–259 Tod 28, 43, 52, 255
Totalität 2, 127, 245 Tradition 1, 4, 10, 17, 24, 28, 40, 124, 138, 139, 149, 151, 152, 162, 190, 195, 229, 243, 252 Trotz 21, 61, 84, 105, 188, 214, 233, 239 Unmittelbarkeit 21, 38, 59, 60, 66, 76, 127, 145, 211, 215, 236, 240, 242, 244 Verantwortung 4, 6, 10, 37, 44, 58, 86, 88, 100, 105, 110, 115, 117, 123–125, 145, 148–151, 153, 157, 199, 204, 253 Verdrängung 44, 53 Vernunft 20, 22, 31, 90, 95, 124, 128, 130, 204, 217, 220, 229, 237, 248, 252 Versöhnung 20, 22, 26, 27, 34, 129, 130, 137, 254 Verständigkeit 1, 46, 72, 76, 77, 79, 84, 85, 130, 222, 253 Verstand 46, 77, 79, 113, 127, 130, 217, 223, 228, 233, 237, 240 Verwirklichung 16, 17, 20, 22, 30, 34, 73, 151, 256, 258 Verzweiflung 15, 31, 50–67, 71–74, 78, 83–86, 89, 98–100, 105, 106, 112, 123, 139, 181, 184, 193, 196, 225, 241, 250, 253, 257 Viehbremse 109, 110, 117, 153, 197, 208–212, 247, 253 Volk 16, 86, 91, 93–96, 103, 104 Vollendung 4, 5, 11, 14, 19, 21–23, 28–32, 44, 118, 124, 126, 128, 131, 148, 152, 158, 168, 212, 254, 256, 258 Vollmacht 41, 110 Wahrheit 10, 20, 23, 41, 42, 101, 106–108, 110, 115, 131, 134, 136, 138, 147, 164, 176, 178, 185, 198, 200, 202, 204, 207–209, 244, 258 Weltgeschichte 14, 23, 31, 44, 50, 100, 118, 121, 122, 124, 125, 127, 132, 137, 144, 148, 151, 256 Weltlichkeit 46, 56, 203 Widerrufung 16, 152, 159, 195, 243 Wiederherstellung 2, 36, 37, 182 Wiederholung 4, 8, 10–14, 16, 17, 31, 43, 48, 50, 131, 138, 151–153, 158, 161,
Sachregister |
165, 178–195, 197, 201, 202, 209, 212, 213, 218, 220, 233, 242, 243, 245, 249, 252, 257–259 Wirklichkeit 18, 20, 22, 24, 31, 43, 48, 50, 55, 59, 72, 73, 78, 80, 84, 126, 181, 183, 193, 203, 210, 242, 257 Wissen 36, 37, 76, 79, 80, 82, 96, 130, 131, 139, 153, 155–157, 164, 176, 177,
199, 201–203, 206, 217, 237, 239, 245, 247, 248, 259
Zeitgeist 38, 101, 123 Zerstreuung 46, 162 Zivilisation 26, 37
291