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German Pages 292 Year 2014
Rahel Puffert Die Kunst und ihre Folgen
Image | Band 51
Rahel Puffert (Dr. phil.) lehrt Kunst und ihre Vermittlung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind edukative und soziale Funktionen von Kunst, Kunst im öffentlichen Raum sowie Kunstprojekte an Schulen.
Rahel Puffert
Die Kunst und ihre Folgen Zur Genealogie der Kunstvermittlung
Gefördert durch die Leuphana Universität Lüneburg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld Zugl.: Lüneburg Univ. Leuphana, Diss., 2012 Eingereicht u.d.T.: Die Kunst und ihre Folgen. Zur Genealogie der Vermittlung im Kontext Kunst
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Tobias Still, Frankfurt/M., © 2012 Lektorat & Satz: Rahel Puffert, Daniela Steinert Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2337-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 9
EINLEITUNG | 13 ÖFFNUNGEN: VOM GEBRAUCH DES BEGRIFFS K UNSTVERMITTLUNG | 25 Unklarheiten | 26 Entfaltung der Einsatzgebiete | 28 Zum Verhältnis von Kunst und Vermittlung | 36
Zwei Phasen: Vermittlung als nachgeordnete Tätigkeit | 36 Inhärente Vermittlung: Die Prounen oder »Projekte zur Bestätigung des Neuen« (El Lissitzky) | 39 Der Öffentlichkeitscharakter von Kunst | 43 Im Konflikt: Künstlerische und institutionelle Vermittlungswege | 44
STELLUNGEN ZUR GESCHICHTE : DIE › SOZIALEN A BSICHTEN‹ DER RUSSISCHEN A VANTGARDE | 47 Die Methode der doppelten Historisierung | 48
Pierre Bourdieus Kritik an den Kunstwissenschaften | 52 Zur Anwendung der doppelten Historisierung | 53 Kontextualisierung: Erste Historisierung | 55
In Allianz mit der Macht: Kulturpolitische Voraussetzungen | 56 Arbeit an der Institution – Instanzen der Vermittlung | 59 Problemfelder der Vermittlung | 64 Kunst oder Nicht-Kunst...: Modelle für den Alltag | 82 Alexander Rodtschenko: Forschen für die Produktion | 88
El Lissitzky: Der Kunst ein soziales Fundament geben | 92 Zur Geschichtlichkeit künstlerischer Praxis: Zweite Historisierung | 99
Finalisierung oder Prozessierung? Zur Historisierung der russischen Avantgarden ausgehend von Peter Bürgers »Theorie der Avantgarde« | 111 Das Verhältnis zur Kunstinstitution: Abschaffung oder Änderung? | 114 »Wir suchen« und »Wir schlagen Alarm« – zur Frage des Scheiterns | 120 Geschichtsschreibung als Umwertung von Kunstbegriffen | 132 Historischer Blick und seine Veränderung | 137 Zur Frage des Pluralismus: Die Pluralität von Geschichten annehmen | 144 Die Krise der Repräsentation und ihr Bezug zur Vermittlung | 150 A DRESSIERUNG, O RGANISATION, VERMITTLUNG – DAS P UBLIKUM AUS KUNSTWISSENSCHAFTLICHER UND KUNSTPRODUZIERENDER P ERSPEKTIVE | 159 »Kunstgeschichte als Kontextraub« – ein rezeptionsästhetischer Ansatz | 159 reply with a work on your own – einige Vermittlungsansätze in der Kunst | 165
Aktivierung (John Cage) | 166 Auf die Straße (Gutai, High Red Center) | 170 Happpening (Allan Kaprow) | 173 Für alle – Verbreitungswege der Fluxus-Bewegung (George Maciunas) | 178 Performance als testcase (Valie Export) | 181 Non-Art, Anti-Art, Conceptual Art (John Latham, Dan Graham) | 185 Sprechen und Schreiben (Ian Burn, Lucy Lippard) | 190
Komponenten der Rezeption | 196
Wo bleibt das Objekt? | 199 Die Organisation des Unsichtbaren | 201 Bedingungen als Material | 205 K ÜNSTLERISCHE F ELDFORSCHUNG | 209 Konstruktion von Rückbezügen | 210 Clegg & Guttmann: Die Offene Bibliothek (1993) | 214
Projektbeschreibung | 215 Zwei theoretische Bezugnahmen | 216 Grenzen der interpretatorischen Zugriffe | 222 Michel Chevalier: unlimited liability (2006-2010) | 227
Projektbeschreibung | 228 Arbeit an den Regeln | 230 Verhältnis zur Institution | 233 THE THING Hamburg e. V.: THE THING Hamburg (2006-2009) | 235
Projektbeschreibung | 236 Verhältnis zur Institution | 237 Vermittelnde Dimension? | 239 Die Kunst und ihre Folgen | 242 Felder, Forschungen, bildungstheoretische Spekulationen | 247
F OLGERUNGEN FÜR DIE K UNST Literatur | 267 Bildnachweise | 287
UND IHRE
VERMITTLUNG | 251
Vorwort
Kunst hat – wie andere Handlungsformen auch – Folgen. Anliegen dieser Untersuchung ist es, die Perspektive auf Kunst von der Ursachenbestimmung wegzulenken und die Aufmerksamkeit auf ihre Wirkungen zu verschieben. Anstatt das künstlerische Werk, eine Arbeit oder den künstlerischen Prozess auf den Urheber zurückzuführen und etwa in der Person des Künstlers zu verankern, soll es hier um die Anschlüsse, Konsequenzen und Fortsetzungen von Kunst gehen. An wen richtet sich Kunst? Welche Funktionen kommen ihr zu? Wie kann man sie gebrauchen? Welche Wirkungen gehen von ihr aus? Mit solchen, auf die Ausrichtung von Kunst zielenden Fragen begibt man sich unweigerlich in kritischen Abstand zu einer bis heute einflussreichen Tradition des Denkens über Kunst. Dieser zufolge gilt – wie im Zuge der Romantik und insbesondere von Kant gefordert – die Zweckfreiheit von Kunst als ihre wichtigste Bestimmung. Ihre Autonomie kann Kunst demnach nur dann behaupten, wenn sie sich keinem außerkünstlerischen Zweck zuordnen lässt. Nun soll hier keinesfalls der grundsätzliche Anspruch auf künstlerische Autonomie, also die Maßgabe größtmöglicher Unabhängigkeit von Fremdinteressen, relativiert werden.1 Dass sich aber umgekehrt künstlerische Freiheit nur dann realisiert, wenn Kunst sich von jedem außerkünstlerischen Zweck lossagt – diese Auffassung bedarf der Revision.
1
Im Gegenteil: Die in Deutschland während der Weimarer Republik erstmalig im Grundgesetz verankerte Freiheit der Kunst rechne ich zu jenen demokratischen Errungenschaften, an die es sich lohnt, zu erinnern und anzuschließen. Im Zweifel kann sie Schutz vor jeglichen instrumentellen Zugriffen gewähren.
10 | DIE K UNST UND IHRE F OLGEN
Gegen diese These sprechen zahlreiche gesellschaftliche Instanzen, die sich der Kunst vollständig nutzenorientiert bedienen, um ihre ökonomischen, politischen oder repräsentativen Ziele zu erreichen. Und gerade jene Kunst, die sich der Explikation von Inhalten weitgehend entsagt und sich auf formale, so genannte ›innerkünstlerische‹ Probleme verlegt, ist hierfür besonders anfällig. Ihr kann ein fremder Inhalt übergestülpt werden, ohne dass dies offen als Widerspruch zutage tritt. Andererseits wird das Postulat der Zweckfreiheit durch zahlreiche Praxen widerlegt, die Kunst von sich aus als Mittel begreifen und einsetzen, um Bildungs- und Erkenntnisprozesse auszulösen oder forschendes Experimentieren zu ermöglichen. Auch engagierte künstlerische Verfahren, die, an Veränderung interessiert, den gesellschaftlichen Status quo auf die Probe stellen oder auf spezifische Problem- und Bedürfnislagen reagieren und Lebenswelten gestalten, verfolgen einen Zweck. Die entscheidende Frage dabei ist, ob solche Vorhaben mit einem künstlerischen Ansinnen und freiwillig geschehen, die Zweckbestimmung also selbstbestimmt erfolgt. Aus Sicht des oben beschriebenen Kunstbegriffs werden solche Ansätze gern als zweitklassig, im Vergleich zur ›freien Kunst‹ sekundär eingestuft und mit abwertenden Etikettierungen wie ›didaktisch‹, ›tendenziös‹ oder ›angewandt‹ belegt. Im besten Fall geschieht eine solche Kritik in Sorge um die Unabhängigkeit oder Freiheit künstlerischen Wirkens. Vor dem allzeit drohenden instrumentalisierenden Zugriff durch Verwertungsinteressen warnend, wird dann von der Kunst eine Sprachbildung oder Form verlangt, die mit der Alltagskommunikation radikal unverträglich ist.2 Aber gerade auch jene Künstler, die bewusst den Transfer zwischen Alltagspraxis und Kunst suchen, fordern dazu heraus, die Differenz zwischen beidem wahrzunehmen und sich mit den Phänomenen des Übergangs zu beschäftigen. Diskursive Unterstützung für diese Perspektive scheint an dieser Stelle insbesondere deshalb angebracht, weil sich deren Kritiker oftmals damit behelfen, die Unterschiede einzuebnen oder sie gewollt zu übersehen. Kunst als folgenreich anzunehmen, heißt, grundsätzlich von ihrer Vermitteltheit, aber auch von ihrer Vermittelbarkeit auszugehen. Ex negativo lässt sich an dem Versuch, sie in ein abgegrenztes Refugium zu verbannen,
2
Theodor W. Adorno ist noch immer strengster Gewährsmann für diese kunsttheoretische Perspektive.
V ORWORT | 11
in dem sie ›keinen Schaden anrichtet‹ und das ihr zugesprochene folgenlose Dasein fristet, das ihr unterstellte Wirkungspotenzial am besten ablesen. Jenen Vermittlungswegen zu folgen, die sich außerhalb, parallel und quer zu solchen Begrenzungen und Ordnungen der Repräsentationskultur bahnen und gebahnt haben, ist hier das verfolgte Anliegen. Die Wirkungslogik von Kunst ist radikal subjektiv und zugleich fortdauernd plural. Kunst geht weder in einem System auf noch kann sie auf rein subjektive und von daher inkommensurable Vorgänge reduziert werden. Durch unmittelbare Effekte (wie etwa den Schock) ist künstlerische Wirkung nur unzureichend beschrieben. Und auch mit Kriterien des Erfolgs lässt sich ihr Veränderungspotenzial nicht ermessen. Vielmehr muss von Spätfolgen, Nach- und Nebenwirkungen künstlerischer Praxis ausgegangen werden. Was sich über die Vermittlungswege erschließt, ist eine der Kunst zugesprochene eigene Zeitlichkeit. Diese Zeitlichkeit ist weder als lineare noch als stufenweise Abfolge zu verstehen. Als rekonstruierter Prozess hat sie eher den Charakter einer nachträglich und über Umwege hergestellten Folgerichtigkeit. Kunst in Folgen zu denken, bedeutet, den eigenen gegenwärtigen Standpunkt als eine Etappe zu begreifen, die sich trotz aller Singularität an vorangegangene Bemühungen anschließen lässt. Anders formuliert: Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine Folge in einer Reihe von vorangegangen und ausstehenden Anstrengungen, sich für eine bestimmte Art, Kunst zu begreifen und somit für einen bestimmten Kunstbegriff einzusetzen. In diesem Sinn zieht der Text Folgen aus der Kunst.
Einleitung
Aufgeregte Diskussionen um den Vermittlungsbegriff der Kunst Zu Beginn der 1990er Jahre entspann sich in Kunstkreisen eine Diskussion um Begriffe wie ›Repolitisierung‹, ›Kontextkunst‹, ›öffentliche Kunst‹, ›Intervention‹ oder ›Partizipation‹. Zahlreiche Projekte wurden realisiert, die einen besonderen Fokus auf die Art der Adressierung ihres Publikums legten. Nachdem eine solche Perspektive zumindest im deutschsprachigen Raum in den 1980ern kaum eine Rolle gespielt hatte, wurden nun Fragen der Vermittlung und Verbreitung wichtig. Dabei wurden die Grenzen bisheriger Wirkungsbereiche im Kunstsystem unscharf: so z. B. die Trennlinien zwischen Autoren und Rezipienten, zwischen künstlerischer Praxis und (real)politischem Handeln, zwischen vermittelnder Praxis und Kunst. Emotional aufgeladene Streitgespräche beherrschten und gestalteten Symposien, Tagungs- und Projektveranstaltungen und fanden in diversen Publikationen ihren Niederschlag. Als im April 1997 auf einer Tagung in Wien die Frage »Ist Kunstvermittlung eine Kunst?« gestellt wurde, trafen Personen aus den Bereichen Kritik, Kunstpraxis, Ausstellungswesen und Kunsterziehung aufeinander. Agenten also, die bis dahin vorwiegend getrennt voneinander aufgetreten waren. Aus der Perspektive derjenigen, die sich schon länger kritisch mit kunstdidaktischen Fragen auseinandersetzten, wurde mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis genommen, dass die Problematik mit dem Namen ›Vermittlung‹ plötzlich auch für Kunstschaffende Relevanz besaß. Merkbares Unwohlsein oder beinahe peinliche Gefühle löste es allerdings aus, als Pierangelo Maset so weit ging, zu behaupten, die Kunst werde »immer
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kunstpädagogischer« 1. Zu schlecht war es offenbar noch immer um den Ruf des Pädagogen bestellt; zu sehr ist es im Kunstfeld gang und gäbe, sich von allem, was nach Didaktik klingt oder aussieht, zu distanzieren2. Weniger Wellen schlug die Definition der Tagungsveranstalterinnen3, der zufolge Kunstvermittlung bestehende Diskursgrenzen überschreite und derjenige kunstvermittelnd tätig sei, der (unabhängig von seinem Platz im Kunstsystem) »sich an Menschen außerhalb des Kunstdiskurses« richte.4 Dem Entstehen neuer oder einem Wiederaufflammen alter Sozialutopien vorbeugend, wandte Marius Babias aus Sicht der Kunstkritik ein, Kunstvermittlung sei eine »Domäne der Theorie« geworden. Gemäß dieser provokant vorgebrachten These »entsteht Kunst heute im Bewusstsein, dass sie auf ein Fachpublikum und eine Kennerschaft hin produziert wird, und in einer gleich bleibenden Hierarchie rezipiert wird«.5 Die Stellungnahmen zur Lage der Kunstvermittlung in den 1990ern und die durch sie hervorgerufenen Reaktionen fielen höchst unterschiedlich aus. Deutlich zeichnete sich aber ab, dass die Motive oder Interessen, die mit der Kunstvermittlung verbunden und geltend gemacht wurden, vor allem in Abhängigkeit zur jeweiligen Funktion innerhalb des Kunstsystems divergierten.
1
Pierangelo Maset: Praxis Kunst Pädagogik. Ästhetische Operationen in der
2
Der Hauptvorwurf gegenüber kunstpädagogischen Ansätzen besteht darin, dass
Kunstvermittlung, Lüneburg 2001, S. 26. sie in dem Bemühen, Kunst zu erklären, das Kunsthafte der Kunst ›weg erklären‹. Von anderer Seite wird Pädagogen vorgeworfen, die Kunst zu popularisieren, wodurch ihre Exklusivität angetastet wird. 3
Die Tagungsveranstalterinnen waren Sara Schmid und Eva Sturm, beide zu die-
4
Die Zitate sind dem Tagungsfolder entnommen.
5
Babias, Marius: »Vorwort«, in: ders. (Hg.): Im Zentrum der Peripherie. Kunst-
sem Zeitpunkt als freischaffende Kunstvermittlerinnen tätig.
vermittlung und Vermittlungskunst in den 90er Jahren, Basel 1995, S. 9-26, insbes. S. 17.
E INLEITUNG | 15
Ethisch-politische Dimensionen Mit dem Vermittlungsthema und der so genannten ›neuen öffentlichen Kunst‹6 rückte die ambivalente gesellschaftliche Stellung der Kunst erneut ins Bewusstsein und erhitzte die Gemüter. Letzteres besonders dann, wenn ethische oder gar moralische Probleme berührt wurden. Auf den Punkt gebracht wurde diese Dimension der Problematik mit dem Titel der 1999 in Linz veranstalteten Tagung »Dürfen die das?«. Die beiden Veranstalterinnen – Eva Sturm und Stella Rollig – erläuterten die Wahl des Titels für das internationale Zusammentreffen von Vertretern aus Kunstpraxis, Kritik, Philosophie, Pädagogik sowie Kulturpolitik in der nachträglich erschienenen Tagungsdokumentation wie folgt: »Ironisch spielt er an auf die Anmaßung gesellschaftlicher Nützlichkeit der Kunst und die Konkurrenz zwischen ausgewiesenen Expertnnen und dilettierenden KünstlerInnen in der sozialen, vermittelnden und karitativen Praxis. Die Frage nach dem ›Dürfen‹ verweist auf die Hoffnung, daß es eine Art Über-Ich geben könnte, eine Instanz, welche die Grenze des Möglichen festzulegen imstande wäre.«7
Die Frage nach der Erlaubnis oder Legitimation – »Dürfen die das?« – wird von den Autorinnen als impliziter Wunsch nach einer, wie auch immer gearteten, gesetzgebenden Instanz gewertet, stößt aber ins Leere, hat keinen Adressaten, da ihrer Meinung nach eine solche Instanz »nicht mehr lokalisierbar« sei, sondern »in sozialen Bezügen zu diffundieren« scheine. Die
6
Besonderen Einfluss hatte die von Susan Lacy und Mary Jane Jacob in Chicago kuratierte Ausstellung »Culture in Action«. Mit dem von den Kuratorinnen verwendeten Begriff ›New Genre Public Art‹ – im deutschsprachigen Raum mit ›neue öffentliche Kunst‹ übersetzt – werden solche Praxen bezeichnet, die »die Definition des Publikums für zeitgenössische Kunst zu erweitern« beabsichtigten. Vgl. Jacob, Mary Jane: »Outside the Loop«, in: Culture in Action. A public art programm curated by Mary Jane Jacob, Seattle 1995, S. 50-61, insbes. S. 52; Kravagna, Christian: »Arbeit an der Gemeinschaft. Modelle partizipatorischer Praxis«, in: Achim Könneke/Marius Babias (Hg.): Die Kunst des Öffentlichen, Hamburg, 1998, S. 29-46, insbes. S. 33f.
7
Rollig, Stella/Sturm, Eva: »Einleitung«, in: dies.: Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum. Art. Education. Cultural Work. Communities, Wien 2002, S. 1324, insbes. S. 15.
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Autorinnen kommen zu dem Schluss: »Die Verhandlungen müssen stets neu geführt, die Grenzen immer wieder neu gezogen werden.«8 Aber ist die Frage »Dürfen die das?« im Kontext der Diskussion ausschließlich als Zeichen einer bloß herbei gewünschten Autorität zu deuten? Lässt sie sich nicht ebenfalls als Indiz für die Wirksamkeit von Handlungsbeschränkungen interpretieren, welche sich strukturell manifestieren? Die Frage nach dem Dürfen wäre dann weniger durch vorauseilenden Gehorsam als vielmehr durch das Wissen um eine soziale Realität motiviert. Sie wäre Zeugnis von der Erfahrung begrenzter Freiheit – einer Erfahrung, die zeigt, dass eben nicht alles verhandelbar ist, sondern in der Regel nur Wenige dürfen, sprich, dass nur eine Minderheit als selbstverständlich legitimiert gilt, überhaupt in Verhandlung zu treten. Aber was eigentlich soll verhandelt werden? Was wird verhandelt? Wie wird verhandelt? Und – mit wem? In Publikationen, Aufsätzen und Diskussionsvorlagen sind es immer wieder ethisch-politische Argumente und Normen, die geltend gemacht werden, wenn es darum geht, Kunstpraxen zu bewerten, die auf Partizipation angelegt sind. Ein Einwand folgt dem nächsten: »Dass es sich dabei weniger um Schaffung von Gegenöffentlichkeiten oder um ›Störung‹ als um systemimmanente ›Entstörungsdienste‹ handle, dass von der Kunst sozialstaatliche Aufgaben des Typs der sanften sozialen Kontrolle übernommen, verfeinert oder perfektioniert würden, dass sie gemeinschaftsorientiert sei, dass ein traditionelles charismatisches und paternalistisches Künstlerbild zugrunde liege, dass differenzbekräftigende Identitätspolitik betrieben würde, oder dass die gemeinschaftsorientierte Kunst marginalisierten Orten eine spezifische symbolische Identität über die ›authentischen‹ Merkmale der in die kollektive künstlerische Produktion einbezogenen Laien verschaffe, die sich früher oder später im Rahmen von städtischen Entwicklungsprojekten oder auch am Immobilienmarkt profitabel verwerten ließen.«9
8
Ebda.
9
Wuggenig, Ulf: »Kunst im öffentlichen Raum und ästhetischer Kommunitarismus«, in: Christian Philipp Müller/Achim Könneke: Kunst auf Schritt und Tritt. Public art is everywhere (im Auftrag der Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg), Hamburg 1997, S. 76-93, insbes. S. 87 f.
E INLEITUNG | 17
Auffällig ist, dass in dem Moment, in dem die sozialen Bedingungen bei der Entstehung von Kunst ins Blickfeld gerieten (indem Künstler sie thematisierten und zum offensichtlichen Bestandteil ihrer Arbeit machten), herrschende Vorstellungen darüber zum Vorschein kamen, was sozial richtig oder verkehrt sei; und dies sowohl von Seiten der Kunstkritik als auch von Vertretern konkurrierender Kunstbegriffe. Die Diskussion über die Frage ›Ist das Kunst?‹ wurde jetzt von der Frage ›Ist das ethisch zu vertreten?‹ abgelöst und mündete in Auseinandersetzungen über das richtige Design des kulturellen, sozialen und politischen Anderen.10 Oder die Frage nach der Kunst wurde von realpolitischen Rhetoriken über die Strukturveränderungen in der Gesellschaft durchzogen und verdeckt (Stichworte sind Werteverfall, alternative Lebensformen, Abbau des Sozialstaates, ›Zwang produzierende Institution‹ kontra ›Interessengebundenheit des freien Marktes‹). Kriterien wurden ins Feld geführt, die neu schienen, weil sie aus kunstexternen Bereichen wie z. B. den Sozialwissenschaften, der politischen Praxis und Theorie oder der philosophischen Ethik stammten und innerhalb der Kunstwissenschaften nicht auf eine gefestigte Tradition zurückgreifen konnten. Legitimationsprobleme sozialer Kunst Unabhängig davon, ob jener oben genannte Katalog von Einwänden im Einzelfall berechtigt sein mag, ist auffällig, dass Argumente dieser Art bei der Einschätzung ›musealer‹, objektbezogener Kunstwerke kaum ins Gewicht fallen. Dabei ist natürlich auch die »traditionelle, institutionelle Kunst in Prozesse der Gemeinschaftsbildung eingebunden«, worauf der Kunstsoziologe Ulf Wuggenig hingewiesen hat. Wenn auch auf einem anderen sozialen Niveau und ohne formulierte Absicht trügen solche Kunstwerke zur individuellen Distinktion und zur Bildung von Statusgruppen bei. Was die an der ›neuen öffentlichen Kunst‹ geübte Kritik vermissen lasse,
10 Vgl. hierzu z. B. die Diskussion zwischen Gerald Raunig (»Spacing the Lines. Konflikt statt Harmonie. Differenz statt Identität. Struktur statt Hilfe«, S. 118127) und Monika Schwärzler (»Bedürftige, alter egos, schöne Unbekannte. Vom richtigen Design des Anderen in partizipatorischen Kunstprojekten«, S. 148160), in: Rollig/Sturm (2002).
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sei die Reflexion und Offenlegung der jeweils eigenen »Verankerung im institutionellen Kunstsystem«.11 Häufig genug führt(e) die Andersartigkeit der durch die neuen Kunstprojekte aufgeworfenen Problematiken, wie die Fragen der politischen Mitbestimmung, der sozialen Unterschiede und der Diversität von Kultur- und Kunstbegriffen, dazu, dass den Werken der Kunstcharakter schlicht abgesprochen und sie der Sozialarbeit zugeordnet wurden.12 Bei aller Wertschätzung der jeweiligen sozialen Dimension – offensichtlich besteht große Not, sobald es um die Inanspruchnahme und Legitimierung ihres Kunstcharakters geht.13 Besonders augenfällig wird das anhand von theoretischen Perspektiven, die gesellschaftskritischer, politischer oder sozialer Kunst einen Sonderstatus zuweisen wollen. Allzu deutlich arbeitet diese Sonderbehandlung einer Separierung zu und geht so den Konsequenzen und Herausforderungen, die diese Kunst für den Kunstdiskurs und die hier gängigen Bewertungsmaßstäbe hat, aus dem Weg. Die Möglichkeit einer umfassenden Kritik und Korrektur am bestehenden Wertekanon wird den sozialen Kunstpraxen so genommen. Sie werden an einen anderen, vom Museum und seiner Tradition geschiedenen Ort verwiesen, so dass es zu keinen Berührungen oder Konflikten zwischen den Feldern kommen kann.14
11 Wuggenig, in: Müller/Könnenke (1997), S. 88 f. 12 Die hierbei gleichzeitig praktizierte Abwertung sozialer Berufsfelder impliziert aber nicht nur die Ablehnung sozial- bzw. kulturpolitischer Errungenschaften (Soziokultur), sondern ist begleitet von der selbstverständlichen Bevorzugung eines Lebensstils und der Ästhetik von sozialen Klassen(-segmenten), welche es sich erlauben können, mit derlei Tätigkeitsfeldern und den damit gesellschaftlichen Problematiken nicht in Berührung zu kommen. 13 So entschied selbst eine Sympathisantin sozial engagierter Kunst wie die dem Kuratorenteam der documenta 11 zugehörige Ute Meta-Bauer bei der Einweihungsrede des Park Fiction-Archivs in Hamburg, dass es eigentlich egal sei, ob das nun »Kunst oder gute Sozialarbeit« heiße, wichtig sei allein, »dass diese Arbeit gemacht« werde (zitiert nach eigener Mitschrift). 14 Der amerikanische Kunstphilosoph Arthur Danto liefert hier ein besonders gutes Beispiel. Während das Museum und seine Werke, die es ästhetisch zu rezipieren gelte, auf eine religiöse oder philosophische Erfahrung abhöben, indem sie die Lebenssinnfrage hervorbrächten, thematisiere die »extramuseale Kunst« Fragen, die mit einer spezifischen sozialen Gruppe korrespondierten (weshalb diese
E INLEITUNG | 19
Kunst ist sozial determiniert Ansinnen der vorliegenden Arbeit ist es, in dieser Situation eine Sprache zu finden und Argumente zu erarbeiten, welche die Rolle des Sozialen, aber auch der Kunst aus derlei beengten Enklaven zu entlassen helfen. Denn die Möglichkeiten sozialer Interaktion werden durch die Entzifferung von Hierarchien zwischen Bedürftigen und Gönnern nicht nur unzureichend beschrieben – sie werden auch erheblich gestutzt. Gestutzt wird auch die Kunst, lässt man ihr eine Interpretation angedeihen, die ihren Aussagewillen zugunsten der Betonung rein formaler Aspekte entkräftet. Laut Arnold Hauser geht dabei Entscheidendes verloren: »Wenn wir nun von dem Ziel, das der Künstler mit seinem Werk verfolgt, dem Ziel der Belehrung, Überzeugung und Beeinflussung, nichts wissen oder nicht wissen wollen, haben wir von seiner Kunst nicht viel mehr als der Unkundige vom Fußball, das er nach der Schönheit der Bewegungen der Spieler urteilt.«15
Dieses Zitat bringt auf den Punkt, warum die Frage nach dem vermittelnden Charakter von Kunst nach wie vor so viel Brisanz enthält. Denn Hausers Formulierung legt nahe, dass ein Kunstbegriff, der sich ausschließlich auf ästhetische16 oder formalistische Kategorien stützt, dazu tendiert, die intentionalen oder »belehrenden« Aspekte von Kunst zu kappen. Wie also lassen sich soziale oder vermittelnde Kategorien aus einer künstlerischen Perspektive aus denken? Im Zentrum der folgenden Abhand-
Kunstform letztlich die »Tribalisierung des Museums« zur Konsequenz habe). Die »extramuseale Kunst« wende sich, so Danto, nicht an den »Betrachter als Betrachter«, sondern sei »an eine bestimmte ökonomisch, religiös, sexuell, rassisch, ethisch oder national definierte Gemeinschaft gerichtet.« In ihrem Kunstanspruch berufe sie sich entsprechend nicht auf ästhetische, sondern auf politische oder moralische Begründungsmuster. Vgl. Danto, Arthur C.: »Das Museum und die durstigen Millionen«, in: ders.: Das Fortleben der Kunst, München 2000 (1997), S. 201-246, insbes. S. 242. 15 Hauser, Arnold: »Eine Soziologie der Kunst«, München 1958, S. 1-5, zit. n.:, Cornelia und Kunibert Bering: Konzeptionen der Kunstdidaktik. Dokumente eines komplexen Gefüges, Oberhausen 1999, S. 60. 16 Hier im umgangssprachlich üblichen Sinne von ›schön‹ oder ›optisch angenehm‹ verwendet.
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lung steht die Frage, ob und inwiefern sich ein Kunstbegriff, der seine Vermittlung mitdenkt, aus der Geschichte der Kunst und ihrer Theoriebildung selbst ableiten lässt. Bewusst setze ich mit dieser Fragestellung genau an jenem disziplinären Scheitelpunkt an, der Kulturproduzenten im Normalfall vor eine Entweder-oder-Entscheidung stellt: entweder Kunstproduktion oder Vermittlung, entweder Lehrer oder freischaffende Künstlerin, aber auch entweder Künstler oder Kritikerin, Kurator etc. Die durch diese Arbeitsteilungen hergestellten und reproduzierten Trennungen führen zu der beschriebenen Zweitrangigkeit von, der Vermittlung zugeordneten Tätigkeiten. ›Zweitrangig‹ ist dabei in doppeltem Sinn zu verstehen: im Sinne einer wertmäßig hierarchischen Stufung und im Sinne einer zeitlichen Gliederung. Die den professionellen Standards entsprechende Aufteilung von Tätigkeiten begünstigt eine Kunstauffassung, die das künstlerische Werk von seinem Wirkungsrahmen loslöst. Es ist dann umso leichter, es auf seine objekthaften Eigenschaften, sein Material, formale Regeln oder optische Qualitäten zu reduzieren. In der Vermittlungspraxis geht es aber »weder um das Objekt als Ding, noch ausschließlich um das Objekt als Werk, sondern stets auch um das Andere, das im Objekt eingehüllt und unsichtbar ist.«17 Argumentativer Aufbau und Methoden Die Frage nach den vermittelnden Anteilen künstlerischer Praxis wird im Folgenden in fünf Kapiteln behandelt. Die Kapitel bauen aufeinander auf, untersuchen aber je einen eigenen Aspekt. Im Wesentlichen ist das Vorgehen hermeneutisch, d. h. ich ziehe Quellen zurate, zitiere und interpretiere Autoren, die sich zu dem jeweiligen Teilaspekt geäußert haben. Wenn möglich, wird dabei direkt auf Künstlertexte zurückgegriffen. Anstatt diese einer Metatheorie unterzuordnen, zog ich es vor, der Vielstimmigkeit der verschiedenen Ansätze Raum zu geben. Das erste Kapitel widmet sich der Ausgangslage, wie sie sich mir seit Mitte der 1990er Jahre darstellt. Um die Weitverzweigtheit der Diskussion nachzuzeichnen und die Problematik zu entfalten, kommen verschiedene Sprecher zu Wort, die sich damals zum Thema Vermittlung äußerten. Aus der Perspektive einer teilnehmenden Beobachterin der Diskussionen und
17 Maset, Pierangelo: Ästhetische Bildung der Differenz. Kunst und Pädagogik im technischen Zeitalter, Stuttgart 1995, S. 23.
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der Praxis lege ich die oft verwirrende Diversität der Einsätze verschiedener Sprecher und der von ihnen mitgebrachten Referenz- und Ordnungssysteme auszugsweise dar. Der hieraus resultierende, widersprüchlich anmutende Themenkomplex machte es notwendig, in einem zweiten Schritt einige Charakteristika der Diskussion herauszuarbeiten. Um einen Hauptkonflikt hervorzukehren, wird anschließend eine zeitgenössische Position zur Vermittlungsfrage (Thomas Wulffen) mit dem Werkbegriff einer historischen Kunstauffassung (El Lissitzky) konfrontiert. Das Beispiel von Lissitzky legt nahe, dass sich der Stellenwert von Vermittlung von der Arbeit an einem bestimmten Kunstbegriff nicht trennen lässt. Lissitzkys Position verlangte nach einer vertiefenden Betrachtung. Da eine Übertragung seiner Auffassung auf die gegenwärtige Vermittlungsdiskussion nicht umstandslos möglich ist, beschäftigt sich das zweite Kapitel eingehend mit dem Aufkommen des sozialen Kunstbegriffs durch die Avantgarden im nachrevolutionären Russland. Methodisch berufe ich mich hierbei auf die von Pierre Bourdieu vorgeschlagene »doppelte Historisierung«. Sie verlangt zunächst die Rekonstruktion der historisch-politischen Rahmenbedingungen und die Berücksichtigung des künstlerischen und geistigen Einflussfeldes einer künstlerischen Manifestation. In einem zweiten Schritt wird dann der Vermittlungsweg, den diese künstlerische Position aus der Vergangenheit zurücklegen musste, um in die Gegenwart zu gelangen, beleuchtet. Um Letzteres zu tun, war es notwendig, auf die Avantgardedebatte einzugehen, die, in den 1970er Jahren beginnend und maßgeblich von Peter Bürgers »Theorie der Avantgarde« beeinflusst, unser Avantgardebild bis heute prägt. Vor dem Hintergrund der ersten Historisierung wird deshalb Bürgers Argumentationsgang ausführlich erörtert. Dabei geht es darum, zu zeigen, dass eine Theorie, welche »die Folgenlosigkeit der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft als deren Prinzip«18 erkennt, an der Schlüssigkeit der eigenen Überzeugung interessiert – also in dem Versuch, mit sich selbst übereinzustimmen – auch dazu beitragen muss, sich vor jeder Veränderung zu verwahren. Mir lag daran, die Denkmuster zu verstehen, die der Abwendung des künstlerischen Veränderungspotenzials zugrunde liegen. Die Rekonstruktionsarbeit erwies sich als äußerst ertragreich. Je ausführlicher ich mich mit der Geschichte und den Konzepten der russischen
18 Vgl. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M. 1974, S. 78.
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Avantgarde befasste, desto deutlicher wurde, dass sie sich für eine Genealogie zeitgenössischer Kunst(vermittlungs)-Praxis eignen. Dabei stieß ich auf die Notwendigkeit einer »anderen Kunstgeschichte«.19 Denn die Marginalisierung von dem, was ich den sozialen Kunstbegriff nennen möchte, ist eng verknüpft mit der Verdrängung von dessen Geschichte durch die offizielle (oftmals marktkonditionierte) Historie. Teil dieser Verdrängung bzw. Umwertung ist die Entkoppelung von Kunst und ihrer Vermittlung. Das heißt, dass genau dieser Kunstbegriff ein Problem bei seiner eigenen Verbreitung mit sich führt. Auch das dritte Kapitel behandelt das Spannungsfeld zwischen künstlerischen Vorstößen und ihrer kunstwissenschaftlichen Fassung. Bei der Beschäftigung mit künstlerischen Formen der Vermittlung und Publikumsadressierung in der Nachkriegskunstgeschichte geht es zunächst darum, die Lücke zwischen den avantgardistischen Projekten der 1910er und 20er Jahre und der aktuellen Situation zu überbrücken. Um zu zeigen, dass die avantgardistischen Bemühungen nicht ohne Anschluss waren, sondern in einer Vielzahl von weiteren Experimenten mündeten, stelle ich eine Kette von Verfahren zusammen, bei denen die Ansprache und Einbeziehung des Publikums konzeptioneller Bestandteil der künstlerischen Arbeit sind. Zwar mit einiger Verspätung und über den Umweg der Literaturwissenschaft spielt die Rezeptionstheorie in den Kunstwissenschaften der letzten Dekaden eine immer wichtigere Rolle. Inwiefern enthält und/oder transportiert der rezeptionsästhetische Analyseansatz aber selbst schon einen bestimmten Kunstbegriff? Geleitet von dieser Überlegung untersuche ich, ob die Rezeptionstheorie von Wolfgang Kemp mit den ausgesuchten künstlerischen Ansätzen kompatibel ist. Nur vordergründig ging es dabei um eine Kritik an Kemps Untersuchungsinstrumentarium. Vielmehr erhoffte ich mir über den Weg der Anwendung desselben, zu einer genaueren Bestimmung von künstlerischen Verfahren zu gelangen, die bei den Rezeptionsbedingungen ansetzen. Die in den 1990er Jahren aufkommende Kontextkunst bildet einen weiteren wichtigen Anstoß für die vorliegende Arbeit. Sie bestimmt sich dadurch, den Kontext künstlerischen Arbeitens zum Material und Reflexions-
19 Vgl. Rollig, Stella: »Zwischen Agitation und Animation. Aktivismus und Partizipation in der Kunst des 20. Jahrhunderts«, in: Rollig/Sturm (2002), S. 128139.
E INLEITUNG | 23
gegenstand künstlerischer Bearbeitung zu machen. Unter dem spezifischeren Titel »Künstlerische Feldforschung« frage ich im vierten Kapitel anhand von drei ausgewählten Projekten aus der Kontextkunst, inwiefern diese Beispiele die in den vorangegangenen Kapiteln behandelten Praxen und Kunstbegriffe fortsetzen oder weiterentwickeln. Dabei wechsle ich die Perspektive: von einer kulturwissenschaftlichen Blickrichtung, die ausdrücklich kunstpädagogische Aspekte berücksichtigt, zu einer bildungstheoretischen Spekulation. Im fünften und letzten Kapitel fasse ich die Erträge der einzelnen Arbeitsschritte zusammen und versuche, sie in Hinblick auf die Herausforderungen an heutige Vermittlungsarbeit auszuwerten und einige Folgerungen zu ziehen. Michel Foucault hatte die Genealogie als eine kritische Arbeit verstanden, die »Fälle von Diskursen zu behandeln versucht, die das, was wir denken, sagen und tun in verschiedensten historischen Ereignissen versucht zu bezeichnen«. Mit der so hervorgebrachten »Kontingenz, die uns zudem gemacht hat, was wir sind«, verband Foucault die »unbestimmte Freiheit«, »Möglichkeiten auf[zu]finden, nicht länger das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken«.20 Hieran orientiert sich die vorliegende Untersuchung: Entlang einer nicht-chronologischen, vom unsicheren Standpunkt gegenwärtiger Problemlagen motivierten Kapitelabfolge, möchte die Arbeit einen diskurskritischen Beitrag zu einer »Genealogie der Kunstvermittlung« leisten. Formale Anmerkungen Nach längeren Überlegungen habe ich mich zugunsten einer besseren Lesbarkeit gegen die feminine Schreibweise entschieden. Es liegt mir aber daran, zu betonen, dass ich bei Verwendung der maskulinen Form (»die Künstler«, »die Betrachter« etc.) unbedingt Frauen einbeziehe. Kursiv gesetzt sind im Haupttext entweder Eigennamen oder Hervorhebungen meinerseits. Zitate innerhalb von Zitaten sind mit einfachen Anführungsstrichen gekennzeichnet. Auslassungen in Zitaten sind durch eckige Klammern ausgewiesen. Ergänzungen oder Hervorhebungen meinerseits habe ich in
20 Foucault, Michel: »Was ist Aufklärung?«, in: Eva Erdmann/Rainer, Forst/ Axel Honneth (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1990, S. 35-54, insbes. S. 46.
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Zitaten zusätzlich durch meine Initialen markiert. Die zitierten Quellen werden in der Fußnote bei der Erstnennung ausführlich angegeben. Bei mehrfacher Verwendung setze ich Sigel ein, die sich in der Regel aus dem Namen des Autors/Herausgebers und in Klammer gefasstem Erscheinungsjahr zusammensetzen. Zitate aus dem Internet gebe ich mit der URL an und vermerke das Datum des Abrufs anschließend in Klammern. Dank Ich möchte mich sehr herzlich bei allen bedanken, die mich beim Schreiben unterstützt und begleitet haben. Insbesondere gilt Pierangelo Maset mein Dank für seine Ermutigung, seine Positivität und Geduld. Seine Art, Differenzbildung zu betreiben, sein Engagement und seine Kunstnähe sind auf so mancher Strecke wegführend für mich. Michel Chevalier hat mich an seiner archivarischen Arbeit teilhaben lassen. Ohne die Begegnung mit seinem Wissen und Kunstsinn und den damit verbundenen intensiven Streitgesprächen wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Tobias Still hat durch seine präzise Kritik wichtige Gedankengänge geschärft. Durch die herausfordernde Zusammenarbeit mit Cornelia Sollfrank sind unerwartet neue Erfahrungen in die Textarbeit eingeflossen. Nicole Vrenegor und Wanda Wieczorek haben korrekturgelesen. Daniela Steinert hat wertvolle Lektoratsarbeit geleistet.
Öffnungen: Vom Gebrauch des Begriffs Kunstvermittlung
Wie bereits erwähnt, wies die Tagung »Ist Kunstvermittlung eine Kunst?« (1997) durch ihre Anlage für den thematischen Komplex dieser Arbeit in eine entscheidende Richtung. Denn außergewöhnlich war zu jenem Zeitpunkt noch, dass Menschen, deren Funktionen und Tätigkeiten im Kunstsystem in so unterschiedlichen Berufsbezeichnungen wie Kurator, Künstler, Museumsdirektor, Kritiker oder Journalist und auch Galerist, Sammler oder Kunstpädagoge münden, zusammenkamen und um den Begriff ›Kunstvermittlung‹ rangen. Seitdem ist dieses Projekt fortgeführt worden: • • • • • • • • • • • • •
»Multiple Existenzen«, Weimar 2000 »Dürfen die das?«, Linz 2000 »Was tun/What to do«, Wien 2000 »Kontext/Kunst/Vermittlung«, Berlin 2001 »Borderline. Strategien und Taktiken für Kunst und soziale Praxis«, Wiesbaden 2001 »Kunstvermittlung«, Kassel 2002 »The Educational Complex«, Wolfsburg 2003 »bilden mit kunst?«, Hannover 2003 »Mapping Blind Spaces«, Karlsruhe 2003 »Unlikely Encounters in Urban Space«, Hamburg 2003 »Soft Logics in der Kunstvermittlung«, Stuttgart 2004 »Symposion: Publicum«, Lüneburg 2004 »Formate der Kunstvermittlung«, Lüneburg 2007
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Bei »Dürfen die das?« 1 kamen internationale Gäste hinzu; in Weimar wurde mit Tagungskonventionen experimentiert; in Kassel saßen Kunstvereinsleiter im Publikum, während Kunstvermittler auf der Bühne ihr Bestes gaben; in Wolfsburg und Hannover wurde das Feld um Vertreter des Marketing und der Realpolitik erweitert. Zeichneten sich in Hamburg gewisse Unvereinbarkeiten zwischen politischen, künstlerischen und pädagogischen Motivationen ab, wurde in Stuttgart nach so viel Öffnung wieder ein konzentriertes ›unter uns‹ avisiert. Auch das Thema deutet auf den Versuch hin, Vermittlung wieder enger zu denken; es sollte um Bildungsarbeit durch und von Künstlern und Kunstvermittlern gehen, wobei speziell der Austausch und Vergleich zwischen britischer und deutscher Szene unternommen wurde. Bei »Symposium: Publicum« in Lüneburg bemühten sich Sprecher des (hier wieder vorwiegend) akademischen Feldes aus dem deutschsprachigen und angloamerikanischen Raum um theoretische Neubestimmungen von Öffentlichkeit vor dem Hintergrund der Fetischisierung von Publika im Zuge neoliberaler Ökonomisierung. Auch auf der documenta 12 (2007) wurde Vermittlung groß geschrieben. Die Kuratoren erklärten das Thema ›Bildung‹ zu einem der drei Themen der Großausstellung und werteten die Besucherarbeit so zumindest symbolisch auf. Außerdem steht die documenta 12 für den Versuch, die Großausstellung bereits vor der Eröffnung stärker an lokale Strukturen anzubinden. Damit wurde der Publikumsarbeit erneut verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt – erstmals, seit Bazon Brock Besucherschulen für die documenta 4 (1968), documenta 5 (1972) und documenta 6 (1977) entwickelt hatte.
U NKLARHEITEN Festhalten lässt sich, dass seit Mitte der 1990er Jahre zahlreiche Tagungen, Diskussionen, Foren und Workshops explizit oder implizit zum Thema Kunstvermittlung stattfanden und sich das Medium Tagung als fester Bestandteil des Arbeitsfeldes etablierte2. Dabei vervielfältigte sich die Bedeu-
1
Siehe auch Rollig/Sturm, in: dies. (2002), S. 15.
2
Mörsch, Carmen: »Was mitnehmen? Bericht über Tagungsstrukturen«, http://www.artmediation.org/statement (Oktober 2002).
ÖFFNUNGEN: V OM GEBRAUCH DES B EGRIFFS K UNSTVERMITTLUNG | 27
tung des Begriffs Vermittlung und wurde zunehmend diffus. »Was also geschieht zusammen mit dem Vermittlungsbegriff zugleich mit dem Kunstbegriff?« fragte Helmuth Hartwig in Berlin 2001 »Ich behaupte: seine Funktion wird immer undurchsichtiger. Der Umgang mit ihm immer ›wurschtiger‹.«3 Die inflationäre Thematisierung von Vermittlung, die Umstrittenheit, Wendigkeit, Schlüpfrigkeit sowie die Unbestimmtheit des (Alles und Nichts vereinnahmenden) Begriffs und seines Gebrauchs beförderte den Wunsch nach Klärung. Der Psychoanalytiker und Kunstpädagoge KarlJosef Pazzini versuchte, der unübersichtlich gewordenen Lage Herr zu werden, indem er Kunstvermittler als verkappte Pädagogen besonderer Ausprägung bezeichnete: »[...] erwachsen scheinende Menschen, die ganz tief in ihrer Schulzeit hängen geblieben sind.«4 Pazzini schränkt den Begriff ›Vermittlung‹ in seiner Vieldeutigkeit, seiner Offenheit und in seinem Gebrauch ein, indem er ihn zugunsten besserer bzw. schnellerer Handhabbarkeit auf eine Berufsgruppe (in diesem Fall die ›schlechten‹ Pädagogen) bezieht. Bei einem solchen Vorgehen besteht jedoch die Gefahr, zugunsten der Reduzierung von Komplexität, erste feststellbare Charakteristika von Vermittlung zu übergehen. Um diese herauszuarbeiten, seien im Folgenden zunächst verschiedene Stellungnahmen
3
Hartwig, Helmuth: »Kunstvermittlung als«, Unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 2001.
4
Pazzini, Karl-Josef: »Kunst und Bildung. Lösungen für Ich-starke Persönlichkeiten«, in: Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen (Hg.): bilden mit kunst, Bielefeld 2004, S. 31-48, insbes. S. 38. Weiter führt er aus: »Es passiert nun, dass einige dieser Leute mit der Kunst anbandeln, Künstler werden oder damit nach einiger Zeit keinen Erfolg haben oder eben, und das ist eigentlich die genialste Lösung, beides tun, mit der Kunst anbandeln – Kunst hat ja ein Moment von Naivität – und sich mit dem ehemals als Aggressor ausgemachten [gemeint ist die schulische Pädagogik, RP] identifizieren, d. h. sie werden pädagogisch in Reinform – ohne Kunst. Auch solche finden sich unter Kunstpädagogen, egal wo sie arbeiten. Damit das nicht so auffällt, nennen sie sich Kunstvermittler, und wenn sie das sind, betonen sie immer wieder den ausserschulischen Charakter ihrer Tätigkeit, erst recht haben sie nichts mit Didaktik zu tun.« Ebda. S. 38 f.
28 | DIE K UNST UND IHRE F OLGEN
und Verwendungsweisen des Begriffs und der Praxis ›Kunstvermittlung‹ angeführt.5
E NTFALTUNG
DER
E INSATZGEBIETE
So nähert sich die Künstlerin und Kunstvermittlerin Carmen Mörsch diesem Arbeitsbereich, indem sie seinen in der Praxis gewonnenen Problemkreis auffächert: »Bei der ›Arbeit mit Leuten‹ tauchen [...] ähnliche Fragestellungen auf, bezüglich der Rolle, die den jeweils Beteiligten zugewiesen wird und der Machtgefälle innerhalb der Situationen, nach Kriterien zur Beurteilung der Prozesse und Produkte, nach den Sprachen der Beschreibung und den Strategien der Repräsentation dessen, was in den Projekten geschieht, nach der Möglichkeit der Subversion oder der zwangsläufigen Affirmation der Strukturen, in die sich die Projekte verwickeln.«6
Lässt sich die »Arbeit mit Leuten« hier als Abgrenzung etwa zur Arbeit ›mit Öl‹ oder ›mit Video‹ verstehen, so liegt die Betonung dezidiert auf dem ›mit‹. Des Weiteren verlegt die Reflexion von Gruppenstrukturen, Machtverteilungen und einer geeigneten Repräsentationspolitik die Aufmerksamkeit auf die Beziehungen zwischen den Beteiligten ebenso wie auf die Verhältnisse, die auf diese Beziehungen einwirken. So führt die Autorin eine Perspektive an, die sich von einer simplifizierenden Interpretation des ›mit‹ im Sinne von ›wir alle zusammen‹ oder ›der Pädagoge und die Gruppe‹ aber auch im Sinne von ›der Künstler und sein soziales Material‹ absetzt. Entscheidend ist außerdem, dass Mörsch die aufgelisteten Fragen durchgehend als relevant bezeichnet für so unterschiedliche Praxen wie »politisch motivierte Interventionskunst, Community Arts, Kunst in Unternehmen, institutionelle Kunstvermittlung oder neuere Strömungen der Kunstdidaktik«7, Zudem weist sie darauf hin, dass der Kritikdiskurs die von bekannten Künstlern aufgeworfenen Fragen zwar aufnahm, in der Folge
5
Die hier aufgeführten Auszüge der Autoren beanspruchen nicht, die Ansätze in
6
Mörsch (Oktober 2002).
7
Ebda.
ihrer Differenziertheit oder gar umfassend wiederzugeben.
ÖFFNUNGEN: V OM GEBRAUCH DES B EGRIFFS K UNSTVERMITTLUNG | 29
aber die »Weitverzweigtheit und Diversität des Themas weitgehend ignorierte«.8 Für die spezifischen Tätigkeiten von Vermittlern interessiert sich Eva Sturm, wenn sie darauf hinweist, dass sich in dem Begriff ›Kunstvermittlung‹ zwei Bereiche zu überlappen begännen: der des Bildens und der des Kommentierens.9 Ausgehend von den historischen Ausgangspunkten dieser beiden Bereiche ließen sich die zugehörigen Professionen (Kunstpädagoge und Kritiker) dabei weniger durch die ihnen zugeordneten Tätigkeiten voneinander unterscheiden (»selbstredend bilden auch KommentatorInnen und kommentieren auch die BildnerInnen«), als durch das Interesse an der von ihnen jeweils adressierten Öffentlichkeit. Während die Akteure auf der Seite des Bildens »Überschreitungen des Kunstfeldes Richtung Öffentlichkeit/en realisieren wollen«, trete man auf der Seite des Kommentierens immer wieder dazu an, »die Grenze zwischen Innerhalb und Außerhalb des künstlerischen Feldes fortzuschreiben«, also zwischen Kunst und NichtKunst zu unterscheiden. Für Sturm, die hier generell alle Unternehmungen, Kunst zu vermitteln, als sprechende bzw. handelnde Fortsetzung von Kunst begreift, kommt es darauf an, sich die Frage zu stellen, »[w]er dabei in welcher Form wem – dem Staat bzw. ›der Kunst‹ bzw. ›dem Volk‹ – dient«.10 Die Grenze zwischen den Bereichen »Bilden« und »Kommentieren« verlaufe genau dort, wo es um die legitime Sprache gehe, »der Markt der Diskurse beginnt« und die »Maschinerie des Wertens in Gang gesetzt wird«. Sturm unterscheidet die Bereiche »Bilden« und »Kommentieren« anhand der Sprachverwendung: Erstere würden »den Diskurs immer wieder wechseln« – je nach Kommunikationspartner. 11 Beim »Kommentieren« – etwa in der Kunstkritik – geschehe die Sprachfindung im Hinblick auf das jeweilige Kunstwerk und könne sogar unverständlich bleiben. Sturm selbst, die sich eher der Seite des Bildens zuordnet, spricht sich für eine »Mitschrift am Text, egal an welcher Stelle in der Hierarchie der Diskurse man sich be-
8
Ebda. Beispiele, die Mörsch nennt, sind Wochenklausur und die Hohenbüchlers,
9
Sturm, Eva: »Woher kommen die Kunst-Vermittlerinnen? Versuch einer Positionsbestimmung«, in: Rollig/Sturm (2002), S. 198-211.
10 Ebda., S. 201. 11 Ebda., S. 203.
30 | DIE K UNST UND IHRE F OLGEN
findet«12 aus. Es geht ihr also um ein generelles Mitspracherecht unabhängig von der Position innerhalb oder außerhalb des Kunstsystems. Anders als bei Sturm wird die Fülle der unterschiedlichen Professionen oder der sozialen Gruppen, welche sich an der Vermittlungsarbeit beteiligen, von anderer Seite offenbar als Konkurrenzsituation gewertet, in der es sich zu entscheiden gilt. Dies zeigt folgende Aussage eines Sammlers: »Ich werde nicht nachlassen zu betonen, daß Galeristen die besten Vermittler zeitgenössischer Kunst und noch dazu die sozialsten Einrichtungen dieser Art sind: jeder Mensch, der sich für Kunst interessiert, kann kostenlos eine Fülle von Kunst in unzähligen Galerien im stetigen Wechsel erleben.«13
Der Soziologe von Alemann präzisiert diese Perspektive, indem er den ›Gewinn‹ der Galeristen-Vermittler für die Künstler hervorhebt: »Die Funktion der Galeristen kann auch darin gesehen werden, daß ihnen die Aufgabe zukommt, die Künstler von den (teilweise diffusen und widersprüchlichen) Erwartungen dieser diversen Gruppierungen zu entlasten. Die Künstler können sich voll und ganz auf den Kunstentstehungsprozeß konzentrieren und nehmen nur anläßlich einer Vernissage am allgemeinen Leben des Kunstpublikums teil. Vor allem wird der Künstler davon entlastet, ständig Laien gegenüber Deutungen seiner Kunst abgegeben zu müssen. Diese Rolle wird im persönlichen Gespräch vor allem dem Galeristen überlassen, dem entsprechend von allen aufgeführten Gruppen die größte Deutungsmacht über die Kunst zukommt.«14
Dass die Erwartungen und Ansprüche des Publikums von einer bestimmten Perspektive aus eher als Last denn als Herausforderung gesehen werden,
12 Ebda., S. 206. 13 Zit. n. Alemann, Heine von: »Galerien als Gatekeeper des Kunstmarkts. Institutionelle Aspekte der Kunstvermittlung«, in: Jürgen Gerhards (Hg.): Soziologie der Kunst. Produzenten, Vermittler und Rezipienten, Opladen 1997, S. 211-237, insbes. S. 231. 14 Ebda., S. 221.
ÖFFNUNGEN: V OM GEBRAUCH DES B EGRIFFS K UNSTVERMITTLUNG | 31
lässt sich auch aus folgendem Zitat des Kurators Nikolaus Schafhausen15, ablesen: »Es geht darum, einem potenziellen Bildungsbürgertum Bereiche der Kunst vorzuführen, die eben nicht jeder verstehen kann. Das vermittelt sich für diese Rezipientengruppe auch ganz gut, weil sie die Heterogenität der Demokratie voraussetzt. Kunst ist in diesem Kontext nicht dazu da, für das Allgemeinwohl tätig zu sein.«16
Nur indirekt17 problematisiert der Kunstsoziologe Christoph Behnke die widersprüchlichen Ansprüche von Kunstvermittlern und an selbige, wenn er konstatiert, dass »dasjenige, was im Zentrum der professionellen Kunstwelt entwickelt wird, für kein externes Publikum konzipiert« wird. Die Möglichkeit, sich mit Letzterem zu verbünden und auf diese Art die »Autorität Kunst« untergraben zu wollen, entlarvt er als Versuch, »[d]as Verhältnis zwischen Kunstproduzenten und Kunstpublikum der Marktlogik zu öffnen.«18 Behnke geht es darum, die Unvereinbarkeiten der Aneignungsmodi von Insidern und von dem, so von ihm bezeichneten, »Spektakelpublikum« herauszuarbeiten und auf deren unterschiedliche Haltungen zur »Autorität Kunst« hinzuweisen, ohne dabei zwischen ›richtigen‹ und ›falschen‹ Formen der Aneignung zu trennen. Das Spektakelpublikum beurteile das Kunstwerk danach, ob es ihm gefällt oder zu ihm passt. Der Expertenkreis dagegen begegne dem Werk, indem er seine Referenzsysteme aufzuschlüsseln versuche, ohne dabei (und dieses sei Teil der Lust) zu einem Ende zu kommen. Entscheidend für die Reproduktion des hierarchischen Systems, sei aber, so Behnke, nicht allein der gewählte Entschlüsselungscode, sondern die Koppelung dieses Codes mit der Definitionsmacht über Kunst. Ei-
15 Schafhausen war Leiter des Künstlerhauses Stuttgart, Direktor des Kunstvereins Frankfurt und ist derzeit Direktor der Kunsthalle Wien. 16 Schafhausen, Nikolaus: »Kunstvermittlung ist nicht demokratisch«, in: Kunstmuseum Wolfsburg (Hg.): Vermittlungsstrategien von Gegenwartskunst. The Educational Complex, Wolfsburg 2003, S. 95-101, insbes. S. 96. 17 Der hier zitierte Artikel geht zwar nicht direkt auf die Vermittler ein, wendet sich aber an solche, da er in einer Zeitschrift erschien, deren Leser an Kunstschulen lehren oder solche leiten. 18 Behnke, Christoph: »UNTITLED. Über die schwierigen Bedingungen der Kunstrezeption«, in: Kunstschulen verbinden, I-II/2004, S. 4-7, insbes. S. 4.
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ne Demutsgeste gegenüber der Kunst, die er dem Spektakelpublikum zuschreibt, sei mit dieser Definitionsmacht insofern unvereinbar, als sie auf Selbstautorisation beruhe. Zwei unterschiedlich motivierte Demokratisierungsabsichten verweist Behnke damit in ihre strukturellen Schranken: Zum einen würdigt er selbstkritische Versuche von Künstlern, »die gesellschaftliche Isolation aufzubrechen und den distinktiven Kern der Kunstpraxis offen zu legen«. Behnke rekurriert hier auf Vertreter der Konzeptkunst, der Institutionellen Kritik sowie der Kontextkunst19, nicht ohne deren fehlende Einsicht in die tendenziell hermetische Wirkung ihrer Rezeptionsangebote zu bemängeln. Zum anderen warnt Behnke, der grundsätzlich das Anliegen, die Kunst von ihrem Sockel zu holen, billigt, vor einer allzu unschuldigen Haltung. Als Aufhänger dient ihm hier das Buch des Kunsthistorikers Wolfgang Ulrich mit dem programmatischen Titel »Tiefer hängen«. Dessen Versuch, den Wert Kunst in Abhängigkeit zur Nachfrage zu bestimmen und somit die Autonomie der Kunst in Zweifel zu ziehen, kritisiert Behnke als marktkonform. Behnkes Text beruht auf einer funktionsanalytischen Perspektive. Er zeigt, dass Öffentlichkeit für den Kreis der ›Professionellen‹ eigentlich nur als Legitimationshilfe dient, im Rahmen der Produktion aber keinerlei Berücksichtigung erfährt. In seinem Text entzieht Behnke sich weitgehend einer direkten Selbstpositionierung. Auch ignoriert er all jene Entwicklungen und Konzepte von Kunstvermittlern, die sich genau zwischen den von ihm beschriebenen, sich gegenseitig ausschließenden Rezeptionsmustern bewegen. Quer zu solchen funktionalen Trennungen des offiziellen Kunstbetriebs und zu den dazugehörigen Arbeitsteilungen nähert sich der Künstler Ulrich Puritz dem Thema ›Kunstvermittlung und ihre Potenziale‹, indem er fragt, wer sich – nolens volens – an der vermittelnden Praxis beteiligt. Dieses unter der Prämisse, dass die sprachlichen Anteile der Vermittlungsarbeit in der Regel überschätzt werden: »Ich spreche hier über grundlegende Qualifikationen von Künstlern, Kuratoren, Kunst-, Museums- und Sozialpädagogen und vielen anderen Berufsgruppen, die im
19 Behnke nennt folgende (ausschließlich männliche) Künstler Marcel Duchamp, Daniel Buren, Hans Haacke, Michael Asher, Thomas Locher, Fabrice Hybert.
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engeren oder weiteren Sinne mit raumbezogener Vermittlungspraxis befasst sind. Sprachzentrierte Professionen neigen dazu, von räumlichen Bedingungen zu abstrahieren und den Körper im Denken vom Kopf zu trennen.«20
Für Pierangelo Maset stellt sich umso mehr die Frage des Verhältnisses von Kunstpädagogen zu anderen im Kunstsystem operierenden Agenten. Dabei lässt sich in seinen Schriften eine Entwicklung, beinahe ein Umdenken in der Argumentation bezüglich der Funktion von Menschen, die Kunst vermitteln wollen, verzeichnen. In seiner noch stärker in der Bildungstheorie verankerten Schrift »Ästhetische Bildung der Differenz« von 1995 beschreibt Maset die Aufgabenverteilungen im Kunstfeld für die klassischerweise der Kunstpädagogik zugeordneten Personen als entlastend und anspruchsvoll zugleich. Gehe es im ästhetischen Diskurs darum, ästhetische Urteile zu legitimieren und darüber zu entscheiden, was Kunst sei und was nicht, hätten Kunst- und Museumspädagogen einen »offeneren« Zugriff, »nämlich die Kommunikation, Produktion und Reflexion ästhetischer Praxen und Objekte.«21 Unbekümmert von den bohrenden Zweifeln hinsichtlich der Fortexistenz von Kunst,22 gelte es, die diskursive Begründung von Wahrnehmungen zu ermöglichen, seien sie nun offiziell legitimiert oder nicht.23 In dem später erschienenen Buch »Corporate Difference. Formate der Kunstvermittlung« wird die Arbeit von Vermittlern anders bewertet. Eine Änderung in der Argumentation macht sich bemerkbar, wenn es heißt: »Zeitgenössische Kunstvermittlung bedient sich nicht nur künstlerischer Verfahren und Denkweisen, sondern bringt sie auch hervor und wendet sie an; sie erschöpft sich nicht in Dienstleistungen. Eine so verstandene Kunstvermittlung hat sich in den letzten Jahren als neues Paradigma etablieren können, das die Möglichkeit eines ›Dritten Weges‹ eröffnet, der weder den Instrumentalisierungen des vornehmlich ökonomisch orientierten Kunstmarktes noch die Portionierungen der traditionellen
20 Puritz, Ulrich: »ANWESEND: Lebensraum als Bild(ungs)raum«, in: bilden mit kunst (2004), S. 65-80, insbes. S. 79. 21 Maset (1995), S. 38. 22 Ebda., S. 15. 23 Ebda., S. 119.
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Kunstdidaktik beschreiten will und dabei die ›Fortsetzung von Kunst‹ im Blick hat.«24
Auch an anderer Stelle betont Maset deutlich die Notwendigkeit, es nicht allein dem Kunstsystem zu überlassen, was Kunst ist und was nicht. Unter Vermittlungsarbeit wird die »leidenschaftliche Arbeit am Kunstbegriff« in theoretischer und praktischer Hinsicht verstanden. Mit dieser Haltung geht Maset über die Aufforderung zur »Mitschrift am Text, egal an welcher Stelle in der Hierarchie man sich befindet« (Sturm) noch hinaus. Angestrebt wird letztlich Selbstautorisation und Empowerment im Sinne der Arbeit an Parallelsystemen mit eigenen und anderen Wertmaßstäben – solchen, die sich von der bestimmenden Logik des Kunstmarktes, aber auch von Verharmlosungen und »technisch verstandenen Operationalisierungen« pädagogischer Zugriffe absetzen.25 Behnkes Bemühungen gehen dahin, über die illusionären Anteile von Kunstvermittlung aufzuklären. Indirekt macht auch er auf das Konfliktpotenzial innerhalb des Kunstsystems aufmerksam, wenn er betont, dass im professionellen Bereich kein wirkliches Interesse an einem erweiterten Publikum besteht. Die beiden Stellungnahmen von Alemann und Schafhausen illustrieren gewissermaßen diese Ansicht. Obwohl Mörsch durchaus die Machtgefälle unter den Beteiligten bedenkt, zieht sie strukturelle Verwandtschaften zwischen sehr unterschiedlich verankerten Praxen im Kunstfeld und begreift Kunstvermittlung formalistisch als eine Tätigkeit an den Verhältnissen der Agenten untereinander (man könnte hierfür auch den Begriff Beziehungsarbeit geltend machen). Für Puritz bildet das Verhältnis von Sprache und Raum die entscheidende Perspektive auf vermittelnde Prozesse. Emphatisch nutzt Maset den Begriff ›Kunstvermittlung‹, um mit ihm von institutionalisierten Praxen all das abzuspalten, was der Entstehung und Fortsetzung von Kunst abträglich ist und aufzugreifen, was hierfür brauchbar ist oder meist unberücksichtigt bleibt. Zunehmend verbindet Maset mit Kunstvermittlung auch den Anspruch auf die Schaffung von etwas selbstständig Anderem. Im Gegensatz dazu verwendet Sturm den Begriff eher, um auf bestehende Zonen der Überlappung hinzuweisen, die durch
24 Maset, Pierangelo/Reuter, Rebekka/Steffel, Hagen (Hg.): Corporate Difference. Formate der Kunstvermittlung, Lüneburg 2006, S. 2 (Einführung). 25 Maset (2001), S. 16.
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das Netz der systemischen Abgrenzungszwänge hindurch fallen, deren Kennzeichen es jedoch explizit ist, nicht abschließend definierbar zu sein oder einem ›Lager‹ zugeordnet werden zu können. Sie bezeichnet Vermittler als jene, die dazu in der Lage sind, die Spannung in solchen Zwischenzonen so lange aufrechtzuerhalten wie irgend möglich, weshalb sie Ambivalenz zu einem wichtigen Charakteristikum von Kunst, in jedem Fall aber von Kunstvermittlung erklärt.26 An dieser Stelle werden die unterschiedlichen Ausgangspunkte von Maset und Sturm für die Beschreibung dessen, was Kunstvermittlung sein könnte, deutlich: Während Sturm Kunst und Vermittlung mithilfe von Subjekten der Ambivalenz bestimmt, reserviert Maset den Begriff der Offenheit für das Ereignis von Kunst und meint damit eine Unbestimmtheit und eine Unbestimmbarkeit des künstlerischen Prozesses. Die hier dargestellten Äußerungen und Stellungnahmen zum Thema geben ausreichend Anlass zu der Vermutung, dass gerade die Offenheit des Begriffs ›Kunstvermittlung‹ eine Möglichkeit in sich birgt, sich seiner Problematik und Funktion sowie praktischen Bedeutung zu nähern. Dies kann selbstredend nicht geschehen, indem als Erstes durch eine aufgestülpte Präzisierung und Eingrenzung versucht wird, diese Offenheit aus der Welt zu schaffen.27 Herauszufinden ist allerdings, ob es sich tatsächlich um eine Offenheit handelt, die Chancen in sich birgt oder ob es sich um eine Unbestimmtheit handelt, die insofern beliebigen Charakter hat, als sich mit dem Begriff im Einzelfall so unterschiedliche, wenn nicht sogar gegensätzliche Tätigkeiten und Ideen verbinden, dass der Begriff keine Spezifität mehr besitzt. Bisher lassen sich aus den hier vorgestellten Näherungen aber bereits einige Eingrenzungen vornehmen: • • • •
Es geht um Fragen der Partizipation; es geht um bestimmte Formen der Kommunikation; es geht um ein spezielles Verhältnis zu Kunst; es geht weder um Kunstdidaktik, noch um Kunstvermarktung.
26 Sturm, in: Rollig/Sturm (2002), S. 209. 27 Es wird hier – mit Gilles Deleuze gedacht – vorgezogen, vom Problematischen zu den Fragen zu gelangen und nicht den üblichen Weg vom Hypothetischen zum Apodiktischen zu gehen. Vgl. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München 1992 (1968), S. 247-253.
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Neben der Verwirrung, welche die Unklarheit des Begriffs ›Vermittlung‹ hinterlässt (und welche vor allem durch das Ringen darum entsteht, wer den Begriff für sich beanspruchen kann), wird bereits deutlich, dass es vor allem das Verhältnis von Kunst und Vermittlung ist, welches mit brisanten sozialen und politischen Problemstellungen in Zusammenhang steht. Es sind Problemstellungen, die zu einer aufmerksamen Durchdringung im Sinne der Fortsetzbarkeit auffordern – nicht so sehr von Kunst überhaupt, aber von ihrer Wirkung und ihren Möglichkeiten im Rahmen demokratisch/egalitären Zusammenlebens.
Z UM V ERHÄLTNIS
VON
K UNST
UND
V ERMITTLUNG
Wir können bisher so viel sagen: Es ist kennzeichnend für den Begriff ›Kunstvermittlung‹, dass sich viele, die im Kunstsystem tätig sind, durch diesen angesprochen fühlen. Dabei tauchten Interessenskonflikte auf, welche die Zuständigkeit, Reichweite und Ausrichtung der Vermittlungsarbeit betreffen. Außerdem zeigt sich, dass der Begriff ›Kunstvermittlung‹ im Vergleich zum Begriff ›Kunst‹ – dessen bestimmendste Eigenschaft es ist, sich einer endgültigen Bestimmung zu entziehen, weshalb in eine Jahrhunderte lange Tradition der Reflexion eingebettet ist – weitaus jüngeren Datums ist. Die hier genannten Sprecher konnotieren den Begriff ›Kunstvermittlung‹ vorwiegend mit bestimmten Tätigkeiten oder mit Funktionen innerhalb des Kunstsystems. Wie aber ist das Verhältnis von Kunst und Kunstvermittlung bestimmt? Liegt dem Begriff Kunstvermittlung ein bestimmter Kunstbegriff zugrunde? Oder lassen sich die Vermittlungstätigkeiten unabhängig davon beschreiben? Für eine weitere Annäherung an das Phänomen Kunstvermittlung ist es notwendig, dieses Verhältnis zwischen Kunst und Vermittlung zu untersuchen. Zwei Phasen: Vermittlung als nachgeordnete Tätigkeit In der für die 1990er Jahre einflussreichen Zeitschrift ›KUNSTFORUM International – Betriebssystem Kunst‹‚ fasst der Kunstkritiker Thomas Wulffen das Verhältnis von Kunst und Vermittlung wie folgt zusammen: »Vermittlung benennt den weiten Bereich, in dem zeitgenössische Kunst über Bild und Wort die Öffentlichkeit erreicht. Vermittlungsstrukturen sind ein weiteres we-
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sentliches Element des Betriebssystems Kunst, weil in ihnen Kunst jene Präsenz gewinnt, die sie zum integralen Teil der Kulturindustrie werden läßt.«28
Nach diesem reduzierten Verständnis von Kunstvermittlung werden zwei Phasen der Kunst unterschieden: Die Rede ist von einem Zustand, von dem wir nur vermuten können, dass die Kunst noch rein oder unberührt gedacht wird, zumindest aber für sich selbst steht, und einem zweiten Stadium, in dem die Kunst öffentlich wird. Dabei wird sie nach Wulffen zum Bestandteil der Kulturindustrie. Letzterer von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer entlehnte Begriff verheißt in der Regel nichts Gutes: »Die Kulturindustrie kann sich rühmen, die vielfach unbeholfene Transposition der Kunst in die Konsumsphäre energisch durchgeführt, zum Prinzip erhoben [...] zu haben [...]«29, heißt es in der »Dialektik der Aufklärung«. Bei der These Wulffens bleibt die Frage offen, was mit der Kunst während des Übergangs von der ersten zur zweiten Phase geschieht. Was hat es mit dem prä-öffentlichen Stadium der Kunst auf sich? Gibt es ein Öffentlich-werden von Kunst außerhalb der so beschriebenen Kulturindustrie – und damit außerhalb des Konsums? Und wie wären solche Begegnungsformen mit Kunst zu beschreiben, die kein Konsum sind – etwa als ›unvermittelt‹? Mit den Sätzen »Vermittlung ist Anwendung« und »Ohne Anwendung keine Kunst« nimmt Karl-Josef Pazzini eine entgegengesetzte Position ein: Pazzini stellt heraus, dass Kunst substanziell nicht existiere, sondern immer auf eine Rezeption oder eben Anwendung angelegt sei – somit nur relational und in einer Beziehung entstehe. Grundlage dieser Auffassung ist das im Strukturalismus angelegte Verständnis von Sprache und Kommunikation: Dieses geht von der Unmöglichkeit aus, Objekt und Subjekt in getrennte, sich gegenüberstehende Einheiten zerlegen zu können und sucht die bedeutungsstiftenden Faktoren von Kommunikation vielmehr in den Aktualisierungen von Bezügen bzw. in den Gefügen verschiedenster Komponenten einer Kommunikationssituation. Einfacher formuliert: Kunst wird bei Paz-
28 Wulffen, Thomas: »Konzept für eine internationale Kunstausstellung«, in: KUNSTFORUM International. Betriebssystem Kunst, Bd. 125, Jan./Feb. 1994, S. 215f, insbes. S. 215. 29 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Studien Frankfurt/M. 1992 (1944), S. 143.
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zini weder an ein Objekt delegiert (also als einem Werk anhaftend verstanden) noch in einem Subjekt verankert (etwa dem Künstler), sondern Kunst wird als ein Geschehen in einem »intermediären Raum, zwischen Medien und durch Medien« bestimmt.30 »Kunstpädagogik ist vielmehr eine der möglichen Anwendungen der Kunst. [...] An Kunstpädagogik als Beruf sind dabei nicht geringere Anforderungen gestellt als an den Beruf des Künstlers, des Kunstkritikers, des Kunstvermittlers, des Galeristen. Kunstpädagogik ist eine, zudem eine spezifische Form der Anwendung von Kunst, der Wendung an Kunst, der Wendung von Kunst.«31
Pazzini unterscheidet zwar zwischen verschiedenen Anwendungen und stellt sie auf eine gemeinsame Stufe, nimmt aber darüber hinaus keine Spezifikation der unterschiedlichen Anwendungsformen vor. Durch Pazzinis Einsatz hat sich das Problem somit nur verschoben und einen weiteren Namen bekommen: Anwendung. Wenn aber Vermittlung Anwendung ist und Kunst nicht ohne Anwendung, also ohne Vermittlung existiert, was besagt dann die mit den Begriffen ›Kunst‹ und ›Vermittlung‹ implizierte Trennung? Wo hört Kunst auf und wann fängt Vermittlung an? Könnte nach Pazzini der Begriff Kunst zugunsten der Kunstvermittlung aufgegeben werden? In den Formulierungen »Wendung an Kunst« und »Wendung von Kunst« taucht jedoch die Kunst als präexistent und unangewandt wieder auf, wodurch ein Widerspruch zu der These entsteht, Kunst existiere nur als angewandte. An dieser Stelle möchte ich ein älteres Beispiel aus der Kunstgeschichte hinzuziehen, mithilfe dessen sich die Problematik noch einmal aus einem anderen Blickwinkel darstellen lässt.
30 Pazzini, in: bilden mit kunst (2007), S. 40. 31 Pazzini, Karl-Josef: Kunst existiert nicht, es sei denn als angewandte, Vortragsmanuskript,
http://kunst.erzwiss.unihamburg.de/pdfs/kunst_existiert_nicht.pdf
(Mai 2008), S. 2.
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Inhärente Vermittlung: Die Prounen oder »Projekte zur Bestätigung des Neuen« (El Lissitzky) Der russische Maler, Typograf, Architekt, Konstrukteur El Lissitzky (18901941)32 entwickelte zwischen 1920 und 1925 eine Werkserie, deren Teile er Proun33 nannte. Es handelt sich dabei um eine Serie von Graphiken, die Lissitzky in verschiedenen Vorträgen erläuterte. In einem dieser Vorträge heißt es: »Proun verändert die Produktionsformen der Kunst. Er lässt den werkelnden Individualisten hinter sich, der im verschlossenen Kabinett seine Bilder auf der dreibeinigen Staffelei ausführt, von ihm allein begonnen und nur von ihm beendet. Proun hingegen führt in den Schaffensprozess eine Vielzahl von Produzierenden ein, erfasst mit jeder Drehung des Radius ein neues schöpferisches Kollektiv. Die Persönlichkeit des Autors verschwindet in dem Werk, und wir sehen die Geburt eines neuen Stils nicht einzelner Künstler, sondern namenloser Autoren, die gemeinsam das Gebäude der Zeit meißeln.«34
Betrachten wir Proun 1A »Brücke I« von 1919. Zu sehen sind geometrische, zunächst sehr abstrakt wirkende Anordnungen von Formen und Flä-
32 El Lissitzky wurde 1909 als Jude das Kunststudium an der Kunsthochschule in St. Petersburg verwehrt. Er ging daraufhin nach Deutschland und studierte an der Technischen Hochschule in Darmstadt Architektur. Angezogen von der Revolution und von Marc Chagall als Kunsthochschullehrer angeworben, kehrte er zurück nach Russland. Beeinflusst von Kasimir Malewitsch arbeitete er an einer Verräumlichung suprematistischer Bildwelten. Sich von der Malerei abwendend, beschäftigte er sich fortan mit Ausstellungsarchitekturen, Grafik, Möbelbau, Fotografie und Architektur. Lissitzky pflegte weiterhin den Kontakt nach Westeuropa, unternahm u. a. Reisen nach Paris, Berlin und Hannover, wo er seine spätere Ehefrau Sophie Küppers kennenlernte. Aus gesundheitlichen Gründen hielt er sich für Monate in der Schweiz auf. Er unterhielt Freundschaften zu Hans Arp, Kurt Schwitters, Theo v. Doesburg u. a. 33 Proun = Proekt utverzdenija novogo (russ.) = »Projekt zur Bestätigung des Neuen« 34 Lissitzky, El zit. n. Dietmar Elger: »Proun 30t«, in: Kulturstiftung der Länder (Hg.): PATRIMONIA 160, Bonn 2000, S. 8-15, insbes. S. 12.
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chen. Konstruiert man sie mit seinem Auge in einen imaginären Raum, der das Hintereinander von Kuben, Wänden und Balken zulässt, wird eine stadtplanerische Anordnung von Gebäuden erkennbar. Der Titel lässt auf ein architektonisches Modell einer Brücke schließen. Mithilfe dieser Perspektive ist es möglich, sich ein Bild von einer Brücke zu machen, obwohl eigentlich nur eine 8,5 x 15 cm große bemalte Fläche vorliegt. Abbildung 1: El Lissitzky, Proun 1A »Brücke I«, 1919
In späteren Graphiken ist die Referenz auf eine außerkünstlerische Realität– wie hier auch durch den Titel indiziert – nicht mehr so leicht zu ziehen. Die dreidimensional angelegten Elemente sind auf der Fläche so angeordnet, dass die Vervielfachung der Fluchtpunkte die Eindeutigkeit der räumlichen Verhältnisse auflöst. Anders herum veranlasst die Anordnung der geometrischen Elemente den Betrachter dazu, die Perspektive immer wieder zu wechseln. Die Art und Weise, wie die Einzelteile konstelliert sind, erlaubt es, ein Element mal von unten, mal von oben oder auch seitlich zu betrachten. Dabei verändern sich jeweils nicht nur die Dimensionen der Darstellungselemente, sondern auch ihre Größenverhältnisse zueinander: Mal scheint eine Linie an ihrem einen Ende auf einer Fläche verankert zu sein, auf den Betrachter zuzukommen und in den offenen Raum zu zeigen, dann wieder bildet das ›lose‹ Ende den Ausgangspunkt für eine Pendelbewegung, mit der an ihm befestigte Gegenstände in Schwingung versetzt wer-
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den. Betreibt man dieser Art Spiel mit den diversen Möglichkeiten der Perspektivverkehrung, so erweist sich der Sehvorgang als (unsichtbare) Tätigkeit, die in der Lage ist, die angebotenen Formen und Flächen in verschiedenen Räumen anzuordnen, von denen keinem eine privilegierte Stellung zukommt. Dabei kommt das ›Wissen‹ um die perspektivische Ordnung zum Einsatz, denn nur mithilfe dieses Wissens, bzw. dieses eingeübten und kaum abstellbaren Sehvermögens ist es möglich, die verschiedenen Farbflächen der bemalten zweidimensionalen Leinwand in der Vorstellung so anzuordnen, dass ein räumliches Bild entsteht. Folgende von Erwin Panofsky 1974 vorgelegte Definition der Zentralperspektive verdeutlicht das von Lissitzky verwendete Prinzip: »Die Fähigkeit, mehrere Gegenstände mit einem Teile des Raumes, in welchem sie sich befinden, so darzustellen, daß die Vorstellung des materiellen Bildträgers vollkommen durch die Vorstellung einer durchsichtigen Bildebene verdrängt wird, durch die hindurch wir in einen imaginären, die gesamten Gegenstände in einem scheinbaren Hintereinander befassendem und durch die Bildränder nicht begrenzten, sondern nur ausgeschnittenen Raum auszublicken glauben.«35
Deutlich weist der Kunsthistoriker auf die imaginären Anteile dieser Bildwirkung hin und gibt Aufschlüsse über die unmerklich konventionalisierten Formen alltäglichen Bildgebrauchs. Auf der ersten Ebene der Wahrnehmung operieren die Prounen unter Ausnutzung dieser ›Transparenz zentralperspektivischer Darstellungen‹, also dem Blick in einen fiktiv erzeugten Raum.36 1920, also ungefähr zeitgleich zur Entstehung der Prounen
35 Panofsky, Erwin: »Die Perspektive als ›symbolische Form‹«, in: Hariolf Oberer/Egon Verheyen (Hg.): Erwin Panofsky: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1998, S. 99-167. insbes. S. 127. 36 Ob es tatsächlich die ›erste‹ Ebene der Wahrnehmung ist, die von den Prounen angesprochen wird, lässt sich natürlich nicht mit Gewissheit sagen. Hier wird aber davon ausgegangen, dass die im Alltag gebräuchliche und durch kulturelle Prägung eingeübte zentralperspektivische Ordnung des Sehens alle anderen Arten des Sehens in der Regel überformt. Und dass es bei längerem Hinsehen zu einer Korrektur dieser Sehweise kommen kann. An anderer Stelle beschrieb ich diesen Prozess in Anlehnung an die Dekonstruktion als De-kognition. Vgl. Puf-
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schrieb der französische Architekt Le Corbusier: »The work of art is an artificial object which permits the creator to place the spectator in the place he wishes; [...]«37 Entscheidend für das künstlerische Konzept von Lissitzky ist, dass ein Proun ausdrücklich so gemacht und gedacht ist, dass es den Betrachter gerade nicht in eine bestimmte, vorgegebene Position zwingt, von der aus das fertige Werk betrachtet werden kann, sondern vielmehr dem Sehsinn entgegenkommt, der in der Lage ist, von einer Perspektive in eine andere zu wechseln. Die Fixierung des Betrachters auf einen Blickpunkt wird dadurch außer Kraft gesetzt. Je nachdem, mit welcher perspektivischen Einstellung man das Proun betrachtet, verändert sich das ›gemachte‹ Bild. Bei einigen Prounen ist dieser Effekt soweit getrieben, dass es schlechterdings unmöglich ist, alle Elemente eines Bildes zeitgleich in eine einzige räumliche Ordnung zu zwingen. Das Bildangebot erweitert so die drei Dimensionen des Raumes durch die Einbeziehung der Zeit und vermittelt die Wahrnehmungserfahrung, sich in einem virtuellen Raum zu bewegen. Den Begriff ›virtuell‹ verwende ich hier ausdrücklich nicht als Gegensatzbegriff zu ›real‹ (hierfür ist der Begriff ›fiktiv‹ reserviert). Obwohl alltagssprachlich häufig in irreführender Weise verwendet, bezeichnet der ›virtuelle Raum‹ keinen fiktiven Raum, sondern einen Raum, der zwar physisch nicht vorhanden ist, jedoch in seiner Funktionalität und Wirkung existiert. Mit den Prounen wird die Bedeutung des Rezeptionsprozesses für die Entstehung des Werkes betont. Vor dem Hintergrund der Rolle, die dem Bildbetrachter konventionell zugeordnet wird, ist die hier beschriebene Erfahrung als ein Zugewinn an Verantwortlichkeit anzusehen. Durch eine Verlagerung der Aufmerksamkeit werden die dem Betrachter immer schon zukommenden Anteile für die Entstehung von Kunst aufgewertet. Eine Implikation dieser Aufmerksamkeitsverlagerung auf die aktiven Anteile der Rezeption besteht darin, dass die Konzentration auf den Autor oder Hersteller des Bildes relativiert wird. Diese Relativierung beruht auf bildlichen Vorgaben, welche die Bildentstehung absichtsvoll in eine Abhängigkeit zur Haltung, aber auch zur konkreten Handhabung des Bildträgers durch die
fert, Rahel: Das Spiel mit der Referenz. Zur fotografischen Praxis von Cindy Sherman, Magisterarbeit, Universität Lüneburg 1996, S. 19. 37 Jeanneret, Charles Edouard (Le Corbusier)/Ozenfant, Amédée: »Purism« (1920), in: Charles Harrison/Paul Wood (Hg.): Art in Theory. 1900-1990. An Anthology of Changing Ideas, Oxford 1994, S. 237-240, insbes. S. 237f.
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Rezipienten bringen. Tatsächlich könnte man sich beim Betrachten eines Proun dazu veranlasst sehen, das Bild in verschiedene Richtungen zu drehen. Die Entwertung der senkrechten Bildachse war dabei von Lissitzky ausdrücklich gewollt, weshalb er auf einigen Blättern angab, dass sie auch umgekehrt oder von der Seite aufgehängt werden könnten. 38 Ein Proun konzeptualisiert den Rezipienten als jemanden, der den Prozess der Wahrnehmung entscheidend steuert und mitgestaltet. Seine Bewegung und sein Vorstellungsvermögen gehen in den Vorgang der Bildherstellung ein. Die Betrachtung selbst, also das Sehen wird als Tätigkeit aufgefasst. Die Konzeptualisierung des Betrachters als ›Mittäter‹ oder ›Komplize‹ eines Bildgeschehens wendet sich konzeptionell gegen die Rolle, die ihm traditionell zugewiesen war: Passiver oder zumindest auf das Auge reduzierter Empfänger einer vom Künstler gemachten Wahl, eines vollendeten Ausschnittes aus einer Welt, auf deren Darstellungsweise sich Generationen vorher geeinigt hatten. Der Öffentlichkeitscharakter von Kunst Wenn Lissitzky zeigt, dass das künstlerische Ereignis erst durch den aktiven Part des Betrachters zustande kommt, demonstriert er auch, dass die künstlerische Arbeit in ihrer Entstehung auf eine Kommunikation angewiesen ist. Mit den Prounen leitet Lissitzky den Betrachter zu einer bestimmten Art des Sehens an. Er kreiert ein Bild, das zur Analyse des Sehvorgangs, aber auch zu dessen Erweiterung herangezogen werden kann. Gleichzeitig generiert Lissitzky eine Kunsterfahrung, die zur Änderung herkömmlicher eingeübter Rezeptionsweisen auffordert. Aus der Perspektive der Rezeption lässt sich aber ebenso sagen, dass die Realisierung dieser künstlerischen Arbeit von der ›Mithilfe‹ ihrer Rezipienten abhängt. Nur wenn der Rezipient der im Bild verankerten Aufforderung nachkommt und seine Bild- und Raumvorstellungen reflektiert oder auch revidiert (so sie von den Regeln der Zentralperspektive ausgehen), ereignet sich ein Wahrnehmungsereignis, welches unabhängig vom auslösenden Bild und dessen Autor Potenziale freisetzt. Verallgemeinert lässt sich dies folgendermaßen formulieren: In der Art und Weise, wie ein Künstler sein Publikum positio-
38 Baljeu, Joost: »Der neue Raum in der Malerei El Lissitzkys«, in: LissitzkyKüppers (1992), S. 391-393, insbes. S. 393.
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niert, adressiert, involviert, zeichnet sich eine bestimmte Kommunikationsform – meist begleitet durch den spezifischen Einsatz von Objekten – ab. Insofern Kunst in der Regel in öffentlichen Räumen zugänglich und auch auf diese hin konzipiert ist, kann man sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass in einem Kunstwerk ein bestimmtes Öffentlichkeitsverständnis zum Ausdruck kommt. (Obwohl die Bezeichnung »Kunst im öffentlichen Raum« nahelegt, der öffentliche Raum sei ausschließlich der außermuseale Außenraum.) Zwar nicht immer intentional und so durchdacht wie in diesem Beispiel, kann man Kunstwerke auch als Entwürfe öffentlichen Austausches oder öffentlicher Auseinandersetzung lesen. Man könnte nun Vermittlung auch als die Organisation eines Verhältnisses bestimmen. Oder mit Maset als »Einrichtung eines Gefüges«: »Für das Vermitteln ist es nötig, etwas auf seinen Weg zu bringen. Dazu sind bestimmte Strategien notwendig, um etwas für den Betrachter einzurichten. Der Bet39
rachter ist Teil des Vermittlungsgefüges.«
I M K ONFLIKT : K ÜNSTLERISCHE V ERMITTLUNGSWEGE
UND INSTITUTIONELLE
Noch einmal zurück zu den Prounen. In einem Brief aus dem Jahr 1923 schreibt Lissitzky: »Herr so und so, ...Sie fragen weiter, an welche Wand Sie meine Arbeit hängen sollen. Der Fußboden ist mit Teppichen belegt, und an der Decke fliegen modellierte Amoretten umher. Als ich meinen Proun machte, habe ich nicht daran gedacht, eine dieser Flächen mit einem weiteren dekorativen Flecken zu füllen. Sie würden ganz so verfahren, wie es der gesunde Menschenverstand vorschreibt, wenn Sie einen Schrank für diese Dokumente bestellen wollten. Später wird man Etikette daran anbringen: welchem Gebiete menschlicher Betätigung diese Dokumente angehören, in welcher Epoche die-
39 Maset, Pierangelo: »Zwischen Vermittlungskunst und Maschinengefüge: Ästhetische Bildung der Differenz«, in: IGBK (Hg.): Kunst lehren? – Künstlerische Kompetenz und kunstpädagogische Prozesse – Neue subjektorientierte Ansätze in der Kunst und Kunstpädagogik in Deutschland und Europa, Stuttgart 1998, S. 196-205, insbes. S. 203.
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se Dokumente entstanden sind. Sie sagen, wir würden in den Museen an die Wand gehängt? Ich bin aber nicht daran schuld, daß die Museumsdirektoren von der ewigen Unfehlbarkeit ihrer Brillen überzeugt sind und nicht daran denken, eine andere Art des Demonstrierens ausfindig zu machen.«40
Offensichtlich enthält der Brief eine Kritik an den Präsentationskonventionen des Museums. Wie Lissitzky deutlich macht, verschränken sich in einem im Museum zwischen anderen Exponaten präsentierten Proun zwei ›Arten des Demonstrierens‹, die sich gegenseitig ausschließen, so dass die eine die andere ›besiegt‹. Ein für einen Handlungszusammenhang konzipierter Gegenstand wird (bestenfalls) zu einem dekorativen Gegenstand umdefiniert. Das auf die Aktualisierung durch den Betrachter angelegte Proun wird zu einem Dokument der Kultur- oder Kunstgeschichte umformuliert, so die geäußerte Befürchtung. Indem sich die Vermittlungsform ›Museum‹ starr gegenüber dem anderen Rezeptionsmodell zeigt, ist es ihr möglich, dieses zu determinieren, sich dem Konzept sogar aufzustülpen, so dass es negiert wird. Eine Differenz, die Pierangelo Maset an anderer Stelle wie folgt beschreibt: »Vermitteln bedeutet nicht, einen Inhalt für alle Zeiten identifizierbar festzuschreiben, sondern eine Position zwischen dem Betrachtenden und dem ästhetischen Objekt, Konzept oder Ereignis herzustellen.«41
Anhand Lissitzkys künstlerischen Konzeptes und der im Brief angesprochenen Schwierigkeit, dieses zu realisieren, zeigt sich exemplarisch, dass nicht nur im künstlerischen Entwurf eine bestimmte Form der Adressierung enthalten ist, sondern dass Präsentationskontexte institutionalisierte Vermittlungsformen vorgeben (im Gegensatz zu Maset benutze ich den Begriff für beide Formen: die institutionellen und die künstlerischen). Aus dieser Perspektive lassen sich in der Kunstgeschichte Werke, die sich durch ihre Form der Vermittlung an die Institution oder vorgegebene Präsentationskontexte anlehnen, von solchen unterscheiden, die mit dieser Art des Ver-
40 Lissitzky, El: »Aus einem Brief«, in: Lissitzky-Küppers (1992), S. 349f, insbes. S. 349. In der Quelle findet sich keinerlei Angabe dazu, an wen sich dieser Brief richtete. 41 Maset (2001), S. 13.
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mittelns in Widerstreit stehen und nach alternativen Wegen suchen, sich an ihr Publikum zu wenden. Aus den bisherigen Ausführungen können wir folgern, dass der Öffentlichkeitscharakter von Kunst und die Art ihrer Vermittlung nicht nachgängig ist. Vielmehr sind beide dem Kunstwerk insofern inhärent, als ein Werk nicht gedacht und gemacht werden kann, ohne dass auch sein jeweiliger Präsentationskontext berücksichtigt wird. Zwischen Kunst und ihrer Öffentlichwerdung zu trennen wie Wulffen es unternimmt, ist von daher schwerlich möglich. Der Öffentlichkeitsbezug, die Adressierung ist nicht der Kunst zugefügte, zusätzliche Dimension, sondern ein ihr wesentlicher Bestandteil. Oder: Kunst enthält Vermittlung bzw. setzt eine bestimmte Vermittlungsform voraus. Außerdem gibt es Vermittlungswege, die die künstlerische Arbeit unter Umständen verändern und mit der ihr impliziten Vermittlung in Konkurrenz oder Widerspruch stehen. Vermuten können wir an dieser Stelle nur, dass die Entscheidung darüber, ob es sich um Vermittlung oder um Kunstvermittlung handelt, von hier aus getroffen werden könnte.
Stellungen zur Geschichte: Die ›sozialen Absichten‹ der russischen Avantgarde
»Für uns hat das Werk eines Künstlers keinen Wert ›an und für sich‹, keinen Selbstzweck, keine Schönheit; alles dies erhält es nur durch seine Beziehung zur Gemeinschaft. In der Schöpfung eines jeden großen Werkes ist der Anteil des Architekten 1
ersichtlich und der Anteil der Gemeinschaft latent.«
Im letzten Abschnitt diente diese Werkauffassung Lissitzkys dazu, die Vorstellung einer strikten Trennung zwischen Kunstproduktion und nachrangiger Öffentlichkeit, wie sie Thomas Wulffen konstruiert, zu konterkarieren. Lässt sich aber diese in einer zurückliegenden historischen Situation erarbeitete Position überhaupt derart verallgemeinern und zum Ausgangspunkt für eine Analyse gegenwärtiger Vermittlungspraxen unter veränderten Bedingungen heranziehen? Mit anderen Worten: Ist es möglich, sich heute zu jener von Lissitzky angesprochenen »Gemeinschaft« hinzuzurechnen? Die in obigem Zitat zum Ausdruck kommende Autonomie- und Individualitätskritik sowie die darin enthaltene Betrachtung des Werkes als ein gemeinschaftliches Erzeugnis zeigen deutliche Parallelen zu der in den 1990er Jahren wieder verstärkt auf den Plan getretenen Werk- und Autorkritik. Drängen sich Analogien zwischen der historischen Position Lissitzkys und der aktuellen Diskussion geradezu auf, so ist dennoch vor einer anachronistischen Aktualisierung zu warnen. Will man dem historischen Ab-
1
Lissitzky, El, in: »Ideolgogischer Überbau«, in: Lissitzky-Küppers (1992), S. 375f, insbes. S. 375.
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stand zwischen der Entstehung einer künstlerischen Manifestation und ihrer aktuellen Anwendung gerecht werden, scheint Skepsis gegenüber einem unmittelbaren Verstehen angebracht.
D IE M ETHODE
DER DOPPELTEN
H ISTORISIERUNG
Diese Skepsis geschieht nicht von ungefähr. Bisher habe ich für die Interpretation der Prounen meine eigenen Beobachtungen zugrunde gelegt und diese mit Wissen angereichert, welches diese Auslegung bestätigen konnte. Textpassagen verschiedener Herkunft dienten mir dazu, meine optischen Eindrücke mithilfe von zitierten Sprechern der Kunstwissenschaften zu legitimieren. Lässt sich aber das von mir interpretierte Werk für die aktuelle Frage nach der Vermittlung überhaupt anwenden? Das in der Kunstwissenschaft und Ästhetik häufig anzutreffende Verfahren, bei dem subjektive Wahrnehmungserlebnisse unhinterfragt zum Ausgangspunkt für verallgemeinernde theoretische Ableitungen genommen werden, wurde von dem Kunstsoziologen Pierre Bourdieu (1930-2002) scharf kritisiert. Wie Bourdieu in »Die Regeln der Kunst« anhand verschiedener Vertreter der Ästhetik und Kunstwissenschaften zeigt, findet sich unter legitimen Sprechern im Kunstfeld oftmals die Auffassung wieder, dass sich die eigenen Urteile und Entscheidungen über Kunst der Begründbarkeit und Erklärbarkeit entzögen.2 Häufig werden diese Entscheidungen als ›intuitiv‹, ›instinktiv‹ oder auch ›rein gefühlsmäßig‹ und ›subjektiv‹ beschrieben.
2
Beispielhaft ist etwa die Selbstbeschreibung des derzeitigen Leiters des Hamburger Bahnhofs (Berlin), Udo Kittelmann. Der ehemalige Direktor des Frankfurter Museums für Moderne Kunst schreibt über seine Funktion: »Die Liebschaften sind tatsächlich das, was vom Direktor im Museum sichtbar wird. Sie sind seine Passionen und Obsessionen. [...] Und erst wenn sich die Leidenschaft auf die Besucher überträgt, dann kann das Museum auch mit der Zuneigung des Publikums rechnen.« Ders.: »Das Museum, die Sammlung, der Direktor und seine Liebschaften oder von Archiven, Kindern und Verschwörungen«, in: Kunstmuseum Wolfsburg (Hg.): Vermittlungsstrategien von Gegenwartskunst. The Educational Complex, Wolfsburg 2003, S. 68-72, insbes. S. 71. Hier soll dennoch nicht in Abrede gestellt werden, dass bei der Rezeption und Vermittlung künstlerischer Arbeiten persönliche Vorlieben oder auch Geschmacksvorstellungen eine Rolle spielen. Die Frage ist nur, ob sich diese der Besprechbar-
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Letzteres enthalte so Bourdieu, aus Sicht der »gebildeten Klasse« sogar einen berechtigten Kern. In Schichten, in denen Bildung und die dazugehörige Sprache von Kind auf Selbstverständlichkeiten sind, übertrage das Kulturerbe sich quasi osmotisch. Die Vertrautheit im Umgang mit kultureller Produktion und eine unbewusste Beherrschung der nötigen Appropriationsmittel bilde sich »durch einen lang andauernden Umgang als eine unmerklich lange Folge von ›petites perceptions‹ im Leipnizschen Sinne«.3 »Und gerade das trägt dazu bei, die Angehörigen der gebildeten Klasse in ihrer Überzeugung zu bestärken, dass sie diese Kenntnisse, diese Fähigkeiten und diese Einstellungen, die ihnen nie als das Resultat von Lernprozessen erscheinen, nur ihrer Begabung zu verdanken haben.«4
Bourdieu geht es weniger darum, die intensive und ›blitzartige‹ Erfahrungsdimension von sogenannten ›ästhetischen Erfahrungen‹ an sich zu
keit entziehen und man deshalb in der öffentlichen Verständigung darüber auf diese nicht weiter erläuterte ›Übertragung‹ angewiesen ist. Und mehr noch: kann die Analyse eines Gefühls bzw. der Versuch, ein Gefühl mit intellektuellen Möglichkeiten zu koppeln nicht u. U. sogar zu dessen Steigerung führen? Ist (wenn wir es hier so nennen wollen) ›Anziehungskraft‹ nicht auch eng an den Wunsch, verstehen zu wollen, geknüpft? 3
Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1983, S. 182. Leibniz schrieb über die »kleinen Vorstellungen«: »Diese kleinen Vorstellungen haben also mehr Kraft, als man denken sollte. [...] Sie bilden den Geschmack. Sie schaffen ein Etwas, sie lassen von den Beschaffenheiten Bilder entstehen, die einzeln betrachtet nur dunkel, und schwach, mit anderen verbunden sehr klar und lichtvoll sind. [...] Diese kleinen Vorstellungen bestimmen unseren Willen in außerordentlich vielen Gelegenheiten, ohne daß wir es merken und daran denken; [...].« Gottfried Wilhelm Leibniz/Johann Heinrich Friedrich Ulrich/Rudolf Erich Raspe: Philosophische Werke. Nach Raspens Sammlung, (Hendel, 1778), S. 101f, digitalisiert 14. Nov. 2008 (Bayrische Staatsbibliothek).
4
Bourdieu, Pierre: »Wie die Kultur zum Bauern kommt«, in: Margareta Steinrücke (Hg.): Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik. Schriften zu Politik & Kultur 4, Hamburg 2001, S. 14-24, insbes. S. 31.
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leugnen. Gemäß seiner »sozialen Kritik der Urteilskraft«5 wendet er sich allerdings scharf gegen den unkritischen Gebrauch dieser Art von Erfahrungen im kunstwissenschaftlichen Zusammenhang als ein nicht näher zu untersuchendes oder gar inkommensurables Erkenntnismoment. Skeptisch gegenüber der rein subjektiv empfundenen Erfahrung, vor allem aber gegenüber ihrer »Unsagbarkeit«, schlägt Bourdieu vor, zu erklären, wie es zu einer »Horizontverschmelzung«.6 zwischen räumlich und zeitlich getrennten Wahrnehmungsschemata kommen kann. Er unterstellt grundsätzlich, die subjektive Erfahrung universeller Normativität sei eine Illusion und sie sei dazu angetan, Partikularinteressen zu rationalisieren. Damit zielt er auf die von Gadamer herausgestellte Möglichkeit, historische Voraussetzungen hermeneutisch zu überwinden. Bourdieu kritisiert diese Vorstellung einer »Horizontverschmelzung«, weil sie überzeitliche Werte voraussetze. Verloren gehe dabei die Geschichtlichkeit des Textes, wodurch auch die Ausbildung eines kritischen Gegenwartsbewusstseins erschwert sei. Genau die illusionären Anteile solcher »Verwandtschaftsbeziehungen« gelte es aber aufzuspüren, so Bourdieu. Im Zuge dessen entstehe historisches Bewusstsein: »Der subjektive Eindruck, daß eine Aussage zwingend sei, daß sie jedem, der sich die betreffende Frage stellt, die gültige Antwort erteilt, muß durch Rekonstruktion der sozialen Genese der Frage, also ihrer Berechtigung und ihres Sinnes, der sozia-
5
Der Originaltitel von Bourdieus Hauptwerk »Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft«. lautet: »La Distinction. Critique sociale du jugement«. Das heißt, nicht die gesellschaftliche Urteilskraft gerät in Kritik, sondern die Urteilskraft wird aus einer sozialen oder soziologischen Perspektive kritisiert.
6
Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Struktur und Genese des literarischen Feldes, Frankfurt/M. 2001 (1992), S. 486. Die der hermeneutischen Theorie Hans Georg Gadamers entlehnte Bezeichnung »Horizontverschmelzung« steht für die produktive Überwindung eines gegenwärtigen Lesers und eines historischen Textes. Auch sie wird von Bourdieu in ihrem Auftreten an sich nicht in Zweifel gezogen, sondern ihm geht es darum, ihre Verallgemeinerbarkeit anzuzweifeln. Dieses auch, um deutlich zu machen, dass bestimmte Erfahrungen in engem Zusammenhang stehen mit dem kulturellen und Bildungshintergrund der »Leser«.
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len Voraussetzungen ihres Fortbestehens als Frage, also der sozialen Genese des Fragens und des Fragers überprüft werden. Kurz, es genügt nicht, Übergeschichtlichkeit in der unmittelbaren Identifikation mit dem Text (dem Ereignis) zu empfinden, es gilt sie zu beweisen.«7
Um einen ›Beweis‹ antreten zu können, schlägt Bourdieu als Verfahren die »doppelte Historisierung« vor. Dabei wird rekonstruiert, unter welchen Bedingungen das Überlieferte entstand, um dann in einem zweiten Schritt das Ergebnis in ein Verhältnis zu den Bedingungen seiner Anwendung zu stellen. Das heißt, zunächst wird das Einzelwerk eines Produzenten in seinen historischen Zusammenhang eingebettet, um seine Spezifität in Relation zu anderen Produzenten und vor dem Hintergrund der Anforderungen seiner Zeit nachzuvollziehen. Daraufhin wird der Weg zurückverfolgt, den das Werk bis heute ›zurücklegen musste‹, d. h, es wird die Überlieferungsgeschichte rekonstruiert, welche die gegenwärtige Bezugnahme erlaubt, aber auch determiniert. Die von Bourdieu in den »Regeln der Kunst« ausgeführten methodischen Überlegungen enthalten eine Korrektur an seiner, ursprünglich an Erwin Panofsky orientierten Entschlüsselungstheorie. 8 Nach dieser sei »alles Verstehen nach dem Modell des Übersetzens aufzufassen und aus der Rezeption eines beliebigen Kulturgutes ein intellektuelles Dekodieren zu machen, das die bewusste Anwendung von Produktions- und Interpretationsregeln voraussetzt«.9 Im Unterschied zu der Vorstellung eines Übersetzungsvorganges habe der Untersuchende nach Bourdieu in seine Theorie der Wahrnehmung eine Theorie der ursprünglichen Wahrnehmung als »theorie- und begriffslose Praxis« aufzunehmen. Hierfür könne das Erarbeiten eines Interpretationsrasters, welches die Praktiken und Werke erklärt, allenfalls ein Substitut liefern. Bei der Rezeption zeitgenössischer Werke käme eine auf kognitive Vorgänge gestützte Tätigkeit zum Tragen, »die auf einen Erkenntnismodus zurückgreift, der nicht der der Theorie und des Begriffs ist.«10 Bourdieu erläutert:
7
Ebda., S. 487.
8
Gemeint ist hier insbesondere Bourdieu, Pierre: »Elemente zu einer soziologischen Kunstwahrnehmung«, in ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1997, S. 159-201.
9
Bourdieu (2001), S. 491.
10 Bourdieu (2001), S. 492.
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»Verstehen heißt, eine Notwendigkeit nachvollziehen, den Grund für eine Existenz, und zwar dadurch, daß in dem besonderen Fall eines besonderen Autors eine Erzeugungsformel rekonstruiert wird, deren Erkenntnis ermöglicht, die Produktion des Werts selbst in einem anderen Modus zu reproduzieren, seine Zwangsläufigkeit zu erspüren und das jenseits allen empathischen Nachempfindens.«11
Pierre Bourdieus Kritik an den Kunstwissenschaften Bourdieus Vorschläge für eine neu zu gründende »Wissenschaft von der künstlerischen Wahrnehmung« resultieren aus der These, dass universell gehaltene Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster historische Kategorien darstellen würden. Entgegen der Vorstellung einer sich zwingend und unmittelbar einstellenden ästhetischen Wirkung weist Bourdieu darauf hin, dass eine solche Erfahrung auf – wenn auch unbewusst – langfristig erlernten Einstellungen und Werten fuße, die den »Kenner« mit dem Produzenten verbinde12 und von denen trenne, die »nicht die Gelegenheit oder das Glück hatten, die objektiv vom Kunstwerk verlangten Einstellungen zu erwerben.«13 Pierre Bourdieus methodischer Vorschlag kann als Konsequenz seiner durch zahlreiche Studien und Untersuchungen belegten Erkenntnis verstanden werden, dass das Kunstsystem und die darin verbreiteten Theorien (ob wissenschaftlich abgesichert oder alltagssprachlich) dazu tendieren würden, die sozialen und ökonomischen Bedingungen von Kunst und ihrer Rezeption zu leugnen. Wie Bourdieu in »Die feinen Unterschiede. Eine gesellschaftliche Kritik der Urteilskraft« zeigen konnte, greift insbesondere die Abspaltung des ästhetischen Urteils von den Zwängen und Nöten der natürlichen wie sozialen Umwelt auf ein ethisch fundiertes Normensystem zurück (frei gewählte Distanz, Sublimierung alles Triebhaften, Abwendung vom Allgemeinen und Alltäglichen). Dadurch würden zur Affirmation der Überlegenheit diejenigen beigetragen, »die sich sublimierte, raffinierte, in-
11 Ebda., S. 747. 12 Bourdieu macht in diesem Zusammenhang deutlich, dass die romantische Vorstellung der unmittelbaren Übertragung sich auch deshalb so lange hält, weil sie dem Interpreten das Gefühl gibt, an der ›Schöpfung‹ beteiligt zu sein, so dass die Interpretation selbst als schöpferische Tätigkeit angesehen wird. Vgl. ebda., S. 475. 13 Ebda., S. 455.
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teresselose, zweckfreie, distinguierte, dem Profanen auf ewig untersagende Vergnügen zu verschaffen wissen.«14 Dieses sei der Grund, weshalb »Kunst und Kunstkonsum sich – ganz unabhängig vom Willen und Wissen der Beteiligten – so glänzend eignen zur Erfüllung einer gesellschaftlichen Funktion der Legitimierung sozialer Unterschiede.« 15 Zur Anwendung der doppelten Historisierung Inwiefern könnten Bourdieus Forschungen nun für das formulierte Anliegen, mehr Klarheit in die Vermittlungspraxis und -theorie zu bringen, zuträglich sein? Aus meiner Sicht kann bis hierher folgender Schluss gezogen werden: Wer Kunst und ihrer Vermittlung eine emanzipatorische Funktion zuschreibt, muss sich vorsehen, nicht unbeabsichtigt einer Tradition zuzuarbeiten, die in eine dem eigenen Vorhaben entgegengesetzte Richtung weist. Will man die distinktive Logik des Kunstsystems durchqueren – wie es gerade in Kunstvermittlungsansätzen ein oft formulierter Anspruch ist –, scheint es notwendig, sich immer wieder mit den Kategorien, die der eigenen Wahrnehmung zugrundeliegen, auseinanderzusetzen.16 Um Kunst zu vermitteln, ist es hiernach notwendig, zumindest ein Bewusstsein über die eigenen Geschmacksentscheidungen zu erlangen, sich also mit den eigenen Lernerfahrungen zu befassen. Und sich damit über jenes ›selbstverständliche‹ Wissen klar zu werden, welches gerade nicht erlernt, sondern unkritisch übernommen wurde, ohne dass je eine Entscheidung für oder gegen dessen Aneignung gefällt wurde. Im vorliegenden Fall scheint mir die Methode der doppelten Historisierung zudem schon deshalb sinnvoll, weil jener in den Prounen zum Ausdruck kommende Kunst(vermittlungs)begriff nicht von dem Hintergrund der Aufbruchstimmung des nachrevolutionären Russlands zu lösen ist – und
14 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, Frankfurt/M. 1991 (1979), S. 27. 15 Ebda. 16 Diese Art von Offenlegung hat selbstverständlich ihre Grenze. Doch eben um das Erkennen solcher Grenzen, also um die Steigerung des Bewusstseinsgrads über die eigene Wahrnehmung geht es. Und: Nur wenn ein solches BewussterWerden stattfindet, vermag auch ein Zuwachs an Wissen über die Grenzen von Bewusstheit zu entstehen.
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damit von politischen Implikationen und Rahmenbedingungen, die Analogien zur gegenwärtigen Situation nicht umstandslos nahelegen. Um den bisher nur skizzierten Werk- und Kunstbegriff Lissitzkys zu kontextualisieren, werden deshalb in Orientierung an Bourdieus Konzept der doppelten Historisierung im Folgenden zwei Schritte unternommen: Zuerst soll Lissitzkys Kunstbegriff und -praxis anhand Quellenmaterialien und Quellenforschungen in ein Verhältnis zu seinen historisch-politischen Voraussetzungen und seinem sozialen Umfeld gesetzt werden. Dabei richte ich mein Augenmerk insbesondere auf die im engeren Sinne kunstpolitische Debatte russischer Avantgardisten und versuche, jene Problemfelder herauszuarbeiten, die für die Vermittlungsfrage relevant sind. Bei dieser Annäherung geht es ausdrücklich nicht um einen Rekonstruktionsversuch. Das In-Beziehung-Setzen zu den anderen markanten Stimmen und Werken versteht sich als eine Fortschreibung autonomiekritischer Ansätze, wie sie in der Kunstsoziologie neben Pierre Bourdieu auch von anderen Autoren (z. B. Arnold Hauser) vorgelegt wurden. Das Verständnis von Kunst als ›fait social‹ (Émile Durkheim) wird hier zur Grundlage genommen. Die Besonderheit einzelner Produzenten und ihrer Arbeiten soll nicht länger isoliert betrachtet, sondern in die Vielheit von verschiedenen Stimmen eingearbeitet werden. Wird auf diese Weise die einzelne Arbeit als Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen sympathisierenden und im Wettstreit befindlichen Akteuren verstehbar, so lässt sich vor diesem Hintergrund umso besser die spezifische Eigenheit eines Autors herausarbeiten. In einem zweiten Schritt geht es darum, diese Historisierung zu historisieren und so eine Brücke zwischen der historischen Zeit der Produktion und der gegenwärtigen Zeit der Rezeption zu schlagen. Wie wurden die in der ersten Historisierung erarbeiteten Kunstbegriffe und damit die jeweiligen Vermittlungskonzepte durch die in der Folge stattfindende Rezeptionsgeschichte tradiert, bewertet oder auch umgewertet? Hiervon verspreche ich mir eine Erklärung für die bisher noch spärlich ausfallende Berücksichtigung der russischen Avantgarde in der aktuellen Kunstvermittlungsdiskussion. Dahinter steht die Vermutung, dass die in den 1990er Jahren diskutierten Fragstellungen eine Geschichte mit sich führen, die sich insbesondere für die Fundierung und Stärkung aktueller Vermittlungspraxen anbietet. Letztlich beabsichtige ich, mit der hier vorgenommenen doppelten Historisierung einen Beitrag zu leisten, der sich jenen Problemen und Formen
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stellt, die seit den 1990er Jahren das Thema Vermittlung zu neuer Aufmerksamkeit geführt haben. Damit sind grundsätzliche Fragen verknüpft: Wo finden sich Überschneidungen zwischen Kunst und ihrer Vermittlung? Inwiefern ist Kunst erlernbar? Welches sind die institutionellen Rahmenbedingungen für die Kunstproduktion? Welche außerinstitutionellen Formen der Kunstproduktion und -vermittlung hat sich die Kunst erarbeitet und warum? Welchen Stellenwert hat die Vermittlung im Kunstsystem?
K ONTEXTUALISIERUNG : E RSTE H ISTORISIERUNG History is a special method of studying the present with the aid of the facts of the past. BORIS EICHENBAUM 17
Es mag aus heutiger Sicht – einer Sicht, die es gewohnt ist, vom Ende her zu urteilen – schwer fallen, sich in eine Situation und Stimmung hineinzudenken, die in vieler Hinsicht die Eröffnung von neuen Möglichkeiten und die Chance auf umwälzende Veränderung verspricht. Zwar sind auch heute tief greifende gesellschaftliche Veränderungen zu bezeugen. Nur schwerlich lassen sich allerdings derzeitige Reformmaßnahmen mit dem Zuwachs an Emanzipation Vieler in Verbindung bringen, ob nun in Deutschland, Europa oder in internationalen Institutionen. Umso mehr ist vor einer identifikatorischen Haltung zu warnen, die in nostalgischer Manier im Vergangenen lediglich das sucht, was der Gegenwart fehlt und den Blick in die Geschichte benutzt, um durch falsche Analogien der Komplexität zeitgenössischer Problemlagen zu entkommen. Die fehlende Übereinstimmung mit den emphatischen Erwartungen an die Zukunft, wie sie für die russische Avantgarde und insbesondere die Futuristen kennzeichnend ist, kann insofern durchaus von Vorteil sein. Die Schwierigkeit der Identifikation dient dem Rezipienten dann, wenn sie als hilfreicher Abstandhalter im Prozess des Verstehens begriffen wird.18 Neben zeitlichem Abstand und geografi-
17 Eichenbaum, Boris, zit. n. Maria Gough: The Artist as Producer: Russian Constructivism in Revolution, Berkeley, Los Angeles 2005, S 192. 18 Mangel an Empathie oder gar Sympathie zu Akteuren, deren Positionen im gesellschaftlichen Raum und deren Verhaltensweisen der eigenen fern und fremd
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scher Ferne trägt die Fremdsprache oder – wie in dem Fall der vorliegenden Untersuchung – die Angewiesenheit auf Übersetzungen zur zusätzlichen Verunsicherung bei. In der bewussten Absicht, eine größtmögliche Annäherung zu vollziehen und nicht etwa mit dem Anspruch, etwas Vergangenes wiederherzustellen, wird hier versucht, die Entstehungsbedingungen von Kunstbegriffen zu rekonstruieren. Ausgangspunkt hierfür war Lissitzky und sein Kunst(vermittlungs)verständnis. Vom Interesse an diesem Autor geleitet, führte der Weg zu einer Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in der sich Künstler, Musiker, Wissenschaftler, Theaterleute und Schriftsteller in der historisch einmaligen Lage befanden, die Umstrukturierung der Kunstproduktion und -distribution in all ihren Aspekten – also konzeptionell, sozial, rhetorisch, materiell, technisch, pädagogisch und administrativ – neu zu denken und ›praktisch‹ erproben zu können. Hier bestätigte sich insbesondere die Relevanz der Problematik der Vermittlung. In Allianz mit der Macht: Kulturpolitische Voraussetzungen Wie die Kunsthistoriker Hubertus Gaßner und Eckhardt Gillen herausstellen, wurden die Weichen für die organisatorischen Rahmenbedingungen und für die außergewöhnliche kulturpolitische Stellung einer jungen Generation von russischen Künstlern, zu denen auch Lissitzky gehörte, bereits vor der Oktoberrevolution geschaffen.19 Dabei spielte eine zunächst noch unter dem Namen ›Futuristen‹ auftretende Gruppe von Literaten, Künstlern und Theoretikern eine einflussreiche Rolle.20
sind, ist vielleicht sogar die beste Grundlage, um deren Praxis in ihrer Notwendigkeit zu erklären. 19 Vgl. Gaßner, Hubertus/Gillen, Eckhart: Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten in der Sowjetunion von 1917 bis 1934, Köln 1979, S. 31. 20 Nicht zu verwechseln mit dem italienischen Futurismus, bezeichnete der Begriff im damaligen Sprachgebrauch »alle linken Tendenzen der Kunst«, wobei mit ›links‹, wie Nicolai Punin 1923 klarstellte, keine spezifisch politische Position gemeint war, sondern »der Begriff ›links‹ die Ästhetisierung der Politik wie auch die Politisierung der Ästhetik reflektiert«. Gaßner/Gillen (1979), S. 39.
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Die Schließung der Kaiserlichen Russischen Akademie am 23. Februar 1917 hatte zur Folge, dass sich Künstler in unterschiedlichsten Vereinigungen zusammenfanden, um über die Funktion der Kunst in einer neu zu strukturierenden Gesellschaft und insbesondere über die Einführung und Leitung der neuen Institutionen zu debattieren. Gute Chancen hatte der Kunsthistoriker und Künstler Alexander Benois, der als einflussreicher Vertreter der Traditionalisten die Etablierung und Leitung eines neuen Ministeriums der »schönen Künste« anstrebte.21 Benois, dessen Interesse vor allem dem Denkmalschutz und der Bewahrung zaristischer Kunstschätze galt, hatte sich bereits in der Vergangenheit in offizieller Funktion als Widersacher der Futuristen erwiesen. Angesichts seines erneuten Machtanspruchs regte sich Widerstand in den Künstlerfraktionen unterschiedlicher politischer Lager und so entstand noch während der provisorischen Regierungszeit der Plan, einen Künstlerdachverband zu gründen und die verschiedenen Funktionen des Ministeriums in Selbstverwaltung zu übernehmen. In dieser Situation formierte sich eine Föderation des »linken Blocks« 22 (mit Wladimir Majakowski, Nathan Altman, Nicolai Punin, Osip Brik u. a.), die unter dem Namen Freiheit der Kunst die Interessen der jungen Avantgarde und der Futuristen vertraten. Im Vorfeld der Versammlung, die zur Gründung des Dachverbandes führen sollte, veröffentlichte die Föderation einen Aufruf: Im Sinne einer »demokratischen Kunst« forderten sie die Einbeziehung aller Künstler und – explizit genannt – aller Künstlerinnen: »Auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen, direkten, Verhält-
21 Alexander Benois (1879-1960) war außerdem angesehener Hauptkunstkritiker der Petersburger Tageszeitung Retsch (»Rede«) und schrieb seit November 1908 monatliche Besprechungen von Kunst- und Theaterereignissen. Benois war Gründungsmitglied und ideologischer Führer der Künstlervereinigung Mir iskusstva (»Welt der Kunst«), die sich der Förderung des Symbolismus in Russland verschrieb. 1926 wanderte Benois nach Frankreich aus, wo er sich vor allem mit Theaterdekorationen und seinem Engagement für das moderne »Ballets Russes« einen Namen machte. 22 Des Weiteren sprach man von einem »unparteilichen Zentrum« und einem »aktiven Block«, dem die »Rechten«, also die konservativen Vertreter zuzuordnen waren.
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niswahlrechts, ohne Ansehen der Geschlechter«23 solle über die Zukunft des künstlerischen Lebens in Russland entschieden werden. Da damit ausdrücklich auch jene Künstler gemeint waren, die sich noch im Bürgerkrieg befanden und deren Einbeziehung schwerlich abgelehnt werden konnte, verzögerte sich die Grundsteinlegung für die neue kulturpolitische Organisationsstruktur. Für die zahlenmäßig unterlegenen Futuristen bedeutete dieser Zeitgewinn die Chance, ihre Vorstellungen öffentlich zu verbreiten. Eine Debatte über die inhaltliche Ausrichtung des Verbandes entfachte. Drehund Angelpunkt der nun beginnenden Auseinandersetzungen waren das jeweilige Autonomieverständnis der wettstreitenden Fraktionen und damit eng verbunden die Bewertung politischer Einflussnahme auf die künstlerische Freiheit. Dabei wurde deutlich, dass sich mit der von der jungen Föderation geforderten Freiheit der Kunst nicht wie für die konservativen Vertreter die völlige Enthaltsamkeit von gesellschaftlichem Engagement oder tagespolitischen Fragen verband. Eine demokratische Kunst anvisierend wandten sich die Futuristen sich sogar dezidiert an die Öffentlichkeit, indem sie den direkten Kontakt zu Arbeitern und Angestellten suchten. In der Tat engagierten sich insbesondere diejenigen Mitglieder der Föderation, die später aktiv die Produktionskunst24 entwickelten, ab März 1917 in zwei unabhängigen Vereinen, um sich revolutionären Organisationen und Parteien als ›Dienstleister‹ anzubieten und bei der Gestaltung und Formulierung ihrer Proklamationen mit künstlerischen Mitteln behilflich zu sein.25 Das Eintreten für eine ›von Politik freie Kunst‹ (Majakowski) lässt sich unter den Vorzeichen der sich anbahnenden erneuten ›Ministerialisierung‹ daher vor allem als Abwehr gegenüber einer bestimmten Politik verstehen: der erneuten Reglementierung durch staatliche Institutionen und der Einflussnahme jener Fraktionen, von denen eine wertkonservative und der Kunst der Vergangenheit verpflichtete Kulturpolitik zu erwarten war. Alternativ zu den bisherigen Strukturen sprach sich die Föderation des linken Blocks im Sinne von ›Selbstverwaltung und Selbstbestimmung‹ für die Abschaffung staatlicher Kontrolle, völlige Dezentralisierung des Kunstlebens
23 »Aufruf der Föderation ›Freiheit der Kunst‹ « (1917), in: Gaßner/Gillen (1979), S. 40. 24 Gemeint sind O. Brik, B. Kusner, W. Majakowski, A. Rodtschenko und V. Tatlin. Der Begriff »Produktionskunst« wird weiter unten erläutert. 25 Gaßner/Gillen (1979), S. 34.
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und Autonomie aller Institutionen und Gesellschaften aus, die von den städtischen Behörden finanziert werden sollten. Zudem forderten sie, die Akademien abzuschaffen und durch Kunsthochschulen zu ersetzen, die auch für die Erziehung von Kunstlehrern verantwortlich sein sollten. Angestrebt wurde der Wechsel von einem System der Patronage zu öffentlicher Unterstützung in Form von Zuweisungen und Förderungen.26 Arbeit an der Institution – Instanzen der Vermittlung Nach mehreren erfolglosen Kooperationsangeboten des Kommissariats der Bolschewistischen Partei rangen sich die ›Linken‹ schließlich schrittweise dazu durch, mit der neuen Regierung zusammenzuarbeiten. Ein Schritt, der vor dem Hintergrund ihres Unabhängigkeitswillens zunächst widersprüchlich scheint. Zwar sympathisierte der von den Bolschewisten beauftragte Kommissar Anatoli Lunatcharski (Amtszeit von 1917-1929) mit der »äußersten Linken« unter den Künstlern. So schätzte er sie in einer nachträglichen Stellungnahme »nicht nur revolutionärer im Sinne des künstlerischen Suchens, sondern auch im Sinne der politischen Tendenz« ein.27 Jedoch wertete Lunatscharski die Neigung der ›Linken‹, »der Sowjetmacht bestimmte Bedingungen zu diktieren, bei deren Erfüllung die Künstler nur bereit waren, mit der ›selbsternannten Macht‹ in einen bestimmten Kontakt zu treten« als »absolut unannehmbar«. Lunatscharski unterstützte die jungen Künstler, Schriftsteller und Theoretiker, obwohl er »oft sowohl die theoretischen Fehler [...] als auch die praktischen« sah, weil er es aufgrund der politischen Lage für notwendig hielt, »die Sympathie der Jugend zu gewinnen und sich auf sie stützen und ihre Reihen vor allem aus dem Proletariat und Halbproletariat aufzufüllen.«28 Sich der Interessensdivergenzen bewusst, werteten die Futuristen die Übernahme von administrativen Aufgaben in der Regierung offenbar dennoch als Chance, sich im ideellen Richtungskampf gegen eine Wiederaufnahme alter Strukturen unter neuen Vorzeichen durch die Kustoden zu be-
26 Ebda., S. 33. 27 Lunatscharski, Anatoli V.: »Über die Abteilung für Bildende Kunst« (um 1920), zit. n. Gaßner/Gillen (1979), S. 41f., insbes. S. 41. 28 Ebda., S. 41f.
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haupten (gemeint war damit aus ihrer Sicht der Kreis um Benois).29 Ebenso wird die Möglichkeit, sich materielle Existenzbedingungen zu sichern und eine praktische Arbeitsgrundlage zu schaffen, zu dieser Entscheidung beigetragen haben. Denn zu bedenken ist, dass ein großer Versorgungsmangel herrschte. Das betraf Nahrung und Bekleidung, aber eben auch Papier zum Drucken, Farben, Pinsel, etc.30 Obwohl die Futuristen auch in der Folge massiven Angriffen von Seiten der konservativen Künstler sowie anderen kulturellen Interessensgruppen (Proletkult, Kulturkommissionen der Arbeiter- und Bauerndeputiertenräte) ausgesetzt waren, erlaubte die offizielle Unterstützung und Rückendeckung durch Lunatscharski es ihnen, im Frühjahr 1918 mit der Umsetzung und Weiterentwicklung ihrer Vorstellungen zu beginnen. Zumindest für die folgenden Jahre gilt, dass sich eine enorme Produktivität unter den Künstlern entfaltete. Ermutigt und euphorisiert durch die Oktoberrevolution und noch relativ uneingeschränkt durch politische Vorgaben oder Reglements beteiligten sie sich an dem Experiment einer kompletten Neuordnung gesellschaftlichen Lebens.31 Folgende Über-
29 Vgl. Gaßner/Gillen (1979), S. 35. 30 Vgl. Ebda. S. 32. 31 Diese Einschätzung ist durch rückblickende Aussagen von Tatlin, Rodtschenko und Lissitzky belegt. Der Komponist Artur Lure kommentiert diese Phase später wie folgt: »[...]Thanks to support shown to us by the October Revolution, all of us – innovators and experimentalists – were taken seriously. [...] We were given complete freedom in our field to do everything we wanted; it was the first time in history that there had been such an opportunity.« Zit. n. Lodder, Christina: Russian Constructivism. The Revolutionary Experience: From the Studio into the Street, New Haven/London 1983, S. 48-50. Ähnlich wie Lodder widerspricht auch Victor Margolin der Einschätzung, die russische Avantgarde hätte sich an Leitlinien der Bolschewistischen Partei orientiert. Vgl. Margolin, Victor: The Struggle for Utopia: Rodchenko Lissitzky Moholy-Nagy 1917-1946, Chicago/London, 1997, S. 11. Eine Erklärung für das erstaunliche Maß an Freiheit, welches gerade den jungen Künstlern in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution gewährt wurde, liefert Jaroslav Andel, wenn er darauf hinweist, dass der Bürgerkrieg alle Energien der politischen Führung band. Vgl. Andel, Jaroslav »The Constructivist Entanglement: Art Into Politics, Politics Into Art«, in: Walker Art Center (Hg.): Art into Life: Russian Constructivism 1914-1932, New York 1990, S. 223-239, insbes. S. 228.
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sicht der Aktivitäten kann dieses außergewöhnliche Engagement veranschaulichen: Während der Jahre 1918-20 stellte das Museumsbüro unter der Leitung von Alexander Rodtschenko 1.926 Arbeiten von 415 Künstlern (und Künstlerinnen) zusammen. Er organisierte die Einrichtung von 30 Museen in Provinzstädten, die noch einmal 1.211 Arbeiten zur Schau stellten. Elf Kollektive bildeten sich, darunter »Agitposter«, die »Gesellschaft Junger Künstler« und das »Malerei, Skulptur und Architektur Kollektiv«. Aber damit nicht genug: Die Abteilung für Kunst und Produktion tätigte Atelierbesuche, besorgte Gelder und revitalisierte Kunstgewerbewerkstätten, die im Krieg zum Stillstand gekommen waren. Die Kunstabteilung (IZO) des »Kommissariats für Volksaufklärung« zu deren Mitgliedern u. a. Wladimir Tatlin, Kasimir Malewitsch und Wassily Kandinsky gehörten, organisierte im gleichen Zeitrahmen 28 Ausstellungen, die prinzipiell jedem ein Ausstellungsrecht zusprachen. Schließlich wurde an der Umwandlung der ehemaligen Akademien in Kunsthochschulen, der Organisation von Ausschreibungen und Wettbewerben und der theoretischen Fundierung der neuen künstlerischen Kultur gearbeitet. 32 Kaum hatten sich die Futuristen in verantwortlichen Posten in Petrograd, Moskau und Vitebsk eine starke Stellung verschafft, wurde ihre Vormachtstellung in Hinblick auf die Verbreitung künstlerischer Werte (beispielsweise, die Ankaufpolitik zu bestimmen oder die künstlerische Erziehung zu leiten) durch Lunatcharski wieder eingedämmt. Der Kulturfunktionär zeigte sich nun auch den Traditionalisten gegenüber offen: Sie bekamen ein zweites Kollegium »für Museumsangelegenheiten und den Schutz der Kunst- und Altertumsdenkmäler« unter Leitung des schärfsten Widersachers der Futuristen, Benois, zugewiesen. Die Gründung einer Künstlergewerkschaft, die verschiedenste Fraktionen und Kunstrichtungen organisierten und die Reorganisation des NARKOMPROS (»Kommissariat für Volksaufklärung«) im Jahr 1920/21 leiteten den allmählichen Verlust institutioneller Macht der Futuristen ein. Sukzessiv übernahmen Verwaltungsbeamte ihre Posten.33 Nach anfänglichen Schlichtungsversuchen von offizieller Seite ging man offenbar dazu über, die äußerst scharf geführten Debatten, die zwischen Traditionalisten, Parteinahen und ›Linken‹ über die richtige Kunstpo-
32 Lodder (1983), S. 49. 33 Vgl. Gaßner/Gillen (1979), S. 39.
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litik ausbrachen, mit anderen Mitteln zu kappen. Die erste Zeitschrift der IZO Iskusstvo kommuny (»Kunst der Kommune«), in der vor allem die intellektuellen Sprachrohre der ›Linken‹ wie Brik, Punin, Altmann und Boris Kusner die Gelegenheit wahrnahmen, die Programmatik der Futuristen zu veröffentlichen und zu diskutieren, wurde im April 1919, ein gutes Jahr nach ihrer Gründung, verordnetermaßen eingestellt. Die formulierte Überzeugung der Futuristen, »den einzig richtigen Weg für die Entwicklungslinie der allgemeinmenschlichen Kunst«34 eingeschlagen zu haben und ihr Ansatz, allen anderen Fraktionen einen zeitgemäßen Kunstanspruch abzusprechen, wurde mit Einschränkungen ihrer Machtbefugnisse und der polemischen Abqualifizierung ihrer Arbeit beantwortet. Ähnlich ›besorgt‹ zeigte sich die Partei über die sich parteiautonom organisierenden Proletkultgruppen. Hervorgegangen aus den Petrograder Fabrikräten beharrten diese auf der eigenständigen Ausarbeitung einer sozialistischen proletarischen Kultur. Seit 1918 hatte Lunatscharski auch die Proletkultler trotz ihrer autonomen betrieblichen Organisationsstruktur mit großzügigen Subventionen gefördert. 1920 beschloss das Zentralkomitee (ZK) durch Weisung von Lenin, dieser basisorientiert-pluralistischen Bewegung ein Ende zu setzen. Sie unterstellten die Arbeit des Proletkults der zentralen Leitung einer »Gouvernementsabteilung für Volksbildung« und damit »Personen, zu denen die Partei größtes Vertrauen hegt«. Gerechtfertigt wurde diese Entscheidung mit der Begründung, »sozial fremde Elemente« nähmen Einfluss auf die Arbeiter.35 Geschickt bediente man sich hier des Antielitarismus der Proletkulte, um entstehende Allianzen zu den Futuristen in ihre Schranken zu weisen: »Gruppen und Grüppchen von Intellektuellen nötigen unter dem Anschein ›proletarischer Kultur« den fortgeschrittenen Arbeitern ihre eigenen halbbourgeoisen philosophischen Systeme und Phantastereien auf.«36 Parallel zu den organisatorischen Tätigkeiten und der Arbeit an einer veränderten Struktur zu Verbreitung und Aneignung von Kunst entwickelten die Künstler ihre im engeren Sinn künstlerische Arbeit weiter. Ihr Arbeitsfeld verlagerte sich nun zunehmend an die Ausbildungsinstitutionen.
34 Gaßner/Gillen (1979), S. 37. 35 »Über die Proletkulte. Brief des ZK der RKP (B)« (1920), in: Gaßner/Gillen (1979), S. 63f, insbes. S. 64. 36 Ebda., S. 63.
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Was im Rahmen von öffentlichen Debatten, Ausstellungen, Vorträgen und schriftlichen Statements, durch die Verbreitung von Flugblättern und die Herausgabe von Zeitschriften (wie Weschtsch. Objet. Gegenstand oder LEF37) in der Folge zur Diskussion stand, war, auf welche Art sie sich als Künstler im sozialen Veränderungsprozess integriert wissen wollten. Abbildung 2: »LEF« Nr. 2 (Titelseite), 1924, Entwurf von Alexander Rodtschenko mit einer Grafik von Ljubow Popowa Abbildung 3: El Lissitzky, Briefkopf der Zeitschrift »Gegenstand«, 1922
Bestand im engeren Kreis der Futuristen und Suprematisten weitestgehend Einigkeit darüber, mit der hegemonialen Stellung der Malerei des 19. Jahr-
37 LEF (Levyi Front Iskusstv = »Linke Front der Künste«) wurde 1923 von Majakowski und Brik herausgegeben und erschien bis 1925. Unter dem Namen Novyi LEF (»Neue LEF«) erschienen weitere Ausgaben von 1927 bis 1929 (jetzt unter maßgeblicher Beteiligung von Tretjakow). Mit LEF verbindet sich nicht nur die Zeitschrift, sondern ebenso eine Assoziation von Künstlern, Dichtern, Literaturwissenschaftlern, die den Konstruktivismus in Richtung Produktivismus weiterentwickelten. LEF ist auch ein Ergebnis der engen Zusammenarbeit von den Wegbereitern des russischen Formalismus und den futuristischen Dichtern. Insbesondere Majakowski war schon früh mit der Moskauer Linguisten-Gruppe um Roman Jakobson bekannt. Er begründete LEF auch, um deren Untersuchungen zu publizieren. LEF versammelte visuelle und/oder Textbeiträge von B. Arwatow, I. Babel, O. Brik, N. Chuzhak, S. Eisenstein, A. Gan, A. Gastew, W. Majakowski, B. Pasternak, L. Popowa, A. Rodtschenko, Viktor Schklowski, S. Tretjakow, W. Stepanowa, D.Vertow.
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hunderts, dem Hermetismus von l‘art pour l‘art, Akademismus, Symbolismus und Ästhetizismus zu brechen, zeichneten sich schnell Kontroversen darüber ab, wie der Stellenwert der von Künstlern entworfenen Gegenstände zu bewerten sei. Welche Funktion sollte den Artefakten im Prozess gesellschaftlicher Veränderung zugesprochen werden? Problemfelder der Vermittlung In den überlieferten Schriftdokumenten dieser frühen Phase lassen sich verschiedene Problemfelder ausfindig machen, um welche die Diskussionen kreisten und durch deren Bearbeitung sich die Kunstbegriffe der Futuristen konturierten und differenzierten. Im Folgenden konzentriere ich mich auf drei Problemfelder: Künstlerselbstverständnis, Verständlichkeit und künstlerische Tätigkeit. Diese Systematisierung erhebt nicht den Anspruch, die Debatten erschöpfend zu behandeln oder zusammenzufassen. Weder soll über die tatsächliche inhaltliche Verzahnung der drei Problemfelder hinweggetäuscht noch die Pluralität der vielen heterogenen Positionen vereinheitlicht werden. Die thematische Gliederung nach Problemfeldern dient vielmehr dazu, Verbindungen zu der eingangs skizzierten Vermittlungsdiskussion aus den 1990er Jahren herzustellen. Dank der dialogischen Textstruktur – die Autoren bezogen meist Gegenpositionen in ihre Argumentationen mit ein – vermittelt sich ein Eindruck von den verschiedenen Fraktionen und konfligierenden Politiken, die sich am damaligen Diskurs beteiligten und auf die es zu reagieren galt. Deutlich wird der doppelte Anspruch, dem sich die Teilnehmer der Diskussion stellen mussten: Man verfolgte das Ziel, eine an kommunistischen Grundsätzen orientierte Kultur(-politik) zu etablieren. Und zugleich ging man von einem an Abstraktion und Formprinzipien orientierten Kunstbegriff aus, wollte diesen durchsetzen und weiterentwickeln. Problem: Künstlerselbstverständnis Eine der Hauptkonfliktlinien, an der sich die futuristischen Denker aufstellten, um ihre Position zu befestigen und dabei offenen Dissenz riskierten, war die Diskrepanz, die aus ihrer Sicht zwischen den sozialpolitischen und kulturellen Emanzipationsverständnissen der (proletarischen) Mehrheit bestand und besonders an der Stellung des Proletkults zutage trat. Die Lösung der auftauchenden Konflikte verorteten einige von der Futuristen in der
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Künstlerpersönlichkeit selbst: Nur in der Person des Künstlers verbinden sich nach Osip Brik proletarisches Bewusstsein und schöpferische Begabung zu einem »untrennbaren Ganzen«. So unbescheiden dieses Selbstverständnis anmuten mag, es gründet sich weder auf Begriffe wie bspw. ›Talent‹ noch auf jenen mit der Renaissance aufgekommenen Mythos des göttlich auserwählten Genies, der im 19. Jahrhundert seine volle Blüte entfaltet hatte. Ganz im Gegenteil ging es nun darum, sich vom vorfindlichen bürgerlichen Konzept des Künstlers – das sich selbst ausdrückende Individuum – zu verabschieden. In bewusster Abgrenzung hierzu berief man sich an Stelle dessen auf einen (freilich selbst gesetzten) sozialen Auftrag. Der Literaturtheoretiker und Dramatiker Brik, der sich später für die Produktionskunst38 aussprach, schrieb: »Die proletarische Kunst ist weder ›Kunst für Proletarier‹ noch ›die Kunst der Proletarier‹, sondern die Kunst von Künstler-Proletariern. [...] Der Künstler-Proletarier unterscheidet sich vom Bourgeois-Künstler weder dadurch, daß er für einen anderen Verbraucher arbeitet, noch dadurch, daß er aus einem anderen sozialen Milieu stammt, sondern durch seine Einstellung zu sich selbst und seine Kunst. [...] Der Bourgeois-Künstler schuf, um sein ›ich‹ zu verdeutlichen; der Proletarier-Künstler schafft, um eine gesellschaftlich wichtige Aufgabe zu erfüllen. [...] Auf der Jagd nach Ruhm und Profit war der Bourgeois-Künstler bemüht, die Geschmäcker der Menge zu treffen, der Proletarierkünstler dagegen, der keinen persönlichen Vorteil kennt, kämpft gegen ihre Sturheit an und führt sie auf Wegen, die die Kunst unentwegt voranbringen.«39
Nach Brik leitet sich die außerordentliche Stellung des futuristischen Künstlers weder von einer privilegierten sozialen (Dis-)Position noch von psychologischer Eigenheit oder besonderer Intelligenz ab. Sie resultiert einzig aus dem Verständnis von Kunst als soziales Unterfangen. Deutlich wird die Kunst gleichzeitig als Mittel und Zweck, mit dem Publikum in Kontakt zu treten, bestimmt. Kunst könne nur dann fortgesetzt werden, wenn es gelänge, eine Haltungsänderung der Bevölkerungsmehrheit ihr gegenüber zu erwirken. Auch der Kunsthistoriker und -kritiker Nikolai Punin betonte den
38 Zur Erläuterung des Produktivismus siehe weiter unten. 39 Brik, Osip: »Der Künstler-Proletarier«, 1918 (»Kunst der Kommune«, Nr. 2), in: Gaßner/Gillen (1979), S. 45-47, insbes. S. 45f.
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antiindividualistischen Zug des Künstlerselbstverständnisses, wenn er den futuristischen Künstler durch ihren »Formsinn« auszeichnet. In Konzentration auf die Signifikantenfunktion der Kunst will man sich einerseits aller inhaltlicher, abbildender oder narrativer (und damit ideologieverdächtiger) Funktionen entledigen und andererseits mit bedeutungsschwangerem Mystizismus, inhaltsleerem Illusionismus und jeder anderen exklusiven Idee von Kunst als Selbstzweck brechen. Der Weg über die Form erlaube es, das Aufgabengebiet oder ›Material‹ der Kunst zu allen anderen gesellschaftlichen Formen(systemen) zu öffnen. Der so errungene Raum berge unzählige Möglichkeiten in sich, denn: »Unser Formsinn ist durch eine unendliche Reichweite von Ursachen bedingt, durch die gesamte Wirklichkeit um uns und in uns. [...] Es gibt zugegebenermaßen Erfinder, die glauben, daß ausgerechnet ihr individueller Wille an der Erfindung dieser oder jener Form beteiligt gewesen sei – eine Illusion, Einbildung. Die Form kann durch persönliche Anstrengung entdeckt werden, aber sie ist objektiv gegeben. Erfinden heißt schöpferisch einwirken, d. h. an der Wirklichkeit arbeiten. Eine individuell geschaffene Form ist, auch wenn sie möglich ist, nicht lebensfähig; sie wird sterben wie ein Wunder; nicht der Erfinder hat sie entdeckt – sondern der Wunderling. Unter Künstlern gibt es nicht wenig Wunderlinge. [...] Nur wir, die Künstler der neuen Welt, sind eben imstande die Welt zu verändern, weil uns der Inhalt nicht bewegt und uns nicht der Wunsch verdirbt, zu leben, zu genießen, zu betrachten, zu erklären.«40
Die Stilisierung des futuristischen Künstlers zu dem Repräsentanten einer klassenlosen, proletarischen Kunst, wie sie beiS. diesem Autoren avisiert wird, blieb in den eigenen Reihen nicht unwidersprochen. Boris I. Arwatow, einer der maßgeblichen Theoretiker der später entwickelten Produktionskunst, wandte sich gegen Punin und Briks »anmaßenden Anspruch auf proletarisches Tun« und forderte die »Intelligenzler« auf, ihren »echten Platz in der Geschichte zu erkennen und nicht Fälschungen zu betreiben«: »Man muß aufrichtiger sein: entweder man stellt sich geradewegs auf den Standpunkt der heutigen Kunst der Proletarier oder man macht, nichts beschönigend, seine
40 Punin, Nikolai: »Über Form und Inhalt«, 1919 (»Kunst der Kommune«, Nr.18), in: Gaßner/Gillen (1979), S. 56-58, insbes. S. 57.
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eigene Sache, eine gegenwärtig notwendige, wichtige und eine dem historischen Ziel entsprechende, aber überhaupt nicht proletarische Sache.«41
Auch der einflussreiche politische Führer und Angehörige des ZK Leo Trotzki (1879-1940) setzte sich bereits 1922 ausführlich und kenntnisreich mit dem Futurismus auseinander. In einer längeren schriftlichen Abhandlung versuchte er, die Rolle des Futurismus im gesellschaftlichen Raum zu verorten und zu beurteilen. 42 Seiner Einschätzung nach sei das Grundproblem des Futurismus dessen Entstehung als Abzweigung der bürgerlichen Kunst, die sich bei aller Rebellion gegen die literarischen Herkünfte gerade durch die radikale Ablehnung alles Vergangenen zeige. Der Appell der Futuristen, mit der Vergangenheit zu brechen und »Puschkin zum alten Eisen zu werfen« mache – so Trotzki – innerhalb der Literaturkaste durchaus Sinn. »Aber die Inhaltslosigkeit dieses Appells wird offenkundig, sobald er an das Proletariat gerichtet wird. Die Arbeiterklasse hat es nicht nötig und kann nicht mit der literarischen Tradition brechen, denn sie leidet nicht an den Fesseln dieser Tradition. Sie kennt die alte Literatur nicht, die muss sie erst kennen lernen, sie muss erst Puschkin noch erfassen, ihn in sich aufnehmen und ihn dann auch überwinden.«43
Bei allem Verständnis für die Haltung und Leistung der Futuristen gegenüber ihrer Tradition folgerte Trotzki: »Man darf aber die Technik der eigenen Loslösung nicht zu einem Gesetz der Weltentwicklung erheben.«44 Durch den mit Anerkennung für die Futuristen gespickten Aufsatz Trotzkis zieht sich das Ideal eines organischen künstlerischen Ausdrucks der kommunistischen Weltauffassung. Gemessen hieran sei der Futurismus unzureichend, weil aus dessen Werken eher der Revolutionsgeist der Bohème spreche, als der des Proletariats. Der Proletarier sei aber – ganz im Gegen-
41 Arwatow, Boris: »Rezension: Izobrazitel‘ noe Iskusstvo Nr.1« (»Bildende Kunst«).1919, in: Gaßner/Gillen (1979), S. 58f, insbes. S. 59. 42 Trotzki, Leo: Der Futurismus, Zürich 1991. Der im Folgenden zitierte Text »Der Futurismus« wurde am 8. September 1922 verfasst und 1923 in einem Sammelband mit Titel »Literatur und Revolution« in russischer Sprache veröffentlicht. 43 Ebda., S. 11. 44 Ebda.
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satz zur Vergangenheitsfeindlichkeit und dem Pathos der Futuristen – ausserordentlich traditionsbewusst (er beziehe sich in seinem Selbstverständnis auf die französische Revolution, die Commune) und habe einen realistischen Sinn für das rechte Maß. Des Weiteren brauche man, so Trotzki, »[...] nur etwas historisches Augenmaß zu besitzen, um einzusehen, dass noch mehrere Generationen dahingehen werden, bevor die Kunst es von unserer jetzigen wirtschaftlichen und kulturellen Armut bis zur Verschmelzung der Kunst mit dem Alltagsleben bringen wird«.45 Obwohl Trotzki den Einfluss der futuristischen Dichtung auf die Literatur und sogar auf die Alltagssprache hervorhob (immer wieder diente ihm Majakowski dabei als mustergültige Hauptreferenz) und obwohl er auch die breite Durchsetzung konstruktivistischer Formen verzeichnete, begegnete er den Avantgardisten mit großem Vorbehalt. Entschieden richtete er sich gegen deren Intellektualismus. Trotzki schrieb es dem jugendlichen Rebellionsgeist der Futuristen zu, dass sie der Kunst per »kurzbefristetem Ultimatum« eine gänzlich neue gesellschaftliche Funktion und Rolle zuweisen wollten. Dem gegenüber sprach Trotzki der Kunst noch immer die Funktion zu, Mittel der Erziehung zu sein, um das Individuum zu festigen und zu verfeinern. 46 »Wollte man aus lauter Opposition gegen die kontemplative, impressionistische bürgerliche Kunst der letzten Jahrzehnte die Kunst als Mittel zur Gestaltung, der anschaulichen Erkenntnis negieren, so würde man dadurch wahrhaftig der Klasse, die eine neue Gesellschaft aufbaut, ein Werkzeug von allergrößter Bedeutung wegnehmen.«47
Fast zeitgleich zu Trotzkis Ausführungen verfasste Warwara Stepanowa (1894-1958) Notizen mit dem Titel »Ästhetik« Hierin finden sich Überlegungen, die – indem sie die impliziten pädagogischen Haltungen bedenken – herausarbeiten, weshalb die anschauliche Kunst aus Sicht der Avantgardisten verworfen wurde. Obwohl ursprünglich nicht mit dieser Absicht verfasst,48 enthalten sie Argumente, die Trotzkis Überlegungen widersprechen.
45 Ebda. S. 17. 46 Ebda. S. 18. 47 Ebda. S. 17f. 48 Die Aufzeichnungen dienten möglicherweise als Konzept für einen Artikel oder einen Vortrag an der INChUK.
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»Die trügerische Ansicht, daß man beim Studium oder wenn man sich mit etwas bekannt macht – insbesondere mit der Kunst – mit dem Leichten beginnend zum Komplizierten fortschreiten solle, ist in seiner logischen Konsequenz auf eine beschauliche Weltsicht begründet. Möglicherweise liegen hier die Wurzeln sogar tiefer, da ein solches System dazu beiträgt, Spezialisten mit dem Nimbus des Wissens zu umgeben. Einer weiß etwas, sagt aber nicht gleich alles, um den Reiz nicht zu zerstören. Wenn er dann endlich alles auspackt, so wird er auf diese Weise entblößt dastehen. Er weiß dann nicht, was er weiter tun soll. Durch das schrittweise Freilassen seines Wissens hält er die Rezipienten in geistiger Abhängigkeit. Dieser erfaßt zwar subjektiv die individuelle Entwicklung der Erkenntnisse, sieht jedoch das Moment des kollektiven Schöpfertums bei der Arbeit mit einer Gruppe nicht.«49
Das kurze Statement zeigt, dass sich die dem Kreis der Konstruktivisten zugehörige Künstlerin im Rahmen ihrer künstlerischen Tätigkeit offensichtlich mit möglichen Formen des Lehrens und Lernens beschäftigt hat. Ihre Überlegungen und Kritik zu der Lehrform des Spezialisten, der sein Wissen zurückhält und portioniert, um auf diese Weise seine Überlegenheit aufrecht zu erhalten, macht deutlich, wie reflektiert und fortgeschritten bereits in einem solch frühen Stadium über autoritäre Formen der Lehre nachgedacht wurde. Auch für Ljubow Popowa war die Reform der Kunstausbildung ein wichtiges Vorhaben. Sie beklagte, dass der Kunsterzieher in der Regel »ohne irgendeine methodische Grundlage seinem Schüler einfach nur seine eigene Sicht des Gegenstandes aufzuoktroyieren« suche: »[...] er unternimmt nicht einmal den Versuch einer analytischen Auseinandersetzung mit den allgemeinen Fragen des Kunstunterrichts im sozioökonomischen Zusammenhang oder auch nur mit dessen spezifischen Problemen, Zielen, Methoden. Folglich kann das Ganze nur in einem absurden Anachronismus bestehen, und der gesamte Kunstunterricht verfiele wieder in den toten Akademismus, den man eigentlich über Bord geworfen glaubte; die Bildungsstätte verwandelt sich in ein verstaubtes Archiv hohler Vorschriften, ganz wie das Museum, mit dem einzigen Unterschied, dass das Museum ein Aufbewahrungsort für Gegenstände ist, während eine
49 Stepanowa, Warwara F.: »Ästhetik« (1921/22), in: Peter Noever (Hg.): Alexander M. Rodtschenko. Warwara F. Stepanowa. Die Zukunft ist unser einziges Ziel ... , München 1991, S. 144.
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Ausbildungsstätte immer dazu neigt, sich in ein Archiv von Ideen und Methoden zu verwandeln.« 50
Problem: Verständlichkeit Bereits 1913 äußerte sich die Künstlerin Olga Rozanowa,51 Illustratorin kubofuturistischer Dichtungen und als Malerin dem Kreis der Suprematisten um Malewitsch zugehörig, zu den Schwierigkeiten, ungegenständliche Kunst zu vermitteln. Die oft ablehnenden Reaktionen des Publikums leitete sie von dessen gewohnheitsbedingten Wahrnehmungskonventionen ab: »Die Vorstellung von Schönheit fußt beim größten Teil des Publikums, das von Pseudokünstlern mit Kopien von der Natur ausgebildet worden ist, auf den Begriffen ›bekannt‹ und ›verständlich‹. Deshalb ruft, wenn die auf neueren Prinzipien gegründete Kunst es ein für allemal aus seiner geistigen Trägheit und Schläfrigkeit und aus den fest gefahrenen Ansichten herausreißt, der Übergang in einen anderen Zustand bei ihm Protest und Feindsinnigkeit hervor, weil es nicht auf diese Entwicklung vorbereitet ist.«52
Auf die große Gruppe derer, die den sozialistischen Realismus als neue offizielle Kunstform zu etablieren begannen, indem sie an das Erbe figurativer Malerei anschlossen, zielte Nathan I. Altmans 1918 mit folgendem Statement ab: »Die Figur eines Arbeiters in heroischer Pose, mit der roten Flagge und einer entsprechenden Aufschrift – wie verführerisch verständlich ist das für einen Analpha-
50 Popowa, Ljubow: »Zur Frage der neuen Ausbildungsmethoden an unseren Kunsthochschulen« (1921), in: Magdalena Dabrowski (Hg.): Ljubow Popowa 1889-1924, München 1991, S. 158f., insbes. S. 158. 51 Olga Rozanowa leitete später eine Gruppe von Künstlerinnen, die in Dörfern Weißrusslands an der Reorganisation von Kunstgewerbeschulen und Werkstätten und im Textilentwurf arbeiteten. Sie starb an den Folgen einer Verkühlung, die sie sich bei Außendekorationsarbeiten für das 1. Oktoberjubiläum in Moskau zugezogen hatte. 52 Rozanowa, Olga, zit. n. »10. Staatliche Ausstellung Ungegenständliches Schaffen und Suprematismus«, 1919, in: Gaßner/Gillen (1979), S. 75-82, insbes. S. S. 77.
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beten in der Kunst und wie scharf muß man diese verhängnisvolle Verständlichkeit bekämpfen. Eine Kunst, die das Proletariat darstellt, ist in gleichem Maße proletarische Kunst wie die in die Partei eingedrungenen zaristischen Erzreaktionäre, weil die Mitgliedskarte sie als Kommunist ausweist.«53
Altmans Stellungnahme macht deutlich, auf welchem Terrain das Problem der Verständlichkeit ausgefochten werden muss: nicht gegen die naiven Adepten ›verständlicher Kunst‹ richtete sich sein Unmut, sondern gegen jene, die sie verbreiteten und zum Maßstab eines Kunstverständnisses machten. Indem Altman die aus der Entwicklungsgeschichte der Kunst abgeleitete Repräsentationskritik auf politische Zugehörigkeitsausweise übertrug, unternahm er zusätzlich zu der politischen Lesart der Kunstwahrnehmung eine wahrnehmungskritische Interpretation politischer Regularien oder Organisationsformen: Die bloße Abbildung eines Arbeiters mache ein Gemälde genauso wenig zur proletarischen Kunst, wie die Parteimitgliedschaft jemanden als Kommunisten ausweise. Diese doppelte Aufmerksamkeit für Phänomene, die unter ›Ästhetisierung von Politik‹ gefasst werden können, und ebenfalls für solche der ›Politisierung von Ästhetik‹, war für viele der dem Kreis der Futuristen Zugehörigen kennzeichnend. Entsprechend formulierte es auch Brik zum Thema ›Verständlichkeit‹, als er die Anhänger figurativer Malerei nach ihren jeweiligen politischen Motivationen voneinander unterschied. Über die Proletkultler äußerte er sich wohlwollendkritisch, unterstellte ihnen »ideologische Unvorbereitetheit« sowie »äußerste Unwissenheit in den grundlegenden Fragen der Kunst«54 und hob hervor, dass sie zumindest die Frage nach einer »unabhängigen« und »eigenständigen proletarischen Kultur« gestellt hätten. In den Demokratisierungsabsichten der »kulturell-aufklärerischen Organe der Sowjetmacht« erkannte er dagegen die »völlige Absage an eine wie auch immer geartete proletarische Linie«55 und bezichtigte die Regierung eines, von Machtinteressen geleiteten Versöhnlertums. Bereits ein Jahr zuvor hatte Brik vor der Instrumentali-
53 Altman, Nathan: »Futurismus und proletarische Kunst«, 1918 (»Kunst der Kommune« Nr. 2), zit. n. Gaßner/Gillen (1979), S. 47f, insbes. S. 47. 54 Brik, Osip: »Genug mit dem Versöhnlertum«, 1919 (»Kunst der Kommune«, Nr. 6), in: Gaßner/Gillen (1979), S. 49f., insbes. S. 49. 55 Ebda., S. 50.
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sierung scheinbar selbstevidenter Ansprüche auf Verständlichkeit und Zugänglichkeit gewarnt: »Diese Leute, die unfähig sind, sich vom Konsumdenken zu befreien, sind bemüht, das Proletariat in die ihm unangemessene Situation eines Massenmäzens zu bringen, der es wohlwollend erlaubt, mit unterhaltsamen Einfällen ergötzt zu werden. Daher die ständige Sorge um ›Verständlichkeit‹, allgemeine ›Zugänglichkeit‹, als ob alles daran läge. Es ist schon lange bekannt, daß Kunst um so langweiliger ist, je verständlicher und zugänglicher sie ist.«56
Erst einige Jahre später nahm der Schriftsteller und Redakteur Sergej Tretjakow in der neu gegründeten Zeitschrift LEF »Linke Front der Künste«, 1923-25) die Verständlichkeitsdebatte erneut auf. Unter dem Titel »Die Futuristischen Arbeiten sind den Massen unverständlich« erläuterte er noch einmal die Haltung der so genannten Linken: »Verstehen heißt für ein gegebenes Phänomen einen Platz in einer Reihe anderer Phänomene zu finden, zu erfassen, wie diese Erscheinung zu benutzen ist. Unverständlichkeit pflegt in zwei Fällen aufzutreten: 1. Wenn ein Mensch ›schwer versteht‹, weil er noch nicht genügend Erfahrung hat und 2. Wenn ein Mensch ›nicht verstehen will‹. [...] Die Schwierigkeit der Aneignung seiner Produkte rechnete sich der Futurismus als Verdienst an, denn seine Aufgabe war es ja, alle zu aktiven Beherrschern der Sprache zu machen.«57 Und weiter: »Die Massen verstehen uns nicht? Wir haben schon gezeigt, daß diese Behauptung nicht unterschiedslos auf die Masse als Ganzes zutrifft. Wenn die Massen nicht verstehen, weil ihnen das Begreifen schwerfällt, dann werden sie das eben lernen. [...] Dort, wo es den Massen schwerfällt, kommt der Futurismus gern mit Erklärungen zu Hilfe. Ich hoffe, niemand jedoch wird die Kunst auffordern, in Ewigkeit bei den
56 Brik, in: Gaßner/Gillen (1979), S. 45. 57 Boehncke, Heiner (Hg.): Sergej Tretjakow: Die Arbeit des Schriftstellers. Aufsätze. Reportagen. Porträts, Hamburg 1972, S. 32.
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›verständlichen‹ Formen zu bleiben, nur weil das Bewußtsein der Massen noch zu wenig qualifiziert ist.«58
Bemerkenswert an Tretjakows Erklärungsversuchen ist nicht nur, dass diese grundsätzlich von der Erlernbarkeit des neuen Kunstverständnisses ausgehen, auf die Erklärungsbereitschaft der Künstler verweisen und sogar ein Lehrziel der Künstler (aktive Beherrschung der Sprache) formulieren. Im Weiteren unterscheidet der Text außerdem zwei Kategorien von Kunstwerken, indem er die von den Produzenten gewählten Vermittlungswege berücksichtigt: Zum einen gäbe es Kunstwerke, die den Rezipienten zur »Arbeit aufrufen«59 und die – gehe man an sie nicht heran »wie an ein weich zu schluckendes Weichbrot« oder verlange, sie müssten »von allein ›in die Seele eindringen‹« 60 – zur aktiven Beherrschung der Sprache anleiten. Mit diesem Aufruf zur ›Arbeit‹ wird die Beschäftigung mit Kunst bewusst in ein gleichberechtigtes Verhältnis zu anderen Arbeitsformen gesetzt. Als Tätigkeit verlange sie also ebensoviel Konzentration, Disziplin, Aufmerksamkeit und Zeit wie andere Lern- und Arbeitsbereiche. Vor dem Hintergrund der (auch zu damaligen Zeiten) weit verbreiteten Annahme, Kunst diene lediglich der regenerativen Feierabendbeschäftigung, ist dieser Vermittlungsform, indem sie ein Mehr an Zeit fordert, eine praktische Kritik an den bestehenden Arbeits- und Lebensverhältnissen inhärent: Angesprochen ist der gesellschaftliche Wert von Kunst. Kunst ernst zu nehmen, bedeutet dieser Auffassung gemäß, sie nicht nur als zusätzlichen Luxus und im Zweifel verzichtbare Nebenbeschäftigung anzusehen, sondern als gesellschaftlich wichtige Aufgabe, die der Erwerbsarbeit gleichberechtigt zur Seite steht.61
58 Ebda., S. 33. 59 Ebda., S. 32. 60 Ebda., S. 33. 61 Arnold Hauser schreibt zu diesem Zusammenhang: »Es ist sinn- und nutzlos, zu beklagen, dass die ›Gefühlssphäre‹ erst beginnt, wo die ›Geschäftszeit‹ aufhört; dies ist aber die Regel. Doch die Kunst ist nicht für Ästheten bestimmt, sondern für Menschen der Praxis mit ästhetischem Sinn und Qualitätsgefühl. Das Übel beginnt, wo man die Ferne des eigenen Berufslebens von einer ästhetischen, nach formalistischen Schönheitskriterien bewerteten Lebensführung als Mangel empfindet und, indem man sein praktisch nützliches Dasein ungestört fortzusetzen wünscht, eine Kunst fordert und begünstigt, die sich vom Alltag so weit wie
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Zum anderen gibt es nach Tretjakow solche Kunstwerke, deren Aufgabe darin bestehe, »auf schnellstem Wege ein Faktum, eine Meinung, eine Order dem Bewusstsein des Lesers zu vermitteln«62 Hierbei hätten die Futuristen nach Tretjakow »immer die Psychologie desjenigen Auditoriums, für das sie arbeiteten, sehr genau berücksichtigt« und »großen Erfindungsgeist beim Konstruieren von ›eingängigen‹ Feuilletons, Agitversen und Schnadahüpfln entwickelt.«63 Beispiele hierfür seien die Zeitungen der Futuristen und Wladimir Majakowskis Verszeilen auf Agitplakaten.64 Abbildung 4: Wladimir Majakowski, Motiv aus der 12-teiligen ROSTAPlakatfolge »Bekämpft den Hunger«, 1920, Sammle Geld und Essen (11) Abbildung 5: Wladimir Majakowski, Motiv aus der 12-teiligen ROSTAPlakatfolge »Bekämpft den Hunger«, 1920, Beeil dich, gib alles weg (12)
Mit den Agitplakaten bezog sich Tretjakow vermutlich auch auf die nach einer russischen Telegrafen-Agentur benannten ROSTA-Fenster: Grundgemöglich entfernt, damit man in der einen Sphäre an die andere gar nicht erinnert werde und sich in der Kunst vom Leben und im Leben von den allzu anspruchsvollen Formen der Kunst erholen könne.« Hauser, Arnold: Soziologie der Kunst, München (1974) 1988, S. 465. 62 Tretjakow, in: Boehncke (1972), S. 33. 63 Mit Schnadahüpfln werden vierzeilige, gesungene Spottverse bezeichnet. 64 Tretjakow, in: Boehncke (1972), S. 33f.
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danke der Nachrichten- und Satirefenster, die an leer stehenden Schaufenstern angebracht wurden, war es, die Bevölkerung und insbesondere ihren hohen Anteil an Analphabeten durch eine symbolhafte Zeichen- und Bildsprache oder eingängige Texte über politische, militärische oder wirtschaftliche Tagesthemen zu informieren bzw. per satirischem Kommentar zu agitieren. Die Vorlagen wurden in Kollektiven oder Familien abgepaust oder anhand von Schablonen vervielfältigt und in den Filialen verteilt. Auf dem Höhepunkt arbeiteten über hundert Personen an 1.600 ROSTA-Fenstern. Die ROSTA-Fenster, die als frühe Beispiele des politisch-satirischen Plakats gelten, müssen sich allgemeiner Beliebtheit erfreut haben. Sie sind auch ein Beispiel dafür, wie Vertreter einer avancierten Ästhetik, um in Kommunikation mit der Bevölkerung zu treten, nicht nur ihre sprachlichen Kenntnisse (Rhythmus, Reim, grotesker Humor) und bildlichen Mittel (Comic-Stil, grafische Vereinfachung, Mittel der Übertreibung) zur Anwendung bringen, sondern auch mit Rücksicht auf die Fähigkeiten des Publikums (Informationsbeschaffung bei Illiteralität) schnelle und praktikable Lösungen finden. Insofern hier ein alltägliches Bedürfnis die Grundlage der künstlerischen Produktion bildet, wird neben der Informationsverbreitung ein praktisches Verständnis von Kunst mitvermittelt (dabei kann die Vermittlungsform sicherlich aufgrund ihrer parteiischen und ihrer zu einem gewissen Grad manipulativen Züge kritisiert werden). Die Bemühungen, mit einem breiten Publikum in Kontakt zu kommen und die damit verbundenen Erprobungen neuer »Demonstrierungswege«, schilderte auch Lissitzky: »So z. B. in Witebsk haben wir [Malewitsch und Lissitzky, RP] für ein Fabrikfest 1500 Quadratmeter Leinwand bemalt, drei Gebäude gestaltet, die Bühne für die feierliche Sitzung des Fabrikkomitees geschaffen. [...] Einige Künstler haben versucht, andere Methoden der Demonstrierung ihrer Arbeiten zu finden. Pevsner, Gabo und Kluzis haben ihre Arbeiten in einem offenen Musikpavillon auf einem der lebhaftesten Moskauer Boulevards ausgestellt, und des Abends haben sie dem Publikum Vorträge gehalten, und die ganze Stadt war mit ihren realistischen Manifesten beklebt.«65
65 Lissitzky, El: »Neue russische Kunst«, Vortrag (1922), in: Lissitzky-Küppers (1992), S. 334-344, insbes. S. 342.
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Die Rede ist hier von einer Ausstellung am Tversskoj-Boulevard gegenüber von einem Kammertheater, wo Künstler sich bis zum Ersten Weltkrieg im Café »Bei Grek« trafen und über Bilder und Konstruktionen stritten. Naum Gabo beschreibt diese Debatten wie folgt: »Einige riefen nach Quadraten, Quadraten und noch mehr Quadraten. Andere wollten Konstruktionen und wieder andere hatten alle Arten von gegensätzlichen Ideen – eine Idee war, die Kunst ganz fallen zu lassen. Auf der anderen Seite stand ich: Antoine war bei mir und einige unserer Schüler [...].«66
In Erinnerung an die Ausstellung und die Verbreitung des berühmten »realistischen Manifests« vom August 1920 schrieb Gabo 1932: »[...] Dieses Manifest wurde in 5000 Exemplaren abgedruckt, an öffentlichen Stellen verkündet und in die Provinz versandt.«67 Und Gustav Klucis’ Frau Valentina Kulagina beschrieb rückblickend: »Es gab auf diesen Versammlungen hitzige Debatten. Viele Menschen waren da, viele waren zornig und machten ihrem Unwillen gegenüber der Kunst Luft.«68 Dass die Moskauer Behörden im Zuge ihres Kampfes gegen den Futurismus die Ausstellung geschlossen und die Verbreitung des Manifests verboten haben, mag die Debatten zusätzlich erhitzt und der nachträglichen Legendenbildung um die Ausstellung gedient haben.69
66 Gabo, Naum, zit. n. Hammer, Martin/Lodder, Christina: »Ein kreativer Dialog: Gustav Klucis, Antoine Pevzner und Naum Gabo«, in: Hubertus Gaßner/Roland Nachtigäller (Hg.): Gustav Klucis. Retrospektive, Stuttgart 1991., S. 57-72, insbes. S. 63. 67 Ders., zit. n. Gaßner, Hubertus/Kukulis, Jazeps: »Gustav Klucis – eine Lebensmontage«, in: Gaßner/Nachtigäller (1991), S. 11-47, insbes. S. 26. 68 Kulagina, Valentina zit. n. Hammer/Lodder, in: Gaßner/Nachtigäller (1991), S. 59. 69 Naum Gabo und sein Bruder verließen 1922 (als an der Kunsthochschule der Einfluss der Konstruktivisten immer stärker spürbar wird) das Land und bauten sich ihre Karrieren im Westen auf. Vor allem Gabo distanzierte sich von jeder künstlerischen Form der politischen Stellungnahme. Die Produktivisten beschreibt er im Verhältnis zu seiner Kunst als Gruppe »mit ganz anderen Zielen, die sich auch in Zukunft immer bekämpfen würden«. Zit. n. Gaßner/Nachtigäller (1991), S. 27.
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Die oben dargestellte Experimentfreudigkeit mit Demonstrationsformen lässt sich nicht einfach auf das allgemeine Agitationsklima in der nachrevolutionären Phase zurückführen. Sie ging mit dem grundsätzlichen Zweifel an den bestehenden Präsentationsformen einher, wie besonders folgende Äußerung von Lissitzky deutlich macht: »Zugleich mit der Erweiterung und Lösung ihrer Aufgaben wurde den jungen Künstlergruppen klar, daß die alte Form der Kunstausstellung nicht mehr imstande war, ihren Zwecken voll zu entsprechen. Das, was nun die Wände bedeckte, diente ja schon nicht mehr der Befriedigung des Anschauens [...] Ein roter Kreis ist ja keine Sonne, und hier liegt irgend etwas durchaus Unverständliches. Nun versuchten manche neben ihren Arbeiten postiert, ihren eigenen Führer für die Beschauer zu spielen [...].«70
Die Ausstellungen der OBMOChU (»Gesellschaft junger Künstler«) wurden damals von Lissitzky als »neu in ihrer Form« beurteilt: »Hier sehen wir nicht nur Kunstwerke, die an der Wand hängen, sondern hauptsächlich solche, die den Raum des Saales ausfüllen.« 71 Über die Methode der von Malewitsch neu begründeten Kunstschule UNOVIS (»Gründung neuer Formen der Kunst«) heißt es: »[...] und die Ausstellung demonstriert, wie die neuen in uns sich realisierende Konstruktionssysteme zu verstehen sind und wie wir Hand in Hand mit ihnen wiederum dem Leben zuschreiten. – Auf diese Weise tritt hier die Malkunst als Vorübung auf dem Wege zur organisierenden Teilnahme am Leben auf, und ihr Studium ist für den Lernenden nicht mehr mit dem Zwang verbunden, durchaus Kunstmaler zu werden.«72
Problem: künstlerische Tätigkeit Die Debatten über die Rolle und Funktion der Künstler in einer neuen Gesellschaft berührten natürlich ebenso den Status ihrer Erzeugnisse und Tätigkeiten. Im Folgenden soll anhand von drei verschiedenen Positionen
70 Lissitzky, El: Proun und die Wolkenbügel. Schriften, Briefe, Dokumente, Dresden 1977, S. 39. 71 Ebda. 72 Ebda., S. 40.
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deutlich gemacht werden, wie grundsätzlich die Änderung der traditionellen Formen angegangen und diskutiert wurde. Alle drei Autoren lassen die Vorstellung des Kunstwerks als vom Künstlerindividuum erzeugten Wertgegenstand hinter sich, ordnen der Produktion allerdings jeweils andere Aufgaben zu. »So wie alles, was das Proletariat schafft, wird auch die proletarische Kunst kollektivistisch sein. Das ist das Prinzip, das das Proletariat als Klasse von allen anderen Klassen abhebt. Wir verstehen das nicht in dem Sinn, daß ein einzelnes Werk von vielen Künstlern ausgeführt wird, sondern so, daß das Werk selbst, obwohl von einem einzigen Schöpfer ausgearbeitet, auf kollektivistischen Grundlagen errichtet worden ist [...].«73
Altmans Werkverständnis orientiert sich noch am klassischen Werkkonzept und erkennt die Kollektivität in dem vom Künstler angewendeten Konstruktionsprinzip. Hierin ist bereits die Grundidee der Überlegungen, Forschungen und Analysen über die Prinzipien von Komposition versus Konstruktion enthalten, die zwei Jahre später zu einem wichtigen Diskussionsund Arbeitsfeld werden und maßgeblich für die Hinwendung zum (oder auch für die Erfindung des) Konstruktivismus(es) sind. Aus gegenwärtiger Perspektive ungewohnt ist die hier klar formulierte Überzeugung, dass ein kollektivistisches Werk nicht zwingend kollektiv ausgeführt sein müsse. Das »kollektivistische Prinzip« erkennt Altmann nämlich darin, dass jedes Teil eines Bildes als solches von den anderen Teilen abhängt und alle gleichermaßen von etwas Gemeinsamen durchdrungen sind. Kein Teil lässt sich isolieren, ohne in seiner Wirkung bedeutungslos zu werden. Im Gegensatz dazu sei in der ›alten Kunst‹ die Verbindung der Gegenstände zufällig und höchstens durch einen »äußeren literarischen oder irgendeinen anderen Inhalt verbunden.«74 Altmann betrachtet das futuristische Bild insofern als Versinnbildlichung der Kollektivexistenz oder als Kristallisation kollektiver Kräfte. Anders als bei Altman taucht bei Nikolai Punin der Begriff ›Werk‹ nicht mehr auf. Konsequent verwendet er ausschließlich den Begriff ›Form‹, der – untrennbar von gesellschaftlicher Praxis gedacht – das ehemalige Werkschaffen des Künstlers überwinden soll. Die Arbeit an der
73 Altman, in: Gaßner/Gillen (1979), S.47f. 74 Vgl. ebda.
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Form steht für eine neue Ära »künstlerischen und nicht nur künstlerischen Schaffens«. Hebel der »futuristischen Weltbewegung« sei eine »Kunst, der es augenscheinlich von heute bestimmt ist, ohne Malerei, Bildhauerei und Baukunst auszukommen«.75 Punin verdeutlicht sein »materialistisches Formverständnis« im Rahmen einer schriftlichen Kontroverse mit dem Literaturwissenschaftler und Autor Viktor Schklowski. Schklowski – Wegbereiter der russischen Formalismusschule – wirft hierin den futuristischen Kunsttheoretikern (und nicht nur ihnen) vor, bei der »Gleichsetzung sozialer Revolution und Revolution der Kunstformen« einen schweren Fehler zu begehen, wenn sie davon ausgingen, neue Lebensformen würden neue Kunstformen schaffen und damit unterstellten, »Kunst sei eine der Funktionen des Lebens«.76 Gegen jedwede politische Parteinahme argumentiert Schklowski: »Wir haben doch die Kunst vom Leben befreit, das im Werk nur eine Rolle bei der Ausfüllung der Formen spielt und sogar völlig beseitigt werden kann.«77 Er gibt zu bedenken: »Neue Formen in der Kunst erscheinen nicht dazu, um neue Inhalte auszudrücken, sondern dazu, alte Formen abzulösen, die aufgehört haben, künstlerisch zu sein.«78 Punins Antwort richtet sich zunächst gegen die aus seiner Sicht überkommene idealistische These von der »Unabhängigkeit der künstlerischen Form, Kunst um der Kunst willen« Um des Weiteren die mögliche Nähe zwischen sozialen und künstlerischen Bewegungen zu begründen, führt Punin eine scharfe Trennung zwischen einer schöpferischen79 Lebensweise und dem Alltag ein. Nur die schöpferische Lebensweise (=Form) sei in der Lage, revolutionär zu sein, da sie nicht im Alltag verhaftet sei und also nicht Gefahr laufe, in Passivität, Rückwärtsgewandtheit oder konterrevolutionären Organisationsformen zu münden. Quer zu den Begriffen ›Kommunismus‹ oder ›Kunst‹ hebt Punin die umwälzende Bedeutung des ›Schöpferischen‹ hervor. Verstanden als an Veränderung interessiertes und in die Zukunft gerichtetes Tätigsein sei das Schöpferische in der Lage, den
75 Punin, in: Gaßner/Gillen (1979), S. 57. 76 Schklowski, Victor: »Über Kunst und Revolution«, 1918 (»Kunst der Kommune« Nr. 17), in: Gaßner/Gillen (1979), S. 52f, insbes. S. 52. 77 Ebda. 78 Ebda., S. 53. 79 Die Übersetzer der Originaltexte benutzten ›Schaffen‹ und ›Schöpfertum‹ synonym.
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Alltag zu überspringen. Aufschlussreich im Hinblick auf Punins Formverständnis ist folgende Textpassage: »Ist denn die kommunistische, dritte Internationale nicht jene Form, die sich ihren Inhalt noch schaffen wird? Ich frage, welcher Unterschied zwischen der dritten Internationale und dem Relief Tatlins oder der ›Trompete der Marsianer‹ von Chlebnikov besteht? Für mich keiner. Sowohl das erste wie das zweite wie das dritte sind neue Formen, an denen sich die Menschheit freut, mit denen sie spielt und die sie anwendet.«80
Der Schaffensprozess der Form besteht nach Punin nicht in der Schaffung von etwas Neuem, denn »individuelle Gewalt prallt an der Form ab, weil die Form der einzig objektive Faktor der Epoche« ist.81 Punin geht es um die ›Entdeckung‹ oder Hervorbringung von Formen, die ›real gegeben‹ seien. Die zu diesem Aufsuchen und Hervorbringen von Formen passende Haltung, namlich das auf eine unbestimmte Zukunft gerichtete Tätigsein, erlaubt es Punin, Verbindungen zwischen Phänomenen zu ziehen, die vormals durch die Einteilung ›Kunst‹ und ›Nicht-Kunst‹ separiert wurden. Punin lässt bei seiner Gleichsetzung von sozialen Organisationsformen (III. Internationale) und Materialgestaltungen (Tatins Relief) das jeweilige herkunftsbedingte Selbstverständnis der Akteure außer Acht und damit auch Fragen nach der Intention oder dem Ausgangspunkt für den erfolgten Formungsprozess wie: Von Kunst aus? Von Politik aus? Aber auch die Frage: Von welcher sozialen Stellung aus? Die Vergleichbarkeit des vormals Getrennten, findet Punin vielmehr in dem emotionalen und utilitären Effekt, den das Wirken für viele erzeugt und in dem Möglichkeitsraum, den es eröffnet. Kunst wird als getrennter und auch eigengesetzlicher Bereich aufgegeben und in eine hervorbringende und im Alltag anwendbare, an spielerischen Formen interessierte Lebenspraxis überführt. Für Brik ergibt sich die Notwendigkeit, sich auf die Form zu konzentrieren aus der Geschichte der Dichtung, die eine »Geschichte der Evolution von Verfahren« sei:
80 Punin, Nikolai: »Kommunismus und Futurismus [Antwort auf V. Schlowski]« 1919, in: Gaßner/Gillen (1979), S. 53-56, insbes., S. 56. 81 Ebda., S. 57.
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»Warum die Dichter diese und keine anderen Themen wählten, erhellt aus ihrer Zugehörigkeit zu dieser oder jener sozialen Gruppe und steht in keiner Beziehung zu ihrer dichterischen Arbeit.«82
Jede Form von Selbstdarstellung – sei sie nun proletarischer oder bürgerlicher Herkunft – als wertlos erachtend, plädiert er für ein Selbstverständnis des Künstlers als Arbeiter an der Form: »Der Dichter ist Meister seines Fachs. Nichts sonst. Um ein guter Meister zu sein, muß er den Bedarf derer kennen, für die er seine Arbeit macht, muß er mit ihnen leben. Sonst gelingt sie nicht, sonst taugt sie nicht.«83
Wie die hier angeführten Argumente verdeutlichen, verläuft die Diskussion entlang der Fragestellung: Welche Wege kann die Kunst beschreiten, um sich einen gemeinschaftlichen oder kollektiven Sinn zu geben und ihrem elitären Enklavendasein zu entkommen? Dabei werden verschiedene Modelle entworfen, welche von der Idee getragen sind, mithilfe von Kunst gesellschaftsverändernd wirken zu können, und welche die jeweiligen Einsätze, Energien und Änderungsansätze in ihrer Wirkung sehr unterschiedlich einschätzen, bewerten und gewichten. Das Streben nach einem kollektiven Nutzen von Kunst konfrontiert die Künstler mit ihrer eigenen gesellschaftlichen Sonderstellung: Es fordert sie heraus, ihre Möglichkeiten und Rollen im Verhältnis zu einem Publikum zu bestimmen, welches überwiegend weder mit der Geschichte der künstlerischen Formen geschweige denn mit den modernen Formen und Ansprüchen vertraut ist. Die Kunstferne der Mehrheit fördert das Problem zutage, dass die an modernem Formenvokabular ausgerichtete Kunst für viele unverständlich ist. Hieran schließt sich die Frage nach Vermittlungswegen und Lehrmethoden an, die den Ansprüchen dieser Kunst gerecht werden. All dem unterliegt der Wunsch, möglichst egalitäre Strukturen zu schaffen und hierarchische Organisationsformen zu vermeiden. Der Schlüssel zur Egalität liegt in einer allen gleichermaßen
82 Brik, Osip, zit. n. Hubertus Gaßner,: »Utopisches im russischen Konstruktivismus«, in: Hubertus Gaßner/Karlheinz Kopanski/Karin Stengel (Hg.): Die Konstruktion der Utopie. Ästhetische Avantgarde und politische Utopie in den 20er Jahren, Marburg 1992, S. 48-68, insbes. S. 66. 83 Ebda.
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unbekannten Zukunft einer besseren Gesellschaftsform und Lebensweise. Soll Kunst also dazu dienen, diese andere Zukunft erstrebenswert zu machen (aber nicht unbedingt erreichbar)? Soll sie Formen und Mittel bereitstellen, mithilfe derer diese andere Zukunft realisiert werden kann? Oder soll sie einfach nur Möglichkeiten aufzeigen, die es den Menschen erlaubt, die Welt selbst umzugestalten? Für die Dekade nach der Oktoberrevolution bemerkt Maria Gough aus der historischen Distanz treffend: »[...] then, the very identity of the avantgarde artist – a category originally formulated nearly a century or so earlier in France – is itself on the laboratory table.«84 Kunst oder Nicht-Kunst...: Modelle für den Alltag Die in den 1920er Jahren geführte Diskussion um die Frage, wie das – meist als Widerspruch verstandene – Verhältnis zwischen Diskurs/Kunst und gesellschaftlicher Produktion zu lösen sei, mündete in unterschiedlichste Positionen. Abbildung 6: Algirdas J. Greimas, Schema
84 Gough (2005), S. 8.
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Nach Algirdas J. Greimas85 lassen sich die einzelnen damaligen Ansätze in einem Schema von zwei sich kreuzenden Achsen (Kunst – Nicht-Kunst, Produktion – Nicht-Produktion) darstellen. So reduktionistisch ein solches Schema sein mag, es verdeutlicht dennoch die Spannweite, innerhalb derer sich die Künstler bewegten und positionierten, und auch die sehr grundsätzlichen Fragestellungen, denen sie sich ausgesetzt sahen. Ohne auf die gesamte Reichweite der Selbstverständnisse und Bewegungen eingehen zu können, möchte ich im Folgenden zwei Positionen näher betrachten und sie in den Rahmen der Diskussion stellen. Alexander Rodtschenko und El Lissitzky bieten sich hierfür insofern an, als dass sie keinem der Extrempole zuzuordnen sind. Weder hielten sie an der Kunst im Sinne eines rein geistigen zweckfreien Betätigungsfeldes fest (»Art« = »Not-Production«) noch konnten sie sich dazu entscheiden, den Anspruch, Kunst zu machen, gänzlich aufzugeben, um sich ausschließlich einer an künstlerischen Prinzipien ausgerichteten Produktion zu widmen (»Production« = »Not-Art«) wie es der Produktivismus verlangte. Beide Künstler können als Konstruktivisten bezeichnet werden. Der Begriff ›Konstruktivismus‹ setzte sich erst 1922 durch. Eine heterogene Bewegung unterschiedlicher Betätigungsfelder und Gruppierungen eigneten ihn sich an. Dennoch gilt Vladimir Tatlin, dessen eigene Begriffsprägungen weniger Durchschlagkraft hatten (»Material, Raum und Konstruktion«, »Materialkultur«, »Konstruktionskultur«, etc.), als Begründer der konstruktivistischen Grundprinzipien. Seine Konterreliefs und das Denkmal für die III. Internationale übten maßgeblichen Einfluss auf das neue Interesse an Oberflächenstrukturen, der Untersuchung von Materialeigenschaften und Freilegung der Gerüste dreidimensionaler Gegenstände und Bauwerke aus.86 Neben Tatlins Materialforschungen war die abstrakte Bildsprache Kasimir Malewitschs ein weiteres wichtiges Übergangsstadium zum Konstruktivismus und späterhin zum Produktivismus.87 Bereits im Frühjahr 1919 markierte eine Gruppe der jüngeren Generation durch den Titel der
85 Greimas, Algirdas Julien: »On Meaning«, University of Minnesota 1987, zit. n. Hal Foster: »Some Uses and Abuses of Russian Constructivism«, in: Walker Art Center (1990), S. 241-253, insbes. S. 242. 86 Strigalev, Anatolii: »The Art of the Constructivists: From Exhibition to Exhibition, 1914-1932«, in: Walker Art Center (1990), S. 15-39., insbes. S. 15. 87 Zur Definition s. Lodder (1983), S. 75f.
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Ausstellung Ungegenständliches Schaffen und Suprematismus auf der 10. Staatlichen Ausstellung allerdings erste Differenzen über jene ›Ismen‹, zu denen jeder Neuerer seine Beziehung offenbar definieren musste. Mit der im Titel enthaltenen Gegenüberstellung wurde die beanspruchte Vorherrschaft Malewitschs – der Suprematismus – in Zweifel gezogen. Sie sprach dem Suprematismus ab, ungegenständliche Malerei hervorzubringen, unterstellten diesem also, keinen anderen Gegenstand zu haben als die Malerei selbst. Das Ungegenständliche entwickelte sich nun zunehmend zum Anspruch einer materialistisch orientierten jüngeren Generation um Rodtschenko.88 Malewitsch hatte in Witebsk eine Neue Kunstschule begründet (UNOVIS, 1919-22), in der alle Kunstgattungen auf Basis des Suprematismus entwickelt und zu einem neuen Kunstsystem synthetisiert werden sollten. Zunehmend stieß er aufgrund seines Hangs zum Mystizismus auf Kritik – ebenso wie Kandinsky, der zunächst noch an dem 1920 neu gegründeten »Institut für künstlerische Kultur« (INChUK) in Moskau lehrte. Malewitsch überhöhte das Nichts oder die weiße Gegenstandlosigkeit, mit der er ein Verstummen des Streits der Unterschiede verband. Angerufen wurde eine Art vorsprachlicher, vollkommener Raum, innerhalb sich eine »Eintracht der Millionen von Elementen«89 ereignen sollte. In Absetzung zum kosmischen und intuitionistischen Zug sowie zu den unbestimmten Utilitätsvorstellungen der Suprematisten entwickelten Teile der jüngeren Generation Zukunftsvorstellungen, die wesentlich konkretere Züge annahmen.
88 Warwara Stepanowa – Kollegin und Lebensgefährtin von Rodtschenko – notierte in ihrem Tagebuch am 10. April 1919: »Tatsächlich – diese Ausstellung ist ein Wettstreit zwischen Anti [Spitzname Rodtschenkos im Freundeskreis] und Malewitsch, die anderen sind belanglos. Malewitsch hat fünf weiße, Anti schwarze Bilder ausgestellt. [...] Als Ausweg aus dem Suprematismus scheint sicher: Die Zerstörung des Quadrats und die Schaffung einer neuen Form. – Die Vertiefung der Malerei in sich selbst, als professionelles Moment. – Eine neue, interessante Faktur und ausschließlich Malerei, d.h. kein Einfärben mit einer Farbe, sondern Verwendung der allerundankbarsten, der schwarzen.«, Stepanowa, Warwara, in: Noever (1991), S. 124. 89 »Briefe und Dokumente«, in: Matthew Drutt (Hg.): Kasimir Malewitsch. Suprematismus, New York, Berlin 2003, S. 239-253, insbes. S. 240.
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Unter ihnen bildete sich eine Gruppe von Künstlern und Künstlerinnen,90 die sich in der Folge ›Konstruktivisten‹ nannten und die sich zunächst der systematischen Untersuchung der Grundlagen der Malerei widmeten. Sie experimentierten mit den visuellen, haptischen und physikalischen Eigenschaften der Farbe und diskutierten die Farbe bis hin zu ihrer Beziehung zum gesprochenen Wort. Den Bruch mit dem Traditionalismus ihrer Zeit begriffen sie als Chance für die eingehende Analyse des ungegenständlichen Schaffens, die sie – »vom Axiom der Kontinuität« ausgehend – als »logische und gesetzmäßige Schlussfolgerung aus den vorhergehenden Etappen des malerischen Schaffens« betrachteten.91 Auch Kandinsky hatte bei der Neugründung des Instituts INChUK die systematische Erforschung der künstlerischen Medien und ihrer Wirkung in den Vordergrund gestellt. Sein Fokus galt dabei noch unerforschten wahrnehmungsphysiologischen und -psychologischen sowie synästhetischen Fragen. Kandinsky entwickelte spezielle Versuchsreihen, mit denen er die Wirkungsweisen bei Rezeptionsvorgängen zu analysieren versuchte. Besonderes Augenmerk legte er dabei auf die Übergänge zwischen Malerei und zeitbasierten Genres wie Musik, Drama, Poesie und Tanz. Aufgrund der psychologistischen und assoziativen Herangehensweisen gerieten Kandinskys Forschungsmethoden und seine Kunstauffassung aber ebenso zunehmend in Misskredit. 92 Bei Punin, Rodtschenko, Stepanowa u. a., die im Begriff waren, ihr materialistisches Formverständnis methodisch zu entwickeln, entstand der Eindruck, Kandinsky wolle mit pseudowissenschaftlichen Methoden seine rein subjektiven Anliegen verschleiern. Den vom Gesamtkunstwerk inspirierten Ideen einer alle Kunstgattungen synthetisierenden ›monumentalen Kunst‹ (Kandinsky) entgegnete Rodtschenko mit der
90 K. Iaganson, K. Medunetskii, A.Rodtschenko, G. W. Stenberg, W. Stepanowa, A. Gan. 91 »10. Staatliche Ausstellung Ungegenständliches Schaffen und Suprematismus«, 1919, darin: A. Vesnin, in: Gaßner/Gillen (1979), S. 75-82, insbes. S. 76. 92 Kandinskys erarbeitete Fragebögen, mit denen er versuchte, ästhetische Wirkungen zu erfassen. Fragen darin lauten bspw.: »[...]is your feeling about the triangle similar to your feeling about a lemon; which is closer to the singing of a canary – a triangle or a circle; which geometric form is closer to vulgarity, to talent, to good weather, and so on and so forth.« Kandinsky, Wassily, zit. n. Gough (2005), S. 30.
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Aussage: »Nicht die Synthese ist die treibende Kraft, sondern die Erfindung (Analyse).« 93 In bewusster Konkurrenz hierzu entwickelten die Vertreter des Konstruktivismus am Institut INChUK ein komplexes Lern- und Lehrprogramm, in dem die »praktische Arbeit« (verstanden als Veröffentlichung und organisatorische Verwirklichung der Idee) und die »wissenschaftlichetheoretische Arbeit« eng miteinander korrespondierend konzipiert wurden.94 Zu ersterer gehörte die Zusammenführung unterschiedlichster Gruppierungen und Öffentlichkeiten: Vorträge und Ausstellungen in Kunstinstitutionen, Kultureinrichtungen oder Organisationen; Zusammenarbeit bspw. mit den Proletkultgruppen, technischen Fakultäten, Fabriken, Künstlern und Künstlervereinigungen in anderen russischen Städten sowie im Ausland. Hier nahm auch Lissitzky, der über viele Kontakte in Deutschland (Berlin, Hannover), später in Holland und in der Schweiz verfügte, eine wichtige Rolle ein. 95 Für die theoretische Arbeit wurden Vorträge, Diskussionen und Publikationen organisert, die kunstwissenschaftliche, soziologische oder die praktische Arbeit betreffende Bezüge herstellten. Im Rahmen der wissenschaftlichen Institutsarbeit entstand die Arbeitsgruppe für Objektive Analyse, die sich zum Ziel setzte, experimentelle Methodenforschung der Kunst zu betreiben. Vom Januar bis April 1921 führten ihre Mitglieder regelmäßige Arbeitssitzungen durch. Sie diskutierten in vergleichenden Analysen und Diskussionen, welche schriftlich protokolliert wurden, die konzeptionellen Unterschiede zwischen Komposition und Konstruktion. Wie Maria Gogh herausstellt, handelte es sich dabei zum einen um eine Attacke auf Albertis Kompositionsregeln, wie sie über Jahrhunderte bindend waren, und zum anderen um eine weitere deutliche Distanzierung von der Kunstauffassung Kandinskys, der seine Gemälde als ›Kompositionen‹ betitelte. Dessen spirituellem, ›innerlichem‹ Kunstbegriff wird ein neues künstlerisches Prinzip – Konstruktion – zur Seite gestellt, welches für die Negation von Hierarchie, Unterordnung, Beliebigkeit, Willkür und Maßlosigkeit des
93 Rodtschenko, Alexander: »Ungegenständliche Malerei«, in: Gaßner/Gillen (1979), S. 78f, insbes. S. 79. 94 Vgl. »Institut für Künstlerische Kultur (Rechenschaftsbericht über die Tätigkeit des INChUK)« 1923, in: Gaßner/Gillen (1979), S. 100-104. 95 Es gab weitere INChUK-»Botschafter«, die Verbindungen etwa nach Ungarn, Japan und Frankreich herstellten.
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formalen Arrangements einer Arbeit steht sowie für die Zurückweisung einer rein subjektiven Wahl ihres Herstellers.96 Die Arbeitsgruppe lässt sich als ein theoretischer und organisatorischer Ausgangspunkt der konstruktivistischen Bewegung verstehen. Aus ihr entwickelten sich zwei Arbeitsschwerpunkte: 1) die theoretische Auseinandersetzung mit Fragen um Farbe, räumliche Illusion und Faktura sowie mit der Idee von Produktion (Gebrauch und Zweck) und 2) die praktische Erprobung der Inhalte aus den theoretischen Diskussionen im Rahmen von Laboruntersuchungen (Konkretisierung von Farbe, räumliche Konstruktionen). In den Notizen der Arbeitsgruppe von 1920 heißt es: »Wissenschaft und Kunst haben eine Aufgabe, nämlich die Erkenntnis und die Organisierung des Erkenntnisgegenstandes. Während die Methoden der Wissenschaft sich herauskristallisiert haben, stellen die Methoden der Kunst ein reiches noch unerforschtes wissenschaftliches Material dar. Die Gruppe nimmt sich vor, die Methoden der Kunst offenzulegen und auf empirischem Wege eine Methode zur Analyse der Objekte der Kunst und deren Mittel zu finden. Die Gruppe ist der Ansicht, daß eine Wissenschaft von der Kunst nur geschaffen werden kann, wenn es exakte, objektive Merkmale gibt, die die wahren Errungenschaften auf dem Gebiet der Kunst definieren.«97
Im weiteren programmatischen Text werden emotionale (und ethische) Momente als subjektive Ursachen für die Kunstproduktion zwar berücksichtigt, als Forschungsmethode werden sie jedoch ebenso deutlich ausgeschlossen. Auch verstehe die AG es ausdrücklich nicht als ihr Arbeitsgebiet, Voraussagen über die Folgen künstlerischer Phänomene zu formulieren. Die Kunstentstehung setze sich aus zwei Momenten zusammen: »a) dem Moment der bewußten, abstrakten, gedanklichen Konzentration, b) dem Moment der Konkretisierung der Gedanken in der Form der Kunst.« [...] Genaugenommen gibt es in der Kunst keine abstrakten Formen, es gibt gegenständliche und nicht-gegenständliche, in jedem Fall aber konkrete Formen.«98
96 Gough (2005), S. 11. 97 Babichev, Alexej: »Notizen zum Programm der Arbeitsgruppe für Objektive Analyse« um 1920, in: Gaßner/Gillen (1979), S. 109f, insbes. S.109. 98 Ebda.
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Alexander Rodtschenko: Forschen für die Produktion Wie auch andere produktivistische Vertreter der Konstruktivisten forderte Alexander M. Rodtschenko (1891-1956) von Künstlern, sich in die industrielle Produktion einzumischen und neue Gebrauchsgegenstände zu entwerfen. Die radikalsten Vertreter des Produktivismus99 waren in Anwendung marxistischer Theoreme von der Überzeugung geleitet, die Erscheinungsweise eines Gegenstandes sei nicht von rein abstrakten oder ästhetischen Überlegungen determiniert, weshalb speziell die Malerei als überkommen erachtet wurde. In Augenschein genommen wurde die ökonomische Bestimmung von Kunst. Den Produktivisten erwies sich der Wert eines Gegenstandes erst durch seinen praktischen Gebrauch, weshalb Künstler die »sozialen Ergebnisse« ihrer Praxis zu berücksichtigen hätten.100 Dass die Termini ›Produktivismus‹ und ›Konstruktivismus‹ häufig synonym verwendet werden, liegt vermutlich daran, dass beide Ansätze künstlerische und technische Aspekte des industriellen Produktionsprozesses zu fusionieren versuchten. Christine Lodder weist jedoch darauf hin, dass die Ansätze sich in ihrem jeweiligen Ausgangspunkt unterscheiden: Während der konstruktivistische Künstler sich dem Ideal besagter Fusion praktisch zuwendet, indem er aus dem gegebenen Material eine reale Form zu fertigen sucht, nähert sich der Produktivist der Fusion vom Standpunkt der industriellen Produktion aus. Er kann dies als Theoretiker tun oder als Künstler, der in die Fabrik geht. Der jeweilige Pol, von dem aus das anvisierte Ideal der Verbindung von Kunst und Produktion angegangen wird vielleicht am Besten durch die artikulierten Vorbehalte gegenüber der jeweils anderen Stoßrichtung deutlich: »Constructivism was warned at the time to ›Beware of becoming a conventional artistic school‹ and the Productivist in
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Einflussreich waren die theoretischen Leitlinien von Gan, Alexsei.: »From Constructivism«, in: Harrison/Wood (1994), S. 318-320, und Brik, Osip: »Vom Gemälde zum Kattundruck«, in: LEF (Moskau, Leningrad, 2, 6, 1924), zit. n. Charles Harrison/Paul Wood (Hg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstler schriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews, Bd. 2, Ostfildern-Ruit 2003, S. 264-268.
100 Diese Formulierung stammt von dem für die Produktivisten einflussreichen Literatur- und Kunstwissenschaftler Boris Arvatov, vgl. Lodder (1983), S. 106.
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the factory to ›Beware of becoming an applied artist-craftsman‹.«101 Rodtschenko nun entwickelte die Theorie, dass eine bestimmte Gestaltung durch die angewandte Technik, durch das Material und aufgrund seines Zwecks zu einem veränderten Verhalten seiner Nutzer beitragen könne, indem sie die Werte einer antibürgerlichen kommunistischen Welt verkörpere. 102 Rodtschenko orientierte sich nicht an bestehenden Bedürfnissen, sondern wollte neue Lebensformen etablieren, indem er aus der Kunst abstrahierte Prinzipien auf den Alltag übertrug: »Die Komposition in der Kunst veranlaßte die Menschen, eine Komposition im Leben zu machen. Sogar der in Abschnitte der Arbeit, der Erholung und der Zerstreuung eingeteilte Tag des Menschen ist eine Komposition. Daher ist es verständlich, daß die Organisation des Lebens eines Menschen auch eine Komposition ist.«103
Abbildung 7: Ruhlmann, Residenz eines Sammlers, 1925 Abbildung 8: Alexander Rodtschenko, Arbeiterclub für die internationale Kunstgewerbeausstellung Paris, 1925
101 Vgl. Lodder (1983), S. 75f. Lodder bezieht sich hier vermutlich folgenden den ursprünglich in der LEF 1, 1923 verfassten Text: Majakowski, Wladimir: »Wen warnt LEF?« In: Harrison/Wood (2003), S. 361f. 102 Vgl. Margolin (1997), S. 84-86. 103 Rodtschenko, Alexander: »Über die Komposition«, in: ders.: Rodtschenko. Aufsätze. Autobiographische Notizen. Briefe. Erinnerungen, Dresden 1993, S. 160-165, insbes. S. 160.
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Anders als jene Produktivisten, die auf die vollständige Integration der Kunst in die industrielle Produktion hinarbeiteten und davon ausgingen, dass sich in einer zukünftigen befreiten Gesellschaft Kunst als eigener Bereich erübrigen würde, sprach sich Rodtschenko für ein von den Produktionsbetrieben getrenntes Laboratorium aus. Dieses sollte Künstlern und Studierenden ermöglichen, ein der neuen Gesellschaft entsprechendes Vokabular an Formen und Gegenständen zu erarbeiten. Grundsätzlich ging es Rodtschenko darum, den Nutzer zu ermächtigen und zu einem kreierenden Umgang mit seiner Umgebung aufzufordern. Anhand der gestalterischen Entwürfe lassen sich dennoch Unterschiede ausmachen, die den Grad der Einbeziehung seiner Adressaten betreffen. So weist Victor Margolin darauf hin, dass Rodtschenkos Entwürfe für öffentliche Einrichtungen (Entwurf für das Haus der Sowjetischen Abgeordneten, 1920; Zeitschriftenkiosk The Future–Our Only Goal, 1919) der Idee zentralisierter Informationsverbreitung und einem Modell eindimensionaler Kommunikation folgen. Seine späteren Entwürfe für Gebrauchsgegenstände und Möbel sind eher von der Idee geleitet, die individuelle kreative Intelligenz der Nutzer herauszufordern und in diesem Sinn lebensstilprägend zu sein.104 Dekor und Verzierung weichen Werten wie Transparenz und Nachahmbarkeit. Eigenschaften wie Klarheit, Direktheit und Disziplin bilden Rodtschenkos neue Formensprache. Diese ebenso funktionsorientierte wie schlichte Formensprache markierte einen deutlichen Bruch mit der aristokratischen Ästhetik und dem bürgerlichen Geschmack seiner Zeit.105 Letztere hätten dazu geführt, vom Leben und von den Möglichkeiten, dieses in die Hand zu nehmen, abzulenken: »Der Mensch ist geschmückt, seine Wohnstätten sind dekoriert, seine Gedanken sind ausgeschmückt, alles ist mit Fremden und Unnötigen dekoriert, um die Leere des Lebens zu verdecken. Das Leben, diese einfache Sache, hat man bisher noch nicht gesehen, nicht gewußt, daß es so einfach und klar ist, daß man es nur noch organisieren und von aller überflüssigen Ausschmückung befreien muß.« 106
104 Vgl. hierzu die ausgezeichnete Analyse von Victor Margolin, in: Margolin (1997), S. 16-22. 105 Ebda. 106 Rodtschenko, Alexander: »Die Linie«, 1921, in: Harrison/Wood (2003), S. 348-351, insbes. S. 350.
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Generell lässt sich über Rodtschenkos konzipierte ›Gegenstände‹ sagen, dass ihnen die Vision eines hypothetischen Nutzers, der seinem Ideal einer kommunistischen Gesellschaftskultur entspricht, zugrunde liegt. Von der Nichtigkeit der Kunst im traditionellen Sinn überzeugt, arbeitete Rodtschenko an einer Synthese von Ideologie und Form. Das heißt, sein Materialismus orientierte sich weniger an der materiellen Natur der Dinge als an der Produktionsweise, an welcher die kulturelle Form angepasst werden müsse.107 Abbildung 8: Alexander Rodtschenko: Wohnung in der Myasnicka Straße (Fotografie), 1925
Rodtschenkos konsequenter Bruch mit Malerei ist also keine Absage an die Bildproduktion an sich. Gerade seine fotografische Arbeit zeigt den Versuch, eine dem technischen Stand der Zeit angemessene Bildästhetik zu entwickeln und die hierdurch möglich gewordenen ›Einstellungswechsel‹ zu erforschen. 1928 schrieb Rodtschenko in der Zeitschrift LEF: »Um den Menschen zu lehren, von neuen Standpunkten aus zu sehen, ist es unerläßlich, die alltäglichen, ihm wohlbekannten Dinge von völlig ungewohnten Standpunkten aus und in unerwarteten Situationen aufzunehmen, die neuen Objekte aber
107 Foster, in: Walker Art Center (1990), S. 243.
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von verschiedenen Standpunkten aus, um den Menschen eine Vorstellung von dem Objekt zu geben.«108
El Lissitzky: Der Kunst ein soziales Fundament geben
Die weitere Bearbeitung und Anwendung der hier niedergelegten Ideen und Formen überlasse ich den anderen und gehe selbst an meine nächste Aufgabe.109 EL LISSITZKY
Der materialistischen Auffassung des keimenden Produktivismus widersprach El Lissitzky, der die Kunst zunächst noch nicht auf die Herstellung von Gebrauchsgegenständen reduziert verstanden wissen wollte. Lissitzky kam es darauf an, den Begriff der Zweckdienlichkeit von der Frage der unmittelbaren Gebrauchsfähigkeit zu trennen. In der zusammen mit Theo von Doesburg in Berlin ab 1920 herausgegebenen Zeitschrift »Weschtsch. Objet. Gegenstand«, ein internationales110 Publikationsorgan neuer Kunstbewegungen, das Verbindungen zu De Stijl und Dada zog, grenzen die Autoren sich von produktivistischen Programmatiken dezidiert ab. 111 Als »utilitaristisch« kritisiert Lissitzky jene Vertreter des Konstruktivismus, die 108 Rodtschenko, Alexander: »Wege der zeitgenössischen Fotografie« (»Neue LEF«, 1928), in: Gaßner/Gillen (1979), S. 217f, insbes. S. 218. Rodtschenko brach mit der Kunstfotografie seiner Zeit, den Picturalisten, die symbolistisch beeinflusst, die Fotografie durch phantastische, mystisch-melancholische Bild themen in den Stand der Kunst gehoben hatten und sich ganz auf die Erzeugungen von ›Stimmungen‹ und ›Seelenzuständen‹ konzentrierten. 109 Lissitzky, El: »Die plastische Gestaltung der elektromechanischen Schau ›Sieg über die Sonne‹«, in: Lissitzky-Küppers (1992), S. 253. 110 ›International‹ zumindest in Hinblick auf deren Verbreitung. Die Artikel waren vornehmlich in russischer, z. T. in deutscher oder französischer Sprache verfasst. 111 In einem Rechenschaftsbericht des Instituts INChUK, dem Zentrum der Kunst debatten, wird Lissitzkys »Dingismus« bereits 1923 als »schon veraltete Ideologie« bezeichnet. Vgl. Gaßner/Gillen (1979), S. 103.
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beispielsweise behaupten, Architektur und Ingenieurarbeit seien deckungsgleich. Im Gegensatz hierzu wird die Kunst nach Lissitzky »in ihrer Eigenschaft, durch emotionelle Energieladungen das Bewusstsein zu ordnen, zu organisieren und zu aktivieren, anerkannt.« 112 Selbst verwendete Lissitzky für sein Forschungsfeld auch die paradoxe Bezeichnung »amaterielle Materialität«. In einer Erweiterung von Kasimir Malewitschs suprematistischer Abstraktion ging er davon aus, dass Formen ein neues Bewusstsein verkörpern können, indem sie auf Bedingungen verweisen, die außerhalb der Limitierungen zeitgenössischer Lebenserfahrung stehen. 113 Bereits anhand der Prounen wird Lissitzkys besonderes Interesse an raumzeitlichen Komponenten der Wahrnehmung erkennbar, deren Darstellung und Hervorbringung er bei den italienischen Futuristen und im Suprematismus nur unbefriedigend gelöst findet. Zwar hätten die Futuristen »statische Flächen, die die Dynamik bezeichnen« geschaffen, habe auch Boccionis Dynamisierung einer Plastik durch einen Motor »naturalistisch« organische Bewegung »imitiert«, hätten Tatlin und die Konstruktivisten Bewegung »symbolisiert« (gemeint ist das Denkmal der III. Internationale in Moskau), habe Prusakows bewegliches Relief eine Fabrikkomiteesitzung »karikiert« und Gabo die pendelnde Bewegung eines Metronoms »stilisiert«,114 ihnen gemein sei aber ihr Verhaftetsein in der Darstellung von Bewegung, aufgrund dessen unausweichlich »ästhetische Reminiszenzen« zum Tragen kämen. Seine Konsequenz: »Die Aufgabe, allein die Bewegung zu gestalten, stellen wir uns nicht. Die Bewegung ist hier als ein Bestandteil in den Gesamtkomplex der Elemente, die den neuen Körper aufbauen sollen, hineinbezogen.«115 An anderer Stelle betont er, die Aufgabe der Kunst sei »nicht Darstellen, sondern Dastellen.« Parallel zur Wissenschaft sei die Kunst zu derselben Formel gekommen: »Jede Form ist das erstarrte Momentbild eines Prozesses. Also ist das Werk Haltestelle des Werdens und nicht erstarrtes Ziel.« 116
112 Lissitzky, El: »Ideologischer Überbau« (1929), in: Lissitzky-Küppers (1992), S. 375f., insbes. 376. 113 Vgl. Margolin (1997), S. 36. 114 Lissitzky, El: »K. und Pangeometrie«, in: Lissitzky-Küppers (1992), S. 353358., inesbes. 357. 115 Ebda., S. 358. 116 Lissitzky, El: »Element und Erfindung«, in: Lissitzky-Küppers (1992), S. 351f, insbes. S. 352.
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Begegnete Lissitzky jenen produktivistischen Vertretern, die Kunst in den gesellschaftlichen Alltag derart integrieren wollten, dass sie in diesem restlos aufgeht, zunächst noch mit Skepsis, so wendete er sich andererseits gegen die (im Sinne des Verweischarakters) repräsentative Funktion künstlerischer Hervorbringungen. An den perzeptiven Möglichkeiten der Kunsterfahrung festhaltend gehen Lissitzkys Bemühungen dahin, jene Erfahrung aus der »individuellen Isoliertheit« zu entlassen und ihr ein »soziales Fundament« zu geben. Folgende Notiz kann einen Hinweis darauf geben, dass er dabei weniger von einem Idealbild des Betrachters ausging, als vielmehr an dessen konventionalisierte Erfahrungen anschloss: »Anläßlich meiner ersten Ausstellungen in Rußland bemerkte ich, daß die Besucher immer fragten: Was stellt es dar? Denn sie waren gewöhnt, Bilder zu betrachten, die auf der Grundlage entstanden waren, etwas darzustellen. Mein Ziel [...] ist nicht darzustellen, sondern etwas selbständig Gegebenes zu bilden.«117
In seinem Aufsatz »K. [= Kunst, RP] und Pangeometrie« entwickelte Lissitzky eine Art Genealogie von Perspektiv- und Raumvorstellungen in der Kunst. Beginnend mit dem Satz »Das Sehen ist nämlich auch eine Kunst« parallelisierte Lissitzky die Entwicklungen in der Kunst und Physik bzw. Mathematik als Abfolge verschiedener Raumvorstellungen: vom Planimetrischen zum Perspektivischen zum Irrationalen bis hin zum imaginären Raum. »Jede Proportion setzt die Unveränderlichkeit der Elemente voraus (klassische Säulenordnung), jede Transformation die Veränderlichkeit (Suprematismus). Werke der alten Kunst kann man vergrößern oder verkleinern, die der neuen transformieren.«118 Seine Demonstrationsräume (Internationale Kunstausstellung Berlin 1922, Internationale Kunstausstellung Dresden 1926, Niedersächsische Landesgalerie Hannover 1927/28), aber auch die Ausstellungsarchitekturen für den russischen Pavillon auf der Internationalen Presseausstellung Pressa in Köln (1928) können als Experimente angesehen werden, imaginäre Räume zu kreieren und dabei den Status des Publikums zu verändern und ihn zum aktiven Bestandteil räumlicher Erfahrung zu machen: »Keine nach außen abgeschlossenen Einzelkörper, sondern Beziehungen und Verhältnisse. Das Offene, Körper, die aus
117 Lissitzky, El: »Aus einem Briefe« (1925), in: Lissitzky-Küppers (1992), S. 359. 118 Lissitzky, in: Wolkenbügel (1977), S. 25f.
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der Bewegung, aus dem Verkehr und in dem Verkehr entstehen.«119 Interessanterweise setzt Lissitzky dabei weniger auf den Voluntarismus seines Publikums, sondern kreiert Räume, welche die Aktivität notwendig machen und den Besucher dazu auffordern, sich über seinen eigenen Anteil an der Raumwahrnehmung klar zu werden: »Er [der Besucher, RP] ist physisch gezwungen, sich mit den ausgestellten Gegenständen auseinanderzusetzen.« 120 An dieser Stelle ist festzuhalten: Lissitzky legte bereits ein Rezeptionsverständnis zugrunde, welches die Idee einer bloßen Subjekt-ObjektGegenüberstellung hinter sich lässt. Dieses verfolgt er, indem er sich der architektonischen Gestaltung einer Situation widmet, in der räumliche Gegebenheiten, bewegliche Elemente und unbewegliche Elemente, Lichtwirkungen, Farben und die Handlungen der Besucher zusammenwirken. Insofern können wir mit Brian O‘Doherty diese Arbeit als ersten ernsthaften Versuch bezeichnen, »den Kontext zu formieren, in dem sich moderne Kunst und der Betrachter begegnen«.121 Lissitzkys Arbeit entwickelte sich aus der Einsicht in die Möglichkeiten der Abstraktion. Inzwischen ist auch die besondere Bedeutung der Prounen als Mittel für den Übergang vom abstrakten (Bild-)Raum zum konkreten (architektonischen) Raum besser verständlich: Während das gegenständlich gemalte Bild wie ein illusionäres Fenster in einen fiktiven Raum außerhalb der Realität verweist, macht das ungegenständliche Bild auf die ›Gemachtheit‹ und Konstruierbarkeit von Räumlichkeit mithilfe des Bildes aufmerksam. Dabei wird gleichfalls die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Bild und Betrachter möglich oder sogar notwendig. Auf diese Weise auf den realen Raum zurückverwiesen, wird das Geschehen zwischen Bild und Betrachter konkretisiert: Der reale Raum als potenzielles Gestaltungsgebiet ist erschlossen. Auch der Status des Bildes verändert sich somit fundamental: »Und wir stellen jetzt ein Werk auf, das in seiner vollen Wirkung überhaupt nicht handgreiflich ist.« 122 Joost Baljeu beschreibt es wie folgt:
119 Lissitzky, El: »SSSR´s Architektur« (1925), in: Lissitzky-Küppers (1992), S. 370-372, insbes. S. 371. 120 Lissitzky, El: »Demonstrationsräume«, in: Lissitzky-Küppers (1992), S. 366f, insbes. S. 367. 121 O´Doherty, Brian: »Kontext als Text«, in: Wolfgang Kemp (Hg.) In der weißen Zelle. Inside the White Cube, Berlin 1996 (1976), S. 70-97, insbes. S. 98. 122 Lissitzky, in: Lissitzky-Küppers (1992), S. 353.
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»Für ihn [Lissitzky, RP] ist das Bild ein Fragment des unendlich dreidimensionalen Raumes, in dem sich eine drei- oder mehrdimensionale Bewegungskonstellation abspielt. Mehrdimensional bedeutet hier nichts anderes, als daß die verschiedenen Körper, aus denen ein Proun aufgebaut ist, sich nicht nur vom Standpunkt des Betrachters aus bewegen (nach vorn und nach hinten), sondern auch in Beziehung zueinander alle möglichen räumlichen Richtungen einschlagen. [...] Hier kommen wir zum Kern dessen, was Proun darstellen will: ein Gefüge von Achsensystemen, die zueinander in Beziehung stehen. Lissitzky strebt nicht danach, Körper in Ruhe wiederzugeben, sondern vielmehr ein dynamisches Spiel von Bewegungen in vielerlei Richtungen im Raum. Jedes körperliche Element ist zu betrachten als Raum, der zwischen mehreren Flächen eingefangen ist, und nicht statische Masse. [...] Die Verhältnisse, in denen diese räumlichen Formen zueinander stehen, sind nicht zufällig, sondern geregelt nach einem Koordinatensystem.«123
Die Bemühungen von Rodtschenko gingen dahin, dem Menschen Möglichkeiten aufzuweisen, mithilfe von Gegenständen sein Alltagsverständnis umzuwerten bzw. ihm bei einem Veränderungsprozess, der durch den politischen Umbruch eingeleitet war, unterstützend zur Seite zu stehen. Rodtschenkos Ansinnnen war es, durch Analyse die Machart von Kunstwerken, aber auch die Herstellung herkömmlicher Kunstwerke zu verstehen und mithilfe neugewonnener Verfahren die Kunst qua Gegenstand in den Alltag ›einzulassen‹. Er schuf eine neue Art von Alltagsgegenständen, die eine neue Art der Nutzung mit sich brachten. Lissitzky setzte gewissermaßen am anderen Ende an: Er versuchte, die Kunst mit Blick auf den Menschen zu öffnen. Er berücksichtigte die Aktivität des Betrachters für seine künstlerischen Konzeptionen von Räumen, um auf das grundsätzliche Zusammenspiel der Wahrnehmungskomponenten aufmerksam zu machen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass Lissitzky – bevor er endgültig nach Russland zurückkehrte und sich verstärkt staatlichen Aufträgen widmete – seine Arbeiten nicht ausschließlich an die russische Öffentlichkeit richtete. Er verschuf sich ebenso in Deutschland, der Schweiz und Frankreich Geltung. Anders als Anton Pevsner und Naum Gabo, die sich zunehmend von den politischen oder kunstkritischen Ambitionen der Konstruktivisten distanzierten und den Konstruktivismus schließlich zu einer rein ästhetischen Idee umformulierten, bemühte sich Lissitzky verstärkt um die Durchsetzung eines
123 Baljeu, in: Lissitzky-Küppers (1992), S. 392f.
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an neue soziale Funktionen gebundenen Kunstbegriffs.124 Ambivalenter gegenüber der Revolution eingestellt als Rodtschenko125 brachte er dennoch zum Ausdruck, wie impulsgebend sich die politische Aufbruchstimmung auf die Kunst ausgewirkt habe. Beide Künstler, die sich später in ihren Arbeitsweisen aufeinander zubewegten und sich fast ausschließlich der Fotografie bzw. Fotomontagetechniken widmeten, begriffen es als ihre Aufgabe, neue Demonstrationswege und Funktionen für die Kunst zu erarbeiten. Unter Zurücknahme der individuellen Perspektive arbeiteten sie an einem neuen, der Zeit gemäßen Formenvokabular und an der Analyse, Verbesserung und Verbreitung ästhetischer126 Kommunikationswege. Dabei wurde die Raumwahrnehmung von ihnen dergestalt koordiniert, dass vorhandene Interaktionsmöglichkeiten wahrnehmbar werden konnten (Lissitzky). Dinge wurden so konzipiert, dass deren Gebrauch eine deutlich über das Objekt hinausreichende organisierende Funktion erhielten (Rodtschenko). Aus den hier dargelegten Punkten können wir schließen: Rodtschenko und Lissitzky bedienten sich der Kunst, um Kollektivität entweder auf neue Art leben und denken zu können oder sie überhaupt erst erfahrbar zu machen. Parallel zur ›Nutzbarmachung‹ künstlerischer Forschung ging es ihnen um das Vorhaben, die Vorzüge von Sozialität zu erforschen und zu erproben, sie zu nutzen und zu konkretisieren. Der amerikanische Kunsthistoriker und Spezialist für Designtheorie und -geschichte Victor Margolin stellt mit seiner Bezeichnung »künstlerisch-
124 Hierzu gehört auch die Reichweite seiner Betätigungsfelder und die Überwindung der etablierten Medienklassifikationen wie sie insbesondere in der Trennung zwischen freier und angewandter Kunst deutlich wurden. Lissitzky äußerte sich dazu sehr deutlich: »Das Wort Design vermittelt nicht die ganze kreative Substanz unserer Arbeit. Ich wage zu sagen, dass die Arbeit an den ›Grundlagen‹ bestimmter Zeitschriftenhefte (von USSR am Bau) und anderen nicht weniger intensiv war als die an einem Gemälde.«, Lissitzky, El, zit. n. Tupitsyn, Margarita: »Zurück nach Moskau«, in: dies. (Hg.): El Lissitzky. Jenseits der Abstraktion. Fotografie, Design, Kooperation (Sprengel Museum Hannover), München 1999, S. 51. 125 Vgl. Margolin (1997), S. 43. 126 ›Ästhetisch‹ – den Begriff verwende ich hier im Sinne seiner Ableitung von ›Aisthesis‹ (gr.) = Wahrnehmung.
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soziale Avantgarde« (artistic-social avantgarde) eine weitere Besonderheit bestimmter Avantgardisten heraus, die für Lissitzky und Rodtschenko zutrifft: »The ambition of the artistic social avantgarde was to close the gap between discursive acts, which were confined to postulation and speculation, and pragmatic ones, which involved participation in building a new society.« 127 Die Verschränkung von sozialen und künstlerischen Änderungsansprüchen bedeutet nach Margolin auch, die Hierarchie von geistigen und manuellen Tätigkeiten abzubauen. Das Bewusstsein dafür, dass beide Bereiche menschlicher Betätigung idealiter untrennbar sind und dass insofern die mit der Arbeitsteilung einhergehende Hierarchisierung zu überwinden sei, lieferte Lissitzky und Rodtschenko die Möglichkeit, sich von dem traditionellen Kunstverständnis, nach dem der Künstler nur in einem eng gesteckten, der »bürgerlichen Kultur« zugeordneten Bereich tätig sei, zu lösen.128 Vielleicht sind es die – nicht nur in der Kunst, sondern auch in vielen anderen Betätigungsfeldern – sich hartnäckig haltenden Trennungen und Teilungen, welche die Arbeiten von Rodtschenko und Lissitzky immer wieder so aktuell scheinen lassen. Abbildung 10: »Novy LEF«, Nr. 1 (1928), Entwurf: Alexander Rodtschenko Abbildung 11: »Novy LEF«, Nr. 7 (1927), Entwurf: Alexander Rodtschenko
127 Margolin (1997), S. 3. 128 Gough (2005), S. 8.
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Z UR G ESCHICHTLICHKEIT Z WEITE H ISTORISIERUNG
KÜNSTLERISCHER
P RAXIS :
Bei der im vorigen Abschnitt vorgenommenen ersten Historisierung ging es darum, Lissitzkys Werkbegriff in ein Verhältnis zu dessen Entstehungsbedingungen zu setzen. Die politische Neuordnung nach der Oktoberrevolution machte die organisatorische und konzeptionelle Umstrukturierung des künstlerischen Lebens ebenso möglich wie notwendig. Erhoffte man, sich auf politischer Ebene der überkommenen Strukturen entledigen zu können, so galt dies ebenso für das Terrain künstlerischer Betätigung: Die Aussicht, sich von den akademischen Bestimmungen und dem Geschmacksdiktat einer ästhetisch und politisch wertkonservativen Elite lösen zu können, setzte offenbar enorme Kräfte frei. Endlich konnten jene Wissengebiete und Fähigkeiten zur Anwendung kommen, welche – bislang der illegitimen Kultur zugehörig – keine offen sichtbare Wirkung hatten entfalten können. Bevor ich zur zweiten Historisierung übergehe, möchte ich nochmals die wichtigsten Entwicklungen und Aspekte des ›sozialen Kunstbegriffs‹ darlegen. Facetten von Kollektivität In der politisch unübersichtlich Lage unmittelbar nach der Revolution war es notwendig, sich zu Gruppen zusammenzuschließen,, um Interessen vorbringen zu können und sich Gehör zu verschaffen. Der sich durchsetzende marxistisch-sozialistische Diskurs erwartete neue Antworten zum Verhältnis von Kunst und Kollektivität. Wie aus den bereits zitierten Äußerungen und Polemiken deutlich wird, fallen die Begründungen für die selbstermächtigende Rolle der Avantgardisten und für ihren Wunsch, innerhalb der neuen kulturpolitischen Ordnung eine einflussreiche Stellung einzunehmen, dennoch extrem divers aus. Auffällig spricht aus den hier angeführten Texten Misstrauen und Skepsis gegenüber dem Motiv der neuen Regierung, die Massen ›von oben› erziehen zu wollen. Das Aufkommen der ›sozialen Kunstbegriffe‹ lässt sich also nicht einfach auf eine Anpassungsleistung an die neuen politischen Verhältnisse reduzieren. Tatsächlich war in den ersten Jahren auch noch keine stabile Formation auszumachen, auf die man sich hätte berufen können. Was sich den Äußerungen aber mit Sicherheit entnehmen lässt, ist die Bereitschaft, sich der Kontroverse zu stellen und die Auseinandersetzung über die einzuschreitenden Schritte öffentlich zu verhandeln.
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Die marxistisch geprägte Individualitätskritik führte zu einer sehr grundsätzlichen Überprüfung und Revision konventioneller künstlerischer Arbeitsweisen. Der »werkelnde Individualist«, »der im verschlossenen Kabinett seine Bilder auf der dreibeinigen Staffelei ausführt«129, wurde zum Inbegriff eines Selbstverständnisses, mit dem es abzuschließen galt. Handlungsleitend wurde diese Kritik vor allem in künstlerisch-methodischer Hinsicht. Sozialität stellte sich als unerforschtes Arbeitsgebiet dar: Als künstlerische Arbeitsform, Aufgabe und Adresse. Besonders gut ist die neue, sich auf alle möglichen Lebensbereiche erstreckende Aufmerksamkeit für kollektive Muster und Prozesse an den Auseinandersetzungen um die Frage ›Konstruktion versus Komposition‹ abzulesen. Die systematischen Untersuchungen der europäischen Moderne in der Sammlung Sergei Shchugin,130 welche die Arbeitsgruppe bei regelmäßigen Treffen im Museum durchführte, mündeten in Analysen eigener Arbeiten und in Definitionsversuchen der Spezifika derselben hinsichtlich rhythmischer, räumlicher und organisierender Faktoren. Immer wieder ging es um den Zusammenhalt und die Separierungsmöglichkeiten der verschiedenen Elemente und Faktoren, aus denen eine künstlerische Arbeit besteht. Im Mittelpunkt stand die Frage nach den Beziehungen zwischen den Teilen und zum Gesamten. Die Arbeitsgruppe der Konstruktivisten widmete sich eingehend der Wirkungsweise von Farbe, Form, Materialqualitäten, Perspektivität, Verankerungszentren und Statik. Dabei lag der Fokus aber nicht ausschließlich auf dem Gegenstand der Malerei und den bald entstehenden Raumkonstruktionen. Indem die Künstler ihre Wahrnehmungen notierten, verglichen und die ›sozialen Ergebnisse‹ in die weiteren Untersuchungen einbezogen, machten sie auch sich selbst und die Verschiedenheit ihrer Wahrnehmungen zum Versuchsobjekt. Zu vermuten ist, dass hier bereits komparatistische Methoden im Bereich visueller Wahrnehmung zur Anwendung kamen. Künstlerische Forschung – soviel lässt sich jedenfalls sagen – bezog diverse neue
129 Lissitzky, El, zit. n. Elger (2000), S. 12. 130 Diese Sammlung, die vor ihrer Nationalisierung 1918 sonntags öffentlich zu gänglich war, war unter Künstlern sehr bekannt und wichtig für ihr Verständnis der europäischen (vorwiegend französischen) Moderne. Unter anderem enthielt sie Werke von Claude Monet und den Impressionisten inklusive Paul Signac, Paul Cézanne, Paul Gauguin, Henri Matisse und Pablo Picasso. Vgl. Gough (2005), S. 34.
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Formen der Organisierung, der Mitbestimmung, neuer Arbeitsweisen sowie von Lehr- und Lernmethoden mit ein. Ein neues und an Möglichkeiten reiches Forschungsfeld hatte sich aufgetan. All das spricht dafür, dass kollektive Arbeitsprozesse und Gemeinwesenorientierung nicht bloß als theoretische Ansprüche formuliert, sondern tatsächlich hinsichtlich ihrer Potenziale erkundet wurden.131 Dass die Entdeckung der Kollektivität und die Erarbeitung eines ›sozialen Kunstbegriffs‹ nicht auf den Druck ›von oben‹ rückführbar ist, sondern den vitalen Bedürfnissen vieler Kulturschaffender entsprach, kann auch sozialhistorisch begründet werden. Insbesondere für die jungen Vertreter der russischen Intelligentija132 – Angehörige einer gebildeten Schicht, die in der Regel aus armen Verhältnissen stammten und engagiert am öffentlichen Leben teilnahmen – schien endlich ein Weg geebnet, um gestaltend am kulturellen Leben teilnehmen zu können. In die Isolation des Außenseiters gedrängt, litt die Intelligenzija schon vor der Revolution unter der Entfrem-
131 Hinwegtäuschen soll das keinesfalls darüber, dass sich parallel hierzu neue Führungspersönlichkeiten zu behaupten wussten, die sich auf bewährte »spitze Dreiecke« hierarchischer Sozialorganisation verließen. Malewitschs Anspruch auf die Vorrangstellung seiner Kunst (›Supremat‹ = Vorherrschaft) und der von ihm geschickt inszenierte und von seinen Anhängern dankbar gepflegte Personenkult sind hinlänglich bekannt. Sie haben vermutlich zu jenem Ruhm beigetragen, der die Aktivitäten seiner Kollegen und Kritiker bis heute überstrahlt. Dennoch lassen sich an den hier angeführten Arbeitsweisen und Stellungnahmen ein deutliches Interesse an Alternativen zu solchen künstlerischen Durchsetzungsstrategien ablesen. 132 Es gibt diverse Definitionen der russischen Intelligenzija. Geprägt wurde der Begriff durch den russischen Publizisten Pjotr. D. Boborykin in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Er bezeichnete damit eine Bildungsschicht, die gebildet und aufklärerischen Idealen verpflichtet ist, und die zur Entwicklung und Verbreitung der Kultur beitrüge. Später wurden auch ›ungebildete‹ Schichten zur Intelligenzija hinzugerechnet, insofern sie aktiv am öffentlichen Leben teilnahmen. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Intelligenzija (April 2009). Für das Selbstverständnis der Intelligenzija ist die Erfahrung der Marginalisierung und politischen Verfolgung im Zarenreich bedeutsam, weshalb ihr auch eine staatsfeindliche Einstellung zugeschrieben wird. Vgl. Brockhaus Lexikon in 20 Bänden, Wiesbaden 1982, Bd. 8, S. 308.
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dung, die das Verhältnis zwischen ihr und der Mehrheit der Bevölkerung charakterisierte. Das Gefühl der Entfremdung beschreibt Jarolav Andel als bestimmendes Charakteristikum der modernen Welt des 19. und 20. Jahrhunderts. Besonders dramatisch wirkten sich die Veränderungen in Russland aus, da die industrielle Revolution hier später als in anderen europäischen Ländern begann und eine Mittelklasse praktisch nicht existierte. Die Entfremdung rührte für die russische Intelligenzija insofern von zwei Seiten her: Von der feudalen zaristischen Elite und der zu überwiegenden Teilen bäuerlichen Gesellschaft.133 Die Hinwendung und das intensive Studium von volkstümlichen Motiven und Kulturtechniken der Folklore – wie sie bei Chagall und noch im Frühwerk von Kandinsky, Malewitsch, Tatlin und Lissitzky auftreten – zeigt das Interesse an einer Kultur, die zunehmend an Bedeutung verlor.134 Die von wirtschaftlicher Not ausgehende Landflucht hatte die Auflösung traditioneller dörflicher Gemeinwesen unübersehbar gemacht. Das bot jenen Intellektuellen, die aufklärerischem Gedankengut aufgeschlossen gegenüber standen, den Anlass, Vorstellungen darüber zu entwickeln, wie das verlorene soziale Eingebundenheitsgefühl durch progressiv organisierte Lebensformen wiedererlangt werden könne. Bereits im 19. Jahrhundert hatte etwa der Philosoph und Schriftsteller Nicolai Tschernyschewski in seinem Roman »Was tun?« (1863) ein Idealbild »neuer Menschen« entworfen: Gebildet und kollektiv denkend sollten sie in der Lage sein, ihr Schicksal selbst zu lenken. Tschernyschewskis utopischer Entwurf – Vorlage für Lenins bekanntere Schrift mit gleichem Titel – hatte Fjodor M. Dostojewskij wiederum zu scharfer Kritik herausgefordert.135 Tschernyschewskis Ideal des neuen Menschen, der sich ohne Toleranz für eigene Schwächen, asketisch und zielorientiert für eine aufgeklärte Kulturgesellschaft einsetzen würde, lehnte er deutlich ab. Dostojewskij sah im westlichen Liberalismus eine prinzipiell utilitaristische Gesellschaftsordnung heranziehen, vor dessen unmenschlicher ›Logik der Tabelle‹ er polemisierend warnte. Die Erfindung von Utopien und deren Überprüfung hatte unter russischen Intellektuellen also bereits eine Vorgeschichte. Die Beschäftigung
133 Vgl. Andel, in: Walker Art Center (1990), S. 250. 134 Vgl. Gaßner/Gillen (1979), S. 18. 135 Nachzulesen in Dostojewskij, Fjodor M.: Aufzeichnungen aus einem Kellerloch (dt. von Swetlana Geier), Stuttgart (1864) 1984.
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mit gesellschaftlichen Alternativmodellen, politisches Engagement, Aufstände und deren Niederschlagung gehörten zum Erfahrungsbereich eines nicht unerheblichen Teils der Bevölkerung unter zaristischer Herrschaft. Ebenfalls präsent war die von Anarchisten, Kommunisten, Arbeiterbewegungen und Sozialrevolutionären betriebene Bildungs- und Agitationsarbeit in Dörfern, Kommunen und Räten. Diese Arbeit hatte bereits 1905 zu der von Fabrikarbeiterinnen eingeleiteten friedlichen Revolution geführt, welche vom zaristischen Regime blutig niedergeschlagen worden war. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen von staatlicher Repression und hinsichtlich des hohen »Organisationsgrade«136 der russischen Bevölkerung wird der Wunsch vieler Künstler verständlicher, die Kunst demokratisieren und das neu entstehende Massenpublikum erreichen zu wollen. Aufklärung wurde dabei als selbstverständlicher Bestandteil und als Voraussetzung für die Veränderungsprozesse angesehen. Abstraktion im Zeichen von Bruch und Kontinuität Zu einem großen Teil war das Aufkommen der ›sozialen Kunstbegriffe‹ also durch die gesellschaftspolitisch motivierte Wertschätzung und erfahrene Notwendigkeit von Zusammenschlüssen bedingt. Hinzu kam ein zum Teil von Theorie überformtes Ideal von Gemeinschaft. Gleichzeitig machten sich in diversen Alltagsbereichen Spuren abstrakter oder rationalisierter Organisationsprozesse bemerkbar. Neueste wissenschaftliche Forschungen schürten den Wunsch – auf der Ebene von Zeichen und Symbolen –, eine universelle Sprache erarbeiten zu wollen. Die abstrahierte Form, die mathematische Formel, maschinelle Zeitrhythmen, die Grundeigenschaften von Materialien und die Beschäftigung mit den elementaren Bausteinen, aus denen eine Kultur zusammengesetzt ist – all das versprach ein Set an modernen universellen Grundlagen zu bieten, auf denen sich der als notwendig erachtete umfassende Paradigmenwechsel gründen ließ. Vielleicht wurde er hierdurch sogar überhaupt erst denkbar.137 Die Ablösung der natu-
136 http://eeo.uni-klu.ac.at/index.php/Revo-lution_%281905%29#top (Mai 2010). 137 Besonders in Eisensteins und Vertovs Filmen werden diese Alltags- und Bildsprachen visualisiert und rhythmisch übersetzt. Man bedenke, dass die technischen Errungenschaften – der Ausbau der Verkehrs- und Kommunikationsmedien einschließlich aller Negativfolgen rationalisierter Arbeitsprozesse – Bedingung für den kulturübergreifenden Austausch der europäischen Avantgarden
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ralistischen Darstellung durch die abstrakte Form wird heute häufig als bewusste Distanzierung von einer einengend empfundenen traditionellen Kultur und als Zeichen der Modernität im Sinne radikalen Neubeginns gewertet. Der Zeitgenosse, Beobachter und Kenner der avantgardistischen Strömungen Leo Matthias kam bei seinem Versuch, darüber hinausgehende Erklärungen für das in Russland auffallend breite Interesse an den abstrakten Bildsprachen zu finden, zu einem anderen Ergebnis. In seinem 1921 publizierten Russland-Reisebericht erläutert der deutsche Publizist die euphorische Arbeit an der »Esperantosprache der Formen« folgendermaßen: »Wenn man in Paris zu dieser Esperanto-Sprache kam, so war das der Punkt hinter einer Tradition; dieser Punkt war zwar an sich, wie jeder Punkt, international, aber er war trotz alledem französisch, weil er die Logik seines Daseins vom Ende einer nationalen Tradition empfing. Die absolute Malerei ist in Russland ganz anders zu bewerten als in Paris. Sie bedeutet als Symptom etwas ganz anderes [...] Weil man eine konkrete Tradition niemals besaß, liebte man die abstrakte Malerei.«138
Diese Analyse klingt erstaunlich. Zumal heute rege an der Rehabilitation der russischen Maler des ›silbernen Zeitalters‹ gearbeitet wird und wir im Zuge dessen gerade mit vielen Wiederentdeckungen der russischen Malerei aus der zaristischen Zeit vertraut gemacht werden.139
war. Dies galt zumindest bis zur Russland-Blockade. Aber auch die Verfügbarkeit von sozial- und systemkritischer Literatur wie bspw. von Nietzsche, Marx, Dostojewski und Freud und deren grenzüberschreitende Rezeption gehörten zur länderübergreifenden Vorgeschichte avantgardistischer Strömungen. 138 Matthias, Leo: Genie und Wahnsinn in Russland: Geistige Elemente des Aufbaus und Gefahrenelemente des Zusammenbruchs, Berlin 1921, S. 52. 139 Allzu deutlich bildet sich, an der großen Aufmerksamkeit für die Kunstsammler des Putin-Russlands oder etwa für die Rückkäufe der Fabergé Ostereier derzeit ab, wie eng Kultur, Politik und Geschichtsschreibung verbunden sind: »Der 46Jährige ist Mitinhaber der Investmentgesellschaft Renowa, die bedeutende Anteile an Öl- und Aluminiumkonzernen hält. Sein Vermögen wird auf 3,3 Millarden Dollar geschätzt. Es sei ein Privileg gewesen, die Werke, die die Seele des russischen Volkes religiös, spirituell und emotional berührten, zurückzuholen, sagte der in der Ukraine geborene Wechselberg. Und während Chodorkowski mit seinen Milliarden die liberale Opposition unterstützte, sind die za-
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Matthias, der sich in den Museen und Ateliers einen umfassenden Einblick verschafft hatte, waren diese Werke durchaus bekannt. Er erwähnte, beschrieb und beurteilte zahlreiche Vertreter des russischen Impressionismus, Symbolismus und Realismus. Dennoch kam er zu dem Schluss, es habe in Russland keinerlei »konkrete« – hier im Sinne von ›naturalistisch‹ gemeint – Tradition gegeben. Wohl aber eine ›abstrakte Tradition‹. Matthias geht es darum, die Bedeutung der Ikonenmalerei und des bäuerlichen Kunsthandwerks hervorzuheben. Beide in der Volkskultur verankerten Kulturtechniken würden (für eurozentrisch geprägte Augen offenbar überraschend) abstrakte Bildsprachen aufweisen.
ristischen Eier ein nationales Symbol, das ganz nach dem Geschmack von Präsident Putin zu sein scheint: Nach Bekanntgabe des Kaufs wurde Wechselberg prompt vom staatlichen Fernsehen als Vorbild für Russlands Reiche präsentiert.« souce: weltspiegel, zit. n. http://www.royal-magazin.de/russia.htm (Februar 2010). »Die von Wechselberg erworbene Sammlung enthält Gagarina zufolge etappemachende Werke, so zum Beispiel das erste von Faberge für die Zarenfamilie angefertigte Osterei mit goldenem Hühnchen, das 1885 im Auftrag des Zaren Alexander III., Vater des letzten russischen Zaren Nikolaus II., für die Zarin Marija Fjodorowna angefertigt worden war. Gerade es leitete die Osterserie ein. Das Geschenk gefiel der Zarin so sehr, dass der Auftrag seit dem traditionell wurde.« Vgl. http://russlandonline.ru/rukul0010/morenews.php ?iditem=333 (Februar 2010). In einer neuen Publikation, die sich mit der Ein ordnung der russischen Kunst in das westliche Wertesystem der Moderne befasst, werden diese Entwicklungen wie folgt kommentiert: »Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass in den sowjetischen Nachfolgestaaten in kürzester Zeit eine neue finanzstarke Klientel entstanden ist, die in private wie korporative Sammlungen ebenso investiert wie in künstlerische Projekte. Bemerkenswerterweise setzt deren Bedürfnis, ihr Selbstverständnis vor allem durch den Besitz von nationalen Kulturgütern zu definieren und zu legitimieren, internationale Trends am Kunstmarkt und wirkt auf die westliche Wertschätzung russischer Kunst zurück.« in: Raev, Ada/Wünsche, Isabel (Hg.): Kursschwankungen, Russische Kunst im Wertesystem der europäischen Moderne, Berlin 2007, S. 12.
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Abbildung 12: Hl. Georg der Siegträger, Anfang des 16. Jh.s Abbildung 13: Kasimir Malewitsch: »Suprematismus: Waagerecht geteilt«, Bleistift auf quadriertem Papier, 1916 (seitenverkehrt)
Die neuen Strömungen russischer Malerei hätten diese verloren geglaubte Kultur aufgegriffen und – bestätigt durch die internationale, respektive im damaligen Zentrum Paris zusammenkommende Szene – weiterentwickelt. Matthias macht hier – allen herrschenden Vorstellungen vom jugendlichen und mit der Tradition brechenden Rebell zum Trotz – auf das Geschichtsbewusstsein der jungen Künstlergeneration aufmerksam. In der bildwissenschaftlichen Untersuchung »Bild und Kult« von Hans Belting findet sich für diese Wahrnehmung eine Bestätigung und Erklärung: »Das Verhältnis zur eigenen Tradition, die seit der Gründung Petersburgs gleichsam auf dem Gesetzeswege zugunsten einer dirigistischen Europäisierung abgeschafft worden war, stand zur Diskussion. Erst die Krise dieses Selbstverständnisses förderte im 19. Jahrhundert die Reflektion über die eigene Vergangenheit. Dabei stieß man auf die Ikone, die im Grunde die einzige Form der russischen Tafelmalerei vor der Wendung zum Westen gewesen war.«140
Die Berufung auf die eigene unterdrückte oder zerrissene Kultur und Tradition stand in einem aufs Äußerste gespannten Verhältnis zu dem Anspruch
140 Belting, Hans: Bild und Kult – eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 2004 (1990), S. 31.
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auf Internationalität und Modernität, wie ihn diejenigen Künstler und Intellektuellen kennengelernt hatten, deren Hintergrund Reisen und ein Studium erlaubten. Malewitsch etwa reservierte für die Kunst einen ebenso utopischen wie spirituellen Raum. Dabei blieb er strukturell in der christlichen Symbolsprache und vermutlich auch in den christlich-kultischen Sozialhierarchien verhaftet: Das ultimativ abstrakte schwarze Quadrat hängt an der vormals den Ikonen vorbehaltenen Raumecke. Die strenge Farbsymbolik der orthodoxen Kirche ersetzte Malewitsch durch einen modernen, von ihm erdachten Code von Farben und Bedeutungen. Er selbst wird so zum Prototypus eines Propheten.141 Kandinsky verschrieb sich einer aus bäuerlicher Ornamentik und Narration abstrahierten Expressivität, die zum Teil aus der Figuration abgeleitet und zum Teil subjektiv entwickelte Symbolik ist. Wie Chagall und Jawlensky ließ er sich von den glutvollen Farben und der Fabulierlust der russischen Naiven inspirieren.142 Die Ikonographie seiner Bilder ist eklektizistisch und dennoch verfolgte Kandinsky eine Art kulturelle Vereinheitlichung im Sinne von Wagners Idee eines ›Gesamtkunstwerks‹. Seine synästhetischen Versuche, Visualität, Musikalität und Architektur zu vermitteln, gehorchen dabei keiner Systematik, sondern beruhen auf einer romantischen Vorstellung von Urkräften. Rodtschenko dagegen trieb die Analyse der Formen und Farben an die Grenzen ihrer eigenen Gesetzmäßigkeiten und führte das äußerst Abstrakte mit dem äußert Konkreten zusammen. Er setzte Tatlins Arbeit an einer ›materiellen Kultur‹ fort, die mit dem Studium der russischen Ikonenmalerei und der Zweidimensionalität bei Cézanne begann. Die Betonung der Materialität der Bildoberfläche war traditionelle Lösung des christlichen Abbildverbots und Reflexion malerischer Mittel im Sinne der Repräsentationskritik (»Du darfst dir kein Bildnis machen«). Die Materialverwendung der Ikonen sowie die abstrakten Formen des traditionellen Kunsthandwerks werden praktischen und modernen Anforderungen entsprechend gewendet. Wenn Rodtschenko, Stepanowa und ihre Kollegen an Anwendungsformen ihrer Analysen arbeiten, dann modernisieren sie die traditionelle Gebrauchskunst durch technische Verfahren und versuchen, sie an die industriellen Produktionsweisen anzuschließen. Auf der anderen Seite versuchen sie, die industrielle Pro-
141 Schwarz = Zeichen der Ökonomie, rot = Signal der Revolution, weiß = reine Wirkung 142 Belting (2004), S. 32.
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duktionsweise mit einem umfassenden kulturellen Wissen anzureichern und sie auf diese Weise im Sinne eines bewussten Umgangs mit Materialien, Verfahren und Gebrauchsweisen zu verändern.143 Notwendige Vermittlung Die Produktivität der Avantgarden in der nachrevolutionären Phase ist bereits mehrmals hervorgehoben worden. Als Ausnahmesituation beschrieb der Sprachwissenschaftler Viktor Schklowski diese Zeit noch in weiterer Hinsicht: »Egal was man sich vornahm, die Eröffnung einer Souffleusen-Schule für das Theater der Roten Flotte oder einen Kurs über die Theorie des Rhythmus in einem Krankenhaus, man fand immer sein Publikum. Die Menschen waren damals einzigartig aufnahmefähig.«144
Selbst unter den härtesten Bedingungen der Blockade und des Hungers seien Künstler und Intellektuelle auf ein waches und konzentriertes, ja wissbegieriges Publikum gestoßen, das bereit war, sich schwierigen theoretischen Erörterungen zu stellen. Schklowski führte diese außergewöhnliche intellektuelle Neugierde auf die Unterbrechung der Routine eines ereignislosen Daseins zurück. Gerade in der Zeit des Umbruchs, in der sich noch keine konkrete Vorstellung von der Zukunft eingestellt hatte, habe sich eine grundsätzliche Lernbereitschaft und Offenheit gegenüber Neuem eingestellt.145 Die direkter geführten Auseinandersetzungen mit dem Publikum146
143 Den hier genannten Ansätzen ist die Suche nach einer Bildsprache gemein, die von der perspektivischen Raumorganisation des Naturalismus abweicht. Der Rückbezug auf die Ikonenmalerei ist aber kein bloßer Regionalismus, sondern Wiederentdeckung und Bezugnahme auf ein nicht-euklidisches Raumverständnis, wie es Pawel Florenski aus kunsttheoretischer Perspektive dem ›kantischeuklidischen‹ entgegensetzte und damit zu einer kompletten Neubewertung des kunsthistorischen Materials beitrug. Vgl. Radetzkaja, Olga/Werner, Ulrich (Hg.): Pawel Florenski. Raum und Zeit, Berlin 1997. 144 Schklowski, Viktor: »Sentimentale Reise«, zit. n. Erlich, Victor: Russischer Formalismus, München 1964, S. 93f. 145 Ebda.
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und den Kollegen erforderten es, die eigenen Kunstbegriffe zu überdenken. Daraus resultierten Überlegungen, den Aktionsradius über den bisherigen institutionellen Rahmen (Akademien, Museen, Salons, Galerien) zu erweitern. Die Suche nach neuen Ausbildungsmethoden, aber auch die Entbindung der Kunst von ihren traditionellen Aufgaben, ihre Neudefinition bzw. das Experimentieren mit neuen medialen und funktionalen Eigenschaften schlossen sich logisch an. Der entscheidende Wechsel von der figurativen zu den neuen abstrakten Bildsprachen war, dass letztere dem Publikum Interpretationen abverlangte, welche jenseits der Wiedererkennung lagen. Andersherum gewendet: Die Künstler waren gefordert, ihre Bedeutungssysteme zu erläutern. Die Art und Weise, wie die einzelnen Künstler diese neue Notwendigkeit lösten, trug zur sozialen und historischen Situierung ihres Kunstbegriffs bei: Schon die Bezeichnungen für die Neuerung – »Geistige Wende« (Kandinsky), »logische Folgerung« (Vesnin), »Nullpunkt« (Malewitsch) – liefern Hinweise für die an der weiteren Praxis ablesbaren Unterschiede und die damit verbundenen Philosophien.147
146 Einschränkend muss darauf hingewiesen werden werden, dass diese Auseinandersetzungen nur sehr begrenzt einsichtig sind. Zur Verfügung stehen ausschließlich Texte aus dem künstlerischen, intellektuellen und kulturpolitischen Feld. Über allgemeine Publikumsreaktionen lässt sich aufgrund mangelnder Zeugnisse nur wenig sagen. 147 Kandinskys Rückdatierung seines ersten abstrakten Tafelbildes von 1913 auf das Jahr 1910 wird als Zeichen seines Bestrebens gedeutet, sich diesen Wechsel als historische Pionierleistung zu sichern, sich also selbst jener Spitze des gelben Dreiecks zuzuordnen, die eine »geistige Wende« von Zeit zu Zeit einleiten kann. In seinen Bildern verließ Kandinsky sich dabei weiterhin auf die Assoziation und »Expressivität«. Die Suprematisten steuerten derweil durch zunehmende Reduktion einen Nullpunkt an: »den äußersten Verzicht aller Ausdrucksmittel der Linie und Farbe«. Das von Malewitsch, in der Ausstellung 0.10 im Jahr 1915 gezeigte schwarze Quadrat wurde durch das Gemälde Weisses Quadrat – ein weißes Quadrat auf weißem Grund – nochmalig gesteigert und zum absoluten Bild erklärt. Rodtschenko vervielfältigte diese Vorstellung vom letzten Bild, indem er es programmatisch beantwortete und die formalistische Analyse von Farbe und Form durch das Triptychon Blau, Rot und Gelb in der Malerei beendete. Nicht nur symbolisch – wie Malewitsch, der weiterhin Bilder malte –, sondern als tatsächlichen Bruch und zeitgleichen Auftakt für ein
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Wie wurden die Ansprüche und Ideen, die künstlerischen Ansätze und politischen Ambitionen der sozialen Avantgarde aufgenommen? Welche Chance auf Verwirklichung kam ihnen zu? Fanden sie Verbreitung und wie wurden sie späterhin tradiert? Diesen Fragen nachzugehen, ist Gegenstand der nun folgenden zweiten Historisierung, in der ich die Rezeptionsgeschichte der russischen Avantgarden nachzuvollziehen möchte. Eine solche Rezeptionsgeschichte der russischen Avantgarde ist von einer allgemeinen nachträglichen Bewertung und historischen Einordnung der Avantgarden in der Nachkriegszeit nicht zu trennen. Wie ich im Rahmen meiner eigenen Kunstvermittlungspraxis immer wieder feststelle, beschränkt sich die Kenntnis über die Avantgarden in der Regel auf den deutschen Expressionismus und das Bauhaus. Das Wissen über den Surrealismus ist auf Salvador Dali beschränkt. Von Dada hat man gehört. Darüber hinaus scheinen die Vorstellungen über ›die Avantgardisten‹ in der Regel verstellt – mit Bildern und assoziierten Klischees vom Provokateur und Bürgerschreck. Bevor ich mich genauer der Überlieferung der russischen Avantgarde widme, halte ich es daher für sinnvoll, zu fragen, welche Vorstellungen von ›der Avantgarde‹ kursieren. Dabei liefert mir die höchst einflussreiche und viel zitierte Theoriebildung von Peter Bürger einen wichtigen Bezugspunkt. Dieses umso mehr als Bürger selbst betont, die Rolle der Kunsttheorie oder ästhetischen Theorie für die Rezeption sei nicht zu unterschätzen: »[...] die in ihnen formulierten Vorstellungen gelangen [...] über verschiedene Vermittlungsinstanzen – Schule, besonders das Gymnasium, Universität, Literaturkritik, Literaturgeschichtsschreibung (um nur einige zu nennen) – in die Köpfe von Kunstproduzenten und -rezipienten und bestimmen so den konkreten Umgang mit den Einzelwerken.«148
neues Betätigungsgebiet. Er wandte sich in der Folge der Fotografie und der Fertigung von ›Gebrauchsgegenständen‹ zu. 148 Bürger (1974), S. 138.
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Finalisierung oder Prozessierung? Zur Historisierung der russischen Avantgarde ausgehend von Peter Bürgers »Theorie der Avantgarde« [...] Kunsthistoriker und -theoretiker [sind, RP] in den Auseinandersetzungen, in denen Sinn und Wert des Kunstwerks produziert werden, selber Partei [...], und dies, ohne es zu ahnen oder doch jedenfalls ohne daraus alle Konsequenzen zu ziehen: Sie selbst sind Teil des Gegenstands, den sie zum Gegenstand zu haben scheinen.149 PIERRE BOURDIEU
Die »Theorie der Avantgarde« (1974) von Peter Bürger gilt nicht nur als Basisliteratur der Kunstwissenschaften der Moderne. Die Theorie beansprucht darüber hinaus auch, Grundlagenwerk für die »wissenschaftliche Beantwortung der Frage nach den Möglichkeiten der Wirksamkeit von Kunst heute« zu sein.150 Ausgangspunkt des Literaturwissenschaftlers und Kunsttheoretikers ist die Frage, wie die Avantgardebewegungen zu historisieren seien. Das besondere Verdienst der Avantgarde sei es laut Bürger, die Selbstkritik der Kunst geleistet und damit eingeführt zu haben. Gerichtet habe sich diese Kritik zum einen gegen den Distributionsapparat, dem das Kunstwerk unterworfen sei, und zum anderen gegen den mit dem Begriff der Autonomie beschriebenen Status der Kunst. Wichtigste Voraussetzung für die Formulierbarkeit dieser Kritik sei die vollständige Ausbildung der »Institution Kunst« als eigenständiger Teilbereich der bürgerlichen Gesellschaft gewesen. Bürgers Definition einer solchen »Institution Kunst« lautet wie folgt: »Mit dem Begriff Institution Kunst sollen hier sowohl der kunstproduzierende und -distribuierende Apparat als auch die zu einer gegebenen Epoche herrschenden Vor-
149 Bourdieu (1979), S. 464. 150 Bürger (1974). Vgl. Einführungstext der Edition Suhrkamp, o. Seitenangabe.
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stellungen über Kunst bezeichnet werden, die die Rezeption von Werken wesentlich bestimmen.«151
Erst mit der Ablösung der Kunst aus der Lebenspraxis, also der Abkopplung des kulturellen vom politischen und ökonomischen System, sei der autonome Status der Kunst in die Sichtbarkeit gerückt und damit auch die Kehrseite der Autonomie erkennbar geworden: Die gesellschaftliche Folgenlosigkeit der Kunst.152 Bürger betont, es sei nötig, bei diesem Autonomisierungsprozess zwischen dem Gehalt der Einzelwerke und ihrem institutionell vermittelten Status zu unterscheiden, denn erst mit dem Aufkommen des Ästhetizismus153 sei endlich jenes Stadium erreicht worden, welches die avantgardistische Kritik nach sich zog und welches Bürger folgendermaßen charakterisiert: »Die Abgehobenheit von der Lebenspraxis, die immer schon den institutionellen Status der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft ausgemacht hat, wird zum Gehalt der Werke. Institutioneller Rahmen und Gehalte fallen zusammen.«154 Das von den Avantgarden nun verfolgte und als Antwort auf den Ästhetizismus zu begreifende Projekt besteht nach Bürger in der »Vereinigung von Kunst und Leben« und in der »Aufhebung der gesellschaftlichen Institution Kunst« Historisch nennt er die Avantgarde der 10er und 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, da diese aus heutiger Sicht als gescheitert zu betrachten sei. Letzteres begründet Bürger mit der »Tatsache«, dass die »gesellschaftliche Institution Kunst sich gegenüber dem avantgardistischen Angriff als resistent erwiesen hat« 155: »Nachdem der Angriff der historischen Avantgardebewegungen auf die Institution Kunst gescheitert, d.h. die Kunst nicht in die Lebenspraxis überführt worden ist, besteht die Institution als von der Lebenspraxis geschiedene weiter.«156
Jeder erneute Aufgriff durch die »Neo-Avantgarde«157 sei nur als ›billiger Abklatsch‹ zu verstehen und begebe sich in das Paradox, jener Kunst, die 151 Ebda., Bürger (1974), S. 29. 152 Vgl. ebda., S. 28-30. 153 Beispiele, die Bürger nennt, sind Mallarmé, Valéry und Hofmannsthal. 154 Ebda., S. 35. 155 Ebda., S. 78. 156 Ebda.
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sich für die Aufhebung der Institutionen aussprach, einen Platz innerhalb der Institution zuzuweisen.158 Bürgers Argumentationsgang der »Theorie der Avantgarde« ist von verschiedenen Seiten begegnet worden. So gibt beispielsweise der amerikanische Kunsttheoretiker Hal Foster zu bedenken,159 dass das kritische Projekt der Avantgarden nicht abgeschlossen, sondern durch nachfolgende Künstlergenerationen wieder aufgegriffen und bis heute differenziert und erweitert worden sei. Auch entgingen Bürger maßgebliche Charakteristika der von ihm so bezeichneten »historischen Avantgarde«, wenn er sie wörtlich nehme und auf diese Weise die performativen und situationsbedingten sowie utopischen Dimensionen ihrer (darüber hinaus höchst divergenten) Rhetoriken und Praktiken unterschlage.160 Schließlich sei Bürgers Gegenüberstellung von der stabilen Institution einerseits und den unwirksamen Attacken auf sie von Seiten der Avantgarde andererseits insofern deterministisch, als sie der Institution die Beherrschung aller ästhetischen Konventionen zubilligten. Mit dem Wissen der ersten Historisierung ausgestattet, scheint es mir lohnend, Bürgers Argumentation unter besonderer Berücksichtigung der russischen Avantgarde
157 »Neo-Avantgarde«, mit diesem von Bürger in Abgrenzung zur »historischen Avantgarde« eingeführten Begriff, bezieht Bürger sich auf die Kunst der 60er Jahre. Beispiele, die Bürger per Abbildung anführt, sind Daniel Spoerri und Andy Warhol. Auch erwähnt er ›Happenings‹, ohne sich jedoch auf einen spezifischen Autor zu beziehen. Vgl. ebda. S. 78-80. 158 Ebda. 159 Vgl. Foster, Hal: The Return of the Real. The Avant-Garde at the End of the Century, Cambridge (USA) 1996. S. 1-15. 160 Gerald Raunig bemerkt zu diesem Punkt: »Die Avantgarden fordern scheinbar die Rückkehr vor die Ausdifferenzierung der Moderne, die Rückkehr zu Kunst als Totalität. In Wirklichkeit dreht es sich um eine Verschiebung der Demarkationslinie des Kunstfelds und damit um einen Feldgewinn und Zuwachs an gesellschaftlicher Wirkung. Die Auflösung der Differenz von Kunst und Leben ist also eine über das Ziel hinausschießende Strategie gegen die ästhetizistischen Auswüchse autonomer Kunst, die durch die Geschoß-Kunst der Avantgarde zurückweichen muss. Insofern ist die Rede vom Scheitern der Avantgarde ein Missverständnis, das auf Verwechslung von künstlerischen Utopien und politischen Zielen beruht.«, in: Raunig, Gerald: Charon. Eine Ästhetik der Grenzüberschreitung, Wien 1999, S. 49.
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nochmals einer kritischen Lesung zu unterziehen, um zu verstehen, welches Avantgardebild Bürgers einflussreiche Theorie hinterlassen hat. Aus diesem Blickwinkel fällt als erstes auf, dass Bürger zwar von den Anliegen der Avantgarde spricht, sich aber fast ausschließlich auf vom Surrealismus und der Dada-Bewegung abgeleitete Verallgemeinerungen stützt. Ohne die höchst unterschiedlichen und divergenten Strömungen, Einsätze und Kunstbegriffe zu differenzieren und deren interne Abgrenzungen herauszuarbeiten, aber auch, ohne die schriftlichen Überlieferungen ihrer zahlreichen Protagonisten überhaupt anzuführen, fasst Bürger die Avantgarden zusammen als hätten sie mit einer Stimme gesprochen. Die Gleichsetzung von Surrealismus, Dada, russischer Avantgarde, Futurismus, Kubismus und deutschem Expressionismus wird von Bürger dabei ausdrücklich legitimiert: Die Gemeinsamkeit der genannten Strömungen bestehe darin, die vorausgegangene Kunst in ihrer Gesamtheit abgelehnt und »in ihren extremsten Ausprägungen [...] sich gegen die Institution« gewandt zu haben.161 Das Verhältnis zur Kunstinstitution: Abschaffung oder Änderung? Im weiteren Textverlauf veranlasst diese – von ihm ausfindig gemachte – Gemeinsamkeit Bürger dazu, die Intentionen der Avantgarde und nachgerade das Scheitern derselben mit der Klausel »Aufhebung der Institution Kunst«162 zu charakterisieren. Was aber ist unter einer solchen Aufhebung zu verstehen? Bürger stellt dem avantgardistischen »Angriff« wiederholt die »Resistenz der Institution« entgegen.163 Es liegt daher nahe, dass mit der »Aufhebung der Institution« ihre Abschaffung gemeint sein könnte. Tatsächlich haben jene Künstlergruppen, die sich explizit zum institutionellen Verteilungsapparat äußerten, zu großen Teilen nicht für dessen Abschaffung plädiert, sondern forderten – wie am Beispiel der russischen Avantgarde besonders deutlich wird – seine Änderung.164 So befürwortete
161 Bürger (1974), S. 44, Fußnote (4). 162 Ebda., S. 68-70. 163 Ebda. S. 77ff. 164 Hal Foster bemerkt hierzu: »Thus, whereas Dada sought to destroy the institution of art, anarchically to absorb it into social life, Constructivism sought to
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Warwara Stepanowa beispielsweise die Wandlung des Museums vom heiligen Ort der Kontemplation in eine Stätte aktiver Aneignung oder in ein Archiv. 165 Gleichzeitig wurden egalitäre Zugangschancen sowie die Unabhängigkeit von den Sammlungsinteressen der Finanz- oder Experteneliten angestrebt. In einer »Erklärung der internationalen Fraktion der Konstruktivisten« heißt es: »Wir verneinen die jetzigen Kunstausstellungen als Magazine, wo mit Dingen, die beziehungslos gegeneinander gestellt sind, Handel getrieben wird. Heute stehen wir noch zwischen einer Gesellschaft, die uns nicht braucht und einer, die noch nicht existiert; darum kommen für uns nur Ausstellungen in Betracht zur Demonstration dessen, was wir realisieren wollen (Entwürfe, Pläne, Modelle) oder was wir realisiert haben.«166
Auch in den Richtlinien der deutschen Novembergruppe ist von der »Umwandlung der Museen« in »Volkskunststätten« die Rede, von der »Neugestaltung der Kunstschulen und ihres Unterrichts« und »der Mitarbeit bei der Vergebung von Ausstellungsräume[n].«167 Martin Gropius, Zugehöriger des Bauhauses, der beklagte, dass das Volk leer ausgehe und nichts mehr von der lebendigen Kunst wisse, schlug »statt der Salonausstellungen die Wanderkunstschau in demontablen, bunten Baracken – oder Zeltbauten« vor. Die Aufgabe von zukünftigen Ausstellungen sei es, Kunst im Kontext der
transform it programmatically to supersede it in collective production.« Foster, in: Walker Art Center (1990), S. 250. 165 Stepanowa, Warwara F. zit. n. Benjamin Buchloh: From Factura to Factography, in: Annette Michelson/Rosalind Krauss/Douglas Crimp/Joan Copjec (Hg.): October. The first decade, Cambridge, London 1987 (1984), S. 82-119, insbes. S. 85. 166 Doesburg, Theo van/Lissitzky, El/Richter, Hans: »Erklärung der internationalen Fraktion der Konstruktivisten« (1922), in Harrison/Wood (2003), S. 409f, insbes. S. 410. 167 Vgl. »Manifest der Novembristen (Entwurf)«, 1919, und »Richtlinien der ›Novembergruppe‹«, 1919, in: Harrison/Wood (2003), S. 310-312. Zur Novembergruppe gehörten auch Vertreter des Dadaismus wie Hannah Höch und Walter Dexel oder Anhänger der Neuen Sachlichkeit wie Heinrich Maria Davringhausen und Wilhelm Schmid.
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Architektur zu präsentieren und zu zeigen, wie sie innerhalb von Gebäuden funktioniere.168 Weder die hier angeführten Änderungsvorschläge noch die tatsächlich vorgenommenen Strukturveränderungen (wie in Kapitel 2 dargestellt) können mit der von Bürger suggerierten Vorstellung in Einklang gebracht werden, die historische Avantgarde habe »die Aufhebung der Institution Kunst überhaupt« intendiert. 169 Dennoch ist diese – der historischen Avantgarde generell Negativität zuordnende – Auffassung im hegemonialen Kunstdiskurs weit verbreitet.170 Ein Beispiel hierfür liefert der Kunstwissenschaftler Boris Groys, der die »Funktion der konstruktivistischen Kunst« allgemein
168 Gropius, Walter: »Antwort auf den Fragebogen des Arbeitsrats für Kunst« (1919), in: Harrison/Wood (2003), S. 316-318, insbes. S. 318. 169 Bürger (1974), S. 85. Zwar gibt Bürger (in einer Fußnote) zu bedenken, dass die russische Avantgarde u. U. einen Ausnahmefall darstelle, der einer besonderen Betrachtung bedürfe (Vgl. ebda., S. 75, Anmerkungen.), weist aber ausdrücklich darauf hin, dass sein Begriff der historischen Avantgarde die russische Avantgarde nach der Oktoberrevolution einbeziehe (Vgl. ebda. S. 44, Anmerkungen.). 170 So lautete etwa der Einladungstext eines Symposions an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg: »Im Unterschied zur kritischen Negativität historischer Avantgarden bezeichnet das Verfahren der ›Wiederholung‹ innerhalb der Postavantgarden ein Denken der Positivität.« zit. n. Bunz, Mercedes: »Das gefährliche Moment der Kopie. Appropriation Art, Eigentum und Entfremdung«, http://www.mercedes-bunz.de/theorie/gefaehrliche-moment-der-kopie (Januar 2009). Auch folgendes Zitat vermittelt einen wenig konstruktiven Charakter avantgardistischer Vorhaben: »Die historischen Avantgarden haben sich anarchistisch gegen das gestellt, was als gesellschaftliche Norm galt, haben sich in ihrer Ablehnung des Bestehenden der Wirklichkeit ihrer Zeit ausgegrenzt [...]«, in: Hegewisch, Katharina: »Von Luftballons und Bodenhaftung (High and Low). Tendenzen de Gegenwartskunst im Kontext der Zeit«, in: Das Ende der Avantgarde. Kunst als Dienstleitung, Ausstellungskatalog der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München, München 1995, S. 12-22, insbes. S. 12.Vgl. auch: Asholt, Wolfgang/Fähnders, Walter (Hg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam 2000, darin insbes.: Grimminger, Rolf: »Avantgarde, Anarchismus und Institution. Konfliktkulturen um die Jahrhundertwende«, S. 417-419.
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als »keine weltgestaltende, sondern nur negative und in einem gewissen Sinne eine sekundäre« 171 beschreibt. Verwandt mit Bürgers Perspektive argumentiert Groys, die »Präsenz der konstruktivistischen Kunstwerke in unseren [Hervorhebung RP] heutigen Museen« sei als »Beleg nicht für den historischen Sieg, sondern ihrer historischen Niederlage« anzusehen. 172 So nachvollziehbar diese Einschätzung bei jenem speziellen Autor vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen im Stalinismus173 sein mag – aus wissenschaftlicher Perspektive unterliegt sie einer unzulässigen Verallgemeinerung, da historische Fakten verfälscht werden (und dabei auf Belege und Referenzen weitgehend verzichtet wird). So etwa, wenn Groys das Museum als das Haupthindernis des konstruktivistischen Projekts beschreibt: »Das Museum mußte als ein privilegierter Ort der Kunstbetrachtung vernichtet werden, um damit die ganze Welt in ihrer Totalität zum Kunstwerk zu machen, und die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Praxis zu überwinden.«174
Groys’ Überzeugung, die russische Avantgarde und insbesondere die Konstruktivisten seien mitverantwortlich für die Durchsetzung des sozialistischen Realismus und damit Vorläufer einer totalitären Kunst und Kulturpolitik gewesen, verleitete ihn offenbar zu Ungenauigkeiten. So ist der These von den Museumsvernichtungsphantasien der Konstruktivisten zu entgegnen, dass Malewitsch 1923 mit der Leitung des Museums für künstlerische Kultur betraut wurde, welches er im Laufe eines Jahres zu einem Forschungsinstitut mit didaktischer Schausammlung umorganisierte. Das Insti-
171 Groys, Boris: »Konstruktion als Subtraktion«, in: Gaßner/Kopanski/Stengel (1992), S. 73-76, insbes. S. 75. 172 Ebda., S. 74. 173 Boris Groys wurde 1947 in Ost-Berlin geboren. Er studierte von 1965-1971 an der Universität Leningrad Philosophie und Mathematik. Danach war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an mehreren Instituten in Leningrad sowie von 1976-1981 am Institut für strukturale und angewandte Linguistik in Moskau tätig. 1981 verließ Groys die UdSSR und zog in die BRD. Er hatte eine Professur an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und lehrt heute an der New York University, New York. 174 Groys, in: Gaßner/Kopanski/Stengel (1992) S. 74.
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tut bestand aus vier Abteilungen: in der Abteilung »Malkultur« wurden die verschiedenen Ismen oder »Malsysteme« präsentiert und »in der Reihenfolge ihres historischen Auftretens hinsichtlich der Umstände und Milieus untersucht, die das jeweilige System hervorgebracht haben.« In der Abteilung »Organkultur« widmete man sich der Wahrnehmung aus neurophysiologischer Sicht und experimentierte mit der Veränderung der visuellen Wahrnehmung in Zeit und Raum. In einer Abteilung »Materielle Kultur« unter Leitung von Tatlin wurden alte Werke der »so genannten Alltagskunst und des Kunstgewerbes unter dem Gesichtspunkt ihrer Konstruktion und der verwerteten Materialien« untersucht. In einer vierten Abteilung, genannt »allgemeine Ideologie«, geleitet von Punin, wurden die Kenntnisse und Forschungsergebnisse der anderen Abteilungen mit dem Ziel, eine neue Kunsttheorie zu entwickeln, synthetisiert. Das Publikum erhielt durch öffentliche Führungen, Vorträge und Ausstellungen Einblick in die Arbeit des Instituts. Mit der Konzeption und Betreuung der einzelnen Forschungseinheiten waren neben Malewitsch auch namhafte Vertreter des Konstruktivismus und Produktivismus wie Tatlin und Punin betraut. Mit seiner Sammlung von 257 Werken vom Impressionismus bis zum Kubismus kann es heute als eines der ersten Museen Moderner Kunst angesehen werden. Diese Konzipierung des Museums ist aber nicht nur ein gutes Beispiel für eine von Avantgardisten verwirklichte und an eigenen Kriterien ausgerichtete institutionelle Arbeit175, sondern liefert ebenfalls ein weiteres Argument zur Widerlegung der avantgardistischen Geschichtslosigkeit, die u. a. von Bürger als Paradigma der Avantgarde festgelegt wurde. Wie Astrit Schmidt-Burkhardt in ihrer ausführlichen Untersuchung von kunsthistorischen Schautafeln und Diagrammen des 20. Jahrhunderts herausgearbeitet hat, gehört die »angebliche Geschichtslosigkeit der Avantgarde [...] jedoch nicht zuletzt wegen ihrer Aktualisierung des künstlerischen Erbes in selbst erstellten Genealogien zu den Mythen der Moderne«.176 Zwar geht Bürger in großen Teilen seiner Argumentation nicht so weit – wie Groys es tut –, die Kritik der Avantgarde mit deren vermeintlichem
175 Vgl. Gaßner/Gillen: »Die Reform der Kunstausbildung«, S. 68-72, insbes. S. 70; »Das Institut für künstlerische Kultur«, 1925, in: Gaßner/Gillen (1979), S. 92f, insbes. S. 93. 176 Schmidt-Burkhardt, Astrit: Stammbäume der Kunst. Zur Genealogie der Avantgarde, Berlin 2005, S. 15.
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Zerstörungswillen gleichzusetzen. Aufhebung der Institution, so Bürgers Erläuterung, sei im Hegelschen Sinn zu verstehen: »Die Kunst sollte nicht einfach zerstört, sondern in Lebenspraxis überführt werden, wo sie, wenngleich in verwandelter Gestalt, aufbewahrt wäre.« Tatsächlich aber taucht die Unterstellung einer Zerstörungsabsicht gegen Ende von Bürgers Theorie doch noch auf – und zwar dezidiert, um die historische Avantgarde von Bertold Brechts Absicht, die Institution radikal zu verändern, abzusetzen: »Während jedoch die Avantgardisten meinen, diese [die Institutionen, RP] direkt angreifen und zerstören zu können, entwickelt Brecht ein Konzept der Umfunktionierung, das sich an das real Mögliche hält.«177
Auch Bürger, so muss also konstatiert werden, verfehlt und entleert die Anliegen zahlreicher Avantgarde-Künstler, welche die Änderung der Institution Kunst nicht nur intendiert, sondern sogar vollzogen haben. Kritik, Opposition, ja sogar konstruktive Veränderung werden hier mal mit Aufhebung, mal mit Zerstörung gleichgesetzt und auf diese Weise nachträglich einer Radikalisierung unterzogen, die jeder faktischen Grundlage entbehrt. Durch die unpräzise verallgemeinernde und zudem schwankende Beschreibung Bürgers erscheinen die künstlerischen Anliegen der Avantgarden unklar und kaum nachvollziehbar. Ähnliches gilt für die positive Beschreibung der avantgardistischen Ziele: Bürger reduziert diese wiederholt auf eine »Überführung der Kunst in die Lebenspraxis«, ohne das unter Heranziehung von Quellenmaterial zu spezifizieren. Auch hierdurch hinterlässt seine Theorie eine höchst diffuse, im besten Fall mehrdeutige Vorstellung dessen, was die Avantgarden verfolgten. Mur beispielhaft möchte ich Bürgers Interpretation hier eine der konkreten Zielvorstellungen aus einer avantgardistischen Perspektive zur Seite stellen und dabei eine historische Position heranziehen, der gemeinhin zugesprochen wird, die institutionelle Frage besonders kompromisslos gestellt zu haben. In einer Aussage von Sergei Tretjakow, ursprünglich publiziert 1927 in der Zeitschrift LEF (deren Name auch einen Zusammenhang von Künstlern und Intellektuellen herstellt), werden deren Zielvorstellungen folgendermaßen formuliert:
177 Bürger (1974), S. 124.
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»Von Anfang an hat LEF sich mit dem Problem der sozialen Funktion von Gegenständen beschäftigt, die von Kunstarbeitern produziert werden. Die wahre gesellschaftliche Bestimmung der Sache und die Wirkung, die sie erzeugt, hinter den häufig betonten verschwommenen Begründungen aufzuspüren und dann zu erfassen, durch welche Verfahren und unter welchen Vorraussetzungen diese Wirkung am vollständigsten bei größter Ökonomie der Kräfte und Mittel hervorgebracht werden kann, das ist die Aufgabe.«178
Dieses Zitat macht deutlich, dass es zumindest den Vertretern um LEF zunächst um die Problematisierung der sozialen Funktion von Kunst überhaupt ging und in einem zweiten Schritt um die bewusste Entscheidung für eine bestimmte soziale Absicht der Kunst. Nicht geht es hier um eine beliebige, naiv verstandene Zusammenführung von ›Kunst und Leben‹, sondern im Gegenteil um die spezifische Ausformulierung der künstlerischen Absicht und um die Arbeit an all jenen Faktoren, die zur Erfüllung dieser Absicht führen könnten. In auffälligem Kontrast stehen die von Bürger auf die Avantgarde projizierten unklaren Intentionen zu dem von Tretjakow klar formulierten Interesse, die diffusen und unbestimmten Motivationsbeschreibungen zu verlassen und sich sehr konkret mit den sozialen Folgen und ökonomischen Bedingungen der eigenen Arbeit auseinanderzusetzen. »Wir suchen« und »Wir schlagen Alarm« – zur Frage des Scheiterns Nicht Unbegabtheit und Mangel an Kreativität, sondern umgekehrt der Mangel an Prinzipien wird heute zur größten Sünde des Kunstarbeiters erklärt.179 SERGEJ TRETJAKOW
Halten wir an dieser Stelle fest, dass Bürger die Absichten der Avantgarden ungenau, wenn nicht missverständlich beschreibt, und dass ihm deshalb die
178 Tretjakow, Sergej: »Wir suchen«, »Wir schlagen Alarm«, in: Harrison/Wood (2003), S. 568-572, insbes. S.568. 179 Ebda., S. 570.
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Grundlage fehlt, zu beurteilen, ob die Avantgarden ihre Ziele erreicht haben oder nicht. Dennoch bleibt zu überprüfen, ob Bürgers Hauptthese zuzustimmen ist, also der Aussage, die Avantgarden seien gescheitert. Ich werde hierfür Bürgers Argumentation insoweit folgen, als er den Erfolg bzw. Misserfolg zweifach bestimmt. Bürger behauptet, 1) die Avantgarden hätten ihre Intentionen nicht durchsetzen können und 2) die Institutionen bestünden unverändert fort. Zu 1) Folgt man zunächst nur den Aussagen Tretjakows, so war es den Vertretern von LEF ein wichtiges Anliegen, die Problematik der sozialen Funktion von Kunst überhaupt einmal aufgeworfen und mit der Forschung an dieser Fragestellung begonnen zu haben. Dabei zeigt sich, dass die Beschäftigung mit dieser Problematik schon für sich genommen eine differenzierte Beschreibung der Pluralität der verschiedenen Fraktionen, Interessen und Kräfte notwendig macht. Wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, ließ allein das Aufkommen der Frage nach der sozialen Funktion von Kunst in den 1920er Jahren höchst kontroverse Positionen im Kunstfeld auf den Plan treten. Verkomplizierend kommt hinzu, dass die Kontroverse unter den Druck der sich allmählich konsolidierenden neuen politischen Führung geriet. Versteht man das Vorhaben der russischen Avantgardisten nicht als den Versuch, die institutionellen Verbreitungsstrukturen abzuschaffen, sondern sie gemäß einer neuen sozialen Bestimmung zu transformieren und zu erweitern, so zeigt sich des Weiteren, dass die Erfüllung spezifischer Vorhaben nicht beschreibbar sind, ohne die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und strukturellen Faktoren zu berücksichtigen. Denn gerade die Konstruktivisten und Produktivisten reflektieren immer beides: die formale Beschaffenheit des Produkts und seine Herstellungsbedingungen und Distributionswege. Dem Tafelbild wird das Plakat, das »der Straße, der Zeitung, der Demonstration angemessen« ist, entgegengesetzt. Fotografie und Dokumentarfilm werden als die der Zeit gemäßen Medien befürwortet. Der Zerstreuung dienende Dekorationsobjekte sollten von nützlichen Gebrauchsdingen abgelöst werden.180 Wie nun gestaltete sich konkret die Phase der praktischen Umsetzung solcher Vorhaben? Die wichtigsten Entwicklungen seien hier kurz skizziert. Zunächst hatte es den Anschein, dass die Differenziertheit der Positionen im Kunstfeld der Situation auf der politischen Bühne entsprach. So ließ
180 Ebda., S. 568f.
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die bolschewistische Partei der künstlerischen Avantgarde relativ freie Hand und trug sogar durch besonders großzügige staatliche Unterstützung zu der sich rapide entwickelnden russischen Filmkunst bei.181 Dass das besondere Interesse an dem jungen Medium Film weniger der experimentellen Untersuchung und Erprobung seiner Möglichkeiten, sondern vor allem seiner Bedeutung für agitatorische und propagandistische Zwecke geschuldet war, kristallisierte sich spätestens dann heraus, als von Seiten der Partei zunehmend direkter Einfluss auf Form und Inhalt der Produktionen beansprucht wurde. Ähnlich erklärt sich vermutlich die vergleichsweise gute Auftragslage der avantgardistischen Grafik. Alle anderen Versuche, die Kunst in die Produktion zu überführen – etwa im Möbelbau, in Architektur, Stoffentwurf und Kostümdesign – blieben durch ausbleibendes staatliches Engagement weitestgehend unerprobt.182 Noch 1924 formulierte Osip Brik in Bezug auf die Produktionskunst: »Und wenn es noch zu früh ist, über die Ergebnisse dieses ersten Versuches zu sprechen, dann ist es jedenfalls notwendig, über seinen gewaltigen kulturellen Wert zu sprechen. Die künstlerische Kultur der Zukunft entsteht in den Fabriken und Betrieben und nicht in den Dachkammernateliers.«183
In ihrem Text »Die Aufgaben des Künstlers in der Textilindustrie« von 1928 beklagte Warwara Stepanowa bereits den beschränkten Betätigungsbereich der Künstler und machte gleichzeitig deutlich, wie sie sich das konstruktivistische Arbeitsfeld in der Produktion idealiter vorstellte: »Die Aufgabe des Künstlers in der Textilindustrie besteht bis heute nur noch in der Verschönerung des fertigen Stoffes mit dekorativen Mustern. Die Arbeit des Künstlers ist Beiwerk. Er hat weder an der Anwendung neuer Möglichkeiten des Färbens, noch an der Ausarbeitung neuer Gewebestrukturen, noch an der Entwicklung neuer
181 Noch 1925 betonte die Partei in einer Resolution des ZK der RKP(b) ihr Prinzip der Nichteinmischung in Fragen der Kunst und sprach sich »für den freien Wettbewerb verschiedener Gruppierungen und Strömungen auf dem betreffenden Gebiet« aus. »Jede andere Lösung wäre eine staatsbürokratische Pseudo-Lösung«, zit. n. Gaßner/Gillen (1979), S. 555 (Zeittafel). 182 Andel, in: Walker Art Center (1990), S. 227. 183 Brik, in: Harrison/Wood, (2003), S. 368.
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Materialien für Stoffe Anteil. Er bewahrt in der industrialisierten Fabrik alle Merkmale einer primitiven Handwerksarbeit. Er erfüllt die dekorativen Ansprüche einer ohne sein Zutun reifenden sogenannten ›Nachfrage‹ und der ›Forderungen des Marktes‹.«184
Eingeleitet durch Lenins neue ökonomische Politik (NÖP) begann 1921 der Zentralisierungs- und Gleichschaltungsprozess der Partei. Rationalisierung und Standardisierung der Produktion mit dem Ziel größtmöglicher Effizienz war die in dieser Zeit angestrebte und ausgeübte Politik der so genannten Parteiproduktivisten. Im Gefolge Lenins vertraten sie eine wissenschaftliche Arbeitsorganisation (NOT). Kritisch gegenüber dem Einfluss von westlichem Taylorismus und Fordismus opponierte eine andere Fraktion, die ›Partei-Radikalen‹. Im Sinne der fortgesetzten marxistischen Kritik an entfremdeter Arbeit traten sie für den Schutz vor ›erneuter Ausbeutung‹ ein. Parallel hierzu entwickelten einige Vertreter der Produktivisten im Kunstfeld ihre Überlegungen weiter, indem sie die Aufgabe der Künstler in die Gestaltung des Produktionsapparates zu verlagern suchten. Ioganson erklärte es zur neuen Aufgabe der Produktionskünstler, die prozessualen Anteile der Produktion zu gestalten, wobei er die Unmöglichkeit, diese Prozesse vorherzubestimmen, als neue Herausforderung ansah. Indem er die Achse weg vom Produkt und hin zum Prozess der Herstellung verschob,185 problematisierte er zugleich die Determination des Produkts hinsichtlich seines Gebrauchs, wie sie im Konstruktivismus (z. B. bei Rodtschenko) angelegt ist, und ebenso die Fortschrittslogik der industriellen Produktion. Die Diskrepanz zwischen den Ansprüchen der Produktivisten und den sich real ausbildenden Bedingungen ihrer Verwirklichung fasst Christina Lodder wie folgt zusammen: »They had given their allegiance to the revolution, which had compromised with capitalism in 1921 with the New Economic Policy. They embraced industry, but this was at a lower ebb than it had been in1913. While they were commited to abstract
184 Stepanowa, Warwara F.: »Die Aufgaben des Künstlers in der Textilindustrie«, in: Peter Noever (Hg.): Alexander M. Rodtschenko und Warwara F. Stepanowa: Retrospektive. Die Zukunft ist unser einziges Ziel... (MAK Wien, und Puschkin-Museum, Moskau), München 1991, S. 190-193, insbes. S. 190. 185 Gough (2005), S. 153ff.
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formal values and a new language for the new society, the government increasingly supported academic painting and realism.«186
Ausgehend von dem 1929 in Kraft getretenen Fünfjahres-Plan unter Stalin, wurde auch auf kulturpolitischer Ebene eine klare Linie angestrebt, während abweichende politische Gruppierungen und Parteien ausgeschaltet oder eliminiert wurden. Im engeren avantgardistischen Kunstfeld radikalisierten sich daraufhin die unterschiedlichen Positionen zunächst. Schließlich aber rückten die Avantgardisten näher zusammen aufgrund des Drucks von Parteisanktionen und der damit verbundenen Vereinnahmungsstrategien einer sich neu herausbildenden Gruppe Proletarischer Kunst, deren Programm wesentlich darin bestand, der Parteilinie widerspruchslos zu folgen. »Die von rechts herandrängende Kunstmeute hatte den LEF schon in bedeutendem Maße dadurch gelähmt, daß sie alle seine Einfälle, seine Terminologie, seine Technik und Konstruktionsverfahren übernahm, sich in solchem Maße auf LEF zurechtmachte, daß es dem ungeübten Auge schwer wurde zu unterscheiden, wo Holzkonstruktionen – Konstruktionen und wo nur hölzerne Dekorationen sind, wo ein Plakat – ein Plakat, und wo ein Ansichtskärtchen Makowskis mit Unterschrift ist; wo ein Vers eine in höchstem Maße organisierte Rede ist und wo ein lyrisches Gebräu. Das ›Wer – Wen?‹ verwandelte sich in ein ›egal wer, egal mit wem, egal wohin‹, in eine ›allgemeine Umarmung‹. Anstelle der allgemeinen Rauferei wurde nun die allgemeine Übereinstimmung der Zunftgruppen im Schoße der einheitlichen sowjetischen Kunst gepredigt.«187
Das Zitat vermittelt die Konfliktgeladenheit dieses Umbruchs. Auch verdeutlicht es, dass aktuell beschriebene Phänomene – heute etwa unter Stichworten wie »Fragmentierung und Kooptation« oder »Entdifferenzierung«188 durch postmodernen Liberalismus verhandelt – bereits zu dieser
186 Lodder, Christine: »Constructivism and Productivism in the 1920s«, in: Walker Art Center (1990), S. 99-116, S. 114. 187 Tretjakow, in: Harrison/Wood (2003), S. 570. 188 Vgl. z. B. Wuggenig, Ulf: »Fragmentierung und Kooptation. Zu problematischen Aspekten der ›Hybridität‹ oppositioneller Kunstformen«, 05/2002, http:// eipcp.net/transversal/0902/wuggenig/de/print (Juni 2008).
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Zeit und unter den politischen Bedingungen der entstehenden Sowjetunion beobachtbar waren und wurden. Als Ironie der Geschichte bezeichnet Hal Foster es, dass sich die radikalsten Gegner der bürgerlichen Kunstideologie mit ihrem Anspruch, die Kunst vollständig in die Praxis im Sinne industrieller Produktion eingehen zu lassen, ausschließlich qua Theorie Ausdruck verschaffen könnten.189 Umgekehrt ließe sich ebenso formulieren: diejenigen Forderungen scheiterten, deren Verwirklichung von (kultur-) politischen Maßgaben abhängig waren, weil es am politischen Willen mangelte, sie zu verwirklichen. Dass es an diesem politischen Willen mangelte bzw. dieser für die Verwirklichung notwendig gewesen wäre, konnte sich andererseits nur zeigen, indem die Forderungen formuliert wurden.190 Maria Gough geht noch einen Schritt weiter und schreibt: »the attempt to realize Constructivism in production fails not on account of something internal to its utopian aspirations, but because those aspirations encounter and are defeated by much more powerful forces – chiefly those of a party productivism that, in its massive effort to modernize the Soviet industrial infrastructure, compromises much of its own socialist utopia.«191
Es gehört zu den erstaunlichsten Zügen von Bürgers Theorie, dass er dieses Wechselverhältnis von Aktion und Reaktion für die Beantwortung der Frage Waren die Avantgarden erfolgreich? nicht zu berücksichtigen scheint. Eine Erklärung hierfür liefert die Methode, auf der Bürgers Theorie aufgebaut ist. Um die Fragen: Warum sind die Avantgarden gescheitert? und: Woran sind sie gescheitert? zu beantworten, verzichtet Bürger darauf, das historische Material heranzuziehen und zu entfalten, wie es die erste Historisierung vorsieht. Wie hier herausgearbeitet, hätte dieses Vorgehen ein komplexes Bild von den Intentionen der diversen avantgardistischen Strömungen ergeben und ermöglicht, die einzelnen Ansätze in ihrer Differenz wahrzunehmen. Ich habe zu zeigen versucht, dass das historische Subjekt ›Avantgarde‹, wie Bürger es konstruiert, wenn er davon ausgeht, die Inten-
189 Vgl. Foster, in: Walker Art Center (1990), S. 244. 190 Das wirft auch einen anderen Blickwinkel auf den Stellenwert theoretischerArbeit. Theorie entsteht demnach nicht nur als Konzeptualisierung von Praxis, sondern auch an der Stelle von nicht realisierbarer Praxis. 191 Gough (2005), S. 192.
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tionen aller Avantgardebewegungen in wenigen Klauseln zusammenfassen zu können, so nicht existiert hat. Schon die exemplarische Analyse einiger weniger Vertreter einer Avantgardebewegung demonstriert, dass sie mit Bürgers Charakterisierung der Avantgarden an sich unvereinbar ist. Damit soll jedoch nicht die Möglichkeit ausgeschlossen werden, die Avantgarden als historisches Subjekt zu konstruieren. Eine durchaus nahe liegende und in gewisser Hinsicht sogar triviale Art, die Avantgarden als historisches Subjekt zu bestimmen, bestünde darin, zu behaupten, die Avantgarden zeichneten sich aus heutiger Sicht dadurch aus, dass sie gescheitert seien. Diese Behauptung als Ausgangsthese formuliert, bietet einen Arbeitsweg zur Analyse und Bewertung an: • • •
Ist es haltbar, dass die Avantgarden gescheitert sind? Wenn ja, warum/woran sind die Avantgarden gescheitert? Wenn nein, warum sind wir davon ausgegangen, dass sie gescheitert sind?
Peter Bürger geht anders vor: Er überspringt die erste Frage und geht unmittelbar zur zweiten Frage über: Warum und woran sind die Avantgarden gescheitert? Das heißt, Bürger versucht, ohne die in seiner Fragestellung enthaltene Hypothese (die Avantgarden sind gescheitert) verifiziert zu haben, deren Gehalt zu begründen. Die rhetorische Operation besteht darin, dass auf der Suche nach Gründen für die mitgeschleifte Hypothese dieselbe als These scheinbar unhinterfragbar bestätigt und festsetzt. Bürger attestiert den Avantgarden nicht nur, dass sie gescheitert sind. Zugleich charakterisiert er die Avantgarden durch Intentionen, die bestenfalls »theoretisch« genannt werden können, letztlich aber ausschließlich auf Zuschreibungen oder Projektionen, also weiteren Unterstellungen (Hypothesen) beruhen. Eingeführt werden diese Zuschreibungen durch Bürgers – weder theoretisch hergeleiteten noch anderweitig ausgeführten – Bezug auf Hegels Geschichtsphilosophie, zementiert werden sie durch die fortwährende Wiederholung ihrer formelhaften Charakterisierung (»Aufhebung der Kunst« und »Überführung der Kunst in die Lebenspraxis«). Dabei erfahren die von Bürger fälschlicherweise unterstellten Intentionen in ihrer Ausformulierung sogar noch leichte Variationen, die sie nicht nur (im schlechten Sinne) abstrakt, sondern zudem in sich widersprüchlich erscheinen lassen. Was auf diese Weise zwangsläufig entsteht, ist der Eindruck, die Avantgarden seien
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hoffnungslos idealistischen Vorstellungen aufgesessen. In der Kombination dieses Eindrucks mit der als unbezweifelbar dargestellten Tatsache des Scheiterns, ergibt sich die implizite Botschaft von Bürgers Theorie: Die Avantgarden sind gescheitert, ihre Intentionen waren unrealistisch, idealistisch oder theoretisch, ergo: sie hätten gar nicht erfolgreich sein können. Ich möchte sogar so weit gehen und den Schluss ziehen, dass die suggerierte, ausschließlich auf Annahmen beruhende Aussage des Textes folgende ist: Die Avantgarden sind gescheitert, weil ihre Intentionen idealistisch, theoretisch und also unrealistisch waren. Bürgers Charakterisierung der Avantgarde ist rein spekulativ, da sie auf Unterstellungen basiert.192 Als wissenschaftliches Instrument ist eine Unterstellung (Hypothese) allerdings nur so lange ein legitimes Mittel, als sie durch Prüfung von empirischem Material oder durch Behandlung in ihrem theoretischen Gesamtsystem Bestätigung oder Widerlegung erfährt. Kunstwissenschaftliche Empirie hätte eine Untersuchung der konkreten Vorhaben der Avantgarden notwendig gemacht und gezeigt, dass gerade die praktischen und sehr konkreten Denk- und Vorgehensweisen der russischen Avantgarde dem von Bürger suggerierten Eindruck widersprechen, ihre Vorhaben seien zu idealistisch gewesen, um realisierbar zu sein.193 Die Kontextualisierung und Berücksichtigung des konkreten politischen Konflikts hätten des Weiteren zeigen können, dass es vor allem die politischen Gegenkräfte waren, welche die Realisierung der avantgardistischen Vorhaben in größerem Maßstab verhinderten, nicht aber die mangelnde Praktikabilität ihrer Vorhaben. Eine kohärente Theorie schließlich hätte die Auseinandersetzung mit den durchaus zur Verfügung stehenden (theoretischen) Stellungnahmen der Avantgardisten verlangt. Beide Vorgehensweisen würden meiner Einsicht nach zur Korrektur von Bürgers Theorie führen. Bürger, so habe ich versucht zu demonstrieren, setzt seine Hypothesen operativ ein, ohne sie zu überprüfen oder gar in Zweifel zu ziehen, weshalb sie ihren hypothetischen Charakter verlieren und sich als unüberprüfte An-
192 Einem weit verbreiteten, pejorativen Theorieverständnis nach könnte man Bürgers Charakterisierung der Avantgarde auch als ›reine Theorie‹ bezeichnen. 193 Auch Thierry de Duve weist auf die Eigenart Bürgers hin, eine Theoretisierung der Avantgarde unternehmen zu wollen, ohne sich auf historische Fakten zu berufen. Vgl. De Duve, Thierry: Kant after Duchamp, Cambridge (US), London, 1996, S. 23.
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nahmen 194 erweisen. Auf diese Weise konstruiert, erfüllt die Charakterisierung der Avantgarden allerdings eine ganz bestimmte praktische Funktion für das theoretische Gesamtsystem Bürgers: Ihm geht es nicht darum, das Scheitern der Avantgarden zu problematisieren, sondern sein Anliegen ist es, das avantgardistische Projekt abschließend zu historisieren.195 Dass seine Theorie von dieser Motivation getragen ist, lässt sich aus Bürgers Konklusion ableiten: »Die Avantgarde intendiert die Aufhebung der autonomen Kunst in die Lebenspraxis. Diese hat nicht stattgefunden und kann wohl auch innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft gar nicht stattfinden, es sei denn in der Form der falschen Aufhebung der autonomen Kunst.«196
Bürger verwirft also nicht nur die avantgardistischen Intentionen, er scheint vielmehr die Problematisierung der gesellschaftlichen Funktion von Kunst ein für alle Mal abschließen zu wollen. Das Insistieren auf einem Misserfolg der Avantgarden erweist sich damit als der endgültige Beerdigungsversuch von Bestrebungen, das Kunstsystem zu verändern. Damit kommen wir zur zweiten Begründung für das Scheitern in Bürgers Theorie (2). So problematisch bereits die Frage nach dem Erfolg oder
194 Nach I. Newton ist die Hypothese im Sinne der ›causa ficta‹ als gültige Annahme definiert, die geeignet ist, Erscheinungen zu erklären, aber noch nicht als einzig mögliche und gültige Erklärung eines Sachverhalts erwiesen ist. 195 Gilles Deleuze macht auf den nur scheinbar feinen Unterschied zwischen zwei Bewegungsverläufen des Denkens aufmerksam: vom Hypothetischen zum Apodiktischen und vom Problematischen zur Frage: »Umso feiner noch, als die Frage – ihrerseits nicht vom Imperativ, wenn auch anderer Art, zu trennen ist. Dennoch besteht eine Kluft zwischen diesen Formeln. In der Gleichsetzung des Problems mit einer Hypothese liegt bereits der Verrat gegenüber dem Problem oder der Idee, der illegitime Prozeß ihrer Reduktion auf Sätze des Bewusstseins und auf Repräsentationen des Wissens: das Problematische unterscheidet sich wesentlich vom Hypothetischen. Das Thematische verschmilzt keineswegs mit dem Thetischen. Und was in diesem Unterschied auf dem Spiel steht, ist die gesamte Aufteilung, die ganze Bestimmtheit, der ganze Zweck, der gesamte Gebrauch der Vermögen in einer Lehre überhaupt.« In: Deleuze (1992), S. 250f. 196 Bürger (1974), S. 72f.
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Scheitern ›der‹ Avantgarde an und für sich ist, so steht noch an, zu untersuchen, ob sie an dem Bestehen der Institutionen nach altem Muster abgelesen werden kann, wie Bürger es nahe legt. Bürger selbst betont, die wichtigste Errungenschaft der Avantgarden bestehe darin, dafür gesorgt zu haben, »daß das Gewicht der Institution für die reale gesellschaftliche Wirkung der Einzelwerke erkennbar geworden ist.«197 Obwohl der Autor selber herausstellt, dass die In-Blicknahme der institutionellen Rolle durch die historischen Avantgarden überhaupt erst ermöglicht wurde, geht er nicht soweit, eine Folgerung aus seiner Erkenntnis zu ziehen und zu untersuchen, welche Funktion die Institutionen nach der erfolgten Kritik einnahmen. Gerald Raunig resümiert: »Es brauchte also nicht nur die Ausbildung eine Begriffs vom ›freien Künstler‹, die Übernahme von dessen Finanzierung durch die bürgerliche Gesellschaft und den Ästhetizismus als Ausdifferenzierung des Kunstfelds, sondern auch die Gegenbewegung in Form der historischen Avantgarde, um die Existenz und besonders die Veränderung der Produktionsbedingungen des Kunstfelds transparent und zum Thema zu machen.«198
Es fragt sich also, warum Bürger zwar die »Neo-Avantgarde« vor dem Hintergrund der historischen Avantgarde als rückfallend bewertet199, es aber versäumt, die gleiche Bewertungsgrundlage für den institutionellen Konservatismus heranzuziehen. Geht man von einem ungebrochen anhaltenden Status der »Institution Kunst als von der Lebenspraxis abgehobene«200 aus,
197 Ebda., S. 117. 198 Raunig (1999), S. 69. 199 Bürger schreibt hierzu: »Die Wiederaufnahme der avantgardistischen Intentionen mit den Mitteln des Avantgardismus kann in einem veränderten Kontext nicht einmal mehr die begrenzte Wirkung der Avantgarde erreichen.«, in: Bürger (1979), S. 78. Um diese ›Mittel‹ zu erläutern bezieht er sich auf die Provokationen der objet trouvés oder der Ready mades von Marcel Duchamp, welche sich »gegen die gesellschaftliche Institution überhaupt« (ebda. S. 77) gerichtet habe, oder er betrachtet den »Protestwert dadaistischer Veranstaltungen«, bei der es um die »Liquidierung der Kunst als einer von der Lebenspraxis abgespaltenen Tätigkeit« gegangen sei (ebda., S. 79). 200 Bürger (1974), S. 78.
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wie Bürger es tut, so hat dieser nach dessen wiederholter Problematisierung andere Züge angenommen: Was sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch als konventionell herausstellte und in diesem Sinne bestenfalls unreflektiert war, muss inzwischen als interessensbedingte Reproduktion jener Konventionen bis hin zur aktiven Blockade von vorhandenem Veränderungswillen begriffen werden. Was die mit der Avantgarde einsetzende Auseinandersetzung mit und die konkrete Arbeit an der sozialen Bestimmung von Kunst anbelangt, so lässt sich kaum mehr hinter die neu gewonnene soziale Dimension kultureller Arbeit zurückgehen. Bürger, dessen eigene Theorie letztlich an dieser diskursiven Erweiterung anschließt, verkennt dennoch deren gesellschaftliche Relevanz und Tragweite. Bürgers These der Folgenlosigkeit der avantgardistischen Vorstöße beruht noch in einer zweiten Hinsicht auf einer ungenauen Bewertungsgrundlage. Indem er vom ›Bestehen der Institutionen‹ ausgeht, berücksichtigt er nicht, dass auch die Kunstinstitutionen einem historischen Wandel unterliegen. Dieser Wandel ist insbesondere durch die Art und Weise gekennzeichnet, in der auf die Angriffe und strukturellen Alternativvorschläge der Avantgarden von Seiten der offiziellen Institutionen reagiert wurde. Die mit Passivität konnotierte Beschreibung Bürgers, die Institutionen hätten sich als resistent erwiesen,201 verstellt die Tatsache, dass gerade diejenigen Konzepte und (Nicht-)Kunstbegriffe aktiv umformuliert und ihrer politischen Brisanz beraubt oder durch Aussparung der Vergessenheit überantwortet wurden, welche eine Alternative oder Problematisierung institutioneller Funktionen versucht haben. Genau dieser offiziellen institutionellen Geschichtsschreibung sitzt Bürger auf, wenn er das Projekt ›der‹ Avantgarden final zu historisieren versucht, indem er das avantgardistische Projekt, die Kunst als Welt gestaltende Unternehmung aufzufassen, apodiktisch als gescheitert und unwiederbringlich abgeschlossen beschreibt. Aus den hier dargelegten Punkten können wir folgern, dass Bürger, der als Kunsttheoretiker selbst an der Tradierung der Geschichte der Avantgarde beteiligt ist, nicht nur deren faktische gesellschaftliche Folgenlosigkeit behauptet, sondern diese auch praktiziert. Was die Frage nach dem Erfolg oder Scheitern der Avantgarden anbelangt, so war die Auseinandersetzung mit Bürgers Argumentationsgang durchaus ertragreich. Denn obwohl es aus dargelegten Gründen nicht Anliegen dieser Arbeit sein kann, diese Frage abschließend
201 Vgl. ebda.
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zu beantworten, haben sich neue Kriterien für die Untersuchung der Fragestellung herauskristallisiert. Nur skizzenhaft festhalten möchte ich an dieser Stelle einige Folgerungen. Die Bewertung der Wirkung (Erfolg/Misserfolg) künstlerischer Arbeit hat zur Bedingung, dass •
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die Intentionen der infrage stehenden Autoren genau analysiert und rekonstruiert und in ein Verhältnis zu den pragmatischen Schritten gestellt werden, die von ihnen vorgeschlagen oder unternommen wurden; eine Gewichtung der Wirkungsmacht vor dem Hintergrund der (kultur-)politischen Rahmenbedingungen und Entscheidungsbefugnisse all jener beteiligten Autoren und Fraktionen, die für die Realisierung der Intentionen entscheidend sind, erfolgt ist; sowohl der Geltungsbereich der zum Einsatz kommenden Mittel als auch die Potenz der jeweiligen Agenten in Bezug auf das angestrebte Einflussgebiet in Rechnung gestellt wird; der Faktor Zeit sowohl für den Untersuchenden (historische Distanz) als auch für die jeweilig zu erforschende Praxis berücksichtigt wird: Bildungsprozesse haben eine andere Zeitlichkeit als Herstellungsprozesse, die Konkretisierung von Entwürfen ist nur beschränkt determinierbar, die Effekte von Handlungen sind nur beschränkt evaluierbar
Für den konkreten Bezugspunkt im Rahmen dieser Arbeit, die russische Avantgarde, möchte ich in dieser Frage außerdem auf die erfreulichen Forschungsbeiträge von Christine Lodder (1984) und Maria Gough (2004) verweisen. Sie verhelfen zu einem detaillierten Verständnis der russischen Avantgarden und machen die Differenziertheit und Avanciertheit ihrer Auseinandersetzung mit den hier verhandelten Fragen überdeutlich. Gerade die Vertreter der Produktionskunst, von Maria Gough mit dem Term »Kunst der Produktion« (›art of production‹) benannt, erweisen sich in Goughs Studie als derart reflektiert und differenziert, dass eine nachträgliche Einordnung ihrer Kunst (aus fast 100jährigem Abstand) in ›erfolgreich‹ oder ›gescheitert‹ höchstens den Charakter eines Zwischenschritts in der Bezugnahme haben kann.202
202 Maria Goughs Arbeit hat sich mit drei üblichen Zuschreibungen an den Konstruktivismus beschäftigt: Formalismus, Funktionalismus und Scheitern. In ihrer Studie schreibt sie: »Of these problems – it is the question of failure that
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Geschichtsschreibung als Umwertung von Kunstbegriffen Durch die textkritische Analyse der »Theorie der Avantgarde« habe ich versucht, den ideologischen Blickwinkel freizulegen, von dem aus Bürger die nachträgliche Einordnung und Bewertung der Avantgarde vornimmt. Es ging darum, herauszuarbeiten, wie der implizit wertende Umgang mit den Avantgarden im Allgemeinen zu einem reduzierten Verständnis der russischen Avantgarde im Besonderen führt. Die insbesondere von den Konstruktivisten und Produktivisten geleistete Neubestimmung und Ausweitung der gesellschaftlichen Funktion von Kunst wird von Bürger als unerfüllter, ja unerfüllbarer und gescheiterter Anspruch tradiert. Wie sich zeigt und bereits angedeutet wurde, stellt Bürger keinen Einzelfall dar, sondern reiht sich in einen bestimmten Tenor der Tradierung dieses besonderen Kapitels der Kunstgeschichte ein. Was die russische Kunstgeschichte anbelangt, so stellt sich die Lage vergleichsweise einfach dar: Zu Beginn der dreißiger Jahre werden die Avantgardisten zunehmend marginalisiert. Die Förderung und offiziell einzig gültige künstlerische Form – der sozialistische Realismus – verdrängte sukzessiv alle anderen Richtungen aus der öffentlichen Wahrnehmung. 1968 ist es Vladimir Markov möglich, in den USA eine Geschichte des literarischen Futurismus zu veröffentlichen, in dessen Vorwort der Literaturhistoriker schreibt: »This colorful, complex, and influential movement was systematically denigrated and belittled, considered ›a harmful influence‹ or ›a bourgeois error‹, and, since approximately 1930, thought unworthy of any serious consideration.«203 Aber nicht nur in der Sowjetunion wurden die Avantgardisten aktiv der Vergessenheit überantwortet, auch in Kreisen der ersten russischen Emigranten bildeten sie keinen Bezugspunkt. Identifikationsträger sind in diesem Kreis konservative Literaten wie Gorki oder Bunin. Man befürwortete entsprechend der kommunistischen Gaststaaten entweder einen reformierten Realismus oder
feels the most urgent, no doubt due to the frequency with which one hears that word uttered not only with respect to Constructivist enterprise, but also – and especially since the collapse of communism in 1989-91 and the apparent triumph of Western democratic theory – in connection with the larger Soviet ex periment of which it is part.« Gough (2005), S. 191. 203 Markov, Vladimir: Russian Futurism: A History, Berkeley, Los Angeles 1968, S. viii.
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besann sich auf den Symbolismus. Vertreter, die konsequent eine avantgardistische Ästhetik praktizierten, hatten einen schweren Stand: »Hier wurde das Votum für einen avantgardistischen Standpunkt mit einem linken politischen Standpunkt gleichgesetzt und verworfen.«204 In seiner Untersuchung der westlichen Rezeptionsgeschichte des russischen Konstruktivismus nach 1932 kommt Hal Foster zu dem Ergebnis, dass es genau der Wille zur Konkretisierung war – die Überzeugung also, von Kunst aus tatsächlich Einfluss zu nehmen und Welt gestalten zu können –, der, freilich in umwertender Weise, für die nachträgliche institutionelle Tradierung des Konstruktivismus richtungsweisend wurde: »The scandal of Constructivism was that it forged connections rather than posed analogies between artistic and industrial production, cultural and political revolution. And this scandal (which remains its mystique) could not be entirely ignored; it had to be managed – averted and absorbed.«205
Fosters aufschlussreiche Analyse zeigt, wie die Arbeitsweisen und Intentionen des Konstruktivismus im Westen umkodiert, unterdrückt und kondensiert wurden. Die Defetischisierung des Kunstwerks durch die Freilegung seiner materiellen Basis und Bestimmung seiner sozialen Funktion, ob durch die laborhafte analytische Untersuchung von Konstruktionsprinzipien vollzogen oder durch den Versuch der Integration solcher Forschungen in den industriellen Produktionsprozess, – all das wurde bei der Tradierung durch westliche Institutionen meist entweder ausgelassen oder erneuter Fetischisierung unterzogen. Das heißt, die Präsentation und Vermittlung von Konstruktivismus und Produktivismus erfolgte unter Anpassung an genau jene Prinzipien, die sie zu überwinden suchten: individuelle Künstler, handwerkliche Medien, idealistisches Museum, an kapitalistische Verwertungsprinzipien angepasstes Ausstellungswesen, etc.206 Für diesen Verschiebungs- und Umdeutungsprozess sind laut Foster zwei Momente ebenso einflussreich wie signifikant: Zum einen ist dokumentiert, dass Alfred
204 Grübel, Rainer: »Die Kontrafaktur des Kunstwerks in der russischen Literatur und Kunst der Avantgarde«, in: Asholt/Fähnders (2000), S. 313-348, insbes. S. 316. 205 Foster, in: Walker Art Center (1990), S. 244. 206 Vgl. ebda.
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Barr – später Direktor des New Yorker Museum of Modern Art – während seiner Russland-Reise im Jahr 1927/28 mit der Reichweite der russischen Kunstproduktion vertraut geworden ist und sich ausschließlich auf die Suche nach – offenbar schwer zu findender – Malerei machte, um sie in den USA zu präsentieren.207 Zum anderen schreibt Clement Greenberg im Jahr 1948 eine einflussreiche Geschichte der Skulptur, innerhalb derer der Ursprung der »new construction sculpture« nicht nur in Picassos Kubismus verlegt, sondern die Bedeutung des Konstruktivismus außerdem ausschließlich in deren optischen Dematerialisierungseffekten gesehen wird.208 Folgerichtig erhalten in dieser Kunstgeschichtsschreibung vor allem Gabo und Pevsner als Vertreter der russischen Kunst eine repräsentative Stellung, zwei Künstler also, die selbst an der Umdeutung und Ästhetisierung der ›Konstruktivistischen Idee‹ aktiv beteiligt waren.209 Ähnlich verhält es sich nach Christine Lodder mit kunsthistorischen Schriften der sechziger Jah-
207 Bei seinem Russlandbesuch traf Alfred Barr sowohl Rodtschenko und Stepanowa als auch Lissitzky und Tretjakow. Dass er Zeuge eines einschneidenden Paradigmenwechsels geworden war, geht aus seinen Tagebuchnotizen eindeutig hervor. So schreibt er etwa über LEF: »[...] it is a courageous attempt to give to art an important social function in a world where from one point of view it has been prostituted for five centuries.« Vgl. Buchloh, in: October (1987), S. 79. Dass Afred Barrs Verständnis der Avantgarden maßgeblich die Kunstgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts prägte, zeigt auch Astrid SchmidtBurkardt in ihrer Untersuchung der diagrammatischen Visualisierungen der Entwicklungsgeschichte der Moderne. Schmidt-Burkardt (2005). 208 Vgl. ebda, S. 246. 209 Gabo und Pevsner wurden im englischsprachigen Raum im Kreise britischer Kollegen wie Henry Moore und Barbara Hepworth rezipiert, was zusätzlich zu einer Fehlinterpretation ihrer künstlerischen Ansätze führte. Stephen Bann bemerkt hierzu: »Estranged as he was from Tatlin and the Constructivists because of his commitment to the independent social role of art, Gabo was still comparably more concerned with the metamorphorsis of ›Art into Life‹ than his English counterparts.« Vgl. Bann, Stephen: »Russian Constructivism and Its European Resonance«, in: Walker Art Center (1990), S. 213-221, insbes. S. 219.
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re. 210 Die Unterschiede der Ansätze von Gabo, Pevsner und Tatlin, Rodtschenko, Stepanowa, etc. wurden eingeebnet und der Konstruktivismus vornehmlich als rein künstlerische, sprich formale oder ästhetische Innovation behandelt, die sich durch ungegenständliche, geometrische Formprinzipien auszeichnet. Bei der Präsentation der Arbeiten von Tatlin, Rodtschenko oder Lissitzky beschränkte man sich entsprechend auf deren nichtutilitaristische Werke oder rückte Arbeiten mit Gebrauchswert in die Nähe des Bauhaus-Funktionalismus. Und selbst das Bauhaus wurde durch bedeutende Ausstellungen wie der 1932 im Museum of Modern Art präsentierten »The International Style. Architecture since 1922« im Sinne eines neuen Stils präsentiert. Bewusst ließ man »sowohl die soziologische Dimension des Neuen Bauens als auch dessen Orientierung an wissenschaftlichtechnischer Innovation aus« Dahinter verbarg sich die offen formulierte Überzeugung, einem liberalkonservativen Publikum die neue Architektur besser durch den »Schock des Neuen« vermitteln zu können als durch soziologische oder technologische Erläuterung. Letztere langweile das Publikum, wusste einer der drei Kuratoren Barr/Hitchcock/Johnson.211 Walter Grasskamp spricht mit Bezug auf die documenta 1 (1955) entsprechend von einer »misslungenen Aneignung der Moderne« und hebt 1989 hervor: »Im Rahmen der Nachkriegssynopse ignorierte die documenta mit Design und angewandter Kunst einen zentralen Impuls der Moderne, den sie um so weniger aus ihrem Panorama des 20. Jahrhunderts hätte ausklammern dürfen, als dessen erste drei Jahrzehnte durch die typische moderne Öffnung der Kunst für verlorene und neue Möglichkeiten der Anwendung geprägt waren. Künstler, die sich dabei engagiert hatten, zeigte die erste documenta mit ›autonomen‹ Werken (Baumeister, Marcks, Schlemmer, Schwitters), die meisten jedoch, die Konstruktivisten zumal, wurden weder als Künstler noch als Designer berücksichtigt. Bode schmälerte unnötig seinen Ruf als grandioser Ausstellungsmacher, indem er dem Besucher Design-Künst-
210 Vgl. Lodder (1983), S. 1, S. 237. Lodder erwähnt Überblicksdarstellungen von Camilla Gray und George Rickey. 211 Krausse, Joachim: »Oberflächen für eine veraltete Welt. R. Buckminster Fullers Opposition zum Internationalen Stil«, in: Philipp Oswalt (Hg.): Bauhaus Streit 1919-2009. Kontroversen und Kontrahenten, Ostfildern/Dessau 2009, S. 88-107, insbes. S. 97.
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ler vorenthielt, deren frühe Ausstellungsexperimente ihn inspiriert haben müssen, namentlich El Lissitzky.«212
Grasskamp kommt zu dem Schluss, dass die documenta bis heute die Rehabilitierung derer schuldig geblieben ist, die für »das soziale (und oft, wie nebelhaft auch immer, sozialistisch inspirierte) Gesamtkunstwerk der Moderne gestanden hatten, sei es in der Tradition des Werkbundes oder des Bauhauses, der Werkkunstschulen oder einer operativ verstandenen Kunst.« Insbesondere hebt er hervor, dass bei der Tradierung und Aktualisierung der Vorkriegskunst wesentliche Veränderungen schlicht ignoriert wurden. So erinnert er daran, dass im künstlerischen Feld der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts die ›reine‹ Kunstausstellung stellenweise bereits geopfert war. Dennoch: »Die documenta kehrte ungerührt zu dieser Ausstellungskonzeption zurück, die ein Muster der Vormoderne gewesen war. Der Rückgriff war leider nicht konservativ, vielmehr verfehlte die documenta damit ihre eigentliche konservatorische Aufgabe, die nötige Rettung der Moderne vor dem Vergessen.«213
Von solchen Umwertungen, Auslassungen und Depolitisierungsstrategien ist aber nicht nur der enge Kreis konstruktivistischer Avantgarde betroffen, sondern die Erzählung der Avantgardebewegungen überhaupt. Zu der – anhand von Bürgers Beschreibung bereits aufgezeigten – Reduktion institutionskritischer Ansätze auf infantil und impulsiv ausgelegte Dada-Attacken passt auch die im Vergleich zu explizit politischen Praxen höhere Bewertung von Positionen, deren Kritik auf der ironischen, parodistischen oder gar zynischen Darstellung der Verhältnisse beruht, ohne mit einem Änderungsanspruch aufzutreten: »Certainly in the neo-avantgarde Duchamp is privileged over any Constructivist artist or Productivist theorist (Bertold Brecht and Walter Benjamin included), and the ambivalent dandyism of a Baudelaire is valued over the political engagement of a Courbet. Indeed, the neo-avantgardist norm remains a dandyish negotiation of the contradictory demands of the culture industry usually performed through a pose of
212 Grasskamp, Walter: Die unbewältigte Moderne, München 1989, S. 110. 213 Ebda. S. 112.
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parodic cynism. Constructivist work on productive means and situationist intervention in semiotic regimes are still subordinated.«214
Historischer Blick und seine Veränderung »So wie jedes Kunstwerk infolge seiner traditionellen Elemente als das Resultat und Resümee der Vergangenheit erscheint, wird es dank seiner originellen und jeweils aktuellen Züge zum Ursprung eines neuen Vergangenheitsbildes, einer neuen geschichtlichen Orientierung und Periodisierung. Es ist die Originalität und Produktivität der jeweiligen Gegenwart, der nicht nur die Neuentdeckungen und Umwertungen der Kunstgeschichte und ihr stets sich erweiternder Gesichtskreis zu verdanken sind, sondern auch die perspektivischen Verschiebungen, durch die die ganze Kunstentwicklung von Zeit zu Zeit eine neue Richtung und Gliederung und damit einen neuen Sinn gewinnt.«215
Der Historiker und Autor der »Soziologie der Kunst« Arnold Hauser macht hier auf den aktualisierenden Zug bei der Beschäftigung mit Kunstwerken aufmerksam, wenn er die aus ihnen ableitbare perspektivische Verschiebung für die Bewertung der Kunstentwicklung und für die Schreibung ihrer Geschichte geltend macht. Das Interesse an Geschichte sieht sich von zwei – unter Umständen sogar gegenläufigen – parallelen Bewegungen geleitet: Die Suche nach Strängen, die zum gegenwärtigen Resultat geführt haben, geschieht durch eine Perspektive, die nicht mehr hinter ihren bereits erreichten Stand zurück kann. Das historische Material wird vom Standpunkt des Erreichten bewertet. Die Befragung der Geschichte unter einem aktuellen Blickwinkel führt notwendigerweise auch zur Um- und Neuordnung des historischen Materials: Bisher Nebensächliches wird hervorgehoben, Bedeutendes relativiert. Das Beispiel der russischen Avantgarde zeigt besonders deutlich, wie sehr die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen auf die Interpretation und Rezeption von Kunst einwirken. Von Beginn an ist das Verhältnis zwischen künstlerischem Anspruch und kulturpolitischer Vermittlung aufgeladen und gespannt. Bis heute macht sich die Brisanz dieser künstlerischen Epoche bemerkbar, eine Brisanz, die aus der bewussten Neudefinition des Kunstbegriffs resultiert, und die gerade an den vehe-
214 Foster, in: Walker Art Center (1990), S. 250. 215 Hauser (1988), S. 80.
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menten Versuchen ihrer Entschärfung erkennbar wird. Die zweite Historisierung konnte zeigen, dass die Nachkriegskunstgeschichte mit ihrer Tendenz, sich auf Einzelkünstler zu konzentrieren und Figuren wie Malewitsch oder Kandinsky zu den Ikonen der Moderne zu stilisieren, parallel existierende Forschungsfelder und Tätigkeitsbereiche überstrahlte bzw. ausblendete.216 Bemerkenswert ist, dass man die Avantgarden gerade aufgrund ihres eigenen Geschichtsverständnisses immer wieder diskreditierte. So schreibt der Kunstphilosoph Achille Bonito Oliva, die Avantgarde habe »per definitionem immer innerhalb der kulturellen Muster einer idealistischen Tradition gearbeitet, die darauf aus war, sich die Entwicklung der Kunst als eine stetige, fortschreitende und gerade Linie vorzustellen. Die Idee, die hinter einer solchen Ideologie steht, ist die eines sprachlichen Darwinismus.«217
Heinz Schütz wendete dagegen ein, eine solche Avantgarde-Interpretation verkenne das durchaus dialektische Verhältnis der Avantgarden zur Geschichte und deren keinesfalls nur von Ablehnung geprägtes Vergangenheitsbild. Schütz reagiert auf Oliva, indem er dem Fortschrittpathos der Avantgarde die Unabänderlichkeit der Welt entgegensetzt: »Die Summe der Forschritte wird durch die der Rückschritte aufgewogen, so dass unterm Strich alles beim Alten bleibt. Fatal ist hierbei die latente Gleichsetzung von Fort- und Rückschritt, die unausgesprochene Behauptung, es sei ohnehin alles dasselbe.«218
216 Vgl. hierzu: Puffert, Rahel: »Aus der Überforderung lernen. Eine kritische Betrachtung dreier Ausstellungen in der Hamburger Kunsthalle«, http://www. thing hamburg.de/index.php?id=813&no_cache=1&sword_list[]=puffert
(Au-
gust (2009). Hier habe ich am Beispiel der Ausstellungen über Caspar David Friedrich, Kasimir Malewitsch, Marc Rothko gezeigt, wie die Einzelkünstlerkunstgeschichte heutzutage gestärkt und neu kontextualisiert wird. 217 Oliva, Achille Bonito: »Die italienische Trans-Avantgarde«, zit. n. Heinz Schütz: »Jenseits von Utopie und Apokalypse? Zum Mnemismus der Gegenwartskunst«, in: KUNSTFORUM International. Kunst Geschichte Kunst, Bd. 123, 1993, S. 64-100, insbes. S. 83. 218 Schütz, in: KUNSTFORUM (1993), S. 84.
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Schütz weist außerdem auf eine Besonderheit hin, die jenen entgeht, die den Avantgarden den »illusionären Glauben an das zukünftige Glück« unterstellen: »Immer wieder traten im Avantgardismus Ansätze hervor, die auf eine Epiphanie zielten, auf die Erfüllung der Kunst im Augenblick, von dem aus sich eine Zukunftsperspektive öffnet.«219 Mit Blick auf die künstlerischen Selbstlegitimationen von Avantgardisten korrigiert Stefan Germer das von Oliva entworfene eindimensionale Geschichtsverständnis der Avantgarden wie folgt: »Die Moderne hat die Kunstgeschichte [...] nicht beendet, sondern beerbt. Indem sie einen Anfang und ein Ende setzte, eine Zeitordnung mit eigenen Genealogien, Entwicklungsphasen und Endpunkten erfand, kurz: die Autorität des Historischen nutzte, meinte sie dem Vorwurf der Beliebigkeit entgehen zu können.«220
Germer erinnert nicht nur daran, dass die Kunst der Moderne eine Kunst nach der Entstehung der Kunstgeschichte war, sondern beobachtet auch, dass dieses Vorgehen zu dem »innersten Verfahrensprinzip« der Kunst der Moderne wurde. Wenn Germer den Avantgardisten zuschreibt, die »Herrschaft des Historischen über das Ästhetische« 221 anerkannt und in gleichem Atemzuge negiert zu haben, so verrät er damit eine Lesart der überlieferten avantgardistischen Manifestationen, die dem Performativen und Dialogischen der Artikulationen Tribut zollt. Anstatt Gesetztes als Gesetz zu lesen und mit einem ungebrochenen Objektivitätsanspruch auszustatten (welcher Kunst von jeher widerspricht), ist es plausibler, die Setzungen als Folgen eines Drucks zu interpretieren, der für Künstler angesichts der Konkurrenz der kunstgeschichtlichen Disziplin bei der Bestimmung von Kunst entstand. Aus der Anerkennung der ›Dominanz des Historischen‹ spricht also die Notwendigkeit, sich als Künstler auf eine Tradition zu beziehen, auch wenn man diese zu großen Teilen nicht mehr für zeitgemäß hält und nicht fortschreiben will. Insofern steckt in der Negierung dieser Tradition die Chance
219 Ebda. S. 83. 220 Germer, Stefan: »Mit den Augen des Kartographen – Navigationshilfen im Posthistoire«, in: Anne-Marie Bonnet/Gabriele Kopp-Schmidt (Hg.): Kunst ohne Geschichte. Ansichten zu Kunst und Geschichte heute, S. 140-151., insbes. S. 142. 221 Ebda., S. 146.
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auf Selbstbehauptung und damit auf neu gewonnene Möglichkeiten von Kunst. Methodisch bedeutet sie aber auch Abgrenzung und Befürwortung einer nach neuen Gesichtpunkten gegliederten Ordnung. Lissitzkys Kritik an den ›Demonstrationswegen‹ des Museums, die in seinem von mir im ersten Kapitel zitierten Brief zum Ausdruck kommt, und die ihn zur Arbeit an eigenen Präsentationsräumen führte, liefert hierfür deutliche Hinweise: Lissitzky, der an Bewegung und Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess arbeitete, wollte nicht durch Historisierung zu Lebzeiten begraben werden.222 Das aktuelle Interesse und die verstärkte Rezeption der sogenannten »Revolutionskunst« setzten im Westen erst mit in den achtziger Jahren beginnenden Entspannung der Ost-West-Beziehungen ein. Die Öffnung der sowjetischen Archive ermöglichte es, eine historische Epoche der Kunstgeschichte aufzuarbeiten, deren Rezeption durch die ideologischen Brillen von sich feindlich gegenüberstehenden Systemen bislang entweder verstellt oder bis zur Unkenntlichkeit entstellt war. Die Lösung von den systemischen Logiken (US-amerikanischer Kapitalismus versus sowjetischer Kom-
222 In diesem Zusammenhang weiterführend scheinen mir auch die Ausführungen von Leo Matthias zu sein, welche die Abneigung gegenüber dem Museum als Institution noch einmal in ein anderes Licht rücken: »Kein Maler malt für das Museum. Sondern er malt für einen Raum. Das Museum hat keinen Raum, sondern nur Räumlichkeiten. Kein Maler ist daher erfreut, wenn man seine Bilder ins Museum hängt – denn obgleich er auch niemals für einen bestimmten Raum malt, hat er dennoch einen bestimmten Raum t y p u s, aus dem das Bild herausgedacht ist und in den es deshalb hineingehört. Dieses Problem, das auch für Europa existiert, ist für Russland ein besonders harter Knochen, weil der e i n z i g e Käufer der Staat ist und daher sämtliche Bilder ins Museum wandern. Irgendeine Lösung des Problems hat man bisher in Russland ebenso wenig wie in Europa gefunden. Vielleicht löst es sich von selbst. Denn das Tafelbild als Massenphänomen, ist nur möglich bei einer Lebensanschauung, die den Privatraum in den Mittelpunkt des Einzeldaseins hebt. Die Verschiebung gerade dieses Mittelpunkts ist aber in Russland sehr wahrscheinlich. Das Tafelbild, das bei uns Geist und Probleme der gesamten Malerei bestimmt hat, wird daher im zukünftigen Russland, vielleicht, keine größere Bedeutung haben, als etwa bei uns das Mosaik; während – vielleicht – das Mosaik oder das Alfresko die Bedeutung unseres Tafelbildes bekommen wird.«. Matthias (1921), S. 54f.
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munismus) erlaubte aber nicht nur, das Material zu sichten, welches bis dato schwer zugänglich war bzw. absichtlich der Vergessenheit überantwortet werden sollte. Was sich verändert hat, war der Blick auf das historische Material. Die alten ideologischen Antagonismen, welche die Sicht bewusst oder unbewusst gelenkt und gefiltert hatten, lösten sich aus ihren Verankerungen. Auf diese Weise kann das an Realität gewinnen, was sich nicht in die überkommenen ideologischen Raster einfügen ließ, was aber unter derzeitigen Bedingungen offensichtlich wieder Aktualität besitzt. So werden nun solche Merkmale der künstlerischen Praxis in die Wahrnehmung gerückt, die zuvor vernachlässigt wurden, sich aber vom Sichtfeld der Gegenwart aus für die Ausbildung einer neuen Wertlogik eignen. Dieser Logik entsprechend wird das historische Material wieder neu sortiert. Das Verhältnis zwischen erster und zweiter Historisierung macht deutlich, dass solche künstlerischen Vorstöße, die sich systematisch mit neuen sozialen Bestimmungen von Kunstbegriffen befassen, zu allererst die gewohnten Interpretationsraster herausfordern. Um den neuen Anwendungsbereich zu realisieren, sind sie auf eine ihr entsprechende rezeptive Haltung angewiesen. Erst eine Rezeption, die in der künstlerischen Arbeit kein Werk vermutet, sie nicht als abgeschlossenes Objekt betrachtet, sondern als Anstoß aufgreift, verleiht der Kunst ein prozessierendes Moment. Hierin besteht auch die für die Avantgarden, zumindest aber für die russische Avantgarde charakteristische Zukunftsorientierung: Ihr Stilideal besteht nicht in einer bereits gefundenen und verwirklichten Form, sondern in einer Form, die erst gefunden werden muss.223 Während dieses Findungsprozesses, der tendenziell unabschließbar ist, unterliegt die konkretisierte Arbeit einem morphologischen Wandel: Als vermittelte ist eine künstlerische Arbeit an äußeren Merkmalen nicht mehr zu erkennen. Genau hierin aber besteht gewissermaßen die Erfüllung ihres repräsentationskritischen Anspruchs. Welche Möglichkeiten gibt es nun, die grundsätzlich veränderte Stoßrichtung der Avantgarde aufzugreifen oder sogar daran anzuschließen? Wie lässt sich mit einer anderen Art der Kriterienbildung, oder allgemeiner mit einer neuen rezeptiven Haltung antworten? Welche theoretischen Schlüsse lassen sich ziehen? Deutlich zeichnet sich ab: Der Geltungsbereich eines künstlerischen Entwurfs liegt nicht allein in der Verantwortung
223 Vgl. Hauser (1988), S. 724.
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des Künstlers, sondern steht in Abhängigkeit all jener, die von dessen Konzeption passiv affiziert oder aktiv an seiner Vermittlung beteiligt sind. Für die Kunstkritikerin und Kuratorin Stella Rollig bilden die Konstruktivisten und Produktivisten eine Grundlage für eine »andere Kunstgeschichte« mit dem Fokus auf sozial und politisch engagierte Kunst, da die Vermittlung derer Perspektiven auf die Ideengeschichte bisher nur unzureichend geglückt sei. Eine solche Geschichte verstehe sich als Gegenwicht zu der ausreichend überlieferten, ausschließlich nach ästhetischen Kriterien ausgerichteten Kunstgeschichte und gehe von der Überzeugung aus, dass es – will man »Kunstbegriffe nachhaltig neu definieren« – eine solche diskursive Unterstützung brauche.224 Aber damit nicht genug. Mit dem Wissen um die sozialen Implikationen des Konstruktivismus verändert sich notwendigerweise auch die Einschätzung und Bewertung aller anderen parallelen und nachfolgenden Strömungen. Einmal als Kategorie der Gestaltung entdeckt und hervorgekehrt, ist die Betrachtung und Bewertung einer künstlerischen Arbeit hinsichtlich ihrer ›sozialen Absicht‹ auf jede künstlerische Arbeit anwendbar geworden. Soziale und ›organisatorische‹ Aspekte – oder einfacher: die jeweils gewählten Vermittlungswege – stehen formalen, ästhetischen oder inhaltlichen Gesichtspunkten gleichrangig als Interpretationshilfen zur Seite. Selbstredend betrifft das insbesondere Arbeiten, deren soziale Dimension explizit erarbeitet wurde. Der ›soziale Blick‹ lässt sich aber ebenso auf Kunstformen anwenden, die sich in ihrer Adressierungsform ganz auf konventionelle Strukturen verlassen oder die ihren eigenen kommunikativen und sozialen (soziologischen) Dimensionen gegenüber ignorant sind. Prägnante Beispiele sind die so genannten ›drop-sculptures‹. So bezeichnet werden Skulpturen im öffentlichen Raum, die konzipiert sind, ohne dass das Umfeld ihres Standortes in irgendeiner Weise berücksichtigt wurde. Solche Skulpturen verraten zwar viel über die antizipierten Publikumsbezüge, mit den Rezeptionsbedingungen des gewählten Standorts nehmen sie aber keinerlei Kontakt auf. Auch überformatige Malerei, die sich zwangsläufig ausschließlich Museumswänden andient oder nach außergewöhnlich großzügigen und von daher exklusiven Eigenheimen verlangt, hat eine bestimmte soziale Ausrichtung. Mit großer Selbstverständlichkeit hat das Museumspublikum inzwischen hingenommen, dass die Werke, die es dort zu
224 Rollig, in: Rollig/Sturm (2002), S. 134.
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sehen bekommt, zu besitzen nur sehr wenigen Menschen vorbehalten ist und die Mehrheit sie ›nur‹ anschauen kann. Kunstarbeiten, die sich um soziale Einschlüsse bemühen, veränderte Verbreitungs- und Vermittlungswege ersinnen und das Verhältnis zum Publikum als Teil der Arbeit bedenken und bestimmen, bilden seit dem Konstruktivismus einen eigenen geschichtlichen Strang innerhalb der Kunstgeschichte. Man kann aber nicht umhin, die Marginalisierung solcher Praktiken wahrzunehmen und sensibilisiert zu sein für den Status, den man Arbeiten mit ähnlichem Anspruch in verschiedenen Kontexten verleiht. Dass es sich bei ihnen eher um Sozialarbeit als um Kunst handele, ist der wiederholt formulierte Einwand. Woher aber rührt – so darf man sich fragen – die selbstverständlich pejorative Bedeutung dieser Einordnung? Wir können also folgern, dass die Beschäftigung mit der Avantgarde in einem veränderten geschichtlichen Blick resultiert und damit zu einer Umwertung des historischen, aber auch aktuellen Materials beiträgt. Mit diesem Ertrag dringen wir gleichzeitig auch zu einer Bestimmung des Zeitgenössischen vor. Bazon Brock ist zuzustimmen, wenn er ausführt: »Das Neue in den Künsten der jeweiligen Zeitgenossenschaft wird nur substantiell erfahren in den jeweils neuen Kunstgeschichten. Die Funktion des zeitgenössisch Neuen besteht darin, dasjenige Alte aneignen zu können, zudem wir ansonsten keinen Zugang hätten. [...] Avantgarde ist nur das, was uns veranlasst, die angeblich gesicherten Bestände der Tradition auf neue Weise zu sehen, d.h., neue Traditionen aufzubauen.«225
Indem die »künstlerisch-soziale Avantgarde«226 die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz und sozialen Funktion von Kunst umfassend aufwarf und sich zu eigen machte, wurde Kunst – und weiter gefasst Kultur – vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Kräfte und Kämpfe lesbar. Foster charakterisiert den exemplarischen Charakter des Konstruktivismus als »primary modernism active in social and political transformation and insistent
225 Brock, Bazon: »Avantgarde und Tradition«, in: Nicola von Velsen (Hg.): Bazon Brock: Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit. Die Gottsucherbande. Schriften 1978-1986, Köln 1986, S. 102-298, insbes. S. 106. 226 Margolin (1997), S. 3.
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on the effectivity of culture upon these realms«.227 Durch die Methode der doppelten Historisierung wiederum wird die Geschichtsschreibung selbst als Terrain sozialer Auseinandersetzung erkennbar, auf dem sich mittels Abwertung, Vernachlässigung, Ableitung oder Hervorhebung verschiedene Kunstbegriffe historisieren und dadurch unwirksam machen, aber auch prozessieren und aktualisieren lassen. Wie gezeigt wurde, hat also nicht nur die Problematik des Verhältnisses von Kunst und ihrer Vermittlung eine Geschichte, auf die sich aus heutiger Sicht verweisen lässt und innerhalb derer sich die Lösungsversuche wandeln. Hinzu kommt, dass sich Vermittlung von Kunst auf dem Terrain der Geschichtsschreibung selbst abspielt. Denn die Geschichtsschreibung vermittelt mit. Zur Frage des Pluralismus: Die Pluralität von Geschichten annehmen Wenn es eine Wahrheit gibt, so die, daß um die Wahrheit gekämpft wird.228 PIERRE BOURDIEU
Selbstverständlich macht die doppelte Historisierung auch auf die Gerichtetheit der eigenen Perspektive aufmerksam. Zwar lässt sich nach erfolgter doppelter Historisierung auch weiterhin kein endgültig objektiver Standpunkt zu dem eigens hergestellten Spektrum an Positionen einnehmen. Vielmehr ist die Relativität des eigenen Standpunktes der entscheidende Erkenntnisgewinn, der aus der doppelten Historisierung resultiert. Die Relativität eigener Einschätzungen und Vorlieben durch die Bezugnahme auf verschiedene Sprecher nachvollziehbar gemacht zu haben, ist aber im Hinblick auf die eigene Verortung von entscheidendem Vorteil. Selbst wenn es niemandem möglich ist, das gesamte soziale System abzubilden229, in welchem die jeweils zu untersuchende Arbeit entstand, so gibt die Einbettung
227 Foster, in: Walker Art Center (1990), S. 253. 228 Bourdieu (2001), S. 466. 229 Die Optik und die Psychoanalyse machen hier regelmäßig auf den blinden Fleck unserer Wahrnehmung aufmerksam. Innerhalb der Systemtheorie verweist man auf die Standpunktabhängigkeit des Forschers.
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selbst jede Menge Aufschlüsse. Sie führt zu einem Zuwachs an historischem Wissen und einer Verdichtung und Differenzierung der eigenen Perspektive. Viele der Stellungnahmen zu den Grundfragen über Kunst, die aus avantgardistischer Perspektive in Erscheinung traten, erscheinen auch heute noch hochaktuell, zumindest aber gibt es Haltungen und künstlerische Konzepte, an die sich gegenwärtig anschließen lässt. Mit Relativität ist also das Ins-Verhältnis-Setzen zu anderen Positionen, Stimmen, Bewertungen gemeint, nicht die Relativierung im Sinne einer Abschwächung der jeweiligen Position. Letztere Unterscheidung ist gewichtiger, als es vielleicht zunächst scheint. Sie berührt ein Thema, das in der kunstwissenschaftlichen Literatur derzeit immer wieder erörtert und diskutiert wird und bei dem es um die Bestimmung und Bedeutung der pluralistischen Verfasstheit unserer Gesellschaften geht. Für den Bereich der Kunst beschreibt Hal Foster den Status quo wie folgt: »Art exists today in a state of pluralism: no style or even mode of art is dominant and no critical position is orthodox. Yet this state is also a position, and this position is also an alibi.«230
Noch einmal bietet es sich an, Peter Bürger heranzuziehen, um die hier angesprochene pluralistische Position zu illustrieren. Aus der Beschäftigung mit den historischen Avantgarden zog Bürger folgenden Schluss: »Zwar haben die Avantgarden die Institutionen nicht zerstört, wohl aber haben sie die Möglichkeit zerstört, dass eine bestimmte Kunstrichtung mit dem Anspruch allgemeiner Gültigkeit auftreten kann.«231 Das Nebeneinander von »realistischer« und avantgardistischer Kunst sei heute »ein Faktum, gegen das legitimerweise Einspruch zu erheben nicht mehr möglich ist.«232 Und: Die Grenze der politischen Wirkung avantgardistischer Werke sei durch »die Institution gesetzt, die in der bürgerlichen Gesellschaft nach wie vor einen von der Lebenspraxis abgehobenen Bereich ausmacht.«233 Die Konsequenz, die Bürger für sein eigenes Betätigungsfeld zu eröffnen bereit ist,
230 Foster, Hal: »Against Pluralism«, in: ders.: Recodings. Art, Spectacle, Cultural Politics, Washington 1985, S. 13-32, insbes. S. 13. 231 Bürger (1974), S. 122. 232 Ebda. 233 Ebda., S. 128.
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ist entsprechend begrenzt: »Wo die Möglichkeiten der Gestaltung unendlich geworden sind, wird nicht nur die authentische Gestaltung erschwert, sondern zugleich deren wissenschaftliche Analyse.«234 Ähnliche Überzeugungen findet man auch bei Arthur Danto wieder. In seinen kunstwissenschaftlichen Schriften betont der amerikanische Kunstphilosoph wiederholt den paradigmatischen Einschnitt und die Qualitäten, die das Zeitalter des Pluralismus für die heutige Gesellschaft bedeuten. Für Danto ist es der »strukturelle Pluralismus, der das Ende der Kunst kennzeichnet – ein Babel nicht konvergierender künstlerischer Konversationen.« In seinem viel rezipierten Buch »Nach dem Ende der Kunst« beschreibt Danto rückblickend eine Kunsterfahrung – die Ausstellung der Brillo-Boxes von Andy Warhol im April 1964 in der Stable Gallery, New York –, nicht nur als einschneidenden Wechsel seiner eigenen Sichtweise auf Kunst, sondern auch explizit als Ausgangspunkt, um einen Paradigmenwechsel in der Kunstgeschichte einzuführen: In den Sechzigern beginne eine sich in den Siebzigern voll ausbildende neue Freiheit von ideologischen Zwängen innerhalb der Kunstwelt. Eine Zäsur, in der Danto das von Hegel im Voraus erahnte Ende der Kunst erkennt und dafür weitreichende Folgen reklamiert: »Künstler mussten nicht länger Philosophen sein. Indem sie die Frage nach dem Wesen der Kunst der Philosophie überantwortet hatten, stand es ihnen nun frei, zu tun, was sie wollten. Genau in diesem Moment wurde der Pluralismus zur objektiven historischen Wahrheit. [...] Die Geschichte war tatsächlich an ihr Ende gelangt.«235
Dantos Thesen bleiben nicht unwidersprochen. Zunächst fällt auf, dass Danto, der die Geschichte der Ästhetik als »philosophische Entmündigung der Kunst« angeprangert hatte, selbst »die philosophische Geschichte der Kunst zur Geschichte schlechthin«236 erklärt. Bernadette Collenberg-Plotnikov führt aus:
234 Ebda., S. 130f. 235 Danto, Arthur C.: Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996 (1992), S. 264. 236 Collenberg-Plotnikov, Bernadette: »Wissenschaftstheoretische Implikationen des Kunstverständnisses«, in: Ursula Franke/Annemarie Gethmann-Siefert (Hg.): Kulturpolitik und Kunstgeschichte. Perspektiven der Hegelschen Ästhe-
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»Sicher ist die Reflexion auf ihr eigenes Wesen eine Thematik, die die Kunst seit ihren Anfängen begleitet. Allerdings ist es selbst für die Moderne kaum überzeugend, sie als ihr ausschließliches Projekt auszuweisen. Mit der These, daß Kunstwerke wie Duchamps ›ready mades‹ oder Warhols ›Brillo Boxes‹ in dieser Sache einen äußersten Punkt markieren, ist nicht mehr gesagt, als daß eben dieses eine kunstweltliche Projekt, die ›praktische Weise, die Grenzen des Kunstbegriffs auszutesten‹, an ihr Ende gelangt ist.«237
Der Kunsthistoriker Michael Lüthy bemängelt außerdem Dantos ungenaue Kenntnis bzw. verkürzende Bezugnahme auf die Kunstgeschichte und führt dessen Theoriebildung auf eine mit der Moderne einsetzende, durchaus bekannte Erfahrung zurück: Die Unübersichtlichkeit der Gegenwart erwecke den Eindruck, es gäbe »kein ordnendes Regulativ und kein ästhetisches Kriterium mehr, und zwischen dem, was als Kunst gelte, und dem, was keine Kunst sei, könne nicht mehr unterschieden werden«.238 Rückblickend sei darin aber keinesfalls ein Zeichen für das Ende der Kunst zu sehen. Eher handele es sich um ein Indiz dafür, dass sich eine Neukonzeption ihres Geschichtsverlaufs und ihres Begriffs anbahne. Lüthy präzisiert: »Was in den 1960er Jahren in eine Krise geriet und an ein Ende kam, war weniger die Kunst als vielmehr eine bestimmte Möglichkeit, deren Geschichte zu entwerfen. Auch für Danto hätte die Gegenwart, die sich dem hergebrachten Narrativ nicht fügte, Anlaß sein können, die Geschichte der Kunst komplexer zu beschreiben, und dieses komplexere Bild der Geschichte hätte ihm wiederum dabei helfen können, in der eigenen Zeit nicht nur jene nach-geschichtliche kriterienlose Beliebigkeit zu erkennen, die er der post-warholschen Kunst zuschreibt, sondern darin auch Kriterien der Ordnung zu entdecken.«239
tik, Sonderheft der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Hamburg 2005, S. 65-101, insbes. S. 94. 237 Ebda. 238 Lüthy, Michael: »Das Ende wovon? Kunsthistorische Anmerkungen zu Dantos These vom Ende der Kunst«, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.): Kunst Fortschritt Geschichte, Berlin 2006, S. 57-66, insbes. S. 59. 239 Ebda.
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Tatsächlich muss man sich fragen, ob aus dem von Jean-François Lyotard 1979 proklamierten »Ende der großen Erzählungen«,240 notwendigerweise gleich das Ende jeder Erzählung oder gar das Ende der Geschichte an sich, in diesem Fall der Kunstgeschichte gefolgert werden kann. Eine andere, schlüssige und mit einem positiven Verständnis von Pluralität zu vereinbarende Konsequenz, die weder in Geschichtslosigkeit noch in relativistischer Beliebigkeit mündet, bestünde darin, die Pluralität von Geschichten anzunehmen. Die Kunstentwicklung und die sie begleitenden kunsttheoretischen Debatten zeichnen sich eben gerade nicht durch Einstimmigkeit aus oder können durch eine kunstphilosophische Deutung erfasst werden. Anstatt also das agonale Ringen um Anerkennung und Durchsetzung einzudämmen, wie Dantos Kunstwelttheorie es will,241 wird hier eine demokratische und polyphone Geschichtsschreibung bevorzugt, die der Komplexität und Vielschichtigkeit von unter Umständen sogar inkommensurablen und widerstreitenden Ansätzen Raum gibt. Denn wie Ernst Cassirer es formulierte: »Die einzelnen geistigen Richtungen treten nicht, um einander zu ergänzen, friedlich nebeneinander, sondern jede wird zu dem, was sie ist, erst dadurch, dass sie gegen die anderen und im Kampf mit den anderen die ihr eigentümliche Kraft erweist.«242
240 Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen, Wien (1979) 1999. 241 »1913 standen dem Maler viele Wahlmöglichkeiten offen – Impressionismus, Expressionismus, natürlich der Kubismus, natürlich der Futurismus, verschiedene Varianten des Realismus – aber jeweils nur ein wahrer und richtiger Weg. Wenn man den Pluralismus jedoch 1981 wirklich akzeptierte, dann war auf einmal die eine Wahl so richtig wie jede andere. Nicht, daß alles historisch richtig war, aber ›historical correctness‹ war belanglos geworden.« In: Danto (1996), S. 256. »Und das meine ich mit dem Ende der Kunst: das Ende einer bestimmten Erzählung, die sich über Jahrhunderte in der Kunstgeschichte entfaltet und die ihr Ende in einer gewissen Freiheit von Konflikten erreicht hat, denen man im Zeitalter der Manifeste noch unentrinnbar ausgeliefert war.« In: Danto (2000), S. 64. 242 Cassirer, Ernst in PSF, 13, zit. n. Waßner, Rainer: Institutionen und Symbol. Ernst Cassirers Philosophie und ihre Bedeutung für eine Theorie sozialer und politischer Institutionen, Spuren der Wirklichkeit, Bd. 17, Münster, Hamburg, London 1999, S. 23.
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Die friedliche Koexistenz von Kunstbegriffen, für die Bürger und Danto hier stellvertretend einstehen, basiert auf einer Perspektive, die scheinbar neutral Pluralität zu regeln versucht, ohne den eigenen Standpunkt in diese Regelung einzubeziehen. Eine häufig sogar im Namen der Kunst in Anschlag gebrachte ›Toleranz‹ führt dazu, dass die hier beschriebene Bezuglosigkeit mit Freiheit verwechselt wird bzw. der Nicht-Kommunikation und Berührungslosigkeit zugrunde liegt. Hal Foster vermutet, dass hiermit einer Ideologie des freien Marktes in die Hände gespielt wird: »As a term, pluralism signifies no art specifically. Rather, it is a situation that grants a kind of equivalence; art of many sorts is made to seem more or less equal – equally (un)important. [...] Posed as a freedom to choose, the pluralist position plays into the ideology of the ›free market‹; it also conceives art as natural, when both art and freedom consist entirely of conventions.«243
Die Alternative hierzu besteht darin, sich selbst als Teil einer Pluralität zu begreifen. Nach einer solchen Auffassung von Pluralität wird niemandem von vornherein ein privilegierter Standpunkt zuerkannt, wohl aber die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Fraktionen unter Berücksichtigung ihrer Wirkungsmacht gewährleistet. Eine streitbare Koexistenz hat den entscheidenden Vorteil, die jeweilige soziale oder gesellschaftliche Funktionszuschreibung von Kunst (z. B. herrschaftskritisch, emanzipatorisch, unterhaltend, affirmativ) nicht zu leugnen, sondern in ihrer politischen und sozialen Differenz erkennbar zu machen und auch für sie einzutreten. Zur Bestimmung der Einzelposition gehört es aber auch, deren jeweiligen Faden der Geschichte aufzunehmen und sich in diese einzuschreiben. Die berechtigte Kritik an einer linearen Geschichtskonzeption sowie an der Privilegierung einer Herrschaftsgeschichte – wie sie die Kunstgeschichtstradition sicherlich ist – kann nicht darin münden, das Feld der Geschichtsschreibung gänzlich aufzugeben. Im Gegenteil: Der Beherrschung durch eine Logik kann nur mittels einer Ablösung dieser durch mannigfaltige Logiken begegnet werden. Nur so wird Pluralität als Beziehungssystem lesbar, welches durch Ausschließlichkeiten, Allianzen, Widersprüche, Machthierarchien, aber auch durch Qualitätsunterschiede charakterisiert ist. Erst auf einer solchen Grundlage werden Entscheidungen zwischen Optio-
243 Foster, in: ders. (1985), S. 15.
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nen möglich, wenn nicht sogar notwendig. Insofern stimme ich Foster zu. Zu bedenken ist zudem, dass auch die Leugnung eines eigenen Kunstbegriffs bereits eine Positionierung in der Reihe der möglichen Entscheidungen bedeutet. Deutliche Worte hierfür findet Peter Weibel, wenn er konstatiert: »Kommentatoren der Zeit beschwören gern das Ende der Avantgarde, der Ideologien, der Innovation. Kuratoren von Großausstellungen verkünden fröhlich die Beliebigkeit als Kanon und die Gleichwertigkeit aller Positionen, als gäbe es keine Unterschiede zwischen konservativ und progressiv, zwischen alt und neu, zwischen angepasst und kritisch. Doch dieses ist eine Behauptung der konservativen Ideologie. In Wirklichkeit verschleiert der trübe Blick der Beliebigkeit nur die Antinomien der Gesellschaft und die Transformationen der Kunst.«244
Die Krise der Repräsentation und ihr Bezug zur Vermittlung »Von der Repräsentation zur Konstruktion«, so lautete der Titel eines nicht realisierten Buchprojekts der Arbeitsgruppe für Objektive Analyse. Idee des Vorhabens war es, eine Anthologie aus Zeichnungen und Statements herzustellen, die einen viermonatigen Arbeitsprozess im Frühjahr 1921 und damit die intensive Beschäftigung mit der Abgrenzung zwischen Komposition und Konstruktion dokumentieren sollte.245 Der Titel des unveröffentlichten Kompendiums gibt einen Hinweis auf den allgemeinen Rahmen, dem die künstlerischen, institutionellen und politischen Ambitionen der ›sozialen Avantgarde‹ zuzuordnen sind. Diesen Rahmen möchte ich hier »Krise der Repräsentation« nennen. Selbst wenn sich die Krise der Repräsentation heutzutage manchmal als ein neu zu bewältigender Problemkomplex und die Repräsentationskritik als eine mit der Postmoderne einsetzende Bewegung darstellt, so setzt jene Krise – freilich meist unter anderem Namen – bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. In der Erkenntnis, dass althergebrachte Bestimmungen unseres Wirklichkeitsbezugs einer grundlegenden Korrektur bedürfen, sind sich Wissenschaftler unterschiedlichster Fach- und ideologischer Ausrichtungen – wie etwa Marx, Freud, Nietzsche, Helmholtz oder Cassirer –
244 Weibel, Peter: »Vorwort«, in: ders.: Kontextkunst. Kunst der 90er Jahre, Köln 1994, S. XI-XV, insbes. S. XIII. 245 Gough (2005), S. 57.
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relativ einig. Von einem Übereinstimmungsverhältnis von Seiendem und Begriff ist nicht mehr auszugehen. Bei Ernst Cassirer heißt es: »Eine völlig andere Ansicht über das Verhältnis von Denken und Sein [...] ergibt sich für die Denkart der kritischen Philosophie. Denn für sie wird der ›Gegenstand‹, der vorher als das Bekannte galt, zum Gesuchten.«246 Das Paradies der reinen Unmittelbarkeit sei auf ewig verschlossen. Es gäbe keine Auseinandersetzung von Ich und Welt außerhalb der Formung. Die wesentlichen Inhalte und Folgeaufgaben, die aus dieser Krise der Repräsentation resultierten, fasst Silja Freudenberger in drei Punkten zusammen: »1. Die Idee eines Gottesgesichtspunktes ist sinnlos. 2. Die Abbildkonzeption von Erkenntnis und Repräsentation muss aufgegeben werden. 3. Die Bedeutung spezifischer (konzeptueller, kultureller, sozialer) Bedingungen für die Konstitution von Welt und diese repräsentierende Erkenntnis kann kaum überschätzt werden.«247
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Gayatri Chakravorty Spivak nachdrücklich davor warnt, den Unterschied zwischen zwei Bedeutungen von ›Repräsentation‹ zu verwischen. Obwohl sie durchaus deren Verbindung sieht, unterscheidet sie: »representation as ›speaking for‹, as in politics, and representation as ›re-presentation‹ as in art and philosophy.« Gerade in der poststrukturalistischen Literatur – Spivak bezieht sich auf Foucault und Deleuze – sei nicht genügend Wert auf diese Unterscheidung gelegt worden.248 Hier ist zunächst die zweite Wortbedeutung gemeint: Dar-
246 Cassirer, Ernst: »Goethe und die mathematische Physik. Eine erkenntnistheoretische Betrachtung«, zit. n. Freudenberger, Silja: »Repräsentation: Ein Ausweg aus der Krise«, in: Silja Freudenberger/Sandkühler Hans Jörg (Hg.): Repräsentation, Krise der Repräsentation, Paradigmenwechsel. Ein Forschungsprogramm in Philosophie und Wissenschaften, Frankfurt/M. 2003, S. 71-102, insbes. S. 75. 247 Ebda., S. 76. 248 Spivak, Gayatri Chakravorty: »Can the Subaltern speak?« in: Cray Nelson/ Lawrence Grossberg: Marxism and the Interpretation of Culture, Illinois 1988, S. 271-313, insbes., S. 275. Spivak kritisiert hier die Aussagen von Deleuze und Foucault, es gäbe keine Repräsentation mehr und der Intellektuelle sei
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stellung als Wiedergabe von etwas als vorgängig existierend Gedachtem. Für die Malerei und Skulptur bedeutet die Krise der Repräsentation zunächst die endgültige Verweigerung der bloßen Darstellungsfunktion. Die Hinwendung zu einer intensiven ›Grundlagenerforschung‹ zu künstlerischen Mitteln hinsichtlich ihrer variablen Funktionen und Wirkungen schließt sich unmittelbar an.249 Die Hinwendung zum Ungegenständlichen bedeutet, wie Arnold Hauser es formuliert, »in gewisser Hinsicht einen tieferen Einschnitt in der Geschichte der Kunst [...] als sämtliche anderen Stilwandel seit der Renaissance«. Er führt aus: »Es gab zwar stets eine Pendelbewegung zwischen Formalismus und Antiformalismus, die Aufgabe der Kunst, lebenswahr und naturgetreu zu sein, wurde aber seit dem Ende des Mittelalters prinzipiell nie in Frage gestellt.«250 Dass die Avantgardisten sich dieses epochalen Bruchs bewusst waren, bezeugt folgende Notiz von Ljulbow Popowa: »Die Analyse der formalen Bestandteile der Kunst, die sich in den letzten Jahrzehnten als Ziel künstlerischen Schaffens herausgebildet hat, bedeutet für die Darstellungskunst eine Krise.« 251 Auch Gough betont, dass die in den letzten Jahrzehnten üblich gewordene Skepsis gegenüber »radikalen Brüchen, epistemologischen Verschiebungen oder großen Einschnitten« an dieser Stelle verfehlt sei. So hätten die Konstruktivisten ab November 1921 allesamt mit der Malerei aufgehört, viele von ihnen ihr Arbeitsfeld mehr oder weniger in die industrielle Produktion verlegt oder sich fotografischen
nicht mehr dazu da, für eine Gruppe oder Masse zu sprechen. Beides sei eine Verkennung der realpolitischen Situation und entledige Intellektuelle der Aufgabe, für Schwache und Unterdrückte einzutreten. Auch übersehe diese Aussage die verschiedenen Formen von politischer Repräsentation: Fürsprache, Verteidigung, Anführung, Sprachrohr seien ebenso möglich wie Demagogie oder Machtmissbrauch. 249 Und dieses mit einem hohen Grad an analytischer Genauigkeit. Nicht nur wurde z. B. das gemalte Bild in seine Bestandteile (Farbe, Fläche, Form) zerlegt und hinsichtlich der Wirkung ihres Zusammentreffens untersucht, auch wurde die Geschichte der Malerei aus neuen kunstwissenschaftlichen und oder soziologischen und zeichentheoretischen Perspektiven untersucht. 250 Hauser, Arnold: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1990 (1953), S. 996f. 251 Popowa, in: Dabrowski (1991), S. 157.
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Techniken zugewandt.252 Diese von den Konstruktivisten ausgeführten Schritte stehen aber erst am Ende einer Kette von Folgerungen, die sich aus der Infragestellung der Malerei ergaben. Mit der Hinwendung zur Abstraktion wird die Ablösung von bisherigen Funktionen der Kunst möglich und die Suche nach neuen sozialen Verankerungen notwendig. Der so vollzogene Traditionsbruch steht dennoch nicht außerhalb eines historischen Bewusstseins. Im Gegenteil: Aus vielen Aufsätzen und Schriften wird das Bemühen der Autoren erkennbar, sich in eine bestimmte geschichtliche Entwicklung hineinzukonstruieren, also die neu gefundene Haltung mit einer aus der Geschichte ableitbaren Entwicklungslogik bestimmen und legitimieren zu wollen.253 Solche genealogischen Herleitungen können aus heutiger Sicht als Antworten auf die neue Herausforderung verstanden werden, die eigene Arbeit zu legitimieren. Maria Gough beschreibt diese Herausforderung mit Blick auf die Konstruktivisten als eine der Motivation oder der Beweggründe: »[...] if the nonobjective painter’s initial task was to get rid of the referent in painting, his or her next task is to determine the logic or principle by which this new ›painterly content‹ will be organized. [...] The problem of construction is, in short, a problem of motivation: how to prevent this newly emancipated painterly content from free-falling into the merely arbitrary arrangement of random pictorial elements.«254
Die erkenntnistheoretische Dimension der Krise der Repräsentation ist weitreichend. Sie bedeutet einen Zugewinn an Freiheit, insofern das Entsprechungsverhältnis zwischen Original und Kopie als Maßstab an Bedeutung verliert. Betroffen sind viele Lebens- und Wissensbereiche. Freudenberger gibt mit folgendem Fragenkatalog eine Idee davon: »Wenn wir mit unserem – Alltags- wie wissenschaftlichen – Wissen die Welt nicht abbilden, wie sie wirklich ist, was tun wir dann? Und was kann unter diesen Um-
252 Gough (2005), S. 9. 253 Vgl. z. B.: Arp, Hans/Lissitzky, El (Hg.): Die Kunstismen, Baden 1990 (1925), oder El Lissitzky: »K. und Pangeometrie«, in: Lissitzky-Küppers (1992), S. 353-358. 254 Gough (2005), S. 27.
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ständen Repräsentation sein? Wenn Abbildtheorien zurückgewiesen werden, was sind die Möglichkeiten, Bedingungen und Grenzen von Erkenntnis? Wie lässt sich Wissen von Nicht-Wissen, wie lassen sich bessere von schlechteren Darstellungen der Welt unterscheiden? Wenn die Welt nicht als einfach gegeben theoretisiert werden kann, wie kann man dann überhaupt von Darstellung sprechen? Und was ist der Status dessen, was dargestellt wird?«255
Auf die Kunst übertragen leitet vor allem die letzte Frage zu deren Funktion über: Welchen Zweck verfolgt ein Künstler, wenn es nicht mehr darum geht, mit dem Artefakt auf eine außerkünstlerische Realität zu verweisen, Wirklichkeit auf die eine oder andere Art abzubilden? Weit entfernt davon, ein abgehobenes Gedankenspiel zu sein, zeigt sich gerade bei Lissitzkys Prounen, dass das abstrakte Bild aus avantgardistischer Perspektive auf seine weitere Anwendung ausgerichtet war: es diente als Erfahrungsangebot, um der Potenziale und eigenen Anteile an aktuellen Raumvorstellungen und -gestaltungen gewahr zu werden. Lissitzkys Prounen markieren aus heutiger Sicht genau den Übergang von einem den Betrachter auf einen bestimmten Blickpunkt fixierenden repräsentativen Bildkonzept hin zu einer Situierung des Betrachters in ein Raumgefüge. Während bei Ersterem sowohl der Bildraum als auch der Raum der Betrachtung statisch konzeptualisiert sind, steht bei Zweitem der Bildinhalt in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zum Betrachter. Der Bildinhalt wird nicht repräsentiert, sondern die Achsen und Materialien (in diesem Fall: Farbe und Formen, es könnten aber auch Worte oder Töne sein), innerhalb derer und mit denen gesehen wird, werden zur Verfügung gestellt und so verfügbar gemacht. Das Bild ist nicht mehr gleichbedeutend mit dem Tableau oder der Leinwand, sondern es hat sich gewissermaßen von seinem Träger emanzipiert. Der Träger fungiert lediglich als Hilfestellung für einen Sehprozess. Er setzt die Bild(er)entstehung in Gang. Die Prounen sind ein Beispiel dafür, dass und wie ein Funktionswechsel der Kunst, aber auch der Rezeption stattfindet. Und an dieser Stelle ist auch der Übergang zur zweiten Bedeutung von Repräsentation angesiedelt. Michael Lingner beschreibt diesen Wechsel als gegeben, »wenn das Konzept der Finalisierung nicht primär auf die Autonomie der Kunst, der Künstler oder der Werke, sondern auf die Verwirklichung von Autonomie d u r c h Kunst zielt.« Aufgabe der Kunst
255 Freudenberger/Sandkühler (2003), S. 76.
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sei es damit nicht mehr, Autonomie – oder spezifischer ausgedrückt: möglichst unabhängige Entscheidungsfindung – darzustellen oder zu symbolisieren, sondern Ziel sei es nun, sich als Medium für die Praktizierung von Selbstbestimmung anzubieten. 256 Für die Konstruktivisten verläuft der Weg von der Komposition zur Konstruktion der Einzelteile bis hin zur Organisierung eines Zusammenhangs, in dem der vormalige Betrachter einbezogen wird. Dabei besitzt die künstlerische Arbeit im Sinne Cassirers eine utopische Dimension: »Die große Bestimmung der Utopie ist es, Raum zu schaffen für das Mögliche, im Gegensatz zu einer bloß passiven Ergebung in die gegenwärtigen Zustände. Es ist das symbolische Denken, das die natürliche Trägheit des Menschen überwindet und ihn mit einer neuen Fähigkeit ausstattet, die Fähigkeit, sein Universum zu formen.«257
Kunst wird als Experimentierfeld erschlossen, welches Raum bietet, um das Mögliche zu erproben. Dieses geschieht nicht, um diesem Möglichen als dem unrealisierbar Anderen einen unmöglichen Ort zu geben, sondern es geschieht, um das Mögliche im Jetzt zu situieren als seiner einzig möglichen Erfahrbarkeit, die sich nicht dauerhaft etablieren lässt. Und es geschieht als prototypische Erprobung für Verwirklichungen im größeren Maßstab.258
256 Lingner, Michael: »Krise, Kritik und Transformation des Autonomiekonzepts moderner Kunst. Zwischen Kunstbetrachtung und ästhetischem Dasein«, in: Michael Lingner, Pierangelo Maset, Hubert Sowa (Hg.): ästhetisches dasein, Perspektiven einer performativen und pragmatischen Kultur im öffentlichen Raum, Hamburg 1999, S. 25-45, insbes. S. 40. 257 Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996 (1944), S. 100. 258 Michel Foucault definierte Utopien etwa als »wesentlich unwirkliche Räume«, als »Perfektionierung der Gesellschaft oder Kehrseite der Gesellschaft«. Foucault, Michel: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34-46, insbes. S. 39.
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»Es zeigt sich, daß auch Museen keineswegs tote Angelegenheiten sein müssen, es kommt nur auf die Hand an, die den Griff hat, die Materie zu beleben. Gerade in Deutschland, in dem lange Zeit der Expressionismus als die neue Malerei galt, ist es wichtig, daß einmal eine staatliche Stelle sich der Zeit erinnert, in der wir leben, und den ganzen Fragenkomplex aufrollt, den die abstrakte Malerei in sich schließt.«259
Mit diesen geistesgegenwärtigen Überlegungen gibt Siegfried Giedion 1929 ein Beispiel davon, was es heißt, Kunst anzuwenden. In einer Rezension beschreibt Gidion Lissitzkys Beitrag für die internationale Gemäldeausstellung in Dresden als Fortsetzung der Bildauffassung Lissitzkys im Sinne der »Umsteigestation von Malerei zu Architektur« (Proun). Aber er belässt es nicht bei der Anerkennung der künstlerischen Leistung. Gideon versteht Lissitzkys Entwurf als Hinweis auf das, was im Ausstellungskontext möglich ist, und als Aufforderung, genau hieraus eine Lehre zu ziehen. Nicht genug betont werden kann, dass es nicht nur die Bedeutung der Institution für die soziale Funktion der Einzelwerke ist, die von der russischen Avantgarde erfolgreich hervorgebracht wurde. Abgeleitet von der grundsätzlichen Einsicht, dass Kunst eine soziale Dimension hat, stellte sich fast noch dringlicher die Frage, welche Konsequenzen sich aus der Kunst als soziale Praxis für die Struktur der Institutionen ableiten lassen. Ähnlich wie Foster zeigt auch Benjamin Buchloh, dass es ehedem die am Modernismus geschulten (und die gegenüber Veränderungen erhabenen) Kriterien waren, die verhinderten, dass die avantgardistischen Vorstöße im Hinblick auf neue Kunstfunktionen überhaupt wahrgenommen wurden. Aus heutiger Sicht wird aber immer deutlicher, dass die Krise der Repräsentation zwangsläufig Fragen der Rezeption und Vermittlung mit sich bringt: »With sufficient historical distance it becomes clearer that this fundamental crisis within the modernist paradigm was not only a crisis of representation (one that has reached its penultimate status of self-reflexive verification and epistemological critique). It was also, importantly, a crisis of audience relationships, a moment in which the historical institutionalization of the avantgarde had reached its peak of credibility, from which legitimation was only to be obtained by a redefinition of its relationship with the new urban masses and their cultural demands. [...] In the early 20s
259 Giedion, Siegfried: »Lebendiges Museum«, in: Lissitzky-Küppers (1992), S. 383.
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the Soviet avantgarde (as well as some members of the de Stil group, the Bauhaus, and Berlin dada) developed different strategies to transcend the historical limitations of modernism. They recognized that the crisis of representation could not be resolved without at the same time addressing questions of distribution and audience.«260
Einschneidend und folgenreich war die avantgardistische Kritik am gesellschaftlichen Status der Kunst, da sich mit ihr das vormalige Auftragsverhältnis (Kirche, Fürstentümer, Staat) gewissermaßen umdreht: Da nicht mehr von außen (explizit) definiert wurde, welchem Zwecke die Kunst dienen solle, und sie sich anders als die Vertreter der l‘art pour l‘art nicht mit der Zweckfreiheit der Kunst einverstanden erklärten, begannen diejenigen Künstler, die sich ihrer grundsätzlichen Verankerung im Sozialen bewusst waren, ihren ›sozialen Auftrag‹ soweit es ging selbst zu bestimmen. Sie formulierten damit Forderungen oder Erwartungen an ihr Publikum bzw. begannen, das Verhältnis zu ihm selbst zu organisieren. Die Avantgarden entgingen damit auch jener Willkür, die in der ausschließlichen Rückführung der Kunst auf die Künstlerpersönlichkeit steckt. Der auf gesellschaftspolitischer Ebene bekämpften und von Eliten ausgeübten Willkür entsprach die tiefe Skepsis gegenüber der Künstlerpersönlichkeit als einziges Begründungsmuster. Dass die gesuchte enge Verkopplung von technischer, wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung oft nicht auf unmittelbares Verständnis bei den Adressaten stieß und stößt, erscheint auf den ersten Blick als Widerspruch zum synchronen Anspruch auf möglichst breitenwirksame Kommunizierbarkeit. Die Alternative – die Anpassung an Konventionen der Wiedererkennung – kam für die Avantgardisten einem fingierten Rückschritt des Erkenntnisstandes gleich und damit einer paternalistischen Anpassung an ein bereits überwundenes Niveau. Nach dieser Auffassung kann die Vermittlung von Zwischenschritten, welche vielen zu einem schnelleren Erkenntnisgewinn verhelfen, immer nur ein paralleles Angebot sein. Eine solche Vermittlung kann aber nicht den Ersatz für den Komplexitätsgrad einer Aussage liefern, der – einmal erreicht – unhintergehbar ist. Mit anderen Worten: Die Zumutung und Anstrengung bei einem Verstehensprozess lässt sich ebenso wenig reduzieren wie die Freude daran – will man den emanzipatorischen Gewinn dieses Prozesses nicht minimieren. Mit Buchloh werden solche Überlegungen aber nicht etwa als der
260 Buchloh, in: October (1987), S. 88.
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Kunst zugefügte politische Forderungen verstanden, sondern sie sind als Konsequenz aus der Krise der Repräsentation, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts an verschiedenen Stellen erarbeitet und reflektiert wird, lesbar. Als Resultat dieser Krise sind das gewandelte Betrachterverhältnis bzw. Fragen der Verbreitung und Adressierung genuin künstlerische Probleme und die Beschäftigung mit ihnen keine Marginalie. Dass und wie diese Problematik von nachfolgenden Künstlergenerationen aufgegriffen wurde, ist Gegenstand des folgenden Kapitels.
Adressierung, Organisation, Vermittlung – das Publikum aus kunstwissenschaftlicher und kunstproduzierender Perspektive
»K UNSTGESCHICHTE
ALS
K ONTEXTRAUB « – A NSATZ
EIN REZEPTIONSÄSTHETISCHER
Vor dem Hintergrund der bisher beschriebenen inhaltlichen Neugewichtung von Fragen der Adressierung und Stellung des Publikums in der Kunst kann es nur erstaunen, wenn der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp 1983 konstatiert: »Der Ertrag an systematischen Überlegungen zum WerkBetrachter-Verhältnis fällt für das 20. Jahrhundert viel bescheidener aus als für das 19. Jahrhundert, überblickt man nur das, was die Kunstgeschichte als hierfür verantwortliche Disziplin geleistet hat.«1 Als eine erste Grundlagen liefernde Forschung kann die rezeptionsästhetische Analyse zum »Holländischen Gruppenportrait« (1902) des Kunsthistorikers Alois Riegl (1858-1905) gelten. In dieser umfassenden Untersuchung unterschied Riegl die innere Einheit der Bildpersonen mit der äußeren Einheit als Verbindung von Bild und Betrachter und setzte sie miteinander in Beziehung, um – wie Belting schreibt – eine »historische Ästhetik«2 zu begründen. Indem er die psychologischen Wirkungen der Blickführung der Portraits zum Gegen-
1
Kemp, Wolfgang: Der Anteil des Betrachters, München 1983, S. 24.
2
Belting, Hans: »Das Werk im Kontext«, in: ders. et al. (Hg.): Kunstgeschichte: Eine Einführung, Berlin 1996, S. 223-239, insbes. S. 228.
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stand der Analyse machte, entdeckte Riegl im Betrachter den Wirkungsfokus des Gemäldes.3 Erst dreißig Jahre später wurde dieses Projekt von Ernst Michalka erneut aufgegriffen, allerdings ohne den Effekt, zu einer Fortsetzung oder Akzentverlagerung innerhalb der kunstgeschichtlichen Disziplin beizutragen.4 Auch die zeitgenössische Kunstpraxis oder die in der Nachkriegszeit innerhalb der Disziplin vorgelegten Arbeiten zur »Sozialgeschichte der Kunst und Literatur« (1953) und zur »Soziologie der Kunst« (1974) von Arnold Hauser hatten einen weiterführenden Einfluss zeitigen können. Dabei stellen Hausers historisch-materialistische Analysen5 immerhin den ersten ausführlichen und höchst kenntnisreichen Versuch dar, durch die Einbettung von Stilveränderungen in den sozialgeschichtlichen Zusammenhang die Wechselwirkung von Kunstproduktion und gesellschaftspolitischer Bedingungen näher zu beleuchten.6 Der im amerikanischen Exil lebende Autor wurde jedoch von maßgeblichen deutschen Kunsthistorikern (z. B. Hans Sedlmayr und Hubert Schrade) entweder ignoriert oder herab-
3
Sein Projekt ist noch in anderer Hinsicht von Interesse: Riegl unternimmt mit seinem Forschungsgegenstand gewissermaßen eine Korrektur vor an der Aufmerksamkeit seiner Disziplin gegenüber einem Bildgenre, welchem die Wissenschaftler bis dato mit Ablehnung und Desinteresse gegenüberstanden, weil es dem von romantischen Kunsteinflüssen geprägten modernen Kunstgeschmack nicht entsprach. Riegls Konsequenz: »Sobald man aber die Aufgabe der Kunstgeschichte darin erblickt, in den Kunstwerken nicht das dem modernen Geschmack Zusagende aufzusuchen, sondern aus ihnen das Kunstwollen herauszulesen, das sie hervorgebracht und so und nicht anders gestaltet hat, wird man im Gruppenportrait sofort dasjenige Gebiet erkennen, das wie kein anderes geeignet ist, den eigensten Charakter des holländischen Kunstwollens zu offenbaren. Riegl, Alois: Das holländische Gruppenportrait, Wien (1931) 1997, S. 4.
4
Vgl. Kemp (1983), S. 27.
5
Hauser konstruiert die »Soziologie der Kunst« als eine Geschichte von Sprüngen, die das historisch-materialistische Konzept einer allmählichen kontinuierlichen Entwicklung korrigieren soll.
6
Hauser (1990).
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gewürdigt.7 Die Konzentration auf Fragen der Form- und Stilgeschichte sowie der Inhalts- und Strukturanalysen hatten Vorstöße in Richtung des Werk-Betrachter-Verhältnisses weitgehend verdrängt. Entsprechend beschreibt Kemp das Projekt der Rezeptionsästhetik als eine historische Untersuchungsmethode, die den Prozess, »der sie selbst aus dem Instrumentarium der Kunstbetrachtung ausschloss und parallel dazu die Kunstwerke isolierte«, rückgängig zu machen versucht.8 Erst im Zuge der Studentenbewegungen und der kritischen Aufarbeitung der NS-Geschichte wird der sozialgeschichtliche Ansatz wieder stärker gewürdigt. Er liefert späterhin wichtige Grundlagen für Vertreter der Kunstwissenschaft, die sich der Museumsdidaktik zuwenden und damit die Vermittlung von Kunst als neues Arbeitsfeld erschließen.9 Das heute zu verzeichnende deutlich gewachsene Interesse an der Rezeptionsästhetik lässt sich also nicht auf Impulse aus der eigenen Disziplin zurückführen, sondern ist laut Kemp dem Einfluss der Literaturwissenschaften zu verdanken. Der in den 1990er Jahren im deutschsprachigen Raum wieder vernehmbare Ruf nach einer Social Art History, wie er etwa von Peter Weibel oder Stella Rollig formuliert wurde, kann sich darüber hinaus auf die zunehmend wichtiger werdende Bedeutung der kritischen Soziologie innerhalb der Cultural Studies und in den Kunstwissenschaften berufen. Zu verweisen ist hier z. B. auf die Arbeiten des Kunsthistorikers Timothy J. Clark – auch als ehemaliges Mitglied der britischen Sektion der Situationisten bekannt10 –, der mit »Image of the People: G. Courbet an 1848 Revolution« (1973) oder »Farewell to an Idea: Episodes from a History of Modernism« (1999) neue kunsthistorische Lesarten vorgelegt hat. Im Gegensatz zur zusammenfassenden Betrachtung von Werken als Stileinheiten und Ausdruck von Epochen, wie es die Stilgeschichte unternimmt, werden hier einzelne Werke als »piece of history« begriffen und kontextualisiert. Die neue Kunstgeschichte betrachtet »Kunst im Kontext«, d. h. sie fragt nach den Umständen der Entstehung einer Arbeit, nach ihrem Auftraggeber und ihrer Funktion, ihrem Zielpublikum, ih-
7
Vgl. Schneider, Norbert: »Kunst und Gesellschaft: Der sozialgeschichtliche An-
8
Kemp, Wolfgang: »Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, in: Clemens
9
Schneider, in: Belting (1996), S. 316.
satz«, in: Belting (1996), S. 306-331, insbes. S. 312. Fruh et al. (Hg.): »Kunstgeschichte, aber wie?, Berlin 1989, S. 24. 10 1967 wurde die britische Gruppe von den Situationisten ausgeschlossen.
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rem finanziellen Wert etc. Michael Baxandall lieferte außerdem eine erste fundierte Studie, um den Modus der Kognition einer bestimmten Epoche – hier der Kunst des Quattrocento – zu rekonstruieren, indem er aus den Konventionen des täglichen Lebens Rückschlüsse auf die Aufmerksamkeitsökonomien und die Geschultheit des historischen Blicks zieht.11 Ebenso als Gegenstücke zur formalästhetischen Tradition der Kunstgeschichtsschreibung sind die Arbeiten der Autorinnen Janet Wolff (»The Social Production of Art«, 1984; »Aesthetics and the sociology of art«, 1993) und Nathalie Heinichs (»La Sociologie de l’art« 2004) zu betrachten, denen zu verdanken ist, dass zunehmend auch systemische und soziale Perspektiven oder, wie im Falle von Albert Boime, soziopolitische Faktoren bei der Einordnung der Kunstproduktion und -distribution Berücksichtigung finden.12 Sich von solchen Rezeptionsgeschichten (also etwa Publikumsforschungen, Institutionshistorien, Geschichten des Geschmacks etc.) abgrenzend, versteht Wolfgang Kemp den eigentlich rezeptionsästhetischen Forschungszweig als werkorientierte »Suche nach dem impliziten Betrachter«. In Anlehnung an Wolfgang Isers »impliziten Leser« und anhand einer Abwandlung der Rieglschen Kategorien unterscheidet er dabei zwischen »(äu-
11 Vgl. Alpers, Svetlana: »Is Art History?«, in: Salim Kemal/Ivan Gaskell (Hg.): Explanation and value in the arts, Cambridge 1993, S. 109-126, insbes. S. 109. 12 Die Kunstkritikerin und Herausgeberin von »Texte zur Kunst« misst dieser Richtung keine Erfolgschancen zu. Sie beschied, dass die sachbezogenen oder materialistischen Ansätze wie Social (Art) History oder ökonomiekritische Ansätze immer mehr ins Hintertreffen gerieten, weil sie den Objekt- und Warencharakter zu stark betonen bzw. weil sie – vor dem Hintergrund von markttauglichen Zeichenökonomien – ihn zu ›buchstäblich‹ verstehen. Davon ausgehend, dass »kunsthistorisches Faktenwissens durch situative und offen auf Hörensagen basierende Kriterien« abgelöste werde, schlagen die Autoren vor, »die eigene Involviertheit in die Gossipverhältnisse transparent zu machen – nicht zuletzt auch deshalb, weil unter den Bedingungen des postfordistisch organisierten Kapitalismus gerade sprachlich-kommunikative Kompetenz zum entscheidenden ›Rohstoff‹ der immateriellen Arbeitskraft avanciert ist.« Graw, Isabelle/ Krümmel, Clemens/Rottmann, André: »Vorwort«, Texte zur Kunst, Heft 61, März 2006, http://www.textezurkunst.de/61/vorwort-1/ (Oktober 2012).
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ßeren) Zugangsbedingungen und (inneren) Rezeptionsvorgaben«.13 »Die äußeren Zugangsbedingungen sind dem Werk vorgeordnet, ohne dass es sie im Einzelnen bestimmen könnte. [...] Die inneren Rezeptionsvorgaben seien in die Macht des Kunstwerks gelegt.« Unter Ersteren werden z. B. »die Stadtplanung für das Gebäude, die Architektur für das Bild- oder Skulpturenwerk«, aber auch kunstsoziologische Zugangsbedingungen wie etwa »das Ritual des Kultus und der Kunstbetrachtung« gefasst. Anthropogene Zugangsbedingungen bestehen z. B. in den individuellen und sozialen Prädispositionen der Betrachter bzw. der Benutzer des Kunstwerks.14 Unter Rezeptionsvorgaben – im Sinne direkter Adressierungen oder Rezeptionsangeboten, die eine offenere Gestaltung voraussetzen – versteht Kemp im Werk verankerte Mittel wie Perspektive, Komposition oder inhaltliche Elemente wie bspw. Identifikationsträger. Die Aufgabe der Rezeptionsästhetik bestehe darin, das Verhältnis zwischen inneren Vorgaben und äußeren Bedingungen zu untersuchen, also die Schnittstelle von »Kontext« und »Text« ausfindig zu machen.15 Dabei gibt er folgende methodische Überlegungen zu bedenken: • •
•
Wie jede Äußerung kann Kunst ohne Kontext nicht gedacht werden. Das gilt für jede Situation ihres Entstehens. Zwar ist von einer »existentiellen Angewiesenheit« in dem Verhältnis zwischen Text und Kontext auszugehen, es gibt aber kein »Gesetz absoluter Abhängigkeit«, sondern spezifische Formen der Grenzziehung zwischen beiden Größen. Differenz und Interaktion, »strukturelle Determination« und »strukturelle Koppelung« bestimmen das Verhältnis zwischen Text und Kontext.16 In der Struktur des Werkes ist angelegt, zu welchem Wandel es infolge der Interaktion mit dem Kontext kommt. Die Strukturkoppelung ist im Gegensatz dazu gegenseitig: Sowohl das Werk als auch das Milieu erfahren Veränderung. Damit plädiert Kemp für eine Auffas-
13 Kemp, Wolfgang: »Kunstwerk und Betrachter: Der rezeptionsästhetische Ansatz«, in: Belting (1996), S. 244. 14 Ders. (1983), S. 33 f. 15 Ders. (1996), S. 246. 16 Die letzten beiden Begriffe stammen aus dem Vokabular der radikalen Konstruktivisten Humberto Maturana, Gregory Bateson und Francisco Varela.
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•
•
•
sung, bei der ein realistischer Sinn des Künstlers für das (Vor-) Gegebene als Größe in der Werkentstehung, als Aufbaufaktor des Werkes veranschlagt wird.17 Eine Kontextualisierung kann einen vorgängigen Kontext nicht kompensieren, sondern der Kunsthistoriker oder -wissenschaftler muss sich der Tatsache bewusst sein, dass er in actu Kontexte bildet. Es geht nicht darum, den alten »geordneten Werkbegriff« auf ganze Ensembles zu übertragen. Nicht die Intentionalität oder ein Programm halten das Werk in seiner Gänze zusammen, sondern eine »offene, ›wilde‹ und prozessuale Struktur«, die durch Anreicherung, Überlagerung, Vernichtung und ständiges Nachjustieren geprägt ist.18 Das Werk hat auch die Funktion einer Zukunftsplanung. Nicht nur die ideelle Rezeption seiner Benutzer und Betrachter ist im Werk angelegt, sondern auch der weitere Verlauf seiner Wirkung auf »Anrainer, Retter und Vernichter«. Damit berücksichtigt ein Werk nicht nur »Vorgegebenes«, sondern auch »Nachgegebenes«.19
So überzeugend Kemps Unterscheidungen zur Analyse des Rezeptionsvorgangs wirken mögen, beruhen sie doch auf bestimmten analytischen Trennungen und Grundvoraussetzungen – in seinen eigenen Worten: »Grenzziehungen« –, die verschiedene Fragen aufwerfen. Zunächst könnte man einwenden, wie es seit dem so genannten ›linguistic turn‹ zunehmend unternommen wird, dass die Übertragbarkeit des Textmodells auf alle nicht-schriftsprachlichen oder nicht-diskursiven Kommunikationsformen ihre Grenzen hat oder dass sie angetan ist, die jeweiligen Besonderheiten von bspw. bildlichen oder musikalischen, architektonischen oder performativen Äußerungsformen zu überlesen. Weiterhin liegt Kemps Hauptunterscheidung von Zugangsbedingungen und Rezeptionsvorgaben nach wie vor ein Werkbegriff zugrunde, bei dem Interpreten und Autor im Rahmen einer Situation über ein Ding – also etwa über eine Installation oder ein Gemälde – in Verbindung treten. Wie die Ausgangsbedingungen für die Situation beschaffen sind, in der es zu dieser Verbindung
17 Vgl. Kemp, Wolfgang: »Kontexte. Für eine Kunstgeschichte der Komplexität«, in: Texte zur Kunst, Nr. 2, 1991, S. 89-101, insbes. S. 98. 18 Vgl. ebda., S. 99. 19 Ebda., S. 100.
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kommt, liegt nach Kemp nicht in der Macht des Künstlers. Genau deshalb werden z. B. die soziologischen Faktoren als unbestimmbare Bedingungen der Rezeption beschrieben und das Werk als sich im Gegenstand materialisierte Vorgabe des Künstlers. Ob und inwiefern künstlerische Verfahren der Nachkriegszeit mit dieser interpretierenden Unterscheidung Kemps vereinbar sind, möchte ich im Folgenden untersuchen. REPLY WITH A WORK ON YOUR OWN – EINIGE V ERMITTLUNGSANSÄTZE IN DER
K UNST
Sind die von Kemp entwickelten Zuordnungen geeignet, um bestimmten charakteristischen Erweiterungen und Umdeutungen sowie Fokussierungen auf die Gesamtkonstellation der Rezeptionssituation zu entsprechen? Fordern die von Künstlern entwickelten Arbeitsweisen zu einer Abwandlung des Kempschen Analyseinstrumentariums heraus? Und zu welcher? Um die jeweiligen Vermittlungswege als dem Werk eingeschriebene Form der Adressierung und als Konzeptualisierung von Öffentlichkeit herauszustellen (vgl. erstes Kapitel), konzentriere ich mich im Folgenden auf das bei Kemp unter Punkt 3 angesprochene Verhältnis zwischen Text und Kontext. Das heißt, ich untersuche vor allem die von Kemp vorgenommene Trennung der vom Künstler bestimmbaren und unbestimmbaren Faktoren. Ich habe hierfür eine Reihung von künstlerischen Verfahren der Nachkriegskunstgeschichte zusammengestellt und sie insbesondere unter dem Aspekt beschrieben, welche Vermittlungswege und -formen sie entwickeln. Grundsätzlich geht es mir darum, die Aufmerksamkeit auf die Rolle zu lenken, welche die rezeptive Struktur für künstlerische Arbeiten einnimmt. Denn dass in jedem Werk eine »ideelle Rezeption« angelegt ist, betont auch Kemp.20 Es gilt also, diese Arbeit an der Rezeption im Hinblick auf ihre soziale Dimension zu untersuchen: An wen adressiert sich eine künstlerische Arbeit und welche spezifischen Wege erfindet sie, um ihr Publikum zu adressieren? Lässt sich eine entscheidende Wandlung und Ausdifferenzierung der Rezeptionsangebote für das 20. Jahrhundert ausfindig machen? Eine solche Sammlung exemplarischer Verfahren wird im Folgenden weitgehend chronologisch geordnet. Bei der Auswahl ging es darum, ein möglichst breites Spektrum an künstlerischen Vermittlungswegen aufzu-
20 Kemp, in: Belting (1988), S. 246.
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zeigen. Dennoch ist die hier vorgestellte Reihe erweiterbar und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Bewusst habe ich sowohl bekanntere als auch wenig präsente Arbeiten berücksichtigt. Einerseits ergeben sich durch die Konzentration auf den sozialen und vermittelnden Aspekt oft überraschend neue Dimensionen bereits bekannter Konzepte. Zum anderen bestimmt die Suche nach der vermittelnden Dimension zwangsläufig die Auswahl und Bewertung. Arbeiten werden zutage gefördert, denen bislang eine marginale Rolle zukam. Die Erkenntnisse aus dem vorigen Kapitel zur Geschichtsschreibung als Umwertung und zu den Veränderungen des historischen Blicks fließen in die Anlage dieses Kapitels ein. Aktivierung (John Cage) Nicht nur im nachrevolutionären Russland reflektierten Künstler die institutionellen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit und organisierten sich in Gruppen, sondern ebenso taten dies Künstler z.B. in Ungarn (z. B. Activists, gegründet 1912), Großbritannien (Artists International Association, gegründet 1933/35) oder in den USA. Künstlervereinigungen wie die Artist Union oder der American Artists Congress (gegründet 1936) favorisierten die volksnahe Verbreitung ihrer Arbeiten und verbanden sie im Zeichen des Antifaschismus mit politischen Forderungen. Letzterer rief explizit zum kollektiven Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Rassismus und Armut auf und setzte sich für faire Arbeits- und Finanzierungsbedingungen von Künstlern ein. »For five years the congress initiated exhibitions, demonstrations, and other actions linking artistic production to other social concerns. Ultimately the group fell apart owing to the political fallout from Stalinist policies abroad and anticommunist sentiments at home. Yet the American Artists Congress demonstrated, if only for a brief period, the potential of a national cultural alliance.«21
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Kunstgeschehen vom Wiedererstarken der Malerei geprägt. Die großformatigen Bilder der abstrakten Expressio-
21 Trend, David: »Cultural Struggle and Educational Activism«, in: Grant H. Kester (Hg.): Art, Activism & Oppositionality. Essays from Afterimage, Durham/London 1988, S. 169-181, S. 175.
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nisten (Jackson Pollock, Clifford Still, Marc Rothko u. a.) bildeten sich zum neuen repräsentablen Ismus der Nachkriegskunstgeschichte heraus. Von der amerikanischen Kultur- und Sammlungspolitik dankbar zum offiziellen richtungsweisenden Impuls einer neuen Ära um die Welt geschickt wurden sie zum Zeichen eines neuen Künstlerverständnisses, das von Individualismus, Freiheitsdrang und der Möglichkeit eines Neubeginns geprägt war. 22 Guy-Ernest Debord und Gil J. Wolmann, die mit der Nachkriegszeit den Ausbruch einer »intellektuellen und künstlerischen Reaktion« verbanden, schrieben 1955 in einer Ausgabe von Potlach: »Abstract painting – a simple moment of modern picturial evolution in which it only occupies a meager place – is presented by all publicity machines as the basis of a new aesthetic.« 23 Der abstrakte Expressionismus drückte aber auch eine für den amerikanischen Raum signifikante strukturelle Wandlung im Verhältnis vom Künstler zu seinem Publikum aus, die bereits in den 40er Jahren eingesetzt hatte: »With the disappearence of the political action and the dismanteling of the Works Progress Administration programs, there was a shift in interest away from society back to the individual. As the private sector reemerged from the long years of the Depression, the artist was faced with the unhappy task of finding a public and convincing them of the value of his work [...] Wheras the artist had previously addressed himself to the masses through social programs like the WPA, with the reopening of the private sector he addressed an elite through the ›universa‹.«24
Mit seiner erdrückenden Präsenz wird der abstrakte Expressionismus zum unhintergehbaren Referenzpunkt. Von dessen Vorherrschaft abgeschreckt
22 Vgl. Anfam, David: »Der Anfang und das Ende: Die Extreme des Abstrakten Expressionismus«, in: Christos M. Jochimides/Norman Rosenthal (Hg.): Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert. Malerei und Plastik 1913-1993, Berlin, London, 1993, S. 97-105. 23 Debord, Guy-Ernest/Wolman, Gil J.: »Why Lettrism?«, in: Potlach Nr. 22, 1955, in: http://www.notbored.org/whylettrism.html (2008). 24 Guilbaut, Serge: »The New Adventures of the Avantgarde in America Greenberg, Pollock, or from Trotskyism to the New Liberalism of the ›Vital Center‹«, in: Francis Franscina (Hg.): Pollock and After. The Critical Debate, London, New York 2000, S. 197-210, insbes. S. 201.
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bildet sich Ende der 1950er Jahre ein international kommunizierendes Netzwerk von Künstlern heraus, welche – maßgeblich beeinflusst von den Lehren John Cages (zunächst am Black Mountain College, später an der New School for Social Research) und an gattungsübergreifender Arbeit interessiert – den Kontakt zum Publikum durch orts- und zeitgebundene Aufführungen suchen.25 Ausgehend von den akzidentiellen – allerdings an das Künstlersubjekt gebundenen – Zügen der amerikanischen Malerei experimentierte John Cage (1912-92) mit Zufallsverfahren und Momenten von Unbestimmtheit, um das Werk von persönlichen Vorlieben und Abneigungen frei zu halten. Sein Interesse an größtmöglicher Intentionslosigkeit folgte der Auffassung von einer künstlerischen Aufführung als sozialem Ereignis: »[...] that the music, so to speak, is the [listeners], rather than the composer’s; for the composer was not in the same position as he was, in respect to it – on the most mondane level, not in the same part of the room.«26 In der von ihm avisierten Situation erweist sich vor allem die Tätigkeit des Kritikers als überflüssiger Zeitverlust, denn: »The best criticism will be, you see, the doing of your own work. Rather than using your time to denounce what someone else has done, you should rather, if your feelings are critical, reply with a work of your own.«27
Cages Definition von Kunst als »process set in motion by a group of people«28 gibt Aufschluss über ein verändertes Konzept der Beziehung zum Publikum. Hiernach wendet sich Kunst nicht an einen außerhalb des Geschehens angesiedelten urteilenden Rezipienten, der etwa aus einer Distanz über ihren Wahrheitsgehalt sinniert oder sie rezeptiv reproduziert, sondern sie generiert ein Kommunikationsereignis und involviert den Betrachter, so dass er selbst zur Aktivität angeregt wird. Es geht nicht darum, die Arbeit nachzuvollziehen, sondern darum, auf etwas zu reagieren, was sich von jeder anderen Position aus anders darstellt und zur Beantwortung auffordert.
25 Vgl. Harris, Mary Emma: »Black Mountain College«, in: Joachimides/Rosenthal (1993), S. 117-123, insbes. S. 121. 26 Kostelanetz, Richard (Hg.): John Cage. An Anthology, New York 1991, S. 11. 27 Ebda., S. 30. 28 Kostelanetz, Richard: »John Cage: Some Random Remarks«, in: ders. (1991), S. 193-207, insbes. S. 204.
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Am konsequentesten führte Cage seine Vorstellung vom künstlerischen Ereignis mit der viel zitierten Aufführung 4‘ 33“ (1952) vor: Ein Pianist sitzt für die Dauer des Stücktitels vor dem Klavier und bewegt dreimal leise seine Arme, wodurch suggeriert wird, das Stück enthalte drei verschiedene Bewegungen. Durch diese minimalen Vorgaben sind auch bereits alle inneren präsentativen Rezeptionsvorgaben bestimmt. Das Musikinstrument, der Interpret und die Noten sowie der Titel, welcher die Länge des Stücks angibt, dienen wesentlich dazu, eine Situation zu indizieren, die alle Bedingungen eines konventionellen Konzerts erfüllt.29 Hierdurch wird der Konzertbesucher angehalten, sich entsprechend dieser Konventionen zu verhalten, also in einem vorgegebenen Zeitraum konzentriert anzuhören, was ihm ›geboten wird‹. Mittel, die im Normalfall den äußeren Rezeptionsbedingungen hinzuzurechnen sind, sind bei 4’ 33“ Bestandteile der werkimmanenten Vorgaben. Denn nur durch den Import des ansonsten unspektakulären Settings (ein Mann vor einem Klavier sitzend) in eine Konzertsituation kommt jene Wirkung zustande, die Cage anstrebt: Die gleichberechtigt aufmerksame Wahrnehmung der ›Stille‹, also aller Laute und Geräusche, die, ohne intendiert zu sein, auf der Bühne und im Auditorium produziert werden. Cages Komposition 4‘ 33‘‘ beruht damit geradezu auf der Invertierung der Kempschen Kategorien: Deklarativ und vorgegeben sind einzig die äußeren Zugangsbedingungen, während sich andererseits der zum Text gewordene Kontext der Bestimmbarkeit weitestgehend entzieht. Gerade das Fehlen einer vorbereiteten Message zwingt die Konzertbesucher, ihre Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt zu lenken und ihre eigenen Erwartungen und Hörgewohnheiten zu befragen, also auf all das aufmerksam zu werden, was sie voraussetzen und zum Hörerlebnis beitragen.30 Der Kon-
29 Der Titel 4‘ 33“ hat sich irreführender Weise durchgesetzt. Er benennt die erste Interpretation von David Tudor, der Anfang und Ende der drei Sätze durch das Öffnen und Schließen des Klavierdeckels anzeigte. Die Partitur von Cage überlässt die Dauer und die Wahl und Anzahl der Instrumente den Interpreten. Der Titel richtet sich nach der jeweiligen Länge der Aufführung. Die verschiedenen Titel, die jede Interpretation unterstreichen die Differenz zwischen Konzept und jeweiliger Aktualisierung. 30 Die interpretativen Lehren, die aus diesem Hörerleben zu ziehen sind, hat Richard Kostelanetz wie folgt zusammengefasst:
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text der räumlichen Situation trägt dazu bei, dass der klangliche Kontext zum eigentlichen Text des gesamten Stückes wird. Es ist gerade das Ausbleiben von präsentativen klanglichen Elementen, das alle anderen Elemente des rezeptiven Ereignisses – also etwa visuelle, rituelle, architektonische Elemente – in ihrer Bedeutung hervorhebt. Auf die Straße (Gutai, Hi Red Center) Ähnlich wie später Allan Kaprow, Al Hanson, Carole Schneemann u. a. betonte die japanische Gutai-Bewegung die performativen Anteile des Action-Paintings. Während Pollock für die Entstehung seiner Bilder die Abgeschiedenheit seines Ateliers suchte und nur ausgesuchten Fotografen den Zugang gestattete, wird mit den Street-Events und Open-Air-Veranstaltungen Malerei öffentlich zur Aufführung gebracht. Obwohl die Gutai-Künstler die zeitlichen Aspekte der Malerei hervorkehrten, legten sie noch Wert auf eine materialisierte Spur als Ergebnis des Prozesses. 31 Entschieden radikalisiert wurde das Prinzip der Aktion zu Beginn der 1960er Jahre in Tokio im Rahmen der »Yomiuri Indépendent Ausstellungen«. Die alljährlich stattfindende offene Ausstellung ohne Zulassungsbeschränkungen wurde zum Testfeld institutioneller Toleranzschwellen. Aufgrund der immer raumgreifenderen Arbeiten, bei denen u. a. Messer, frische Lebensmittel und Lärm zum Einsatz kamen, reagierte das Museum zunächst mit Auflagen zur Materialverwendung und beendete die Ausstel-
1) In konventionellen Kompositionen sind auch die (geschriebenen) Pausen mit Geräuschen oder Klängen gefüllt, da absolute Stille unmöglich ist, d. h. jede Komposition enthält intentionale und nicht-intentionale Töne. 2) daraus folgert, daß kein Stück zweimal in der gleichen Weise erlebt werden kann. 3) zufällige Klänge werden gleichrangig mit komponierter Musik behandelt; da es schwer ist, bei nicht intendierter Musik zwischen besseren und schlechteren Tönen zu unterscheiden, werden solche Wertkriterien auch für die intendierte Musik fragwürdig. Vgl. Kostelanetz, Richard: »Inferential Art«, in: Kostelanetz (1991), S. 105-109, insbes. S. 108. 31 Vgl. Osaki, Shinchiro: »Körper und Ort. Japanische Aktionskunst nach 1945«, in: Peter Noever/MAK (Hg.): Out of Actions. Zwischen Aktionismus, Body Art und Performance 1949-1979, Ostfildern 1998, S. 121-157, insbes. S. 124 ff.
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lungsreihe schließlich ganz. Parallel zu den Straßendemonstrationen gegen den amerikanisch-japanischen Sicherheitspakt (1960) wurden diese Happenings zunehmend zu Zeichen politischen Aufbegehrens und nahmen immer Abbildung 14: Michio Yoshihara, »Malen mit einem Fahrrad«, 1965
häufiger ritualhafte und zerstörerische Züge an: Gegenstände wurden öffentlich zerschlagen oder verbrannt, Galerien mit Müll abgefüllt.32 Dokumentiert sind diese Aktionen entweder gar nicht oder durch vereinzelte Fotografien. Interessant sind die Formen, welche die japanische Gruppe Hi Red Center suchte, um mit einem Publikum außerhalb des Kunstkontextes in Kontakt zu kommen oder um einen Kontakt zu provozieren. Sie veranstalteten Aktionen in öffentlichen Zügen und luden hierzu neben Kritikern, Personen, die sie per Zufallsprinzip im Telefonbuch herausgesucht hatten, per Postkarte ein.33 Sie mieteten sich in einem Hotel ein, um lebensgroße Blau-
32 Ebda., S. 138 f. 33 Ebda., S. 157
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pausen von den dortigen Gästen zu machen. Eine explizit als Happening angekündigte Veranstaltung begann mit einer demonstrativen Provokation: Vor den Augen der Besucher verzehrten die Künstler ein ausgiebiges Mahl. Für die letzte Aktion der Gruppe, der Bewegung zur Förderung der Reinigung des Stadtgebiets, die während der Olympischen Sommerspiele in Tokio stattfand und auf die zu diesem Zweck vorgenommenen Sicherheitsvorkehrungen und Reinheitsgeboten im öffentlichen Raum Bezug nimmt, bekleideten sich die Mitglieder der Gruppe mit weißen Kitteln und Mundschutz und putzten Straßenecken mit Tinkturen, Tüchern und Besen. Abbildung 15: Hi Red Center, Bewegung zur Förderung des Stadtgebiets (Seid sauber!), 1964
Die Gruppe verhinderte, dass die Autoren zur Verantwortung gezogen wurden, indem sie mit äußerster Strenge ihre Anonymität bewahrte. Kommuniziert wurde über »Hi Red Mitteilungen« oder Flugblätter. Teilweise wurden Verlautbarungen der Gruppe sogar mit Absendern von offiziellen Institutionen versehen, was zur Verunsicherung in der städtischen Öffentlichkeit über den Status der Gruppe beitrug.
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Happening (Allan Kaprow) Ähnlich wie John Cage diagnostizierte sein Schüler Allan Kaprow (19272006) vor dem Hintergrund diverser Interessengruppen im Kunstsystem einen Aufgabenwechsel des Künstlers. In einer Schrift von 1964, in der er die Rolle des Künstlers sehr grundsätzlich reflektiert, kommt er zu der Konsequenz: »Essentially, the task is an educational one. Artists are faced with an involved public, willy-nilly. [...] Their job is to place at disposal of a receptive audience those new thoughts, new stances even that will enable their work to be better understood. If they do not, the public's alternative is its old thoughts and attitudes, loaded with stereotyped hostilities and misunderstanding.«34
Ursprünglich sei diese Rolle von Kritikern oder Kunsthändlern übernommen worden, eine Arbeitsteilung, die unter der Annahme entstand, Kunst sei eine Privatangelegenheit. Inzwischen sei es die Aufgabe von Künstlern, die Repräsentation ihrer Arbeit selbst zu übernehmen. Die Umdefinition des Künstlers könne auch als Wechsel von der »authority-as-creator« zum »creator-as-authority« beschrieben werden.35 Die Kritikerin und Kunsthistorikerin Kristine Stiles präzisiert: »Kunstaktion ist insofern pädagogisch, als sie die Visualität auffordert, zu den ursprünglichen Bedingungen des Machens und Betrachtens zurückzukehren und dann zur kommunikativen Erfahrung zwischen dem machenden Subjekt und dem betrachtenden Subjekt fortzuschreiten.«36
Die Strategien, die Kaprow anwandte, um solchen Ansprüchen gerecht zu werden, zielen im Wesentlichen darauf ab, die Distanz zum Kunstereignis abzubauen. Die herkömmlich untergeordneten Elemente des Kunstereignis-
34 Kaprow, Allan: »The Artist as a Man of the World« (1964), in: Jeff Kelley (Hg.): Essays in Blurring of Art and Life, Berkeley, Los Angeles, London 1996, S. 46-58, insbes. S. 55. 35 Ebda. 36 Stiles, Kristine: »Unverfälschte Freude«, in: Noever (1998), S. 227-329, insbes. S. 234.
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ses »Zeit (im Gegensatz zum Raum), Klang (im Gegensatz zu greifbaren Objekten) und die physische Präsenz von Menschen (im Gegensatz zur physischen Umgebung)« 37 wurden in ihrer Potenzialität erhöht. An Lissitzkys Raumkonzeptionen anknüpfend suchte Kaprow mit seinen Environments – von Gegenständen, Zeug, Abfall, mit Müll angefüllten Räumen – eine Raumerfahrung zu kreieren, bei der es dem Betrachter unmöglich wird, sich zu entziehen, so dass er sich als Bestandteil einer Ganzheit erfährt: »In the present exhibition we do not come to look at things. We simply enter, are surrounded, and become part of what surrounds us, passively or actively according to our talents for ›engagement‹. [...] I believe that this form places a much more greater responsiblity on visitors than they have had before.«38
Durch Strategien der Überfüllung wurde das – im mit wenigen Exponaten bestückten Galerieraum einstudierte – Besucherverhalten, welches auf Distanz und Bewegungsfreiheit beruht, praktisch unterbunden. Kaprow versuchte, Verbindungsstellen und Relationen zwischen den verschiedenen Elementen herzustellen, welche die Erfahrung der ›Totalität Environment‹ ausmachten. Das heißt, der Versuch ging dahin, die vormals äußeren Zugangsbedingungen und die kontrollierbaren Rezeptionsvorgaben enger ›aneinander zu schließen‹ um – in seinen Worten – ein »never-ending play of changing conditions between the relatively fixed or ›scored‹ parts of my [Kaprows, RP] work and the ›unexpected‹ or undetermined parts«39 zu bewirken. Vor diesem Hintergrund werden auch Kaprows Happenings als weiterer Schritt verstehbar, dem Anteil des Publikums am Kunstwerk eine präzisere Form zu geben, sie im Sinne gleichberechtigter »ingredients of the perfor-
37 Vgl. Kaprow, Allan: »Assemblage, Enviroments & Happenings« (1965), in: Harrison/Wood (2003), S. 862-869, insbes. S. 863. 38 Kaprow, Allan, zit. n. Rorimer, Anne: New Art in the 60s and 70s. Redefining Reality, London 2001, S. 196. 39 Kaprow, Allan: »Notes on the Creation of a Total Art« (1958), in: ders. (1996), S. 10-12, insbes. S. 12.
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mance« zu begreifen und zu gestalten.40 Wiederholt wurde Kaprow vorgeworfen, bei den Happenings »das instruierte Publikum wie Requisiten eingesetzt« zu haben oder durch »fixierte Prozesse« lediglich zur »Verdinglichung des Menschen« beigetragen zu haben.41 Kaprows eigene rückblickende und durchaus selbstkritische Analyse der verschiedenen Experimentierphasen mit partizipatorischen Ansätzen wird dabei selten zur Kenntnis genommen und wirft doch ein anderes Licht auf sein Vorgehen: In einem Text mit dem Titel »Participation Performance« (1977) parallelisiert Kaprow Beteiligungsformen, wie sie in der Kunst der 1950er und 60er Jahre entwickelt wurden, mit populären (im Sinne von bekannten) Formen der Publikumsbeteiligung. Ob das Publikum bei Fernseh- und Radiosendungen kurzfristig zur Teilnahme aufgerufen wird, Massen sich in Form von Demonstrationen oder Streiks auf die Straßen begeben oder bei offiziellen Paraden eine rituelle Rolle übernehmen, was all diese gemeinschaftlichen Auftritte verbindet, ist, dass sie auf einer (hierarchischen) Rollenverteilung beruhen: professionelle Leitfiguren mit hoher Sichtbarkeit, relativ sichtbare Semiprofessionelle, die vergleichsweise einfache Aufgaben übernehmen, und unbedarfte Enthusiasten auf den Rängen, die für Begeisterung und Hingabe sorgen. Zudem sind die Teilnehmenden der Ereignisse mit den verschiedenen Aktivitäten und den jeweiligen Rollen in der Regel vertraut. Wie Kaprow ausführt, schrumpft die Anzahl von wissenden Unterstützern und Teilnehmern auf ein Minimum, sobald bei einem künstlerischen Experiment traditionelle Formen der Gemeinschaftsbildung aufgegeben werden. Dabei würden sich, so Kaprow, auch diese Experimente strukturell von den so genannten populären Beteiligungsformen ableiten. Auch hier gäbe es einen »Dirigenten«, nämlich den Künstler, der sein Publikum in bestimmte rituelle Formen einführe. Dabei habe er die speziellen Erwartungen des Kunstpublikums zu berücksichtigen. Über das Happening-Publikum weiß Kaprow zu berichten:
40 Kaprow bezeichnet Environments und Happenings als »die passive und aktive Seite einer einzigen Medaille, deren Währung die Ausdehnung ist.« Kaprow, in: Harrison/Wood (2003), S. 865. 41 Vgl. Möntmann, Nina: Kunst als sozialer Raum. Andrea Fraser, Martha Rosler, Rikrit Tiravanija, Renée Green, Köln 2001, S. 119.
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»What was unusual for art was that people were to take part [...]. Hence instruction in participation had to be more explicit than in communal performances and, given the special interests of the audience, had to be at the same time mysterious. These audiences were mainly art-conscious ones, accustomed to accepting states of mystification as a positive value. The context of the performances was ›art‹: most of the artists were already known, the mailing list was selective, a gallery was listed as sponsor, the perfomances themselves were held in storefront or loft galleries, there were reviews in the art pages of the new media; all bespoke avantgarde experiementation. The audiences were thus co-religionists before they ever arrived at the performance. They were ready to be mystified and further confirmed in their group membership.«42
Kaprow betont, dass das Funktionieren von Partizipation davon abhinge, ob die ausgesendeten Signale durch den Künstler und die erforderlichen Reaktionen des Publikums an die Kommunikationskonventionen der betroffenen Zielgruppe angepasst seien, ähnlich wie es entsprechende Kommunikationsformen bei einer TV-Show verlangten. Grundsätzlich setze Partizipation eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Interessen, Bedeutungen, Annahmen und Gewohnheiten voraus. Kaprow zufolge seien die ersten Happenings vor allem an der relativen Trivialität der Beteiligungsformen gescheitert sowie an dem grundsätzlichen Problem, im Rahmen einer oder nur weniger Veranstaltungen die nötige Vertrautheit (»Familiarization«) herstellen zu müssen. Er führt zwei Lösungswege an, die er hernach einschlug: Zum einen versuchte man, Bühnensituationen zu vermeiden und den rituellen Charakter mit einer begrenzten Anzahl von Leuten, die zeremonienhaft in den Plan eingeweiht wurden, zu erhöhen. Eine andere Strategie, derer sich vor allem Fluxus-Künstler bedienten, waren einzeln oder in Gruppen durchgeführte Aktionen, die ein unvorbereitetes Publikum in Alltagssituationen durch ihre Absurdität überraschten (siehe weiter unten). Während Kaprow zunächst als »Ritualist« weiterarbeitete, erschien ihm bald die Zeremonie als kulturelle Form zu fremd und geschichtslos für den USamerikanischen Kontext und damit in der Gefahr, prätentiös zu wirken, weshalb er sich ›weltlicheren‹ Formen zuwandte.43
42 Kaprow, Allan: »Participation Performance« (1977), in: ders. (1996), S. 181194, insbes. S. 184. 43 Ebda. S. 185 f.
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Angeregt durch die soziologische Schrift Ervin Goffmanns »The Presentation of Self in Everyday Life« (1959), nach welcher der Mensch im Alltag verschiedene Rollen ausführt, die ihm als solche zwar nicht bewusst sind, aber bestimmten Mustern folgen, gingen Kaprows Bemühungen nun dahin, diese alltäglichen Performances zur Aufführung zu bringen. Ausgehend von alltäglichen Handlungen, wie Händeschütteln, Begrüßungsformeln, Höflichkeitsfloskeln, Zähneputzen, entwickelte Kaprow kurze Handlungsanweisungen, die durch formale Mittel wie Verschiebung, Verzögerung, Wiederholung oder Kontrastierung das eigene ritualisierte Verhalten bewusst werden lassen. Selbstverständliches wird zu einer Fremderfahrung. »Instead of making an objective image or occurence to be seen by someone else, it was a matter of doing something to experience it yourself. It was the difference between watching an actor eating strawberries on a stage and actually eating them yourself at home.«44
An dieser Stelle macht die Unterscheidung zwischen Rezeptionsbedingungen und -vorgaben insofern keinen Sinn mehr, als Kaprow sich von einem Werk verabschiedet hatte, an dem sich etwaige Vorgaben materialisieren könnten. Deutlich wird, dass Kaprow sich vollständig auf die Erfahrung seines Publikums als Ausgangspunkt konzentrierte und diese ohne vermittelndes Objekt manipulierte, gestaltete und zu verändern beabsichtigte. Fasst man das Alltagsverhalten, welches für diese Performances den Ausgangspunkt und das Material bildeten als kunstsoziologische Rezeptionsbedingung auf, so könnte man Kaprows Arbeit als Gestaltung dieser Bedingungen bezeichnen. Ein hohes Bewusstsein über die Voraussetzungen, welche die jeweiligen Akteure mitbringen, ist dabei Bedingung und Konstitution von Kaprows Arbeitsweise.
44 Kaprow, Allan: »Performing Life« (1979), in: ders. (1996), S. 195-198, insbes. S. 195.
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Für alle: Verbreitungswege der Fluxus-Bewegung (George Maciunas) Wir verfolgten die Taktik des direkten Angriffs auf das Publikum. Wir gingen von der Ansicht aus, daß es eine erzieherische Maßnahme von großem Wert ist, dem Publikum, das aus Neugier und Sensationslust zu uns gekommen war, zu zeigen, wie unerhört utilitaristisch und gemein man denke, wenn man sich für zehn Mark ›Kunst‹ kaufen will. 45
An die Tradition von Anti-Kunst und die Absurdität von Dada-Veranstaltungen anknüpfend kratzte die Haltung der Fluxus-Künstler vor allem an der Seriosität und dem Elitarismus des offiziellen Kunstbetriebs und erfand Wege, ein anderes Publikum zu erreichen. Eindeutig distanzierte sich der selbst ernannte Leiter der Fluxus-Bewegung George Maciunas (193178) von einer Kunst, die sich über Werte wie Seltenheit, Exklusivität, ein bestimmtes Verständnis von Intellektualität und Komplexität ihre Geltung bei sozialen Eliten verschafft: »To establish artist’s nonprofessional, nonparasitic, nonelite status in society, he must demonstrate his own dispensability, he must demonstrate selfsufficiency of the audience, he must demonstrate that anything can substitute art and anybody can do it.«46
45 Huelsenbeck, Richard: »Die dadaistische Bewegung. Eine Selbstbiografie«, in: Die neue Rundschau, Bd. 2, 31. August 1920, S. 979, zit. n.: Das Lachen DADAs. Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen, hg. v. Hanne Bergius, Berlin 1989. 46 Maciunas, George: »Fluxmanifesto on Fluxamusement – Vaudeville – Art?«, 1971, in: http://georgemaciunas.com/?page_id=45 (Dezember 2012). Ken Friedman bemerkt hierzu: »Hier sollte erwähnt werden, dass auch das ›Fluxus-Manifesto‹ aus dem Jahre 1962 von Maciunas verfasst wurde. Seine Veröffentlichung sollte die Diskussion anregen. Keiner der Fluxus-Künstler war bereit
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Maciunas lehnte Vorausplanung im Sinne der Festlegung einer endgültigen Form ab und sprach sich für Improvisation und Unbestimmtheit aus. Der eigentliche Beitrag des Künstlers bestehe »nicht in der Durcharbeitung einer Form oder Struktur, sondern in der Entwicklung eines Konzepts oder einer Methode, durch die ohne seine weitere Mitwirkung Form geschaffen werden kann.«47 Mit unseriöser Miene, spaßig und scherzhaft begann Fluxus genau das zu praktizieren, was der weiße Galerieraum gemäß seiner ästhetischen Hygieneprinzipien auszublenden versuchte. Lange vor Lawrence Weiners viel zitierten schriftlichen Statements verteilten die FluxusKünstler kleine Schnipsel mit Handlungsanweisungen, die dem Empfänger alles Weitere überließen. Unabhängig von offiziellen Kunstorten fanden Fluxus-Veranstaltungen überall statt: in Privaträumen, auf der Straße oder in öffentlichen Gebäuden. Immer wieder wurde auf Momente von Überraschung gesetzt: »George schickte mir ein Paket mit Fluxus-Material. Kartons. Kleine Schachteln. Usw. Ich erhielt eine Vorladung bei der Zollbehörde, deswegen zu erscheinen. Nun denn: ein großer Raum voller Tische und Pulte mit vielen Beamten. Die Schachteln wirkten mysteriös. Was das ist? Sie mußten jede von ihnen öffnen. Und nun kam es. Beim Öffnen sprang aus jeder größeren Schachtel eine gefederte Schlange und katapultierte Tausende von Papierschnitzeln heraus, die zur Decke flogen und langsam zu Boden hinunterrieselten. Das war Georges Neujahrsgruß. Auf jeder von diesen Papierflocken stand geschrieben NEW FLUX YEAR Es war herrlich. Die verblüfften Zollbeamten, auf deren Haaren, Kleidern, Tischen und Dokumenten Unmengen von Papierschnitzeln herumlagen, betrachteten die un-
es zu unterschreiben. Und auch Maciunas selbst entschloss sich, es nicht zu unterschreiben. Auch dieses Dokument wird fälschlicherweise als fertiges Manifest abgedruckt, obwohl es nur ein Entwurf war.« In: ders.: »Wer ist Fluxus?«, in: KUNSTFORUM (1991), S. 189-196., insbes. S. 190. 47 Maciunas, George: »Neo-Dada in Musik, Theater, Dichtung, Kunst« (um 1962), in: Harrison/Wood 2003, S. 894-896, insbes. S. 896.
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wirkliche Bescherung. Und alle machten sich an die Arbeit. Eine Schar von Zöllnern kroch am Boden und sammelte kleine Zettelchen. New flux year.«48
Von der Kritik zunächst missachtet49 und auch von Kollegen nicht richtig ernst genommen50 etablierten die Fluxus-Künstler ihre eigene Verbreitungsund Vertriebsstrategie und machten sich auf die Suche nach unaufwendigen Lösungen, die gleichzeitig eine Strategie der Entweihung anerkannter Wertekategorien verfolgten. Eine Unmenge von Multiples zu erschwinglichen Preisen wurde in Umlauf gebracht und per Post versandt, Flux-Shops wurden eingerichtet, Mailing-Listen erstellt und auf diese Weise das Galeriesystem und offizielle Vermittlerfunktionen unterlaufen. Obwohl Fluxus sich zunächst eher am Rand von institutioneller Verbreitung und Kunstmarkt bewegte, wurden mit dieser Bewegung nach Dieter Daniels »die Ziele von Internationalität und Intermedialität, die Futurismus, Dada, Surrealismus, Situationismus und die anderen gattungsübergreifenden Bewegungen des 20. Jahrhunderts sich auf ihre Fahnen geschrieben hatten, Wirklichkeit«.51 Im Widerspruch zu der Vertriebs- und Verbreitungspolitik der Fluxus-Künstler, die sich an Prinzipien wie Vervielfältigung und Erreichbarkeit orientierte, stand die überheblich provozierende und manchmal respektlose Haltung, die sie immer wieder bei Auftritten gegenüber ihrem Publikum einzunehmen schienen. So schrieb Ben Vautier anlässlich der Kölner Happening- und Fluxus-Retrospektive den Satz »Bande von Versagern, senkt den Kopf beim Eintreten!« auf ein Brett, das er am Eingang der Kölner Kunsthalle auf halber Höhe befestigte. Oder Vostell ließ sein Publikum bei einem Happening allein im Wald zurück, so dass dieses seinen Heimweg selbst finden musste. Solche Aktionen zielten einmal mehr auf die Rezeptionsbedingungen ab und bezogen ihre Wirkung vor allem aus der Infragestellung und ›Verballhornung‹ aller Konventionen, die sich im
48 Knízák, Milan: »George THE Maciunas«, in: KUNSTFORUM (1991), S. 112119, insbes. S. 116 f. 49 Vgl. Hansen, Al: »How we met. Notizen zu einem Heft mit dem Titel ›Maciunas und Fluxus‹« (1989-1990), in: KUNSTFORUM (1991), S. 120-123. 50 Allan Kaprow sagte von den Fluxus-Künstlern, dass »sie sich wichtiger vorkommen, wenn sie unwichtige Dinge tun«. Zit. n. Moore, Barbara: »Happening und Fluxus«, in: Joachimides/Rosenthal (1993), S. 125-132, insbes. S. 130. 51 Daniels, in: KUNSTFORUM (1991), S. 100.
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Kunst- und Ausstellungswesen zur Routine entwickelt haben. Interpretiert man diese Aktionen als absichtsvolle Irritation der Publikumserwartungen oder als gezielte Verletzung von Gefühlen der Rezipienten, so unterschätzt man sicherlich die autoritätskritische Haltung, von der die meisten FluxusKünstler ausgingen. Dass es darum ging, sich von der Idee einer künstlerischen Autorität zu verabschieden bzw. einer solchen nicht mehr Folge zu leisten, war ein wichtiger Grundgedanke der Fluxus-Philosophie. Würde man den Fluxus-Künstlern unterstellen, sie hätten darauf abgezielt, auf humorvolle Weise dem Publikum seine Ehrfurcht vor dem Künstler zu nehmen, so wäre der ›ideale implizite Betrachter‹ jemand, der sich kopfschüttelnd und lachend der Ausführung solcher Aufforderungen verweigert oder aber sich mit Lust bei der Beerdigung überkommener Kunstbegriffe beteiligt. Den Auftritt von Achtleiter und Rühm, bei dem sie einen Konzertflügel mit Beilen zertrümmerten, beschrieben sie nachher wie folgt: »den leuten gefiels sehr, und eine mittelose musikstudentin im publikum bekam einen weinkrampf, denn sie hatte sich bislang noch keinen flügel leisten können. das freute uns.«52 Es sollte dennoch nicht unerwähnt bleiben, dass auch Fluxus-Künstler nicht frei von den Verführungen waren, welche die gesellschaftliche Sonderstellung des Künstlers bedeuteten. Gerade Joseph Beuys, der sich zur Leitfigur der europäischen Fluxus-Bewegung stilisierte, trug viel dazu bei, den Mythos um seine Künstlerfigur medial und performativ zu schüren. Die große Faszination, mit der viele Anhänger ihm zum Teil blind Folge leisteten, schien ihn nicht gestört zu haben. Performance als testcase (Valie Export) Für die Performance ist das Publikum konstitutiv, denn sie setzt auf die »Schaffung eines einmaligen, ephemeren Ereignisses, das mit den Sinnen wahrgenommen, im Gedächtnis festgehalten werden kann.«53 Momente von Gewalt und aggressiver Provokation bestimmten Ende der sechziger Jahre vor allem viele Performances von Frauen, die oftmals ihren eigenen Körper
52 Zit. n. Zell, Andrea: Valie Export. Inszenierung von Schmerz. Selbstverletzung in den frühen Aktionen, Berlin 2000, S. 17. 53 Jappe, Elisabeth: Performance, Ritual, Prozess, Handbuch der Aktionskunst in Europa, München/New York 1993, S. 10.
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zum Einsatz brachten. Auf dem von Gustav Metzger in London 1966 veranstalteten »Destruction in Art Symposium« zeigt Yoko Ono erstmalig das Cut Piece, eine Performance, bei der sie auf der Bühne hockte, nachdem sie das Publikum aufgefordert hatte, ihr die Kleider vom Leib zu schneiden. Regungslos verharrte sie, bedeckte ihre Brüste, sobald sie entblößt wurden, mit den Händen und ließ sich gefallen, abzuwarten, bis nur noch der Kern von ihr übrig war. Mit dem Wechselverhältnis zwischen Schaulust und Exhibitionismus und mit der Aggressivität von Blicken, aber auch mit der Verantwortlichkeit des Rezipienten beschäftigen sich ebenso die Arbeiten von Valie Export wie das Tapp- und Tastkino 196854 oder Aktionshose Genitalpanik: In einem Münchner Pornokino betrat Valie Export schwarz gekleidet mit herausgeschnittenem Schritt und bewaffnet mit einem Maschinengewehr den Kinosaal und forderte die Menschen im Publikum auf, alles zu tun, wozu sie Lust hätten. »Langsam schritt ich die Reihen ab, schaute den Leuten ins Gesicht. Ich bewegte mich nicht besonders erotisch. Ich ging langsam die Reihen entlang, das Gewehr zielte jeweils auf die Köpfe der Leute in der Reihe hinter mir. Ich hatte Angst und keine Ahnung, wie die Leute reagieren würden. Während ich die Reihen abschritt, standen die Leute nach und nach auf und verließen den Saal. Es war für sie etwas völlig anderes außerhalb des Filmkontextes eine Beziehung mit diesem besonderen erotischen Symbol einzugehen.«55
Wie an dieser erinnernden Beschreibung deutlich wird, gewinnen Performances hier den Status von Versuchsanordnungen, wobei oftmals versucht wird, das Verhältnis von passivem Sehen und aktivem Zu-sehen-Geben zu verkehren. Dabei liefern sich die Künstler ihrem Publikum vollständig aus, um durch die Erzeugung von Grenzsituationen dessen Verhalten zu prüfen. Berühmt geworden ist die Performance Rhythm’O (1974) von Marina Abramovic, bei der sie das Publikum in einem Raum, der auf einem Tisch verschiedene Instrumente wie eine Pistole, Rasierklingen, Federn, Ketten,
54 Exports erklärender Satz zu der Aktion: »Die Vorführung findet wie stets im Dunkeln statt, nur ist der Kinosaal kleiner geworden. Es haben nur zwei Hände in ihm Platz.« Export, Valie, in: http://www.medienkunstnetz.de/werke/tappund-tastkino/ (Mai 2010). 55 Export Valie, zit. n. Stiles, in: Noever (1998), S. 269 f.
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Messer etc. bereithielt, aufforderte, für sechs Stunden mit ihr anzufangen, was immer das Publikum wolle. Nachdem die Anwesenden sie berührt, ihr die Kleider zerschnitten und Schnittwunden zugefügt hatten, teilte sich die Gruppe schließlich in Aggressoren und Beschützer. Letztere verhinderten, dass ein Teilnehmer mit der Pistole auf sie schoss.56 Bei den gemeinsamen Aktionen von Export und Weibel erfuhr das zunächst noch auf Teilnahme ausgerichtete Prinzip der Adressierung eine aggressive Wendung. Im Kampf gegen »kinematografischen Illusionismus, mediale Bewusstseinskontrolle und genüsslicher Unterhaltung« fungierte das Publikum, dem grundsätzlich Passivität unterstellt wurde, bei Veranstaltungen wie Exit oder Underground Explosion (beide 1968) zunehmend als Gegner. Unter dem Motto »das Publikum als Kunstwerk, als Opfer der Kunst, als Gäste der Hochzeit von Ausschwitz« wurde das Publikum politischen Reden ausgesetzt und mit durch die Kinoleinwand geworfenen Feuerwerkskörpern beschossen oder gar ausgepeitscht. Wie Matthias Michalka bemerkt, fällt die Kritik am Medienspektakel, aus der diese Arbeiten ursprünglich abgeleitet sind, letztlich auf die Künstler zurück. Ihre Aktionen waren derart aufsehenerregend, dass in allen einschlägigen Massenmedien (Der Spiegel, Stern, Boulevardblätter und Fernsehen bis hin zum Ostdeutschen Rundfunk) darüber berichtet wurde – was letztlich »zu noch mehr sensationslüsternem Publikum« führte.57 So problematisch der spektakelhafte Zug vieler Performances ist, so wenig lässt sich die Performance in ihrer Vermittlungsstruktur hierauf reduzieren. Ob Chris Burden sich für fünf Tage in einem Schließfach einschließen (Five Day Locker Piece, 1971) oder sich bei Shoot (1971) mit einem Gewehr anschießen lässt,58 ob
56 Vgl. Schimmel, Paul: »Der Sprung in die Leere. Performance und das Objekt«, in: Noever (1998), S. 17-119, insbes. S. 99. 57 Vgl. Michalka, Matthias: »Schießen Sie doch auf Ihr Publikum – Projektion und Partizipation um 1968«, in Michalka, Matthias: X-SCREEN. Filmische Installationen und Aktionen der Sechziger- und Siebziger Jahre, Wien 2004, S. 94-105. 58 Bei einer Einladung in einer Talkshow im amerikanischen Fernsehen nimmt Chris Burden die Moderatorin vor laufender Kamera als Geisel und droht, sie, falls die Sendung unterbrochen werde, mit einem Messer umzubringen. Mit dieser Arbeit »TV Hijack schafft er es sogar, das Fernsehen in seine Gewalt zu bringen«. Vgl. Daniels, Dieter: Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet, München 2002, S. 247.
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John Duncan einen Geschlechtsakt mit einem Frauenleichnam vollzieht und ihn aufzeichnet (Blind Date, 1980) oder Orlan sich seit 1990 einer Reihe von ›Schönheitsoperationen‹ unterzieht, all diese Aktionen setzen auf den Körper als Kommunikationsmedium. Die Herausforderung an das Publikum ist dabei die eine Seite des Experiments und das Wagnis, dem sich die Künstler selbst unterziehen, die andere. Die ethisch oft als bedenklich bewerteten Aktionen konkretisieren die persönlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer von Erniedrigung und struktureller Gewalt durchzogenen Kultur, indem die Künstler und Künstlerinnen sie stellvertretend an ihrem eigenen Körper zur Aufführung bringen. Gesetzt wird dabei auf das Wissen und die Erfahrung der Verletzlichkeit und die körperliche Empathie der Zuschauer oder Zeugen – eine Empathie, die, da sie oft auf körperlichem (Schmerz-)Empfinden beruht, weitestgehend einer abstrahierenden Relativierung entgegenzuarbeiten versucht. Das, was durch mediale Gewöhnung zur von Emotionen entkoppelten Information verkommen ist, wird in seiner konkreten körperlichen Auswirkung näher gebracht oder gar ›am eigenen Leib erfahrbar‹. Zu impulshaften Reaktionen gereizt, sieht sich der Betrachter zu direktem Eingriff veranlasst oder in eine Situation versetzt, in der die passive Zuschauerrolle Unbehagen auslöst und letztlich auf die Perversität der ganz normalen Akzeptanz von Gewalt rückführbar wird. Lassen sich die Performances aus dieser Sicht als mit extremen Mitteln hervorgerufene Sensibilisierungsversuche beschreiben, so kommen sie einem chirurgischen Eingriff in die psychosoziale Konditionierung des Publikums gleich. Diese Konditionierung und ein an hegemonialen Sprachregelungen und Medien geschultes Rezeptionsverhalten sind damit das eigentliche ›Ausgangsmaterial‹. Zur emanzipierenden Wirkung des Schmerzes in ihren Performances äußert Valie Export: »Die Freude am eigenen Widerstand, die Freude Schmerz zu ertragen und zu überwinden, die Freude den fremden Widerstand zu überwinden, den Verlust zu sehen, zu spüren und darüber zu lächeln.«59
59 Export, Valie, zit. n. Brunner, Markus:»›Körper im Schmerz‹ – Zur Körperpolitik der Performancekunst von Sterlac und Valie Export«, in: Paula-Irene Villa (Hg.): Schön normal – Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst, Bielefeld 2008, S. 21-40, insbes. S. 33.
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Versteht man die Performances in diesem Sinne als eine Art Realitycheck, als Experimente, die ein Mehr an Erkenntnis und Bewusstheit über die Verfasstheit der Gesellschaft in Erfahrung bringen, so kommt den präsentativen Vorgaben der Künstlerin – und seien sie noch so spektakulär – eigentlich die Funktion von Requisiten in einer Vorführung zu. In Abgrenzung zum Theater versuchen Performances keine simulierte oder maskierte Schau zu sein, sondern möchten das Leben selbst und damit die Bedingungen und die Mentalität des Publikums zum eigentlichen Thema machen. Häufig stattfindende, die Künstler pathologisierende Abwehrreaktionen des Publikums werden aus dieser Perspektive als hilflose Umlenkung der schonungslos hervorgebrachten emotionalen Effekte lesbar. Sie zeigen aber auch, wie eng Kunst und die so genannte außerkünstlerische Realität bei Performances beieinander liegen. Dazu gehört, dass es zu Verwechslungen der Register kommen kann, die kunsthaft hervorgerufene ›Grausamkeit‹ wird als krankhaft abgestempelt, um die Normalität der Grausamkeit nicht anerkennen zu müssen. Non-Art, Anti-Art, Conceptual Art (John Latham, Dan Graham) Die demokratisierenden Impulse der Fluxus-Künstler und John Cages Bestrebungen, zwischen Musik, Tanz, Literatur, elektronischem Experiment und bildender Kunst Übergänge zu schaffen, lieferten wichtige Ausgangspunkte für die Emergenz von Kunstformen,60 die in den sechziger und siebziger Jahren entstehen: Konkrete Kunst, Happening, Aktion, Direct art, Zeremonie, Demonstration, Kinetisches Theater, Arte povera, Erd- und Umweltkunst, interaktive Kunst, Actual art, Aktivität, Guerillakunst, Guerillatheater, Guerillakunstaktion, Straßentheater, Eventkunst, Eventstruktur, Bewusstmachung, Überlebensforschung, conceptual art, Process art, Information art, Systems, Antiform... Spiegelt sich bereits in dieser Begriffspalette der Drang wider, die Bahnen offizieller, institutionell abgesicherter Produktions- und Rezeptionsformen
60 Rorimer (2001), S. 35.
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zu verlassen, so betont die Kritikerin und Aktivistin Lucy Lippard, dass die Ideen und die Aufbruchsstimmung dieser Zeit nur schwer verstehbar werden, wenn nicht ihr gesellschaftspolitischer Kontext einbezogen wird, der geprägt ist von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, dem Vietnamkrieg, neuen feministischen Kräfte und in deren Folge oder parallel entstandenen gegenkulturellen Gruppierungen. Der andere Pol, zu dem sich die Künstler außerdem verhielten, war der zur damaligen Zeit herrschende Kunstbegriff, welcher sich als von all diesen »äußeren« Ereignissen abgeschottet und unbeeinflusst verstand. Dieser Kunstbegriff bedeutete ein Klima, welches sich durch die völlige Negierung von politischen oder gesellschaftskritischen Dimensionen künstlerischer Praxis auszeichnete und maßgeblich von wertkonservativen Kunstkritikern wie Clement Greenberg oder Harald Rosenberg und in deren Folge Michael Fried bestimmt war.61 Wie einflussreich und politisch wirksam die amerikanische Formalismusschule war, soll folgende Aktion von John Latham verdeutlichen. Der britische Künstler entlieh 1966 einen Aufsatzband von Clement Greenberg mit dem Titel »Art and Culture«. Als Lehrbeauftragter an der St. Martins School of Art in London forderte er seine Studenten auf, Seiten aus dem Buch herauszureißen und zu zerkauen, um sie anschließend in ein dafür vorgesehenes Gefäß zu spucken. Ein Drittel des Bandes wurde auf diese Weise zu einem Papierbrei, den Latham später mit einer Schwefelsäuremischung und ›fremden Kulturen‹ durchmischte und das Gebräu gären ließ, bis er von der Bibliothek eine Postkarte mit der Aufforderung, das Buch zurückzugeben, erhielt. Latham brachte dem Bibliothekar das mit dem gärenden Brei gefüllte Glas. Am nächsten Tag erhielt er einen Brief von der Direktion der Kunstschule, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass man sich außerstande sehe, ihn weiterhin zu beschäftigen. 62 Die formalistische Kritik ging davon aus, dass jede Kunst von anderer Kunst abstammt und nur aus ihren eigenen geschichtlichen Gattungen heraus zu verstehen ist63 (, wobei diese geschichtlichen Gattungen eigentlich akademische Konstruktionen und daher dem Interesse der Kunsthistoriker
61 Lippard, Lucy: Six Years: The dematerialization of the art object from 1966 to 1972, Berkeley, Los Angeles, London 2001 (1973), S. vii. 62 Vgl. Stiles, in: Noever (1998), S. 227. 63 Vgl. z. B. Greenberg, Clement: »Modernistische Malerei«, in: Harrison/Wood (2003), S. 931-937, insbes. S. 931-33.
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dienlicher sind als dem der Kulturproduzenten). Der Minimalismus, der – eigentlich formalistischen Prinzipien treu – zwischen dem physikalischen Raum, den Objekten und dem Betrachter strikt trennte, um auf die elementaren Bestandteile der Wahrnehmungssituation aufmerksam zu machen, stellte für den Formalismus bereits eine Herausforderung dar. Im Gegensatz zur Pop Art, die den Fetischcharakter des Kunstwerks und die Ikonenhaftigkeit von Bildern – wenn auch persiflierend – unterstrich und ausnutzte, und eben auch dem Essentialismus der Minimal Art, die noch von der »Spezifität der Objekte« ausging, fühlten sich Künstler wie Dan Graham, Bruce Nauman oder Vito Acconci herausgefordert, die unscharfen Grenzen zwischen Objekt und Subjekt im Wahrnehmungsprozess erkennbar zu machen.64 Bereits mit seinen frühen Interventionen in Zeitschriften reflektierte Dan Graham den Verbreitungsrahmen künstlerischer Arbeiten. In dem Bewusstsein, dass eine Arbeit »über die nicht geschrieben wird oder die nicht in einem Magazin reproduziert wird, Schwierigkeiten hat, als wertvoll (im Sinne von ›Kunst‹) definiert zu werden«65, nutzte er das Printmedium – indem er die Kunstausstellung quasi übersprang – als Erstveröffentlichungsorgan. Damit kehrte er die Reihenfolge der üblichen (ökonomischen) Wertbildung einer Arbeit um: Nicht die reproduzierte Arbeit in der Zeitschrift, sondern die im Galerieraum nachträglich präsentierte Publikation führe somit eine »Second-Hand-Existenz«. Grahams Ansatz beinhaltet eine Kritik an der dualistischen Konzeption der readymades von Marcel Duchamp. Dieser hält Graham vor, die Frage nach der Exklusivität von Kunst und ihren Institutionen nur »auf logisch abstrakter Ebene gestellt« zu haben: »Anstatt Galerie-Objekte auf die allgemein zugängliche Ebene des alltäglichen Gegenstands herunterzuholen, erweiterte diese ironische Geste einfach das galeristische Einzugs-Gebiet.« 66 Die Arbeit Schema (March 1966) – eine
64 Vgl. den legendären Aufsatz von Fried, Michael: »Art and Objecthood« (1967), in: Harrison/Wood (1994), S. 822-834. 65 Graham, Dan: »My Works for Magazine Pages: ›A History of conceptual Art‹«, in: Brian Wallis (Hg.): Dan Graham: Rock my Religion, writings and art projects 1965–1990, Massachusetts 1993, S. xx. 66 Graham, Dan: »Meine Arbeiten für Zeitschriftenseiten – ›Eine Geschichte der Konzeptkunst‹«, in: Ulrich Wilmes (Hg.): Graham, Dan. Ausgewählte Schriften, Stuttgart 1994, S. 12-20, insbes. S. 15.
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Seite mit vom Verleger der jeweiligen Zeitschrift auszufüllenden Angaben über die Anzahl von Formalien wie Seiten, Zeilen, Konjunktionen, Kolumnen, nicht kursiven Wörtern etc. – verstand Graham als »In-Formation«.67 Die exakten Daten über die jeweilige Publikation wurden ihr mitgeliefert. Die Wiederkehr von konstruktivistischen Grundansprüchen – wie Zurücknahme der Autorschaft, Kontextspezifität, Verständlichkeit – ist kaum übersehbar: »Es gibt keine Komposition. Es wird weder eine künstlerische noch eine vom Verfasser autorisierte Erkenntnis zum Ausdruck gebracht. Das Werk unterläuft den Markt. [...] Sein kommunikativer Wert und seine Verständlichkeit sind unmittelbar, jeweils speziell und veränderbar abhängig von den Bedingungen (und der Zeit) seines Systems oder des Kontextes (indem es gelesen werden kann). [...] Die einzigen Beziehungen sind die Beziehungen der einzelnen Elemente untereinander. Elemente, die nur durch die Tatsache ihrer wechselseitigen Abhängigkeiten voneinander bestehen.«68
Mit Homes for America (1966) lenkte Graham die Perspektive der Leserschaft auf die Standardisierung des Lebens- und Wohnalltags amerikanischer Vorstädte. Die Formprinzipien der Architektur kritisch analysierend betrieb er eine Art kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Steuerung von Lebensgestaltung durch moderne Stadtplanung.69 Auch Grahams spätere Arbeiten sind von der Idee getragen, auf die überindividuelle Vorstrukturierung der Wahrnehmung aufmerksam zu machen. Für Public Space/Two Audiences (1976) schuf er ein Environment, durch das Architektur, Betrachter und Werk eine Verbindung eingehen. Die Installation besteht aus einem Raum, der durch eine schalldichte Glaswand in zwei Teile geteilt ist. An einer Außenwand befindet sich ein flächenfüllender Spiegel. Im Spiegelbild verbunden, aber durch die akustische und räumliche Grenze
67 Graham, Dan: »Andere Beobachtungen (Schema)«, (1969/1973), in: Wilmes (1994), S. 24f., insbes. S. 24. 68 Ebda. 69 Die Kunstzeitschrift Art Magazine, in der Homes for America 1966/67 zuerst erschien, druckte allerdings entgegen der Intention Grahams nur eine der vielen Fotografien, mit denen sein Artikel gespickt war, ab. Vgl. Graham, in: Wallis (1993), Anmerk. 21.
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getrennt, entsteht ein Beobachtungsfeld zweier Publika. Das Beobachten von anderen ist in von Graham konstruierten Situationen immer an das Beobachtet-Werden gebunden, wodurch der Betrachter nicht umhin kommt, sich im Moment des Beobachtens zu einer Gruppe ins Verhältnis zu setzen. »This is a reverse of the ›loss of the self‹ when a spectator looks at a conventional artwork. There, the ›self‹ is mentally projected into (identified with) the subject of the artwork. In this traditional, contemplative mode, the observing subject not only loses awareness of his or her ›self‹, but also loses consciousness of being part of a present, social group, located in a specific moment and social reality, occuring within the architectual frame where the work is presented.«70
Durch den konsequenten Einsatz von Spiegelungen und Rückprojektionen fallen bei vielen Arbeiten Grahams die Rezeptionsbedingungen (soziologische Faktoren, architektonischer Kontext etc.) und präsentative Rezeptionsvorgaben zusammen. Obwohl der Künstler in vielen seiner Arbeiten – wie in den Closed-circuit-Videos oder den späteren Pavillons – immer wieder Wege sucht, die Wahrnehmung im Moment des Wahrnehmens greifbar zu machen, also ein Reflexionsmoment in das Hier und Jetzt einzufügen, haben speziell die skulpturalen Arbeiten auch Modellcharakter. Sie schließen an Erfahrungen großstädtischer Stadtarchitektur an und greifen z. B. die Schaufenstersituationen oder Spiegelfassaden moderner Bürokomplexen auf.71 Indem Graham die Situation des Schauens verkehrt und den Betrachter zum Objekt seiner Umgebung werden lässt, widerspricht er dem angeblich neutralen Charakter moderner Architektur. Grahams Arbeiten stellen eine eigene Untersuchung der Beziehung zwischen Rezeptionsbedingungen und Vorgaben dar und können fast als künstlerische Vorläufer der Kempschen Begriffsunterscheidungen angesehen werden. Indem Graham Situationen kreiert, in denen die Dimensionen der Rezeptionssituation ausgedehnt werden, weist er vor allem auf die Untrennbarkeit der gegen-
70 Graham, in: Wallis (1993), S. 190. Im Fall von Public Space/Two Audiences erinnert Graham auch an die architektonischen Trennungen zwischen Passagieren auf Flughäfen oder die einsehbaren Räume in Krankenhäusern. 71 Vgl. Rorimer, Anne: »Kontext als Inhalt – Subjekt als Objekt. Installationskunst in Chicago seit 1967«, in: Weibel (1994), S. 197-200, insbes. S. 197.
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übergestellten Kategorien hin bzw. macht auf die künstlichen Trennungen aufmerksam, die sich sprachlich und analytisch durchgesetzt haben. Sprechen und Schreiben (Ian Burn, Lucy Lippard) Der Kurator und Kritiker Dan Cameron kennzeichnet in seinem Aufsatz »Die Kunst und ihre Wiederholung« die Konzeptkunst als Versuch, »die Vorstellungen der Kunst von sich selbst zu thematisieren, indem sie den Kontext, die ›Systemästhetik‹ und die Entmaterialisierung des Kunstwerks betonte.«72 Zwar hebt er die einflussreiche Rolle von Robert Smithson (1938-1973) hervor, als bedeutsam betrachtet Cameron den Vertreter der Landart allerdings erst für die postkonzeptionelle Ästhetik. Als ästhetischer Visionär sei Smithson wegbereitend für die Kunst der achtziger Jahre gewesen und habe einen Einfluss insbesondere durch seine umfangreichen schriftlichen Äußerungen ausgeübt. Besonders entscheidend sei, so Cameron, das von Smithson anhaltend geäußerte Prinzip, »daß der Künstler stets für den Kontext einer Arbeit verantwortlich ist – nicht nur dafür, wie sie gemacht und wo sie gezeigt ist, sondern auch dafür, wie sie arrangiert, erworben, verteilt und verbreitet wird.«73 »Cultural Confinement takes place when a curator imposes his own limits on an art exhibition, rather than asking the artist to set his limits. Artists are expected to fit in fraudulent categories. Some artists imagine they’ve got a hold on this apparatus, which in fact has got a hold of them. As a result, they end up supporting a cultural prison that is out of their control.«74
In aller Deutlichkeit belegt dieses Zitat von Smithson selbst, was in Camerons Text in doppelter Anschaulichkeit verschwiegen bleibt: die angriffslustige und wenig relativistische Ausgangsposition des Künstlers gegenüber den Konventionen dessen, was zwanzig Jahre später von Thomas Wulffen ›Betriebssystem‹ genannt wird. Es sind die auf die künstlerische Produktion
72 Cameron, Dan: Die Kunst und ihre Wiederholung, Frankfurt/M. 1990, S. 283. 73 Ebda. 74 Smithson, Robert: »Cultural Confinement« (1972), in: Jack Flam (Hg.): Robert Smithson. The collected Writings, Los Angeles, London 1996, S. 154-156, insbes. S. 156.
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sich einschränkend auswirkenden Mechanismen des Galeriesystems – kunsthistorische Kategorisierung und kuratorische Entschärfung –, die Künstler laut Smithson dazu veranlassten, Strategien zu erfinden, um den Prozessen der »ästhetischen Konvaleszenz« zu entgehen. Dass es genau diese Ausgangspunkte sind, die in Camerons Aufsatz keine Erwähnung finden, führt dazu, dass der Kurator die ihm von Smithson 1972 zugedachte Rolle bestens erfüllt: »The function of the warden-curator is to seperate art from the rest of society. Next comes integration. Once the work of art is totally neutralized, ineffective, abstracted, safe, and politically lobotomized it is ready to be consumed by society. All is reduced to visual fodder and transportable merchandise.«75
Es sind die Zurichtungen der künstlerischen Arbeiten durch die Verbreitungswege und Vermittlungsinstanzen des Kunstsystems, auf die Smithson hier abhebt. Getragen von den Interessen des jeweiligen Berufsfeldes oder von einem der jeweiligen Tätigkeit entsprechenden Pragmatismus organisieren die Vermittler (Galeristen, Kritiker und Kuratoren) das Verhältnis zwischen Künstler und Publikum und beeinflussen dadurch maßgeblich den Kontakt zwischen künstlerischer Arbeit und Gesellschaft. Ian Burn fasst in fünf Punkten zusammen, worin die konzeptionellen Ansätze ihren Ausgang hatten: »1 Entzug von den materialistischen Aspekten des Marktes. Reaktion auf Kommerzialisierung des Kunstsystems 2
Nutzung von ›demokratischen‹ Formen wie Zeitschriften, Medien etc., um im
3
Thematisierung von direkten und persönlichen Beziehungen entgegen den als
Sinne einer antielitären Verbreitung ein möglichst breites Publikum zu erreichen unpersönlich empfunden Richtungen Pop, Farbfeldmalerei und Minimalismus 4
Kollektive Arbeit, Arbeit in Gruppen
5
Umerziehung des Künstlers, Entmystifizierung des Systems, der eigenen Arbeitsbedingungen«76
75 Ebda. 76 Burn, Ian: »the sixties: crisis and aftermath (ort he memoirs of an ex-conceptual artist)«, in: Alexander Alberro/Blake Stimson (Hg.): Conceptual Art: A Critical Anthology, Cambridge, London 1999, S. 392-408, S. 402 ff.
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Indem Künstler nun zunehmend Tätigkeiten des Kritikers oder Ausstellungsmachers übernahmen und reflektierten, folgten sie dem Wunsch, so lange wie möglich Kontrolle über die Bedeutung der eigenen Arbeit zu behalten und jenen Prozess rückgängig zu machen, der von Adrian Piper wie folgt beschrieben wird: »Mit der Preisgabe des Inhalts und der Abtretung der selbstbewußten Haltung an die Kritik haben die Künstler die Verantwortung der Kontrolle über ihre schöpferischen Kräfte und ihre Bedeutung aufgegeben. Das ›Action Painting‹ frei aus dem freudschen Unbewußten heraus war alles was ihnen blieb.«77
Das Schreiben über Kunst und die diskursive Entfaltung von Kriterien wurde nicht mehr allein den Kritikern überlassen, sondern von Künstlern selbst vollzogen. Dabei wurden bewusst Grenzen der Arbeitsteilung im Kunstsystem übertreten und kenntlich gemacht. Joseph Kosuth: »Was man endlich begreifen sollte, ist, dass es [das Schreiben, RP] ein legitimer Teil der Praxis eines Künstlers ist, denn es ist schlicht ein anderer Weg, über den der Künstler einen Sinngehalt erzeugt – da es den Informationskontext liefert, in dem eine Aktivität gesehen wird.«78
Neben dieser Aneignung der sprachlichen Verbreitung eigener Arbeiten im Sinne des begleitenden Kommentars kommt die Sprache als selbständiges künstlerisches Medium zum Einsatz, das die bildliche Kommunikation zum Teil vollständig ersetzt. Peter Weibel verbindet mit der Konzeptkunst sogar einen »fundamentalen Wechsel vom Modell der Wahrnehmung zum Modell der Sprache als Medium der Kunst«. Lawrence Weiner, Joseph Kosuth oder das Künstlerkollektiv Art & Language79 nutzten Sprache als quasi unübersetzbares Medium80 Während Weiners an die Ausstellungswand oder
77 Piper, Adrian: »Logik der Moderne oder Wie Greenberg den Amerikanern die Tradition des euro-ethnischen sozialen Inhalts stahl«, in: Weibel (1994), S. 283288, insbes. S. 286. 78 Kosuth, Joseph: »Über das Spiel des Unsagbaren und des Unerwähnbaren«, in: KUNSTFORUM (1994), S. 63-67, insbes. S. 67. 79 Kosuth arbeitet ab 1969 in der Gruppe mit. 80 Vgl. Rorimer (2001), S. 76.
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anonym im Außenraum platzierte Sätze oftmals als Aufforderung an den Betrachter gerichtet waren, sich ›sein eigenes Bild zu machen‹ oder das Werk zu vollenden, waren Kosuths sprachphilosophische Illustrationen eher als »analytische Propositionen« zu verstehen, die das (Nicht-)Verhältnis von Sprache und außersprachlicher Wirklichkeit untersuchten. Die Gruppe Art & Language nutzte den Text, um auf den Stellenwert des Diskursiven für die Bewertung von Kunstwerken aufmerksam zu machen. In einer Galerieausstellung präsentierten sie eine komplette Ausgabe der Zeitschrift Artforum, die sie um eigene maschinengeschriebene Kommentare ergänzten. Auf diese Weise nahmen sie Bezug auf die professionelle Kritik (die speziell in dieser Zeitschrift von Vertretern des Formalismus wie Michael Fried bestimmt war), relativierten deren bestimmende Bedeutung und trieben sie letztlich an einen Endpunkt, da jeder weitere kunstkritische Kommentar zu dieser Arbeit in einem von ihr abgeleiteten Verhältnis stünde. Ähnlich selbstreflexiv operiert eine Arbeit von David Lamelas, wenngleich er die Dematerialisierung der Kunst durch seine Beschäftigung mit oraler Kommunikation noch ein Stück weitertrieb: Mit Publication (1970) veranstaltete er als Ausstellungsbeitrag ein Symposion mit 13 Künstlern und Kunstkritikern zur Bedeutung der Sprache für die Kunstproduktion. Themen, die diskutiert werden und dadurch erneut ›in Fluss geraten‹, lauten: »1. Use of oral and written language as an Art Form 2. Language can be considered as an Art Form 3. Language cannot be considered as an Art Form«81
Anschließend wurde die Diskussion in Form einer Ausstellung als Publikation präsentiert. 82 Gerade die sprachbasierten Arbeiten der Konzeptkünstler setzten – gemäß dem konventionellen Werkbegriff – bei den Rezeptionsbedingungen von Kunstwerken oder ganz explizit bei deren Kontexten an. Sich selbst auf sprachphilosophische Theorien etwa von Wittgenstein oder den Poststrukturalismus beziehend wurde hier genau das von Kemp angesprochene Verhältnis von Kontext und Text thematisiert und reflektiert.
81 Ebda. 82 Ebda.
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Gegenstände der Untersuchung war jetzt »Die Rolle der Sprache«83 im Verhältnis zur Wahrnehmung und zum Sehen, die sprachliche Strukturierung des Unterscheidungsvermögens und demzufolge der visuellen Erfahrung. Victor Burgin, der sich 1969 in seinem Text »Situational Aethetics« auf Kunst bezog, die »die Bedingungen, unter denen Objekte rezipiert und die Prozesse, durch die einigen von ihnen ein ästhetischer Status zugesprochen wird«, untersucht, schrieb: »In its logical extremity this tendency has resulted in a placing of art entirely within the linguistic infrastructure which previously served merely to support art. In its less hermetic manifestions art as message, as ›software‹, consists of sets of conditions, more or less closely defined, according to which particular concepts may be demonstrated. This is to say, aesthetic systems ar designed, capable of generating objects, rather then individual objects themselves.«84
Noch einmal wird das Anliegen deutlich, sich genau in jene Kontexte einzumischen, die mit Mitteln der Sprache maßgeblich an der Bedeutungsproduktion beteiligt sind. Künstler verschieben ihren Aufgabenbereich von der Erzeugung von Objekten, die späterhin vermittelt werden, zur selbsttätigen Vermittlung der Bedeutung. Die Erweiterung des Betätigungsfelds der Künstler um den Arbeitsbereich der Kritik bedeutete umgekehrt – und es ist Lucy Lippards Verdienst, dies aus eigener Erfahrung und Praxis immer wieder reflektiert zu haben – eine Öffnung für das Tätigkeitsprofil und Selbstverständnis der Kunstkritiker: »For me, conceptual art offered a bridge between the verbal and the visual. [...] By 1967, although I had only been publishing art criticism for a few years, I was very aware of the limitations of the genre. I never liked the term critic. Having learned all I knew about art in the studios, I identified with artists and never saw myself as their adversary. Conceptual art, with its transformation of the studio into a study, brought art itself closer to my own activities. There was a period when I saw myself as a writer-collaborateur with the artists, and now and then, I was invited to play that part. If
83 So der Titel eines Aufsatzes von Ian Burn und Mel Ramsden, in: Harrison/Wood (2003), S. 1072-1974. 84 Burgin, Victor: »›Situational Aesthetics‹« in: Harrison/Wood (2003), S. 883885, insbes. S. 883.
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art could be anything at all that artists chose to do, I reasoned, then so could criticism be whatever the writer chose to do. When I was accused of becoming an artist, I replied that I was just doing criticism, even if it took unexpected forms.«85
85 Lippard, in: Six Years (2001), S. x. Lucy Lippard führt im Weiteren aus, welche experimentellen Formen ihre Kritik annahm: Sie begann in dieser Zeit, selbst Ausstellungsformate zu erdenken und zu kuratieren, und entwickelte experimentelle Publikationsformate für Katalogbeiträge oder Artikel, die sie über Künstler schrieb. Auch das Buch »Six Years ...« zeugt von Lippards erweitertem Kritikverständnis. Der von ihr gestaltete Einband macht darauf aufmerksam: Auf signalrotem Hintergrund füllt der Titel (in weißer Helvetica gesetzt, also in der Groteskschrift, welche von vielen Conceptual artists verwandt wurde, da sie in ihrer Schlichtheit und Funktionalität deren Absichten offenbar gut entsprach) den gesamten Buchdeckel: »Six years: The dematerialization of the art object from 1966 to 1972: a cross-reference book of information on some esthetic boundaries: consisting of a bibliography into which are inserted a fragmented text, art works, documents, interviews, and symposia, arranged chronologically and focused on so-called conceptual or information or idea art with mentions of such vaguely designated areas as minimal, antiform, systems, earth, or process art, occuring now in the Americas, Europe, England, Australia, and Asia (with occasional political overtones), edited and annotated by Lucy R. Lippard.«
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K OMPONENTEN DER R EZEPTION The major changes that occured in the art of the late 1960’s merit special attention in the view of their consequences upon the relationship between the artists and the public. The fundamental redefinition of art that occured at this time did more than merely change forms within an accepted system; it challenged the system itself.86
Die herkömmliche Vorstellung vom Kunstwerk geht auf einen isolierten Herstellungsprozess zurück und antizipiert einen nachgeordneten, von der Herstellung getrennten Rezeptionsprozess. Der Künstler setzt mit von ihm gewählten Materialien eine Vorstellung von Welt um, die in diesem Material abgelagert und gespeichert wird. Die gespeicherten Informationen werden sodann an einen Ort transportiert, an dem sie von einem unbestimmten Publikum wahrgenommen, nachvollzogen und bestenfalls reproduziert werden. ›Die Kunst‹ wird dabei zum einen in der gestaltenden Auseinandersetzung zwischen Künstler und Material vermutet und zum anderen – gewissermaßen als Transfer – in der nachträglichen Übertragung des Werks auf den Betrachter. Die Rezeption orientiert sich dabei an der Künstlerpersönlichkeit, da in ihr der Schlüssel für das Verständnis der Kunst gesucht wird. Dieser Werkbegriff unterliegt bestimmten systemischen Voraussetzungen: der Verborgenheit des künstlerischen Produktionsprozesses an einem eigens dafür vorgesehenen Ort (Atelier); der Transportfähigkeit des Kunstwerks und damit verbunden seiner Warenförmigkeit; dem Vorhandensein eines institutionellen Raums, der die Zugänglichkeit des Kunstwerks ermöglicht; schließlich einer Rezeptionssituation, bei der sich Subjekt und Objekt gegenüber stehen. Der hier vollzogene Gang durch die Nachkriegskunstgeschichte zeigt, wie Künstler diese traditionelle Ordnung der Dinge und die damit verbundenen sozialen Verhältnisse durchkreuzen, ändern
86 Müller, Grégoire: the new avant-garde. Issues for the Art of the Seventies, New York, Washington, London 1972, S. 27.
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oder unterlaufen. Den hier dargelegten Verfahren ist gemein, dass sie es geradezu vermeiden, eine Situation herzustellen, die es dem Publikum erlaubt, die Kunstentstehung an ein Objekt, einen Gegenstand (ein Bild, eine Skulptur) zu delegieren. So erinnert Victor Burgin daran, dass die Neudefinition künstlerischer Praxis bedeute, all das in den Blick zu nehmen, was außerhalb der Objektproduktion steht: »What was radical about in conceptual art, and what, I am thankful to say, has not yet been lost sight of, was the work it required – beyond the ›object‹ – of recognizing, intervening within, religning, reorganizing, these setworks of differences in which the very definition of ›art‹ and what it ›represents‹ is constituted: the glimpse it allowed us of the possibility of the absence of ›presence‹, and thus the possibility of ›change‹.«87
Zudem überlassen die Künstler es nicht einfach dafür vorgesehenen Orten und Institutionen, seien es Museen oder Galerien, ein Publikum anzusprechen. Sie delegieren diese Aufgabe nicht an einen gegebenen Kontext, sondern nehmen sie zum Ausgangspunkt für die spezifische Wahl eines Kontexts und dessen Bearbeitung. Der aufgesuchte Kontext wird dabei so bearbeitet, dass er ein Bewusstsein vom Hier-und-Jetzt herzustellen versucht. Das geschieht, indem der Rezipient aufgefordert oder gar ›genötigt‹ wird, sich über seine auf angelernte Gewohnheiten rückführbare Wahrnehmung bewusst zu werden. Oder der Künstler sucht sein Publikum an Orten auf, die es ermöglichen, andere und neue Regeln der Rezeption und Verbreitung zu etablieren (Straße, Flugplatz, öffentliche Verkehrsmittel). Die Verlagerung der künstlerischen Aktivitäten in Räume außerhalb klassischer Ausstellungshäuser ist von den Wünschen danach getragen, ein anderes als das ›klassische‹ Kunstpublikum anzusprechen und mit einer anderen Realität zu arbeiten: der alltäglichen. Die Künstler bedenken die Reaktionen, Handlungsmöglichkeiten und Verhaltenskonventionen des Publikums. Von vornherein beziehen sie den Adressaten in die Konzeptualisierung der Arbeit ein. Oft versuchen sie, die Kontrolle über die Vermittlung und Verbreitung – oder genauer: den Kontakt zum Publikum mit der Arbeit – möglichst lange in der Hand zu behalten. Zeitbasierte Praxen wie Aktionen, Happe-
87 Burgin, Victor: »The Absence of Presence«, in: Harrison/Wood (1994), S. 10971101, insbes. S. 1097.
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nings oder Performances binden die künstlerische Arbeit an eine spezifische Dauer und damit meist auch an die zu dieser Zeit anwesenden Personen. Daraus folgt: Die Künstler übernehmen Aufgaben, die nach den bisherigen Regeln des Kunstsystems an andere Berufsgruppen delegiert wurden. Sie schreiben selbst Kritiken, organisieren Ausstellungen, kümmern sich um die Einladungspolitik etc. So verweigern sie sich der Zuständigkeitsverteilung, bei der die Kunst für eine Erfahrung zu sorgen hatte, aus der heraus der Kritiker dann die Idee des Kunstwerks extrapoliert und verbreitet. Als Konsequenz wird versucht, die Rolle des Kritikers als Wortführer der Kunstinterpretation mehr oder weniger überflüssig zu machen.88 Die Ausweitung der künstlerischen Tätigkeiten hat nicht zuletzt den Effekt, dass der Unterschied zwischen Künstlern und Nicht-Künstlern unwichtiger wird. Auch die ausdrücklich gewünschte Arbeit in Gruppen führt zur verstärkten Zusammenarbeit von Künstlern, Kritikern, Ausstellungsmachern, so genannten Laien etc. Für alle Verfahren gilt: Die geschlossene Werkform im Sinne eines »Speichers von Produktionsabläufen und einer künstlerischen Botschaft«89 (wird von offenen Situationen abgelöst, die aus verschiedenen Komponenten zusammengesetzt sind. Der Rezipient ist dabei ein Faktor unter mehreren. Der aufgesuchte Ort, der (architektonische) Raum, zeitliche Dimensionen, weitere Mitwirkende (u. U. der Künstler selbst), Dinge, Handlungsabläufe, Erwartungen und Emotionen sind weitere Faktoren. Durch die vom Künstler vorgenommene Auswahl, durch seine Eingriffe und die Konstellation der verschiedenen Bauelemente, der Zutaten oder eben Komponenten wird ein Zusammenwirken organisiert und gestaltet. In diesem Sinn ist der vorgefundene Kontext nicht mehr bloß Bedingung, sondern wird Be/ding/ung: in seiner Zusammensetzung porös.
88 Bereits 1968 formulierte sie: »The pendantic or didactic [! RP] or dogmatic basis insisted on by many of these artists is incorporated in the art. It bypasses criticism as such. Judgement of ideas is less interesting than following the idea through. [...] If the object becomes obsolete, objective distance becomes obsolete. Sometime in the near future it may be necessary for the writer to be an artist as well as for the artist to be a writer«, Lippard, Lucy/Chandler, John.: »The Dematerialization of Art«, in: Alberro/Stimson (1999), S. 46-50, insbes. S. 49. 89 Stephan Schmidt-Wulffen: »Kunst ohne Publikum?«, in: Wolfgang Kemp: Zeitgenössische Kunst und ihre Betrachter, Köln 1996, S. 185-194, insbes. S. 188.
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Wo bleibt das Objekt? Was bedeutet diese Umorientierung nun auf der Ebene der Rezeption? Wie kann man sich die beschriebene Aufmerksamkeitsverlagerung auf die Ebene der Wahrnehmung vorstellen? In vielen Äußerungen zu dieser Frage wird mit dem Funktionswechsel des Kunstobjekts argumentiert. Um die bis dato als selbstverständlich erachtete, die sichtbare und materielle Seite künstlerischer Praxis zu problematisieren, war mit der conceptual art der Entzug von Objekten im Rahmen des Betriebs zum modus operandi erklärt worden. Um den Handlungsaspekt freizusetzen, verabschiedete man sich von der morphologischen Bedeutsamkeit und versuchte, die Kunst außerhalb von präsentativen Formen zu vermitteln. Obwohl es nahe liegt, mit Konzeptkunst, conceptional art, Information Art oder Idea Art zu verbinden, dass an die Stelle des Visuellen oder Materiellen nun die gute Idee gerückt ist, 90 es also um eine puristische Vorstellung des ›reinen Gedanken‹ gehe, liefert schon die inzwischen akkumulierte Menge an Material aller Konzeptkunstausstellungen und -aktionen der vergangenen Jahrzehnte ein ›gewichtiges‹ Gegenargument. Denn selbst für Vertreter extrem reduktionistischer Lösungen (Lawrence Weiner, Stanley Brown, Maria Eichhorn), galt, dass ihre Ideen materialisierter Transmitter bedurften. Entgegen einer vollständigen Auflösung der materiellen Mittel lässt sich eher behaupten, dass mit der conceptual art eine besondere Aufmerksamkeit für deren Wahl, Status und Funktion einherging.91 Eine Strategie der Dematerialisie-
90 So behaupten etwa Honnef/Kaminski, anstelle des Kunstwerks »als anschaulich visualisierte Idee« trete nun »die Idee als Kunstwerk«. Zit. n. Tragatschnig, Ulrich: Konzeptuelle Kunst: Interpretationsparadigma, Berlin 1998, S. 22. 91 Die Unterbrechung herkömmlicher Präsentationsweisen von Kunst brachte außerdem die Erforschung neuer (technischer) Möglichkeiten mit sich. Die verwendeten Medien waren meist praktikabel, kurzlebig, unaufwändig – weder dazu da, Respekt einzuflößen noch aufgrund ihres Materials wertvoll: Text, Video (hat im Gegensatz zu heute, wo einzelne Kunstvideos schon bis zu 200.000 EUR erzielen, keinen oder nur einen sehr geringen Marktwert), Performance, Fotografie, Aktion etc. Mitte der sechziger Jahre standen solche, inzwischen vertrauteren Arbeitsweisen und Rezeptionssituationen den traditionellen skulpturalen und malerischen Mitteln neuartig und herausfordernd gegenüber. Gerade wegen der technischen Unerprobtheit erleichterten sie experimentierfreudige
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rung bestand darin, den defizitären oder wertlosen Charakter des eingesetzten Materials hervorzukehren, um auf diese Weise deutlich zu machen, dass das Material erst durch die Anwendung des Rezipienten im Rahmen einer Handlung (die z. B. auch in einem Denkakt bestehen kann) oder durch den Kontext, in dem es präsentiert wird, seinen Sinn erfüllt. 92 Die ›Wertlosigkeit‹ des Materials verweigerte sich üblichen ökonomischen Bewertungsmaßstäben. Die oft nüchterne »Gebrauchsanleitungs-Ästhetik« (Michel Chevalier) – Faxe, Kopien, Listen, Diagramme – unterstützte diese Sicht: Fetischobjekte wurden durch Aufzeichnungssysteme, die auf vergangene oder noch auszuführende Handlungen verweisen, ersetzt. Daran knüpfte sich die Hoffnung, eine »reine Information oder Phänomenologie« zu schaffen: »jeder kann sehen, immer, man braucht keine Vorbereitung, kein privilegiertes Lernen, keine Konvention, keine Kenntnis der künstlerischen Institutionen.«93 Da die eingesetzten Materialien eher einen praktischen Wert hatten und keine auratischen Anschauungsobjekte waren, schlägt Ulrich Tragatschnig in seiner Untersuchung des Objektstatus von konzeptueller Kunst vor, sich der Unterscheidung zwischen Mittel und Medium von John Dewey zu bedienen: »Mittel werden unter der Voraussetzung zu Medien, wenn sie nicht bloß der Vorbereitung oder als etwas Vorläufiges dienen.«94 Die Kunsthistorikerin Kristine Stiles versucht, den Unterschied zwischen auf Anschauung ausgerichteten Verfahren und handlungsorientierten Verfahren zu verdeutlichen, indem sie die Funktionsweise des Objekts im Rahmen der Kunstaktionen als »Kommissur«,95 folglich als Verbindungsstelle beschreibt. Für Stiles beschreibt die Kommissur die »Symmetrie zwischen Objekt und menschlichem Handeln«. Worauf es ankom-
Zugänge. Besonders Frauen fühlten sich – in den siebziger Jahren im Kunstbereich bei Weitem unterrepräsentiert – ermutigt, die unbelasteten Medien auszuprobieren und sich auf diese Weise Eingang in die Kunstwelt zu verschaffen. 92 Rorimer, in: dies. (2001), S. 35. 93 Buchloh, Benjamin: »Im Gespräch mit Catherine David und Jean-Francois Chevrier. Das Politsche Potential der Kunst«, Das Buch zur Documenta X = politics-poetic, Ostfildern 1997, S. 347-391, insbes. S. 386. 94 Dewey, John: Kunst als Erfahrung, Frankfurt/M. 1980, S. 229. 95 Der Begriff »Kommissur« leitet sich von den lateinischen Wörtern comissura (Fuge, Verbindungsstelle) und committere (verbinden, anvertrauen, zu treuen Händen geben) ab. Außerdem knüpft er an das englische to commit an.
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me, sei, dass wir künstlerische Verhaltenweisen »auf die gleiche Art und Weise betrachten [sollen, RP], in der wir auch das Objekt anschauen.«96 Die Organisation des Unsichtbaren War es das Projekt der Avantgarden, das künstlerische Material, dessen Wirkungen und Eigenschaften zu analysieren und freizustellen, so ging es in den 1960er/70er Jahren verstärkt darum, die unsichtbaren Einflussfaktoren, die für die Kunstbestimmung bedeutsam sind, in die Materialwelt aufzunehmen: kulturelle Wert- und Bedeutungsbildung, soziale Machtgefüge, aber auch chemische und physikalische Prozesse. Der technologische Fortschritt, die Bedrohung durch die Nuklearenergie und die Entwicklung von chemischen Waffen mögen dazu beigetragen haben. Ebenso prägend war die zunehmende Rezeption strukturalistischer Denkansätze, deren Grundauffassung es ist, dass kulturelle oder gesellschaftliche Phänomene sich nicht rein empirisch erschließen lassen würden, sondern durch die Erkenntnis ihrer Struktur: Das Muster der Verhältnisse mehrerer Teile untereinander sage mehr über das Teil aus, als von ihm selbst abgelesen werden könne. Das Sender-Empfänger-Modell, bei welchem dem Objekt die Mittelund Mittlerposition zukommt, wich also der Einsicht, dass der übergeordnete Rahmen für die Entstehung von Bedeutung in der Verständigung und Kommunikation entscheidender ist.97 Peter Weibel fasst diesen Perspektivenwechsel wie folgt: »Kontexte wurden wichtiger als Texte. Verfahren der Kodifikation und nicht die Botschaft selbst, Methoden der Erforschung und nicht das Gefundene, die Bedingungen der Kultur und nicht die Kultur, das System der Werte und nicht die Werte selbst.«98
So unterschiedlich der mit der conceptual art einsetzende Statuswechsel eingeschätzt wird, so fällt insgesamt auf, dass die Reflexion und Theoretisierung dieses Paradigmenwechsels das Objekt immer wieder ins Zentrum
96 Stiles, in: Noever (1998), S. 230. 97 Vgl. Weibel, Peter: »Kontexttheorie der Kunst von 1971«, in: ders. (1994), S. 69-77. 98 Ebda. S. 74.
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der Aufmerksamkeit stellt – und sei es durch sein Fehlen. Pierangelo Maset ist mithin Recht zu geben, wenn er folgert: »Es gibt keine immaterielle Immaterialität, sondern paradoxerweise nur eine materiale Immaterialität, eine Immaterialität, die auf der Basis des Materials vorstellig werden kann.«99
Genau dieser Gedankengang veranlasste einige Künstler schon bald dazu, Kritik an der Terminologie zu üben, die sich mit Begriffen wie ›Dematerialisierung‹ und ›Conceptualism‹ verband. In seinem Text »excerpts from speculation« unterzieht Mel Bochner die Theoretisierung der conceptual art einer Kritik und wendet sich gegen ihren anti-empirischen Ausgangspunkt. Beeinflusst von Edmund Husserl ist es Bochner zu verdanken, seine Modernismuskritik auf der Ebene einer Phänomenologie der Wahrnehmung skizziert zu haben. Auch Bochner geht davon aus, dass ein Gedanke nicht ohne tragende Unterstützung existieren könne (es sei denn als gesprochenes Wort). Seine Berichtigung besteht deshalb nicht darin, das Objekt umzudefinieren, ihm einen anderen Namen zu geben oder es für obsolet zu erklären. Hinterfragt werden müsse vielmehr der angelernte Akt der Perzeption, denn erst dieser konstituiere das Objekt als Kunstobjekt. Das Missverständnis besteht nach Bochner darin, das Objekt als Entität mit stabilen Eigenschaften und Begrenzungen zu denken. Tatsächlich sei es aber erst ein Effekt von Konzentration, der dem Objekt diese Illusion von Konsistenz verleiht. Bochner gibt zu bedenken: »Sight itself is pre-logical and without constants (out-of-focus). The problem is that surrendering the stability of objects immediately subverts any control we think we have over situations.«100
Im Weiteren argumentiert Bochner wie folgt: Erinnerungen seien nicht Überbleibsel von vergangenen Eindrücken, sondern von vergangenen Ver-
99
Maset, Pierangelo: »Über Konservierung und Mikroästhetik. Immaterialität und Werkbegriff«, in: Martina Koch/Pierangelo Maset (Hg.): Konservierung, Ham burg 1994, S. 47-57, insbes. S. 48.
100 Bochner, Mel: »Exerpts from Speculation«, in: Alberro/Stimson (1999), S. 192196, insbes. S. 192.
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balisierungen. Üblicherweise ginge man davon aus, dass die Erfahrung eines Objekts zwischen zwei Zeitpunkten stattfinde. Die lineare Zeitstruktur der Sprache führe dazu, die Wahrnehmung in ihrer Kontinuität zu begrenzen. Genau diese gekappte Zeiterfahrung verhindere es, den Zusammenhang von Wahrnehmung (dem Wahrnehmenden) und Objekt zu erfahren. Sobald aber deren Untrennbarkeit anerkannt wird, erweisen sich Dinge als ununterscheidbar von Ereignissen. »Carried to its conclusion, physicality, or what seperates the material from the nonmaterial (the object from our observation), is merely a contextual detail.«101
Bochners Versuch geht dahin, Kunst als eine Tätigkeit zu bestimmen, die es möglich macht, unsere reduzierte Wahrnehmung aus ihren Begrenzungen zu entlassen. In seinen eigenen Worten: »First objects would cease to bet he locus of sight. Then, no longer centers in themselves, they would demand to be perceived as the organisation by everything around them. What might result from this conjuncture, is a sense of trajectory rather then of identity. That what common sense has always been presented as an unity (objects) become only the negatives in the field of determinants.«102
Bochner betont, Kunst werde nicht durch intellektuelle Denkschritte verstanden, sondern indem man die Konturen einer bestimmten Art, in der Welt zu sein bzw. die Welt zu behandeln, unterbreche.103 Die Perzeption müsse eine Erweiterung erfahren • • • •
von Richtungen von Settings von Regionen von Wegen
statt Dimensionen statt Punkten statt Flächen statt Entfernungen.
Mit dieser Kritik oder Umbenennung herkömmlicher kompositorischer Kategorien wird deutlich, dass Bochner die Wahrnehmung auf die Interdepen-
101 Ebda. S. 193. 102 Ebda. S. 195. 103 Ebda. S. 194.
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denzen von Objekt und Umgebung richtet. Es handelt sich um eine Verschiebung der Aufmerksamkeit: weg von der geometrischen Bestimmung eines Objekts hin zu Formen der Bewegung und zur Konstellation einzelner Teile innerhalb einer Ganzheit. Bochner macht auf all das aufmerksam, was im Falle der Fokussierung des Objekts wegfällt und im wahrsten Sinne ›in den Hintergrund rückt‹. So führt etwa die durchlässige Spiegeloberfläche einer Rauminstallation von Graham die Umgebung (Region), das Abbild des Betrachters, das gebaute Objekt und den hinter der Oberfläche liegenden Raum sowie andere Betrachter auf einen Blick zusammen (Setting). Dieser Blick kann aber kein Einzelteil fixieren (Richtung), ohne permanent reflektiert zu werden und dadurch die anderen Projektionen der Gesamtkomposition an sich zu binden (Wege). Oder: Die durch einen vorgeschnallten Karton abgeschottete Berührung der Brüste von Valie Export zieht die Blicke auf die geheime Aktivität des Verborgenen und kombiniert sie mit dem intimen Wissen aller beteiligten Akteure und Voyeure. Hier ist es die Attraktion des Ungezeigten, die eine öffentliche Subjektivität im Sinne der Verbundenheit freisetzt. Entscheidend ist, dass das Wissen nicht demonstrativ auftritt, sondern sozusagen heimlich Übereinstimmung erzeugt. Die meisten der hier angeführten Ansätze verlassen sich in der Begegnung mit dem Publikum nicht mehr auf das Auge oder eine ›retinale Reizung‹, sondern fordern emotionale, körperliche oder haptische Reaktionen heraus. Dabei kommen insbesondere skulpturale Komponenten wie Volumen und Raumgefühl zum Tragen. Subtraktive wie additive Verfahren werden eingesetzt. Uneingelöste Erwartungen lenken die Wahrnehmung auf die Leere (Cage), aber auch auf all das, was neben und in der Leere vorhanden ist. Anders herum wird das Bewusstsein der eigenen Körperlichkeit durch Gefühle von physischer Enge und psychologischer Bedrängnis evoziert (so bei Kaprows Environments oder den Performances, die mit Schmerz oder Bedrohung operieren). Aggressionen, aber auch Empathie werden durch provokante Nichtachtung der Grenzen von Intimität aufgerufen (Demonstration von Nacktheit und damit Verletzlichkeit, Peinlichkeit im Sinne des Zu-Leibe-Rückens). So wird die Berechtigung gesellschaftlicher Tabus angezweifelt, als bloße Konvention in den Blick gerückt und aktives Eingreifen, aber auch Gegenwehr provoziert (Export, Abramovic). Oder aber es stellen sich per Humor und Banalisierung Situationen der Erleichterung her. Internalisierte Anpassungen an Routinen, Kontrollsituatio-
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nen oder Autoritäten können so mitsamt dem dazugehörigen Zustand von Beschämung und Angst ad absurdum geführt werden (Macunias, Latham). Ehrfurcht und Beklemmung werden durch Zerstörungsakte und Chaotisierung freigesetzt (Gutai). Auch die Verlagerung von Tätigkeiten in für die Rezipienten nicht vorgesehene Kontexte – oder die Verschränkung zweier normalerweise sondierter Kontexte – verursacht außergewöhnliche Erfahrungen. Empfindungen von Nähe und Distanz werden verschoben, umgekehrt oder gebündelt (Graham, Export). Mischungsverhältnisse werden durch Reduktion, Extension oder Maximierung geändert, so dass die Bestandteile der Gesamtsituation wahrnehmbar werden (Cage, Kaprow), Abläufe werden durch Unterbrechungen zum Anhalten gebracht (Gutai, Macunias, Burden) oder durch Übertreibung an ihre Grenzen gerückt (Abramovic, High Red Center, Latham, Duncan). Dabei wird »inkorporiertes Wissen« (Bourdieu 104) oder die Geschichte im Sinne einer »zweiten Natur« (Nietzsche105) freigesetzt und versucht, als zur Tradition gewordenes, keinesfalls aber selbstverständliches Wissen ins Bewusstsein zu rücken. Mittels künstlerischer Methoden werden sezierende Eingriffe in die kulturellen Muster unserer Verhaltensgewohnheiten vorgenommen. Bedingungen als Material Der Ansatz von Kemp berücksichtigt zwar bereits den Kontext und konzentriert sich auf die Schnittstelle zwischen Text und Kontext. Die vorausgesetzten qualitativen Trennungen seines Analyseinstrumentariums sind allerdings dazu angetan, die von den Künstlern vollzogenen Verschiebungen der Wahrnehmungsordnungen wieder ungeschehen zu machen. Kemp geht davon aus, dass sich die Vorgaben des Künstlers materialisieren und von daher bestimmbar sind, die Bedingungen von Kunst dem gegenüber präexistent und also nicht manipulierbar sind. Wie sich aber zeigt, kann das Begriffspaar ›Bestimmbarkeit und Unbestimmbarkeit‹ auf diese Weise aufgeteilt werden. Denn Anliegen der hier angeführten Verfahren ist es, genau den Zusammenhang, vielmehr die Untrennbarkeit von materiellen und immateriellen Komponenten der Wahrnehmung freizulegen. Sie sprechen den
104 Vgl. Bourdieu (1979), S. 730. 105 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Stuttgart 1970, S. 34.
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Betrachter nicht als Individuum an, sondern beziehen sich auf seine spezielle Verfasstheit als Betrachter oder Teil einer ihnen zugewiesenen Ordnung. Sie ersuchen, die Rezeption in ihrer Bedingtheit zu verstehen, indem sie diese aus ihren Be/ding/ungen lösen. Wenn man so will geht es darum, eine Verschränkung zwischen der erfahrbaren, visuellen oder phänomenalen Welt und abstrakteren Realitäten zu schaffen, bzw. auf deren Interpendenzen aufmerksam zu machen. Das heißt die von Kemp den ›inneren Rezeptionsvorgaben‹ zugeordneten Mittel des Künstlers (Perspektive, Inhalte und Komposition im Sinne von Zusammensetzung) werden aus ihrer ›normalen‹ Bindung an die objekthaften Vorgaben des Künstlers gelöst. Das (gewöhnlich unbefragte) Wissen und die Dispositionen der Teilnehmenden sowie zeitliche und räumliche Bedingungen werden als konstitutive Faktoren der Kunstwahrnehmung hervorgekehrt. Insofern damit unabsehbare Handlungen des (vormaligen) Rezipienten in die künstlerische Arbeit einbezogen sind, sind diese von vornherein nur begrenzt bestimmbar. Anders formuliert: Wenn die Bedingungen zum Material werden, ist es nicht mehr der Künstler allein, der das ›Ereignis Kunst‹ bestimmt. Andererseits lassen sich die Bedingungen gestalten und durchaus verändern. Und genau hierauf zielen die meisten der hier vorgestellten Positionen ab. Lucy Lippards viel zitierte ›Dematerialisierung‹ kann in diesem Sinne als eine Erweiterung des Materialbegriffs interpretiert werden. Er umfasst jetzt ebenso die Zeit, den Raum, nicht-visuelle Systeme, soziale Situationen, Klang, unaufgezeichnete Erfahrung oder unausgesprochene Ideen. Immer stärker konzentriert man sich auf die Rezeption, Verhaltensweisen oder Denkprozesse als solche.106 Wir können jetzt folgern: Die zu verrichtende Arbeit besteht darin, die verschiedenen Komponenten der Rezeptionssituation aus ihrer vorherigen Separierung zu lösen und derart neu zusammenzustellen, dass sich das Zusammenwirken der eingesetzten Mittel ereignet und manifest wird (ephemer oder langfristig). Gestaltet wird die Vermittlung der Teile untereinander. Oft geschieht das durch gleichzeitige Bindungs- und Lösungsprozesse, Fixierungen und Projektionen. Die Situation wird in ihrer Gesamtheit dekomponiert und neu konstelliert. 107 Wie eine programmatische Zusammen-
106 Lippard, in: dies.: Six Years (2001), S. 5. 107 Die in den vorigen Kapiteln hergestellte Kette an künstlerischen Methoden kann als eine Folge von verschiedenen Erfahrungsangeboten interpretiert werden, die das breite Spektrum an rezeptiven Möglichkeiten anzapft. Sie sind –
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fassung liest sich Jack Burnhams Textpassage über die hier erarbeitete neue Fokussierung künstlerischer Praxis, wobei er es nicht unterlässt, auf die pädagogische Dimension dieser Unternehmung hinzuweisen: »The specific function of modern didactic art has been to show that art does not reside in material entities, but in relations between people and between people and the components of their environment.«108
insofern sie auf eine Situation zu einer bestimmten Zeit, mit einem bestimmten Publikum abzielen – ereignishaft. Ihre Bindung an das Hier-und-Jetzt macht es naturgemäß schwer, sie zu transferieren. Da sie alle den Kontext der Handlung zum Ausgangspunkt nehmen, lassen sie sich nicht in andere Kontexte verschieben, ohne ihren Sinn auffällig zu verändern. Auch im Rahmen der von mir präsentierten Abfolge laufen sie Gefahr, zu bloßen Beispielen für meine Argumentation zu werden, die den Ansätzen wenig Platz lässt, die ihnen eigene zeit- und ortspezifische Stoßrichtung zu entfalten. Hierin liegt wiederum ein weiterer praktischer und politischer Wert, denn er schafft Aufmerksamkeit für die Repräsentation. 108 Burnham, Jack: »System Ethetics«, http://www.arts.ucsb.edu/faculty/jevbratt/ readings/burnham–se.html (Juli 2010).
Künstlerische Feldforschung
Es ist Zeit, zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Den Einstieg bildete die Frage nach der Vermittlung und die Diskussion der 1990er Jahre um deren Stellenwert. Zu Wort kamen verschiedene Sprecher und Sprecherinnen, die sich – ausgehend von sehr unterschiedlichen Positionen im Kunstsystem – mit der Klärung und Verunklarung des Begriffs ›Kunstvermittlung‹ beschäftigten. Weniger Aufmerksamkeit wurde bisher der künstlerischen Praxis der 1990er Jahre zuteil, weshalb dieser Schritt nun anhand von drei ausgewählten Projekten nachgeholt werden soll. Es muss dem Leser überlassen bleiben, inwiefern die historische Arbeit, die diesem Schritt vorangestellt wurde, hierbei hilfreich ist. Aus meiner Perspektive – die im Falle der nachfolgend behandelten Projekte die einer Involvierten ist – schälte sich erst durch die intensive Beschäftigung mit dem Kunstbegriff der ›sozialen Avantgarden‹ und ihren im letzten Kapitel dargestellten Fortsetzungen eine Möglichkeit zur Einordnung und Bewertung dieser künstlerischen Unternehmungen heraus. Das Problem der fehlenden Distanz, wie in den Ausführungen zur doppelten Historisierung dargelegt, kehrt also unter umgekehrten Vorzeichen wieder: Die imaginäre Nähe zu einem künstlerischen Ansatz der Vergangenheit erforderte es, sich historisches Wissen zu erarbeiten. Genau dieses historische Wissen kann nun dazu beitragen, die nicht nur imaginäre, sondern vollständig faktische Nähe zur zeitgenössischen Kunstproduktion zu relativieren. Dass ich an ihnen in je unterschiedlicher Weise beteiligt war bzw. die Möglichkeit hatte, ihren Verlauf aus der Nähe zu beobachten, war für die Auswahl der hier diskutierten Projekte entscheidend. Da Maria Lind zufolge »kollaborative« Kunst schwieriger zu beschreiben, geschweige denn zu analysieren sei als
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andere künstlerische Verfahren, schlägt sie vor, von eigenen Erfahrungen mit dem Projekt, zumindest aber von verlässlichen Augenzeugenberichten auszugehen. Es gehe darum, »impressionistische« Projektbeschreibungen zu vermeiden, die dazu tendieren, Trennungen zwischen der künstlerischen Arbeit und ihrer Interpretation zu verwischen.1
K ONSTRUKTION
VON
R ÜCKBEZÜGEN
Auch die 1990er Jahre gehören inzwischen der Vergangenheit an. Der Diskurs und die Praxen haben sich ausdifferenziert. ›Partizipation‹, ›Kollaboration‹, ›Selbstorganisation‹, ›Künstlergruppen‹, ›Kollektive‹, ›Koalitionen‹, ›Allianzen‹ – dies sind inzwischen Begriffe, die in einem bestimmten Segment der zeitgenössischen Kunst selbstverständlich kursieren, um von Künstlern gewählte Formen der Zusammenarbeit zu umschreiben. In den 1990er Jahren wurde die Re-Politisierung der Kunst in einen Zusammenhang mit den ernüchternden politischen Folgeerscheinungen der ›Wiedervereinigung‹ gebracht sowie als Reaktion auf den boomenden Kunstmarkt gewertet. Anstatt die diagnostizierte Sinnkrise der Kunst als neues Geschäftsmodell zu feiern, wandte man sich der »Neuformulierung von als peripher geltenden Produktions- und Ausstellungsformaten« zu. 2 Immer wieder bezog man sich dabei auf Methoden und Ansätze der Kunst der 1960er und -70er Jahre. Das 1994 von Peter Weibel herausgegebene Buch »Kontext Kunst. Kunst der Neunziger« stellt eine erste Kanonisierung von Beiträgen zum Diskurs der Kunst zusammen, für er geltend macht: »Verbindlich ist die Methode, den Kontext, in dem die künstlerischen Interventionen stattfinden, zum Objekt der künstlerisch-analytischen Auseinandersetzung zu machen. Dadurch wird die Kunst zu einem Instrument der Selbstbeobachtung der Gesellschaft, zu einem Instrument der Kritik und Analyse der Institutionen. [...] Der
1
Lind, Maria: »The Collaborative Turn«, in: Johanna Billing/Maria Lind/Lars Nilsson (Hg.): Taking the Matter into Common Hands, London 2007, S. 15-31, insbes. S. 22. Als Beispiele für diesen ›impressionistischen‹ Schreibstil nennt Lind Nicolas Bourriaud die Künstler Stephen Wright und Claire Bishop.
2
Babias, in: ders. (1995), S. 17.
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Text, das Werk, wird ersetzt durch den Kontext, der zum Text wird. Das Kunstprodukt wird fast unsichtbar, gemessen an historischen Ansprüchen.«3
Andere Schirmbegriffe tauchten im US-amerikanischen Diskurs auf: ›Socially Engaged Practice‹, ›Participatory Art‹, ›Ambient Art‹ oder der von der amerikanischen Künstlerin, Kritikerin und Vermittlerin Susan Lacy 1995 geprägte Begriff ›New Genre Public Art‹. Den wichtigsten Unterschied der Kunst aus den 1990er Jahren zu ihren Vorläufern sieht Peter Weibel darin, daß die kritischen Grenzen verschoben und erweitert worden seien. 4 Nach dem Enthüllen der Rahmenbedingungen des Kunstbetriebs hätten Künstler damit begonnen, »entschieden auch an anderen Diskursen (Ökologie, Ethnologie, Architektur, Politik) zu partizipieren und damit die Grenzen der Institution der Kunst extrem zu erweitern, zu perforieren und aufzuweichen«.5 Hatten die Künstler der 1960er, indem sie Kritiken schrieben oder visuellen Arbeiten eine textliche Gestalt gaben, bereits begonnen, die Grenzen der Arbeit abzuschaffen, seien die Künstler der 1980er bereits zu kritischen Praktikern geworden, schreibt der amerikanische Kritiker James Meyer. Nicht die Form oder der Ort seien mehr entscheidend, sondern die Tätigkeit des Entmystifizierens und der Analyse von materiellen und diskursiven Bedingungen der Praxis. So sei etwa der Unterschied zwischen Lehre und Kunstschaffen heute aufgelöst.6 Parallelen zur conceptual art sehen Marius Babias und Achim Könneke in dem Versuch, »sich unabhängig vom Diktat der Form zu machen, in oftmals parallel geschaltete verschiedenartige Rollen, Medien und Genres zu schlüpfen und als KünstlerInnen Wissenschaftsfelder zu erschließen.« 7 Beide Autoren suchen die Differenz in der künstlerischen Tätigkeit und dem Selbstverständnis des Künstlers und stellen die Kontexterweiterung als vornehmliche Unterscheidung zu vorherigen Praxen heraus.
3
Weibel, in: ders.: (1994), S. XIIIf.
4
Weibel, Peter: »Kontextkunst Zur sozialen Konstruktion von Kunst, in: ders. (1994), S. 1-68, insbes. S. 57. Ebda. Meyer, James: »Was geschah mit der institutionellen Kritik?«, in: Weibel (1994), S. 239-256, insbes. S. 243. Babias/Könneke, in: Babias/Könneke (1998), S. 9.
5 6 7
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Für die genealogische Einordnung dessen, was bei Weibel ›Kontextkunst‹ und an anderer Stelle auch ›institutional critique‹ genannt wird, widmen sich verschiedene Autoren außerdem insbesondere der Haltung des Künstlers gegenüber der Kunstinstitution. Dabei zeigt sich, dass der Kontextbegriff (definitionsgemäß) sehr unterschiedlich verwendet wird. So vertritt Joshua Decter mit dem Aufsatztitel »Der Kontext war immer schon da« die Auffassung, kontextreflexive Kunst habe nicht erst mit der Konzeptkunst begonnen, sondern sei »im Kunstwerk (bzw. Objekt einer Kunstpraxis) bis zu einem bestimmten Grade immer präsent« gewesen.8 Arbeiten von Andrea Fraser, Marc Dion oder Peter Fend wohlwollend gegenüberstellend bewertet Decter diese nicht als Fortführung der »klassischen« 9 institutionellen Kritik, sondern vor dem Hintergrund ihres Scheiterns. Ihre Ansätze müssten sich inzwischen mit der Tatsache auseinandersetzen, dass sie von den Institutionen selbst begrüßt würden und seien insofern als symbolische Akte der Kritik zu verstehen.10 Dem Publikum werde suggeriert, dass sich die Institutionen willentlich einer kritischen Überprüfung unterwerfen und dadurch »irgendwie progressiver seien als andere«.11 Decter sieht jedoch von der Konsequenz aus diesem Dilemma ab, die Loslösung der Kunst von den Institutionen zu praktizieren. Die Kunst würde sich hierdurch als solche in Frage stellen. Stattdessen legt er dem Leser nahe, Kunst als rituelle Form der Kritik auf der »Bühne Museum«, als »Modell für eine Revision der Kulturarbeit und des kulturellen Verhaltens« zu verstehen.12 Die Erfahrungen der Vergangenheit hätten gezeigt, dass »in den Vereinigten Staaten [...] alles was unter soziales Engagement fällt – weitgehend als unterhaltsame Nebendarbietung für das eigentliche politische Establishment betrachtet« werde. Decter folgert hieraus fragend: »Ist der Status eines exquisiten kulturellen Luxusartikels nicht ohnehin der beste für die Kunst?«13 Auch besonders kritischen, sich der Vermarktung scheinbar entziehenden Arbeiten
8
Decter, Joshua: »Der Kontext war immer schon da«, in: Weibel (1994), S. 219-
9
Decter nennt als Beispiele Velasquez, Gustave Courbet, John Heartfield, Adrian
231, insbes. S. 224. Piper und Hans Haacke, Ebda. 10 Ebda. 11 Decter begibt sich hier in auffällige Nähe zu Bürgers Theorie. 12 Decter, in: Weibel (1994), S. 232. 13 Ebda., S. 230.
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sei es nicht gelungen, sich der »Kapazität des Galeriesystems[,] alles zu assimilieren«, zu widersetzen. Deshalb spricht sich James Meyer für solche Arbeiten aus, die sich bewusst dem Grundwiderspruch der Vermarktung und der Instrumentalisierung kultureller Praxis stellten.14 Für das von oben zitierten Autoren beschriebene Selbstverständnis des Künstlers prägte Hal Foster wenig später den Begriff des Feldforschers oder »ethnographers«.15 Gefasst ist damit nicht nur das Aufsuchen und Erforschen von gesellschaftlichen Feldern außerhalb der Kunstinstitution, sondern auch ein mit soziologischer oder ethnologischer Forschung verwandtes Verständnis der künstlerischen Tätigkeit. Das aufgesuchte andere ›Feld‹ ist also als Präzisierung des von Weibel (und Kemp) aus der Literaturwissenschaft übernommenen Begriffs ›Kontext‹ zu verstehen und zeigt an, dass sich der vom Künstler aufgesuchte Aktionsraum vom Kunstkontext durch deutlich andere kulturelle oder ethnische Ordnungen und Regeln unterscheidet. Motivation oder Objekt der Anfechtung für dieses neue Paradigma bleibt aber auch laut Foster die Beschaffenheit der bürgerlichkapitalistischen Kunstinstitutionen (das Museum, die Akademie, der Markt und die Medien) und deren exklusive Definitionen von Kunst, Künstler, Identität und Gemeinschaft (›community‹). Es übersteigt den Rahmen und das Anliegen dieser Arbeit, hier die sehr differenzierten Überlegungen und kritischen Argumente zu referieren, die Foster insbesondere hinsichtlich der Gefahr der »ideological patronage« für das Rollenverständnis des »artist as ethnographer« entwickelt.16 Grob umrissen lassen sie sich aber in zwei Fragen zusammenfassen: Wie ist das Verhältnis zwischen Felderfahrung und Kunstinstitution organisiert bzw. beschaffen? Und: Welche Möglichkeiten und Fallstricke für die kritische Arbeit stecken in der Identifikation des Künstlers mit einem ihm ›fremden‹ kulturellen Feld? Um die im Folgenden behandelten Projekte – Die Offene Bibliothek (Clegg & Guttmann), unlimited liability (Michel Chevalier), THE THING Hamburg – zu charakterisieren, habe ich sie in Anklang an Foster der künstlerischen Feldforschung zugeordnet. Dafür spricht, dass für ihre Hauptaktivitäten Kontexte aufgesucht wurden, deren kommunikative Kul-
14 Meyer, in: Weibel (1994), S. 252f. 15 Foster, in: ders. (1996), S. 171. 16 Vgl. Ebda., S. 173.
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tur die institutionellen Regeln des Kunstsystems zunächst nicht voraussetzt (drei Außenraumsituationen in verschiedenen Stadtteilen; eine ehemalige Ladenwohnung in einem Wohnviertel; das Internet). Und dafür spricht, dass die Initiatoren hiermit einen institutionskritischen Anspruch verbinden. Alle drei Projekte haben einen lokalen Bezug – sie sind in Hamburg situiert. In meiner Analyse konzentriere ich mich auf die in den Konzepten entwickelten Formen der Teilhabe und untersuche, welche Aufgabe dem jeweils angesprochenen Publikum zukommt. Außerdem frage ich danach, welche Aussagen sich ableiten lassen bezüglich der Vermittlungswege und der gesellschaftlichen Wirkungsweisen, die durch Kunst realisiert werden (können). Dabei lege ich zugrunde, dass die Erwägung der verändernden oder bloß symbolischen Bedeutung künstlerischer Praxis nicht abzukoppeln ist von ihrem spezifischen Verhältnis zur Kunstinstitution.
C LEGG & G UTTMANN : D IE O FFENE B IBLIOTHEK (1993) Die Offene Bibliothek von Clegg & Guttmann ist ein vieldiskutiertes Kunstprojekt der 1990er Jahre. 1993 in Hamburg realisiert bot sie in der Diskussion um kontextbezogene ›New Genre Public Art‹ einen wichtigen Bezugspunkt. Die beiden in New York lebenden Künstler hatten sich bis dato vor allem durch ihre fotografischen Einzel- und Gruppenportraits einen Namen gemacht. In ihren Portraits übersetzen Clegg & Guttmann die Tradition des holländischen Gruppenportraits in das fotografische Medium und versuchen dabei, die Machtbeziehungen von Dargestellten und Künstlern und den Kampf um die Darstellung beim Produktionsprozess ins Bild zu bringen. 17 Unterstützt und eingeladen von der Kulturbehörde Hamburg und dem Hamburger Kunstverein ging es ihnen in Hamburg darum, die Idee des Portraits auf Stadtteile zu erweitern.18 Die Offene Bibliothek sollte Portraits von Gemeinschaften zur Verfügung stellen.
17 Vgl. hierzu z. B. Clegg & Guttmann. Collected Portraits, Katalog zur Ausstellung, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, Mailand 1988. 18 Vgl. Könneke, Achim: »Clegg & Guttmann: Die Offene Bibliothek. Beispiel einer erweiterten Kunst im öffentlichen Raum«, in: Clegg & Guttmann. Die Offene Bibliothek, Ostfildern 1994, S. 7-12, insbes. S. 8.
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Projektbeschreibung In drei von der Sozialstruktur ihrer Bevölkerung sehr unterschiedlichen Hamburger Stadtteilen – Volksdorf (gehobene Mittelschicht), Barmbek (Angestelltenmilieu), Kirchdorf Süd (Arbeitermilieu) – wurden ehemalige Stromkästen mit Glastüren und Regalböden versehen und so zu offenen Bibliotheken umfunktioniert. Bestückt wurden sie mit Büchern, die von Bewohnern aus dem jeweiligen Umfeld eingesammelt worden waren. Ein an den Kästen angebrachtes Schild wies in deutscher, englischer und türkischer Sprache auf die Nutzungsbedingungen hin: »Entnehmen Sie bitte die Bücher Ihrer Wahl und bringen Sie diese nach einer angemessenen Zeit zurück. Ergänzungen des Bücherbestandes sind willkommen.« Name und Telefonnummer verwiesen auf die Kulturbehörde und den Kunstverein Hamburg. Die Namen der Künstler wurden an dieser Stelle nicht erwähnt. Den Beginn des Projekts bildete die Eröffnungsausstellung des neuen Gebäudes des Hamburger Kunstvereins am Klosterwall »Backstage«. In der Ausstellung wurde ein Informationsraum eingerichtet, der anhand von drei Fotos der Bibliotheksstandorte vor ihrer Aufstellung, einer Replik eines noch unveränderten Stromkastens sowie an Tischen einsehbarem Text- und Datenmaterial über die Standorte der Bibliotheken informierte. Organisatorisch und dokumentarisch begleitet wurde das Projekt von einem Forschungsseminar der Universität Lüneburg. Neben dem Einsammeln der Bücher übernahmen es Studierende des Seminars in Absprache mit den Künstlern, den Buchbestand und dessen Veränderung während der Laufzeit des Projekts (10.9.-30.10.1993) zu erfassen, Interviews mit Anwohnern, Nutzern und Passanten zu führen, sozialräumliche Daten über Hamburg auszuwerten und das Kunstpublikum im Kunstverein zu dem Projekt zu befragen.
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Abbildung 16: Clegg & Guttmann, »Die Offene Bibliothek«, Standorte in Barmbek und Kirchdorf Süd, Hamburg 1993
Die Analyse des Projektverlaufs förderte je nach Bibliotheksstandort unterschiedliche Ergebnisse zutage: Die Bibliotheken in Volksdorf und Barmbek wurden bis zum Ende rege genutzt, in Kirchdorf Süd waren bereits bei der ersten Stichprobe so gut wie keine Bücher mehr vorhanden. Nachdem der Kasten außerdem beschädigt und demontiert worden war, entschied man, die Bibliothek in Kirchdorf vorzeitig zu schließen. In Volksdorf lag der durchschnittliche Buchbestand bei gut 400 Büchern und stieg gegen Ende auf über 500 an. Nur 2% des Anfangsbestands blieben bis zum Ende, woraus man ein reges Tauschverhalten schließen kann. In Barmbek waren 8% der ursprünglich gestifteten Bücher am Ende noch vorhanden, während der Bestand im Schnitt zwischen 120 und 280 Büchern lag.19 Zwei theoretische Bezugnahmen Zu auffällig divergenten Bewertungen und Einordnungen des Projekts gelangen der Künstler und Kunsttheoretiker Michael Lingner und der Soziologe und Leiter des Lüneburger Forschungsseminars Ulf Wuggenig. Ich 19 Eine detaillierte Auswertung aller Daten sowie Texte der Künstler und kunsthistorische, rezeptionstheoretische und sozialwissenschaftliche Beiträge finden sich in einer abschließenden Publikation des Projekts, welche die Kulturbehörde in Zusammenarbeit mit der Universität herausgab.
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möchte diese Kontroverse dazu nutzen, das Projekt näher zu untersuchen. Beide Autoren verraten durch das Aufgreifen bestimmter Begriffe und durch mehr oder weniger direkte Kritik am jeweils anderen Standpunkt, dass sie sich aufeinander beziehen und voneinander abzugrenzen versuchen. Eine dialogische Interpretation ist daher möglich. Ausgangspunkt für Lingner ist die Beobachtung, dass Die Offene Bibliothek so angelegt ist, dass »sich das Publikum daran unvorbelastet von irgendeinem Kunstanspruch beteiligen kann« und es »zunächst der außerästhetische Gebrauchswert als Bibliothek« ist, »der die Einstellungen zu der Arbeit bestimmt.«20 In der Möglichkeit, es »als eine Art Sondersoziotop« beobachten zu können, sieht Lingner das große Interesse von Seiten der Soziologie begründet, vermutet aber in der involvierten Begleitforschung eine Prägung, wenn nicht gar Gefährdung der künstlerischen Aspekte des Projekts. 21 »Dem wirklichen Wert der ›Offenen Bibliothek‹, der darin liegt, daß sie tatsächlich als ein Instrument ästhetischer Praxis genutzt wird, steht die im Zusammenhang mit dem Projekt von einer universitären Arbeitsgruppe betriebene Sozialforschung konträr entgegen. [...] Objekte positivistischer Wissenschaft können nicht zugleich Subjekte ästhetischer Prozesse sein.«22
Wuggenigs Replik auf diesen Vorbehalt lautet: »Es stellt sich auch die Frage nach den Effekten der Forschung selbst. Clegg & Guttmann z.B. sprechen den ›studentischen Aktivismus‹ an. Tatsächlich war die Identifikation mit dem Projekt ungewöhnlich groß. Wenn es einen Einfluß auf den Verlauf des Projekts gab, dann am ehesten in Richtung der Förderung seiner Akzep-
20 Lingner, Michael: »Ermöglichung des Unwahrscheinlichen. Von der Idee zur ästhetischen Handelns bei Clegg & Guttmanns Offener Bibliothek«, in: C&G (1994), S. 47-52, insbes. S. 47. 21 Ebda., S. 48. 22 Lingner, Michael: »Clegg & Guttmanns ›Offene Bibliothek‹. In Assoziation mit der Kulturbehörde und dem Kunstverein Hamburg 10.9.-30.10.1993«, in: KUNSTFORUM International, Das neue Bild der Welt. Wissenschaft und Ästhetik, Bd. 124, Nov./Dez. 1993, S. 392-394, insbes. S. 393.
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tanz, zumal die Forschung von den befragten Nutzern nicht als Kontrolle empfunden wurde.«23
Lingners Einwand, das Projekt von Clegg & Guttmann sei bereits als Sozialsystem nicht als fixe Größe zu betrachten, gilt aus seiner Sicht erst recht für dessen Kunststatus. Denn: »In postontologischen, auf Mehrfachcodierung ausgelegten Kunstkonzeptionen, gibt es keine Werke noch ihnen kraft künstlerischer Formung verliehene materiale Eigenschaften, an denen sich die ästhetische Qualität als ein Faktum objektivieren ließe und aufgrund dessen sich etwas von selbst als Kunst verstünde.«24
Wuggenig entgegnet, indem er auf das postontologische Selbstverständnis universitärer Sozialforschung hinweist. Parallel zu den Anliegen der Avantgarde sehe sich diese dem Postulat der Offenlegung der Repräsentation verpflichtet.25 »Eine der gängigen Unterscheidungen zwischen Kunst und Wissenschaft [...] weist der Wissenschaft z. B. die Suche nach der Wahrheit über die Welt zu, der Kunst hingegen den ästhetischen Ausdruck von Visionen. Handelt es sich bei den künstlerischen Visionen aber nicht oft um eine Suche nach der Wahrheit über die Welt, und beinhalten die wissenschaftlichen Entdeckungen nicht oft starke Elemente persönlicher Vision?«26
Noch aus einem anderen Grund hält der Soziologe die Gefährdung des Kunststatus durch die Nähe zur Wissenschaft für unbegründet. Bereits seit den 1970er Jahren sei festgestellt worden, dass »es der Diskurs und der in-
23 Wuggenig, Ulf/Kockott, Vera/Symens, Kathrin: »Die Plurifunktionalität der Offenen Bibliothek. Beobachtungen aus soziologischer Perspektive«, in: C&G (1994), S. 57-93., insbes. S. 90. 24 Lingner, in: C&G (1994), S. 48. 25 Wuggenig/Kockott/Symens, in: C&G (1994), S. 59. 26 Wuggenig, Ulf: »Kulturelle Praxis, sozialer Raum und öffentliche Sphäre«, Vortrag im Rahmen des Symposiums »Andere Orte. Öffentliche Räume und Kunst« im Kunstmuseum des Kantons Thurgau, Kartause Ittingen, http://www.visarte ost.ch/andereorte/texte/uwuggenig/uwkult_5.htm (Oktober 2010).
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stitutionelle Kontext [sind], die über die Bedeutung kultureller Produktion entscheiden«.27 Genau von dieser Delegation der Entscheidung über den Kunststatus wendet sich Lingner ab, wenn er schreibt: »Vor der Zurechnungsproblematik, wie sie sich aus der Entmaterialisierung des Ästhetischen ergibt, stehen die auf Kunst spezialisierten Ausstellungsinstitutionen gleichermaßen, so daß es keinen Grund gibt, sich auf deren Unterscheidungsvermögen zu verlassen.«28
Lingner, der sich nicht mit einer bloß kunstsystemimmanenten Bedeutung des Projekts als neue künstlerische Möglichkeit, soziale Verhaltensweisen zu untersuchen, zufrieden geben will, folgert, es sei den kunstbezogenen Wissenschaften überantwortet, die »ästhetische Differenz sprachlich zu konstituieren und eine Unterscheidung zwischen ästhetischem und anderem Handeln einzuführen« Hierin ähnelt seine Auffassung der des Pragmatisten John Dewey, der eine ästhetische Theorie als wertlos erachtet hatte, »wenn sie uns nicht die Funktion der Kunst im Vergleich zu anderen Formen der Erfahrung erkennen läßt«.29 Clegg & Guttmann’s konzeptionelle Grundüberlegungen weisen in eine ähnliche Richtung. Sie schreiben: »Was sind die Vorbedingungen, unter denen ein Publikum zu einem Kunstpublikum wird? Wann wird eine Alltagserfahrung, mit der eine Gruppe von Menschen vertraut ist, zu einer ästhetischen Erfahrung?« 30 Lingner zufolge ist es kennzeichnend für das Projekt, dass es die »Ausbildung eines autonomen, spielerisch und ästhetisch bestimmten Umgangs mit dem Kulturgut ›Buch‹« ermögliche. Die Nutzer der Offenen Bibliothek hätten außerhalb von »üblicherweise bestimmenden sinnlichen Bedürfnissen, rationalen Zwecken oder moralischen Normen« die Möglichkeit, »daß sie ihr Verhalten im Prinzip weitestgehend selbst bestimmen, wie es sonst allein Künstlern für ihr Schaffen vorbehalten ist.«31 Entscheidend hierfür sei das Angebot eines Handlungsrahmens, der
27 Wuggenig/Kockott/Symens, in: C&G (1994), S. 69. 28 Lingner, in: C&G (1994), S. 48. 29 Dewey (1980), S. 19. 30 Clegg & Guttmann: »Bemerkungen zur Offenen Bibliothek«, in: dies. (1994), S. 27-30, insbes. S. 30. 31 Lingner, in: KUNSTFORUM (1993), S. 394.
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aus »wohlvertrauten Lebenszusammenhängen« stamme, das Handeln aber in ein »ästhetisches Handeln« umwandele, weil die Beteiligten sich in die Lage versetzt sähen, »andere Gesichtspunkte für ihre Entscheidungen zu generieren«.32 Damit stellt Lingner die Nutzung der Bibliothek in Zusammenhang mit dem Konzept von ästhetischer Erfahrung, so wie es Kant in der »Kritik der Urteilskraft« theoretisch festgelegt hatte und für deren Zustandekommen Interesselosigkeit unhintergehbare Bedingung ist. Allerdings hebt er hervor: »Anders als beim klassischen Kunstbegriff vollzieht sich die Kommunikation nicht in einer einsamen, kontemplativen Auseinandersetzung mit dem Werk, sondern entwickelt sich als sozialer Prozeß zwischen den Beteiligten, indem sie sowohl sprachlich über, als auch handelnd mittels der Objekte interagieren.«33
Objektiviert durch die Ergebnisse der Befragungen gibt Wuggenig ein ganzes Bündel von Erfahrungen an, die für die verschiedenen Nutzer der offenen Bibliothek eine Rolle gespielt haben, und grenzt diese von einem einheitlichen Konzept der »ästhetischen Erfahrung« im Sinne Lingners ab: »Es waren aber weder die der modernistischen Ästhetik teuren ›ästhetischen Erfahrungen‹ und ›interesselosen‹ Einstellungen, noch utilitaristische Gesichtspunkte, wie die Möglichkeit, günstig an Bücher zu gelangen, die die starken Bindungen an das Projekt erzeugten. Im Vordergrund standen vielmehr die Symbolisierungen bzw. Realisierungsmöglichkeiten von Werten – von sozialem wie solidarischem Tausch, Vertrauensvorschuss oder Kommunikation genau so wie von individualistischen, wie Abwesenheit von Regulierung und sozialer Kontrolle, Möglichkeiten für spontanes Handeln, Freiheit, Anarchie. Nicht selten wurde auch die Erfahrung angesprochen, dass eine utopische Institution dieses Typs, die die freiwillige Kooperation einer Vielzahl von Individuen voraussetzt, so lange Zeit überleben kann. Fragen der Qualität des Bücherbestandes waren demgegenüber nachrangig.«34
Lingners Interpretation stößt bei Wuggenig auf scharfe Kritik:
32 Lingner, in: C&G (1994), S. 51. 33 Ebda. 34 Wuggenig (Oktober 2010).
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»Angesichts der Deutung der Arbeit von Clegg & Guttmann als einer in kantianischer Tradition an Reinheit orientierten Kunst (ohne Vermischung mit Moral, Politik, theoretischer Vernunft etc.), als einer Apotheose des Individualismus – des sozial ungebundenen Selbst, des Prinzips der freien Wahl, der Konsumentensouveränität – [...] stellt sich die Frage, ob es sich bei dieser Interpretation noch um einen der mehr oder weniger passenden Rahmen handelt.«35
Wuggenig führt weiter aus, er selbst habe sich bei seiner soziologischen Interpretation auf einen bestimmten Aspekt des Projekts beschränkt. In Bezug auf die kunstimmanente Bedeutung kommt er zu dem Schluss: »Clegg & Guttmanns Projekt demonstriert, daß es möglich ist, die Enklave der Kunst zu verlassen. Neben dem Museumspublikum wurden auch Teile der Bevölkerung, die im sozialen Raum in denkbar großer Distanz zu Kunstproduzenten und zur Museumskunst stehen, erreicht. Es zeigte sich, dass von kleinen künstlerischen Interventionen Impulse für die Selbstorganisation und für die Herstellung von Öffentlichkeiten ausgehen können [...].«36
Diese vom Ende oder Resultat ausgehende Bewertung impliziert dessen Verständnis als experimentelle Untersuchung in Hinblick auf die Chancen seines »demokratisch-kollektiven« Projekts. Wuggenig bezieht sich entsprechend auf andere von den Künstlern formulierte Ausgangsfragen als Lingner. Er identifiziert sich eher mit den sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungsansätzen: »[...] what happens when you leave books unprotected by guards or librarians? How will people react to such an utopian proposition? People are very opinionated about questions like that. But they have no data to rely on. We wanted to find out what the real situation was.«37
35 Ebda. 36 Ebda. 37 Clegg & Guttman zit. n.: Wuggenig/Kockot/Symens, in: C&G (1994), S. 57.
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Die Studien der Forschungsgruppe unterstützten genau dieses Anliegen, anhand der Bibliotheken ein »Portrait einer Gemeinschaft« zu erstellen, indem sie ihm mit detailliertem Material zur Objektivierung verhalfen.38 Grenzen der interpretatorischen Zugriffe Ob und in welcher Weise mit dem Projekt ein Beitrag zu einer neuen Form von Kunstvermittlung geleistet wurde, dazu äußert sich Wuggenig nicht, weist aber darauf hin, dass es den Künstlern auch um eine »kritische Hinterfragung der ›institutionellen Definition‹ von Kunst« gegangen sei. Das heißt, obwohl er seinen Forschungsansatz als Parallelunternehmen zu den repräsentationskritischen Anliegen der Künstler beschreibt, geht er nicht so weit, die Definitionsmacht des Diskurses in Frage zu stellen. Im Unterschied dazu ist es Lingner, der genau diese Stoßrichtung des Projekts zum Anlass nimmt, nach den Einzelerfahrungen der Beteiligten zu fragen, deren spezifisch ästhetische Dimension zu untersuchen und letztlich herauszuarbeiten, ob sie eine vom institutionellen Rahmen unabhängige Kunstdefinition ermöglicht. Dennoch geht er an keiner Stelle auf die konkreten Entscheidungen des Bibliothekspublikums ein. Weder bezieht sich auf den Abbruch des Projekts in Kirchdorf Süd, noch zieht er Folgerungen aus dem unterschiedlichen Verlauf in den verschiedenen Stadtteilen. Lingners Setzung, Die Offene Bibliothek eröffne ihren Nutzern die Möglichkeit von freier Wahl und die Wahrnehmung eigener Vorlieben, ist darüber hinaus relativ fraglich.39 Denn: Ist es für die Frage nach dem ästhetischen Handeln
38 An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass ich an der studentischen Arbeitsgruppe beteiligt war. Aus meiner Perspektive ist unsere Präsenz vor Ort zu wenig dazu genutzt worden, um auf den künstlerischen Aspekt des Projekts hinzuweisen und die jeweiligen Kunstbegriffe der Beteiligten zu thematisieren. Auch hätte es interessant sein können, die Nutzer und Anwohner verstärkt darauf hinzuweisen, dass in anderen Stadtteilen ebenso Offene Bibliotheken aufgestellt worden waren. Aus heutiger Perspektive hätte ich es notwendig gefunden, dass wir Seminarteilnehmer – gerade weil es ein hohes Engagement für das Projekt gab – unsere eigene Rolle und das Verhältnis zu den Nutzern vor Ort, aber auch zu allen anderen Beteiligten stärker reflektiert hätten. 39 Bedenkt man beispielsweise das Angebot in herkömmlichen öffentlichen Büchereien, welches den Leihnehmern ein wesentlich breiteres Angebot zur Ver-
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nicht relevant, ob das beteiligte Publikum selbst das Projekt mit Kunst assoziiert? Was sagt es für das Entstehen solcher Wahrnehmungen aus, dass – hiernach gefragt – in Volksdorf die Hälfte und in Barmbek nur ein Viertel der Befragten künstlerische oder ästhetische Aspekte in dem Projekt gesehen hatten? Bisher lässt sich feststellen, dass die beiden interpretatorischen Zugriffe schon insofern schlecht vereinbar sind, als sie sich von vornherein auf jeweils andere Aspekte des Projekts konzentrieren. Fasst man die verschiedenen Dimensionen des Projekts zusammen, so wie sie von den Künstlern formuliert wurden, ergibt sich folgende Listung: 1. Experiment mit einer ›radikal-demokratischen‹ Einrichtung: Erlauben die objektiven, gesellschaftlichen Bedingungen, dass derlei Einrichtungen Bestand haben? 2. Portraitgedanke: Selbstreflexion im Sinne von Öffentlichkeitsvorstellungen des Publikums (Beteiligte und Kunstpublikum) 3. soziale Skulptur: Enthüllung der Binnenstruktur der verschiedenen beteiligten Institutionen (Kulturbehörde, Kunstverein, private Kunstagentur, Universität, drei Standorte) 4. Umkehrung des ready-made Konzepts: Lässt sich ein Objekt mit einem Gebrauchswert und einer nicht-künstlerischen Identität in ein Kunstobjekt verwandeln, ohne es in eine bestehende Kunsteinrichtung zu integrieren? (Voraussetzung: Nicht die Kunstinstitution, sondern das selbstbewusste Kunstpublikum ist für die Verwandlung verantwortlich.) 5. Aktivismusstiftende Funktion: Sowohl die Studierenden als auch die Anwohner zeigten eine ungewöhnlich hohe Aktivität bei der Betreuung des Projekts und den Versuchen, es zu erhalten.40 Dieser plurifunktionale Charakter der Offenen Bibliothek ist von verschiedenen Seiten positiv hervorgehoben worden und trug vermutlich zu ihrer ungewöhnlich breiten, von sozialem Hintergrund weitestgehend unabhän-
fügung stellt und insofern davon auszugehen ist, dass den Nutzern ein höheres Maß an freier Wahl zugebilligt wird. 40 Vgl. Clegg & Guttman, in: dies. (1994), S. 27-30.
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gigen Akzeptanz bei.41 Andererseits legt – das wird am Beispiel von Wuggenig und Lingner deutlich – die Plurifunktionalität interpretatorische Zugriffe nahe, die eine Dimension in den Vordergrund stellen, ohne die anderen Aspekte in die Bewertung einzubeziehen. Dabei entsteht die Frage, ob alle Dimensionen des Projekts gleichrangig in der Anlage der Künstler berücksichtigt wurden oder ob die verschiedenen Funktionen miteinander in Widerstreit stehen. Für partizipatorische Projekte gilt, dass die Vorstellungen der Initiatoren von der jeweils adressierten Gruppe das Geschehen im Vorfeld entscheidend determinieren. Monika Schwärzler spricht bei Projekten mit partizipatorischem Charakter vom »richtigen Design des Anderen« in der präproduktiven oder Konzeptionsphase: »Gerade weil sie in der Realität als Partner, Mitspieler, Gegenüber noch keine feste Form angenommen haben, fließen in ihr Design hohe Anteile des Imaginären ein.«42 Die Offene Bibliothek stellt hier keine Ausnahme dar. Einerseits bewahrt die zeitgleiche Durchführung des Projekts in gleichem Format und mit drei ausgewählten verschiedenen Zielgruppen ein gewisses Maß an Neutralität in Bezug auf die potenziellen Nutzer. Wuggenig betont denn auch, die Portraitierung der »Gemeinschaften« der jeweiligen Stadtteile sei nicht vom ›positiven‹ Verlauf des Projekts abhängig. Für die kontextbezogene Forschung sei das Auftreten von Vandalismus oder Zerstörung nicht weniger aufschlussreich als die harmonische Integration der Bibliotheken in den sozialen Kontext.43 Aufgrund des sehr unterschiedlichen Verlaufs der drei Bibliotheken verwirft Wuggenig schließlich doch den Gemeinschaftsbegriff und spricht von einem »Portrait von Gesellschaft«: Gespalten entlang differentiellen Kapitals, fragmentiert an der Basis, nach oben hin zunehmend stärker verbunden.44 Das darf andererseits aber nicht über den motivierten Charakter des Projekts hinwegtäuschen. Von Anfang an verfolgten die Künstler mit der Offenen Bibliothek aber ebenso die konkrete Erprobung einer Alternative zu herkömmlichen, von ihnen als restriktiv und bürokratisch stigmatisierten
41 Eine plurifunktionale Arbeit bedient gleichzeitig extrem divergierende Geschmackskulturen. Vgl. Wuggenig/Kockott/Symens, in: C&G (1994), S. 68. 42 Schwärzler, Monika: »Bedürftige, alter egos, schöne Unbekannte. Vom richtigen Design des Anderen in partizipatorischen Kunstprojekten«, in: Rollig/Sturm (2002), S. 148-160, insbes. S. 148. 43 Wuggenig (Oktober 2010). 44 Ebda.
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öffentlichen Bibliotheken. Selbst Wuggenigs Interpretation unterliegt noch der von den Künstlern gemachten Prämisse, Die Offene Bibliothek berge ein Gemeinschaft stiftendes Potenzial in sich. Denn nur vor dem Hintergrund dieser Annahme werden die Anwohner-Reaktionen als Zeichen ›fragmentierter‹ oder ›verbundener‹ Sozialstruktur les- und bewertbar. Durchaus denkbar wäre aber ein Setting gewesen, welches sich z. B. nicht an die Aktivität ›Bücher lesen und ausleihen‹ geknüpft und im Widerspruch zur ›legitimen Kultur‹ gestanden hätte, und somit andere Formen von Gemeinschaft provoziert und damit auch andere Ergebnisse zutage gefördert hätte.45 Die positive Resonanz und höchste Identifikation mit dem Projekt in Volksdorf – dem Stadtviertel mit dem höchsten kulturellen und finanziellen Kapital – ist also eher als Zeichen für die hohe Übereinstimmung der hier lebenden Bevölkerung mit den typisierten Gemeinschaftsvorstellungen der Künstler zu werten. Die Bedingungen für Gemeinschaftsbildung der in Kirchdorf Süd lebenden Bevölkerung wurden weniger gut getroffen und scheinen von den Idealen der Künstler abzuweichen. Versteht man die Bibliotheken nicht nur als Kommunikationssystem der Nutzer, sondern auch als Dialog der Nutzer mit dem von den Künstlern zur Verfügung gestellten Entwurf, dann zeigt sich, dass die Konzeption der Offenen Bibliothek und die damit verbundenen Ideen über direkte Demokratie von den sozialen Dispositionen ihrer Initiatoren nicht frei sind. In Bezug auf den von den Künstlern oben angeführten Portraitgedanken (2.) ist zu sagen, dass er alle am Projekt Beteiligten einschließlich der Künstler betrifft.46 Letztere be-
45 Dafür spricht, dass die Anzahl der durchschnittlich gespendeten Bücher in Volksdorf die Anzahl der Bücher in Kirchdorf wesentlich überstieg und der Anfangsbestand den Wunschvorstellungen in Bezug auf die vertretenden Buchsorten in Volksdorf von allen drei Standorten am nächsten kam. Vgl. Grafik XII, in: C&G (1994), S. 83. 46 Hierin bestünde auch die Verbindung zu den fotografischen Gruppenportraits von Clegg & Guttmann, für die der Kampf um die Bedeutung zwischen Portraitierenden und Portraitierten maßgeblich ist. Den Entstehungsprozess der Auf tragsportraits beschrieben die Künstler wie folgt: »Es ist ein Machtkampf. (...) Sie versuchen, uns ein von ihnen gewünschtes Image aufzuzwingen. Wir versuchen, sie dazu zu bringen, sich in unsere Komposition zu einzufügen. Wenn die Kämpfer gleich stark sind, ist das Ergebnis in Ordnung.«, Clegg & Guttmann,
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haupten zwar, dass sie sich beim Nachdenken über die Kunstinstitution »von der Frage nach der Kunsterfahrung und dem Kunstpublikum leiten« ließen, wobei das »Konzept der direkten Demokratie als Inspiration« gedient habe. Tatsächlich sind aber verschiedenen Publika unterschiedliche Versionen des Projekts zur Verfügung gestellt worden. Während die Stadtteilbewohner über die Nutzung der Bibliothek einen Zugang erhielten, oblag es dem Kunstpublikum im Kunstverein, sich einen Überblick über das Gesamtprojekt zu verschaffen. Dies hebt die Umkehrung des ready-made Konzepts (4.) auf, denn es erlaubt – ganz im Sinne Duchamps –, die Aktivitäten im Außenraum zur Kunst zu erklären. Lingner begreift Die Offene Bibliothek als Nachfahrin der auf Publikumsbeteiligung angelegten Prozesskunst der sechziger Jahre. Allerdings sei hier der Anspruch, das Publikum zu unwahrscheinlichen Handlungen herauszufordern, nicht nur als Ideal formuliert, sondern »das selbstbestimmte Handeln des Publikums tatsächlich praktizierbar« gemacht worden. Wie Clegg & Guttmann selbst ausführen, bildet Die Offene Bibliothek als »ungewöhnlicher Vorschlag« für die zu vollziehende Kunsterfahrung die Basis.47 Wie sich zeigt, hat zwar das Experiment mit einer »radikal demokratischen Einrichtung« (1.) deren Funktionieren nicht notwendig zur Voraussetzung, für das Zustandekommen der außerinstitutionellen Kunsterfahrung (der Nutzer) (4.) ist es aber absolute Bedingung. Denn nur unter der Voraussetzung, dass sich Die Offene Bibliothek als funktional beweist, kann es zu einer Kunsterfahrung überhaupt kommen.48 Die mikropolitische Erprobung di-
in: »Interview 87. David Robbins«, Wolkenkratzer, in: C&G (1988), S. 34. Die Künstler selbst sind allerdings bemüht, die Bibliotheken durch ein geringeres Maß an Kontrolle und persönlicher Beteiligung von ihren früheren Arbeiten abzugrenzen. 47 Clegg & Guttmann, in: C&G (1994), S. 30. »Als man an diesem Aspekt erstmal Gefallen gefunden hatte, verlieh das Moment der Selbstreflexion, die durch das Projekt möglich geworden war, der Behauptung Gewicht, daß es interessant ist, das Projekt als Kunst zu betrachten.« Ebda. 48 Dass Letzterem u. U. sogar von vornherein weniger Bedeutung zugemessen wurde, liegt auch insofern nahe, als die Künstler keinerlei zusätzliche Anstrengungen unternahmen, in Kirchdorf Süd doch noch dafür zu sorgen, die Bedin-
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rekter Demokratie entwirft und etabliert ein eigenes soziales Regelsystem, welches sich bewusst von eingeübten und gesellschaftlich sanktionierten Verhaltensweisen absetzt. Das mit wissenschaftlichen Mitteln unterstützte Portrait versucht die sozialen Verhältnisse, wie sie sind, aufzuzeichnen. Zusammengefasst lässt sich formulieren: Der Anspruch an die Erprobung direktdemokratischer Institutionen (Bibliothek, Kunstinstitution) im Sinne einer Verteilung gleicher Chancen ist mit dem des Portraits, der mit der Heterogenität von Ergebnissen rechnet, schwer bis nicht vereinbar. An dieser Stelle treffen auch zwei sehr unterschiedliche Kunstbegriffe aufeinander: Das Portraitieren eines Ist-Zustandes – Kunst als Spiegel der Welt – und die Erarbeitung und Erprobung einer (utopischen) Alternative stehen sich gegenüber. Der Vermittlungsinhalt ist entsprechend auch ein anderer: Im ersten Fall geht es darum, einem Publikum einen Spiegel vorzuhalten bzw. Mittel zu finden, eine Wirklichkeit sichtbar zu machen. Im zweiten Fall wird dem Publikum die Möglichkeit einer anderen als der üblichen Praxis nahegebracht, indem es an einer solchen – wie modellhaft auch immer – teilhaben kann. Beide Kunstbegriffe schließen sich aus, werden aber gleichermaßen von Clegg & Guttmann beansprucht.
M ICHEL C HEVALIER : UNLIMITED LIABILITY
(2006-2010)
Das Projekt unlimited liability beansprucht ebenso, ein real-utopischer Versuch zu sein, der sich unter den bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen zu bewähren hat. Der Initiator, Michel Chevalier, charakterisiert es folgendermaßen: »Seine performative, ritualistische Dimension ermöglicht es uns, die ökonomische Praxis der freien Marktwirtschaft zu verlassen.«49 Auch unlimited liability experimentiert mit den institutionellen Bedingungen einer verbreiteten Kulturtechnik. Ging es bei der Offenen Bibliothek um eine andere Form von ›Bücher ausleihen und lesen‹, so widmet sich unlimi-
gungen für die Kunsterfahrungen zu erfüllen. Sie zogen es vor, das Ergebnis im Sinne des Experiments unverfälscht stehenzulassen. 49 Chevalier, Michel/Sollfrank, Cornelia: »Unlimited Liability Eine Kunsthandlung, die nicht an Reiche verkauft. Ein Gespräch«, in: http://thing-hamburg.de/index.php?id=692&no_cache=1&sword_list[]=chevalier (Juli 2007), zuerst erschienen in: ART PAPERS, (Atlanta) September/Oktober 2007, S. 44-49.
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ted liability dem ›Kunst produzieren, anschauen und kaufen‹. Konzeptionell setzt das Projekt an der Kritik an bestimmten Regeln der Kunstdistribution und -vermittlung im herrschenden Kunstbetrieb an und operiert auf verschiedenen Ebenen mit der Umkehr dieser Regeln. Die zugrundeliegende Haltung Chevaliers geht davon aus, »dass es einfach für Künstler ist, die Welt in Frage zu stellen«, dass es aber notwendiger wäre, »dass sie die Welt der Kunst in Frage stellen.«50 Projektbeschreibung In den Sommermonaten 2006 bis 2010 nahm Chevalier in einer ihm kostenlos zur Verfügung gestellten Souterrainwohnung im so genannten Münzviertel Hamburgs51 einen Laden in Betrieb. Die in dem Laden zum Erwerb präsentierten Objekte wurden von Künstlern aus Hamburg, aber auch aus dem Ausland zur Verfügung gestellt. Der an sie herangetragene Auftrag war, Multiples zum Verkaufspreis von 0 bis zu 30 EUR einzureichen oder extra für diesen Zweck herzustellen.52 Einzige zugrundeliegende Regel: Es sollte sich bei den Objekten nicht um Zeichnungen oder Malerei handeln. 53 Im Sommer 2006 (10.06. bis
50 Chevalier, Michel: »Manuskript«, in: Summit of Interventionist Art, Forde/Genf 2003, o. Seitenangabe. 51 Das Viertel ist in der Nähe des Hauptbahnhofs gelegen und umfasst wenige Wohnstraßen, die von verkehrsreichen Ausfallstraßen und einer S-Bahntrasse gesäumt werden. Es weist eine heterogene Bevölkerungsstruktur auf und ist durch ein relativ hohes Aufkommen von Bildungs- und Sozialeinrichtungen geprägt: So z.B.eine Anlaufstelle für Drogenabhängige, Wohn- und Betreuungseinrichtungen für (ehemalige) Obdachlose, eine Jugendwerkstatt, eine Schule für Hörgeschädigte. 52 Die Künstler erhielten 100% ihrer Verkaufserlöse. 53 Chevalier begründet diese Entscheidung wie folgt: »Malerei und Zeichnung sind ausgeschlossen, weil diese Medien auf dem Kunstmarkt sehr präsent sind, wo sie in den letzten Jahren ein großes Comeback erlebt haben. Ich wollte in gewisser Weise den Advocatus Diaboli spielen. Viele MuseumsdirektorInnen machen große Malereiausstellungen mit der pseudo-populistischen Begründung ›Wir finanzieren uns aus öffentlichen Mitteln und Malerei ist das, was die breite Öffentlichkeit sehen will (außerdem versteht sie diesen konzeptuellen Kram sowie-
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02.07.) nahmen 52 Künstler, Musiker, Schriftsteller oder auch Gruppen, Labels oder Verlage teil. Im Sommer 2007 (09.06. bis 12.08.) waren es 71. Die Zahl stieg in der Folge weiter an. In einer Mischung aus Shopkeeper und Kurator bereitete Chevalier den Rahmen. Dabei war die Wahl des Ortes nicht unerheblich. Abbildung 17: Michel Chevalier: »unlimited liability« (Innenansicht), 2007
Die Ladenwohnung mit vier Räumen und einem Flur weist deutliche Spuren ihrer vormaligen Bewohner und des länger währenden Leerstandes auf. In allen Zimmern beherrschen zum Teil abgerissene, farbige Mustertapeten aus den siebziger Jahren den Raumeindruck. Wasserschäden von einer vergangenen Überschwemmung und die Überreste entfernter Auslegeware vermitteln den Eindruck einer verlassenen und verwahrlosten Situation und rufen Vorstellungen über die vormalige private Nutzung der Räumlichkeiten hervor. Der starke atmosphärische Eindruck, dem man sich nur schwerlich entziehen kann, kreiert eine Art Environment. An den Wänden oder in
so nicht)‹. Eine groteske Argumentation, weil es aus meiner Sicht grade die Oberschicht ist, die nach dieser vermeintlich sinnlicheren Kunst verlangt, einer Produktion die einen Geniekult ermöglicht.«, in: Chevalier/Sollfrank (Juli 2007).
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Regalen, die Chevalier auf der Straße gefunden, auf Flohmärkten erworben und teilweise hergestellt hat, sind die Verkaufsobjekte präsentiert. Es gibt ein großes Angebot von Fotos, Stickern, Buttons, Heftchen und Zeitschriften, Postkarten, Editionen, Lichtobjekten, Plakaten, Essbarem, Schallplatten, CD’s u. v. m. Abspielstationen in einem kleinen Seitenraum bieten die Möglichkeit, DVD’s anzuschauen oder Musik anzuhören. Alle Gegenstände sind mit einer Ziffer markiert, die auf einem im Eingangsraum erhältlichen Inventar über Autor, Titel und Preis der Arbeit Auskunft geben. Obwohl die sorgfältige Präsentation der Multiples durchaus einen Ausstellungscharakter hat, verhindert die ungewöhnliche Atmosphäre die für die cleanen ›white cube‹-Situationen typische Distanznahme der Besucher. Auch weil die Gegenstände zum Verkauf angeboten werden, ist es hier selbstverständlich, die Dinge in die Hand zu nehmen und von Näherem anzuschauen, in Büchern zu blättern, nach der Funktion der teilweise recht skurrilen Artefakte zu fragen und sich ihnen unter dem Aspekt der Nutzung zu nähern. Über dem Ladentisch im ersten Raum hängt ein Plakat, auf dem folgende programmatischen Regeln zu lesen sind: »unlimited liability (unbeschränkte Haftung) folgt nicht den Konventionen der ›freien Marktwirtschaft‹. Wenn Sie mehr als 50.000 EUR Vermögen haben, können Sie hier nicht einkaufen, sich aber gern umschauen. Wenn Sie weniger als 50.000 EUR Vermögen haben, sollten Sie bevor Sie zahlen, Folgendes tun: Zeigen Sie einen Identitätsausweis vor. Dieser wird (beim erstmaligen Kauf) kopiert. Unterschreiben Sie den Vertrag, der die Geschäftsbedingungen enthält. DVD Spieler; Monitor und Stereo stehen zu Ihrer Verfügung, um Musik und DVDs in Ruhe auszutesten.«
Arbeit an den Regeln Als Grund für diese Regeln, bei denen die gewöhnlichen Rollenverteilungen umgekehrt werden (die Mehrheit darf nur schauen, nur wenige können sich einen Kauf leisten), gibt Chevalier an: »Ich wollte einen Kontext schaffen, in dem Künstler herausgefordert sind, ihre Arbeiten zu verkaufen, ohne an die strukturelle Abhängigkeit von der Spitze der Ge-
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sellschaft gebunden zu sein. Was den Ausschluss von Sammlern betrifft, geht es nicht darum, Leute mit einem bestimmten Lebensstil zu bestrafen. [...] Was ich versuche ist, innerhalb der dominanten gesellschaftlichen Gruppen, diejenigen zu isolieren, die den Hebel in der Hand halten, und etwas Licht auf den hässlichen Umstand zu werfen, der in der Kunsthochschule selten thematisiert wird: die Käufer, nach denen die Galerien ihre Arme ausstrecken, sind dieselben Leute, die die neoliberale Politik vorantreiben.«54
Neben der konzeptuellen Logik,55 wie sie Chevalier hier erläutert, ist für das Projekt entscheidend, wie die Besucher des Ladens mit den Regelveränderungen beim Kaufen konfrontiert werden. Vor dem Erwerb werden direkte Fragen nach dem ökonomischen Hintergrund des Käufers zum Thema gemacht und damit ein Tabu berührt, welches nicht nur in der Kunstwelt vorherrscht. Das im Vergleich zum alltäglichen Einkauf aufwändige Prozedere (die genaue Auflistung der gekauften Gegenstände und der persönlichen Daten des Käufers sowie die Erläuterung des Vertrags und der Geschäftsordnung) bringt eine Verzögerung und Verkomplizierung des Zahlungsvorgangs mit sich. Notwendig kommt es zum Gespräch und zur Verhandlung, wodurch die Warenübernahme und der Geldverkehr ihren vermeintlich neutralen und selbstverständlichen Charakter verlieren.56 Aber
54 Chevalier/Sollfrank (Juli 2007). 55 »Der Ausdruck ›Limited Liability‹ (Ltd.), [sic!] bezeichnet in Großbritannien das, was in den USA eine »corporation« ist. [...] Eines dieser Sonderrechte taucht in dem Namen auf: Firmen haben eine beschränkte Haftung, eine »limited liability«. Wenn du oder ich schuld daran sind, dass jemand durch unsere Nachlässigkeit vergiftet wird, kommen wir dafür ins Gefängnis. Wenn aber ein Firma schuld ist, können die einzelnen Inhaber nicht strafverfolgt werden. Die Firma als solche kann zwar verklagt werden, aber die einzelnen Akteure dahinter sind nicht haftbar. [...] In meinem Projekt habe ich den Begriff umgekehrt in ›unlimited liability‹ (unbeschränkte Haftung). Das bezieht sich darauf, dass Leute, die mehr als 50.000 Euro an Vermögenswerten besitzen, eine Strafe zahlen müssen, wenn sie versuchen, etwas in meinem Laden einzukaufen.« In: Chevalier/Sollfrank (Juli 2007). 56 Obwohl die meisten Besucher und Käufer bei unlimited liability diesen Prozess als erheiternd erlebten und sich mit erstaunlicher Geduld darauf einließen, wurde zum Teil auch heftige Kritik (vorwiegend von Künstlern) an dem Vorgehen
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nicht nur für die Käufer, auch für die Künstler, die aufgefordert waren, für ihre Artefakte einen Preis zu erdenken, war der ungewohnt direkte Umgang mit Fragen des Verkaufs und der Preisbildung eine nicht nur angenehme ungewöhnliche Herausforderung. Nach welchen Maßstäben kann Kunst in einen Geldwert übersetzt werden? Geht es um eine symbolische Geste oder eine den realen Verhältnissen entsprechende Bezahlung?57 Wie könnte ein solcher Verdienst ermittelt werden? Wie steht dieser im Verhältnis zu Preisen außerhalb des Kunstsystems? Inwiefern bestimmt die Preisbildung eine bestimmte Käuferschaft? Diesen Fragen, oft genug Galeristen und Händlern überlassen, sahen sich die Künstler nun gegenüber und reagierten auf höchst unterschiedliche Weisen.58 Das Ladenkonzept unlimited liability wirft Fragen hinsichtlich seiner realistischen Praktikabilität auf: Geht es darum, ein funktionierendes Alternativformat für die Präsentation und Verbreitung zu schaffen oder erschöpft sich das Projekt in seiner konzeptionellen und symbolischen Bedeutung? Hierzu befragt, antwortet Michel Chevalier: »Mit dem, was als Ertrag dabei raus kommt, könnte ich mir selbst noch nicht mal einen Mindestlohn zahlen. Insofern könnte man sagen, dass es eine Ausstellung ist, aber ich sehe es auch als eine Art von Kunstvermittlung, oder … als kunstpolitische Kampagne. Sie besteht darin, KünstlerInnen dazu zu bringen, sich nasse Füße zu holen und ihre Sachen zu verkaufen, und ich tue mein bestes, um Leute dazu zu bringen, Sachen zu kaufen, eine affektive Beziehung zwischen KünstlerInnen und anderen Gruppen, anderen Leuten herzustellen. Nicht nur, indem ich ihnen etwas verkaufe, sondern indem ich vorsichtig ihre Neugierde wecke und sie langfristig hoffentlich dazu ermutige, Flagge zu zeigen und ihre Stimme zu erheben, wenn es um Kulturpolitik geht. «59
geübt. Stein des Anstoßes war dabei die Identitätsüberprüfung, die von einigen Nutzern als Kontrolle und insbesondere als an bekannte staatliche Überprüfungsszenarios angelehnt erlebt wurde. 57 Einige der Produktionsmittel konnten vom Laden übernommen werden, der in den letzten Jahren durch den Quartiersbeirat des Münzviertels finanzielle Unterstützung bekam. 58 Während viele Künstler Produkte anboten, bei denen die Produktionskosten ungefähr den Preisen entsprachen, gab es auch konzeptionelle Reaktionen. 59 Chevalier/Sollfrank (Juli 2007).
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Die Modellhaftigkeit des Experiments unlimited liability erfordert von allen Beteiligten gemäß ihrer Rolle einen Tribut. Chevalier bietet einen Rahmen, der bei den ›realen‹ Rollen der Beteiligten ansetzt und führt Regeln ein, die von allen verlangen, eine Haltung zu dem alternativen ökonomischen Kreislauf zu entwickeln: Von den Käufern, da sie beim Kauf den Schutz der Werke gewährleisten, von den Künstlern, indem sie selbst die Verkaufsbedingungen ihrer Objekte mitbestimmen, und von den Menschen mit einem bestimmten Vermögen, die akzeptieren müssen, dass sie hier nicht einkaufen können. Die konzeptionelle Grundidee kann als Antwort auf die Forderung in dem viel zitierten Text von Walter Benjamin »Der Autor als Produzent« verstanden werden, in dem es heißt: »Ein Autor, der die Schriftsteller nichts lehrt, lehrt niemanden. Also ist maßgebend der Modellcharakter der Produktion, der andere Produzenten erstens zur Produktion anzuleiten, zweitens einen verbesserten Apparat ihnen zur Verfügung zu stellen vermag. Und zwar ist dieser Apparat umso besser, je mehr er Konsumenten der Produktion zuführt, kurz aus Lesern oder aus Zuschauern Mitwirkende zu machen imstande ist.«60
Verhältnis zur Institution Im Gegensatz zu Positionen der ›institutional critique‹ oder Kontextkunst, die auf die Anbindung zum Kunstbetrieb setzten, verzichtet das Konzept von unlimited liability weitgehend auf die repräsentative Verstärkung durch offizielle Kunstinstitutionen.61 Neben Interviews in lokalen Zeitungen oder der Fachpresse setzt unlimited liability auf die Verbreitung durch seine zahlreichen Beteiligten und Nutzer. Regelmäßig im Laden veranstaltete Workshops, Vorträge, Konzerte oder Performances bieten zeitbasierten Arbeitsformen einen Raum und stellen eine weitere kunstvermittelnde Ebene bereit in Form von Künstlergesprächen, Diskussionen oder Wissenstransfer. Der Laden behält durchaus einen Abstand zum klassischen Ausstel60 Benjamin, Walter: »Der Autor als Produzent«, in: Harrison/Wood (2003), S. 603-608, insbes. S. 608. 61 Bisher war das Projekt einmal im Rahmen einer Ausstellung präsent, die das Verhältnis zu den offiziellen Institutionen gewissermaßen auf den Prüfstand stellte. Es handelt sich um die Ausstellung der Bewerber und Bewerberinnen des Hamburg-Stipendiums (2008). Chevalier erhielt das Stipendium nicht.
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lungsbetrieb. Es ist diese Distanz, die dem Projekt seine Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit als alternatives Modell zu den herrschenden Regeln sichert. Chevaliers Interesse ist es dabei nicht, das Kunstfeld zu verlassen. Eher schließt er in eigenwilliger Weise an aus seiner Sicht unterbewertete Positionen an.62 Mit unlimited liability wird keine Welt außerhalb ökonomischer Bedingungen heraufbeschworen. Die ökonomische Seite des Kunstbetriebs wird weder ignoriert noch wird sie in ihrem Staus quo akzeptiert.63 Chevalier setzt genau am anderen Ende an: Er geht vom ökonomischen Kreislauf und von dessen Regeln aus und organisiert sie nach selbstbestimmten Regeln um. Es geht dabei darum, eine andere Form von Tausch zu etablieren, bei der Anbieter und Nachfrager gleichermaßen produzieren – und zwar durch die Arbeit an genau diesem anderen Regelwerk, anderen Bedingungen der Kunstproduktion. Ein vermittelnder Aspekt des Projekts besteht in der Erfahrung, dass dessen verschiedene Komponenten – Produkte, Räumlichkeiten, Käufer, Produzenten – nicht voneinander zu lösen sind, sondern als Teile eines Sozialzusammenhanges sichtbar werden. Verschiedentlich wurde an dem Projekt moniert, dass diejenigen, die sich daran beteiligen, eine Gruppe von ›Konvertierten‹ seien, die zu einer kontrollierten Stellung angehalten werden, jene, die aber ›auf der anderen Seite stehen‹, davon unberührt blieben. Sicherlich kein unberechtigter Einwand. Allerdings zeigt sich hier auch eine charakteristische Seite von unlimited liability: Fern davon, die Gruppe der emanzipiert denkenden Kulturschaffenden und -interessierten in ihrem good will zu bestätigen, werden die Beteiligten des Projekts eher zu einer möglichen Konsequenz aufgefordert, die aus ihrer Gesinnung erfolgen könnte. Eine Aussage wie die berühmten Worte »Jeder Mensch ist ein Künstler« von Joseph Beuys etwa bezieht ihren Wert aus ih-
62 Er nennt beispielsweise die anti-elitären Ansätze von Fluxus-Künstlern wie Maciunas und Flynt, aber Veranstaltungen wie Fashion Moda in New York und The Times Square Show (einer von Künstlern organisierten Ausstellung in einem Massagesalon im Jahr 1980, in der Objekte von $5 verkauft wurden). 63 Seit einigen Jahren findet deutlich spürbar die Auflösung vormaliger Tabus im kulturellen Feld gegenüber ökonomischen Fragestellungen statt. Maßgeblich dazu beigetragen hat der Diskurs der Kreativ- und Kulturwirtschaft, der es sich unter anderem zur Aufgabe macht, die Mehrwertproduktion von Kunst und Kultur berechenbar zu machen.
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rer scheinbaren Generösität. Genau genommen tastet sie die Realität der ungleichen Verhältnisse aber in keiner Weise an. Weder wird die Künstlerposition Beuys durch die Aussage geschwächt noch hat die Allgemeinheit durch diese Behauptung einen Gewinn an künstlerischer Legitimität. Chevaliers indirekte Antwort fühlt den Verhältnissen direkt auf den Zahn, wenn er formuliert: »Keine einzelne Person hat das Recht, von Kunst zu leben. Erst wenn alle das Recht dazu haben, ist es legitim.«64
THE THING H AMBURG E . V.: THE THING H AMBURG (2006-2009) THE THING Hamburg ist eine Internetseite mit dem Untertitel »Plattform für Kunst und Kritik«. Initiiert wurde das Projekt durch die Medienkünstlerin Cornelia Sollfrank, die zuvor bereits seit einigen Jahren eine MailingListe betrieben hatte, die im lokalen Kontext der Stadt Hamburg zu einem wichtigen Kommunikations- und Diskussionsorgan von Künstlern und Kulturschaffenden geworden war. Der Zweck dieser Mailingliste echo -Kunst, Kritik und Kulturpolitik in Hamburg war und ist es, »flexibel und unabhängig Informationen zu Kunst und Kulturpolitik in Hamburg zu verbreiten, Kritik zu üben und eine Diskussion zu befördern«. Gemeinsam mit Ulrich Mattes entwickelte Sollfrank im Jahr 2005 die Idee und schuf Rahmenbedingungen für die Einrichtung einer Webplattform, die einen unabhängigen Informationsaustausch und Diskussionen über Kunst in Hamburg ermöglichen sollte. THE THING Hamburg knüpft an die Tradition des von Wolfgang Staehle 1992 gegründeten Netzwerks THE THING an. In verschiedenen Städten (u. a. Berlin, Frankfurt, Wien, New York, Basel) hatten sich in den 90er Jahren auf der Basis der damals noch unerforschten Möglichkeiten des Internets Foren gebildet, mithilfe derer Künstler über räumliche Grenzen hinweg in Kontakt traten und unabhängig von den gängigen Organen der Kunstkritik über jüngste künstlerische Entwicklungen debattierten. Im Jahr 2005 hatten sich die Voraussetzungen bereits deutlich
64 Chevalier, Michel: »Klassenkampf von oben«, Interview von Lena Kaiser, in: die tageszeitung vom 22.10.2010.
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verändert: Man konnte davon ausgehen, dass die Mehrheit der Adressaten bereits über Erfahrung mit dem Netz verfügte, das web 2.0 stellte bereits erprobte Software zur Verfügung, mit der eine auf Interaktivität angelegte Struktur erstellt werden konnte. Projektbeschreibung Die Idee von THE THING Hamburg war es, einen virtuellen Ort zu schaffen, der interessierten Autoren die Möglichkeit gibt, ihre Texte oder Bilddokumente unkompliziert zu veröffentlichen und möglichst darüber hinaus eine Diskussion anzustiften. Der thematische Schwerpunkt lag dabei auf lokalen Kulturereignissen, kultur- und stadtpolitischen Entwicklungen der Hansestadt, behandelte aber ebenso übergeordnete Themen oder bezog sich auf Ausstellungen, Kunsttheorien und politisch relevante Ereignisse im Inund Ausland. Zu Beginn des Projekts bildete sich ein Redaktionsteam aus Kulturschaffenden, die durch ihre Verankerung in der Kulturszene Hamburgs und ihre eigene journalistische, künstlerische oder wissenschaftliche Praxis für die thematische Vielfalt einstanden und als Multiplikatoren fungierten. Die Redaktionsgruppe war maßgeblich verantwortlich für die inhaltliche Ausrichtung der Internetseite sowie für deren Struktur und Funktionsweise, welche gemeinsam mit zwei Webdesignern gestaltet wurde.65 Das heißt die Redakteure nahmen Kontakt zu Autoren auf, setzten bestimmte Themen und kümmerten sich um die Vermittlung des Projekts nach außen. Neben dem redaktionell betreuten Teil stellte die Seite ein sogenanntes Forum unedited zur Verfügung. Hier war Nutzern die Möglichkeit gegeben, Beiträge zu posten, die nicht die redaktionelle Schleuse durchliefen, allerdings auch nicht wie alle anderen Beiträge mit 100,– EUR entlohnt wurden. Darüber hinaus fanden sich auf der Seite regelmäßig Hinweise auf interessante Veranstaltungen und Informationen zu Fördermöglichkeiten (Stipendien, Ausschreibungen u. a.). Jeder veröffentlichte Beitrag war mit einer Kommentarfunktion versehen, mithilfe derer man sich an den Autor wenden und Anmerkungen, Kritik etc. publik machen konnte. Im Laufe der Zeit kristallisierte sich eine thematische Gliederung der Beiträge nach Rubriken heraus (Aktuelles, Themen, Reisething, Bilder,
65 Selbst war ich von Beginn an in dieser Redaktionsgruppe und ebenso Gründungsmitglied des Trägervereins THE THING Hamburg e. V.
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Kulturpolitik). Inhaltliche Schwerpunkte waren Fragen nach Veränderungen und Ausrichtungen der Kunstausbildung, Formen von Selbstorganisation im kulturellen und politischen Feld, Kunst im öffentlichen Raum, die kulturpolitischen Rahmenbedingungen künstlerischer Produktion sowie die kritische Reflexion offizieller Ausstellungs- und Förderpolitik, sowie der Juryarbeit und Vermarktung kultureller Arbeit. Verhältnis zur Institution THE THING Hamburg ist in verschiedener Hinsicht als Reaktion und Alternative auf die im Kunstsystem üblichen Verbreitungs- und Vermittlungswege zu sehen. Grundidee war, dass Künstler das Schreiben und Sprechen (nicht nur) über ihre Arbeit selbst in die Hand nehmen. Insofern das Schreiben als selbstverständlicher Bestandteil künstlerischer Praxis angesehen und nicht ausschließlich an Experten – den Kritiker oder Kurator – delegiert wurde, kann das Projekt als in der Tradition der conceptual art stehend betrachtet werden.66 Und dieses auch, weil THE THING einen Rahmen bot, der die inhaltliche Diskussion über Kunst inklusive des Zwangs zur Vermarktung und ökonomischer Wertschöpfung förderte. Die Plattform bot aber auch ihren Nutzern eine andere Art der Annäherung: Sie offerierte nicht nur eine zugängliche und kostenlose Möglichkeit, den Diskurs der (vorwiegend in Hamburg arbeitenden Künstler) zu verfolgen, sondern ebenso, an ihm teilzunehmen, sich in die Diskussion einzumischen und sie mitzubestimmen. Dabei wurde grundsätzlich von der Produktivität von Kritik und Diskussion ausgegangen. Dass gute Kunst nur auf Basis einer intensiven Auseinandersetzung und Reflexion ihrer Bedingungen entsteht, gehörte zu den Überzeugungen der Betreiber von THE THING Hamburg. Da sich hierfür in den vorhandenen institutionellen Räumen wenig Platz bot,67 lag die Konsequenz nahe, sich eine Struktur zu erfinden, die
66 Das Schreiben gehört natürlich zu und begleitet schon seit jeher andere Arten künstlerischer Formgebung. Der Verdienst der conceptual art ist es, dies hervorgehoben und taktisch eingesetzt zu haben. 67 Dem Beginn von THE THING Hamburg gingen einige Proteste und Reformversuche von Künstlern in der kultur- und kunstpolitischen Landschaft voraus. Insbesondere die Ereignisse rundum den Kunstvereinseklat (2005), bei dem eine unter demokratischen Bedingungen erfolgte Wahl von kritischen Kultur- und
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selbiges ermöglicht, dabei aber offen für Veränderungen ist. Eine weitere Funktion der Plattform war die Bündelung verschiedener Aktivitäten von in der Stadt aktiven Menschen. Die regelmäßige Information stiftete eine neue Diskussionsgrundlage, auf der es möglich wurde, die eigenen Interessen zu vertreten. Künstler, deren Belange meist von institutionellen Vertretern repräsentiert wurden, traten mit ihren eigenen Stimmen an die Öffentlichkeit. In diesem Sinn verstand sich THE THING Hamburg im als ›Kunst im öffentlichen Raum‹. Als solche wurde sie zunächst von der Kulturbehörde durch Vermittlung von Geldern eines privaten Mäzens über drei Jahre hinweg finanziert. Alle Versuche von Seiten des Trägervereins, eine fortgesetzte Finanzierung und damit den Fortbestand der Internetseite sicherzustellen, scheiterten – an den Richtlinien der Hamburger Kulturförderungseinrichtungen, die das Projekt weder als Kunst- noch als Medienprojekt und auch nicht als Projekt der Kunst im öffentlichen Raum unterstützten.68
Kunstproduzenten rückgängig gemacht wurde, waren aus meiner Sicht richtungsweisend für die Einrichtung der Plattform. Vgl. hierzu z. B.: Chevalier, Michel/Petzet, Nana/Puffert, Rahel/Reiche, Claudia/Sollfrank, Cornelia/Stühlmeyer, Frank: »Praktizierte Kritik an der Institution. Der Fall Kunstverein in Hamburg«, in: Kulturrisse (01 06). True Stories. Dokumentarismus Revisited, Wien 2006, S. 62-65. 68 In einer Erklärung heißt es hierzu: »Sich durch Inanspruchnahme öffentlich verwalteter Gelder in eine strukturelle Abhängigkeit zu begeben, war eine bewusste Entscheidung; sie hatte den Zwang zur Vereinsbildung und Rechenschaftspflicht zur Folge und erlaubte dafür professionelle technische Umsetzung sowie eine geringe Honorierung der Beiträge. Die Bemühungen des Trägervereins, eine weitere Finanzierung [...] sicherzustellen, blieben leider erfolglos: Anträge bei der Medienstiftung Hamburg, der Hamburgischen Kulturstiftung, der Hamburger Kulturbehörde (Kunst im öffentlichen Raum) und zuletzt bei der KörberStiftung wurden abschlägig beschieden. [...] Zwei Anfragen nach Unterstützung durch die Kultursenatorin Karin von Welck blieben unbeantwortet. Darüber hinaus hat im Sommer 2009 das Finanzamt dem Trägerverein die Gemeinnützigkeit aberkannt.« In: http://www.thing-hamburg.de/index.php?id=670 (September 2010).
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Abbildung : THE THING Hamburg, Startseite, 2008
Vermittelnde Dimension? Inwiefern vermittelte THE THING Hamburg Kunsterfahrungen? Das Projekt ist insofern als kollektives Experiment zu betrachten, als es das Medium Internet nutzte, um in eine öffentliche Diskussion einzutreten. Dabei ging es um nicht weniger als um den Versuch, im Sinne der Radiotheorie Bertold Brechts »einen Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln«.69 Brecht formulierte seine Vision einer dialogischen Nutzung des noch jungen Massenmediums Rundfunk. Auch hinsichtlich des Internets sind immer wieder optimistische Hoffungen bezüglich seiner demokratischen Nutzung geäußert worden. Dem entgegen steht Jean Baudrillards Überzeugung von der intransitiven Struktur der Medien: Para-
69 Brecht, Bertolt: »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«, in: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 18, Frankfurt/M. 1967, S. 127-134.
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digmatisch ist die Äußerung des französischen Medienphilosophen, »Medien sind dasjenige [...], welches seine Antwort für immer versagt.« 70 Baudrillard ging davon aus, dass die neuen Medien nicht nur NichtKommunikation produzieren, sondern Vermittlung sogar verhindern würden (»anti-mediatory«). Die Erfahrung mit dem dreijährigen Projekt THE THING Hamburg war eine andere: so habe ich selbst durch die Mitarbeit bei THE THING Hamburg die Chance erhalten, mich im Internet als Produzentin zu betätigen. Ohne Vorkenntnisse wurde ich durch die Kollegen geschult und konnte wiederum Kenntnisse und Fähigkeiten an andere weitergeben oder diese beim Aufbau und der Pflege des Systems einfließen lassen. Der gegenseitige Lernprozess wurde vor allem dadurch begünstigt, dass die meisten Redaktionsmitglieder zwar redaktionelle Erfahrungen mitbrachten, aber nicht mit der Open-Source-Software vertraut waren. So waren wir darauf angewiesen, dass jeder seine Erfahrungen und Kenntnisse den anderen Mitgliedern weitervermittelte. Dabei wurden übliche Zuordnungen (vor allem hinsichtlich Gender und Technik) durchkreuzt, aber auch verschiedene Umgangsweisen – man könnte sagen: ökonomische Logiken – bei der Weitergabe von Wissen, Ressourcen und Erfahrungen praktiziert und als solche beobachtbar. Baudrillards Thesen müssen noch in anderer Hinsicht korrigiert werden. Denn obwohl es stimmt, dass es vom Einzelnen Überwindung und z. T. sogar Mut fordert, an eine anonyme bzw. zumindest physisch nicht anwesende Öffentlichkeit zu adressieren, unmöglich ist es nicht. Eine solche Erfahrung ist keine, zu der unsere Mediengesellschaften auffordern. Dominant ist die eindimensionale Struktur der Massenmedien, die darauf hinausläuft, dass die Empfänger sich den Ergebnissen der Produktionen überlassen und ihre Eingriffsmöglichkeiten auf das Ein-, Um- oder Ausschalten reduziert sind. THE THING Hamburg machte es sich daher zur Aufgabe, Autoren zu ermutigen, Beiträge zu publizieren und bot technische und redaktionelle Hilfe an. Dabei ging es darum, die Vorzüge sowohl des Internets als auch der Unabhängigkeit von den Regeln und Zwängen des Journalismus weitmöglichst auszuschöpfen. Im Gegensatz zu den Printmedien wurde in diesem Medium keine Längenbegrenzung für Texte notwendig; des Weiteren wurden unübliche Schreibstile nicht geglättet, sondern waren ausdrücklich
70 Baudrillard, Jean: »Requiem für die Medien«, in: ders: Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, Berlin, 1978, S. 83-118, insbes. S. 91.
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erwünscht. Ziel war es, Vielsprachigkeit herzustellen sowie, denjenigen Autoren und Projekten eine Publikationsmöglichkeit zu bieten, die in anderen Organen ›durch die Maschen fallen‹. Das Internet bot zudem den Vorteil, auf Aussagen schnell reagieren zu können und unkompliziert in Dialog zu treten.71 Der lokale Bezug von THE THING Hamburg begünstigte dies: Einige der Protagonisten und Autoren waren sich aus anderen Zusammenhängen bekannt und es war möglich, ihnen auch außerhalb der virtuellen Kommunikation zu begegnen. Themen aus Diskussionsveranstaltungen wurden von THE THING Hamburg deshalb bewusst aufgegriffen und virtuell weiter geführt. Solche Diskussionen, die sich der Kommentarfunktion bedienten, hielten z. T. über Monate hinweg an. Andererseits war es möglich, Missverständnisse und Verhärtungen, die sich in der virtuellen Kommunikation regelmäßig ergaben, bei ›physischen Treffen‹ zurechtzurücken bzw. zu lockern. Noch in einem weiteren Sinn erwies sich das Internet als geeignet, zur öffentlichen Stellungnahme anzuhalten: Das Internet erlaubte es, Statements unter Pseudonymen zu veröffentlichen. Auf lustvolle Weise konnten so Reaktionen getestet werden, wodurch der Austausch von Haltungen und Meinungen zusätzlich eine spielerische Dimension bekam.72
71 »Gut finde ich darüber hinaus, dass es für Themen, die in aller Ausführlichkeit woanders nicht auftauchen können, ein Forum bei TT gibt. Ich sehe das tatsächlich eher als ein Forum, weil man auf diese Texte bei TT antworten kann. Ich finde bei TT auch gut, dass relativ heterogene Stimmen zu Wort kommen sowohl in den Beiträgen als auch den Interviews und in der Art und Weise wie miteinander diskutiert wird. TT ist vielstimmiger, als ich zunächst vermutet hatte.« In: Möllmann, Dirck/Wildner, Kathrin: »OK-Cut!«, 2008, in: http://www. thing-hamburg.de/index.php?id=882&no_cache=1&sword_list[]=dirck&sword_list[]=m%F6llmann&sword_list[]=kathrin (Oktober 2010). 72 »Man muss sich selbst andauernd überprüfen [...] und auch die Lust mitbringen, sich an den anderen zu reiben – was eben auch heißt, von anderen zu lernen. Lernen findet genau in solchen Prozessen statt, das wird aber oft unterschätzt. Sich gegenseitig schlauer machen und auf Sachen zu kommen, auf die man eben alleine nicht kommt, das kann man eben nur mit anderen. Und dann kann man natürlich über diese Konfrontation auch sehr gut die eigene Ignoranz feststellen.« Puffert, Rahel/Sollfrank, Cornelia: »Die passende Struktur erfinden«, in: http://www.thing-hamburg.de/index.php?id=823&no_cache=1&sword_list[]= sollfrank&sword_list[]=puffert (Oktober 2010).
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D IE K UNST
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Die hier vorgestellten drei Projekte demonstrieren, wie sehr sich ihr Kunstbegriff von landläufigen Werkkonzepten oder Materialästhetiken entfernt hat. Tatsächlich kann hier die künstlerische Besonderheit nicht mehr an einem Produkt festgemacht werden. Es geht nicht mehr vordringlich um die Frage ›Was wurde hergestellt?‹ und auch nicht um die Frage ›Was wurde anschließend nach außen kommuniziert?‹. Vielmehr findet der interessante künstlerische Prozess in den Vermittlungen, Verhandlungen und möglichen Bezugnahmen statt, die sich durch die Organisation eines Gefüges bzw. inmitten eines solchen ereignen. Hieran teilzunehmen heißt, sich in einem Bezugsfeld von anderen Menschen und Dingen zu befinden – einer Umgebung, die in ihrem Zusammenspiel in die Wahrnehmung rückt, weil sie nicht nach gewohnten Regeln angeordnet ist. Dieses Innenstehen der Wahrnehmung macht auch die Schwierigkeit aus, im Nachhinein eine Darstellungsform für diese Art von Kunsterfahrung zu finden. Gerade Projektbeschreibungen sind dazu angetan, die verdichteten Erfahrungen wieder in die Gliederungen gesellschaftlich normierter Sprache zu überführen und verpassen so in der Regel deren Eindrücklichkeit. Um solche Projekte zu analysieren, wird deren Komplexität auseinander genommen, indem bestimmte Kategorien bedient werden, die außerkünstlerischen Logiken entsprechen und – vom spezifischen Einzelfall unabhängig – im Vorfeld festgelegt werden. So unterschied Christian Kravagna die Formen der Zusammenarbeit bei Kunstprojekten hinsichtlich ihrer Beteiligungsgrade der jeweils involvierten Gruppe. Ihm zufolge wäre Partizipation als partielle Beteiligung und Aktivierung des Publikums im Sinne einer Relativierung der Aufteilung von aktivem Künstler und passivem Publikum zu verstehen. Interaktivität versteht Kravagna als Überschreitung eines bloßen Wahrnehmungsangebotes, insofern sie Reaktionen zulässt, die das Werk in seiner Erscheinung beeinflussen, seine Struktur aber nicht grundlegend verändern oder mitbestimmen. Als kollektive Praxis sei die gleichberechtigte Konzeption, Produktion und Ausführung eines Werkes oder einer Aktion durch mehrere Produzenten aufzufassen, wobei sich diese hinsichtlich ihres Status nicht grundsätzlich unterscheiden.73 Eine solche analytische Unterteilung,
73 Krawagna, Christian: »Arbeit an der Gemeinschaft. Modelle partizipatorischer Praxis«, in: Babias/Könneke (1998), S. 28-46, insbes. S. 30.
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die vor allem nach dem Verhältnis von Künstler und Beteiligten fragt, betrachtet das Projekt von außen, negiert aber den innen angesiedelten Erfahrungsgehalt, der sich von dieser formalistischen Beschreibung hierarchischer Ordnungen durchaus unterscheiden kann. Ein Beispiel mag das erläutern: Beim Zusammenspiel von fünf Musikern ist es denkbar, dass einer unter ihnen lediglich einen Ton spielt. Für das Zusammenspiel kann dieser Ton ebenso entscheidend und unverzichtbar sein wie die dauernde Mitwirkung anderer Spieler. Das entscheidende Kriterium ist also nicht an einem äußerlichen Maß an Beteiligung abzulesen, sondern an der geteilten Verantwortlichkeit für das gemeinsame Ereignis: idealiter setzen sich alle mit den ihnen jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln in gleicher Weise dem Experiment des Zusammenspiels aus. Dabei gibt es Unterschiede, die aber keine quantitativen Stufungen darstellen, sondern sich aus den Merkmalen der unterschiedlichen Einsätze in Relation zum Gesamten ergeben. In der Pädagogik wird hierfür auch der Begriff Binnendifferenzierung benutzt. Dieser pädagogische Term hat zusätzlich den Vorteil, dass der Initiator – hier der Künstler, da der Lehrer – in seiner Funktion als Autor(ität) nicht außer Acht gelassen wird, sondern ebenfalls in die Verantwortung genommen wird – mit allen Vor- und Nachteilen, die das für ihn mit sich bringt.74 Vermittlung heißt demnach, ein Wahrnehmungsereignis zu schaffen, das die Beteiligten an eine Stelle rückt, von der aus Aufmerksamkeit für alle anderen Komponenten entsteht: für die eigene Aktivität sowie für deren Verhältnis zum Gesamtkomplex.
Nicht mit dem Postulat und der Praxis vereinbar und deshalb außerhalb seiner Betrachtung erwähnt Kravagna außerdem »Die Arbeit mit anderen«. Er bezeichnet diese als modische Richtung, die ›Häppchen des Sozialen‹ im Museum anbietet, ohne irgendwelche weiteren Reflexionen erforderlich zu machen und sich so auf sozial-kommunikative Beziehungen zwischen Künstlern und Ausstellungsbesuchern beschränkt. Die Arbeit mit anderen werde durch den französischen Kurator und Theoretiker Nicolas Bourriaud auch als ›Art relationelle‹ charakterisiert. Belege für diese Aussagen Kravagnas und auch für die Paraphrasen oben. 74 Pierangelo Maset stellt die Binnendifferenzierung als eine Form dar, »der Differenzialität von Lerntypen gerecht zu werden«, zeigt aber auch die strukturellen Grenzen pädagogischer Methoden im Schulalltag auf. Vgl. ders. (1995), S. 52f.
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Die hier angeführten Projekte haben gemeinsam, dass sie Vermittlung als Teil eines Prozesses begreifen und nicht als Ergebnis eines Vorhabens, bei dem Defizite am Anfang und deren Begleichung am Ende stehen. Dadurch verabschieden sie sich von einem Konzept eindimensionaler Pädagogisierung. Hierzu im Widerspruch stehen die messianischen, paternalistischen und kompensatorischen Erziehungsvorstellungen traditioneller Kulturinstitutionen, die durch Formulierungen wie ›einen Zugang schaffen‹, ›ein breites Publikum mit den Gütern der Kultur vertraut machen‹, ›Besuchergruppen erweitern‹ oder ›Integration‹ bereits stabile Hierarchien zwischen Wissen und Unwissen, sozialen Gruppen, Kulturbegriffen usw. einführen. In der Regel gehen sie dabei auch von einer sauberen Trennung zwischen kultureller und pädagogischer Produktion aus. Um den Unterschied hierzu zu markieren, lohnt es, sich die (kunst-)politische Dimension der Vermittlungspraxis vor Augen zu führen. Diese erschöpft sich keinesfalls in der Kommunikation zwischen den Beteiligten im Sinne der Erfahrung eines kollektiven Prozesses. Sondern sie beweist sich erst darin, wie und ob diese Erfahrung zusätzlich auch diskursiv weitergetragen werden kann. Kann ein Projekt seine Arbeitsweise in Differenz zu herkömmlichen strukturellen Bedingungen behaupten? Fordert es Letztere heraus? Die derzeit häufig vorzufindende, unbefriedigende Lösung besteht darin, dass Künstler sich zu Autoren sozialer oder kollaborativer Projekte erklären, um dann die Register zu wechseln und sich kritiklos und ohne Änderungsanspruch den kunstinstitutionellen Strukturen anzupassen.75 Auch Clegg & Guttmanns Offene Bibliothek tendiert dazu, die bestehenden Ordnungen innerhalb und außerhalb der Institution aufrecht zu erhalten. Die Nutzer der Bibliothek sind entweder ahnungslos oder haben wenig Anteil an der Art, wie das Projekt im Kunstzusammenhang präsentiert und bewertet wird. Die Künstler liefern derweil in publizierten Texten und Interviews die beim eingeweihten Kunstpublikum beliebten Keywords und Codes, die den Rezipienten die Entzifferung erleichtern und das ›Mitreden‹ auf der symbolischen Ebene erlauben.76 Gerade diese durchaus taktische Verortung des Projekts von
75 Vgl. Rodrigo, Javier: »Work in Networks and Collective Pedagogies: Challenges for Cultural Production«, in: ACVIC. Centre d’ Arts Contemporànies (Hg.): Reversable Actions. Art, Education, Territory, Vic 2009, S. 34-56. 76 Die folgenden Keywords sind dem Text von Clegg & Guttmann entnommen, die Aufschlüsselung stammt von mir:
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Clegg & Guttmann macht es zu einem Paradebeispiel der Kontextkunst. Scheinbar wird auf diese Weise eine Verbindung zwischen institutioneller und außerinstitutioneller Praxis hergestellt. Tatsächlich findet aber keine Berührung zwischen den gesonderten Bereichen statt. Was bleibt ist die symbolische Anerkennung – für die Institutionen leicht zu erteilen, weil sie folgenlos bleibt. Dass diese symbolische Bedeutung eng mit der ökonomischen Wertschöpfung verkoppelt ist und im Falle des Projekts Die Offene Bibliothek von Clegg & Guttman zur Aufwertung ihrer verkaufbaren Kunstwerke führte, ist kein Geheimnis, wurde aber weder im universitären noch im kunsttheoretischen Kontext zum Thema gemacht. Die von diesem Aspekt bereinigte Institutionskritik des Künstlerduos entspricht damit der alten Logik, dass die Allianz mit dem ›anderen‹ kulturellen Feld eigentlich nur zum Ausweis der eigenen kritischen Haltung dient. unlimited liability und THE THING Hamburg zogen andere Konsequenzen, die im Widerspruch zu jener affirmativen Haltung gegenüber dem Kunstbetrieb standen, eine Haltung, die laut Decter und Meyer (hierin mit Bürgers Theorie übereinstimmend) für kritische Kunstansätze unausweichlich ist. Beide Projekte entwickelten eine unabhängige Distributionsstruktur und verhielten sich inhaltlich und formal kritisch bis konfrontativ gegenüber dem gängigen Kunstdiskurs und dem üblichen Ausstellungswesen. Von beiden erwarteten sie keine Billigung, waren aber im Gegenzug auch nicht bereit sie zu affirmieren. Die etwas außer Mode geratene konsequente Thematisierung ökonomischer, politischer und sozialer Bedingungen künstlerischer Produktion so-
Environment
[Kaprow]
direkte Demokratie
[Beuys: unverfängliche Alternative zu herrschender Politik]
Ästhetische Erfahrung
[Dewey]
Offenes Kunstwerk/offene Bibliothek
[Umberto Eco]
Soziale Skulptur
[Beuys]
Kritik am Mäzenatentum und staatlicher Macht [politisierter Diskurs] Kritik an ›Blindheit‹ bürokratischer Institutionen [bürgerliches Dauerthema] Duchamp
[einziger
Künstlername,
der
fällt: die Bezugsgröße der 90er] Vgl. Clegg & Guttmann, in: C&G (1994), S. 28-30.
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wie das Aufzeigen der Machtstrukturen und der ausschließenden Mechanismen von bestehenden institutionellen Strukturen positioniert die beiden Projekte als kritische Gegenentwürfe. Als solche forderten sie auch von ihren Beteiligten eine Positionierung heraus. Sie arbeiteten deutlich gegen jene schulterzuckende Akzeptanz, die sich mit den bestehenden Verhältnissen abfindet, weil sie diese für unabänderlich hält. Sie luden dazu ein, sich weiterhin an der kollektiven, durchaus kontroversen und mitnichten voraussetzungslosen Arbeit an einem der Zeit gemäßen Kunstbegriff zu beteiligen. Und dies, ohne sich dabei auf vorgefertigte Konzepte zu verlassen. Um eine ebenso plurale wie antagonistische Kultur zu verwirklichen, spricht sich Javier Rodrigo dafür aus, die institutionellen Machtverhältnisse herauszufordern und soweit wie möglich in den Vermittlungsprozess einzubeziehen, so dass die Konfliktstellen zwischen den verschiedenen Kontexten deutlich, aber auch verhandelbar werden. Ziel dabei ist es, den ›geheimen Lehrplan‹ an Wertvorstellungen, die den diversen kulturellen Praxen zugrundeliegen, aufzuzeigen. Derzeit besteht eine entscheidende Herausforderung darin, der Atomisierung von Einzelprojekten entgegenzuarbeiten und die Diskussion und Verhandlung über die Einsätze und Erfahrungen aufzunehmen und einzufordern, ohne sich einer vereinheitlichten Agenda zu verschreiben.77 Denn nur so erhalten die Projekte neben ihrer kunstpolitischen Bedeutung auch eine kulturpolitische Relevanz und also die Chance, ausgehend von Kritik und der Erarbeitung von Alternativen zur Arbeit, an der Veränderung institutioneller Verhältnisse voranzuschreiten. Was anhand der drei Projekte deutlich wird, ist, dass es neben den binnendifferenzierten Vermittlungen vor allem der institutionelle oder distribuierende Bezug ist, der über den Beitrag von künstlerischem Handeln zur Kunstvermittlung entscheidet. Die kritische Schwäche der Offenen Bibliothek gegenüber der Kunstinstitution offenbart die Schwierigkeit, solche Projekte in Allianz mit dem Kunstbetrieb durchzuführen. Es sei denn, der Anspruch auf Transformation seiner strukturell exklusiven Strukturen ist bereits aufgegeben und das Feld wird jenen Eliten überlassen, die im Namen der gesellschaftlich verbürgten Kunstfreiheit vor allem ihre eigene Machtposition stabilisieren und sich die hierfür notwendigen ökonomischen und kulturellen Ressourcen sichern.
77 Rodrigo (2009), S. 43.
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Über THE THING Hamburg und unlimited liability kann derzeit noch keine Aussage hinsichtlich ihrer Wirkungsmacht im institutionellen Kunstfeld getroffen werden.
F ELDER , F ORSCHUNGEN
UND BILDUNGSTHEORETISCHE S PEKULATIONEN Die Schwierigkeit der Kontextkunst, im Kunstkontext durch Allianzbildung mit und in anderen kulturellen Feldern kritisch wirksam zu sein, habe ich bisher vor allem am Beispiel von Clegg & Guttmann’s Offener Bibliothek problematisiert. Selbstredend gilt sie auch für die anderen beiden Projekte, die zwar nicht im Diskurs der Kontextkunst der 1990er Jahre verhandelt wurden, jedoch in einiger Hinsicht Verwandtschaft mit ihr haben bzw. Folgen aus ihr ziehen. Im Fall von Clegg & Guttmann konnte ich mich auf zwei Diskurspositionen beziehen, die neben anderen Diskurssprechern für die Stilisierung des Projekts zu einem prominenten Beispiel der Kunst der 1990er Jahre gesorgt haben: Wuggenig, der das Kunstprojekt als Soziologe zum kritischen Forschungsbeitrag im Feld der Kunst- und Kulturwissenschaften erhob, und Lingner, der sich hiervon absetzte und eine Einordnung des Projekts im Rahmen seiner von der Konzeptkunst inspirierten Kunstbzw. Künstlertheorie unternahm. Beide Autoren teilen – selbst wenn sie zu gänzlich anderen Schlüssen kommen – die Auffassung, dass sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kunst geforscht wird. Beiden Autoren gemein ist außerdem, dass sie dabei eine andere Disziplin gewissermaßen ausblenden: die kritische Pädagogik oder – im Wissenschaftsfeld hierarchisch höher angesiedelt – die Bildungstheorie. In einem Internetbeitrag, der den Versuch unternimmt, künstlerische Feldforschung als kunstpädagogische Methode vorzuführen, definiert Andreas Brenne Forschung als »ein allgemein menschliches Bestreben [...], sich selbst und die Welt in ihren komplexen Zusammenhängen zu untersuchen, um eine fortschreitende Erkenntnis zu er-
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zeugen. Es geht darum, die komplexen Ordnungszusammenhänge hinter den ›Erscheinungen‹ zu entdecken und zu entschlüsseln.«78
Auch Brenne, der betont, dass »nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Kunst geforscht wird«, also »erkundende Verfahren der Welt- und Selbstaneignung eine wichtige Rolle« spielen, unterlässt es, auf die Beiträge zu verweisen, die seine Hausdisziplin zu bieten hat.79 Stattdessen bricht er die künstlerische Forschung – wie für kunstdidaktische Literatur nach wie vor üblich – auf das Niveau der Lerngruppe herunter, um eine nachahmbare Kunstunterrichtsrezeptur anzubieten. Es sei an dieser Stelle dahingestellt, ob dies als freiwillige Unterwerfung unter die Regel des Kunstsystems, Konzepte aus der Theorie der ästhetischen Bildung konsequent zu ignorieren, zu werten ist und auch, ob es nicht genau diese Selbstzensur ist, die gute Gründe für die von Wuggenig und Lingner performierte Ignoranz liefert. In der Bildungstheorie machen sich seit einigen Jahren Einsätze bemerkbar, die sich kritisch und dekonstruierend mit den Grundlagen erziehungswissenschaftlicher Theorie und Praxis auseinandersetzen. Höchst skizzenhaft formuliert geht es dabei um den Versuch, das Verhältnis zum Anderen (respektive des Schülers) außerhalb von identifizierender Festschreibung zu denken, Gemeinschaft nicht als präexistent, sondern gerade aus dem Verlust an Immanenz heraus als immer wieder neu zu stiftende zu begreifen, und den Erziehungsprozess als Handeln und nicht als herzustellendes Werk zu verstehen. 80 Wenn ich hier die drei Kunstprojekte in den Kontext der Bildungswissenschaften verschiebe, so könnte man einwenden, dass ich sie damit ungewollt einer Kontextualisierung zuführe, die sie nicht für sich beanspruchen. Keines der Projekte verortet sich eindeutig als Kunstvermittlungsprojekt im edukativen Sinn. Dennoch ist es gerade die an einem zeitgenössischen Bildungsbegriff interessierte Perspektive, welche im Fall von Clegg & Guttman dem emanzipatorischen Anspruch des Projekts auf den Zahn
78 Brenne, Andreas: »›Künstlerische Feldforschung‹ – Ästhetisch forschende Zugänge zur Lebenswelt«, S. 1, in: http://www.schroedel.de/kunstportal/bilder/forum/text/brenne.pdf (August 2011). 79 Ebda. 80 Vgl. Masschelein, Jan/Wimmer, Michael: Alterität, Pluralität, Gerechtigkeit: Randgänge der Pädagogik, Leuven 1996.
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fühlt, und erlaubt, die für den Kunstcharakter des Projekts so entscheidende kritische Motivation auf den Prüfstand zu stellen. Könnte man soweit gehen, die Entscheidung, ob etwas (gute) Kunst genannt werden kann, aus dieser Perspektive heraus zu treffen? Pierangelo Maset führt in »Die Ästhetische Bildung der Differenz« hierzu aus: »Es ist nicht die Aufgabe der Bildungstheorie, diese Zuschreibung vorzunehmen, sondern diejenige der Ästhetik, aber die Bildungstheorie kann in die Ästhetik eindringen, wenn sie kulturelle Praxen und ästhetische Objekte, die nicht als Kunst legitimiert sind, in ihrem konstitutiven Charakter für Bildungsprozesse bestimmt. Dadurch können vernachlässigte Praxen und Objekte in das Blickfeld rücken und gegebenenfalls den Diskurs der Ästhetik beeinflussen. Die Vermittlungsproblematik erweist sich damit als eine in die Geschichte der Bildungstheorie selbst eingeschriebene: sie enthüllt gleichsam Inkompatibilitäten zwischen dem bildungstheoretischen und dem ästhetischen Diskurs.«81
Für unlimited liability und THE THING Hamburg könnte hiernach die bisher noch oberflächlich und vorsichtig vollzogene Zuordnung zum Bildungsdiskurs durchaus ein angemessener Kontext sein. Es bleibt, dieses an anderer Stelle detaillierter zu erarbeiten. Spekulativ lässt sich an dieser Stelle formulieren, dass die Untersuchung der Vermittlungen und Distributionen einer künstlerischen Arbeit unter bildungstheoretischen Gesichtspunkten zur Spezifizierung ihres Feldeinsatzes und zur fortschreitenden und nicht abschließbaren Demokratisierung von Institutionen beiträgt. Zum jetzigen Zeitpunkt warten viele Kunstprojekte auf ihre institutionelle Anerkennung oder müssen sich auf jene Neben- und Folgewirkungen der Missachtung verlassen, die sich quer durch viele Lebenswelten abspielen. Hieraus zieht einen Vorteil, wer sich bewusst in die Schattenbereiche (kunst-) institutioneller Anerkennung begibt. Es lohnt oft nicht, auf die Gunst von jenen wenigen zu warten, deren Macht letztlich auf elitenspezifischer Selbstlegitimation und auf der Monopolisierung von Ressourcen gründet. Deren Diskurse erweisen sich zunehmend als schal, sinn- und folgenlos. Und sie rauben, weil sie sich anhaltend auf die längst als Farce überführte Wachstumslogik des Marktes berufen, viel Energie ohne dementsprechende Produktivität zu entfalten. Zudem lässt sich an der Seite prekärer, margina-
81 Maset (1995), S. 73.
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lisierter und vom offiziellen kunstinstitutionellen Zusammenhang abgewerteter Produzenten in der Regel besser arbeiten. Denn dem Druck der Repräsentationskultur auszuweichen wirkt – geschieht es bewusst – entlastend, ohne dass damit Ansprüche an sich selbst und andere aufgegeben werden müssen. Im Gegenteil: Geringere Geltung und Aufmerksamkeit bieten u. U. sogar den Schutz, der nötig ist, um Komplexität entwickeln und verwirklichen zu können. Und gerade Bildungsprozesse benötigen diesen Schutz, denn sie sind – darin künstlerischen Prozessen verwandt – Entäußerungsprozesse, die mit einem hohen Grad an Verletzlichkeit einhergehen. Was bei aller Schutzbedürftigkeit aber nicht aus Auge, Ohr und Sinn geraten darf ist der gesellschaftliche Auftrag und berechtigte Anspruch – der sich gerade angesichts aktueller weltpolitischer Ereignisse wieder mit aller Dringlichkeit bemerkbar macht: der Elitenorientierung unserer Gesellschaften ist mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Für den hier verhandelten Kontext heißt das nicht mehr und nicht weniger als von Möglichkeiten Gebrauch zu machen: Lustvoll an der Vielfalt von praktikablen Modellen und Alternativen arbeiten, sich in ihnen begegnen und mittels künstlerischer Vorgehensweisen den Möglichkeitssinn für demokratische Prozesse entdecken, wecken und stärken.
Folgerungen für die Kunst und ihre Vermittlung
Kunstvermittlung steht derzeit hoch im Kurs: Unternehmen bedienen sich der Zusammenarbeit mit Künstlern, um ›Kreativität‹ und ›Innovationsgeist‹ zu Markte zu tragen. Stadtentwickler ziehen Künstler hinzu, um möglichst unter Einsatz von Beteiligungsverfahren für eine ›lebendige Atmosphäre‹ und ›Toleranz‹ gegenüber sanierungsbedingten Veränderungen zu sorgen. Kommunikationsexperten von Museen locken ihr Publikum mit ›attraktiven‹ Besucherprogrammen, damit die Statistik positiv ausfällt. So divers die Interessen ausfallen, die sich derzeit an Beteiligungsangebote knüpfen, so divers sind auch die Kunstbegriffe, welchen man auf den verschiedenen Parketts ihrer Performance heute begegnet. Angesichts der Inflation gesellschaftlicher Ansprüche und Interessen, die heute an Kunst herangetragen werden, besteht derzeit die größte Herausforderung darin, Unterscheidungen zu treffen. Schon deshalb sollte man sich als Künstler, Kunst- oder Kulturvermittler die Frage gefallen lassen, von welcher Agenda die jeweilige Arbeit bestimmt ist. Deshalb ist die Ausbildung eines eigenen Kunstbegriffs so wichtig. Die Kreuzungen, Überschneidungen und Übergangszonen von Kunst und Pädagogik, wie sie in den 1990er Jahren stattfanden und freigelegt wurden, hatten den Wunsch erzeugt, mehr über das Verhältnis von Kunst und Vermittlung zu erfahren. Die pronomische Konstruktion »Kunst und ihre Vermittlung«, wie sie von Pierangelo Maset eingeführt wurde, war dabei wegweisend, denn sie ermöglichte, Vermittlung als etwas der Kunst Zugehöriges zu denken. Aufgebrochen und irritiert wird so die Vorstellung von Vermittlung als etwas Zweitrangigem, der Kunst Aufgepfropftem oder
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Fremdem. Verknüpft mit der Frage nach einer der Kunst eigenen Vermittlung sind die Fragen, an wen sich Kunst wendet, und – noch grundsätzlicher –, welche soziale Funktion Kunst als Kunst einnimmt. Worauf es mir ankam war, zu zeigen, dass alle diese Problemstellungen in der Geschichte der Kunst eine – zu wenig bekannte – Tradition haben. Der Weg führte zur russischen Avantgarde, einer Art Keimzelle für viele heute relevante Fragestellungen. Er führte zu einer faszinierenden Umbruchszeit, die von großen zivilisatorischen Katastrophen eingeholt wurde. Das brachte die Notwendigkeit mit sich, sich mit den Blockierungen und Tabuzonen der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts zu befassen. Die Nachwirkungen der beiden Weltkriege, des kalten Krieges, aber auch des Zerfalls des Ostblocks haben traumatische Einschläge hinterlassen, die unser Verhältnis zum ›Osten‹ nach wie vor bestimmen und sich auf unseren Wissensstand sowie auf unsere Bewertungen auswirken. Dieser Umstand trug dazu bei, dass der Anschluss an die Errungenschaften der künstlerischen Avantgarden bis heute nur sehr unzureichend geglückt ist. Wie sich zeigte, setzte parallel zu den gesellschaftlichen Befreiungsbewegungen und den Forderungen nach mehr Demokratie und Teilhabe auch ein einschneidendes Umdenken im Feld der künstlerischen Produktion ein. Anfang des 20. Jahrhunderts begannen Künstler, sich kritisch mit ihren institutionellen Rahmenbedingungen auseinanderzusetzen. Sie eigneten sich das Problem des gesellschaftlichen Stellenwerts von Kunst an und formulierten selbstbestimmt ihre sozialen Absichten. Damit erweiterte sich ihr Betätigungsfeld: Die Arbeit an Formen der Vermittlung und Verbreitung wurde zu einem genuin künstlerischen Thema. Der Wunsch, mit dem (neuen) Massenpublikum in Kontakt zu treten, aber auch die Kritik an einer sich auf die Ordnungen der Repräsentation gründenden Kultur erforderten es, sowohl auf der Ebene der Produktion als auch auf der Ebene institutioneller Vermittlung und Verbreitung über Änderungen nachzudenken. Es ist nicht unerheblich, dass es genau die der Kunst zugesprochene Autonomie war, die Künstlern die Freiheit gab, die jeweilige soziale Verankerung ihrer Arbeit zu reflektieren. An dieser Stelle sei auf die aufschlussreiche Überlegung von Hannah Arendt erinnert, die betonte, dass Freiheit nicht etwa als Freiheit von Zwang zu verstehen sei, sondern als Erfahrung, die sich nur im Miteinander – also in Anwesenheit von anderen –
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ereigne.1 »Während bürgerliche Freiheit ein rechtlich gesichertes und geschütztes Standnehmen gegenüber der Welt gewährt, handelt es sich bei der politischen Freiheit um ein Standnehmen in der Welt.«2 Weitergedacht ergibt sich für Künstler die Konsequenz, dass sich die ihnen gesellschaftlich zugesprochene Freiheit nur dann realisiert, wenn sie sich auch als teilbar erweist. Michael Lingner formuliert, die zeitgenössische Form ästhetischer Autonomie bestehe darin, dem Rezipienten Möglichkeiten von Autonomie zu eröffnen. Aus dieser Logik heraus sei Kunst in die Phase ihrer ›Heautonomie‹ getreten.3 Mit der Kritik an der anderen Lösung – der Kunst um ihrer selbst willen – war ein Kulturbegriff verbunden, der die ästhetische Produktion nicht mehr ausschließlich einem elitären Bereich von gebildeten Experten und damit einer bestimmten Sozialschicht zuwies. Das Blickfeld hatte sich erweitert: Es entstand eine neue Aufmerksamkeit für die vielfältigen gestalterischen Dimensionen vorhandener Alltagspraxen. Die Suche nach Wegen, die Kunst für den Alltag aller nutzbar zu machen und vice versa den Alltag (von allen) als eigentliches Betätigungsfeld künstlerischer Arbeit zu begreifen, führte folgerichtig zu einer Beschäftigung mit der industriellen Produktion als einflussreichem Betätigungsfeld. Man begann, bei der Gestaltung der Produkte, der Materialauswahl und -bearbeitung sowie den Herstellungsweisen mitzuwirken. Anwendungsbezogenheit – lange Zeit als sekundär herabgewürdigt – wurde jetzt zur eigentlichen künstlerischen Herausforderung. Auch auf der Ebene der Kunstausbildung erprobte man neue Methoden. Mehr noch, die neue Aufmerksamkeit für mögliche Funktionen der Kunst jenseits der Repräsentation ermöglichte neue Perspektiven auf deren Geschichte. Das historische Material wurde neu gesichtet und geordnet, was sich in Präsentationsformen und Lehrangeboten in Museen niederschlug. Bestand zu dieser Zeit noch die Hoffnung auf eine grundlegende Umstrukturierung der gesellschaftlichen Instanzen, welche Kunst vermittelten und verbreiteten, so lässt sich aus heutiger Sicht feststellen, dass die fortgesetzte Arbeit an einem Kunstbegriff, der die soziale Rol-
1
Arendt, Hannah: »Freiheit und Politik«, in: Die Neue Rundschau, 69. Jg.,
2
Breier, Karl-Heinz: Hannah Arendt zur Einführung, Hamburg 2001, S. 107.
3
Vgl. Lingner, Michael: »Gegenwartskunst nach der Postmoderne. ›Heautonome‹
Heft 4, 1958, S. 670.
Handlungskunst – eine alternative Perspektive«, in: Kulturamt der Stadt Jena (Hg.): Kunst – Raum – Perspektiven. Jena 1997, S. 110-119.
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le von Kunst mitreflektiert, eine der möglichen Konsequenzen darstellt, die sich parallel zu zahlreichen anderen Auffassungen zu bewähren hat. (Dabei ist es aber durchaus eine Perspektive, aus der sich alle anderen Ansätze betrachten lassen.) Nach dem Zweiten Weltkrieg führt das Projekt zur allmählichen Auflösung des klassischen Werkbegriffs. Erklärtes Ziel dabei war es, die Warenförmigkeit von Kunst, mit der die Subtraktion oder Umpolung ihrer spezifischen sozialen Einbettung einhergeht,4 zu unterlaufen. Wenn sich Kunst jedoch nicht in der Herstellung von Objekten erschöpft, sondern wenn sie auf die Intensivierung und Reflexion der Wahrnehmung von Lebensrealitäten und von sozialen Beziehungen abzielt – und damit u. U. sogar die Offenlegung von Alternativen verbunden ist –, rückt das Verhältnis zum Adressaten in den Mittelpunkt. Das verstärkte Interesse am Publikum und an Formen, es zu involvieren oder mit ihm zusammenzuarbeiten, gewann vor allem in den letzten Jahrzehnten wieder an Bedeutung. Hier tat sich auch die Parallele zu pädagogischen Methoden erneut auf. Wie sich an den Fortsetzungen der Kunst der 1990er Jahre zeigt, bedarf es heute keiner Durchsetzungskämpfe mehr, um künstlerische Praxen zu realisieren, die sich an einem dematerialisierten Kunstbegriff orientieren und also ihr Material in den Bedingungen gegebener Situationen – seien sie nun kunstinstitutionell oder nicht – finden. Problematischer liegt der Fall, wenn damit nicht nur ein binnendifferenzierter Vermittlungsbegriff, sondern auch ein Änderungsanspruch in Hinblick auf die Kunstdistribution (im diskursiven und ökonomischen Sinn) formuliert wird. Die genealogische und analytische Untersuchung von kunstvermittelnden Ansätzen erlaubt derzeit folgende Aussage: Ein Kunstprojekt ist erst dann als ›institutionskritisch‹ zu bezeichnen, wenn es in seiner Weise der Vermittlung die kunstin-
4
Karl Marx formulierte hierzu: »Aber das Kapital ist kein Ding, sondern ein bestimmtes gesellschaftliches Produktionsverhältnis, das sich an einem Ding darstellt und diesem Ding einen spezifischen gesellschaftlichen Charakter gibt. [...] Das Kapital, das sind die in Kapital verwandelten Produktionsmittel, die an sich so wenig Kapital sind, wie Gold oder Silber an sich Geld ist.« In: Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Dritter Band, Zweiter Teil, in: Marx/Engels, Gesamtausgabe, Berlin 2004, S. 789.
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stitutionellen Strukturen, von denen es sich absetzt, auch herausfordert.5 Ob ein Projekt eine solche institutionelle Herausforderung leistet, lässt sich dennoch nicht an seinem Erfolg im Sinne tatsächlicher Veränderung der Strukturen messen. Denn damit wäre Kunst in die direkte Abhängigkeit von politischer Willensbildung versetzt. Messen lässt sich die Kunst an ihren eigenen Ansprüchen und an dem Wissen, welches sie hervorbringt, indem sie sich an den institutionellen Bedingungen, deren Bewertungsmaßstäben und ihrem ›geheimen Lehrplan‹ reibt. Die Ergebnisse künstlerischen Experimentierens zeigen sich oft erst lange Zeit später. Anstatt also Aussagen über die Zukunft zu machen, tut man in Abwandlung von Osip Brik besser daran, diese offen zu halten und dennoch Gegenwärtigkeit an den Tag zu legen, wenn es gilt, den ›kulturellen Wert‹ künstlerischer Praxis zu befragen oder herauszustellen. Anders formuliert: Weil die Folgewirkungen der Kunst sich immer erst nachträglich zeigen, kann man zwar von ihnen ausgehen, definitv vorausbestimmen aber lassen sie sich nicht. Abbildung 19 und 20: Valerij Bugrov, »Himmel & Erde«, 1991/2001
5
Aus diesem ›praktischen‹ Verständnis von Kritik leitet sich selbstredend kein Imperativ zur Institutionskritik ab. Werden aber Begriffe wie ›Institutionskritik‹, ›radikale Demokratie‹, ›politische Kunst‹ etc. für ein künstlerisches Projekt reklamiert, dann reicht es als Kriterium nicht aus, dass es sich in seiner Binnendifferenzierung als Alternative zu herkömmlichen gesellschaftlichen Arbeitsteilungen erweist.
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Und die Kunstpädagogik? Bislang ist hier über Vermittlung gesprochen worden, als hätte es nie eine Abkopplung der Kunst und ihrer Vermittlung in Gestalt der Kunsterzieherbewegung und ihren Fortsetzungen ›musische Erziehung‹, ›visuelle Kommunikation‹, ›ästhetische Erziehung‹ usw. gegeben. Das geschah nicht aus Ignoranz, sondern aus der Überzeugung, dass diese Tradition seit einiger Zeit in eine Sackgasse geraten ist. Es schien notwendig – wie Pierangelo Maset es verschiedentlich formuliert hat – »von einer bestimmten Form der Kunstpädagogik wegzuführen, die [...] die Kunst als Kunst aufgegeben und verloren hat.« 6 Masets Kritik zielt auf die Umwandlung des künstlerischen Gehalts in mimetisch nachvollziehbare Lernschritte oder technische Fertigkeiten. Das im Kunstfeld mit dem sogenannten ›educational turn‹ einsetzende Interesse für Fragen der Bildung sowie die inflationäre Referenz auf Jacques Rancière sollten aber andererseits nicht darüber hinwegtäuschen, dass die in diesem Diskurs enthaltenen Gedankengänge keine Neuigkeiten in der Pädagogik darstellen.7 Die Abwendung von solchen pädagogischen Methoden, welche die Aufgabe lediglich als Übertragung des Lehrerwissens auf die Schüler verstehen, wird schon lange reflektiert und durchaus praktiziert.8 Und nicht nur das. Aus künstlerischer Perspektive wurde Ran-
6
Maset, Pierangelo: »Zwischen Kunst und ihrer Vermittlung: ›Ästhetische Operationen‹«, in: bilden mit kunst (2004), S. 149-153, insbes. S. 150.
7
Vgl. hierzu die Kritik von Carmen Mörsch, die den distinktiven Kern der Theoriebildung von Rancière und dessen Unterschiede zu Bourdieus emanzipatorischem Ansatz herausarbeitet. Mörsch, Carmen: »Allianzen zum Verlernen von Privilegien. Plädoyer für eine Zusammenarbeit zwischen kritischer Kunstvermittlung und Kunstinstitutionen der Kritik«, in: Nanna Lüth/Sabine Himmelsbach/Edith-Ruß-Haus für Medienkunst (Hg.): medien kunst vermitteln, Berlin 2011, 19-31.
8
So weist Javier Rodrigo darauf hin, dass derzeit die Gefahr besteht, kulturelledukative Verfahren als radikal, neu und kritisch zu bezeichnen, dabei jedoch weder Ansätze der kritischen und demokratischen Pädagogik zur Kenntnis zu nehmen noch die Tatsache, dass auch innerhalb des Schulsystems durchaus Möglichkeiten von aktivistischen bzw. politischen Freiräumen genutzt werden. Vgl. Rodrigo (2009), S. 45.
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cières Kritik an der Pädagogik als »Prozess der objektiven Übertragung«9 bereits 1921/22 von Warwara Stepanowa vorweggenommen.10 Solche Beobachtungen können als bedauerliche Indizien einer tief sitzenden Ignoranz und Spaltung zwischen Feldern gelesen werden, die sich eigentlich zuträglich sein könnten. Der vorliegende Text verfolgte das Anliegen quer zu solchen Feldgrenzen, solchen Ansätzen zuzuarbeiten, die Vermittlung – wie Eva Sturm es formuliert – »von Kunst aus« 11 denken. Da das Bewegen im künstlerischen Feld durch die Konkurrenz verschiedener kursierender Kunstbegriffe geprägt und bestimmt ist, scheint aber eine ergänzende Frage heute dringlich: Von welcher Kunst gehen wir aus?
9
»Einerseits ist Pädagogik ein Prozess der objektiven Übertragung: eine Wissenseinheit nach der anderen, ein Wort nach dem anderen, eine Regel oder ein Theorem nach dem anderen, dieser Teil des Wissens soll exakt vom Kopf des Lehrers oder von der Buchseite in die Köpfe der Schüler/innen übertragen werden. Aber diese Gleichheit der Übertragung beruht auf einer Beziehung der Ungleichheit. Nur der Lehrer kennt den richtigen Weg, die Zeit und den Ort für diese Übertragung ›in Gleichheit‹, da er etwas weiß, was der Unwissende nie wissen wird, der immer dahinter zurücksteht, selbst zum Lehrer zu werden, etwas, das wichtiger ist als das übertragene Wissen. Der Lehrer kennt den genauen Abstand zwischen Wissen und Unwissen.« In: Rancière, Jacques: »The Emancipated Spectator. Ein Vortrag zur Zuschauerperspektive«, in: Texte zur Kunst, Heft Nr. 58, Köln 2005, S. 34-51., insbes. S. 40.
10 »Die trügerische Ansicht, daß man beim Studium oder wenn man sich mit etwas bekannt macht – insbesondere mit der Kunst – mit dem Leichten beginnend zum Komplizierten fortschreiten solle, ist in seiner logischen Konsequenz auf eine beschauliche Weltsicht begründet. Möglicherweise liegen hier die Wurzeln sogar tiefer, da ein solches System dazu beiträgt, Spezialisten mit dem Nimbus des Wissens zu umgeben. Einer weiß etwas, sagt aber nicht gleich alles, um den Reiz nicht zu zerstören. Wenn er dann endlich alles auspackt, so wird er auf diese Weise entblößt dastehen. Er weiß dann nicht, was er weiter tun soll. Durch das schrittweise Freilassen seines Wissens hält er die Rezipienten in geistiger Abhängigkeit.« In: Stepanowa, in: Noever (1991), S. 144. 11 Vgl. Sturm, Eva: Von Kunst aus. Kunstvermittlung mit Gilles Deleuze, Wien, Berlin 2011.
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Genealogiebildung In der oftmals unübersichtlich wirkenden Gegenwart kann die Aneignung der jeweiligen Herkunftsgeschichten von Kunstbegriffen Sortierungshilfe bieten. Aufgrund der problematischen Tradition der Geschichtswissenschaft wird die Möglichkeit einer anderen Geschichtsschreibung oft angezweifelt. In der vorliegenden Arbeit wurde eine experimentelle Vorgehensweise vorgezogen, um »nach den historisch-praktischen Entstehungsbedingungen des Diskurses« zu fragen.12 Bourdieus Methode der doppelten Historisierung, aber auch die Untersuchung und Sortierung von künstlerischen Vermittlungsstrategien der Nachkriegszeit unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten verstehe ich als Beitrag zu einer Genealogie der Vermittlung im Kontext Kunst. Die Hinzunahme von weiteren Quellen könnte das Bild selbstverständlich noch differenzieren und erweitern, vielleicht sogar konterkarieren. Mir ging es darum, eine bestimmte ›Flanke‹ der Kunstgeschichte zu beleuchten. Sich der sozialen Rolle von Kunst bewusst tritt die Arbeit für die Durchsetzung anderer Parameter ein als für jenen dominanten Strang, der sich – unterstützt durch unhinterfragte Geschichtsschreibungen und Wertmaßstäbe marktorientierter Erzählungen – auf mehr Bekanntheit verlassen kann. Für eine Vermittlungspraxis, die sich von Kunst aus versteht, kann eine solche Herangehensweise dabei helfen • •
die Begründung von Vermittlung in der Praxis und Theorie der Kunst selbst zu suchen und herauszuarbeiten, dass der Vermittlungsanspruch von Kunst nicht erst in den 1990er Jahren auftrat, sondern einen eigenen Strang innerhalb der Kunstgeschichte bildet.
12 Die Sozialwissenschaftlerin Hannelore Bubitz erläutert das hiermit verfolgte Ansinnen: »Damit wird den wahrheitskonstitutiven Geltungskriterien von Diskursen ebenso ihre Allgemeingültigkeit genommen wie Fragen nach dem Ursprung oder Wesen destruiert werden. Die Genealogie als historische Methode steht im Gegensatz zu einem metaphysischen und anthropologischen Modell der Geschichtsauffassung.« In: Bublitz, Hannelore: Das Geschlecht der Moderne: Genealogie und Archäologie der Geschlechterdifferenz, Frankfurt/M., New York 1998, S. 29.
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Für konkrete Vermittlungssituationen ist das insofern von Belang, als dass jeder Besucher, Teilnehmer, Schüler, Interessierte bereits einen Kunstbegriff mitbringt. So sehen sich Künstler, Kunstvermittler, Kunst- und Museumspädagogen oft vor die Aufgabe gestellt, zwischen Kunstbegriffen zu unterscheiden oder sich in vorfindliche Vermittlungsgefüge einzumischen. Vielleicht kann das hier zusammengetragene Wissen ein wenig Sicherheit bieten, um die Konflikte, die bezüglich solcher Aufgaben entstehen können, zu verstehen. Vielleicht kann es auch dazu beitragen, die Unsicherheit des Nichtwissens auszuhalten und dennoch Entscheidungen zu treffen, wie es Situationen in Verantwortung verlangen.13 Auf- und Abwertungen Ist also der hier vorgenommene Versuch, die Vermittlungsarbeit enger an künstlerische Fragestellungen zu schließen, von der Bemühung getragen, diese Arbeit aufwerten zu wollen? Ja und nein. Zunächst ging es darum, Parallelen aufzuzeigen zwischen dem künstlerischen und pädagogischen Feld und ihren Verfahren, der Kunst ein »soziales Fundament« (Lissitzky) zu geben. Durch die zeitlich-historische Dimension traten Krümmungen und also Berührungen, Schnittpunkte, Oszillationen auf: Ein Kunstbegriff, der Vermittlung von sich aus mitdenkt und die Erfahrung, dass ein solches Verständnis regelmäßig an den Rand gedrängt und abgewertet wird. Eine höhere gegenseitige Aufmerksamkeit für die facettenreichen Möglichkeiten, die in der Wahrnehmung von Feldgrenzen stecken, könnte sich aus meiner Sicht nur positiv auswirken und das über die Grenzen hinweg disseminierte kritische Potenzial stärken. Letztlich geht es darum, die seit langem erprobten Bewegungen zwischen künstlerischer und pädagogischer Praxis anzuerkennen und sie nicht zwei streng gesonderten Regionen zuzuordnen.
13 »›Nach Derrida‹ ist im Moment der Verantwortung das Wissen nicht gefragt. Im Moment der Verantwortung ist höchstens der je besondere Ertrag des Wissens wirksam, der durch die Antwort aktualisiert wird. Das Wissen war zwar bis zu diesem Punkt tragend, begleitet aber das Entscheidende der Verantwortlichkeit keinesfalls.« In: Puffert, Rahel: »Wissen und Verantwortung«, in: Ulrike Dunkelsbühler/Thomas Frey/Dirk Jäger/Karl-Josef Pazzini/Rahel Puffert/Ute Vorkoeper (Hg.): Als ob ich tot wäre – As if I were Dead. Ein Interview mit Jacques Derrida, Wien 1995, S. 63.
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Die Reichhaltigkeit an Formen und experimentellen künstlerischen Verfahren der Adressierung und Einbeziehung des (vormaligen) Publikums liefern ein breites Spektrum an vermittelnden Methoden. Dabei wird oft auf die Änderung von bekannten Settings gesetzt. Dass Verhaltensänderungen sich nicht durch die »Verbesserung der Menschen«,14 wohl aber durch die »Veränderung der Strukturen, die Ungleichheiten produzieren« herstellen lassen, ist eine Lehre, die sich aus diesen Ansätzen ziehen lässt. Die im pädagogischen Bereich noch immer übliche Konzentration auf personale Ver– mittlungsformen kann von diesem erweiterten Blickwinkel in vieler Hinsicht profitieren. Dennoch ist es nötig, sich neben den Schnittmengen auch über die Unterschiede zwischen den Feldern und über die Grenzen der Übertragbarkeit von z. B. pädagogischer und künstlerischer Praxis Klarheit zu verschaffen. Künstlerische Arbeit wurde hier dem Projekt der Repräsentationskritik zugeordnet. Damit wurde beabsichtigt, die Gerüste der Bedeutungsbildung freizulegen und sie in Zweifel zu ziehen, sowie, die sozialen und materialen Muster von Kommunikation und Handlungsräumen zu hinterfragen und ihren konsensualen Sinn zu verunsichern. Immer wieder wird versucht, der Kunst die Rolle der Mediatorin zuzuschieben, sie also gezielt dort einzusetzen, wo Konflikte harmonisiert, verharmlost oder vertuscht werden sollen. Aus meiner Sicht bedeutet das, ihre Wirkungsmacht misszuverstehen. 15 Für Aufgaben des Konfliktmanagements und der Mediation ist Kunst ebenso ungeeignet wie fehl am Platz. Hier wie auch im pädagogischen Feld wird Niedrigschwelligkeit oft mit Anspruchslosigkeit verwechselt. Genau diese Kopplung sollte aus meiner Sicht überdacht werden. Weder auf der Ebene der Stadtentwicklung noch im Bereich kultureller Bildung oder Kunsterziehung etc. sollten wir uns mit Lösungen zufrieden geben, deren kurzfristige
14 Raunig, Gerald: »Grosseltern der Interventionskunst, oder Intervention in die Form. Rewriting Walter Benjamins’s ›Der Autor als Produzent‹«, in: http:// eipcp.net/transversal/0601/raunig/de (März 2011). 15 Vgl.: Treméau, Tristan: »L’artiste médiateur«, in: Artpress Special. Écosystemes du monde de L’art, Nr. 22, Paris 2001, S. 52-57. Der Autor unterscheidet und untersucht hier verschiedene Spielarten einer Mediationskunst. Ihre spielerische, pädagogische oder kathartische Wirkung führt er auf eine Verkennung ihrer Vorbilder Minimal, Fluxus und Beuys zurück. Den Künstlern komme dabei die Rollen von Animateuren, Sozialarbeitern oder Hebammen zu.
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Gemeinschaftsstiftung auf dem Prinzip der Unterforderung beruht. Anstatt dem schönen Schein zu dienen, kommunitäre Illusionen zu schüren oder für kurzfristige Erbauung zu sorgen, ist künstlerische Arbeit nach wie vor auf die Intensivierung, Differenzierung und Präzisierung von Wahrnehmungen ausgerichtet. Die Beständigkeit sexueller, rassistischer und klassenbedingter Unterdrückung und Ausgrenzung bietet der Kunst überreichlich Material an sozialen Konflikten. Solange sich Kunst aber darin übt, an der Wirklichkeit zu arbeiten, wirkt sie auf bereits Vorfindliches ein, so dass es in seiner Gemachtheit erkennbar wird und seinen Möglichkeitsraum zur Veränderung entfalten kann. Das gilt auch für Konflikte. Aber, so lautet die Einschränkung, das Telos der Pädagogik ist sozialisierend. Um die Offenheit garantieren zu können, die Bildungsprozesse verlangen, ist pädagogische Arbeit auf längerfristige strukturelle und materiale Bedingungen angewiesen. In dieser Angewiesenheit auf Permanenz liegt vielleicht auch die größte Differenz von künstlerischen und pädagogischen Ausgangslagen. So lässt sich beispielsweise an der Architektur und Ausgestaltung von Schulen die inhaltliche Bestimmung des jeweiligen Bildungsanliegens ablesen – von den Domschulen des Mittelalters bis heute. Heute werden die architektonischen Räume gemäß bestimmter Stammräume (Klassenraum) und Fachräume (Sport, Biologie, Kunst) funktional gegliedert. Zusätzlich werden sie durch die Inneneinrichtung im Sinne sozialer Hierarchien und der Verteilung von Aufmerksamkeit (Lerninhalt, Lernende) organisiert (Bildungsraum). »Im täglichen Schullalltag sind wir stets mit räumlichen Strukturen konfrontiert, das heißt mit Räumen, die bereits (vor)konstituiert worden sind.«,16 stellen Nina Feilz und Katharina Willems klar und erläutern: »Diese Strukturen werden von schulischen Akteurinnen und Akteuren repetitiv reproduziert, mit der Zeit setzt sich eine gewisse Immunität gegenüber Veränderungen fest.«17 »Ein Klassenraum, ist ein Klassenraum, ist ein Klassenraum?!« – in ihrem Text sprechen sich die Erziehungswissenschaftlerinnen zusätzlich zu den oben skizzierten Raumverständnissen für ein von Foucault abgeleitetes Ortsverständnis aus, um Schulräume zu analysieren. Der Ort symbolisiere
16 Feltz, Nina/Willems, Katharina: »Ein Klassenraum, ist ein Klassenraum, ist ein Klassenraum?! Von schulischen Räumen und Bildungsprozessen«, in: eWi Report, Nr. 28 Hamburg 2003/04, ohne Seitenangaben. 17 Ebda.
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die Art und Weise »wie ich mich im Raum platziere«. In der Erinnerung sei der Ort das, was den Klassenraum zum »Denkmal eines gemeinsamen Prozesses« mache.18 »Jede Form ist das erstarrte Momentbild eines Prozesses«, schrieb Lissitzky. Von Seiten der Kunst können Prozesse angestoßen werden, die zur Neugestaltung oder zur Lösung und Lockerung unhinterfragter institutionalisierter Formierungen (seien sie material oder immaterial) beitragen. Und genau hier steckt auch der Anschluss an die beschriebenen avantgardistischen Bemühungen: Es geht eben nicht darum, Institutionen an sich zu verwerfen oder sie zu zerstören. Im Gegenteil: Es gilt, die Curricula, die Lehrmethoden und die infrastrukturellen Bedingungen an demokratischen Ansprüchen, aktuellen Wissensständen und technologischen Gegebenheiten auszurichten und entsprechend umzuorganisieren. In diesem Sinne könnten Lissitzkys Öffnung und seine Verräumlichung des Bildes, seine Konzepte der ›Darstellung‹ und der ›immateriellen Materialität‹ durchaus auf den schulischen Raum, also auf die Gestaltungsmöglichkeiten von Bildungsräumen und -prozessen angewendet werden. Dennoch sind die strukturellen Zwänge und Notwendigkeiten von Bildungsinstitutionen mit denen von Kunstinstitutionen nur beschränkt vergleichbar. Dennoch geschieht die Anwendung bereits: Lehrer in Schulen, Museumspädagogen in Museen, Kunstvermittler und Künstler an anderen Orten und Plätzen teilen sich eine Fragestellung: »Ist künstlerische Bildung unter gegebenen Bedingungen möglich? Wenn ja, wie?«. Von der Pädagogik aus gedacht, muss die ergänzende Frage lauten: »Wenn nein, was ist dann möglich?«. Und die Kunst – sie kann und darf das Feld an dieser Stelle räumen. Es ist das Verhältnis zur Ethik, das an dieser Stelle die Unterscheidung ausmacht. Komplizenschaft zwischen Kunst und Bildung Zwischen den Bereichen Kultur und Bildung – Felder, die auch Wissenschaftsgrenzen implizieren – bewegt sich diese Arbeit nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell und nicht zuletzt auch persönlich bedingt. Es sind
18 Ebda. Hier ließe sich ebenso an das Habituskonzept von Bourdieu anschließen, um die inkorporierten Klassenlagen, wie sie sich in Schulen – insbesondere in Grundschulen – zeigen, besser das heißt aus einem emanzipatorischen Blickwinkel heraus einordnen zu können.
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die institutionellen Ordnungen, die Trennungen ziehen, wo eigentlich keine sein sollten, und die Entscheidungen der Zuordnung erwarten, wo keine Entscheidungen möglich sind. Kultur bedarf der Bildung und ohne Bildung ist keine Kultur denkbar. Bei aller Kritik an den Herrschaftsformen der Traditionen gibt es gute und schlechte Gründe für die institutionelle Ordnung – in welcher zu agieren einem fürs Erste vorbehalten bleibt. Mit Adornos nach wie vor geltendem Satz »Wer Kultur sagt, sagt auch Verwaltung«19 ist das notwendig organisierte Verhältnis angesprochen, das zumindest in westlichen Gesellschaften unser entfremdetes Verhältnis zur Kultur bestimmt. Wenn wir also von Kultur oder Bildung sprechen, dann können wir das immer nur im Verhältnis zu den Ordnungen tun, die gegeben sind. Das gilt auch für solche Ordnungen, die nicht starr sind, sondern die im permanenten Um- und Raubbau von alten institutionellen Ordnungen ihre Flexibilität und ihren Anpassungswillen an marktwirtschaftliche Regeln und Nicht-Regeln meinen beweisen zu müssen.20 Auf der Suche nach einem Weg, der nicht unbedingt ein Ausweg sein muss, wird die Kunst als prädestinierter Hoffnungsträger gehandelt: Um sie vor der Verwertung zu schützen, hatte Adorno sie in seine negative Dialektik eingearbeitet, ihr Autonomie zugesprochen und sie mit Referenzen aus einem Repertoire bestückt, die seine Theorie nur für eine Elite gebildeter und bürgerlicher Menschen überhaupt verstehbar werden ließ. Die Chance der von mir angedeuteten Umlenkung und Infiltration des Kunstdiskurses durch bildungstheoretische Fragestellungen läge darin, es mit diesem überkommenen Autonomiebegriff aufzunehmen. Ohnehin und insbesondere angesichts der Definitionsmacht des sich neu ausbildenden Bildungsmarktes sollte die Bildungstheorie sich nicht länger davor drücken, sich kritisch mit den Chancen und Nachteilen ihrer eigenen Marginalität zu befassen. Ein komplizenhaftes Verhältnis von Kunst und Bildung wurde und wird bereits von verschiede-
19 Adorno, Theodor W.: »Kultur und Verwaltung«, in: ders.: Soziologische Schriften I, Frankfurt/M. 1979, S. 122-146, insbes. S. 122. 20 Wiewohl vor einer mythologisierenden Haltung gegenüber dem Wohlfahrtsstaat zu warnen ist, scheint mir an dieser Stelle Pierre Bourdieus Perspektive, der die Errungenschaften des europäischen Sozialstaates als »so unwahrscheinlich und so kostbar wie Kant, Beethoven, Pascal und Mozart« bezeichnete, bedenkenswert. Vgl. »Pierre Bourdieu ist tot«, in: die tageszeitung Berlin, 25.01.2002, in: http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2002/01/25/a0012 (September 2011).
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nen Seiten formuliert.21 Dabei zeigt sich eine zweiseitige Angewiesenheit: Solange Kunst dem singulären Ort, der singulären Zeit und der singulären Stimme des Einzelnen Möglichkeiten anheimstellt, ist es ihr weiterhin möglich, sich in gesellschaftliche Räume einzunisten und die Reorganisation von Ordnungen vorstellbar und auch praktizierbar zu machen. Um Bestand zu haben, scheint die Kunst heute gezwungen, sich sehr präzise mit ihren Rahmenbedingungen zu befassen – sie kann diese zum Thema und Material machen oder eine deutliche Differenz zu ihnen bilden. Und weil die ihr nachhaltig zugesprochene Exklusivität dazu tendiert, Kunst als sozialen Überfluss zu deklassieren, hat sie es manchmal nötig, den Standpunkt der Nicht-mehr-Kunst einzunehmen – um so weiterhin ihr folgenreiches Dasein zu fristen.22
21 Ich meine hier aus dem engeren Feld der ›Ästhetischen Bildung‹ Einsätze wie etwa die von Pierangelo Maset, Eva Sturm oder Karl-Josef Pazzini. Sehr deutlich spricht sich aber z. B. der Bildungstheoretiker Bernhard Taureck für eine Bildungsdiskussion aus, die das langweilige Spiel der gegenseitigen Nichtbeachtung und Ausschaltung von Bildungswissenschaft und Machteliten unterbricht und verdirbt. Es gelte, den Vorteil der intellektuellen Überlegenheit auszunutzen, anstatt sich auf die Pflege kleiner Experimentalgärtchen zu beschränken und das Feld denen zu überlassen, die Macht, Geld und Medieneinfluss besitzen. 22 Und hier dreht sich dann auch das Ab- und Aufwertungsproblem um. Jean Claude Moineau führt hierzu aus: »Die Tatsache, dass man nicht nur für die Institution aber sowohl für die ›Öffentlichkeit‹ als auch für den vereinzelten Zuschauer sagt, dass ›es Kunst ist‹ räumt schon mehr Freizügigkeit, ›LaissezFaire‹, ›Nachsicht‹ ein, aber diese Aussage entzieht der Kunst Relevanz und Effizienz, mindert ihre Leistungsfähigkeit [performativité] sowohl i. S. von Lyotard in La Condition postmoderne als auch i. S. von Austin und zwar in dem Maße, dass das künstlerische Urteil, dass ›dies Kunst ist‹ im Ergebnis sich als ein Urteil darstellt, das nicht so sehr aufwertend denn abwertend ist: ›Dies ist nur Kunst‹, ›Dies ist lediglich Kunst‹. [...] Daher die Notwendigkeit nicht nur aus den Kunst-Räumen, nicht nur aus der künstlerischen Institution herauszutreten (auf die Gefahr hin diese noch zu erweitern) sondern aus der Kunst als solcher, aus der Kunst-Identität herauszutreten und eine Kunst ohne Kunst-Identität, eine Kunst, die sich nicht mehr als Kunst gibt, zu ›fördern‹, ob diese legitim ist oder nicht und unabhängig von der Legitimierungsinstanz, eine Kunst,
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Abbildung 21: Valerij Bugrov, »Himmel und Erde«, 1991/2000
die dadurch ihr performatives Potential noch steigert.« In: Moineau, JeanClaude: Retour du futur. L’art à contre courant, Paris 2010, insbes. S. 252-276 [hier nach einer unveröffentl. Übers. von Didier Gammelin].
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Bildnachweise
Das Titelbild stammt von Tobias Still. Es beruht auf einer programmbasierten Textanalyse des hier abgedruckten Textes. Dargestellt ist die Häufigkeit der Begriffe ›Kunst‹ (hellgrau), ›Vermittlung‹ (anthrazit) und ›Kunstvermittlung‹ (grün). Abbildung 1: El Lissitzky, Proun 1A, »Brücke 1«, 1919, in: LissitzkyKüppers (1992), S. 120. Trotz intensiver Recherche konnte ich den derzeitigen Inhaber der Bildrechte nicht ausfindig machen. Abbildung 2: Titelseite »LEF«, Nr. 2, 1924, Entwurf: Alexander Rodtschenko mit einer Grafik von Ljubow Popowa, in: Caixa Catalunya Social Work (Hg.): Rodchenko. Constructing the Future, Ausstellungskat. Barcelona (2008), S.153, A. Rodtschenko und W. Stepanowa Archiv, Moskau (Aleksei Konoplev). Abbildung 3: El Lissitzky, Briefkopf der Zeitschrift »Gegenstand«, 1922, in: Lissitzky-Küppers (1992), S. 170. Abbildung 4: Wladimir Majakowski, Motiv aus der 12-teiligen ROSTAPlakatfolge »Bekämpft den Hunger«, 1920, Sammle Geld und Essen (11). Abbildung 5: Wladimir Majakowski, Motiv aus der 12-teiligen ROSTAPlakatfolge »Bekämpft den Hunger«, 1920, Beeil dich, gib alles weg (12). Abbildung 6: Algirdas J. Greimas, Schema, in: Walker Art Center (1990), S. 242. Abbildung 7: Ruhlmann, Residenz eines Sammlers, 1925, in: Margolin (1997), S. 95.
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Abbildung 8: Alexander Rodtschenko, Arbeiterclub für die internationale Kunstgewerbeausstellung, Paris, 1925, in: http://www.textezurkunst. de/daily/2009/may/27/kleiner-tigersprung-ins-vergangene/ (Mai 2011). Abbildung 9: Alexander Rodtschenko, Wohnung in der Myasnicka Straße (Fotografie), 1925, in: Margolin (1997), S. 135. Abbildung 10: Titelseite »Novyi LEF«, No. 1, 1928, Entwurf: Alexander Rodtschenko, in: Rodchenko. Constructing the Future, Barcelona 2008, S. 155, A. Rodtschenko und W. Stepanowa Archiv, Moskau (Aleksei Konoplev). Abbildung 11: Titelseite »Novyi LEF« no. 7, 1927, Entwurf: Alexander Rodtschenko, in: Caixa Catalunya Social Work (Hg.): Rodtschenko. Constructing the Future, Barcelona 2008, S. 154, A. Rodtschenko und W. Stepanowa Archiv, Moskau (Aleksei Konoplev). Abbildung 12: Hl. Georg der Siegträger, Anfang des 16. Jhd. (Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau), in: http://www.icon-art.info/topic.php? lng=de&top_id=77&month=0&style=(old&mode=img&sort=time&pag e=2 (Mai 2011). Abbildung 13: Kasimir Malewitsch, Suprematismus: Waagerecht geteilt, Bleistift auf quadriertem Papier, 1916, (Stedelijk Museum Amsterdam), in: Matthew Drutt (Hg.): Kasimir Malewitsch. Suprematismus, Kat. Deutsche Guggenheim Berlin, New York 2003, S. 171. Abbildung 14: Michio Yoshihara, Malen mit einem Fahrrad, 1965, in: Noever (1998), S. 122. Abbildung 15: Hi Red Center, Bewegung zur Förderung des Stadtgebiets (Seid sauber!), 1964, in: Noever (1998), S. 145. Abbildung 16: Clegg & Guttmann, »Die Offene Bibliothek«, Standorte in Barmbek und Kirchdorf Süd, Hamburg 1993, Foto: Hans-Jürgen Wege/Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg. Abbildung 17: Michel Chevalier, »unlimited liability« (Innenansicht), 2007, Foto: Michel Chevalier. Abbildung 18: THE THING Hamburg, Startseite, Screenshot. Abbildung 19-21: Valerij Bugrov, Himmel und Erde 1991/2000, in: Kunstverein & Stiftung Springhornhof Neuenkirchen/Ruth Falazik/Detlef Wittkuhn (Hg.): Valerij Bugrov, Himmel und Erde 1991/2001, Hamburg 2000, ohne Seitenangabe.
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Katja Hoffmann Ausstellungen als Wissensordnungen Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11 April 2013, ca. 496 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2020-7
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