Diskrete Gespenster: Die Genealogie des Unbewussten aus der Medientheorie und Philosophie der Zeit [1. Aufl.] 9783839409589

Dieses Buch stellt eine historische Rekonstruktion von psychoanalytischen und philosophischen Gedächtnistheorien in ein

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German Pages 544 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
1. Präludium
1.1 Psychoanalyse und Wiederholung
1.2 Die Ur-Sache der Schlaflosigkeit
1.3 Das verlorene Objekt
1.4 Kern unseres Wesens und Gedanken des Leids
1.5 Gedankenarbeit
1.6 Gespenster-Botschaften
1.7 Fragen und Leiden in der Wirklichkeit
1.8 Antworten?
1.9 Psychoanalyse versus Psychologie
1.10 Verkennen und Überleben
1.11 Das Leiden der Zwangsneurose
1.12 Wiederholung und Barmherzigkeit
1.13 Die gute und die schlechte Wiederholung
1.14 Hegel, Freud und der Einbruch der Trauer
2. Einleitung
2.1 Insistierende Fragen
2.2 Eine Antwort
2.3 Philosophie, Strukturalismus, Dekonstruktion
2.4 Thanatologie bei Schlaflosigkeit
2.5 Rückkehr zu Freud
2.6 Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache
2.7 Das mediale Dispositiv der Psychoanalyse
2.8 Das Böse, das Reale, das Mediale
3. Das Spiegelstadium Lacan mit Hegel
3.1 Theorie des Spiegelstadiums
3.2 Hegels dialektischer Dreischritt
3.3 Hassliebe zwischen Eins und Zwei bis zur Intervention von Drei
3.4 Tod
3.5 Zeit und Geschichte
3.6 Unbewusste Subjekt-Prozeduren
3.7 Grabmäler
3.8 Gesetz der Differenz
3.9 Mythen und Computer
3.10 Circuit
3.11 Paranoia
3.12 Neurose
3.13 Wiederholte Fallgeschichten
3.14 Die Wiederholung eines Versuchs
4. Zwischen den Schauplätzen
4.1 Zusammenfassung
4.2 Die Vernichtung von Meringer und Mayer
4.3 Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache
4.4 Wessen Unbewusstes?
4.5 Das Unbewusste Freuds und das sprachstrukturierte Unbewusste
4.6 Lacans Wiederholung des Unbewussten: das brennende Sein
4.7 Das Vergessen Freuds und das Objekt der Wissenschaft
4.8 Das strukturale Objekt und die linguistische Urszene
4.9 Die Wiederholung des „Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache"
4.10 Die Wiederholung im akademischen Diskurs
4.11 Die heilige Angst versus die Ängstlichkeit der Wissenschaft - Dialektik vs. Ideenge schichte
4.12 Das Objekt = x als Patient: Kleinigkeiten und ihre verheerenden Folgen
4.13 Lacans Wissenschafts- und Medientheorie und das signifikante „und"
4.14 Öffnung und VerschlieÜung der Kluft des Denkens
4.15 Gute versus schlechte Wiederholung, Dassheit versus Washeit, symbolischer versus imaginärer Mangel
4.16 RSI
4.17 Sprechen versus Sprache
4.18 Exkurs: Lacan und Heidegger
4.19 Die Ur-Sache der Wissenschaft und die Medien
4.20 Lacans Psychoanalyse im Kontext des Poststrukturalismus
4.21 Wiederholung und Bilanz
5. Die Vorgeschichte des Freud'schen-und-des-sprach - strukturierten Unbewussten in der Wechselstromphysik
5.1 Die Zeichen der Klassik
5.2 Bruch
5.3 Lacans Konzept des Signifikanten
5.4 Trauma, Tremolo, Phobie, Paranoia, Diskontinuität - und die wissenschaftlichen Subjekte der medialen Psychoanalyse
5.5 Wiederholung von Geschichten
5.6 Das Unbewusste und die Geschichte der elektrischen Medien
5.7 Diskrete Zeiten und Relationen
5.8 Die Genealogie des Unbewussten aus der Geschichte des Wechselstroms I
5.9 Epistemologische Zäsur in Folge derFaraday'schen Entdeckung: die neue Zeit
5.10 Henrys Maschine und der Kampf um die Wahrheit
5.11 Freuds Analysetechnik: Operationalität versus Repräsentation
5.12 Revolutionierung von Räumen und Zeiten
5.13 Newton versus Faraday: die alte und die neue Zeit
6. Korpsifizierung
6.1 Körper unter Strom: Die Genealogie des Unbewussten aus der Geschichte des Wechselstroms II
6.2 Körper-Medien-Verbindungen
6.3 Die Arbeitsplätze von Sigmund Freud
6.4 Prophetie und Fatalismus
6.5 Claude Bernard und die Anfange der experimentellen Physiologie
6.6 Seelenfragen und ihre Techniken: Carl Ludwig
6.7 Tickende Uhren und das Unbewusste bei Wundtund Freud
6.8 Wahnsinn und Normalität: Freud mit Bleuler
6.9 Freud und Flechsig: Hirnhunger, eine anorektische Penelope und die Hölle
6.10 Eine Zusammenfassung, ein Intermezzo von Du Bois-Reymond und dann der große Helmholtz
7. Aporien und Ängste
7.1 Physis, Antiphysis- und der Beginn der großen Angst
7.2 Labor-Ängste
7.3 Angst, Aporie oder Verkennung - Reaktionen aufs Reale
7.4 Stoß und Schreck
7.5 Aporienmanie
7.6 Freuds Angsttheorie im Überblick: von der Energie zur Signalangst
8. Die Ankunft des Unbewussten in der Linguistik
8.1 Das Freud'sche-Unbewusste -und- das-sprach st rukturierte-Unbewusste
8.2 Ferdinand de Saussure und der Strukturalismus
8.3 Lacans (Re-)Lektüre von Saussures Zeichen
8.4 Saussure zwischen Ursache und Ur-Sache
8.5 Der Signifikant als diskrete Relation
8.6 Die Freud'sehe Aporie als Krise der z^eichentheorie
8.7 Der Algorithmus von Begehren und Wiederholung
8.8 Kryptologie
8.9 Metonymie und Metapher: Lacan und Jakobson
8.10 Repräsentation versus Verschlüsselung
8.11 Lacan und die Kybernetik
8.12 Fragen und Betäubungen von Fragen
8.13 Der symbolische und der imaginäre Tod in der Wissenschaft
8.14 Die Neurose als Abwehrmaßnahme der Wissenschaft - und das Fallbeispiel Albert Einstein
8.15 Die Bedeutung von Medien und Objekten - Lacans Prospekt einer medienarchäologischen Psychoanalyse
8.16 Tödliche Fragen
9. Die Geschichte des Subjekts in Philosophie und Psychoanalyse
9.1 Die Geschichte, das Durcharbeiten, die Wiederholung - Schicksal
9.2 Imaginäre Erinnerung versus symbolisches Gedächtnis
9.3 Geschichte als Freud'sche Entstellung
9.4 Das Schicksal insistiert von Heidegger bis zu Lacan - gegen alle Egologen
9.5 Die Liebe
9.6 Testament und Nachträglichkeit
9.7 Zwischen Kontingenz und Determinismus oder Fragen ohne Antwort
9.8 Die Liebe?
9.9 Imaginäre versus symbolische z^eit
9.10 Tod, Anerkennung, Wiederholung - Hegel, Freud, Heidegger, Lacan
9.11 Die Analyse der Geschichte des Subjekts: Wiederholung und Entzifferung
10. Durcharbeiten der Geschichte mit Freud und Lacan
10.1 Sprechen und die sprachlichen Bildungen des Unbewussten
10.2 Chirurgie des Sprechens
10.3 Lügen und Unverstehbarkeiten der Geschichte - die Problematik des Gesetzes und das Über-Ich
10.4 Vom Sprechen des Symptoms zur guten Wiederholung der Geschichte
10.5 Das Ich und das Es in der Psychoanalyse
10.6 Das Unbewusste-Freuds-und-das-sprachstrukturierte-Unbewusste, das mediale Reale - eine Zusammenfassung
11. Ende und Anfang der Wiederholung das Trauma und seine Folgen
11.1 Weltunglück a priori - Das Trauma und seine Folgen
11.2 Trauer oder Happiness, Seinsschuld oder kostenloses Vergnügen?
11.3 Das Trauma und seine Folgen für die Geschichte des Subjekts und die Technik der Psychoanalyse
11.4 Das Trauma als pathogener Kern - eine Mediengeschichte zwischen Freud und Lacan
11.5 Weitere Folgen des Traumas - Verdrängung oder Verwertung
11.6 Alienation und Separation
11.7 Das Objekt klein a
11.8 Die zTeit der Traumata und die UVerdrängung
11.9 Die psychotische Verwerfung
11.10 Neurose versus Psychose, Bedeutung versus Halluzination
11.11 Ein Ende in Wahnsinn
Literatur
Danksagung
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Diskrete Gespenster: Die Genealogie des Unbewussten aus der Medientheorie und Philosophie der Zeit [1. Aufl.]
 9783839409589

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Annette Bitsch Diskrete Gespenster

2008-11-07 13-12-26 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 028f193962223768|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 958.p 193962223776

Für Wolfgang Hagen

Annette Bitsch (Dr. phil.) ist Privatdozentin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kultur- und Medienwissenschaft, Psychoanalyse sowie Gehirnforschung.

2008-11-07 13-12-26 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 028f193962223768|(S.

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Annette Bitsch Diskrete Gespenster. Die Genealogie des Unbewussten aus der Medientheorie und Philosophie der Zeit

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Joulia Strauss, »Diskrete Stürme«, Berlin 2003 Lektorat: Annette Bitsch Satz: Alexander Masch, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-958-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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I. P R Ä L U D I U M 1.1 Psychoanalyse und Wiederholung Ein Buch über die Geschichte der Psychoanalyse und ineins damit über die Geschichte einer Theorie und Praxis der Wiederholung ist eine Wiederholung. Eines der bevorzugten Wiederholungsmedien innerhalb der symbolischen Ordnung des akademischen Diskurses ist das, was dieser als Sekundärliteratur bezeichnet, nahelegt, befiehlt. In der Sekundärliteratur ist ein Buch über die Geschichte und Entwicklung der Psychoanalyse eine Wiederholung, und nicht nur eine, sondern die xte Wiederholung. Die im Ablauf der letzten Jahre und Jahrzehnte zu Freud und Lacan verfassten Bücher, Abhandlungen, Aufsätze, Aufsatzsammlungen formieren für sich ein kleines symbolisches Universum, und nimmt man die Bücher, Abhandlungen, Aufsätze mit einer bestimmten, auf eine wissenschaftliche Disziplin oder einen Expertenzirkel hin spezifizierten Ausrichtung hinzu, dann wird dieses symbolische Universum rasch expandieren und dennoch niemals mit dem Realen, mit seinen Ausmaßen, seinen ins Unendliche gehenden Pigmentierungen, Verzweigungen, schwarzen Löchern, mit seinen Wucherungen zusammenfallen. Damit ist ein zentraler Punkt am Fundament des Denkens der Psychoanalyse und ihrer Konzeptionen von Gedächtnis, Zeit und Wiederholung genannt und eingeführt: Die Konvergenz des Symbolischen und des Realen ist unmöglich.1 Das Reale ist dunkler, mächtiger, unsagbarer als das Symbolische, und es ist unheimlicher und unbehaglicher als das Imaginäre, also die zwischen Requiem, Sachlichkeit und Weekend-Programm fluktuierende Wirklichkeit. Das Reale lässt sich unendlich oft durchqueren, durchrasen, um doch am Ende unverführbar zu bleiben durch das letzte Wort, das absolute Wissen, die Wahrheit. Und so wird „man von hier aus begreifen, daß unser Rekurs auf Hegels Phänomenologie nicht Systemgefolgschaft anzeigte, sondern ein Versuch war [...], unentwegt Etwas Anderes (Autrechose) zu sagen [...] unsere Art Aufhebung transformiert die von Hegel, den Trug derselben, in eine 1

Im zweiten Absatz, am unmittelbaren Anfang dieses Buches mag dieser Satz – die Konvergenz des Symbolischen und des Realen ist unmöglich –, der am Ende erklärt und bewiesen sein soll, unterschiedliche Reaktionen, eine Stockung im Lesefluss, eine Überraschung, Konsternation oder sogar Misskredit hervorrufen. Was hier sich hier jedoch mit aller Plötzlichkeit im Sprechen erhebt, ganz und gar unvermittelt zur Äußerung kommt, markiert eine der zentralen Thesen dieses Buches, die vielfach und in vielen Kontexten Erläuterung finden wird. Für den Moment sei der Leser gebeten, sein Vertrauen in diesen Satz zu investieren oder auch einfach darum, ihn mit Lacan zu nehmen: „Oft ist es besser, nicht zu verstehen, um zu denken, und man kann meilenweit im Verständnis davongaloppieren, ohne daß der kleinste Gedanke dabei herausspringt.“ (Lacan 1991: 205) Vgl. auch Lacan 1986a: 40: „Es ist, weil das, was ich früher gesagt habe, seinen Sinn annimmt nachher.“

10 | DISKRETE GESPENSTER

Gelegenheit, an Ort und Stelle der Sprünge eines idealen Fortschritts die Verwandlungen eines Verfehlens aufzuzeigen“2. Keine Aufhebung, keine Wahrheit, kein letztes Wort, und nur darum trägt alles Sprechen, Schreiben, Erinnern, Wiederholen in sich die Chance auf etwas Neues. Nur darum lässt sich Funktion machen von der endlosen Rekursion eines Verfehlens der Wahrheit, eine Funktion, die sich nicht in der ewigen Wiederkehr des gleichen Symptoms erschöpft, sondern sich im vollen Sprechen als einer Station von Wahrheit offenbart.

1.2 Die Ur-Sache der Schlaflosigkeit Lacans Theorie rekurriert, um das obige Zitat noch einmal aufzunehmen, auf Hegels Phänomenologie, sofern diese die Wahrheit als Vollzug eines Sprechens, als dialektische Bewegung des Begriffs3, also operational denkt, um jedoch andererseits die Systemgefolgschaft in genau dem Moment zu stornieren, in dem es zu einer letzten Aufhebung im Absoluten käme. Einerseits betont Lacan die Nähe des unbewussten Wissens zum Hegel’schen Selbstbewusstsein und verweist auf Hegels Präfiguration einer „ontologischen Teilung“4, andererseits markiert er auf nachdrückliche Weise die Differenz zwischen Hegels und Freuds Subjektkonzeptionen. Lacan folgt Hegel, sofern dieser in seinem Konzept von Bewusstsein als dialektische Bewegung das Subjekt verzeitlicht bzw. operationalisiert5 und so ein Unbewusstes im FreudLacan’schen Sinne antizipiert. Aber zugleich hört er nicht auf, mit einer Stimme, die bald drohend und bald sanft, manchmal aus dem Samt der Verschwörung und manchmal voll Fatalismus ist, die Entdeckung des Unbewussten zu beschwören, ins Gedächtnis, in die Wiederholung zu rufen: diese „schreckliche Macht, die Freud anruft, um uns aus dem Schlaf zu wecken, durch den wir sie betäubt halten“ und die „die Wiederholung selbst [ist], deren Gestalt er für uns erneuert: in der Spaltung des Subjekts, dem Schicksal des wissenschaftlichen Menschen“6. Das Schicksal des wissenschaftlichen Menschen seit der Entdeckung und Botschaft Freuds ist, dass er beim absoluten Wissen nie mehr wird landen können. Hegels Selbstbewusstsein konnte sich zeitweilig, d.h. im Intervall der Weltgeschichte nicht mehr an die Ursache erinnern, aber es konnte sich aus den in diesem Defizit gründenden Irrtümern und Widersprüchen zum Direttissima der Aufhebungen emporschwingen und auf diese Weise endlich beim absoluten Wissen oder im Jazz-Café an der Ecke die Erinnerung daran, dass alles immer schon gewesen war, und damit seine Ruhe wiederfinden. Freuds Unbewusstes dagegen kann sich an die Ur-Sache, an die Unmöglichkeit der Wahrheit, an die Unmöglichkeit der Konvergenz des Realen und des Symbolischen nicht erinnern, und so ist es verflucht – „schreckliche Macht“ – zur Ruhelosigkeit, zur endlosen Wiederholung, zur endlosen Reproduktion des Signifikanten Ur-Sache. „Das Unbewußte ist seit Freud eine Signifikantenkette, die irgendwo (auf einem andern Schauplatz, schreibt er) sich wie2 3 4 5 6

Lacan 1991a: 215f. Vgl. Hegel 1988: 15f; vgl. auch Liebrucks 1970: 4. Lacan 1991b: 96. Vgl. Liebrucks 1970: 29 und 34. Lacan 1986: 178.

PRÄLUDIUM ſ 11

derholt, hartnäckig sich wiederholt“7, und nicht nur dass es unheilbar an Schlaflosigkeit erkrankt wäre. Nicht nur, sondern mehr, schlimmer, unheilbarer kann es auch und gerade im Schlaf nicht mehr zur Ruhe kommen. Es kann die Entspannung am Ende eines langen Tages nicht mehr finden, das erlösende Gefühl des tiefen Vollbracht im Café zum Absoluten unwiderruflich verloren, die Ursache unerinnerbar vergessen. „Problematisch geworden ist mit oder in der Frage nach moderner Subjektivität nicht nur dessen transzendentale oder konstitutive Begründung, sondern die temporale Architektonik und Metaphorik der Denkfigur des Grundes oder des Fundamentes selbst. Denn deren vorderhand räumliches Schema verbirgt das zeitliche Schema, auf dem es beruht.“8

1.3 Das verlorene Objekt Im zweiten Teil seines Textes über Die Verneinung fragt Freud nach jenem frühen vorsokratischen, vorbegrifflichen Stadium, in dem es eine Unterscheidung zwischen Ja und Nein, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen einem weltkonstituierenden Innen und Außen noch nicht gibt, sondern diese vielmehr erst entsteht. Sie entsteht laut Freud in zwei aufeinander folgenden Ereignissen, deren erstes er das „Attributionsurteil“ nennt, während im zweiten, dem „Existenzurteil“, das Freud mit der Realitätsprüfung akkommodiert, die Wirklichkeit, das Objekt emergiert. Im Attributionsurteil ergeht das Urteil über das Gute und das Schlechte. „Das Schlechte, das dem Ich Fremde, das Außenbefindliche, ist ihm zunächst identisch“, schreibt Freud, dann aber wird das ursprüngliche Lust- oder Real-Ich von einer Dynamik ergriffen, mit der es „alles Gute sich introjizieren, alles Schlechte von sich werfen“9 will. Freud geht nicht von einer äußeren, wahren, dem Ich voraufgehenden Wirklichkeit mit all ihren konstitutiven Dichotomien von gut und böse aus, sondern vielmehr von einem ursprünglich völlig undifferenzierten, azentrischen und nivellierten Ur-Ich, das diese Qualifizierungen, das die Wirklichkeit selbst erst aus sich heraus produziert. Ein vergleichbarer Vorgang wiederholt sich im Existenzurteil: Die Welt ist dem Ich nicht äußerlich, sondern sie wird durch Vorstellung erzeugt. „Der Gegensatz zwischen Subjektivem und Objektivem besteht nicht von Anfang an. Er stellt sich erst dadurch her, daß das Denken die Fähigkeit besitzt, etwas einmal Wahrgenommenes durch Reproduktion in der Vorstellung wieder gegenwärtig zu machen, während das Objekt draußen nicht mehr vorhanden zu sein braucht.“10 Es geht jedoch weder um Reverie noch um eine rein subjektive Leistung im Sinne des Husserl’schen transzendentalen Egos, sofern die Vorstellung bei Freud sich auf eine ursprüngliche Wahrnehmung bezieht – Realitätsprüfung. Es geht „um ein Interesse des endgültigen Real-Ichs, das sich aus dem anfänglichen Lust-Ich entwickelt. (Realitätsprüfung). Nun handelt es sich nicht mehr darum, ob etwas Wahrgenommenes (ein Ding) ins Ich aufgenommen werden soll oder nicht, sondern 7 8 9 10

Lacan 1991a: 268f. Tholen 2002: 127. Freud 1999: XIV 13. Ebd. 14.

12 | DISKRETE GESPENSTER ob etwas im Ich als Vorstellung Vorhandenes auch in der Wahrnehmung (Realität) wiedergefunden werden kann“11.

Die Realitätsprüfung stellt sich also dar als eine Funktion, die zwischen Realität und Phantasie trennt, radikaler noch: Die Trennung zwischen Realität und Phantasie, zwischen Außen und Innen, stellt sich erst ein mit der Realitätsprüfung, die im Grunde eine biologische Überlebensfunktion darstellt. Freuds Ausgangspunkt ist der, dass die Trennung von innerer und äußerer Realität, von Wünschen, Vorstellungen, Phantasien einerseits und Realitätswahrnehmungen andererseits, nicht von vornherein vorliegt, sondern mit einem bestimmten frühen Entwicklungsstadium des Subjekts koinzidiert. Eng vernetzt mit dem Konzept der Realitätsprüfung ist die Idee, dass das Finden eines Objekts in der Realität eigentlich ein Wiederfinden ist. Finden sich erste Ausführungen zur Funktion der Realitätsprüfung bereits im Entwurf einer Psychologie (1895) und in den Formulierungen über die beiden Prinzipien des psychischen Geschehens (1911), so wird das Konzept im Verlauf von Freuds Werk an zahlreichen Stellen resumiert und erweitert. So beschreibt Freud in der Traumdeutung (1900), dass beim Säugling eine Verknüpfung zwischen der Gedächtnisspur einer Bedürfniserregung und dem Erinnerungsbild der Wahrnehmung, die ein wesentlicher Bestandteil des Befriedigungserlebnisses ist, hergestellt wird. Der Gedächtnisspur einer Bedürfniserregung korreliert die konkrete Situation des Säuglings, der Hunger hat, während das Erinnerungsbild der Wahrnehmung, die ein wesentlicher Bestandteil des Befriedigungserlebnisses ist, der Mutter entspricht. Etwas schreibt sich ein – das Bedürfnis wird unauflöslich mit dem Bild der Mutter vernetzt. Diese ursprüngliche Wahrnehmung kann vom Kind (im Entwurf liefert Freud die neuronal-materialistischen Grundlagen dazu) wieder evoziert, halluzinatorisch hervorgerufen werden, so dass folgender Fall eintritt: „Sobald dies Bedürfnis ein nächstesmal auftritt, wird sich, dank der hergestellten Verknüpfung, eine psychische Regung ergeben, welche das Erinnerungsbild jener Wahrnehmung wieder besetzen und die Wahrnehmung selbst wieder hervorrufen, also eigentlich die Situation der ersten Befriedigung wiederherstellen will.“12 Das aber ist nicht ungefährlich: Je nach hedonistischer Veranlagung des Kindes führt diese halluzinatorische Regression möglicherweise zum trancehaft sanften Hungertod, denn keine Halluzination, und sei sie noch so ambrosisch, kann profane Nahrungszufuhr kompensieren. Aus diesem Grund „wird die Einsetzung einer Realitätsprüfung als notwendig anerkannt“13. An anderer Stelle facettiert Freud dieses Geschehen unter ökonomischen Gesichtspunkten: Das Ich kanalisiert die sehr starke Reizintensität der ersten Wahrnehmung in die Realität, es diversifiziert Seitenbesetzungen.14 Dies findet sich im 11 12 13 14

Ebd. 13. Freud 1999: II/III 571. Ebd. 572. Im legendären Kapitel 7 der Traumdeutung formuliert Freud diese Verhältnisse in den dynamischen Begriffen von Primär- und Sekundärprozess: „Das erste Wünschen dürfte ein halluzinatorisches Besetzen der Befriedigungserinnerung gewesen sein. Diese Halluzination erwies sich aber, wenn sie nicht bis zur Erschöpfung festgehalten werden sollte, als untüchtig, das Aufhören des Bedürfnisses, also die mit der Befriedigung verbundene Lust, herbeizuführen. Es wurde so eine zweite Tätigkeit – in unserer Ausdrucksweise die Tätigkeit eines

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Aufsatz über Die Verneinung bereits präformiert: „Nach unserer Annahme ist ja die Wahrnehmung kein rein passiver Vorgang, sondern das Ich schickt periodisch kleine Besetzungsmengen in das Wahrnehmungssystem, mittels deren es die äußeren Reize verkostet, um sich nach jedem solchen tastendem Vorstoß wieder zurückzuziehen.“15 Im Verlauf der Produktion von Seitenbesetzungen kommt es zur Konfiguration der Realität, deren erstes Strukturmerkmal die Unterscheidung von Innen und Außen ist. Das Kind begibt sich auf die lebenslange Suche nach Ersatzobjekten, das heißt, es sucht ein Objekt, das es jenseits der Halluzination, in der Realität niemals gab.16 „Es ist, wie man sieht, wieder eine Frage des Außen und Innen. Das Nichtreale, bloß Vorgestellte, Subjektive, ist nur innen; das andere, Reale, auch im Draußen vorhanden. In dieser Entwicklung ist die Rücksicht auf das Lustprinzip beiseite gesetzt worden. Die Erfahrung hat gelehrt, es ist nicht nur wichtig, ob ein Ding (Befriedigungsobjekt) die „gute“ Eigenschaft besitzt, also die Aufnahme ins Ich verdient, sondern auch, ob es in der Außenwelt da ist, so daß man sich seiner nach Bedürfnis bemächtigen kann. Um diesen Fortschritt zu verstehen, muß man sich daran erinnern, daß alle Vorstellungen von Wahrnehmungen stammen, Wiederholungen derselben sind. Ursprünglich ist also schon die Existenz der Vorstellung eine Bürgschaft für die Realität des Vorgestellten. Der Gegensatz zwischen Subjektivem und Objektivem besteht nicht von Anfang an. Er stellt sich erst dadurch her, daß das Denken die Fähigkeit besitzt, etwas einmal Wahrgenommenes durch Reproduktion in der Vorstellung wieder gegenwärtig zu machen, während das Objekt draußen nicht mehr vorhanden zu sein braucht. Der erste und nächste Zweck der Realitätszweiten Systems – notwendig, welche nicht gestattete, daß die Erinnerungsbesetzung zur Wahrnehmung vordringe und von dort aus die psychischen Kräfte binde, sondern die vom Bedürfnisreiz ausgehende Erregung auf einen Umweg leite, der endlich über die willkürliche Motilität die Außenwelt so verändert, daß die reale Wahrnehmung des Befriedigungsobjekts eintreten kann. Um die Außenwelt zweckmäßig durch die Motilität verändern zu können, bedarf es der Anhäufung einer großen Summe von Erfahrungen in den Erinnerungssystemen und einer mannigfachen Fixierung der Beziehungen, die durch verschiedene Zielvorstellungen in diesem Erinnerungsmaterial hervorgerufen werden. Die vielfach tastende, Besetzungen aussendende und wieder einziehende Tätigkeit des zweiten Systems bedarf einerseits der freien Verfügung über alles Erinnerungsmaterial; anderseits wäre es überflüssiger Aufwand, wenn sie große Besetzungsquantitäten auf die einzelnen Denkwege schickte, die dann unzweckmäßig abströmen und die für die Veränderung der Außenwelt notwendige Quantität verringern würden. Der Zweckmäßigkeit zu Liebe postuliere ich also, daß es dem zweiten System gelingt, die Energiebesetzungen zum größeren Anteil in Ruhe zu erhalten, und nur einen kleineren Teil zur Verschiebung zu verwenden. Die Mechanik dieser Vorgänge ist mir ganz unbekannt; wer mit diesen Vorstellungen Ernst machen wollte, müsste die physikalischen Analogien heraussuchen und sich einen Weg zur Veranschaulichung des Bewegungsvorgangs bei der Neuronerregung bahnen. Ich nehme also an, daß der Ablauf der Erregung unter der Herrschaft des zweiten Systems an ganz andere mechanische Verhältnisse geknüpft wird als unter der Herrschaft des ersten. Hat das zweite System seine probende Denkarbeit beendigt, so hebt es auch die Hemmung und Stauung der Erregungen auf und läßt dieselben zur Motilität abfließen.“ (Freud 1999: II/III 604f) 15 Freud 1999: XIV 14f. 16 Zu dem Gesamtkontext des verlorenen Objekts, das einen unendlichen Aufschub in Gang setzt vgl. auch Tholen 2002: 139f.

14 | DISKRETE GESPENSTER prüfung ist also nicht, ein dem Vorgestellten entsprechendes Objekt in der realen Wahrnehmung zu finden, sondern es wiederzufinden, sich zu überzeugen, daß es noch vorhanden ist.“17

Das Subjekt seit Freud kann nicht mehr aufhören, die unmögliche Ur-Sache, dieses „verlorene Objekt“ zu suchen, neu zu finden, neu zu erinnern usf. „Freilich ist dieses Objekt alles in allem nie verloren gewesen, obwohl es wesentlich darum geht, es wiederzufinden.“18 Nie verloren gewesen, ist dieses Objekt freilich unauffindbar, unerinnerbar, denn die Ursache ist mit der Spaltung zur unentscheidbaren Ur-Sache geworden, zum Signifikanten, der unentscheidbar Ur und Sache ist, der unendlich zwischen Ur und Sache alterniert. Aus der Unendlichkeit und Unzerstörbarkeit der Wiederholung der UrSache – der Struktur des Begehrens, der Signifikantenkette des Unbewussten seit Freud – motivieren sich alle Anstrengungen, das Objekt wiederzufinden. „Die Tyrannei der Erinnerung, das ist es, was in dem heraustritt, was wir Struktur nennen können.“ Das Objekt wiederfinden aber ist nichts anderes als ein Objekt überhaupt erst erzeugen – Lacan setzt mit Freud jede „Anstrengung [...], das Objekt wiederzuentdecken“, mit der „Konstitution der Objektwelt“ überhaupt gleich.19 Jede Konstitution eines Objekts, sei es ein Haus, ein Atom, eine Seele oder eine Zahl, ist Wiederholung der Ur-Sache, alles Auftauchen von Welten, Wahrheiten, Ursachen wird stets skandiert durch die UrSache. Die Wiederholung eines nie gewesenen Objekts ist Bedingung der Möglichkeit aller existierenden Objekte, Häuser, Seelen, Zahlen, FabergéEier, persönliche Memorabilien, geliebte Personen. Das Niegewesene, Niewiederkehr, Nicht-Erinnerbarkeit. Wie könnte es je anders, als nicht aufhören zu können, Ersatzobjekte, ganze Universen, zu erzeugen, Geschichten und Geschicke, individuell wie kollektiv, Urlaubserinnerungen, die Fotoalben, und Theorien, die ganze Staatsbibliotheken füllen, Sekundärliteratur inklusive. Freuds auf einer Ur-Sache, also einer ur-sächlichen Wiederholung basierende Konzeption revidiert auf tiefgreifende Weise traditionelle Modelle über die Verfasstheit menschlicher Erfahrung und Erinnerung. Lacan betont diesen Bruch, indem er alle Freud vorgängigen Theorien von Platon bis zu Kierkegaard als „antike“ Erinnerungsmodelle subsumiert und Freuds Darlegung der „Strukturierung der Welt in einer Anstrengung der Arbeit, auf dem Weg der Wiederholung“ als eine Revolution von den ersteren abgrenzt.20 „Was Freud hier von allen anderen unterscheidet [...] ist die Idee, daß das Objekt des menschlichen Strebens niemals ein wiedergefundenes Objekt im Sinne der Wiedererinnerung ist.“21

17 Freud 1999: XIV 13f. 18 Lacan 1996: 74. Zur Theorie und Herleitung des verlorenen Objekts aus der

Freud’schen Theorie vgl. auch Tholen 1986. 19 Lacan 1991b: 131. 20 Ebd. 21 Lacan 1991b: 176.

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1.4 Kern unseres Wesens und Gedanken des Leids Freuds Revolution ist zugleich Einführung eines radikal neuen Konzepts des Gedankens. Freud geht über Hegel, der das Denken des Denkens, also die oben beschriebene Dynamisierung des Subjekts einführte, hinaus, indem er das Subjekt dieses Denkens dezentriert. Freud exiliert es auf jenen Anderen Schauplatz, der nichts als das eigene, in der signifikanten Wiederholung seiende Sein des Subjekts darstellt. Für ein einfaches Buch über die Geschichte der Psychoanalyse im Kontext der Zeit und des Gedächtnisses, noch dazu für ein solches, das von der Prämisse ausgeht, nur Wiederholung bereits vielfach geschriebener Bücher zu sein, mag das schwierig oder gar hermetisch klingen. Es ist nicht etwa schwierig, sondern absolut ausgeschlossen, sich ein Denken vorzustellen, das seine Versicherung, seine Gewissheit nicht mehr aus der Vorstellung eines Ich denke bezieht. Freud dekonstruiert das klassische Subjekt in der Tradition des Descartes und im selben Zug die cartesische Schlussfolgerung, die aus der Vorstellbarkeit und Selbsttransparenz des Denkens die Gewissheit des Seins deduziert.22 Und dennoch – die Freud’sche Revolution des Denkens, die Dezentrierung und Spaltung des Subjekts muss auf genau dieser Achse der cartesischen Frage23 situiert werden. Die Frage des Descartes' ist keine geringe, es geht nicht um Nebenwirkungen von Tranquilizern, es geht ums Sein, um die Gewissheit, die Wahrheit, die Ursache und damit das Schicksal des Seins. Und wenn Freud das Subjekt auf den Anderen Schauplatz verweist, dann heißt das nicht, dass er es aus dem Sein exmittiert, im Gegenteil, er bleibt auf der Linie der cartesischen Frage. Er schlägt nicht die philosophische Richtung ein, die sich dann als Neukantianismus etablieren und deren Anästhesie in den erkenntnistheoretischen und psychologischen Theorien des 20. Jahrhunderts ihre Kulminationspunkte haben wird.24 „Die Inhalte des Un22 Descartes zufolge kann man, wenn man denkt, an allem, an allen Objekten des

Denkens, an der gesamten Wirklichkeit oder Erscheinungswelt zweifeln, nur an einem nicht, am Ich denke, denn das ist, selbst wenn alles Trug ist, gewiss. Noch in dem Moment, in dem ich zweifle, ist eines gewiss: nämlich die Tatsache, dass ich zweifle, das heißt denke. Descartes deduziert die Selbsttransparenz und Selbstreflexivität des Bewusstseins aus dem Cogito als dem einzigen Punkt, an dem Gewissheit in Form von Selbstgewissheit herrscht. (vgl. Jurainville 1990: 183-191.) 23 Die sich im Anschluss an die Frage des Descartes im Denken von Lacan ergebende Spaltung referiert nicht, das sei hier zur Vermeidung von Missverständnissen betont, auf die Trennung von res cogitans und res extensa und die sich daraus ergebende Debatte um den französischen Materialismus, die in der jüngsten Forschungsliteratur von Lehmann aktualisiert wird. (vgl. Lehmann 2005: 42f.) Vielmehr geht es ausschließlich um die in der voraufgehenden Fußnote mit Descartes erläuterte Problematik der Selbstgewissheit, der Beziehung von Denken und Sein. 24 So teilt Freud beispielsweise der von Vaihinger begründeten und im Neukantianismus positionierten Philosophie des Als-ob seine tiefe Skepsis mit. Vgl. Freud 1999: XIV 351: „Der zweite Versuch ist der der Philosophie des „Als ob“. Er führt aus, daß es in unserer Denktätigkeit reichlich Annahmen gibt, deren Grundlosigkeit, ja deren Absurdität wir voll einsehen. Sie werden Fiktionen geheissen, aber aus mannigfachen praktischen Motiven müßten wir uns so beneh-

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bewußten [...] beziehen ihre Kraft aus der Wahrheit und in der Dimension des Seins: Kern unseres Wesens, das sind Freuds eigene Worte.“25 Der Andere Schauplatz, das Feld des Traums, ist das Sein des Subjekts, das Sein des von Descartes eingeführten und in cartesischer Tradition fragenden Subjekts: „Ich sage nicht, daß Freud das Subjekt in die Welt einführt [...], es ist Descartes. Aber ich würde doch sagen, daß Freud sich ans Subjekt wendet, um ihm etwas Neues zu sagen – Hier, auf dem Feld des Traums, bist du chez toi/ zuhause/ bei dir.“26 Das mit und seit Descartes mit dem schicksalhaften Zusammenhang von Sein und Denken beschäftigte Subjekt ist auf Freuds Zuwendung zu diesem historischen Zeitpunkt verzweifelt angewiesen, denn – wiegesagt – es wurde aus dem Schlaf gerissen durch eine Macht, so schrecklich, dass kein Tranquilizer Linderung verschaffte. Es ist zu einem Patienten geworden, der von Alpträumen gejagt wird, in denen er – entsetzliche Qual, wie am Rand eines nicht eintretenden Erstickungstodes – nicht mehr schreien, geschweige denn Ich sagen kann. Oder, ein anderer Patient – da vibriert ein schwarzes Meer von Dunkelziffern, schreckliche Macht von Überabzählbarkeit –, eine Hysterika, die die Sprache inklusive Ich verloren hat. Ein weiterer Fall, eine Person, die von einem Denken besessen ist, das sich beim besten Willen nicht mehr mit dem Voluntarismus der Ichfunktion arrangieren lässt. Medizingutachtlich anerkannte Normalpersonen, Bankbeamte, unauffällig und pflichtbewusst, Typ Tresorschlüsselträger, aber unsichtbar leidend an Wiederholungszwängen, die sich einfach vollziehen, ohne dass ich denke da gegensteuern und normalisieren könnte. Ein hochneurotischer Kleinkreditberater, dessen ich exakt richtig denkt, dass die Haustür verschlossen ist, was ihn von der Zwangskontrollhandlung nicht dispensiert.27 Eine Sekretärin im kleinen men, „als ob“ wir an diese Fiktionen glaubten. Dies treffe für die religiösen Lehren wegen ihrer unvergleichlichen Wichtigkeit für die Aufrechterhaltung der menschlichen Gesellschaft zu. Diese Argumentation ist von dem Credo quia absurdum nicht weit entfernt. Aber ich meine, die Forderung des „Als ob“ ist eine solche, wie sie nur ein Philosoph aufstellen kann. Der durch die Künste der Philosophie in seinem Denken nicht beeinflußte Mensch wird sie nie annehmen können, für ihn ist mit dem Zugeständnis der Absurdität, der Vernunftwidrigkeit, alles erledigt. Er kann nicht dazu verhalten werden, gerade in der Behandlung seiner wichtigsten Interessen auf die Sicherheiten zu verzichten, die er sonst für alle seine gewöhnlichen Tätigkeiten verlangt. Ich erinnere mich an eines meiner Kinder, das sich frühzeitig durch eine besondere Betonung der Sachlichkeit auszeichnete. Wenn den Kindern ein Märchen erzählt wurde, dem sie andächtig lauschten, kam er hinzu und fragte: Ist das eine wahre Geschichte? Nachdem man es verneint hatte, zog er mit einer geringschätzigen Miene ab. Es steht zu erwarten, daß sich die Menschen gegen die religiösen Märchen bald ähnlich benehmen werden, trotz der Fürsprache des „Als ob“. „Eine Fußnote auf derselben Seite lautet: „Ich hoffe kein Unrecht zu begehen, wenn ich den Philosophen des „Als ob“ eine Ansicht vertreten lasse, die auch anderen Denkern nicht fremd ist.“ Vgl. auch Vaihinger 1922: 68. 25 Lacan 1991a: 44. Zum Konnex von Descartes und Freud in der Entstehung des abendländischen Subjekts der Wissenschaft vgl. auch Sciacchitano 2002. 26 Lacan 1987: 51. 27 Vgl. Freud 1999: XI 265f: „Die Zwangsneurose äußert sich darin, daß die Kranken von Gedanken beschäftigt werden, für die sie sich eigentlich nicht interessieren, Impulse in sich verspüren, die ihnen sehr fremdartig vorkommen, und zu Handlungen veranlaßt werden, deren Ausführung ihnen zwar kein Vergnügen bereitet, deren Unterlassung ihnen aber ganz unmöglich ist.“

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Grauen, erfolglose Blondine, aber gute Telefonstimme, der sich Vorstellungen aufdrängen, die ihr Ich als absolut vorstellungswidrig denkt. Alltagspersonen, Durchschnittstypen, Bürger im scheidungsfähigen Alter, aber im geheimen einer Wiederholung ausgeliefert, die nicht mehr in die cartesische Formel, sondern in ein „x bestimmte mich, y zu tun“ eingeht. Ein Kosmopolit mit forschendem Händedruck, aber wenn eine Spinne krabbelt, bricht über den Ort von Ich denke ironische Stille herein. 26 Semester Philosophie, aber der Anfangssatz über die Descartes-Hausarbeit will sich zum wiederholten Male nicht schreiben, obwohl Ich alles gedacht und die ganze Sekundärliteratur gelesen hat.28 Fälle, in denen mit Übermacht der Verdacht andrängt, „als hätte der Satz vom Grund hier eine dämonische Attraktion erhalten und das Denken mit einem endlosen Zu-Grunde-Gehen infiziert“29. Fälle von Anfallsleiden, Fälle, die das Subjekt nach Einbruch der Nacht in Tunnel führen, in denen es jene Welt verliert, in der es tagsüber doch völlig normal lebte und dachte. Fälle, in denen ein Wesen, das erfolgreich mit der Annahme des Ich denke arbeitet, plötzlich im Sinn seines Lebens unterbrochen wird und abkommandiert in ein Symptom, das nur die reine, sinnlose, despotische Wiederholung will. Fälle, die das Wesen vor Angst so sehr tremolieren machen, dass kein Ich denke sich mehr dazwischen schalten lässt. Vorstellungsgebilde, die die Norm dessen, was Ich als Wirklichkeit denken und vorstellen kann, ins Kafkaeske überschreiten. Zustände jenseits jeder Vorstellung, Unausdenkbarkeiten, Sackgassen des Denkens, diskrete Gespenster, „dunkle Theodizee“30, the Sleep of Reason, Kontrollverluste – bis zum Schnee auf dem Bildschirm der guten alten klassischen Vorstellungswelt. Aber dennoch, sie bleibt bestehen, 28 Vgl. Freud 1999: XI 278f: „[...] alle diese Zwangskranken haben die Neigung

zu wiederholen, Verrichtungen zu rhythmieren und von anderen zu isolieren. Die meisten von ihnen waschen zu viel. Die Kranken, welche an Agoraphobie (Topophobie, Raumangst) leiden, was wir nicht mehr zur Zwangsneurose rechnen, sondern als Angsthysterie bezeichnen, wiederholen in ihren Krankheitsbildern oft in ermüdender Monotonie dieselben Züge, sie fürchten geschlossene Räume, große offene Plätze, lange sich hinziehende Straßen und Alleen.“ Vgl. auch Freud 1999: XI 319f : „Von den vielen Symptombildern, unter denen die Zwangsneurose auftritt, erweisen sich die wichtigsten als hervorgerufen durch den Drang überstarker sadistischer, also in ihrem Ziel perverser, Sexualregungen, und zwar dienen die Symptome, wie es der Struktur einer Zwangsneurose entspricht, vorwiegend der Abwehr dieser Wünsche, oder drücken den Kampf zwischen Befriedigung und Abwehr aus. Aber auch die Befriedigung selbst kommt dabei nicht zu kurz; sie weiß sich auf Umwegen im Benehmen der Kranken durchzusetzen und wendet sich mit Vorliebe gegen deren eigene Person, macht sie zu Selbstquälern. Andere Formen der Neurose, die grüblerischen, entsprechen einer übermäßigen Sexualisierung von Akten, die sich sonst als Vorbereitungen in den Weg zur normalen Sexualbefriedigung einfügen, vom Sehen-, Berührenwollen und Forschen. Die große Bedeutung der Berührungsangst und des Waschzwanges findet hier ihre Aufklärung.“ 29 Vogl 2007: 60. 30 Vogl 2007: 64. Vogl zeigt, dass die Sätze der Welt um 1900 entgegen Leibniz’ Theodizee und dem Satz vom zureichenden Grund „in keinem Grund mehr [konvergieren]. Die Welt und ihre Geschichte sind, an diesem Vorabend des Ersten Weltkriegs, selbst in einen Zauderrhythmus verfallen, sie haben ihre Entschiedenheit verloren und rühren bestenfalls an ein fehlendes Fundament. Und sie treiben damit an eine dunkle Theodizee heran, die – vielleicht – einmal ein oder DAS Ereignis samt seiner Gründe hervorbringen wird.“

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die gute alte Vorstellungswelt, die Wirklichkeit, es wird alles wieder hell und klar, und das Flimmern ließe sich rationalisieren als Effekt einer durch ein Witterungsphänomen induzierten Störung. Die Wirklichkeit versinkt nicht, dissoziiert nicht wirklich, alles ließe sich banalisieren, nachträglich erklären, das Ich denke retten, käme nur die Störung nicht wieder, käme sie nicht in Intervallen – Wiederholungszwang. Wiederkehrende Unheilszeichen, Schattenboxen, Unsinnshandlungen, die wider alles Ich denke einfach nur Entladung wollen. „Schwere Fälle dieser Affektion enden mit der Fixierung von Zeremoniellhandlungen, allgemeiner Zweifelsucht oder einer durch Phobien bedingten Sonderlingsexistenz.“31 Und am Ende, am Ende einer Serie verzweifelter Wiederholungen, werden sie zu Patienten, sie wenden sich an Freud, sie wollen exorziert werden, sie wollen Rückeroberung einer harmonischen Beziehung zwischen Denken und Ich. Sie wenden sich an Freud, Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Emergenz des Anderen Schauplatzes, die Enteignung des Ich, der Beginn der großen Insomnie. All diese Patienten sind keineswegs wahnsinnig im harten psychiatriemedizinischen Sinne, sie brauchen keine Einweisung, weder offene noch geschlossene Abteilung.32 Sie gehen ins Büro, in den Laden, sie bringen Kindern in der Schule das Einmaleins bei. Sie sitzen in den Kaffeehäusern und lesen die Wiener Tageszeitungen. Sie sitzen in den Hubertus-Stuben oder im Burghotel Hardenberg und führen Konversation zwischen Gänselebergugelhupf, Wildhasenravioli und Meerwolf auf Stielmus. Diese Patienten sind nicht wahnsinnig – wären sie es, so würden sie ihre unsäglichen Gedanken und katatonen Taten selbstbewusst mit einem Ich denke versehen33 –, aber eben da sie nicht wahnsinnig sind, erfahren und erleiden sie in den Schüben des Symptoms den tiefen, unheilbaren Bruch, die Dissonanz zwischen Denken und Ich denke-Funktion. Sie erfahren und erleiden die „chiastische Dazwischenkunft eines Zeitwirbels, der in keinem Ablauf- oder Entwicklungsschema zu fassen ist“34. Sie erfahren und erleiden ihr eigenes Sein – „Kern unseres Wesens“ –, ohne dies zu wissen, denn darum weiß nur es allein, den Bruch, die Spaltung selber seiend, womit Ich denke um jede Möglichkeit gebracht wird, sich zu wissen, sich seines Seins zu vergewissern. Die Formel „Erkenne dich selbst“ ist zum „vergeblichen Spruch“ geworden35. Aber Freud erkennt es. Er wendet sich an die Patienten und die Erfahrung eines neuen, anderen, post-cartesischen Seins – die Erfahrung des Anderen

31 Freud 1999: I 391. 32 Zur Unterscheidung von Neurose und Psychose vgl. Freud 1999: XIII 363: „Ich

habe kürzlich einen der unterscheidenden Züge zwischen Neurose und Psychose dahin bestimmt, daß bei ersterer das Ich in Abhängigkeit von der Realität ein Stück des Es (Trieblebens) unterdrückt, während sich dasselbe Ich bei der Psychose im Dienste des Es von einem Stück der Realität zurückzieht. Für die Neurose wäre also die Übermacht des Realeinflusses, für die Psychose die des Es maßgebend. Der Realitätsverlust wäre für die Psychose von vorneherein gegeben; für die Neurose, sollte man meinen, wäre er vermieden.“; Freud 1999: XIII 387: „[...] die Neurose sei der Erfolg eines Konflikts zwischen dem Ich und seinem Es, die Psychose aber der analoge Ausgang einer solchen Störung in den Beziehungen zwischen Ich und Außenwelt“. Vgl. auch ders. XIII 231 und X 295. 33 Zur Theorie der Paranoia vgl. Kap. 3.13, 11.9 und 11.10. 34 Tholen 2002: 71f. 35 Lacan 1991a: 53.

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Schauplatzes, die Erfahrung einer irreduziblen Spaltung im Subjekt, einer unmöglichen zeitlichen Kongruenz von Denken und Cogito, eine Erfahrung auf der Linie der cartesischen Fragestellung. „Wie nennt es Freud? Er spricht wie Descartes, der damit, wie ich eben sagte, seinen Punkt, auf den er sich stützt, bezeichnet – von Gedanken*.“36 Die Kolonisierung des Anderen Schauplatzes durch Freud, diese Ouvertüre der Lacan’schen Psychoanalyse, hat nicht nur eine Revolution des Subjektbegriffs zur Folge, sondern auch eine Revolution des Gedankens. Die oben beschriebenen Fälle, die bei aller Disparität in der jeweiligen Symptomatik den gemeinsamen Zug aufweisen, dass stets das ich denke unterlaufen wird, zwingen Freud zu der einen und unumgänglichen Schlussfolgerung: „Es gibt da tatsächlich Gedanken in diesem Feld jenseits des Bewußtseins.“37 Es sind Gedanken, es ist nicht einfach Allotria, nicht Puder von Schizophrenie, nicht einfach Sinn-Vandalismus und debile Streuung, sondern es sind richtige, einem bestimmten Gesetz, einer Logik folgende Gedanken, die strukturiert sind wie eine Sprache.38 Freud legt, was diese Gedanken des Unbewussten angeht, größten Wert darauf, dass „das pathogene psychische Material, das angeblich vergessen ist, dem Ich nicht zur Verfügung steht, in der Assoziation und im Erinnern keine Rolle spielt, – doch in irgend einer Weise bereit liegt, und zwar in richtiger und guter Ordnung“ und dass es „als das Eigentum einer Intelligenz [erscheint], die der des normalen Ich nicht notwendig nachsteht“39. So darf man beispielsweise „an einen Gedankengang bei einem Hysterischen, und reichte er auch ins Unbewußte, dieselben Anforderungen von logischer Verknüpfung und ausreichender Motivierung stellen, die man bei einem normalen Individuum erheben würde“40. Sicher folgen diese Gedanken einer anderen Logik als der des Bewusstseins, einer von Ferne kommenden, in ihrer fortlaufenden Arbeit der Transformation unberührbaren Logik41, aber es sind Gedanken, es 36 Lacan 1987: 40. Vgl. auch Freud 1999: I 306, II/III 511f und IV 303 und 308.

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Es sei an dieser Stelle bemerkt, dass Freud die unbewussten Gedanken zwar begriffsgeschichtlich aus Pierre Janets „idées fixes“ rekonstruiert, ihre eigentliche Entdeckung (im Verlauf der Entwicklung der Hypnosetechnik) jedoch Breuer und sich selbst zuschreibt. Vgl. hierzu Freud 1999: XIII 213 und 407f. Vgl. auch Roudinesco 1986: 185f. Lacan 1987: 49f. So bilden für Freud beispielsweise die unbewussten „Traumgedanken“ einen „Komplex von Gedanken und Erinnerungen vom allerverwickeltsten Aufbau mit allen Eigenschaften der uns aus dem Wachen bekannten Gedankengänge. [...] Die einzelnen Stücke dieses komplizierten Gebildes stehen natürlich in den mannigfaltigsten logischen Relationen zueinander [...] Sie bilden Vorder- und Hintergrund, Abschweifungen und Erläuterungen, Bedingungen, Beweisgänge und Einsprüche.“ In der Folge expliziert Freud präzise, auf welche Weise „im Traum das „Wenn, weil, gleichwie, obgleich, entweder-oder“ und alle anderen Präpositionen, ohne die wir Satz und Rede nicht verstehen können“, zum Ausdruck bzw. zur Übersetzung kommen. (Freud 1999: II/III 316f) Vgl. hierzu auch Freud 1999: II/III 319-21, 324f und 341. Freud 1999: I 290f. An anderer Stelle pointiert er, „daß die kompliziertesten Denkleistungen ohne Mittun des Bewußtseins möglich sind, was wir ohnedies aus jeder Psychoanalyse eines Hysterischen oder einer Person mit Zwangsvorstellungen erfahren mußten.“ (Freud 1999: II/III 598) Freud 1999: I 298. Vgl. Freud 1999: II/III 511f: „Sie [die eigentliche Traumarbeit, Anm. d. Verf.] ist nicht etwa nachlässiger, inkorrekter, vergeßlicher, unvollständiger als das

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ist nicht Unsinn, sondern vielmehr Sinn im Unsinn, ungestillte Antithesen, die Kausalität des Unbewussten, pythisch und triebstark. Freud setzt das Unbewusste gleich mit „Gedanken, die, wenn sie auch nicht genau denselben Regeln gehorchen wie unsere hohen oder ordinären Alltagsgedanken, doch vollkommen artikuliert sind“42. Es sind Gedanken, die Gedanken des Descartes, auf dessen Frage Freud eine Antwort gibt, eine andere Antwort, als Descartes es sich je hätte träumen lassen. Aber es ist auch eine andere Zeit angebrochen, die Zeit eines Denkens, das seine Gewissheit nicht mehr aus der Vorstellung eines Ich denke bezieht, die Zeit des Unvorstellbaren. Freud situiert die Gewissheit und die Gedanken des Descartes im Gegensatz zu Descartes „ausschließlich in der Konstellation von Signifikanten“. „Alles ist gut, Signifikantes zu liefern, und darauf zählt Freud, um die Gewißheit* zu etablieren, die er meint“43 – die ontologische Gewissheit: es denkt, also ist es. Dennoch gibt es einen entscheidenden Unterschied, einen Hiatus – die Patienten, all die Zwangsneurotiker und die hysterischen Töchter der Sphinx haben dies in ihren Symptomen demonstriert: Der Platz, den das Ich denke im Sinne des Cogito einnimmt, divergiert von dem anderen Platz, an dem es denkt und also existiert. Die beiden Plätze sind nicht länger, wie bei Descartes, konzentrisch, sie sind exzentrisch konstelliert, das Ich denke des Bewusstseins ist von den seienden, den im Takt der Wiederholung fortlaufenden Gedanken des Unbewussten unwiderruflich getrennt. „Es geht nicht darum zu wissen, ob ich von mir in einer Weise spreche, die dem, was ich bin, konform ist, sondern darum, ob ich, wenn ich darüber spreche, derselbe bin wie der, von dem ich spreche. Und es ist nichts Mißliches dabei, wenn man hier den Begriff des Gedankens einführt. Freud nämlich bezeichnet mit diesem Begriff die Elemente, die im Unbewußten, das heißt in den signifikanten Mechanismen, die ich in jenen aufgewiesen habe, im Spiel sind.“

Traumgedanken, Zwangsgedanken, petits mals, ominöse Gedanken, undenkbare Gedanken – die auf dem Anderen Schauplatz prozessierenden Gedanken sind reine Signifikanten ohne Signifikat, und das Denken dieser Gedanken ist ein solches, das „ganz ohne sein ich bin da ist, wenn nur [...] einer an seiner Stelle denkt“44. Wenn nur es denkt, wenn nur die Signifikantenkette läuft, zirkuliert, sich hartnäckig wiederholt. Denken ist Wiederholen. Und Denken ist Arbeit mit Signifikanten. „Das Leben Gottes und das göttliche Erkennen mag also wohl als ein Spielen der Liebe mit sich selbst ausgesprochen werden; diese Idee sinkt zur Erbaulichkeit und selbst zur Fadheit herab, wenn der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen darin fehlt.“45 Aber

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wache Denken; sie ist etwas davon qualitativ völlig Verschiedenes und darum zunächst nicht mit ihm vergleichbar. Sie denkt, rechnet, urteilt überhaupt nicht, sondern sie beschränkt sich darauf umzuformen.“ Lacan 1991a: 80f. Lacan 1987: 49f. Lacan 1991a: 42. Hegel 1988: 14. So die Konzeption von (Trauer-)Arbeit nach Maßgabe einer Theorie, die im Unterschied zur Freud-Lacan’schen Psychoanalyse allein dazu verfasst ist, ein nicht durch eine Störung definiertes, das heißt ein unbewusstes Subjekt zu untersuchen, sondern vielmehr dazu, den Kursus des wissenschaftlichen Selbstbewusstseins zu beobachten.

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im Gegensatz zu Hegels Konzept ist Denken Arbeit mit der Ur-Sache, nicht der Ursache, oder Arbeit im Dienst der Erinnerung einer Ursache, die es nie gegeben hat, weil sie unmöglich ist, weil sie die unmögliche Koinzidenz des Symbolischen mit dem Realen ist. Der Text wiederholt sich, ruhelos, unaufhörlich, Passage zum Unmöglichen, der Fluch eines Subjekts, nicht zuletzt des Subjekts der Wissenschaft, das von der Arbeit der hartnäckig im Maschinentakt alternierenden Gedanken nicht mehr lassen kann.

1.5 Gedankenarbeit Nicht dass nicht auch Platon, Descartes, Kant, Hegel gearbeitet hätten. Nicht dass es nicht gedacht hätte in der langen Serie derer, die ganz ohne Revanchefurcht die metaphysische Ursache erinnerten. Aber am Ende eines Arbeitstages, sei er auch so lang und fleißig wie ein ganzes Leben, verliefe er auch so dynamisch wie eine ganze Weltgeschichte, kam es zur Beruhigung. Es fand im Schlaf seine verdiente Nachtruhe, es lief ein zu den Urgründen der Metaphysik, in den Ideenhimmel, ins Walhalla, ins Jazz-Café an der Ecke, wie auch immer. Vielleicht war das Jazz-Café im Geist Hegels der letzte Ort, an dem es vor Freud zur Ruhe kam. Die enormen Anstrengungen und Leistungen an Transzendierung geleiteten noch einmal, ein letztes Mal sicher, dorthin, zur Koinzidenz des Symbolischen und des Realen. Auf das absolute Wissen kann man sich verlassen. Dann aber war die Ruhe vorbei, die Ursache verloren, nicht aber die Erinnerung daran, und der Zwang der Erinnerung, die Arbeit der Wiederholung setzte ein, um das Subjekt zu enteignen, zu usurpieren, zu verfolgen bis in den Schlaf: Traumarbeit, Gedankenarbeit, Dialog im Dunkel, Dialektik in absoluter Finsternis. „Das Unbewußte selbst ist schon aus Differenzen, Wiederholungen, Spuren und Aufschüben, sprich: aus Konstruktionen und Bearbeitungen, gebildet. Kurz gesagt, es ist selbst die Arbeit der Reproduktion. [...] das Unbewußte selbst ist stets nur als Umschrift zu verstehen, [...] [die] Freud mit Hilfe der Mechanismen der Traumarbeit beschrieben hat.“46 Gedankenarbeit, Traumarbeit: „Beispiele konnten uns lehren, wie klug der Traum ist, wenn er sich absurd stellt.“47 Freuds Blick auf den Traum unterscheidet sich radikal von all den zahlreichen, der Traumdeutung vorgängigen Reflexionen und Spekulationen über den Traum. Von der Antike über das Mittelalter bis in die neuzeitliche Wissenschaft, von den orientalischen Traditionen ganz zu schweigen, hatte der Traum die Denker und Dichter, die Spiritisten und die Naturphilosophen stets fasziniert. Immer wieder wurde der Traum zu einer tiefen und preziösen Erfahrungsquelle erhoben, immer wieder begab man sich auf die Suche nach dem geheimen Sinn dieser geheimnisvollen Erfahrung, man vermutete Orakel, Losungen, gar die Lade des Seins. Im Gegensatz zu all diesen Tiefensinnexpeditionen bleibt Freud hier völlig detachiert; ihn inflammiert nicht der geheime Sinn des Traums, sondern einzig und allein die Tatsache, dass es ohne Unterlass denkt und 46 Hegener 1998: 60. 47 Freud 1999: II/III 596. Vgl. auch XI 229: „So ganz nebenbei erfahren wir also

aus der Würdigung der latenten Traumgedanken, daß alle die genannten, hoch komplizierten seelischen Akte unbewußt vor sich gehen können, ein ebenso großartiges wie verwirrendes Resultat!“

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arbeitet. „Das Wesen des Traums“ – den Freud definiert als jene „besondere Form unseres Denkens, die durch die Bedingungen des Schlafzustandes ermöglicht wird“ – sei allein in der „Traumarbeit“ zu suchen, „sie allein ist das Wesentliche am Traum, die Erklärung seiner Besonderheit“48. Das eigentlich epistemogene Moment liegt für Freud nicht in einem Signifikat, das die Signifikanten des Traums verrätseln und verbergen, es liegt vielmehr in der Arbeit der Verbergung und Verschlüsselung selbst, in der unentwegten Arbeit des es denkt, in der signifikanten Operation und Wiederholung einer sprachlichen Operation.49 „Freud [...] weist [...] darauf hin, daß ihn am Traum allein dessen Bearbeitung interessiert. Was ist damit gesagt? Genau das, was wir übersetzen mit seiner Sprachstruktur.“50

1.6 Gespenster-Botschaften Eine Erfahrung wiederholt sich. Wiederholt erblickt Freud, diesmal im Traum, jene Operation des Gedankens, bei der einerseits das Ich denke eliminiert ist, die aber andererseits eine artikulierte Struktur aufweist.51 Wiederholt erblickt Freud jenes Phänomen, mit dem ihn die Zwangsgedanken der Neurotiker und die Zeremonien der Hysterie bereits konfrontiert hatten52, und so, „nachdem er begriffen hatte, daß die Erfahrung, die er mit Hysterischen gemacht hatte, sich auf dem Feld des Traums bestätigen ließ, [entschloß] er [sich] mit beispielloser Kühnheit, [...] weiter voranzugehen“53. Kühnheit war 48 Freud 1999: II/III 510f. 49 Vgl. Weber 1980: 206f. 50 Lacan 1991: 214. Vgl. auch Freud 1999: II/III 576: „Vom Traum“, so heißt es

in der Traumdeutung, „wissen wir bis jetzt nur, daß er eine Wunscherfüllung des Unbewußten ausdrückt; es scheint, daß das herrschende, vorbewußte System diese gewähren läßt, nachdem es ihr gewisse Entstellungen aufgenötigt hat.“ Hier muss auch Freuds vielzitierter Vergleich des Traumes mit einem Rebus herangezogen werden; vgl. auch II/III 283f: „Traumgedanken und Trauminhalt liegen vor uns wie zwei Darstellungen desselben Inhaltes in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt, der Trauminhalt erscheint uns als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise, deren Zeichen und Fügungsgesetze wir durch die Vergleichung von Original und Übersetzung kennen lernen sollen. Die Traumgedanken sind uns ohne weiteres verständlich, sobald wir sie erfahren haben. Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind. Man würde offenbar in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bilderwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte. Ich habe etwa ein Bilderrätsel (Rebus) vor mir. Die richtige Beurteilung des Rebus ergibt sich offenbar erst dann, wenn ich gegen das Ganze und die Einzelheiten desselben keine solchen Einsprüche erhebe, sondern mich bemühe, jedes Bild durch eine Silbe oder ein Wort zu ersetzen, das nach irgendwelcher Beziehung durch das Bild darstellbar ist. Die Worte, die sich so zusammenfinden, sind nicht mehr sinnlos, sondern können den schönsten und sinnreichsten Dichterspruch ergeben. Ein solches Bilderrätsel ist nun der Traum, und unsere Vorgänger auf dem Gebiete der Traumdeutung haben den Fehler begangen, den Rebus als zeichnerische Komposition zu beurteilen. Als solche erschien er ihnen unsinnig und wertlos.“ 51 Vgl. Freud 1999: II/III 109 und 283-286; vgl. auch XIII 217. 52 Vgl. hierzu auch Freud 1999: XI 7. 53 Lacan 1987: 49f.

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in der Tat gefragt angesichts eines Zwangs, der nichts als die reine Wiederholung54 wollte und der zugleich eine Struktur aufwies, die ganz offensichtlich die einer verschlüsselten Botschaft war, einer Botschaft, deren Inhalt wie Ursprung jedoch völlig unerklärlich, abgründig gegenstandslos und begriffslos waren. Es war diese Erfahrung mit dem unkontrollierbaren und vom Motiv her unberührbaren Leiden der Zwangskranken, der dysfunktionalen Begehren, der vom Symptom Gequälten, die Freud zur Unterstellung eines Unbewussten bewegte55, zur Einführung eines Un-Begriffs für das, wofür es keinen Begriff gab und gibt. Es war die Erfahrung, „daß es im Seelenleben Vorgänge, Tendenzen gibt, von denen man überhaupt nichts weiß, seit langer Zeit nichts weiß, vielleicht sogar niemals etwas gewußt hat.“56 Es war die Erfahrung, dass auch „die Traumarbeit den Gesetzen des Signifikanten folgt“57, und dies nicht etwa, um geheime Bedeutungen zu repräsentieren, sondern um, abermals, eine Botschaft zu übertragen, eine Botschaft, der weder Begriff noch Vorstellung entspricht, eine gesichtslose, uneinholbare Botschaft. Kühnheit war da gefragt angesichts eines Unbehagens, das das Zeitalter Freuds erfasst hatte, dessen Niederschlag, dessen Schatten sich in allen Bereichen von der Geschichte über die Kulturtheorie bis zur Wissenschaft zeigte. Es war eine Zeit, in der Botschaften nicht mehr auf einen sicheren, eindeutigen Sinn gebracht werden konnten, es gab keine sicheren Botschaften mehr, weder aus dem transzendenten Reich noch aus dem immanenten Reich der zur Blüte kommenden positivistischen Wissenschaften.58 Weder an die Botschaften Gottes noch an die des Cogito, weder an die Versprechungen Hegels noch an die Diagnosen der materialistischen Psychiater konnte man wirklich sicher glauben – die Ur-Sache hatte sich im Ungewissen verloren. „[…] „Es geht überhaupt nicht ohne Hilfskonstruktionen, hat Th. Fontane einmal gesagt“.“59 Das Unbewusste, Freuds Hypothese, konnte und wollte dieses Defizit nicht kompensieren. Das Unbewusste ist kein Faktum, es ist 54 Ein den gesamten psychischen Apparat beherrschender und operationalisieren-

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der Zwang; was zum Beispiel die Affekte angeht, so „glaubt man tiefer zu blicken und zu erkennen, daß der Kern, welcher das genannte Ensemble zusammenhält, die Wiederholung eines bestimmten bedeutungsvollen Erlebnisses ist.“ (Freud 1999: XI 410) Zur Supposition eines Unbewussten vgl. Freud 1999: XI 287f: „Man muß doch bekennen, in diesen Symptomen der Zwangsneurose, diesen Vorstellungen und Impulsen, die auftauchen, man weiß nicht woher, sich so resistent gegen alle Einflüsse des sonst normalen Seelenlebens benehmen, den Kranken selbst den Eindruck machen, als wären sie übergewaltige Gäste aus einer fremden Welt, Unsterbliche, die sich in das Gewühl der Sterblichen gemengt haben, ist wohl der deutlichste Hinweis auf einen besonderen, vom übrigen abgeschlossenen Bezirk des Seelenlebens gegeben. [...] Die Möglichkeit, den neurotischen Symptomen durch analytische Deutung einen Sinn zu geben, ist ein unerschütterlicher Beweis [...] für die Notwendigkeit der Annahme – unbewußter seelischer Vorgänge.“ Vgl. auch II/III 609, XI 99 und X 264f. Freud 1999: XI 148f. Lacan 1991a: 37. Freuds wechselnde Position zwischen seiner Tätigkeit als naturwissenschaftlich-positivistisch orientierter Mediziner einerseits und seiner hohen und in ihrer Art divinatorischen Sensibilität für die Ohnmacht, die das Fundament des Positivismus selbst um die Jahrhundertwende 1900 zu unterminieren drohte, andererseits, wird in den Kapiteln 6 und 7 ausführlich debattiert. Freud 1999: XI 387.

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nicht beweisbar, nicht nachweisbar. Aber es unterstellt dennoch ein menschliches Subjekt, eine in ihrer Art unverwechselbare Geschichte, ein Schicksal, einen Sinn dieses Lebens, auch wenn die Subjekte diesen Sinn, den Ausgang dieser Botschaft nicht kennen, nie kannten, nie kennen werden.60 Kühnheit war gefragt in diesem Zeitalter von Beklemmung, Nervosität, Ruhelosigkeit, dessen Valeurs Gottfried Benn in folgenden Worten erfasste: „Die Neurose unseres Fin de siècle! Daß Du nie enden kannst, das macht Dich groß, u. daß Du nie beginnst, das ist Dein Los!“61 Wiederholungszwang, Gedankenarbeit, Traumarbeit, im Schlaf wie im Wachzustand, bei Tag und bei Nacht, und das Unausdenkbarste, das Unheimlichste – diese Ruhelosigkeit, diese von Ewigkeit zu Ewigkeit zum Scheitern verurteilte Erinnerungsarbeit, sie war nicht einfach nur ein Alptraum: „In der Traumanalyse will uns Freud nichts anderes vorführen als die Gesetze des Unbewußten in ihrer allgemeinsten Gültigkeit. Ein Grund, weshalb der Traum dafür am günstigsten war, ist, wie Freud uns mitteilt, gerade der, daß er diese Gesetze ebenso beim normalen Subjekt wie beim Neurotiker enthüllt. Aber in dem einen wie im anderen Fall hört die Wirksamkeit des Unbewußten nicht beim Aufwachen auf. Die psychoanalytische Erfahrung zeigt nicht mehr und nicht weniger, als daß das Unbewußte keine einzige unserer Handlungen aus seinem Feld entläßt.“62

1.7 Fragen und Leiden in der Wirklichkeit Jedes Subjekt durchläuft in bestimmten herausgehobenen Momenten seines Lebens Schreckstarren, Fieberhalden, Kammerflimmern – Erfahrungen der Derealisierung, die nur die Wahrheit der Wirklichkeit enthüllt. Allerdings gibt es bestimmte Fälle – der durch Zwangskontrollhandlungen ferngesteuerte Kleinkreditberater, der arachnophobe Kosmopolit, die hysterische Sekretärin im kleinen Grauen –, bei denen das Subjekt in außerordentlich hoher Frequenz und mit besonderer Grausamkeit von diesen Erfahrungen aufgesucht wird. Es gibt, anders gesagt, Fälle, die mehr als andere sensibilisiert sind für die Alptraumhaftigkeit der Wirklichkeit. Es gibt Fälle, die sich, zermürbt, ennerviert, ratlos, nicht mehr mit dem Symptom, das heißt der wiederholten Erfahrung des Auseinandertretens von bestimmten Gedanken oder Handlungen und der Ich denke-Funktion zu arrangieren vermochten und darum Freud aufsuchten, um ihm die Botschaft zu überbringen, „daß das Unbewußte arbeitet, ohne daß man daran denkt oder rechnet oder auch urteilt“63. Wo ist mein Schlüssel? Wie viele Schritte brauche ich zum Haus, das Omen? Ist das Gerät aus? Was denkt die schwarze Katze? Is there anybody out there? Wo ist mein Schlüssel? Wie viele Schritte brauche ich zum Haus, das Omen? Ist das Gerät aus? Was denkt die schwarze Katze? Is there any60 Vgl. Freud 1999: XI 256: „Die Symptomhandlung scheint etwas Gleichgültiges

zu sein, das Symptom aber drängt sich als etwas Bedeutsames auf. Es ist mit intensivem subjektiven Leiden verbunden, es bedroht objektiv das Zusammenleben einer Familie.“ Vgl. auch XI 265: „Die neurotischen Symptome haben also ihren Sinn wie die Fehlleistungen, wie die Träume, und so wie diese ihren Zusammenhang mit dem Leben der Personen, die sie zeigen.“ 61 Benn 1996: 251. 62 Lacan 1991a: 40. 63 Lacan 1991a: 10.

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body out there? Wo ist mein Schlüssel? Wie viele Schritte brauche ich zum Haus, das Omen? Ist das Gerät aus? Was denkt die schwarze Katze? Is there anybody out there? Das kann nicht alles gewesen sein, darin kann sich die Arbeit nicht erschöpfen. Und so konsultieren sie Freud, so kommen sie zu Freud und sagen nicht länger cogito ergo sum oder Aller Unsinn hebt sich auf, sondern: protect me from what I want. Sie wollen erlöst werden von der Wiederholung, von diesem Dasein heiliger Ungeheuer, sie kommen und klagen das Testament einer verlorenen Erinnerung ein.64 Wo ist mein Schlüssel? Wie viele Schritte brauche ich zum Haus, das Omen? Ist das Gerät aus? Was denkt die schwarze Katze? Is there anybody out there? Wie eine Geschichte über die Theorie und Praxis einer Wiederholung wiederholen? Wie anfangen und wo aufhören mit der Sekundärliteratur?65 Wie, wo, wann den Einstieg finden in diese Zirkulation von Wiederholungen, in die Spirale, die Schwindel erzeugt und das Bewusstsein verlieren macht?

1.8 Antworten? Lacan fragen. Und Lacan antwortete: Freud fragen. Und was sagt Freud, wie verhält sich Freud angesichts all der Anankasten, der Nervolabilen, der vom Symptom Gezeichneten? Wie verhält er sich angesichts dieses in Form der Wiederholung operationalisierten Leidens? Spricht er sie los vom Fluch der Wiederholung, von der unbetäubbaren und doch so dantesk sinnlosen Arbeit? Verhilft er ihnen zu einem neuen Lebensentwurf, ein Leben, in dem sie nicht mehr zwanghaft wiederholen müssen? Gibt er ihnen Ruhe, inneren Frieden, gibt er ihnen eine kleine Packung Glück für dieses Leben zurück? Weder Guru noch Zen-Station66, Freud gibt nicht die erflehte Ruhe und den damit verbundenen Elan wieder. Er hält sich zurück mit aufmunternden 64 Vgl. Freud 1999: I 531: „Es bezweifelt niemand, daß die Erlebnisse unserer

ersten Kinderjahre unverlöschbare Spuren in unserem Seeleninnern zurückgelassen haben; wenn wir aber unser Gedächtnis befragen, welches die Eindrücke sind, unter deren Einwirkung bis an unser Lebensende zu stehen uns bestimmt ist, so liefert es entweder nichts oder eine relativ kleine Zahl vereinzelt stehender Erinnerungen von oft fragwürdigem oder rätselhaftem Wert.“ 65 Eine aufschlussreiche Beleuchtung einer der Parzellen des sekundärliterarischen Planeten liefert Tholens „Freud-Lacan-Lektüren im Rückblick“. Vgl. Tholen 2000. 66 Und auch den Yoga-Praktiken widerfährt in Freuds Das Unbehagen in der Kultur eine dezente Ablehnung. „Ein anderer meiner Freunde, den ein unstillbarer Wissensdrang zu den ungewöhnlichsten Experimenten getrieben und endlich zum Allwisser gemacht hat, versicherte mir, daß man in den Yogapraktiken durch Abwendung von der Außenwelt, durch Bindung der Aufmerksamkeit an körperliche Funktionen, durch besondere Weisen der Atmung tatsächlich neue Empfindungen und Allgemeingefühle in sich erwecken kann, die er als Regressionen zu uralten, längst überlagerten Zuständen des Seelenlebens auffassen will. Er sieht in ihnen eine sozusagen physiologische Begründung vieler Weisheiten der Mystik. Beziehungen zu manchen dunklen Modifikationen des Seelenlebens, wie Trance und Ekstase, lägen hier nahe. Allein mich drängt es, auch einmal mit den Worten des Schillerschen Tauchers auszurufen „Es freue sich, wer da atmet im rosigen Licht.““ (Freud 1999: XIV 430f) Vgl. auch Freud 1999: XIV 437: „Man kann also hoffen, durch Einwirkung auf diese Triebregungen von einem Teil des Leidens frei zu werden. Diese Art der Leidabwehr

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Diagnosen, er schickt auch niemanden ins Sanatorium oder an irgendeinen amönen Luftkurort. Er kann es einfach nicht, es liegt nicht in seiner Macht. Keine Lügen, keine Illusionen. So wenig, wie er den Kleinkreditberater in einen Global Player konvertieren kann, auf dass sich in solchem GroßraumDenken und den damit verbundenen Timing-Talenten die Symptome wie von selbst wegtrainieren, so wenig kann er dem Arachnophoben raten, bei Arien von Purcell Mut zu proben und sich zunächst Spinnenbildern in Kinderbüchern auszusetzen. Solche Interventionen lagen jenseits von Freuds Vermögen. Keine Lügen, kein Charakter-Relaunch, keine Ego-Raubkopien. Er kann dem kleinen Angestellten mit dem übermächtigen Vater nicht suggerieren, dass er doch von Wesen her eigentlich ein Rockefeller, ein Mortimer sei. Keine Ablenkung – sei es ein Tennisurlaub in Boston, der Ball der Sterne oder irgendeine Riviera, das Symptom würde sich in jeder Umgebung reaktualisieren, nach einer kurzen Totzeit würde sich das System erneut auf sinnlose Wiederholung hin deregulieren. Keine Lügen, keine Illusionen. „Unsere Forschung hat uns zu der Erkenntnis geführt, daß das Prinzip des Wiederholungszwangs in dem gründet, was wir die Insistenz der signifikanten Kette nannten, [...] in der wir das Subjekt des Unbewußten, wollen wir die Entdeckung Freuds ernst nehmen, anzusiedeln haben.“67 Freud kann keine Substitutionstherapie vorschlagen – Liegestütz mit einem Lächeln anstelle des insistierenden Gedankens –, er kann keinen Programmwechsel erlassen. Er kann die Sekretärin nicht zur SkyscraperHochsteckfrisur und zur Verwirklichung ihrer verdrängten Begierden animieren, um so eine Wiener Vorgängerin von Lolo Ferrari in die Realität zu setzen. Und er wird dem ewigen Philosophiestudenten nicht zum kostenlosen Weitsprung über den Schatten verhelfen, auf dass dieser als DescartesProfessor seinen Eintritt nähme in eine engagierte Elite, die Sekundärliteratur prosperieren lässt. Denn die Psychoanalyse ist keine leichte und leichtfertige Unternehmung im Leben des Patienten, keine Maßnahme sans soucis zur Steigerung des existentiellen Komforts. Sie steht jenseits diverser Lebensverbesserungsanläufe vom Power-Napping unter Traineraufsicht über eine GlyxDiät68, das Halleluja bis hin zur Lomi-Lomi-Erfahrung69. Sie kommt nicht daher als das Intermezzo von thalassotherapeutischem Ahoi, Schrothkur70, einer mit Chi-Bällen ausgerüsteten Expedition ins Unter-Ich, Asiatischem Cocooning71, Psycho-Microdermabrasion geschweige denn einer Kur mit

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greift nicht mehr am Empfindungsapparat an, sie sucht der inneren Quellen der Bedürfnisse Herr zu werden. In extremer Weise geschieht dies, indem man die Triebe ertötet, wie die orientalische Lebensweisheit lehrt und die Yogapraxis ausführt. Gelingt es, so hat man damit freilich auch alle andere Tätigkeit aufgegeben (das Leben geopfert), auf anderem Wege wieder nur das Glück der Ruhe erworben.“ Lacan, Schriften I: 9. Das Betriebsgeheimnis dieser Diät, die aufs Kalorienzählen verzichten möchte, lautet: Wer sich mit Lebensmitteln mit niedrigem Glyx (= glykämischer Index) ernährt, verliert an Gewicht und gewinnt an Vitalität. Lomi-Lomi ist eine hawaianische Massage, charakterisiert durch Alternation von sanften und kräftigen Griffen, die, begleitet durch Gymnastik und Gesang, zur Muskelentspannung dient. Eine Schrothkur ist eine zwei- bis vierwöchige Entschlackungskur nach Johann Schroth mit Brot, Wein und Schwitzpackungen. Es handelt sich um ein exklusiv in den Spas des „Four Seasons“ auf Bali zelebriertes Körper-Treatment. Über eine Körpermaske aus Vulkanschlamm, der

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Liebstöckl oder Adumbran72; um gar nicht zu reden von all den „auf eigene Faust unternommenen Herstellungsversuchen [...], die zu pathologischen Ergebnissen geführt haben; wir können nichts daran ändern“73. „Herstellungsversuche“ zumal, in denen sich doch nichts anderes als der alte Zwang zur Wiederholung realisiert. Was aber ist dann, wenn dies ganze breite Angebot zur Rekuperation des von der Wiederholung versehrten Subjekts ihr fernsteht, die Psychoanalyse ? Sie ist Arbeit, harte, über lange Etappen scheinbar undankbare Arbeit, denn „wir dürfen aber wohl annehmen, daß die spontan erfolgende Veränderung des Ubw von seiten des Bw ein schwieriger und langsam verlaufender Prozeß ist“74. Und im Gegensatz zu UhmmmmmBegleitern, Pharmavertretern, „Kulturheuchlern“75 und Ich-Psychologen verbirgt der Psychoanalytiker diese bittere Wahrheit nicht vor dem angehenden Patienten: „Wenn wir [...] einen Neurotiker in psychoanalytische Behandlung nehmen, so [...] halten [wir] ihm die Schwierigkeiten der Methode vor, ihre Zeitdauer, die Anstrengungen und die Opfer, die sie kostet, und was den Erfolg anbelangt, so sagen wir, wir können ihn nicht sicher versprechen, er hänge von seinem Benehmen ab, von seinem Verständnis, seiner Gefügigkeit, seiner Ausdauer.“76 Die Psychoanalyse ist Arbeit, „zeitraubend und [...] langwierig“77. Freud kann und will niemanden von der Arbeit dispensieren, er verordnet nicht Ruhe und Entspannung der Sinne, er vermag nicht im Zuge einer magischen Mediziner-Geste die Augen der Patienten zu öffnen in einer Weise, dass wieder die Erfahrung von Maientagen und hellenischen Sahnehimmeln in sie treten und Katharsis bringen möge. Er kann es nicht, er kann bei all den Zwängen zur Wiederholung, bei Angst und Leiden, dennoch keine Entwarnung, Normalisierung, Sedierung geben, zumal, dies wäre auch nicht lagerecht, denn: „Wenn's das ist, was Dir Angst macht, so vertraue Deinem Analytiker, steig auf den Eiffelturm und sieh, wie herrlich Paris ist. Schade nur, daß einige schon von der ersten Etage aus über die Brüstung springen, und justament solche, deren Bedürfnisse sämtlich auf das richtige Maß zurückgeführt worden sind. Negative therapeutische Reaktion, nennen wir das. Gottseidank geht die Verweigerung nicht bei allen so weit. Das Symptom bricht ganz einfach wieder durch wie wildes Gras: Wiederholungszwang.“78

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mit aromatisiertem Wasser auf der Haut verteilt wird, kommt ein Ganzkörperwickel aus Bananenblättern. Vgl. hierzu beispielsweise Freud 1999: XI 468: „Der Arzt sagt dem Nervösen: Es fehlt Ihnen ja nichts, es ist nur nervös, und darum kann ich auch Ihre Beschwerden mit einigen Worten in wenigen Minuten wegblasen. Es widerstrebt aber unserem energetischen Denken, daß man durch eine winzige Kraftanstrengung eine große Last sollte bewegen können, wenn man sie direkt und ohne fremde Hilfe geeigneter Vorrichtungen angreift. Soweit die Verhältnisse vergleichbar sind, lehrt auch die Erfahrung, daß dieses Kunststück bei den Neurosen nicht gelingt.“ Freud 1999: XI 465. Freud 1999: X 293. Ebd. 336. Freud 1999: XI 7. Ebd. 448. Lacan 1991: 215.

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Eine Gefahr, die nicht grundsätzlich vermieden, jedoch unter Kontrolle gehalten werden kann – unter der Bedingung, der junge Descartes oder die visionäre Lollo vertrauen sich keinem Laienanalytiker, keinem Vertreter der Sezessionisten um Adler und Jung79 und keinem neuamerikanisierten Psychologen an, sondern gehen zu einem Freud’schen Analytiker. Denn ein solcher weiß, „daß er mit den explosivsten Kräften arbeitet und derselben Vorsicht und Gewissenhaftigkeit bedarf wie der Chemiker. Aber wann ist dem Chemiker je die Beschäftigung mit den ob ihrer Wirkung unentbehrlichen Explosivstoffen wegen deren Gefährlichkeit untersagt worden? Es ist merkwürdig, daß sich die Psychoanalyse alle Lizenzen erst neu erobern muß, die anderen ärztlichen Tätigkeiten längst zugestanden sind. Ich bin gewiß nicht dafür, daß die harmlosen Behandlungsmethoden aufgegeben werden sollen. Sie reichen für manche Fälle aus, und schließlich kann die menschliche Gesellschaft den furor sanandi ebensowenig brauchen wie irgend einen anderen Fanatismus. Aber es heißt die Psychoneurosen nach ihrer Herkunft und ihrer praktischen Bedeutung arg unterschätzen, wenn man glaubt, diese Affektionen müßten durch Operationen mit harmlosen Mittelchen zu besiegen sein. Nein, im ärztlichen Handeln wird neben der medicina immer ein Raum bleiben für das ferrum und für das ignis, und so wird auch die kunstgerechte, unabgeschwächte Psychoanalyse nicht zu entbehren sein, die sich nicht scheut, die gefährlichsten seelischen Regungen zu handhaben und zum Wohle des Kranken zu meistern.“80

1.9 Psychoanalyse versus Psychologie In einem Bankbeamten, stadtbekannt als personale Seriösität hinterm Schalter, diversifiziert sich ein Navigationssystem Wasserhahnkontrolle, das den Einflussbereich von Ich denke lange überschritten hat. Dr. phil. Nicola Olsen hinterlässt in ihrem Anonyme-Park-Avenue-Lady-Stil nicht den geringsten Eindruck von Weltlosigkeit, obwohl sie doch seit Jahren und im Umfang von mittlerweile 500 Seiten über Else Lasker-Schülers 14-Zeilen „Und suche Gott“ promoviert. Und keiner ahnt, dass die süße Arielle im konditorpastellenen Swing Dress, die im Castel über ihrem süßen Topfenteller so quirlig dahin parliert, in ihrer Macramétasche mit Fransen eine auf ein ernstes Symptom hinweisende Literflasche Sterilum mit sich führt. „Das ist doch gewiß ein tolles Leiden. Ich glaube, der ausschweifendsten psychiatrischen Phantasie wäre es nicht gelungen, etwas dergleichen zu konstruieren, und wenn man es nicht alle Tage vor sich sehen könnte, würde man sich nicht entschliessen, daran zu glauben. Nun denken Sie aber nicht, daß Sie dem Kranken etwas leisten, wenn Sie ihm zureden sich abzulenken, sich nicht mit diesen dummen Gedan79 Zu Freuds Diskreditierung der nicht in der psychoanalytischen Technik unter-

richteten bzw. der von dieser Technik abgefallenen Psychologen vgl. Freuds Text Die Frage der Laienanalyse (Freud 1999: XIV 209-296). 80 Freud 1999: X 320f. Vgl. auch X 133: „Weitere Gefahren entstehen dadurch, daß im Fortgange der Kur auch neue, tiefer liegende Triebregungen, die sich noch nicht durchgesetzt hatten, zur Wiederholung gelangen können. Endlich können die Aktionen des Patienten außerhalb der Übertragung vorübergehende Lebensschädigungen mit sich bringen oder sogar so gewählt sein, daß sie die zu erreichende Gesundheit dauernd entwerten.“

PRÄLUDIUM ſ 29 ken zu beschäftigen und an Stelle seiner Spielereien etwas Vernünftiges zu tun. Das möchte er selbst, denn er ist vollkommen klar, teilt Ihr Urteil über seine Zwangssymptome, ja er trägt es Ihnen entgegen. Er kann nur nicht anders; was sich bei der Zwangsneurose zur Tat durchsetzt, das wird von einer Energie getragen, für die uns wahrscheinlich der Vergleich aus dem normalen Seelenleben abgeht.“81

Vielleicht existiert keine Stelle in den gesamten Schriften von Freud und Lacan, wo der Unterschied zwischen der Ambition des Psychologen und der Technik des Psychoanalytikers auf eine derart konzise und zugleich plastische Weise konturiert wird. In den von Furor geladenen Absagen, die Lacan der Psychologie erteilt, befolgt er Freuds richtungsgebende Aufforderung, dass der „Psychoanalytiker“ sich mehr „für das unbewußte als für das bewußte Seelenleben interessieren [muß]“82, dass „wir“, mehr noch, „lernen [müssen], uns von der Bedeutung des Symptoms Bewußtsein zu emanzipieren“83. Freud und Lacan zweifeln an dem Wert der von klassischen Philosophen, Pädagogen, Kinderärzten und schließlich modernen Personal Verhaltenstrainern abgesonderten Versicherung, dass sich „Psychisches und Bewußtes [...] identifizieren lassen“, und ersetzen dieselbe durch die Annahme, „daß die seelischen Vorgänge an und für sich unbewußt sind“. Sofern „Psychologie als die Lehre von den Inhalten des Bewußtseins“ gilt, müssen die Analytiker mit und nach Freud dazu bewegt werden, sich von dieser Angelegenheit fernzuhalten.84 Freuds Unfähigkeit zur Lüge, zur Beruhigung, zur Suggestion eines wirklichkeitsfähigen Ich, Freuds Wachsamkeit gegenüber der negativen therapeutischen Reaktion, bedeutet, aus der Perspektive Lacans, einfach folgendes: Freud war kein Psychologe. Ein Psychologe will von den Wiederholungen, den Gedanken, den Signifikanten, also kurz von den Botschaften des Subjekts eigentlich nichts wissen. Psychologen therapieren Wiederholungszwänge nicht, indem sie darin sprachlich strukturierte Botschaften entziffern, sondern indem sie an das Ich des Subjekts appellieren. Wenn das Denken das Ich denke subvertiert, dann muss eben Gegendruck ausgeübt werden: Das Ich denke muss vitalisiert und so in den Stand versetzt werden, das Denken besser zu kontrollieren. Psychologen wollen in erster Linie das Ich des Subjekts stärken, sie wollen, heißt das, ein Ich modellieren, das den Normen und Funktionen der Gesellschaftsordnung bestmöglichst adjustiert ist – ein zufriedenes, gut angepasstes und pflegeleichtes Ich-Objekt. Eine eingehendere 81 82 83 84

Freud 1999: XI 266f. Freud 1999: X 265. Freud 1999: X 291. Freud 1999: XI 14. Dieser Wunsch Freuds ging, wie Lacans resignative Diagnosen bezüglich der nach Freud zur Ich-zentrierten Theorie abgefallenen Psychoanalyse zeigen, nicht in Erfüllung. Vgl. Lacan 1991: 23. Freud hat das, was auch Lacan wusste, natürlich gewusst, so heißt es zum Beispiel angesichts seiner Kulturtheorien, seiner Konzeption der polymorph-perversen Sexualität des Kindes und der Partialtriebe: „Ich weiß, daß Sie mich schon längst unterbrechen wollten, um mir zuzurufen: Genug der Ungeheuerlichkeiten! Die Stuhlentleerung soll eine Quelle der sexuellen Lustbefriedigung sein, die schon der Säugling ausbeutet! Der Kot eine wertvolle Substanz, der After eine Art von Genitale! Das glauben wir nicht, aber wir verstehen, warum Kinderärzte und Pädagogen die Psychoanalyse und ihre Resultate weit von sich weg gewiesen haben.“ (Freud 1999: XI 326)

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Betrachtung von Freuds gesellschaftstheoretischen, ethischen und kulturwissenschaftlichen Schriften – zum Beispiel in Zeitgemässes über Krieg und Tod85, Die Zukunft einer Illusion86 oder Das Unbehagen in der Kultur87 – macht rasch klar, dass es Freud darum ganz sicher nicht gelegen sein kann, dass er im ganzen Gegenteil das Subjekt mit bestem Wissen und Gewissen nicht einer Wirklichkeit unterwerfen will, die in ihm selbst nichts als Desillusioniertheit und düsterste Prophezeiung zu evozieren vermag.88 Und so spielt Freud nahe provokativ mit Überlegungen, wie beispielsweise auf ein unter Gefühlen der Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit leidendes Ich zu reagieren sei, die jeden Psychologen, der ja seine Bestimmung darin findet, das Ich zu stärken, ihm zu infiltrieren, dass es nicht zweite, sondern erste Besetzung im psychischen Apparat sei, in mittleren Graden erschüttern würden. „Es wäre wissenschaftlich wie therapeutisch gleich unfruchtbar, dem Kranken zu widersprechen, der solche Anklagen gegen sein Ich vorbringt. Er muß wohl irgendwie recht haben und etwas schildern, was sich so verhält, wie es ihm erscheint. Einige seiner Angaben müssen wir ja ohne Einschränkung sofort bestätigen. Er ist wirklich so interesselos, so unfähig zur Liebe und zur Leistung, wie er sagt. Aber das ist, wie wir wissen, sekundär, ist die Folge der inneren, uns unbekannten, der Trauer vergleichbaren Arbeit, welche sein Ich aufzehrt. In einigen anderen Selbstanklagen scheint er uns gleichfalls recht zu haben und die Wahrheit nur schärfer zu erfassen als andere, die nicht melancholisch sind. Wenn er sich in gesteigerter Selbstkritik als kleinlichen, egoistischen, unaufrichtigen, unselbständigen Menschen schildert, der nur immer bestrebt war, die Schwächen seines Wesens zu verbergen, so mag er sich unseres Wissens der Selbsterkenntnis ziemlich angenähert haben, und wir fragen uns nur, warum man erst krank werden muß, um solcher Wahrheit zugänglich zu sein.“89

Lacans strenge Abgrenzung seiner Psychoanalyse als direkte Fortsetzung der Freud’schen Theorie von der Psychologie wie auch von anderen psychologisch orientierten Freud-Adaptionen ist durch mehr und anderes motiviert als eine persönliche Abneigung. Es ist eine wissenschaftliche Polemik, die selbst einen wichtigen Teil innerhalb der Geschichte der Psychiatrie und Psychoanalyse, der analytischen Techniken und Voraussetzungen darstellt. Um den Unterschied kurz zusammenzufassen: die Psychologie richtet sich ans Ich, die Analyse hingegen ans Unbewusste. Die Psychoanalyse basiert auf der Annahme der oben ausführlich dargelegten Spaltung des Subjekts in einen bewussten Moment (ich denke) und einen unbewussten Moment (es denkt) Freud 1999: X 323-355. Freud 1999: XIV 325-380. Freud 1999: XIV 421-506. Vgl. hierzu die Passage in Freuds Vorlesungen, wo er seinem Auditorium unmissverständlich klar macht, „daß Sie falsch berichtet sind, wenn Sie annehmen, Rat und Leitung in den Angelegenheiten des Lebens sei ein integrierendes Stück der analytischen Beeinflußung. Im Gegenteil, wir lehnen eine solche Mentorrolle nach Möglichkeit ab, wollen nichts lieber erreichen, als daß der Kranke selbständig seine Entscheidungen treffe. In dieser Absicht fordern wir auch, daß er alle lebenswichtigen Entschlüsse über Berufswahl, wirtschaftliche Unternehmungen, Eheschließung oder Trennung über die Dauer der Behandlung zurückstelle und erst nach Beendigung derselben zur Ausführung bringe.“ (Freud 1999: XI 450). 89 Freud 1999: X 432. 85 86 87 88

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als einer Grundannahme der Freud’schen Theorie, sie basiert auf der Freud’schen Dezentrierung des Subjekts und der darin implizierten Destruktion des cartesischen Cogito, der Ich-Funktion. Die Psychologie dagegen stellt, so Lacan, eine latente Fortsetzung des Cartesianismus dar, um, kombiniert mit dem Rationalismus der Aufklärung, dem Locke’schen Empirismus und schließlich im zwanzigsten Jahrhundert mit dem American way of life, nur noch das allmächtige Ich und dessen unumschränkte Freiheit zur Selbstverwirklichung zu proklamieren. Die Freud-Lacan’sche Psychoanalyse hat dafür nicht das geringste Verständnis, akzeptiert sie doch nur die eine und ganz andere Freiheit: „Ich habe mir schon einmal die Freiheit genommen, Ihnen vorzuhalten, daß ein tief wurzelnder Glaube an psychische Freiheit und Willkürlichkeit in Ihnen steckt, der aber ganz unwissenschaftlich ist und vor der Anforderung eines auch das Seelenleben beherrschenden Determinismus die Segel streichen muß.“90 Die moderne Psychologie empfiehlt das Ich, sich auszeichnend durch Echtheit und „volle Präsenz“ als eine „Wünschbarkeit“, einen „Wert“91, und Lacan dechiffriert in diesen Idealen sehr schnell eine Maßnahme zur Produktion gut angepasster, gesellschaftspolitisch leicht handhabbarer Egos. Wie aber bringt man ein Subjekt, das nach Freud und Lacan durch eine primordiale Spaltung, durch einen Mangel an Ursache, gezeichnet ist, dazu, diesen Mangel weiterhin erfolgreich und ausdauernd zu verkennen und sich dem Glauben an die Echtheit und Autonomie seines Ich denke zu verhaften? Wie bringt man das Wesen zum angepassten Charakter? Die moderne Psychologie operiert hier so geschickt wie sinister: Sie ist zugleich Freundlichkeit und Disziplinartechnik. Sie stärkt das Selbstbewusstsein, das Ich, sicher, aber welches Ich ? – ein Ich, das am Bild oder am Idealich des Psychologen orientiert ist, welches wiederum ein auf die gesellschaftlichen Normen hin abgestimmtes Durchschnitts-Ich darstellt.92 Wie lautet die Antwort, mit der Freud, auch ungefragt, interpoliert hätte? 90 Freud 1999: XI 104. 91 Lacan 1996: 16. 92 An dieser Stelle ist es für die Theorie und Praxis der Psychoanalyse unumgäng-

lich, die Problemstellung der symbolischen und nicht (psychologisch reduzierten) imaginären Übertragung in die Diskussion aufzunehmen, mit anderen Worten: die Fragen nach der Rolle des Arztes in der analytischen Situation und der damit verbundenen Gefahr der Suggestion. Die Eröffnung einer solchen Diskussion, die Beantwortung dieser Fragen weist weit über die Grenzen dieses Buches hinaus, sie verweist, noch weiter, auf eine ganze auf dies Thema hin spezifizierte Bibliografie. Um es kurz und stark vereinfacht darzulegen. Kennzeichnend für die Psychologie ist die Setzung eines mit Autorität und Idealpotential ausgestatten Arzt-Egos auf der einen Seite und eines psychisch deregulierten Patienten-Objekts. Dagegen arbeitet die Psychoanalyse mit dem Konzept der, wie Lacan es mit und nach Freud evolviert hat, Intersubjektivität, das heißt einer subjektiven Prozedur, die den Arzt und den Patienten gleichermaßen als Momente auffasst, Momente, die durch Lacans berühmte, hegelianisch geprägte Formel „das Begehren ist das Begehren des Anderen“ vektorisiert werden. Damit aber wird die Wahrheit automatisch ihrer Ganzheit, Eindeutigkeit und Allgemeinheit enteignet, sie kann, weiter, unmöglich länger von einer mit der entsprechenden Ermächtigung ausgestatteten Person, der Person des Arztes, administriert werden. Sie wird vielmehr zu einem Prozess, der intersubjektiv zwischen Analytiker und Analysand abläuft und die jeweilige „Wahrheit“, die Geschichte des Analysanden freigibt. Das 11. Kapitel wird sich auf dieses Sujet

32 | DISKRETE GESPENSTER „Das psychoanalytische Verfahren unterscheidet sich von allen suggestiven, persuasiven u. dgl. darin, daß es kein seelisches Phänomen beim Patienten durch Autorität unterdrücken will. Es sucht die Verursachung des Phänomens zu ergründen und es durch dauernde Veränderung seiner Entstehungsbedingungen aufzuheben. [...] Der Analytiker respektiert die Eigenart des Patienten, sucht ihn nicht nach seinen – des Arztes – persönlichen Idealen umzumodeln und freut sich, wenn er sich Ratschläge ersparen und dafür die Initiative des Analysierten wecken kann.“93

1.10 Verkennen und Überleben „Wir sind vorbereitet darauf, daß uns die Aussagen des Ichs irreführen werden. Wenn man dem Ich glauben will, so war es in allen Stücken aktiv, so hat es selbst seine Symptome gewollt und gemacht. Wir wissen, daß es ein gutes Stück Passivität über sich ergehen ließ, die es sich dann verheimlichen und beschönigen will. Allerdings getraut es sich dieses Versuches nicht immer; bei den Symptomen der

konzentrieren. Für den Augenblick, und um zu Freud zurückzukommen, soll bezüglich des gegebenen Kontextes festgehalten werden, dass die Psychoanalyse im Gegensatz zur Psychologe schon allein durch diese ihre Technik vor den Gefahren der Suggestion und Manipulation des Patienten seitens des Arztes geschützt ist. Das Risiko, eine Fußnote zu überlasten, wird gern in Kauf genommen, weil Freud diesen hier sehr kontrahiert abgelichteten Sachverhalt in klare Worte kleidet: „[...] Nun werden Sie sagen, gleichgültig, ob wir die treibende Kraft unserer Analyse Übertragung oder Suggestion heißen, es besteht doch die Gefahr, daß die Beeinflussung des Patienten die objektive Sicherheit unserer Befunde zweifelhaft macht. Was der Therapie zugute kommt, bringt die Forschung zu Schaden. Es ist die Einwendung, welche am häufigsten gegen die Psychoanalyse erhoben worden ist, und man muß zugestehen, wenn sie auch unzutreffend ist, so kann man sie doch nicht als unverständig abweisen. Wäre sie aber berechtigt, so würde die Psychoanalyse doch nichts anderes als eine besonders gut verkappte, besonders wirksame Art der Suggestionsbehandlung sein, und wir dürften alle ihre Behauptungen über Lebenseinflüsse, psychische Dynamik, Unbewußtes leicht nehmen. Die Lösung seiner Konflikte und die Überwindung seiner Widerstände glückt doch nur, wenn man ihm solche Erwartungsvorstellungen gegeben hat, die mit der Wirklichkeit in ihm übereinstimmen. Was an den Vermutungen des Arztes unzutreffend war, das fällt im Laufe der Analyse wieder heraus, muß zurückgezogen und durch Richtigeres ersetzt werden. Man erblickt in Erfolgen, die sich zu früh einstellen, eher Hindernisse als Förderungen der analytischen Arbeit und zerstört diese Erfolge wieder, indem man die Übertragung, auf der sie beruhen, immer wieder auflöst. Im Grunde ist es dieser letzte Zug, welcher die analytische Behandlung von der rein suggestiven scheidet und die analytischen Ergebnisse von dem Verdacht befreit, suggestive Erfolge zu sein. Bei jeder anderen suggestiven Behandlung wird die Übertragung sorgfältig geschont, unberührt gelassen; bei der analytischen ist sie selbst Gegenstand der Behandlung und wird in jeder ihrer Erscheinungsformen zersetzt. Zum Schluß einer analytischen Kur muß die Übertragung selbst abgetragen sein, und wenn der Erfolg jetzt sich einstellt oder erhält, so beruht er nicht auf der Suggestion, sondern auf der mit ihrer Hilfe vollbrachten Leistung der Überwindung innerer Widerstände, auf der in dem Kranken erzielten inneren Veränderung. (Freud 1999: XI 470f) 93 Freud 1999: XIII 226f.

PRÄLUDIUM ſ 33 Zwangsneurose muß es sich eingestehen, daß etwas Fremdes sich ihm entgegenstellt, dessen es sich nur mühsam erwehrt.“94

Dennoch, es geht Freud und Lacan keineswegs darum, die Funktion des Cogito zu eliminieren: „Die Hauptsache ist nicht, das Bewußtsein zu demolieren – wir versuchen hier nicht, ein großes Zerdeppern von Glas zu veranstalten.“95 Lacan konzediert: das Ich ist eine für die menschliche Erfahrung notwendige Funktion. Ohne das Ich wären die Subjekte außerstande, irgendetwas zu erfahren, zu erkennen, zu reflektieren. Es ist eine Verkennungsfunktion, ein Trugbildpilot, sicher, aber nichtsdestoweniger, wenn auch um den Preis einer irreduziblen Verkennung, so erkennen und denken wir mit dem Ich. Es geht nicht darum, diese überlebensnotwendige Funktion zu demontieren, es geht jedoch mit Freud darum, das Cogito in einem korrekten Verhältnis zum es denkt des Unbewussten zu positionieren, in einem solchen Verhältnis, das nicht länger mit Descartes konzentrisch, sondern das, mit Freud, exzentrisch ist. Mit anderen Worten: wenn Ich denke, dass nicht Ich, sondern es denken soll, dann ist es immer noch Ich – und eben nicht es – die dies denkt. „Man muß nicht unbedingt den Plan eines Hauses kennen, um mit dem Kopf gegen seine Mauern zu rennen, darauf kann man sogar recht gut verzichten.“96

1.11 Das Leiden der Zwangsneurose Diese Aporie, diese Gefangennahme durch das Ich phosphoresziert nirgends so akut wie in der Zwangsneurose. Das neurotische Subjekt weiß genau um die Sinnlosigkeit und Zeitvergeudung seiner Zwänge. Wäre es anders, wäre der ewige Philosophiestudent fröhlich zur Konsumtion der xten DescartesSekundärliteratur fortgeschritten, dann wäre er nicht neurotisch, sondern einfach kurzsichtig. Der Neurotiker weiß genau, wo die Schlüssel sind, dass das Gerät aus und dass es völlig unergründbar ist, was und ob die schwarze Katze denkt – er weiß es, er weiß es genau, doch „er muß gegen seinen Willen grübeln und spekulieren, als ob es sich um seine wichtigsten Lebensaufgaben handelte“. Der Neurotiker weiß es genau und steht dennoch unter dem grausamen, kompromisslosen Zwang, seine Kontrollen und Gedanken durchführen zu müssen, und irgendwann kommen noch Heizung und Lichtschalter hinzu, und es wird für die Kranken immer schwieriger, unerträglicher, ihr Leben überhaupt noch weiter zu führen, ihr wahrlich nicht mehr menschenwürdiges Leben. „Was der Kranke [...] ausführt, die sogenannten Zwangshandlungen, das sind sehr harmlose, sicherlich geringfügige Dinge, meist Wiederholungen, zeremoniöse Verzierungen an Tätigkeiten des gewöhnlichen Lebens, wodurch aber diese notwendigen Verrichtungen, das Zubettegehen, das Waschen, Toilettemachen, Spazierengehen zu höchst langwierigen und kaum lösbaren Aufgaben werden.“97 Das Ich, dieses denkende Ich, es ist dem es denkt seiner Wiederholungstaten in einem Zustand völliger Paralyse und schutzlos ausgeliefert, usque ad finem – „das Ganze läuft in eine im94 95 96 97

Freud 1999: XI 395. Lacan 1991b: 78. Lacan 1991: 198. Freud 1999: XI 266.

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mer mehr zunehmende Unentschlossenheit, Energielosigkeit, Freiheitsbeschränkung aus“98. Und selbst wenn der Psychologe für die Dauer einer gewissen Zeitspanne ein Schutzschild errichtete, wenn er durch Ich-Vitaminisierung oder Satz-und-Sieg-Formeln eine kurzfristige Erleichterung von den „Verboten, Verzichten und Einschränkungen seiner [des Zwangsneurotikers, Anm d. Verf.] Freiheit“ und der „angestrengten Denktätigkeit, die den Kranken erschöpft, und der er sich nur sehr ungern hingibt“, verschaffte99, selbst wenn er für eine vorübergehende Dauer das System monopolisierte, es würde weiterdenken und ausbrechen, irgendwann, wie wildes Gras – Wiederholungszwang. Wo ist mein Schlüssel? Wieviel Schritte brauche ich zum Haus, das Omen? Ist das Gerät aus? Was denkt die schwarze Katze? Is there anybody out there? Wie ein Buch über eine Theorie und Praxis der Wiederholung wiederholen? Wie anfangen und wo aufhören mit der Sekundärliteratur? Wie anfangen und wo aufhören mit der Erinnerung der Ur-Sache? Wie ein Buch über die Geschichte der Psychoanalyse schreiben ohne negative therapeutische Reaktion? Was tun? Lacan folgen, der Freud folgte. Und was sagte Freud, der kein Psychologe war? Freud sagte: Wiederholen, Erinnern, Durcharbeiten100.

1.12 Wiederholung und Barmherzigkeit Verglichen mit der Intervention des Psychologen, dessen Beruhigung und Weichenstellung in Sachen Ich und Lebensentwurf sich durch ihre Bekömmlichkeit auszeichnen – gerade da liegt ihre Verführungskraft –, ist Freuds Antwort Erbarmungslosigkeit. „Es wäre würdiger und dem Kranken, der sich doch schließlich mit seinen Beschwerden abfinden muß, zuträglicher, wenn der Arzt die Wahrheit sprechen würde, wie er sie alle Tage kennen lernt: Die Psychoneurosen sind als Genus keineswegs leichte Erkrankungen. Wenn eine Hysterie anfängt, kann niemand vorher wissen, wann sie ein Ende nehmen wird. Man tröstet sich meist vergeblich mit der Prophezeiung: Eines Tages wird sie plötzlich vorüber sein. Die Heilung erweist sich häufig genug als ein bloßes Übereinkommen zur gegenseitigen Duldung zwischen dem Gesunden und dem Kranken im Patienten oder erfolgt auf dem Wege der Umwandlung eines Symptoms in eine Phobie.“101

Aber er konnte nicht anders, mit Benn wissend um die Neurose des Fin de siècle, um das Schicksal, um das Unbehagen in der Kultur.

98 99 100

101

Freud 1999: XI 267. Freud 1999: XI 266. So die Titelworte von Freuds berühmtem Text, in dem er die Technik der Psychoanalyse unter den wichtigsten Gesichtspunkten und unter Verwendung der zentralen Begriffe darstellt. (Freud 1999: X 125-136) Freud 1999: I 515.

PRÄLUDIUM ſ 35 „Da rief einer zwischen schon wieder abgesperrten Zähnen: hast du denn keine Gnade, keine Menschlichkeit, die Menschen wollen doch alle besser und schöner sein? – die Antwort lautete: die Gnade ist nicht bei mir. Fordert Gnade bei denen, die euch hierhergeführt haben, fordert Gnade bei euch selber, die ihr euch führen ließet, fordert sie von eurer eigenen Niedrigkeit und Gier. Immer wieder sind euch Worte gegeben worden, die euch vor dem Leben warnten. [...] Leben wolltet ihr, euer weisses, erfülltes, sich verwirklichendes Leben im Prunk der Derbys und im Schnee der Regatten – jetzt kommt keine Gnade mehr, jetzt kommt die Nacht.“102

Keine Gnade mehr, kein Erbarmen, keine Lügen, keine Illusionen, sondern: Arbeiten, Erinnern, Wiederholen. Erlösen Sie mich, beschützen Sie mich vor meinen Gedanken, meinen Symptomen, meinen Begierden. Freud erhört dieses Flehen der Patienten nicht. Freud hört etwas anderes. Freud erhört das Symptom selbst, und da ist das Erbarmen, da – in der Unterstellung eines Unbewussten – ist die Geste der Barmherzigkeit. „Ist es nicht, bei Freud, Barmherzigkeit, erlaubt zu haben dem Leid der sprechenden Sein, sich zu sagen, daß es – da es das Unbewußte gibt – etwas gibt, das transzendiert, das wahrhaftig transzendiert und das nichts anderes ist als das, was sie bewohnt, diese Spezies, nämlich die Sprache? Ist es nicht, ja, Barmherzigkeit, ihr diese Botschaft zu verkünden, daß in dem, was ihr Alltagsleben ist, sie mit der Sprache eine Stütze mehr hat als Grund, als es scheinen konnte, und daß Weisheit, unerreichbares Objekt eines vergeblichen Nachstellens, es da schon gibt?“103

Es ist Barmherzigkeit, wenn Freud in den Symptomen der Psychoneurotiker – all die „Maßregeln der Busse (lästiges Zeremoniell, Zahlenbeobachtung), der Vorbeugung (allerlei Phobien, Aberglauben, Pedanterie, Steigerung des Primärsymptoms der Gewissenhaftigkeit), der Furcht vor Verrat (Papiersammeln, Menschenscheu), der Betäubung (Dipsomanie)“104 – eine Botschaft, ein Sprechen entschlüsselt, das völlig unterdrückt, halb erstickt, deformiert ist; ein unterdrücktes Sprechen, das sich anders als in den fürchterlichen Umwegen und Strapazen des Symptoms nicht bemerkbar machen kann; eine Aktivität, die sich dadurch auszeichnet, „daß sie nicht zufällig ist, sondern ein Motiv hat, einen Sinn und eine Absicht, daß sie in einen angebbaren seelischen Zusammenhang gehört, und daß sie als ein kleines Anzeichen von einem wichtigeren seelischen Vorgang Kunde gibt“105. Freud erhört nicht das Ich, sondern das Unbewusste des Patienten, das da „arbeitet, ohne daß man daran denkt oder rechnet oder auch urteilt, gleichwohl aber [...] ein Wissen [ist], das man lediglich zu entziffern braucht, weil es in einer Verzifferung, einer Verschlüsselung besteht“106. 102 103 104 105

106

Benn 1980: 112. Lacan 1986a: 104. Freud 1999: I 390f. Freud 1999: XI 264. Vgl. auch den Fortgang des Zitats: „Die neurotischen Symptome haben also ihren Sinn wie die Fehlleistungen, wie die Träume, und so wie diese ihren Zusammenhang mit dem Leben der Personen, die sie zeigen.“ Zur sinnhaften Struktur von Symptomen und Fehlhandlungen vgl. auch Freud 1999: IV 310. Lacan 1991a: 10.

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1.13 Die gute und die schlechte Wiederholung Freud sagt: Wiederholen, Erinnern und Durcharbeiten, aber dies weder, um das Subjekt psychologisch seinem Schicksal zu enteignen, noch um es seinem Schicksal einfach zu überlassen, sondern vielmehr, um es diesem zurückzugeben, diesem Schicksal des Begehrens, dieser Geschichte, die voller Brüche und voller Leerstellen, voll von unausgesprochenem Schrecken ist. „Durch sein Symptom schreit das Subjekt die Wahrheit dessen heraus, was dieses Begehren in seiner Geschichte gewesen ist.“107 Freud und Lacan erhören Schreie, und sie sagen: Wiederholen, Erinnern und Durcharbeiten, um in diese Arbeit, in dieses Spiel selbst einzutreten und das Denken und Wissen des Unbewussten zu entschlüsseln, um diesen „Diskurs“ zu entziffern, „der nur beansprucht, in Taten überzugehen, ins Sprechen, oder ins Wiederholen* – das ist dasselbe.“108 Es wird im folgenden darum gehen, diese entscheidende Aussage in ihrer Ambiguität zu erhellen, und da Erhellung, Erläuterung, Untersuchung immer auch ein Sprechen ist, wird es praktisch und theoretisch weiterhin ums Wiederholen gehen. Eines muss an dieser Stelle vorweggenommen werden, um damit zugleich einen eingangs hergestellten Bezug noch einmal aufzunehmen, den Bezug auf die Theorie Hegels. Lacans zweideutige Gleichstellung von Sprechen und Wiederholen (be-)schreibt ein dialektisches Verhältnis, und dieses dialektische Verhältnis von Sprechen und Wiederholen öffnet zugleich den circulus vitiosus des Symptoms auf eine Aufhebung, auf einen anderen Begriff der Freud’schen Wiederholung hin: „Die Wiederkehr des Bedürfnisses ist auf Konsumtion aus, auf Konsumtion im Dienst des Appetits. Dagegen verlangt die Wiederholung nach einem Neuen. Sie verschreibt sich dem Spiel, das sich dieses Neue zu eigen macht.“109 Lacan liest Freuds Wiederholung mit Hegels dialektischer Prozedur.110 Das Bewusstsein macht wiederholt eine bestimmte, drei Momente umfassende Erfahrung, in der es sich gemeinsam mit der Weise, wie es seinen Gegenstand hat, selbst transformiert. In den beiden ersten Momenten der dialektischen Erfahrungsprozedur erfährt das Bewusstsein eine antithetische Beziehung von Gegenstand und Begriff, um schließlich im dritten Moment der Synthese oder dialektischen Aufhebung zu erfahren, dass die Antithese allein in einer bewusstseinsimmanenten Differenz, in einer Disjunktion der Bewusstseinsoperationen begründet ist. In der Synthese erfährt das Bewusstsein damit, dass die Setzung einer antithetischen Struktur zwischen äußerem realen Gegenstand und Begriff ein Irrtum war, dass es keinen Gegensatz zwischen Gegenstand und Begriff gab, weil der äußere reale Gegenstand als solcher niemals existierte, sondern immer nur eine vom Begriff unterschiedene Operation des Bewusstseins selbst war. Der dialekti107 108 109 110

Lacan 1991a: 45. Lacan 1991b: 411. Lacan 1987: 67. Zu Hegels Dialektik vgl. Hegel 1988: 4f und 11-19; vgl. auch Simon 1985: 21-30; Zizek 1991; Liebrucks 1970: 4, 13-15 und 32; Marx 1967: 8-15. Insbesondere zur Hegel’schen „Negation der Negation“ vgl. Hegel 1958: 564; vgl. auch Macho 1987: 94f; Zizek 2001: 97f, 101-105, 108, 111f, 116f, 121, 137f. Das 3. Kapitel dieses Buches wird sich Lacans Adaption von Hegels Philosophie ausführlich widmen.

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sche Dreischritt prozessiert über ein wiederholtes Umschlagen von Begriff und Gegenstand ineinander, bis schließlich dieses Umschlagen, diese oszillatorische Bewegung unterbrochen wird durch die Synthese, die eine Transzendierung auf eine höhere Ebene, mit den Worten Lacans: die Einführung eines Neuen darstellt.111 Und auch der dialektische Dreischritt selbst wiederholt sich: Immer wieder und immer höher erhebt sich das Bewusstsein bei Hegel auf immer höhere Ebenen, immer wieder wird ein neues Plateau des Wissens erreicht. Bei genauem Hinsehen lassen sich zwei Modi der Wiederholung bei Hegel differenzieren, die exakt der Lacan’schen Ambiguität des Wiederholens korrespondieren. Zum einen die negativ konnotierte Wiederholung einer permanenten dialektischen Alternation von Gegenstand und Begriff, die Alternation einer These, die nur ist, was die Antithese nicht ist, die diskrete Beziehung von Fort und Da, 0 und 1, Ur und Sache, die so lange oszilliert, bis sie im Synthese-Moment aufgehoben wird. Der Synthese-Moment, das Erreichen einer höheren Wissensstufe, stellt mit der Anerkennung, dass es nie eine substanzielle Dichotomie gab, sondern der Gegensatz vielmehr bewusstseinsimmanent operiert, zugleich die Einführung einer neuen Ebene und Perspektive des Wissens dar. Und genau dieser Moment der Synthese, die Integration des Wissens auf eine neue Erfahrung hin, wiederholt sich ebenfalls bei Hegel – dies wäre die positiv besetzte Wiederholung. Diese positiv besetzte Wiederholung formatiert den Lacan’schen Prozess des Sprechens, der sich als gute Wiederholung von einer schlechten Wiederholung demarkieren lässt – Hegels „schlechte Unendlichkeit“, Freuds unbehagliche Beschreibung des Syndroms, „als ob eine an das Nervensystem herantretende Summe von Erregung in Dauersymptome umgesetzt würde“112.

111

112

Vgl. Lacan 1990: 329: „Wir können mit gutem Grund einen Augenblick innehalten, um zu bemerken, daß die Frage nach der Wahrheit schon vom dialektischen Progreß selbst gestellt ist. [...] daß die blosse Frage nach der Wahrheit immer schon ins Innere ihrer Diskussion eingeschlossen ist, sofern es das Sprechen ist, mit dem er das Sprechen in Frage stellt und die Dimension der Wahrheit erschafft. Jedes als solches formulierte Sprechen führt in die Welt das Neue des Auftauchens des Sinns ein. Nicht so ist es, daß es sich als Wahrheit bestätigt, sondern vielmehr so, daß es in das Reale die Dimension der Wahrheit einführt.“ Freud 1999: I 141.

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1.14 Hegel, Freud und der Einbruch der Trauer Lacan rechtfertigt, um dieses Kapitel zusammenfassend abzuschließen und auf das dritte Kapitel hinzuleiten, seine Adaption der dialektischen Prozedur Hegels in mehrfacher Hinsicht. Zum einen überwindet Hegel das Bewusstseinskonzept Descartes’ auf eine Weise, in der sich das Freud’sche Unbewusste bereits ankündigt, sofern die sich im dritten Moment ereignende Erfahrung, dass die vermeintlich dichotomische Gegensätzlichkeit in Wahrheit eine diskrete bewusstseinsimmanente Differenz ist, von Hegel nicht als ein cartesischer Denkakt, sondern als eine quasi-unbewusste Operation projektiert wird. Damit zeichnet sich bereits bei Hegel der dynamische Aspekt des Freud-Lacan’schen Unbewussten ab. Hegel nivelliert, wie oben dargelegt, Subjekt und Objekt des Denkens zu zwei zeitlichen Momenten ein und desselben Vollzugs, eines Werdens, des Werdens eines Subjekts, das sich mit der Weise, wie es sich setzt und wie es seinen Gegenstand hat, verändert. Hegel suspendiert die statische Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, von res cogitans und res extensa, zugunsten einer verzeitlichen Relation Subjekt-Subjekt-Objekt, bei der das Indizes des jeweiligen Subjekts allein seine zeitliche Position innerhalb des dialektischen Prozesses ist. „Hegel geht insofern sprachlich vor, als er von vornherein nicht in der Subjekt-Objektrelation denkt, sondern in der Subjekt-Subjekt-Objektrelation.“113 Aus dem Zitat lässt sich bereits erschließen: entscheidend für Lacans Argument zur Nähe von Hegel und Freud ist auch die Tatsache, dass die dialektische Prozedur, die Bewegung des Begriffs oder Gedankens von Hegel als eine Sprachstruktur, als Vollzug eines Sprechens gedacht wird. In der Synthese, im Finale eines jeden dialektischen Dreischritts, kommt es zur Anerkennung einer diskreten, bewusstseinsimmanenten Differenz, und genau dieser Akt der Anerkennung – den Lacan als einen ausgewiesenermaßen Hegel’schen Begriff in seine Theorie importiert – wird von Hegel nicht als ein cartesischer Akt des Ich denke, sondern als eine Verbalisierung präsentiert. Eine Wahrheit muss nicht verstanden, sie muss vielmehr ausgesprochen werden. Lacans berühmter und sekundärliterarisch unendlich oft wiederholter Satz, dass das

113

Liebrucks 1970: 2.

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Unbewusste strukturiert sei wie eine Sprache, chiffriert nicht nur die Linguistik von Saussure, sondern auch Hegels Dialektik als eine sprachliche Philosophie.114 114

So setzt Liebrucks in seiner tiefgehenden Untersuchung zu Hegels Phänomenologie gleich auf der ersten Seite den Akzent auf die „Sprachlichkeit des dialektischen Denken“ und lässt eine beweiskräftige Darlegung seiner These, dass es sich bei Hegels Subjekt um ein „Sprachsubjekt“ handelt, folgen. Er zeigt, dass die vom Subjekt der Phänomenologie unternommene Analyse der vom Bewusstsein in seiner Entwicklung durchlaufenen Stationen nur durch „Versetzungsschritte“ ermöglicht wird, die wiederum „nur auf dem Boden der Sprache möglich [sind], wie der Text, sobald wir ihn verstehen, schon als Text zeigt.“(14) Unter anderem betont Liebrucks die in der Hegel-Forschung seit langem bekannte Tatsache, dass der spekulative Satz aus seiner sprachlichen Struktur aufgeschlossen werden muss, und expliziert dies ausführlich an dem berühmten Hegel-Satz „Gott ist das Sein“. (17-20) Liebrucks’ Interpretation des spekulativen Satzes zielt auf die Diskretsierung des Subjekts in der Sprache ab, auf die Hegel’sche Innovation, dass das Subjekt nicht länger als Subjekt, sondern als Differenz zwischen Subjekt und Prädikat gedacht werden muss. „Indem aber das Ich seinen Selbsterhaltungstrieb fahren läßt, sich selbst nicht mehr als eine „Substanz“ ansieht, findet es sich als Prädikat. Damit haben wir zwei Subjekte. Das eine ist das in dieser zweiten Revolution der Denkungsart als Denken auferstandene Ich, nachdem es sich als Substanz aufgegeben hat, das zweite ist das Ich vor seiner Aufgabe, das nun im Prädikat gefunden wird.“ (17) Als aufschlussreich in diesem Zusammenhang erweist sich insbesondere Liebrucks' Einführung des „Sprachspiegels“ als Instrument zur Erschließung der spezifisch zeitlich-sprachlichen Verfasstheit des Hegel’schen Bewusst-Seins: „Die Konsequenz dieses Denkens besteht darin, daß es sowohl an seiner Identität mit der sinnlichen Gewißheit wie an der Nichtidentität mit ihr festhält. Es bleibt bei der Unterscheidung der Hinsichten nicht stehen, um vor uns ein Modell von Denken aufzubauen, sondern denkt wirklich. Es bringt die Hinsichten auch wieder zusammen. Das kann es nur auf dem Boden der Sprache, die hier in der Gestalt des spekulativen Satzes erscheint. Dieser Sprachspiegel spiegelt mich als die Identität der Identität und Nichtidentität mit mir. Dieser Spiegel zeigt innerhalb seiner selbst das wirkliche Denken des Menschen. Er zeigt es als Bewußt-Sein. Er zeigt es nicht als das mythische Modell von einem Wesen, das Bewußtsein so hat wie eine Substanz Akzidentien oder gar so, wie ein Ding Eigenschaften hat. Er zeigt, daß Ich weder Erscheinungs- noch Erfahrungsgegenstand ist. Er zeigt, daß der Mensch seine Erfahrungen nur innerhalb der Sprache hat.“ (32) Die genannten Stellen wurden zitiert aus Liebrucks 1970. Ein weiteres Beispiel dafür, dass Hegels Philosophie sich in den Rahmen einer sprachlichen Untersuchungstechnik und damit einer Präformation der analytischen Entzifferungsarbeit eines performativen Subjekts einschreiben lässt, ist der Phänomenologie selbst zu entnehmen. Eine kurze Stelle aus dem ersten Kapitel über die sinnliche Gewissheit sei dafür mikroskopiert: „Ich, dieser, bin dieser Sache nicht darum gewiß, weil Ich als Bewusstsein hiebei mich entwickelte und mannigfaltig den Gedanken bewegte. [...] weder Ich noch die Sache hat darin die Bedeutung einer mannigfaltigen Vermittlung; Ich nicht die Bedeutung eines mannigfaltigen Vorstellens oder Denkens, noch die Sache die Bedeutung mannigfaltiger Beschaffenheiten; sondern die Sache ist; und sie ist, nur weil sie ist; sie ist, dies ist dem sinnlichen Wissen das Wesentliche, und dieses reine Sein oder diese einfache Unmittelbarkeit macht ihre Wahrheit aus.“ (Hegel 1988: 69f) Sofort springt ins Auge, dass Hegels „Entzifferung“ nicht im kybernetischen Sinne als Dechiffrierung eines synchronisch oder zeitgleich mit dem Subjekt der Phänomenologie (mit uns) existie-

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Schließlich entdeckt Lacan in Hegels Fassung der Wahrheit als ein sich über viele Stufen hinweg entfaltender und entwickelnder Prozess eine Matrix für die psychoanalytische Konzeption der Wahrheit in ihrer unauflösbaren Vernetzung mit der Wiederholung. Eine auf jeder Stufe wiederkehrende Erfahrung des „das ist es (noch) nicht“ macht, zusammen mit dem Sachverhalt, dass dieses Sich-Entziehen der Wahrheit zu ihrem immanenten Wesen gehört, den Prozess der Hegel’schen Wahrheit aus115, und nicht zuletzt ist es die Erfahrung des „das ist es (noch) nicht“, aus der sich die gute Wiederholung motiviert. Die gute Wiederholung ? die Wege trennen sich, und in der Luft liegt etwas wie Abschied, Kondolation, Trauer – Trauer um den unwiderruflichen Verlust der Ur-Sache, das unwiderrufliche Vergessen des absoluten Wissens. In Hegels Choreographie der Geschichte war das Erreichen des absoluten Wissens am Ende einer kilometerlangen und aber dennoch endlichen Serie von dialektischen Dreischritten bereits enthalten, das Hegel’sche Bewusstsein wird ganz am Ende die Erinnerung an alles und daran, dass alles immer schon war, wiedererobert haben. Hegels Bewusstsein kommt am Ende des arbeitsreichen Aufstiegs zum Absoluten zur Ruhe, zur Erinnerung, zum

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renden Codes verstanden werden darf, sondern dass es sich vielmehr um ein diachronisch bestimmtes Zurückgehen in der Sprache handelt, im vorliegenden Fall der sinnlichen Gewissheit um ein Zurückgehen bis an deren Anfang, deren vorbegrifflichen Grenzbereich: die Unmittelbarkeit. Bezogen auf die von Liebrucks explizierte Hegel’sche Methode der im Medium der Sprache vollzogenen Rückversetzung des Subjekts der Phänomenologie in die seine Geschichte konstituierenden Etappen, so kommt diese hier bei der sinnlichen Gewissheit zur beispielhaften Anwendung. Wendet man sich an den hier im Fokus stehenden Hegel-Satz mit der Freud’schen Frage des Wer spricht?, so müsste die Antwort zwar zunächst auf das Subjekt der Phänomenologie (also auf auf uns) verweisen, denn wer sonst sollte bei einer Befragung der sinnlichen Gewissheit auch sprechen, verfügt diese als unterste Stufe des Fürsichseins noch gar nicht über die Differentialität als Möglichkeitsbedingung jeder Sprache. Und dennoch lässt sich in diesem Satz die Erfahrung des reinen Ich destillieren, und zwar durch Inblicknahme der Figur des Anakoluths im Zusammenhang mit den Kursiva: Wenn die kursiv gedruckten Wörter isoliert aneinandergereiht werden, wird der Satz dekomponiert, er zerfällt in seine atomaren, disparat blockierten Bestandteile: „Dieser – dieser Sache – gewiß – Ich – die Sache“. So reflektiert in der Sprache des Subjekts der Phänomenologie (in unserer Sprache) die Erfahrung des reinen Ichs – als syntaktische Dissoziation, als Auflösung der vermittelnden Beziehungen. Sobald die sprachlichen Gelenke subtrahiert werden und die syntaktische Kohärenz in fragmentarische Bestandteile zerbrochen wird, spiegelt der Satz den Zustand des reinen Ich; es kommt zu einer sprachlich realisierten, nämlich in einen Satz der Phänomenologie umgesetzten Rückversetzung von uns in (unseren) zeitlichen Zustand der sinnlichen Gewissheit. Die Kursivierung der Losungen des reinen Ich – dieser, dieser Sache, gewiss, Ich, die Sache – ermöglicht ein Auftreten des früheren Subjekts (auf dieser Stufe das Unvermittelte, Unverbundene, Nicht-verwiesene) in einem vom Subjekt der Phänomenologie ausgesprochenen Satz. Aus eben diesem Satz lässt sich, wenn sprachlich vermittelte Beziehungen aufgebrochen oder mit einem Minuszeichen versehen werden, der Modus, das „Sprechen“ der reinen Gewissheit entziffern, ein Sprechen, das strenggenommen ein solches noch gar nicht ist. Vgl. hierzu Liebrucks’ Konjunktion des spekulativen Satzes mit dem durch das Scheitern an der Wahrheit depersonalisierten Subjekt: Liebrucks 1970: 19ff.

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vollendeten Diskurs, zur Reunion des Symbolischen und des Realen. Es erreicht jenen Zustand von Apokatastasis, in dem das Wiederholen, das Sprechen endlich zuende ist. „In der Hegelschen Perspektive ist der vollendete Diskurs – kein Zweifel, von dem Moment an, da der Diskurs zu seiner Vollendung gekommen sein wird, wird's nicht mehr nötig sein zu sprechen – der vollendete Diskurs, die Inkarnation des absoluten Wissens, [...] ist Eigentum derer, die wissen. [...] und [es] bleibt nichts anderes übrig, als Jazz zu machen.“116

Hegels Dialektik ist nicht nur logisch, sondern zugleich metaphysisch117; sie stellt eine Selbstbewegung dar, eine Selbstbewegung der Wirklichkeit, die mit einer Selbstbewegung des Geistes koinzidiert und im absoluten Wissen ihr alle Gegensätze aufhebendes Finale hat. Eben da trennen sich die Wege, da bricht die Freud’sche Erfahrung ein: Verlust der Ursache erlitten, trostlos und tief, Zugriff aufs Absolute verweigert, und all die Trauer um ein unmögliches Objekt. „Die Freud’schen Formeln haben uns schon gelehrt, die Trauer als Objektbeziehung zu formulieren. Sollten wir bei diesem Anlaß nicht dadurch betroffen sein, daß Freud zum ersten Male das Objekt der Trauer geltend gemacht hat, seitdem es Psychologen gibt, die dazu auch noch denken?“118 Freud macht das Objekt der Trauer geltend, Trauer um eine verlorene Erinnerung, denn es weiß, seltsame Grauzone aus Gefühlen von Heimatlosigkeit, Entseeltheit und Heimweh nach einem unbestimmten Ort, nicht einmal mehr, welches Refugium es verloren hat: ein Jazz-Café? das Paradies? oder einfach das Nirwana?119 Diese subkutane Gottverlassenheit, unstillbare Sehnsucht, ist nicht alles, nicht nur Trauer, es ist vor allem auch Trauerarbeit: „sein Sein hat die Trauerarbeit zu leisten in bezug auf dasjenige, was es als Opfer, als Holokaust zur Funktion des fehlenden Signifikanten beigetragen hat“120. Trauerarbeit, ein mit Lacan ethisch motivierter Aufruf zur Trauerarbeit, dem es sich nicht entziehen darf um der Vermeidung der Strafe eines Symptoms willen, eines bösartigen, gnadenlosen Wiederholungszwangs. Es muss – wie auch immer saturnisch, dunkel, gnadenlos – den Seinsmangel ertragen, den Mangel seines eigenen Seins, das Dass seiner irreduziblen diskreten Gespaltenheit. Die Wiederholung ist nichts, was dem Sein äußerlich wäre, sie ist nicht objektivierbar und kann so nicht zum Erfahrungsgegenstand des Cogito werden. Die Wiederholung ist das Sein selbst, es ist das Sein nach Descartes, das seiende Sein im Sinne von: das fortlaufende, diskret oszillierende Sein. Der Andere Schauplatz ist das nach Hegel und mit Freud seiende, operationalisierte Sein, das sich unmöglich selbst transparent sein, sich unmöglich reflektieren kann, weil das Denken den Moment des Ich denke selbst unterläuft. Das geklüftete Subjekt ist ein als Wiederholung seiendes oder implementiertes Sein, das Botschaften prozessiert – seien es die schlechten Wiederholungen des Symptoms, seien es die guten Wiederholungen des vollen Sprechens. Das Wesen muss dieses sein Schicksal anerkennen: Es ist Träger einer Bot-

116 117 118 119 120

Lacan 1991b: 96. Vgl. Marx 1967: 23 und 31. Lacan 1986/87: 29. Vgl. Freud 1999: XIII 60 und 373. Lacan 1986/87: 40f.

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schaft, die es mit seinem eigenen Sein, seinem geklüfteten Körper, überträgt in einer Trauerarbeit, die nie enden wird. Die Wissenschaftsgeschichte und das genaue Funktionsprinzip dieser diskreten Arbeit mit Signifikanten wird im Verlauf dieses Buches, in der Abfolge seiner Wiederholungen und aus unterschiedlichen Perspektiven dargelegt werden. Das folgende Kapitel, die eigentliche Einleitung, wird einen Prospekt auf diese Perspektive sowie das diesem Buch zugrundeliegende methodische Verfahren geben. Zuvor noch eine Wiederholung: Es muss anerkennen, dass nicht etwas, nicht ein äußeres Objekt sich wiederholt, sondern dass die Wiederholung im Sinne einer diskreten, subjektimmanenten Differenz in ihm selbst operiert – eine Anerkennung, die sich in einem gespaltenen, dezentrierten Subjekt per definitionem nicht über die Ich denke-Funktion des Cogito, sondern nur als ein Sprechen des Unbewussten ereignen kann. Es muss anerkennen, dass es die Wiederholung unmöglich objektivieren und sie in Folge bewusst kontrollieren oder deaktivieren kann, und nicht zuletzt ist es das von Lacan mit dem vollen Sprechen gleichgesetzte Symptom, das dies demonstriert. Zumal „im Zwang oder Drang der Wiederholung sich diese nie selbst [wiederholt]. Nicht das Immergleiche kehrt wieder, vielmehr differiert die Wiederholung als Aufschub ihrer selbst“121. Nach einem Leidensweg, der nicht selten lang und umwegig ist, nach sinnlosen und agonalen Reisen durch Endlosschleifen, nach brutalen Abstürzen in die Grube diskreter Gespenster kommen die Patienten zu Freud, auf dass er den Sinn im Sinnlosen, die sprachliche Botschaft des Unbewussten dechiffrieren möge, auf dass er zusammen mit ihnen die „Reise zum (Ab-)Grund der Wiederholung“ antreten möge.122

121 122

Tholen 2002: 139. Vgl. Deleuze 1992a: 15-44 und 130-148.

2. E I N L E I T U N G 2.1 Insistierende Fragen Wie die Genealogie einer Theorie und Praxis der Wiederholung wiederholen? Wie anfangen und wo aufhören mit der Sekundärliteratur? Wie eine Geschichte des Unbewussten schreiben ohne negative therapeutische Reaktion? So wie das Subjekt auf der Couch anerkennen muss, dass die Wiederholung unmöglich vermieden werden kann, weil es selbst nur in dieser Wiederholung – sei es in der guten Wiederholung des Sprechens, sei es in ihrer schlechten symptomatischen Form – exsistiert, so sollte auch ein Buch über das Freud-Lacan’sche Unbewusste vor allen Illusionen der Originalität kapitulieren. Alle Versuche, die Wiederholung zu umgehen, erweisen sich aus psychoanalytischer Sicht nur als Widerstände und Abwehrreaktionen einer auktorial hochgezüchteten Ichfunktion. Das heißt nicht, dass das vorliegende Buch bereits in der Einleitung diese manchmal überlebensnotwendige Autodestruktionstaste drücken und vor der schlechten Wiederholung resignieren möchte. Im Gegenteil wird es von dem lebendigen Begehren und der Motivation getragen, die Genealogie des Unbewussten auf eine gute Weise zu wiederholen, indem diese auf der Achse der Philosophie und Medientheorie der Zeit wiedergeholt werden soll.

2.2 Eine Antwort Zentraler Gegenstand dieses Buches ist die Darlegung und historische Rekonstruktion von psychoanalytischen und philosophischen Theorien von Zeit und Gedächtnis, die im Wechselverhältnis zur Geschichte der zeitbasierten Medien im 19. und 20. Jahrhundert stehen. Der zeitliche Rahmen der Untersuchung erstreckt sich vom Dispositiv der Experimentalwissenschaften am Ende des 19. Jahrhunderts bis ins Zeitalter der Kybernetik und Informationstheorie des 20. Jahrhunderts. Das damit ins Auge gefasste methodologische Anliegen ist, einen gemeinsamen Horizont zu eröffnen, in dem die FreudLacan’sche Psychoanalyse und die zeit-philosophischen Diskurse von Hegel (Kap.1 und 3), Deleuze sowie anderer poststrukturalistischer Denker (Kap.4) und Heidegger (Kap.4 und 9) in Beziehung gesetzt werden können mit den Diskursen, Medien und Techniken der Wechselstromphysik (Kap.5), der Psychophysik (Kap.6 und 7) und der sich daraus entwickelnden strukturlinguistischen Kybernetik (Kap.8). Die jeweiligen Theorien bzw. die Diskurse und Ereignisse werden in ihrer Interferenz und wechselseitigen Abhängigkeit sowie im Blick auf ihr gemeinsames mediales Apriori hin untersucht. Dies impliziert eine historische Betrachtung der genannten Diskurse im Bezug auf die Geschichte der Wechselstromphysik, sofern jene als Genealo-

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gie der elektrischen und elektronischen Medien zugleich eine entscheidende Rolle für den die Zeit und das Gedächtnis betreffenden epistemologischen Wechsel spielt. Es ist der Beginn einer neuen Zeit und eines neuen Gedächtnisprinzips: Die Vorstellung von Zeit als lineare Folge von Momenten wird zutiefst verstört durch die diskrete Zeit der elektromagnetischen Resonanzen, die schließlich zur technischen Realisierung des digitalen Takts eines jeden Computers werden, irreversibel in seinem realen Ablauf und rekursiv in seiner symbolischen Form. Die mit der Emergenz der technischen Medien verbundene diskrete Zeitrechnung und die synchronisch-diachronische Gedächtnisfunktion lassen sich medien- und philosophiehistorisch in Korrelation setzen mit der Kritik der Gegenwartsverhaftung bei Derrida und Heidegger. Stellte sich die metaphysische Tradition Zeit als eine chronologische Reihe von Gegenwartsmomenten vor, so wird genau diese Gegenwart mit all dem, was sie an Logos und erfüllter Bedeutung konnotiert, in der diskreten Zeit unmöglich. Die Beziehung zwischen den Momenten der symbolischen Zeit der Wechsel- und Computerströme ist nicht länger eine Beziehung zwischen zwei ganzen, substantiellen Elementen, die je für sich ontologisiert werden könnten, sondern beide Elemente existieren vielmehr nur in ihrem relationalen oder differentiellen Bezug aufeinander. Die beiden Zustände sind nicht, sondern prozessieren nur im Sinne einer unendlichen Selbstdekonstruktion des Voraufgehenden in Form einer Antizipation, die wiederum ihre eigene Selbstdekonstruktion heraufbeschwört – off/on, fort/da. Sie sind die diskretzeitliche Möglichkeitsbedingung, das Medium, in dem die unbewussten Gedächtnisse des 20. Jahrhunderts sich transportieren werden. Damit ist bereits ein weiterer entscheidender Bereich angesprochen, der in diesem Buch sowohl in seiner medieninduzierten Konstitution, als auch in seinen epistemologischen Konsequenzen analysiert wird: die Auflösung der klassischen Zweiheit von Subjekt und Objekt, res cogitans und res extensa, zugunsten einer (mit Heidegger) ontologischen bzw. (mit Freud und Lacan) unbewussten Prozedur, die ontisches Da- und Mitsein bzw. imaginäre Egos erst aus sich heraus produziert oder überträgt. Das Buch wird zeigen, dass und wie diese operationalen Subjekt- und Seinskonzepte nicht zuletzt durch die neue Zeit der neuen Medien formatiert werden. Die Psychoanalyse Lacans geht so weit, den computertheoretischen Begriff der Implementierung zu adaptieren und das Subjekt als eine „korpsifizierte“, das heißt im Realen des Körpers implementierte Prozession von Signifikanten zu beschreiben, die wiederum mit dem unbewussten Gedächtnis gleichgesetzt werden kann. Dieses Konzept des unbewussten Gedächtnisses lässt sich einerseits historisch vernetzen mit der topischen Zeitstruktur des Freud’schen – präkybernetisch funktionierenden – psychischen Apparats. Andererseits werden die systematischen Bezüge erarbeitet, die zu Lacans Gedächtnisbegriff führen, der von den integrierten Speicherprinzipien des Computers und von der Hegel’schen und Heidegger’schen Philosophie der Zeit gleichermaßen bestimmt ist (Kap. 9, 10 und 11).

2.3 Philosophie, Strukturalismus, Dekonstruktion Noch stärker als Freud, der sein Ressentiment gegen die Philosophie nie überwinden konnte, adaptiert Lacan philosophische Diskurse von der Klassik (Platon, Aristoteles, Augustin etc.) bis hin zur neuzeitlichen und modernen

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Philosophie (Descartes, Kant, Hegel, Heidegger, Merleau-Ponty, Sartre etc.). Unter der wissenschaftlichen Literatur, die die Philosophie zur organisierenden Achse einer Befragung des psychoanalytischen Denkens erhoben hat, seien hier zum Beispiel Alain Jurainville, Thomas Macho, Hans-Dieter Gondek, Andreas Cremonini und Georg Christoph Tholen genannt.1 Neben der Philosophie im allgemeinen verleiht sich die Pychoanalyse einen zweiten, im weiteren Radius auch in die Philosophie fallenden Rahmen für ihre Entfaltung und ihre Dokumentation von Erfahrung, nämlich die Gedankenkreise des Strukturalismus und des Poststrukturalismus.2 Der aus der strukturalen Linguistik stammende Begriff des Signifikanten ist einer der zentralen Punkte, um die die Psychoanalyse gravitiert, auf die sie sich stützt. Der denkbare Einwand, dass diese Dominanz des Signifikanten zwar für Lacan, aber nicht für Freud Gültigkeit beanspruchen kann, könnte ein willkommener Anlass sein, um zwei dieses Buch fundierende Leitthesen hervorzuheben. Denn dieser Einwand beherbergt eine strukturelle Verkennung, die selbst wiederum eng mit einer Verkennung des geschichtlichen Aspekts des Strukturalismus verhäkelt ist, und darüber hinaus ist er in Bezug auf Freud schlicht unrichtig. Das 4. Kapitel wird sowohl beweisen, dass – erste Leitthese – bereits Freud mit dem Konzept des Signifikanten, obschon er ihn nicht unter dieser Saussure’schen Terminologie mitführen kann, arbeitet, als auch, dass eine Genealogie des Unbewussten zugleich eine Revision der Geschichte des Strukturalismus impliziert, sofern eine solche – zweite Leitthese – nicht erst am Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzt, sondern genetisch auf die im 19. Jahrhundert einsetzende Wechselstromphysik bezogen werden muss. Soeben hat sich im Schreiben bereits verraten, dass schon wieder eine weitere Frage oder Infragestellung den Horizont verdunkelt. Was ist eigentlich ein Signifikant? Wie lässt sich ein Signifikant definieren? Die Frage wird sich im Verlauf dieser Untersuchung in unterschiedlichen wissenschaftlichen und historischen Konstellationen wiederholt stellen. Für diesen Moment soll, noch vor jeder strukturlinguistischen Rekonstruktion des Signifikanten von Saussure bis hin zu Shannon, die Thema des 8. Kapitels sein wird, die Antwort auf äußerste Weise vereinfacht werden. Ein Signifikant ist letzten Endes ein Begriff, es ist ein Begriff für einen Begriff. Diese fast naive Antwort verwickelt sich auf exponentiell komplizierende Weise, wenn der Begriff, wie Lacan es tut, als die „Zeit der Sache“3 und damit als ausgewiesen Hegel’scher Begriff genommen wird. In seinen frühen Schriften präferenziert er den Begriff „Begriff“ vor dem Begriff „Signifikant“ und antizipiert damit seine sehr spezielle, Saussure weit transzendierende und zugleich nicht nur Hegel, sondern auch Freud zurück(-ver-)folgende Konzeption des Signifikanten. Umgekehrt erschließt sich der volle Sinn der signifikanten Ketten, Strukturen und Netze, die Lacans spätere Seminare und Schriften durchziehen, nur nachträglich im Rekurs auf Hegel, der den Begriff nicht als eine singularisierbare Einheit, sondern in der ihm eigenen Dynamik denkt. Hegels Begriffe führen ein in ständiger Bewegung begriffenes und nicht arretierbares Eigenleben, sie konstituieren sich nur in Relation und im Übergang zu anderen Be-

1

2 3

Vgl. Macho 1990b; Jurainville 1990; Gondek/Widmer 1994; Gondek 1990; Gondek 2001; Gondek 2001a; Cremonini 2003; Tholen 1986, Tholen 2001 und Tholen 2001a. Vgl. Teichmann 1983; Weber 1978; Heinrichs 1993 und Muller 1996. Lacan 1990: 304.

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griffen. Ein Hegel’scher Begriff lässt sich – und hier liegt der Konvergenzpunkt zu Freud – nicht auf einen eindeutigen Begriff bringen; er lässt sich, zeichentheoretisch reformuliert, nicht unmittelbar referenzialisieren oder mit einem bestimmten Signifikat verkoppeln. Lacan liest und restituiert also den Begriff des Signifikanten mit Hegel, und umgekehrt liest und restituiert er den Begriff Hegels als Signifikant, das heißt, er situiert ihn in einer wissenschaftshistorischen episteme, die die idealistischen und metaphysischen Prämissen, die Hegels Denken noch inhärierten, die den Glauben an die absolute Wahrheit aufgegeben hat. In diesem chiastischen Verfahren, das auf dem Wege der Relektüre neue Differenzierungen und Dialektisierungen im Denken ermöglicht, das also gute Funktion von der Wiederholung macht, lässt sich die psychoanalytische Technik Lacans vergleichen mit der Dekonstruktion von Jacques Derrida. Ähnlich wie Lacan induziert Derrida am Beginn seines berühmten Textes über die différance einen produktiven Kurzschluss zwischen dem Labor der Linguistik, das Signifikanten und Signifikate analysiert, und dem Begriff Hegels. Ausgehehend von diesem lebendigen Begriff, von diesem begrifflichen Leben, das sich nicht unifizieren geschweige denn totalisieren lässt, bestimmt er den Begriff der différance als den Un-Begriff der différance. Die différance ist keine begriffliche Entität, sondern eine Spur, die alle Begriffe durchstreicht, die alle Begriffe mit ihrer eigenen unmöglichen Identität markiert. Die différance realisiert sich stets nur als Differenz zwischen Begriffen. Wie viele Bedeutungsmodalitäten von différance auch immer enumeriert werden, die différance lässt sich dadurch nicht zum Begriff aufsummieren oder als Begriff exhaurieren. Sie impliziert eine infinite Durchschnürung und Differenzierung ihrer selbst – der Begriff différance teilt sich selbst, unterliegt selbst der différance, ist selbst in das einbegriffen, was von ihm benannt oder unter ihm begriffen werden soll.4 Diese Ausführungen expedieren keineswegs über die Grenzen einer Genealogie des Unbewussten hinaus, sondern geleiten direkt zu einem dritten Punkt, wenn man denn die Zählung: 1. Freud als Entdecker des Unbewussten und 2. Lacan als Stifter der Verbindung von Psychoanalyse und Linguistik akzeptieren möchte. Das vorliegende Buch wird sie, aber das lässt sich nicht vorab zusammenfassen, sondern nur durcharbeiten, am Ende nicht akzeptiert haben. Das steht jedoch in keiner Weise – und wird sich dagegen auch nicht stellen – gegen das Faktum, dass Lacan an dem sich im Anschluss an die strukturale Zeichentheorie formierenden Dispositiv des Poststrukturalismus partizipiert.5 Neben der Diskurstheorie von Michel Foucault, den religionssoziologischen und politischen Ansätzen von Dumézil und Althusser und Derridas Dekonstruktion gilt Lacan als einer der Hauptvertreter poststrukturalistischer Gedankenkreise. Die Beziehung des Lacan’schen Denkens zum Poststrukturalismus und darin insbesondere zur Philosophie Foucaults und Derridas wird in diesem Buch nicht in Form eines separaten Kapitels verhandelt, sondern wird die Ausführungen, auch hier der Matrix der Wiederholung folgend, in Perioden interpungieren und so die Schnittpunkte und Parallelen zwischen dem Foucault’schen Diskurs, der Derrida’schen différance und der unbewussten Signifikantenkette erhellen.

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Derrida 1988: 30. Deleuze 1992 und Tholen 2002.

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Wo an dieser Stelle bereits dazu übergegangen wurde, das methodische Procedere des Buches zu kommentieren, so ist von der Archäologie und Medienarchäologie (diese wird am Ende dieser Einleitung vorgestellt) abgesehen, die Kulturwissenschaft, speziell die Theorie des Todes, von Thomas Macho für dieses Buch von großer Relevanz. Dies in dreifacher Hinsicht, und zwar, wie bereits festgestellt, hinsichtlich ihrer Methode, und desweiteren inhaltlich – der Tod in seiner für die Freud-Lacan’sche Psychoanalyse konstitutiven Übermacht wird dieses Buch fugieren6. Ist es nicht gerade der Tod, die Unvorstellbarkeit und Uneinholbarkeit des Todes, der, in seiner Washeit unmöglich und in seiner Dassheit unentrinnbar, den Versuch der Wiederholung einer Theorie und Praxis der Wiederholung auf so sublime, subkutane Weise schmerzhaft macht und stigmatisiert? Ist es da nicht intimer, unzugänglicher, heiliger und verfluchter denn je – das mediale Reale? Aber damit hat sich eine und diese Einleitung schon viel zu weit vorgewagt.

2.4 Thanatologie bei Schlaflosigkeit Aber wäre die Vision eines endgültigen Ausgangs aus der Wiederholung, einer Befriedigung aller Fragen, überhaupt noch psychoanalytisch? Würde sie nicht vielmehr das Reale, lassen wir es für den Moment (auf die Gefahr hin, dass dies nicht einleitungsbrav ist) noch ohne Bestimmung, eskamotieren? Ein Ausgang aus der Wiederholung, der die Psychoanalyse nach Freud als ein geschlossenes wissenschaftliches Feld instituierte, wäre in Lacans Augen nicht Sanierung, sondern Apostase, nicht Fortschritt, sondern Verfall, und Lacan hat in der Bewegung seiner Begriffe, in der Artikulation seiner Signifikanten alles getan und gegeben, um das Subjekt der Wissenschaft vor diesem Schicksal, vor dem Vergessen der Freud’schen Erfahrung in ihrer Unüberholbarkeit und Unsagbarkeit zu bewahren. Seine Aufnahmen des Hegel’schen Begriffs und des Signifikanten sind nicht gelenkt durch die Motivation, die Psychoanalyse in das Feld der Philosophie, des Strukturalismus oder der Kybernetik einzubinden und so die Freud’sche Erfahrung des Unbewussten in einer distinkten wissenschaftlichen Disziplin und der ihr entsprechenden Begrifflichkeit zu fundieren. Das hieße nichts anderes, als die Erfahrung selbst, die im Sein seiende Wiederholung, zu verkennen und vor der Trauerarbeit um die verlorene Ur-Sache in einen etablierten Herrndiskurs, den Lacan als latentes Symptom der Universität registriert hat, zu flüchten. Die Verpflichtung zur unermüdlichen Arbeit, Freuds Maxime Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten, fällt für Lacan in den Bereich einer spezifisch psychoanalytischen Ethik – und einer persönlichen Frage der Ehre. Lacan hat sich in den letzten Jahrzehnten seines Lebens in keiner Nacht mehr als vier oder höchstens fünf Stunden Schlaf zugestanden, vor die – von Freud tradierte – Aufforderung gestellt, das Unausdenkbare, das Unbewusste, wieder und wieder in seiner Unausdenkbarkeit zu artikulieren, vor die Aufforderung zur guten Wiederholung gestellt, und dies in dem melancholischen besseren Wissen, die Dinge dann persönlich verlassen, sie sich selber überlassen, sterben zu müssen. Die Schriften, die Lacan nach seinen ersten frühen, unbeschwingten Jahren dann später, in der von der Endlichkeit des Lebens überschatteten Phase 6

Vgl. Macho 1983; Macho 1987; Macho 1987c; Macho 1990 und Macho 2000.

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seines Schaffens produziert hat, unterstehen einem anderen Verdikt und unterwerfen darin zugleich das Subjekt einem anderen, weiteren Tod, der sich vom Exitus des Wesens unterscheidet. Die logozentrische Tradition würde an dieser Stelle auf einen für immer und immer überdauernden präsenzmetaphysischen Sinn, auf den Athanatismus der Wahrheit hin abbiegen. Lacan und Derrida hingegen hielten wie Freud den ihre Nebel vorauswerfenden Toden stand. Der symbolische Tod, der im folgenden Kapitel im Zusammenhang mit Lacans Inbezugsetzung des unbewussten Subjekts mit der Hegel’schen Anerkennungsdialektik einer eingehenderen Betrachtung unterzogen wird, soll hier in seinen Wirkungen bereits mit Derrida skizziert werden. Jede lichtbringerische Akklamation ewiger Wahrheiten wird genichtet durch die Tatsache, dass das Subjekt allein schon durch das Aufschreiben und das Artikulieren von Wahrheit auf seinen eigenen Tod verpflichtet, an ihn verkettet wird. Nach Derrida überantwort der geschriebene Signifikant Autor wie Leser gleichermaßen einer Absenz, die sich als irreduzibler Entzug von Wahrheit und Ursache ereignet und fortschreibt. Vor dem Hintergrund dieser Derrida’schen Konzeption von Schrift und Schriften verlieren alle Ansprüche auf eine potentiell in den Schriften enthaltene, präsentifizierbare Wahrheit ihre Berechtigung. Die Schrift erlaubt und generiert vielmehr stets nur zeitlich bedingte und modifikable Bedeutungszuweisungen, Entschlüsselungen und nicht zuletzt Dekonstruktionen und ist hierin der Verfasstheit des Freud-Lacan’schen Unbewussten korrelativ. Die Schrift bleibt, zweideutig schillernd zwischen Resonanz und Abort, Legat und Rest eines sprechenden Subjekts, zurück – sie kooperiert mit Tod, Verhängnis, Versäumnis, sie ruft unangenehme Erinnerungen wach, sie überführt jemanden eines Treuebruchs, selbst ein kleiner Tod, sie provoziert Wahrheiten, die fern aller ursprünglichen Aspirationen von Logos und Bewusstsein liegen. Briefe fallen, nachdem man gestorben ist, vermutlich den falschen Leuten in die Hände, oder auch, um Lacans Diktum, dass ein Brief stets seinen Bestimmungsort erreicht, die entscheidende Wendung zu geben: den richtigen Leuten.7 Briefe können jedoch auch verloren gehen oder im Transitzustand einer schlechten Unendlichkeit suspendiert werden, ein Aspekt, den Lacan anders als Derrida marginalisiert, wenn nicht nicht sehen wollte, worin sich ein Grund seiner Somnophobie vermuten ließe. Von diesen kleinen Differenzen, die hier nicht vertieft werden sollen, abgesehen, akkordieren Lacan und Derrida in ihren Thanatologien des Signifikanten, also ihren jeweiligen Einsatzpunkten, die von einer genuinen Verbindung von Signifikant und Tod ausgehen. Als ein dem Signifikant „assujettiertes“, um den Lacan’schen Begriff zu verwenden, ist das Subjekt einem Tod ausgeliefert, der nicht zuletzt der Tod von Wahrheit und Ursache ist. Die sich mit Hegel’scher Dynamik in Signifikanten bewegende Schrift entzieht sich dem Wirkungskreis des bewussten Subjekts und zieht eigene unbewusste und intersubjektive Bahnen, die einerseits die Wahrheit des Subjekts testamentarisch aufbewahren und darin andererseits auch potentiell kompromittieren. Die Bewegungen des Signifikanten, seine Verwandlungen, Verstellungen, seine zügellosen Umwege und kombinatorischen Triller machen die Schrift zu einem unverfügbaren, nicht-antizipierbaren Ereignis. Der hierin liegende Abgrund zwischen der vom Absoluten her determinierten Bewegung des Hegel’schen Begriffs und der zur infiniten Wiederholung der Ur-Sache destinierten Bewegung des Freud7

Vgl. Derrida 1979: 108ff; Derrida 1988a: 299; Derrida 1993: 120f.

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Lacan’schen Unbewussten wurde im 1. Kapitel bereits festgehalten. Er wird, wie angekündigt, im Folgekapitel erneut thematisiert. Für den Moment sollen nur die ambivalenten Facetten, die den Begriff oder den Signifikanten aus den Blickwinkeln Lacans und Derridas auszeichnen, aufsummiert werden. Der Signifikant ist tödlich und unsterblich, er ist monumental und treulos. Bis zur Gnadenlosigkeit verlässlich inskribiert er die Wahrheiten eines Toten im Signifikantenspiel8 und transportiert doch, darin mutagen und unzuverlässig, die unterschiedlichsten Lektüren dieser Wahrheiten. Die Wahrheit folgt der Bewegung des Signifikanten, eines Begriffs, der nur in seiner Verweisung auf einen anderen Begriff ist. Die Wahrheit? Was antworte Freud? „Hieran knüpfen sich ungezählte andere Fragen, deren Beantwortung jetzt nicht möglich ist. Man muß geduldig sein und auf weitere Mittel und Anlässe zur Forschung warten. Auch bereit bleiben, einen Weg wieder zu verlassen, den man eine Weile verfolgt hat, wenn er zu nichts Gutem zu führen scheint. Nur solche Gläubige, die von der Wissenschaft einen Ersatz für den aufgegebenen Katechismus fordern, werden dem Forscher die Fortbildung oder selbst die Umbildung seiner Ansichten verübeln. Im übrigen mag uns ein Dichter (Rückert in den Makamen des Hariri) über die langsamen Fortschritte unserer wissenschaftlichen Erkenntnis trösten „Was man nicht erfliegen kann, muß man erhinken. ............................ Die Schrift sagt, es ist keine Sünde zu hinken“.“9

Und er sagte: „Auch das Schmerzliche kann wahr sein.“10 Aber zunächst, der a-linearen Richtung dieser Einleitung und dieses Buches gemäß – schon der Begriff der Genealogie verbietet schließlich jeden Evolutionismus von Vorgeschichte und „eigentlicher“ Geschichte –, zurück zu Lacans Konzept des Signifikanten. In der Unzerstörbarkeit des Signifikanten erinnert sich in operando ihrer Verschlüsselung und Verwandlung eine Wahrheit, die den Tod des Subjekts zur Voraussetzung hat. Dabei geht es nicht um den realen Tod, sondern um den oben genannten anderen, den symbolischen Tod, das heißt um die wesensmäßige und notwendige Möglichkeit, dass etwas trotz oder gerade durch die Absenz des Adressaten lesbar ist, lesbar auf eine riskantere und tiefere und kontingentere Weise, als die von Lacan und Derrida destruierten Apostel des Logozentrismus es je zu fürchten vermocht hätten. Immer bleibt eine inkommensurable Ungewissheit im Blick auf den Adressaten, auf die Ankunft und Eindeutigkeit der Botschaft, immer eine fundamentale Unsicherheit im Blick auf das Sein des Subjekts, das des Autors wie das des Lesers, kann man sich doch nie hundertprozentig versichern, dass der eine für den anderen nicht in der Zwischenzeit gestorben ist. Andersherum formuliert, und das hätte Lacan in seiner hypnagogen Züchtigung zugunsten der guten Wiederholung womöglich ein wenig entspannt, Schreiben heißt immer auch die Freiheit haben zu sterben. Diese Freiheit entbindet nicht von der Angst, die im innersten immer schon Angst vor dem Tode ist, Angst vor der Ur-Sache, vor der mortifizierenden Gewalt des Signifikanten, der das Subjekt klüftet und im Takt dieser 8 Vgl. Lacan 1991: 177f. 9 Freud 1999: XIII 69. 10 Freud 1999: X 359.

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Kluft, im Takt der sich ins Sein einschreibenden Wiederholung von Ur und Sache operationalisiert. Es ist die Angst vor der eigenen Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, vor der Spur, die sich als Subjekt schreibt und das heißt, mit Freud, Lacan, Derrida: fortwährend entstellt, überschreibt und transformiert. Diese Geschichte des Subjekts, die zeitliche Operation eines durch eine primäre Gespaltenheit und Selbstentfremdung gezeichneten Unbewussten, wird, mit allem, was sie an Gedächtnistechnik, Symptomanfälligkeit und Bedeutungszauber mit sich bringt, das ausführliche Sujet des 9., 10. und 11. Kapitels sein. Doch wird im retrospektiven Blick auf den oben dargelegten Zusammenhang von Schrift, Tod und Zeitlichkeit, die in das Verhältnis zwischen dem Schreibenden und dem Lesenden die irreduzible Alterität und sich jeder bewussten Kontrolle entziehende Eigenmächtigkeit des Signifikanten einträgt, jene Angst, die Lacan beim Wiederlesen seiner eigenen Spuren empfindet, bereits fühlbarer, greifbarer und in aller Unheimlichkeit vertrauter. „Das ist es, wessen ich mich versichere, wenn, was ich niemals tue ohne Zittern, ich zurückkehre zu dem, was in der Zeit ich vorgetragen habe. Das macht mir immer eine heilige Angst, die Angst eben, Blödheiten gesagt zu haben, das heißt etwas, das, aufgrund dessen, was ich jetzt vortrage, ich als nicht stichhaltig erachten könnte. Es bleibt nicht minder, daß dieses sich Wiederlesen eine Dimension darstellt, die zu situieren ist im Verhältnis zu dem, was, im Hinblick auf den analytischen Diskurs, die Funktion dessen ist, was sich liest.“11

So wie Freud seine eigenen Träume einer Analyse unterzieht und damit die Traumarbeit fortsetzt – denn als Arbeit der Entstellung transgrediert der Traum die Zeit seines nächtlichen Auftretens –, so bemüht sich Lacan im Wiederlesen seiner Texte um die Praktizierung eines analytischen Diskurses. Dieser lässt sich hier in Engführung mit Derridas und Freuds Lektüre- und zugleich Fortschreibungstechniken dahingehend spezifizieren, dass er jedes identifkatorische, das heißt auf Verstehen von Bedeutung eingeschränkte Verhältnis zwischen Schreibendem und Leser konterkariert und stattdessen die Signifikanten oder Begriffe in ihrem operativen Kontext wiederholt. Mit Freud, Lacan und Derrida wird der Blick vom Signifikat, das einen stabilen bewusstseinsphilosophischen Subjektbegriff und ein stabiles logozentrisches Sinnkonzept konsolidiert, abgelenkt auf die Performanz der Signifikanten in der Wiederholung, die das Bewusstsein des Schreibenden und des Lesenden in gleicher Weise dezentriert (vgl. Kapitel 5 und 8). Die Konsistenz der Bedeutung wird aufgelöst in eine Prozedur, in deren Verlauf sich die Washeit der Bedeutung zunehmend verflüchtigt zugunsten einer Dassheit, die aufgrund ihrer ursprünglichen Differentialität nur in der Insistenz der Wiederholung zur Wirkung, einer angsterzeugenden Wirkung kommt. Unausweichlich ist diese Angst (Thema des 7. Kapitels), denn selbst der der schlechten Wiederholung einer Retard-Wahrheit verpflichtete universitäre Herrndiskurs destabilisiert sich selbst in diesem seinen redundanten Bedeutungsverschleiß, in seinen Fehllhandlungen – „unnütz davon zu sprechen, was ich vom universitären Diskurs sage, denn dieser [...] kann in diesem Sinn bestenfalls Witze produzieren, die ihm dann prompt Angst einjagen“12. Dass auch die mit der guten Wiederholung verbundene Erfahrung, dass das Subjekt, die korpsifi11 Lacan 1986a: 32. 12 Lacan 1991a: 9.

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zierte Schrift, in seinen Prozeduren nicht dasselbe bleibt, sondern sich in den differenzierenden und disseminierenden Wirkungen des Signifikanten unaufhörlich transformiert, keineswegs angstlösend und entspannend ist, hat Lacan eben selbst zugestanden. Und es gibt nur ein Rezept und keine Tranquilizer dagegen, wie Derrida weiß: „Weil sie inaugural in der frühesten Bedeutung dieses Ausdrucks ist, ist die Schrift gefährlich und beängstigend. Sie weiß nicht, wohin sie führt, keine Vorsicht behütet sie vor jenem wesentlichen Sturz auf den Sinn hin, den sie konstituiert und der im vorhinein ihre Zukunft ist. Kapriziös ist sie jedoch nur durch Feigheit. Gegen dieses Risiko gibt es demnach keine Versicherung. Die Schrift ist für den Schriftsteller, auch wenn er nicht atheistisch, sondern Schriftsteller ist, eine notwendige und gnadenlose Schiffahrt.“13

Die Wiederholung erzeugt jene Angst, in der die Angst vor der traumatischen Ur-Sache widerhallt, es ist die Angst des in die Wiederholung versetzten Seins, das kein ganzes, sondern ein genuin gespaltenes, depersonalisiertes, Differenzen aus sich heraus produzierendes Sein ist. Hegel hat es in seinem Denken des sich in Begriffen bewegenden Bewusst-Seins vorweg genommen, Freud hat es in den symptomatischen und strukturalen Effekten der Dassheit des Unbewussten entziffert und hat damit das Funktionsprinzip des Signifikanten im Unbewussten antizipiert, das in den Kapiteln 4 und 8 erläutert wird.

2.5 Rückkehr zu Freud „Wenn die Psychoanalyse eine Wissenschaft werden kann – denn sie ist es noch nicht – und wenn sie in ihrer Technik nicht auf den Hund kommen soll – und vielleicht ist das bereits geschehen –, müssen wir den Sinn ihrer Erfahrung wiedergewinnen. Zu diesem Zweck können wir nichts besseres tun, als uns dem Werk Freuds wieder zuzuwenden. Es genügt nicht, sich als Techniker auszugeben, um sich darauf zu berufen, daß man Freud III. nicht verstehe, und um ihn zurückzuweisen im Namen Freuds II., den man zu verstehen glaubt. Die Unkenntnis Freuds I. schließlich entschuldigt nicht, daß man die fünf großen Psychoanalysen für eine Serie von schlecht ausgewählten und dargestellten Fällen hält und meint, sich wundern zu müssen, daß das Körnchen Wahrheit, das sie enthalten, nicht verloren gegangen ist.“14

Die Angst, mit der das letzte Kapitel schloss, diese Angst wird sakralisiert, sie wird zu einer heiligen Angst, geht es Lacan doch um nichts geringeres als um die Wiederholung der Erfahrung und Technik der Psychoanalyse selbst. Lacan wiederholt die Theorie und Praxis der Wiederholung – die von Freud inaugurierte Psychoanalyse. „Retour à Freud“, „Rückkehr zu Freud“ – so die berühmte Formel, unter deren Ägide er sein gesamtes Denken und Werk stellt. Es geht um die Wiederholung einer Erfahrung, die als solche – handelt es sich doch um die Entdeckung des Unbewussten – unwiederholbar ist und die sich aus diesem Grund nur als eine Entzifferung der Freud’schen Bot13 Derrida 1992: 23. 14 Lacan 1991: 107.

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schaft vollziehen kann, als eine Relektüre der Schrift Freuds im Derrida’schen Sinne, als eine dialektisierende Rückbindung an die Begriffe Freuds im Hegel’schen Sinne. Lacan hat einen seinem Ausmaß der heiligen Angst entsprechenden heiligen Respekt vor der Ereignishaftigkeit und darin Einzigkeit der Freud’schen Erfahrung, aber dies versetzt ihn nicht in jenen speziellen Zustand von paralytischer Verzückung, den blöde lächelnde Engel abstrahlen.15 Er lässt sich nicht aufhalten, nicht abhalten, nicht immobilisieren, er nimmt im Gegenteil mit oftmals ganz unheiliger Forschheit und Leichtfüßigkeit die Spur zurück zu Freud auf und macht Funktion vom blöde lächelnden Engel. Motiviert durch die seine Psychoanalyse leitende Parole „Rückkehr zu Freud“ nimmt er die Spur dort auf, wo sie sich niedergeschlagen und artikuliert hat: am Saum des Freud’schen Textes, in der Dynamik der Freud’schen Begriffe. In dieser Operation der Aufnahme und Wiederholung eines Begriffs dokumentiert sich bereits der besondere, von der Hegel’schen Methode angeleitete Zugang, den sich Lacan diesen Begriffen gegenüber eröffnet. Lacans „Rückkehr zu Freud“ erweist sich so als ein geschichtlich und zugleich systematisch prozedierendes Verfahren, das dem diachronischsynchronischen Konzept der Geschichte, so wie sie im 10. und 11. Kapitel erläutert wird, entspricht. Es geht also nicht einfach darum, eine Treppe in die Vergangenheit hinabzusteigen, nicht um einen ideengeschichtlich motivierten, linearen Rückgang zu den von Freud imprägnierten Bedeutungen und Inhalten, sondern um die von Freud – im Hegel’schen Sinne – vermittelten Begriffe. Lacans Rückkehr zu Freud ist eine dialektisierende und differanzierende Arbeit mit den Begriffen Freuds – eine Arbeit, die nicht von den Signifikaten ausgeht, sondern von den Signifikanten, in denen Freud seine Erfahrung kodifiziert, in denen er seine Botschaft verschlüsselt hat, auf dass eine Rückkehr, eine Wiederholung, ein Durcharbeiten der Psychoanalyse möglich werde, auf dass die Geschichte des unbewussten Subjekts gelesen und also auch: neu geschrieben werden kann. Lacan liest Freud nicht inhaltlich, sondern, wie Mai Wegener an Lacans Lektüre von Freuds Entwurf bewiesen hat16, buchstäblich. Wenn Lacan im Seminar VII über die Ethik der Psychoanalyse schreibt, dass „man Freud nicht überwindet“, sondern sich vielmehr „im Innern bewegt“ und „sich führen läßt von dem, was er uns an Ausrichtungen gegeben hat“17, dann promulgiert er nicht den für die Herrndiskurse des Idealismus und Logozentrismus symptomatischen Götzendienst, sondern legt seine Psychoanalyse auf einen Vektor, der, seinem Begehren zur Aufhebung ins Unaufhebbare, seinem strategischen Silberblick entsprechend, ineins sehr religiös und zutiefst subversiv ist. Die saturierte Faulheit, die acedia, ist die erste Todsünde. Jede Erlahmung in der Arbeit am Begriff, jedes Nachlassen im Perennieren des Lesens und Schreibens und Wiederlesens und Wiederschreibens, jedes Absinken in die Kommodität eines gesicherten Bedeutungsbestandes, kommt für Lacan einer Todsünde gleich. Jede selbstzufriedene Immersion im vollendeten Verstehen wird gnadenloser denunziert und vernichtet als mögliche unorthodoxe Rebellionen, Irrwege oder Blockaden des Denkens. So wie er die Alluren und theatralischen Zusammenbrüche eines von der unmöglichen Wahrheit hysterisierten Begehrens zu wissen anerkennt und 15 Vgl. Lacan 1986a: 25. 16 Wegener 2004. 17 Lacan 1996: 250.

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ihnen sogar als Vorstufen des analytischen Diskurses Geltung verschafft, so unversöhnlich ist seine Haltung gegenüber dem adipösen Vertreter des Herrndiskurses und dem zum Ichpsychologen verkommenen Nachfolger Freuds in der konventionellen Psychoanalyse.18 Der subversive Zug, der Lacans zur Ethik und Ehre der Psychoanalyse erhobenen unaufhörlichen Arbeit mit den Begriffen Freuds inhäriert, schließt sich dem Verständnis auf, sobald der besondere Charakter der Erfahrung, die sich Freud offenbarte, in den Blick genommen wird. Es handelt sich in der Tat um eine Offenbarung, aber um eine Offenbarung sehr spezieller und im Bezug auf die Religion eher häretischer Art. „Ohne Zweifel, der Leichnam ist ein Signifikant, jedoch ist das Grab des Moses für Freud so leer wie das Grab Christi für Hegel. Keinem von beiden hat Abraham sein Geheimnis preisgegeben.“19 Freud hat in seinen Begriffen und Signifikanten keine wohltäterhafte Propädeutik, kein magisches Sesamöffne-dich zur Pforte des Unbewussten vermacht, sondern Chiffren und operative Metaphern, die das Unbewusste in der Suspension eines Kenotaphs und die das Subjekt der Psychoanalyse durch die Arbeit der Wiederholung weisen, die ihm, mit anderen Worten, sein Begehren weisen. Selbst wenn er es gewollt hätte (er hätte es nie gewollt), so hätte Freud niemals ein Lexikon eindeutig definierbarer psychoanalytischer Begriffe präsidieren können, weil sich seine Erfahrung selbst, das Unbewusste, gerade durch den Entzug der 18 Vgl. Lacan 1991: 210: „Es gibt eine Theorie der Analyse, die im Gegensatz

zum vorsichtigen Aufbau der Analyse bei Freud den Bereich der Symptome auf die Angst reduziert. Daraus folgt eine Praxis, in der sich das, was ich gelegentlich die obszöne und blutrünstige Erscheinungsform des Über-Ich genannt habe, niederschlägt, woraus für die Übertragungsneurose kein anderer Ausgang ist als: den Kranken sich setzen zu heißen, ihm durch das Fenster die lachenden Seiten der Natur zu zeigen und zu sagen: „Los! Nun seien Sie mal ein artiges Kind.““ Vgl. auch Lacan 1991: 115: „Dieses Monument einer Naivität, die im übrigen auf unserem Gebiet recht verbreitet ist, verdiente nicht soviel Aufmerksamkeit, wenn es sich hier nicht um einen Psychoanalytiker handelte oder vielmehr um jemanden, der wie zufällig alles in sich vereinigt, was sich in einer gewissen Richtung der Psychoanalyse unter den Titeln Ich-Psychologie und Technik der Widerstandsanalyse tut und was, weil es der Freudschen Erfahrung vollkommen entgegengesetzt ist, gleichsam e contrario den Zusammenhang einer gesunden Auffassung der Sprache mit der Aufrechterhaltung eben jener Erfahrung zeigt. Denn Freud hat in der Natur des Menschen die Folgen seines Verhältnisses zur symbolischen Ordnung entdeckt und zugleich die Entschlüsselung ihres Sinns bis zu den grundlegenden Instanzen der Symbolisierung im Sein. Das zu verkennen, bedeutet, seine Entdeckung dem Vergessen zu überantworten, seine Erfahrung zur Ruine werden zu lassen. Wir behaupten, und diese Behauptung sollte dem Ernst unserer gegenwärtigen Ausführungen keinen Abbruch tun, daß wir lieber jenen oben erwähnten Waschbären auf dem Sessel hinter der Couch sitzen sähen, auf den – unserem Autor zufolge – Freud aus Schüchternheit den Analytiker verbannte, als einen Wissenschaftler, der sich über die Sprache und das Sprechen in dieser Weise verbreitet. Zumindest ist der Waschbär dank Jacques Prevert („Ein Stein, zwei Häuser, drei Ruinen, vier Totengräber, ein Garten, Blumen, ein Waschbär“) für immer in das poetische Bestiarium aufgenommen und hat damit in seinem Wesen Anteil an einer besonderen Funktion des Symbols. Jedoch das Wesen nach unserem Ebenbild, das seine systematische Verkennung dieser Funktion offen eingesteht, entfernt sich für immer von allem, das durch sie ins Leben gerufen werden kann.“ 19 Lacan 1991a: 195.

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Eindeutigkeit und Homogeneität konstituiert. „Aber wir sind ja bereits darauf gefaßt, daß Definitionsversuche immer zu Schwierigkeiten führen; verzichten wir darauf, es gerade in diesem Falle besser zu machen.“20 Die Freud’sche Erfahrung ist eine prä-derridasche Erfahrung der différance: Das Unbewusste kann nur auf Kosten eines irreduziblen Sinnverlustes, eines Versäumnisses von Bedeutung, einer Verwirkung von voller Repräsentationsleistung artikuliert werden. Es kann, entzieht es sich doch jeder objektivierenden Aneignung, niemals als Objekt oder Phänomen einer positiven Wissenschaft aufgerufen werden, im Gegenteil, die Verfehlung des Unbewussten in jedem Vorlauf zu seiner bildlichen oder logifizierenden Feststellung bildet aus Freud’scher Perspektive das eigentliche Phänomen seiner Evidenz. Lacan adaptiert diesen mit Heideggers Fundamentalontologie vergleichbaren Blick21 in seiner prägnanten Formulierung, dass das Wahre über das Wahre sich unmöglich sagen lässt. Eine Rückkehr zu den Sinnen und im Sinne Freuds muss dieses Fatum der Unberührbarkeit, mehr noch: der Unmöglichkeit des ganzen Sinns akzeptieren. Sie muss die mit dem Sujet des Unbewussten anankéhaft gegebene partielle Verfehlung des Sinns positiv und produktiv als eine ethische Verantwortung auf sich nehmen, um die Begriffe, in denen sich das Unbewusste transportiert, nicht zu kubieren oder zu resümieren, mit anderen Worten: zu töten, sondern im Hegel’schen Sinne am Leben zu erhalten. „Was ich Ihnen hier gebe, das ist der Versuch, die Essenz einer Erfahrung zu fassen, soweit sie von Freud angeleitet wurde. Es ist in keiner Weise ein Versuch, Freud zu kubieren oder ihn zu resümieren.“22 Lacan kollaboriert bis zur eigenen provozierten Schlaflosigkeit mit der Schlaflosigkeit des Denkens auf dem Anderen Schauplatz, die sich Freud entdeckte. Er hält die begriffliche Bewegung eines Untodes, einer im Styx des Seins prozessierenden Signifikantenflotte am Leben und damit reanimiert er den nur in der Verdunklung und Verstellung greifbaren Sinn dieser Erfahrung als einen ausstehenden, einen „sens à venir“. Die Psychoanalyse muss vor der schlechten Wiederholung, vor der Reduktion ihrer Begriffe auf selbstverständliche Bedeutungen, vor dem Verschleiß ihrer Worte zu abgegriffenen Münzen, wie Lacan es an einer Stelle sentenziös ausdrückt, bewahrt werden, und dies umso mehr, als sie sich unter seiner Lenkung verstärkt als ein Interaktionsfeld mit anderen wissenschaftlichen und philosophischen Disziplinen herausbildet. „Vordringlich ist jedenfalls die Aufgabe, in den Begriffen, die im Routinegebrauch verschleißen, den Sinn freizulegen, den sie im Rückgriff auf ihre Geschichte wie in der Reflexion auf ihre subjektiven Grundlagen wiedergewinnen.“23 Nur: wie eine Geschichte der Theorie und Praxis der Wiederholung wiederholen? Wie anfangen und wo aufhören mit der Sekundärliteratur? Wie eine Genealogie des Unbewussten schreiben ohne negative therapeutische Reaktion? Das 1. Kapitel, das Präludium, hat mit einer gewissen Plastizität dargelegt, dass und wie dieses Symptom in seinen kulminierenden Ausmaßen, in seinen finalen Stadien, nur noch einen Ausweg lässt: den Eintritt in eine Psychoanalyse. Lacan fragen. Freud fragen. Lacan und Freud sagen: Wiederholen, Erinnern, Durcharbeiten. Die Produktion von Büchern und Ge20 21 22 23

Freud 1999: XI 314. Vgl. hierzu Kap. 4 und 10. Lacan 1996: 250. Lacan 1991: 47.

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schichten zum Unbewussten hat so wenig einen Anfang und ein Ende wie Derridas différance, so wenig einen Kopf und einen Schwanz wie das Subjekt des Unbewussten, und darum darf die Hybris der Frage des „Wie anfangen?“ und „Wo aufhören?“ nicht davon abhalten, einfach weiterzumachen mit der Wiederholung. Alles andere wäre, mit Derrida, Feigheit, mit Freud und Lacan, Ehrlosigkeit. Die negative therapeutische Reaktion, die einzige, die dieses Buch – abgesehen vom Sprung vom Eiffelturm – wirklich zu fürchten hätte, würde darin bestehen, dass sich im Leser der Eindruck einer Trophologie in Freud und Lacan herstellte, anders gesagt, dass sie den Leser mit der hier gegebenen Darlegung der Konzeptionen des Begehrens, des Signifikanten, der Verschiebung und Verdichtung, der Nachträglichkeit, des Objekts usf. restlos befriedigen würde anstatt den Wunsch zu stimulieren, diese Konzeptionen zu wiederholen, mit Freud, mit Lacan, mit der Sekundärliteratur, der bereits geschriebenen wie der noch ausstehenden.

2.6 Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache Vielleicht ist gerade ein Blick in die Sekundärliteratur hilfreich. Der Blick bleibt an einer Auffälligkeit hängen, an einer auffälligen Wiederholung. Aus der Sekundärliteratur lässt sich ein Satz requirieren, der eine Art Zugangscode zu Lacan zu versprechen scheint. Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache. Die vorliegende Genealogie wird ihre Thesen und Argumente am Leitfaden eines Satzes, einer Formel, entwickeln, die große Ähnlichkeit mit diesem Slogan der strukturalen Psychoanalyse aufweist, aber dennoch, en abysme, von ihm getrennt ist. Der Satz das-Freud’sche-und-wie-eine Sprache-strukturierte-Unbewusste, dessen Genese im 4. Kapitel mit Hegel hergeleitet wird, steht als eine Modifikation der Sentenz vom sprachstrukturierten Unbewussten zugleich in einem harschen Kontrast zu diesem, konnotiert er doch andere, weitreichendere Felder und historisch weiter ausholendere Gesten als diejenigen, die nur bis zu der in ihrer Emergenz auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts begrenzte Wissenschaft der Linguistik reichen. Das 4. Kapitel wird also zeigen, warum der notorische Satz vom sprachstrukturierten Unbewussten ersetzt werden muss durch die Formel das-Freud’sche-undwie-eine Sprache-strukturierte-Unbewusste. Denn allein diese, derart transkribierte und erweiterte Formel wird den im 19. Jahrhundert einsetzenden medialen Ereignissen, Techniken und Diskursen gerecht, die das FreudLacan’sche Unbewusste als ein mediales Apriori bedingen – das FreudLacan’sche Unbewusste, denn eine Auseinanderdividierung in zwei unterschiedlich codierte Formen oder auch nur Phasen von Unbewusstem ist, auch das wird im 4. Kapitel mit Nachdruck bewiesen, grober Unfug. Oben wurden die Koordinaten, die diese Genealogie lenken, angegeben: die Philosophie, der Strukturalismus, die Freud’sche Erfahrung, die Wechselstromphysik und das Experimentaldispositiv von 1850-1900 und schließlich die Medientheorie. Ist es nicht ein Fall von Verspätung, Versäumnis beinahe, dass der Satz, diese Formel in ihrer dem synchronisch-diachronisch Betrach-

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tungswinkel24 der Untersuchung angepassten Form – das-Freud’sche-unddas-sprachstrukturierte-Unbewusste – erst an dieser relativ späten Stelle der Einleitung fällt? Oder ist es nur eine Wiederholung? War der Satz in der Rede vom Signifikanten gar schon impliziert? Ist eine Wiederholung schlimmer als ein Versäumnis? Warum wird der berühmte Satz erst jetzt, nach den Passagen zu Hegels Begriff, Derridas Schrift und Freuds Erfahrung explizit gemacht, jetzt, kurz vor dem Fortgang der Einleitung mit der Medienarchäologie? Der Satz hat in dieser Einführung die Funktion, die Medien, Diskurse und Wissensfelder, die die Freud-Lacan’sche Psychoanalyse konstellieren, wie einen Zyklus zu durchlaufen. Er dient dazu, den sich seit Hegel als Bewusst-Sein (und nicht Bewusstsein) bewegenden Begriff, den Strukturalismus und das Freud’sche, sich inmitten von Wechselstromapparaturen und Psycholaboratorien meldende Unbewusste unter einem medienarchäologischen Aspekt zu integrieren. Damit behält er den Geltungsanspruch, den ihm die Sekundärliteratur verliehen hat – diese Wiederholung ist eine potenzierte, aber dennoch hoffentlich gute Wiederholung –, wird jedoch zugleich im Bezug auf den dieses Buch dominierenden Blickwinkel erneuert und historisiert.

2.7 Das mediale Dispositiv der Psychoanalyse Ein Punkt wurde über dieser ganzen Inkubation zur Wiederholung noch nicht explizit herausgestellt, hat sich jedoch bereits mehrfach angekündigt. Es handelt sich um den Bezug der Psychoanalyse zur Medienwissenschaft, den dieses Buch herstellt. Die Methode, mit der es verfährt, muss darum zugleich und ausdrücklich als medienarchäologisch bezeichnet werden. Das vorliegende Buch wird getragen von Wolfgang Hagens medienarchäologischer Rekonstruktion der digitalen Medien aus der Elektrizitätsphysik25, von seiner Theorie zum ersten Massenmedium, dem Radio26, nicht zuletzt von seinen Untersuchungen zu den massiv psychotisierenden Ereignissen in einer Elektrizitätsgeschichte, in der Physiker wie William Crookes und Heinrich Hertz von vierten Dimensionen und Scheinbildern zu sprechen beginnen – Indiz für den Anbruch eines neuen Medienzeitalters, das in seinen Ouvertüren nur in spiritistischen Diskursen integriert werden konnte27. Das aus der Konnexion medienarchäologischer und Lacan’scher Gedankenkreise hervorgegangene Konzept des medialen Realen verdankt dieses Buch explizit den Theorien Hagens. Weiter orientiert sich das Buch an den bereits im Kontext der Philosophie erwähnten Analysen von Thomas Macho zum Tod und zur Zeitlichkeit des Subjekt in der abendländischen Kultur- und Medienwissenschaft. Ute Holls Studien zu einer mit fotografischen und elektrischen Apparaturen munierten Psychotechnik, die Körper vernetzt und elektrifiziert, haben das Buch über weite Strecken inspiriert.28 Einen großen methodischen Einfluss haben die psychoanalytischen und medienwissenschaftlichen Untersuchungen von 24 Womit dieses Buch zugleich auf den Spuren der im 10. Kapitel dargelegten dia-

25 26 27 28

chronisch-synchronisch bestimmten Operation des unbewussten Gedächtnisses prozediert. Hagen 1998. Hagen 2005. Vgl. Hagen 2001 und Hagen 1999. Holl 2002.

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Astrid Deuber-Mankowsky, Christina von Braun und Marie-Luise Angerer auf die vorliegende Untersuchung ausgeübt. So folgt das Buch deren epistemologischen Einsatzpunkten von der Vorgängigkeit einer stets medial formatierten Wahrnehmung und Erfahrung, den damit verbundenen anti-ideengeschichtlichen Medienbegriffen und Reflexionen zur körperbildenden Macht der Medien.29 Deuber-Mankowsky adaptiert die Mc Luhan’sche These von der Selbstrekursivität der Medien: Sie geht aus von dem impact, den der selbstbezügliche mediale Kreislauf auf seine Inhalte hat30, und es ist unschwer, hierin eine Konvergenz mit der Aktivität des unbewussten Symptoms festzustellen. Von großer Relevanz, insbesondere für das 6. Kapitel über die Medien im Psycholabor, das Unbewusste und die Körper, ist DeuberMankowskys Fokussierung der Veränderungen, „denen nicht nur unsere Körperwahrnehmung, sondern auch unser Begehren mit der Durchsetzung der neuen Medienwelt unterworfen ist“31. Und schließlich stellt sie den Begriff des Realen bei der Untersuchung der Medien nicht hinter die von einem Missverständnis des Symbolischen getriggerten Kampagnen einer universalen Formalisierung zurück, sondern räumt dem Realen, das „uns mit der Faktizität der Zeit und des Todes [konfrontiert]“ und das „sich etwa in jenem horror vacui bemerkbar [macht], der die Vorstellung einer vollkommenen, einer erfüllten Realität als Phantasma outet“32, einen zentralen Stellenwert gerade im Blick auf die Medien und die von den Medien generierten (Körper-) Welten ein. Nicht nur dass der Konnex von Psychoanalyse und Medienwissenschaft einen sich im Duktus und in der Begrifflichkeit des Buches reflektierenden Leitfaden zur Näherung des Freud-Lacan’schen Unbewussten darstellt; die Rolle, die die Medienwissenschaft für die Genealogie des Unbewussten spielt, erweist sich systematisch wie historisch und inhaltlich wie methodisch als fundamental, was im Konzept des mit dem Unbewussten gleichgesetzten medialen Realen seine kulminierende Darlegung findet. Es geht also nicht ganz simpel darum, die Psychoanalyse unter einem weiteren Blickwinkel zu beleuchten, es geht erst recht nicht um eine Modernisierung der Psychoanalyse, nicht darum, Freud und Lacan einem weiteren, zeitgemäßen Wissenschaftsbereich neben der Philosophie und der strukturalistischen Sprachwissenschaft zu assimilieren. Abgesehen von dem bereits genannten methodischen Aspekt ist es das Anliegen dieses Buches, die Theorie und Praxis der

29 Vgl. z.B. Braun 2000: 5f: „Medien also sind keineswegs nur Kommunikations-

werkzeuge des Menschen, vielmehr sind sie Agenten gesellschaftlichen Wandels; sie verändern Sozialstrukturen sowie das Individuum, das in dieser Gesellschaft lebt. Die „Information“ liefert nicht nur Nachrichten, sie bringt die Gesellschaft und ihre Mitglieder auch „in Formation“, sie formatiert die Gesellschaft. Das hat wiederum Rückwirkungen auf die Rolle der Geschlechter – Rückwirkungen, die sich für jede mediale Entwicklung im Abendland nachweisen lassen.“ Vgl. auch Deuber-Mankowskys anhand von Benjamins Analysen zur Dekonstruktion des schönen Scheins darlegte Beziehung, derzufolge Wahrnehmung und Erfahrung niemals „unbelassen“ und natürlich, sondern vielmehr immer schon durch entsprechende Techniken und Medien instruiert sind. Vgl. Deuber-Mankowsky 2007: Kap. II 4: „Heilsame Illusion und auratische Wahrnehmung“. Vgl. auch Angerer 2000 und 2007. 30 Vgl. Deuber-Mankowsky 2001: 10 ff. 31 Deuber-Mankowsky 2001: 13. 32 Deuber-Mankowsky 2001: 75 f.

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Wiederholung als eine Medientheorie, oder präziser: eine Medienontologie zu denken und zu rekonstruieren. Das in eine unaufhörliche und ursprungslose Wiederholung versetzte Sein, das operationalisierte Sein, das sich Freud entdeckte und das in und mit dem von Freud inaugurierten Diskurs der Psychoanalyse die Philosophie und Wissenschaften des 20. Jahrhunderts revolutionierte – das ist Lacans großes, glorreiches und in der Notation des Digitalcomputers verschlüsseltes Thema. Zugleich gibt Lacan der für das Unbewusste bestimmenden operationalisierten Klüftung, der Alternation von Sein und Nicht-Sein, einen Namen (wobei bemerkt werden muss, dass Freud selbst mit diesem Namen oder Un-Namen, mit einem gesichtslosen Operator, bereits arbeitete) – es ist der Signifikant als die im Sein implementierte Diskordanz des Symbolischen und des Realen. Das-Freud’sche-und-das-sprachstrukturierte-Unbewusste: worum geht es? Keinesfalls geht es allein um ein steriles, blutleeres Zirkulieren von symbolischen Elementen, Buchstaben, Kürzeln, formalen Operatoren und Graphismen. Ganz sicher geht es bei der unbewussten Signifikantenkette um den Fortlauf eines differentiellen Codes, aber was Lacan eigentlich fasziniert, was ihn besessen macht, ist der Bezug dieses Symbolischen zum Realen33 – die Diskordanz zwischen dem Symbolischen und dem Realen, die gerade eben erst beschworen wurde und mit der dieses Buch präludierte. Um dies nun sukzessive verständlicher zu machen, ist ein rückwärts gerichteter Blick in die Medien- und Wissenschaftsgeschichte erforderlich, der dann auf das Unbewusste Freuds stoßen wird. Man könnte es als das Schicksal der Moderne im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert bezeichnen, dass das klassische Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt der wissenschaftlichen Erkenntnis kollabiert. Es wird radikal desintegriert in dem Maße, in dem sich das Erkenntnisobjekt auf unwiderrufliche und unhaltbare Weise entzieht und invisibilisiert, sich im Unanschaulichen und Uneinholbaren verliert. An die Stelle der bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vorstellbaren oder zumindest logifizierbaren Natur tritt ein Bereich der absoluten Unerfahrbarkeit oder Unberechenbarkeit, den Lacan als das Reale benannt hat. Aus diesem Grunde haben all die sich in diesen Horizont einschreibenden Theorien und Künste, darunter die Psychoanalyse Freuds und Lacans, ihren Ausgangspunkt nicht mehr in Theorien der Repräsentation, des Schöpferischen, der wahren platonischen Bedeutung, sondern in Erfahrungen des Diskontinuierlichen, des Divergenten, der Stockung, des Traumas und der Differenz. Das betrifft a fortiori das Unbewusste: In seiner sprachlichen Struktur repräsentiert es nicht länger einen dem Bewusstsein verschlossenen, jedoch prinzipiell erschließbaren Sinn, sondern verweist auf den traumatischen und unausdenkbaren Mo33 Was Lacan besessen macht, könnte man auch sagen, sind Fragen, wie Joseph

Vogl sie im Kontext seiner Analyse von Hitchcocks Film DIE VÖGEL stellt: „Bevor diese Vögel Zeichen geben und Bedeutungen heischen, bevor sie zur Metapher fürs Familiendrama werden können, bevor sie schließlich scheinbar gehegt und als Zeichen gezähmt sind, sind sie ganz einfach da, fliegen und schwirren, ereignen sich und passieren. Bevor also diese Vögel Zeichen oder Fragen sind, sind sie Ereignisse im Film; und das führt zu den Fragen: Welche Ereignisse passieren mit den Vögeln? Wie passieren sie als Ereignis? Welche Ereignisse bringen sie hervor? Wie also geschehen diese Vögel als Ereignisse der Wahrnehmung, des Sehens und Hörens? Wie brechen sie in die Menschenwelt herein? Welche Sinnlichkeiten, welche Bewegungen stehen dabei auf dem Spiel?“ (Vogl 2005: 54)

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ment seiner eigenen Spaltung, seiner Differenzierung, von der aus die Serien der Wiederholung, der guten wie der schlechten, von der aus das Begehren auf seinen Kurs geht. Das Sein lässt sich nicht länger auf dem Fundament einer göttlichen Schöpfung oder Metaphysik ontologisieren, das Sein selbst wird vielmehr operationalisiert. Die Derrida’sche différance lässt sich in Analogie setzen zu dem seit Freud operationalisierten Sein, das letztendlich nichts anderes darstellt als – ein Medium. Dies impliziert jedoch auch: das Konzept von Sein oder Subjekt als differentielle Prozedur lässt sich nicht ausschließlich beschreiben als eine symbolische Operation, also eine Verkettung von differentiellen Elementen, sondern in erster Linie als die Relation einer solchen symbolischen Operation zum Realen bzw. zum Medium. Das verzeitlichte oder operationalisierte Sein koinzidiert nicht mit einer binären Formel; es kann und muss zu analytischen Zwecken zwar – wie bei Freud – topologisiert oder – wie bei Lacan – mathematisiert werden, aber es ist durch Logisierung nicht erschöpfend zu erfassen. Der Grund ist sein Ab-Grund. Es kommt aus dem Realen, sein Ursprung ist eine kontingente Operation – eine FreudLacan’sche Klüftung, eine Heidegger’sche Geworfenheit oder ein ursprungsloser Ursprung mit Derrida –, und es bleibt in diesem als solchen unverfügbaren und sich jeder imaginären Auflösung widersetzenden Realen34 als einem Realen im medialen Sinne. Es geht also nicht um die Tatsache, dass da eine Formel – und sei es die einschlägige Formel, dass das Unbewusste strukturiert ist wie eine Sprache – existiert, es geht darum, dass diese Formel im Realen implementiert oder korpsifiziert ist. In diesem Kontext ließe sich auch der von dem Mathematiker, Philosophen und Wissenschaftshistoriker Michel Serres thematisierte Zusammenhang zwischen den Medien und Diskursen der diskreten Zeit und dem Subjekttypus des 20. Jahrhunderts situieren: Subjekte können nach Serres nicht mehr als Quelle oder Ziel von Botschaften auftreten, sondern sind tatsächlich „Wirte“ von Botschaften.35 Vor der Forderung eines sprachlich strukturierten Unbewussten steht also – und dies wird von der traditionellen Ontologie wie auch von Teilen des Strukturalismus übergangen – die Forderung des Dass eines Mediums, das die Struktur trägt.36 Mit Blick auf die Ge34 Tholen hat diese für die Medien des Diskreten charakteristische Unverfügbar-

keit eindringlich klargemacht und hergeleitet. Vgl. z.B. Tholen 2002: 189: „Doch der unverfügbare Ort des Symbolischen zeigt uns gerade in seiner technischen Gestalt der binären Schaltkreise, daß die Technik den Platz des Menschen immer schon verschoben hat. Das Technische überformt nicht das Unmittelbare oder Natürliche, wie bereits Walter Benjamin und Martin Heidegger angesichts der Reproduktions- und Übertragungstechniken ihrer Zeit nachgewiesen haben. Mit der Technologie der Information ist folglich keine Prothese des Menschen vollkommener, wohl aber die imaginäre Zuweisung des Technischen als Projektion des Körpers fragwürdiger geworden.“ Vgl. auch ders. 170f. und 181-183. 35 Serres 1987 : 11ff. 36 Vgl. hierzu auch Tholen 2002: 145f: „Die epochale Zäsur, dank deren die Medien heute „beliebige Nachrichtennetze in mathematische Algorithmen überführen können“, verdankt sich der Dazwischenkunft einer techné, die nicht in der Funktionsanalyse des binären Codes aufgeht. Gewiß ist erst mit dem Diskurs der universellen Turing-Maschine das Prinzip einer Medialität anschreibbar geworden, welches vormalige Leitmedien der Speicherung und Übertragung zu simulieren gestattet. Doch eben diese von der Diskursanalyse nachgewiesene

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schichte des Wechselstroms als Initiation des Unbewussten (Kap.5 und 6): das Sein musste, um selbst zum diskretisierten Trägermedium von Botschaften zu werden, an die respektiven Generatoren angeschlossen werden. Das Dispositiv der Experimentalphysiologie und materialistischen Psychiatrie bilden, wissenshistorisch betrachtet, eine Voraussetzung der Psychoanalyse Freud-Lacan’scher Tradition, insofern sie die Seele oder Psyche, die bis dahin dem Reinheitsgebot metaphysischer, platonischer oder auch mystischer Diskurse unterstand, um den Preis von Agonie und tiefer Verletzung in die Körper translozieren. Und diese logische Entwicklungsstufe der Psychoanalyse, die in der Formel das-Unbewusste-Freuds-und-das-sprachstrukturierteUnbewusste widerhallt, darf aus der Geschichte nicht ausgeblendet werden. Mit anderen Worten, die Formulierung des Unbewussten in strukturalen Begriffen, die Profilierung der sprachlichen Verfasstheit des Unbewussten, darf die materialistische Auffassung vom Unbewussten nicht einfach falsifizieren, sondern muss diese vielmehr dialektisch aufheben. Erst dann lässt sich die Reichweite der Freud-Lacan’schen Erfahrung, die Konzeption des Unbewussten als ein Medium, als Korpsifizierung einer sprachlich dechiffrierbaren Botschaft ermessen. Es gibt also keine rein symbolische Struktur ohne ein reales Medium, das sie implementierte. Lacans Theorie des Signifikanten impliziert immer schon die drei Dimensionen: das Symbolische, das Imaginäre – und das Reale. Das Reale – eine „Begegnung, die wesentlich eine verfehlte Begegnung ist“, „ein nicht Assimilierbares“, ein ursprüngliches „Trauma, das für den weiteren Verlauf bestimmend wird“37, weil die Wiederholung von hier, von dieser traumatischen Verfehlung der Ur-Sache her ihren Anlauf nimmt. Etwas schließt sich, Wiederholung, um sich wieder zu öffnen, vorausgesetzt dass nie und gerade in diesem Moment dieses etwas, das Freud entdeckte, nicht vergessen, dass es, und sei es auch aus bestem Wissen und Gewissen strukturaler Meta-Diskurse, nicht der Vereinfachung zuliebe ausgeblendet wird. Lacans Theorie des signifikant-sprachlich strukturierten und (!) des korpsifizierten Unbewussten lässt sich nicht abstrahieren von der Entdeckung Freuds: das nach einer ursprünglichen Klüftung, einem „Einschuß“ als Wiederholung seiende Sein, das pulsierende Sein, bei dem die beiden Momente der Schusswunde – Ur und Sache, Sein und Nicht-Sein, Fort und Da – „wechselseitig aufgerufen [werden] nach den Gesetzen einer Gedächtnisorganisation, [...] deren Funktionieren durch das Gesetz des Lustprinzips geregelt ist“. Dieses nach signifikanten Gesetzen funktionierende Gedächtnis ist für Lacan – gegen die vorherrschenden biologistischen oder energetisch-thermodynamischen Freud-Lektüren, die von Geöltheit und Oberflächlichkeit des Verfahrens her vergleichbar sind mit einer strukturalistisch reduzierten LacanLektüre – das Freud’sche Lustprinzip. „Freuds Lustprinzip regiert die Suche nach dem Objekt, und zwingt ihr jene Umwege auf, die ihre Distanz auf-

„semiotechnische“ Eigenart des digitalen Mediums verdankt sich dem Medium der epochalen Zäsur der Zeit, die jeder Bestimmung im Rahmen eines geschlossenen oder operationalen Modells widersteht. Vielmehr zeigt uns die digitale Differenz des digitalen Codes die für Menschen wie Maschinen gleichermaßen bedeutsame Logik austauschbarer Plätze: Der Platzaustausch als solcher interveniert, „abgelöst von jedwedem Realen“ (J, Lacan), in den technischen Konfigurationen, die wir, hilflos genug, Mensch-Maschine-Schnittstellen nennen.“ 37 Lacan 1987: 61.

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rechterhalten bezüglich ihres Ziels.“38 Die unmögliche Konvergenz des Symbolischen und des Realen, die unmögliche Simultaneität von es denkt und ich denke, ist in Freuds Konzeption des Lustprinzips präfiguriert. Denn dieses lässt sich mit Lacan entziffern als unentwegte, unendliche Gravitation um ein unmögliches Objekt, um eine Objekt-Ursache des Begehrens, die unerinnerbar, weil wie nie gewesen ist, die dennoch und aber allein als Operation der Wiederholung, als jenes Gedächtnis, Lustprinzip, Gesetz des Begehrens, das Subjekt im Innersten regiert: „Das Lustprinzip regiert die Suche nach dem Objekt, und zwingt ihr jene Umwege auf, die ihre Distanz aufrechterhalten bezüglich ihres Ziels“, es „hält die Suche stets auf gewiße Distanz zu dem, worum sie kreist“39.

2.8 Das Böse, das Reale, das Mediale Das Lustprinzip – Eintritt in ein zweideutiges Spiel, ein schicksalhaftes, womöglich böses Spiel, ist doch mit ihm „der Konflikt an der Basis, ja am Ursprung eines Organismus eingeführt“40. Lustprinzip, Unbewusstes, freudsche Erfahrung, keine Ursachen, keine Urbilder mehr, weder am Ende noch Anfang – die Saga vom Schönen, Guten, Wahren verschwunden „im dunklen Gebiet“. Am Ursprung ein Konflikt, höllische Öffnung auf Unterweltliches hin, am Ursprung die Invasion eines womöglich bösen Objekts, das Ding, die Realseite des Signifikanten. „Die Freudsche Welt, das heißt die Welt unserer Erfahrung bringt mit sich, daß es sich darum handelt, dieses Objekt, das Ding*, als absolutes Anderes des Subjekts wiederzufinden. Man findet es bestenfalls wieder als Leid.“41 Keine Ursachen, keine Urbilder mehr am Grund der Welt der Freud’schen Erfahrung, sondern ein Objekt, das, fremd, ganz anders, manichäisch, gerade kein Objekt mehr ist. Es ist ein unsägliches Etwas, eine Art Kluft, sich zugleich auftürmend wie ein Gebirge, ein Medium, eine Bewegung zwischen Wanderdüne und Metastase, in jedem Fall: schwarz und lacanesk. „Die Aussage, daß das Unbewußte für Freud nicht das ist, was man andernorts so nennt, könnte dem nur wenig hinzufügen, wollte man nicht hören, was wir sagen wollen: daß das Unbewußte vor Freud schlicht und einfach nicht ist. Es bezeichnet nämlich nichts, was noch als Objekt gelten könnte, oder was es verdienen würde, daß man ihm mehr Existenz zuspricht als man tut, wenn man es durch seine Definition im Un-Schwarzen ansiedelt.“42

Die Natur, die mit dem Realen eh nie viel zu tun hatte, ist korrumpiert worden; sie ist in die Enge getrieben worden und explodiert in ein Trauma (siehe Kap. 11), von dem aus es in die infinite und diskrete Wiederholung geht, eine Wiederholung, die sich von der Diskretion des Seins, von dem Es-nichtsagen-können, von der Ohnmacht am Volltreffer der Selbstgewissheit, von der absoluten Einsamkeit des Seins nährt und tragen lässt – die Diskretisie38 39 40 41 42

Lacan 1996: 74. Lacan 1996: 74. Lacan 1996: 38. Vgl. Freud 1999: X 207f, XI 344f und XIII 305f. Lacan 1996: 67. Lacan 1991a: 208.

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rung, die sich des Seins selbst, der Seinsstruktur des Klaffens bedient. Die Natur der Dinge und der Wesen ist aus dem Schlaf und in die ewige, sinnlose, ewig sinnlos qualbestürmte Arbeit geworfen worden – sie ist zum Medium, zum Ge-stell geworden. Es war Freud, der das Ge-stell des Seins entdeckte, es war Freud, der die unvorstellbare Botschaft entzifferte und so zu erahnen, zu supponieren, nie zu wissen vermochte, dass es Unbewusstes gab, dass das Reale des Seins zum Medium seines eigenen Schmerzes geworden war. In der psychischen Realität, im Lustprinzip, im Primärprozess entdeckte Freud „die radikale Bedeutung des Konflikts“, des in den Körper eingeführten und vom Körper transportierten Konflikts. Er wird vor Lacan konfrontiert mit der rekursiven Operationalität einer traumatischen Botschaft, er „wird konfrontiert [...] mit der Erscheinung, daß zuinnerst in den Primärprozessen das Trauma ununterbrochen drängt und sich in Erinnerung zu rufen sucht“43. Primärprozess, Lustprinzip, psychische Realität, Unbewusstes – Freud verwendet unterschiedliche Begriffe und Modelle, um sich dieser Erfahrung zu nähern, die erst Lacan als das Reale im medialen Sinne begrifflich wie medienontologisch bestimmen wird, bestimmen wird können. Denn Lacan verfügt über die Begriffe und Techniken der Strukturlinguistik und Kybernetik, die, die Kapitel 4 und 8 werden diesen Punkt breiter entwickeln, noch nicht zur Disposition standen zur Zeit einer Erfahrung, die – wie die Geburt des Menschenjungen, wie die Vorzeitigkeit des Spiegelstadiums – so überfrüht war wie ahnungsvoll, wahr und zugleich unheimlich, verschlossen, dunkel, trauervoll. Diskrete Gespenster. Von einem Geisterhaus wird die Rede sein, dessen Bewohner: Freud, wandelnd zwischen den Ereignissen und Schauplätzen, hin- und hergerissen im Takt von Einerseits-Andererseits. Einerseits war es das Spukschlossgefühl einer zeitlich einsamen, abgelegenen, weil vorzeitigen Ahnung, andererseits der Güterbahnhof der ihn umgebenden Diskurse von der Experimentalpsychologie bis zur Thermodynamik, keine Lösungen, aber Chiffren spendend, Modelle, Metaphern für das Unsägliche: Unbewusstes, Primärprozess, Lustprinzip, psychische Realität, das Reale als ein „operationales Ding*“44. Noch ohne die der Dimension der Erfahrung angemessene Ausstattung, noch ohne das diskursive Equipment der Strukturlinguistik, der Kybernetik, der Medientheorie des Rauschens, sendete Freud nichtsdestoweniger seine Echolot-Antennen in den Untergrund, und so ortete er ein Reales, das nichts mehr mit dem Lullaby eines Heraklit oder dem Billard-Ball-Universum eines Newton gemeinsam, sondern den Charakter radikaler Diskontinuität und Bösartigkeit hatte.45 43 Lacan 1987: 61. Vgl. Freud 1999: I 30, XII 249f und XIII 11. 44 Lacan 1996: 128. 45 Das Böse bestimmt die Welt von Ewigkeit zu Ewigkeit. So wird der zivilisierte

Weltbürger nicht etwa durch einen Emanzipationsprozess ethischer Verfeinerung und Verbesserung vom Urmenschen getrennt, sondern durch eine Verdrängungsleistung, durch die das Bösartige nicht entfernt, sondern im Gegenteil – die Lagen im 20. und 21.Jahrhundert bezeugen es – als Symptom aktiv bleibt. Vgl. Freud 1999: X 345: „Der Urmensch hat sich in sehr merkwürdiger Weise zum Tode eingestellt. Gar nicht einheitlich, vielmehr recht widerspruchsvoll. Er hat einerseits den Tod ernst genommen, ihn als Aufhebung des Lebens anerkannt und sich seiner in diesem Sinne bedient, andererseits aber auch den Tod geleugnet, ihn zu nichts herabgedrückt. Dieser Widerspruch wurde durch den Umstand ermöglicht, daß er zum Tode des anderen, des Fremden, des Feindes, eine radikal andere Stellung einnahm als zu seinem eigenen. Der Tod des ande-

EINLEITUNG ſ 63 „Dieses Etwas, dessen Paradox, dessen praktische Aporie Freud uns tatsächlich zu ermessen gestattet, ist durchaus nicht von der Ordnung jener Schwierigkeiten, die eine meliorierte Natur oder natürliche Melioration bereiten können. Es ist etwas, das sich sofort unter einem besonderen Charakter von Bösartigkeit, böser Einwirkung darstellt – das ist der Sinn des Wortes méchant. Freud arbeitet es mehr und mehr heraus im Verlauf seines Werks und gibt ihm schließlich maximalen Ausdruck im Unbehagen in der Kultur oder auch in seinen Untersuchungen zu den Mechanismen eines Phänomens wie der Melancholie.“46

Méchant – der Glanz des Schönen, Wahren, Guten unheilbar verfinstert, stattdessen das Böse, das in der Tiefe, am bodenlosen Urgrund faucht. „Sie versprechen dann vielleicht, von dem abstoßenden Charakter der zensurierten Traumwünsche abzusehen, und ziehen sich auf das Argument zurück, es sei doch unwahrscheinlich, daß man dem Bösen in der Konstitution des Menschen einen so breiten Raum zugestehen solle. Aber berechtigen Sie Ihre eigenen Erfahrungen dazu, das zu sagen? Ich will nicht davon sprechen, wie Sie sich selbst erscheinen mögen, aber haben Sie so viel Wohlwollen bei Ihren Vorgesetzten und Konkurrenten gefunden, so viel Ritterlichkeit bei Ihren Feinden, und so wenig Neid in Ihrer Gesellschaft, daß Sie sich verpflichtet fühlen müssen, gegen den Anteil des egoistisch Bösen an der menschlichen Natur aufzutreten? [...] Oder wissen Sie nicht, daß alle Übergriffe und Ausschreitungen, von denen wir nächtlich träumen, alltäglich von wachen Menschen als Verbrechen wirklich begangen werden? Was tut die Psychoanalyse hier anders als das alte Wort von Plato bestätigen, daß die Guten diejenigen sind, welche sich begnügen, von dem zu träumen, was die anderen, die Bösen wirklich tun ? Und nun blicken Sie vom Individuellen weg auf den großen Krieg, der noch immer Europa verheert, denken Sie an das Unmaß von Brutalität, Grausamkeit und Verlogenheit, das sich jetzt in der Kulturwelt breitmachen darf. Glauben Sie wirklich, daß es einer Handvoll gewissenloser Streber und Verführer geglückt wäre, all diese bösen Geister zu entfesseln, wenn die Millionen von Geführten nicht mitschuldig wären? Getrauen Sie sich auch unter diesen Verhältnissen, für den Ausschluß des Bösen aus der seelischen Konstitution des Menschen eine Lanze zu brechen?“47 ren war ihm recht, galt ihm als Vernichtung des Verhaßten, und der Urmensch kannte kein Bedenken, ihn herbeizuführen. Er war gewiß ein sehr leidenschaftliches Wesen, grausamer und bösartiger als andere Tiere. Er mordete gerne und wie selbstverständlich. Die Urgeschichte der Menschheit ist denn auch vom Morde erfüllt. Noch heute ist das, was unsere Kinder in der Schule als Weltgeschichte lernen, im wesentlichen eine Reihenfolge von Völkermorden.“ Vgl. auch Freud 1999: XIII 412: „Als Motiv der Verdrängung und somit als Ursache jeder neurotischen Erkrankung mußte man den Konflikt zwischen zwei Gruppen von seelischen Strebungen ansehen. Und nun lehrte die Erfahrung eine ganz neue und überraschende Tatsache über die Natur der miteinander ringenden Kräfte. Die Verdrängung ging regelmäßig von der bewußten Persönlichkeit (dem Ich) des Erkrankten aus und berief sich auf ethische und ästhetische Motive; von der Verdrängung betroffen wurden Regungen von Selbstsucht und Grausamkeit, die man allgemein als böse zusammenfassen kann, vor allem aber sexuelle Wunschregungen, oft von der grellsten und verbotensten Art. Die Krankheitssymptome waren also ein Ersatz für verbotene Befriedigungen, und die Krankheit schien einer unvollkommenen Bändigung des Unmoralischen im Menschen zu entsprechen.“ 46 Lacan 1996: 111. 47 Freud 1999: XI 146f.

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Méchant – böse Einwirkungen, Fernwirkungen von Unten. Méchant –Nihilismus, Unbehagen, Melancholie. Zustände, Befindlichkeiten, mit denen emotionslose Lacan-Experten, die seine Psychoanalyse als strukturalistisch klassifizieren und damit von der sprachlichen Verfasstheit des Unbewussten den medial-ontologischen Charakter dieses Unbewussten subtrahieren, nichts anzufangen wissen. So endet der Satz „das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache“, so wird er von dem Realen, das diese Sprache trägt, isoliert, schlimmstenfalls in einer logokratischen Mathematik des Unbewussten. In harmloseren Fällen verharren diejenigen, die das Unbewusste in der gesicherten Zone strukturalistischer Quarantänebedingungen objektivieren, in seltsamer Verlegenheit. Verlegenheit und Stummheit, denn es erforderte die Anstrengung einer Antwort, einer Antwort auf eine unbehagliche und darum oft bis zur Unerhörtheit verleugnete Frage, die Frage des Seins, die vom Sein mit seinem Sein gestellte Frage: Da ist das Medium, das Unbewusste. Da ist das mediatisierte Sein namens Unbewusstes, das sich eben nicht einfach als phonematische Dichotomie von Präsenz und Absenz objektivieren lässt, sondern das sich vielmehr nur als eine sich im Sein ereignende signifikante Artikulation empfangen lässt. Da ist das Medium, dessen ontologischen Aspekt – Trauer, Bösartigkeit, Begehren – der moderne Strukturalismus und eine narbenlos strukturalisierte Psychoanalyse eskamotieren, um in die Hygiene binärer Programmstrukturen und Symbolketten zu flüchten. Es ist die Flucht vor einer Frage, vor der alles entscheidenden Frage. Es ist die Flucht vor der Frage nach dem Realen, es ist eine Abwehr, die „eigentlich gesprochen, die Lüge über das Böse ist“48. Es ist die Flucht in eine Lüge, die, ganz ohne Anstrengung und ohne Verschuldung, also ganz der Neutralität des akademischen Diskurses entsprechend, das (gute) Objekt einfach voraussetzt. Es wird dennoch – Zwangsneurose, sagt Lacan, ist der Name für die Berufskrankheit der Akademie – Lügen gestraft für seine Lügen, seine Verkennungen, Verdrängungen, für sein Vergessen und seine Feigheit angesichts „der harten Arbeit eines Diskurses ohne Ausflüchte“49. Eine Arbeit, die, wie Thomas Macho in einer Linie mit Lacan schreibt, gerade nicht darin bestehen darf, „den ubiqitären Zufall des“ mit „kontingenten – ebendarum so differenten – Maßnahmen und Veranstaltungen, die sich eigentlich nicht mehr klassifizieren und vergleichen lassen“, zu parieren. Der Tod erleidet hier dasselbe Schicksal wie das nach Freud, so Lacans Klage, 48 Lacan 1996: 92. 49 Lacan 1991: 86. Vgl. auch Freud 1999: X 135f: „[...] daß das Benennen des

Widerstandes nicht das unmittelbare Aufhören desselben zur Folge haben kann. Man muß dem Kranken die Zeit lassen, sich in den ihm unbekannten Widerstand zu vertiefen, ihn durchzuarbeiten, ihn zu überwinden, indem er ihm zum Trotze die Arbeit nach der analytischen Grundregel fortsetzt. Erst auf der Höhe desselben findet man dann in gemeinsamer Arbeit mit dem Analysierten die verdrängten Triebregungen auf, welche den Widerstand speisen und von deren Existenz und Mächtigkeit sich der Patient durch solches Erleben überzeugt. [...] Dieses Durcharbeiten der Widerstände mag in der Praxis zu einer beschwerlichen Aufgabe für den Analysierten und zu einer Geduldprobe für den Arzt werden. Es ist aber jenes Stück der Arbeit, welches die größte verändernde Einwirkung auf den Patienten hat und das die analytische Behandlung von jeder Suggestionsbeeinflussung unterscheidet. Theoretisch kann man es dem „Abreagieren“ der durch die Verdrängung eingeklemmten Affektbeträge gleichstellen, ohne welches die hypnotische Behandlung einflußlos blieb.“ Vgl. auch X 313 und 445; XI 291; XII 186 und XIII 304f.

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von psychologischen und akademischen Ivan-Lendl-Typen zu paroles vides verheizte Unbewusste. „Aber selbst die (utopische) Zielvorstellung des Archivars, alle „Gewohnheiten“ im Umgang mit dem Tod zu recherchieren, würde an dieser „Oberflächlichkeit“ nichts ändern: Beispielsammlungen generieren keine Ordnungskriterien. Daraus ergibt sich vor allem, was ich den schmerzlichen Verlust der relativistischen Perspektive nennen würde – nämlich die Unmöglichkeit, irgendeine Art von longue durée zu konzipieren.“50

Dieser „schmerzliche Verlust der relativistischen Perspektive“ aber koinzidiert einfach mit dem von der Psychoanalyse geforderten Anerkennung des Seinsmangels, der Unmöglichkeit der Ursache und darin nicht zuletzt der unmöglichen Ergründbarkeit der Ursache des Todes, mit all dem, was dies konnotiert. Eine solche Anerkennung aber – und nicht der frühmorgendliche Blick in den Spiegel, der anstelle des realen Wracks das imperial leuchtende Professoren-Ego projiziert – wäre nach Freud und Lacan der Eintritt in eine eigentliche Wissenschaft. Und aber zugleich eine Trauerarbeit. Was aber (re-) animierte dann mehr zur Trauerarbeit, Arbeit mit dem Tod, Arbeit mit dem Signifikanten, als die Unterwerfung unter die folgende Wahrheit ?! „Der Tod ist nur von außen bekannt, er gestattet keine „hermeneutische“ Annäherung und keine „teilnehmende Beobachtung“. Der Tod läßt sich nicht umstandslos als Erkenntnisgegenstand konstituieren: Dieser Satz bildet geradezu das notwendig negative Axiom jeder wissenschaftlichen Thantologie.“51 Die thanatologischen Psychoanalytiker Freud und Lacan lassen sich, ihre Theorie und Praxis der guten Wiederholung, von dieser Wahrheit ausrichten. Die Kluft, die der Tod hinterlässt, lässt sich nicht einfach verstopfen, weil eine Rechnung offen geblieben ist. Es ist die Rechnung des Schicksals, und sie wird übernommen von der schlechten Wiederholung des Symptoms, das sich nicht notwendig in Form agonaler Zwänge, sondern auch einfach in Form eines wohlgenährten Egos, in Form der Verkennung, der Seinsvergessenheit manifestieren kann. So lautet eine – gewiss verkürzte – Bilanz von Lacans Konzept der imaginären Trägheit, ein Konzept, das erstmalig Heideggers Existenzphilosophie als ein Komplement der Freud’schen Symptomerfahrung begreift. Das Symptom ist böse und zugleich schrecklich trivial; es kann entweder das Dasein so direkt affrontieren und enteignen, dass das Dasein Freud konsultieren muss. Aber es kann auch in der Latenz subsistieren, nämlich als superlativische Ich-Funktion, und in dieser Form einen akademischen Herrndiskurs gründen oder eine Meta-Etage in einem bereits bestehenden Diskurs okkupieren. Sicher ist, dass weder die Sterilisierung des Unbewussten zu einer rein symbolischen Struktur noch die sich wie ein Pilz ausbreitenden Beobachter in der Systemtheorie, weder die wechselseitigen Kontagionen von Neurolinguistik und Chomsky-Wäldern, noch alle weiteren second und third order Theorien, in denen die reine sprachliche Struktur sich selbst weiterzüchtet und treibt, ein Karmamarga zur Wahrheit, geschweige denn der Wahrheit des Seins darstellen. Dies sind nur der Epistemologie des 20. Jahrhunderts entnommene Beispiele für ein Symptom, das das Sein mit seinem Sein zahlen muss für die Lüge und Verkennung seiner selbst, seiner 50 Macho 2002: 96f. 51 Macho 2002: 91.

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Ur-Sache. Und es ist fast banal, es passiert einfach und ist passiert in der Wissenschaft und Erkenntnistheorie nach Freud, und darum sind die oben genannten Fälle vielleicht ein wenig mehr als nur Fallbeispiele, sie sind zugleich Indizien und Rechtfertigungen für die Wiederholung der Geschichte und für die Umwandlung des Satzes vom sprachstruktierten Unbewussten in die Formel das-Freud’sche-und-sprachstrukturierte-Unbewusste. Aber womöglich braucht all das, was da passiert ist, wenn es doch einfach so ist, dass „der Mensch seine Zeit buchstäblich der Entfaltung der strukturellen Alternation, in der die An- und Abwesenheit sich gegenseitig aufrufen, widmet“52, noch nicht einmal eine Rechtfertigung. Denn aus dem Blickwinkel der Psychoanalyse liegt die Rechtfertigung, die Abtragung der Schuld53, schon allein in der Exekution der Wiederholung, im Symptom, in der Formel der psychischen Realität selbst, die eben „nur beansprucht, in Taten überzugehen, ins Sprechen, oder ins Wiederholen* – das ist dasselbe.“ Nicht die Umwege, die Zwänge der Wiederholung, sind das Böse, sondern die Verweigerung der Wiederholung, sofern sie, indem sie sich aus Feigheit oder Bequemlichkeit in eine ich- und leistungsorientierte Realität hin dispensiert, die Frage nach der psychischen Realität, nach dem Medium und der mit der Mediatisierung verbundenen Schuld offen stehen lässt. Böse und schuldig ist nach Lacan derjenige, der sich der Trauerarbeit zu entziehen sucht, d.h. der Frage und Funktion des „Lochs dieses Verlustes, der beim Subjekt die Trauer verursacht [...] [und] der im Realen ist“, der Frage und Funktion des „Signifikanten, den Sie nur mit Ihrem Fleisch und Blut bezahlen können“54. Böse ist nicht das Symptom als solches, das Symptom ist vielmehr nur der Preis für die Verleugnung der Freud-Lacan’schen Frage nach dem Sein als ein mediales Reales. Symptome, seien es Pathologien oder Kapitäns-Egos, sind der Preis für die Verkennung der Wahrheit, für die Lüge über das Böse oder, weitaus verheerender, für dessen Ignoranz: „An diesen äußersten Grenzen begreift man wie nirgendwo, daß der Hass auf die Liebe herausgibt, daß aber Ignoranz ohne Vergebung bleibt.“55 An den äußersten Grenzen des Seins lässt sich nur um den Preis von Symptomen, seien es Fälle von Zwangshandlungen für Freud, sei es der Abfluss des vollen Sprechens in eine fachsprachliche Routine, die Ur-Sache ignorieren. Der Signifikant im FreudLacan’schen Sinne, das heißt sofern er nicht einfach objektivierbares Element einer Sprache ist, sondern Wirkungen in einem Subjekt zeitigt, ist eine solche Ur-Sache. Die Formeln dieser Ur-Sache verästeln sich tiefer im Realen als Saussures Lautbild+Vorstellung oder Spencer Browns Make-a-distinction glauben machen. Und die Formel, dass das Unbewusste strukturiert ist wie eine Sprache, ist „kein Zeichenspiel, es siedelt sich nicht auf der Ebene der Information, sondern auf derjenigen der Wahrheit an“56. Eine Lesart der Formel, die das Unbewusste auf eine in strukturalen Termini formulierte Sprache, auf eine linear an Freud anschließende Lacan’sche Syntaktisierung des Unbewussten reduzierte, würde die Frage nach dem eigentümlichen – mediatisierten – Wissen, das das Subjekt ist, verdecken statt sie zu beantworten. Die eigentliche Dimension, in der die Formel „Das Unbewusste ist struktu52 Lacan 1991: 46. 53 Zum Konzept der Freud-Lacan’schen Seinsschuld und ihrer historischen Genea-

logie vgl. Braun 2001: 521-537. 54 Lacan 1986/87: 11f. 55 Lacan 1991: 219. 56 Lacan 1990: 314.

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riert wie eine Sprache“ situiert ist, sich lässt sich nur rekonstruieren, wenn ihre Geschichte unter philosophischen, Freud’schen und medienarchäologischen Aspekten wiederholt und durchgearbeitet wird.

3. D A S S P I E G E L S T A D I U M – L A C A N

MIT

HEGEL

3.1 Theorie des Spiegelstadiums Im Jahr 1936 formuliert Jacques Lacan auf einer internationalen Tagung von Psychoanalytikern in Marienbad erstmals die Theorie des Spiegelstadiums, eine Theorie der Identitätsbildung. Dieser Theorie zufolge ist der faktische Zustand zu Beginn eines Menschenlebens nicht die sanfte, saumselige Unschuld eines Säuglings, sondern Psycho-Verheerung, Terror von Trieben, Desorganisation. Lacan gibt das Portrait eines „Wesens, das noch eingetaucht ist in motorische Ohnmacht und Abhängigkeit von Pflege“, dessen physiologische Funktionen noch ratlos und ungeordnet sind: corps morcelé, zerstückelter Körper.1 Dennoch fällt die Identitätsbildung, das Fanal der organisierten Person, in genau diesen diffusen Zustand: Zwischen dem sechsten und achtzehnten Lebensmonat kommt es zur „jubilatorischen Aufnahme seines Spiegelbildes“2. Das Subjekt antizipiert eine de facto inexistente, illusorische Ganzheit im Spiegelbild bzw. in einem kleinen anderen: das erste Auftauchen einer glorreichen und despotischen Erscheinung des Selbst an einer Stelle, wo es gerade kein Selbst, sondern nur Schein, Spiegelflimmern, Strahlungsausbruch einer lebenslangen Lüge gibt. Glorreich, despotisch und fatal – am Ab-Grund des Ich steht eine Rimbaud’sche Entfremdung: Ich ist ein anderer. Lacan kennzeichnet diese Entfremdung als ein „Drehmoment [...], wo das Individuum aus seinem eigenen Bild im Spiegel, aus sich selbst, eine triumphale Übung macht, bei der es sich um ein antizipiertes Ergreifen der Herrschaft handelt“. Es geht um Herrschaft. Es geht um eine noch wahnhaft 1

2

Zum Phantasma des zerstückelten Körpers bei Lacan vgl. beispielsweise Lacan 1991b: 224-226, 307 und 311f sowie Lacan 1991a: 85, 147 und 217. Neben künstlerischen, kriegskatastrophischen und (anti-)gestalttheoretischen Visionen mag auch eine Stelle in Freuds Text über Das Unheimliche Lacan zu diesem Bild inspiriert haben. Vgl. Freud 1999: XII 257: „Abgetrennte Glieder, ein abgehauener Kopf, eine vom Arm gelöste Hand wie in einem Märchen von Hauff, Füße, die für sich allein tanzen wie in dem erwähnten Buche von A. Schaeffer, haben etwas ungemein Unheimliches an sich, besonders wenn ihnen wie im letzten Beispiel noch eine selbständige Tätigkeit zugestanden wird. Wir wissen schon, daß diese Unheimlichkeit von der Annäherung an den Kastrationskomplex herrührt.“ Hier schließt sich übrigens ein Kreis, denn diese Anregungen sind wiederum Freud selbst aus literarischen, aber auch dionysischkünstlerischen Bereichen erwachsen; vgl. Freud 1999: XI 314: „[...] In ihrer Mannigfaltigkeit und Sonderbarkeit sind sie nur vergleichbar den grotesken Mißgestalten, die P. Breughel als Versuchung des heiligen Antonius gemalt hat, oder den verschollenen Göttern und Gläubigen, die G. Flaubert in langer Prozession an seinem frommen Büsser vorbeiziehen läßt. Ihr Gewimmel ruft nach einer Art von Ordnung, wenn es unsere Sinne nicht verwirren soll.“ Lacan 1991: 64.

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ungezügelte Herrschaft, um die absolute und ideale Herrschaft des Ich, die der im Spiegel erscheinende Glanzträger, das Ideal-Ich, irradiiert. Eher ist es eine Sucht nach Herrschaft und zugleich das Gegenteil von Herrschaft, sofern ihr anderes die totale, mörderische Abhängigkeit vom alter ego ist – das Subjekt ist abhängig, es ist ausgeliefert, es kann sich als ein einheitliches Sein projizieren nur durch Vermittlung eines kleinen anderen, eines Spiegelbilds, „das ihm das Phantom seiner eigenen Herrschaft gibt“3. Ein Phantom und nicht mehr: die vom Spiegelbild, vom Ideal-Ich, suggerierte Ganzheit ist eine Täuschung. Es gibt kein ganzes fürsichseiendes Ego, geschweige denn zwei von der Sorte, es gibt nur zwei unterschiedliche diskrete Zustände, die permanent ineinander umschlagen: ein dialektisches Oszillieren zwischen dem Real-Sein des zerstückelten Körpers in kreatürlicher Abhängigkeit und dem Schein von Souveränität, den das Ideal-Ich abstrahlt, jene Projektion, über die sich Ich als Ich konstituiert. Es geht also, wie Tholen ausführlich darlegt, bei der aporetischen Beziehung zwischen den beiden kleinen anderen, zwischem dem kleinen Narziss und seinem Spiegelbild, nicht einfach nur um eine räumliche, sondern vielmehr um eine zeitlich-dialektische Falle.4 Lacan pointiert die entscheidenden Züge dieser oszillatorischen Beziehung, die sich übersetzen lässt in eine relationale (und nicht reale) Beziehung zwischen dem einen oder dem anderen, anhand von Hegels Dialektik von Herr und Knecht.5

3.2 Hegels dialektischer Dreischritt Im Kapitel Herrschaft und Knechtschaft fugiert Hegel das zentrale Sujet der Phänomenologie, den in dialektischen Dreischritten verlaufenden spekulativen Prozess hin zum Selbstbewusstsein oder absoluten Wissen.6 Dieser Prozess verläuft über die verschiedenen Etappen der immer wieder restituierten Beziehung zwischen Fürsich und Ansich7, zwischen Unmittelbarkeit des Gegenstands und Begriff. Hegels Phänomenologie des Geistes beschreibt einen spekulativen Prozess: den Vollzug einer Erfahrung hin zum absoluten Wissen und zugleich das Denken dieses Vollzugs von seinem Ende, vom Ab-

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Lacan 1990: 189. Unter Bezugnahme auf den dem Spiegelstadium zugrundeliegenden Mythos des Narziss schreibt Tholen: „Der Zusammenfall des Narziss […] ist auch eine räumliche wie zeitliche Falle: […] Das inhärente Streben zum Tode, der Stillstand, den der Narziss-Mythos umschreibt, bezeichnet das Moment der vorauseilenden Hast, welche dem Spiegelstadium als prekärem Drama zukommt. […] Das Ideal-Ich – Prototyp harmonischer Ganzheit und ihres Verlusts – differenziert sich in den Formen des Verliebtseins auch in zeitlicher Hinsicht: Man liebt, was man war, was man gern sein möchte oder was man ist.“ (Tholen 2002: 73f) Vgl. hierzu den Abschnitt „Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft“ in Hegels Phänomenologie (Hegel 1988: 120-126); vgl. auch Liebrucks 1970: 91-95. Übrigens stellt auch Liebrucks Hegels Konzept des Selbstbewusstseins in den Zusammenhang der Wechselseitigkeit von Liebe und Hass, Begierde und Tötungstrieb (75, 81 und 85) Vgl. Hegel 1988: 127-136; vgl. auch Kojève 1988: 20-47. Zur Dialektik in den Termini von Fürsich und Ansich vgl. Hegel 1988: 14f und 18f.

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soluten her.8 Das Bewusstsein erfährt die Gegensätzlichkeit von These und Antithese, Gegenstand und Begriff, um schließlich in der Synthese die Erfahrung zu machen, dass diese Gegensätzlichkeiten allein in einer bewusstseinsimmanenten Differenz, in einer Disjunktion der Bewusstseinsoperationen begründet sind. In der Synthese erfährt das Bewusstsein, dass die Setzung einer antithetischen Struktur zwischen äußerem realen Gegenstand und Begriff ein Irrtum war, dass diese antithetische Struktur nicht existiert, weil der äußere reale Gegenstand als solcher niemals existierte, sondern immer nur eine vom Begriff unterschiedene Operation des Bewusstseins selbst war. Auf einer bestimmten Stufe erschien der Gegenstand dem Bewusstsein als ein sinnlicher, substanzieller, objektiver, aber das war nur eine Erscheinung, die nachträglich, aus der Perspektive eines weiter entwickelten Bewusstseins als Schein decouvriert werden kann.9 Und ebenso wie das Sein des Gegenstands nichts ist als das Bewusstsein selbst, das sein Sein auf einer bestimmten Stufe in Form der sinnlichen Gewissheit am Gegenstand hat, so ist auch der Begriff nicht vom Sein, von der Bewegung des Bewusstseins zu trennen. Auch der 8

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Žižek legt dar, dass der dialektische Prozess bzw. das operationale Konzept des Bewusst-Seins als Bewegung des Begriffs nicht allein Inhalt, sondern zugleich die Methode, die dem Hegel’schen Denken inhärente Figur, konstituiert (vgl. Žižek 2001: 117). Auch Liebrucks und Marx argumentieren auf dieser Linie. „Hegel fragt nicht, wie Bewußtsein verstanden werden müsse, wenn es wissenschaftlich genannt werden können soll, sondern gibt die Wissenschaft von dieser Möglichkeit. Es ist die Wissenschaft von der Erfahrung des Bewußtseins, die nur durch das Bewußtsein selbst erstellt werden kann. [...] Hegel geht insofern sprachlich vor, als er von vornherein nicht in der Subjekt-Objektrelation denkt, sondern in der Subjekt-Subjekt-Objektrelation. Wenn ich eine Wissenschaft von der Erfahrung des Bewußtseins, eine Wissenschaft davon geben will, wie das Bewußtsein seine Gegenstände erfährt und wie es sich darin selbst erfährt, so kann ich nicht mehr das transzendentallogische Verfahren üben, in dem „Erkenntnis von Gegenständen“ selbst zum Gegenstand gemacht wird. Ich muß vielmehr dem Bewußtsein in seinen Erfahrungen zusehen.“ (Liebrucks 1970: 1f) „Das Denken macht hier Erfahrungen, durch die es zunehmend die Natur seines Wissens und die in diesem Wissen vorgeschriebene Aufgabe durchschaut. Das Eigentümliche dieser Erfahrungsgeschichte liegt darin, daß sie zugleich an und mit der Sprache gemacht wird, genauer mit der Sprachform, in der Denken seinen Inhalt als einen „wahren“ auszusprechen versucht.“ (Marx 1967: 8) Und ganz in diesem Sinne präsentiert auch Hegel selbst die Phänomenologie in und mit der Vorrede als die Geschichte einer Erfahrung, die das Wissen mit sich und seinem Gegenstand macht und durch die es sich auf einem langen Weg von der unmittelbaren zur höchsten Wissensweise hervorbildet. „Denn wie und was von Philosophie in einer Vorrede zu sagen schicklich wäre, – etwa eine historische Angabe der Tendenz und des Standpunkts, des allgemeinen Inhalts und der Resultate, eine Verbindung von hin und her sprechenden Behauptungen und Versicherungen über das Wahre – kann nicht für die Art und Weise gelten, in der die philosophische Wahrheit darzustellen sei.“ (Hegel 1988: 3) Dagegen setzt die Phänomenologie es sich zum Ziel, die Bewegung des Geistes selber in operando mitzuvollziehen und auf diese Weise notwendig zu machen. „Es ist das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfange hat, und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist.“(Hegel 1988; 14) „Die Wirklichkeit dieses einfachen Ganzen aber besteht darin, daß jene zu Momenten gewordenen Gestaltungen sich wieder von neuem, aber in ihrem neuen Elemente, in dem gewordenen Sinne entwickeln und Gestaltung geben.“ (Hegel 1988: 10f) Vgl. Macho 1987: 84; Liebrucks 1970: 84.

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Begriff hat keine Wahrheit außerhalb des Bewusstseins: Das Bewusstsein selbst entwickelt sich im Begriff. Gegenstand und Begriff sind zwei unterschiedliche Erkenntnis- oder Sprechformen des Bewusstseins, ihre Beziehung ist dialektisch, d.h. differentiell und darin reflektiert, sie bilden keine dichotomische Opposition.10 Das Kapitel Herrschaft und Knechtschaft beschreibt diese Bewegung des Begriffs als eine Bewegung der Anerkennung. „Die Auseinanderlegung des Begriffs dieser geistigen Einheit in ihrer Verdopplung stellt uns die Bewegung des Anerkennens dar.“11 „Ich bin Ich nur dadurch und, was nicht zu vergessen ist, indem, also einmal weil, zweitens während ein anderer Ich Ich ist, und mich zugleich als Ich so anerkennt, wie Ich ihn als Ich anerkenne.“12 Der Moment der Anerkennung ist die jeweilige Abschlussskansion innerhalb eines nach den vermittelten Beziehungen von These, Antithese und Synthese strukturierbaren dialektischen Vollzugs, so wie er soeben beschrieben wurde. Es handelt sich also um den Moment, in dem das dialektische Umschlagen zwischen These und Antithese im Zuge einer Negation des Bewusstseins in sich – Synthese – aufgehoben wird. In der Synthese wird der Gegensatz zwischen These und Antithese als bewusstseinsimmanente Differenz erkannt bzw. anerkannt, und im selben Zug modifiziert sich das Bewusstsein, es transzendiert sich auf eine höhere Ebene des Wissens, der Erkenntnis.

3.3 Hassliebe zwischen Eins und Zwei bis zur Intervention von Drei In Herrschaft und Knechtschaft facettiert Hegel diesen Prozess der Aufhebung als Aufhebung von zwei entgegengesetzten Wesen: Die bewusstseinsimmanente Differenz zwischen Gegenstand und Begriff wird dargestellt als Differenz zwischen dem einen und dem anderen. Hegel beschreibt deren „ge10 Vgl. Hegel 1988: 5: „[...] ist die Verschiedenheit vielmehr die Grenze der Sa-

che; sie ist da, wo die Sache aufhört, oder sie ist das, was diese nicht ist.“ Vgl. auch ders. 14: „Die lebendige Substanz ist ferner das Sein, welches in Wahrheit Subjekt, oder was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des sich selbst Setzens, oder die Vermittlung des sich anders Werdens mit sich selbst ist. Sie ist als Subjekt die reine einfache Negativität, ebendadurch die Entzweiung des Einfachen, oder die entgegensetzende Verdopplung, welche wieder die Negation dieser gleichgültigen Verschiedenheit und ihres Gegensatzes ist; nur diese sich wiederherstellende Gleichheit oder die Reflexion im Anderssein in sich selbst – nicht eine ursprüngliche Einheit als solche, ist das Wahre.“ 11 Hegel 1988: 127. 12 Liebrucks 1970: 83; vgl. auch Liebrucks 1970: 82f: „Es ist nicht zuerst und kann dann vielleicht anerkannt werden oder nicht. Vielmehr verdankt es seine Existenz der Anerkennung. Das Selbstbewußtsein ist ferner auch „für sich“ nur indem und dadurch, daß es für ein anderes Selbstbewußtsein „für sich“ ist, d.h. daß es von diesem anderen Selbstbewußtsein, das selbst ein Fürsichseiendes ist, als Fürsichseiendes anerkannt ist. Dieses andere Selbstbewußtsein muß an ihm, dem ersten Selbstbewußtsein, das Fürsichsein erkannt haben.“; vgl. auch Liebrucks 1970: 85f: „Die Extreme aber sind Selbstbewußtsein. Es ist für sie, daß sie unmittelbar das andere Selbstbewußtsein sind und nicht sind. Es ist für das einzelne Selbstbewußtsein, daß es nur durch das Anerkennen des anderen Selbstbewußtseins anerkannt, d.h. aktuell wirklich ist.“

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doppelte Bedeutung“ als dialektische Interdependenz: „erstlich, es hat sich selbst verloren, denn es findet sich als ein anderes Wesen; zweitens, es hat damit das Andere aufgehoben, denn es sieht auch nicht das andere als Wesen, sondern sich selbst im andern.“ Also: es erkennt sich selbst im andern oder besser als anderen. Dieses Erkennen, das als Erkennen des Seins immer nur ein Verkennen ist, stellt sich nur ein um den Preis der Entfremdung, oder mit Hegel: des „Ausser-Sich-Seins“, des Sich-Selbst-Verlierens. Damit gibt Hegel exakt die Situation der beiden kleinen anderen vor, die Lacan im Spiegelstadium vorführt. Es sind nicht zwei selbständige fürsichseiende Wesen, es gibt nur zwei dialektisch oszillierende Momente: Ein außer sich seiendes Selbstbewusstsein findet sich im anderen Wesen, um im nächsten Moment dies Andere um seiner eigenen Selbstgewissheit willen aufheben zu müssen; damit aber hebt es sich selbst auf, denn es war nie anders als in diesem anderen Wesen, es fällt zurück in den Zustand des Außer-Sich. Das Verhältnis dieser beiden Pseudo-Individuen, die keine ganze, sondern nur eine diskrete Zwei machen, impliziert nach Hegel einen destruktiven Impuls, nämlich den zur Negativierung des jeweils anderen. „Was anderes für es ist, ist als unwesentlicher, mit dem Charakter des Negativen bezeichneter Gegenstand. Aber das Andre ist auch ein Selbstbewußtsein.“ Auch das andere kann seine „eigene Gewißheit von sich“, die „noch keine Wahrheit“ ist, nur in Form der Negation des einen behaupten.13 Lacan bringt es auf den Punkt: „Jede imaginäre Beziehung produziert sich in einer Art Du oder Ich [...] Das heißt: Bist du’s, dann bin ich nicht. Bin ich’s, dann bist Du’s der nicht ist.“14 Daraus folgt die aggressiv-erotische Grundspannung der Spiegelbeziehung: Der andere ist das zugleich auratisierte und zutiefst verhasste Geschöpf. Es geht ums Sein, immerhin, also um einen Kampf auf Leben und Tod: der eine oder der andere. Umso spannungsgeladener und fieberhafter, als es hier nicht zwei, sondern nur ein Sein gibt, nämlich jenes dialektische Oszillieren, bei dem das Sein des einen und das Sein des anderen permanent ineinander umschlagen. Diese Spiegelbeziehung, schreibt Lacan, „hat keinen anderen Ausweg – wie Hegel uns lehrt – als die Zerstörung des andern. Das Begehren des Subjekts kann sich in dieser Beziehung allein durch absolute Konkurrenz betätigen [...] jedesmal, wenn wir uns, bei einem Subjekt, dieser primären Entfremdung nähern, erzeugt sich die allerradikalste Aggressivität – das Begehren nach dem Verschwinden des andern.“15

So die ausweglose Situation zwischen zwei kleinen anderen, die, um sich konstituieren zu können, absolut aufeinander angewiesen und darum einander in Liebe und Hass, in Faszination und äußerster Aggressivität verkettet sind. „Wir müssen verstehen, daß dies Spiel, als solches, eines von Flamme und Feuer ist und, sobald das Subjekt fähig ist, etwas zu tun, in der unvermittelten Vernichtung gipfelt. Und, Sie können mir glauben, es ist dazu sehr schnell fähig.“16 Die unvermittelte Vernichtung, die Implosion dieser beiden fanatischen anderen, die Figur des Hegel’schen Mords ist unabwendbar, wenn anders es 13 14 15 16

Hegel 1988: 129f. Vgl. auch ders. 11-19. Lacan 1991b: 216. Lacan 1990: 217f. Lacan 1990: 220.

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nicht zur Negation der Negation im dialektischen Sinne einer Aufhebung kommt. Mit Lacan: wenn nicht ein Dritter, eine symbolische Gesetzesfunktion17, in die alternierende Zweierbeziehung des einen oder anderen interveniert. Bei Hegel wird die Sackgassensituation, der operationale Kurzschluss zwischen zwei einfachen, alles außer sich annullierenden Fürsichsein, aufgelöst durch den dritten dialektischen Moment der Synthese: die reine Abstraktion auf ein höheres Selbstbewusstsein hin. Im Kontext der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft legt Hegel diese Synthese dar als Form der reinen Anerkennung. Die beiden wechselweise ineinander umschlagenden anderen externalisieren die Struktur ihrer eigenen dialektischen Verhaftetheit, sie erkennen sich selbst als Bewegungen oder unterschiedliche zeitliche Momente ein und desselben Selbstbewusstseins, „sie anerkennen sich, als gegenseitig sich anerkennend“18.

3.4 Tod Hegel zufolge vollzieht sich diese gegenseitige Anerkennung über eine Anerkennung des Todes, der Mortalität. Er hatte den dialektischen Wechsel des einen und des anderen als einen Kampf auf Leben und Tod beschrieben, und das ist weit mehr als ein Bild. Denn überhaupt nur in einem solchen Kampf auf Leben und Tod kann das Selbstbewusstsein bei Hegel sich selbst bestimmen und bewähren.19 Erst angesichts des Todes und am „Daransetzen des Lebens“ gewinnt sich das Selbstbewusstsein als Fürsichsein, das ein anderes Selbstbewusstsein nicht mehr liquidieren muss. In der Antizipation des drohenden Todes erkennt sich das Individuum als ein sterbliches Individuum und ineins damit relativiert es die totalisierende Beziehung zum anderen. Erst dann hat das Individuum die dritte Stufe, die Wahrheit des Anerkanntseins als eines selbständigen Selbstbewusstseins erreicht. Wenn das Selbstbewusstsein erst in der Gegenwärtigung seines möglichen Todes in den Stand der Anerkennung gelangt, dann muss die Todesdrohung sicher völlig real und ernst gemeint sein. Allerdings würde der tatsächliche Tod die Dialektik zwischen dem einen und dem anderen sehr abrupt und höchst undialektisch beenden. „Selbstbewußtsein wird als Todesbewußtsein vermittelt; und dieses Todesbewußtsein wird als Bedingung und Resultat eines sozialen Prozeßes bestimmt. Der Tod wird also riskiert oder angedroht, er tritt in Erscheinung als Mord [...] Hegel hat sich indes gehütet, von Todeserfahrung zu sprechen oder gar zu behaupten, daß die Erfahrung des Mordes die Bildung des Selbstbewußtseins begünstigt. Die Drohung des Todes muß freilich gelten, in aller Ernsthaftigkeit; der faktische Tod würde dagegen den Anerkennungsprozeß abbrechen und vorschnell beenden.“20

Es geht also nicht um den realen oder faktischen Tod, nicht um das biologische Ableben eines Individuums. Der Tod fungiert als Chiffre, als Symbol 17 Zum Gesetz bei Freud, das an dieser Stelle nicht ausführlich rekapituliert wer-

den soll, vgl. Tholen 2000a. Vgl. auch Kap. 9, 10 und 11. 18 Hegel 1988: 129. 19 Vgl. Hegel 1988: 131. Vgl. auch Macho 1987: 83ff. 20 Macho 1987: 84.

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des Unbenennbaren, es ist ein symbolischer Tod, der den dritten Hegel’schen Moment der Synthese, der Anerkennung, konstituiert.

3.5 Zeit und Geschichte Ein sich in der Todesangst, im Schrecken der absoluten Negation offenbarendes Sterblichkeitsbewusstsein ist bei Hegel zugleich Preis und innerstes Konstituens des Selbstbewusstseins. Es liegt ein Abgrund zwischen dem Selbstbewusstsein bei Hegel und dem cartesischen Selbstbewusstsein, der Selbstgewissheit, von den vulgärpsychologischen Selbstbewussteinsprojekten der Egologie ganz zu schweigen. Lacan selbst betont diesen Abgrund und hebt zugleich auf die Konvergenz von Hegels Bewusstsein mit dem savoir de l‘inconscient, dem Wissen im Unbewussten, und gerade nicht mit der konventionellen Funktion der conscience ab.21 Bezogen auf den symbolischen Tod resultiert aus dieser Unbewusstheit, dass das Wissen um den Tod nichts ist, was sich jemals erfahren oder imaginieren ließe. Die beiden kleinen anderen, die Individuen Hegels, die mittlerweile auf Stufe 3 des dialektischen Prozesses gelandet sind, haben nicht etwa, sie sind vielmehr das Bewusstsein, das unbewusste Wissen ihrer eigenen Sterblichkeit. „Dieses Wissen vom Tode braucht keine Erfahrung des faktischen Todes, weder des eigenen noch des Todes der anderen Menschen. Es ist ein Wissen, ein Bewußtsein, das der Erfahrung die Form verleiht, selbst aber nicht erfahren werden kann. Hegel würde bestreiten, daß Menschen ein lern- oder vergeßbares Wissen von ihrem Tode haben; radikaler müßte er definieren: sie sind dieses Bewußtsein ihrer eigenen Sterblichkeit.“22

Die Versöhnung der beiden rivalisierenden anderen in der Einheit eines höheren Selbstbewusstseins, in der Anerkennung des Gesetzes des Todes, ist keine Operation des Ich, der Ort dieser Anerkennung ist nicht das Cogito. Was das cartesische Cogito erkennt, sind Identitäten, Signifikate, die aufgrund des zugrundeliegenden repräsentationstechnischen Modells die Dinge der Welt als Ganzes erfassen oder präziser: in der Imagination ersetzen. Das Hegel’sche Bewusstsein dagegen ist kein statisches, sich selbst transparentes Erkenntnisprinzip, und es ist auch keine Identität in der Zeit im Sinne des Kant’schen Prinzips der transzendentalen Apperzeption. Das Fortschreiten des Begriffs bei Hegel wird nicht kontrapunktiert durch die Kontinuität eines ich denke, vielmehr erweist sich das Fortschreiten selbst als Transformation, als fortlaufende Modifizierung eines als begriffliche Struktur konstituierten Bewusstseins.23 Lacan sieht das Forttragende des Hegel’schen Denkens gerade in dieser „Überwindung eines religiösen Individualismus“24: Das Subjekt beobachtet nicht länger ein Objekt oder einen Prozess (was ja nichts anderes heißt, als diesen Prozess zu objektivieren), sondern das Subjekt wird selbst 21 Vgl. Lacan 1991b: 93. 22 Macho 1987: 86. 23 Vgl. Hegel 1988: 16: „Was mehr ist, als ein solches Wort, der Übergang auch

nur zu einem Satze, ist ein Anderswerden, das zurückgenommen werden muß, ist eine Vermittlung.“ 24 Lacan 1991a: 96.

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zum Prozess. Die klassische Distinktion zwischen Subjekt und Objekt wird aufgehoben zugunsten einer Prozedur, der Prozedur des Hegel’schen Subjekts, die Differenzen erst aus sich heraus entfaltet (dekomprimiert, wie Lacan sagt). Zugleich lassen sich die Erfahrungen, die dieses Bewusstsein macht, nicht länger referenzialisieren in einer veritablen Objektwelt, sie stellen lediglich unterschiedliche Kadenzen des dialektischen Prozesses selbst dar, eine sukzessive Folge von Aufhebungen oder Reflexionen in sich. „Es muß dies auch für sich selbst, – muß das Wissen von dem Geistigen und das Wissen von sich als dem Geiste sein; das heißt, es muß sich als Gegenstand sein, aber eben so unmittelbar als vermittelter, das heißt aufgehobener, in sich reflektierter Gegenstand.“25 Das iterative Scheitern an der Wahrheit, das das Hegel’sche Bewusstsein im Takt dieser Kadenzen erfährt, ist kein Irrtum bezüglich einer objektiven Wahrheit wie bei Descartes, sondern lediglich Erfahrung der Vorläufigkeit der eigenen Bewusstseinsstufe. Lacan zufolge lässt sich in Hegels Konzept „eine letzte Teilung, eine letzte, wenn ich so sagen darf, ontologische Trennung“26 ausmachen, aus seinem Blickwinkel existiert eine genealogische Linie zwischen Hegel und Freud: Hegel präfiguriert das gespaltene Subjekt der Freud-Lacan’schen Psychoanalyse. Hegels Selbstbewusstsein und deren Nachkommen, die Subjekte Freuds und Lacans, sind Prozeduren, in Begriffen oder Signifikanten ablaufende Prozeduren, ihr Medium ist die Sprache27, und sie erkennen nicht, sondern sind als Versprachlichte, als Mediatisierte, Anerkennungen der Differenz. Der Hegel’sche Begriff stellt keinen statischen, in sich ruhenden, von Logos intubierten Moment der Wahrheit und Identität dar, sondern einen zeitlichen Vollzug, es ist ein historisiertes Subjekt, das sich in dialektischen Intervallen von Scheitern und Erkenntnis, Irrtum und Wahrheit, also gemeinsam mit der Weise, wie es seinen Gegenstand hat, transformiert.

3.6 Unbewusste Subjekt-Prozeduren Bei Hegel endet die Transformation im absoluten Wissen – das Bewusstsein erreicht seine Vollendung. Dieser Traum wird bei Lacan unwiderruflich zerschmettert. Davon abgesehen entfaltet Lacan die Genealogie des in differentiellen und dialektischen Schritten prozessierenden Unbewussten in zahlreichen Chiffren und nicht zuletzt der expliziten Übernahme des Begriffs der Anerkennung. Die Anerkennung bzw. der dritte Moment als Anerkennung des Gesetzes der Differenz taucht bei Lacan oft in personalisierter Form auf: als ein Dritter oder großer Anderer, der in die oszillierende Spiegelbeziehung interveniert und das Gesetz des Symbolischen errichtet. Das unbewusste Subjekt anerkennt die Relation zwischen dem einen und dem anderen als eine 25 Hegel 1988: 19. 26 Lacan 1991b: 96. 27 Vgl. Zizek 2001: 121: „Die elementarste Form der Entäußerung des Geistes ist

natürlich die Sprache: Wie Hegel immer wieder betont, kann sich unsere innere Erfahrung aller Spuren der äußeren Sinne nur entledigen und die Form eines reinen Gedankens annehmen, wenn sie erneut in einem bedeutungslosen Zeichen externalisiert wird; wir denken ausschließlich in Worten, in Sprache.“ Zur Interrelation von Sprache, Denken und Mediatisierung bei Hegel vgl. auch Kapitel 1.14.

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zeitliche subjekt- oder apparatimmanente Differenz. Der Übergang von der imaginären Relation des ich-oder-du zwischen Hybris und Lähmung zur symbolischen Relation des ich und des du ist die (nur im Unbewussten stattfindende) Anerkennung, dass ich und du nicht zwei reale Personen darstellen, sondern Elemente der Sprache, d.h. zwei zu einem bestimmten Zeitpunkt vom Subjekt eingenommene Plätze oder Positionen innerhalb einer differentiell konstituierten symbolischen Ordnung, an der das Subjekt vom dritten Moment an partizipiert, in die es sich einschreibt, die seine Geschichte transportiert. „Ich ist ein Verbalterm, dessen Gebrauch in einer bestimmten Referenz auf den anderen, die eine gesprochene Referenz ist, erlernt wird. Das ich wird in der Referenz auf du geboren.“28 Und an anderer Stelle heißt es: „Fortan tritt das Begehren des andern, das das Begehren des Menschen ist, in die Vermittlung der Sprache ein. Im andern, durch den andern wird das Begehren benannt. Es tritt in die symbolische Beziehung des ich und des du ein, in ein Verhältnis wechselseitiger Anerkennung und Transzendenz, in die Ordnung eines Gesetzes, das schon bereit ist, die Geschichte eines jeden Individuums einzuschließen.“29

In Anlehnung an Hegel verbindet Lacan diesen Moment der Verbalisierung mit dem Gesetz des Todes. Aus der Perspektive des Symbolischen ist die Geschichte des Subjekts im futurum exactum verziffert: Wer spricht, was sich einschreibt, was sich vom Signifikanten niederschlägt, wird auch immer schon gewesen sein, gerade weil es Spuren hinterlässt, die entzifferbaren Spuren eines sich in Dreierskansionen reintegrierenden Codes, gerade weil es nicht einfach als Blue Hour, als Stimme des Logos verklingt.30 Bevor das Subjekt durch das Gesetz des Todes zum Sprechen wird, zum Medium seiner eigenen, sich im Sprechen vollziehenden Geschichte, bevor es mediatisiert wird, korpsifiziert, mit allem, was aus englischen Wort corpse echot, gibt es nur den blinden, asphyktischen, den sprach- und erinnerungslosen Kampf zweier, die wie nie gewesen sein werden, nichts als Selbstdekonstruktion in schlechter Unendlichkeit, endend in den mythischen Nebeln eines Hegel’schen Mords. Denn im rein imaginären Bereich, vor dem Eingreifen der symbolischen Relation, ist alles volatil, vergänglich, verschwindend, „[erst] durch die Benennung läßt der Mensch die Objekte in einer gewissen Konsistenz bestehen. Stünden sie nur in einer narzisstischen Beziehung zum Subjekt, dann würden die Objekte immer nur in instantaner Weise wahrgenommen.“31 Nicht nur die Dinge müssen einen Namen bekommen – wäre das ausreichend, dann verbliebe man auf dem Niveau des punktförmigen, cartesischen Cogito, das die Dinge in der Vorstellung monopolisiert –, vielmehr muss das Subjekt selbst einen Namen tragen, den Namensstempel des symbolischen Todes. „Daß ein Name, wie konfus auch immer, eine bestimmte Person bezeichnet, genau darin besteht der Übergang zum menschlichen Zustand.“32 Das Subjekt muss sich beim großen Anderen anmelden. Es muss sich im Akt der Benennung registrieren lassen, das heißt die Todesstrafe via Enthauptung 28 Lacan 1990: 213. 29 Lacan 1990: 227. 30 Zu dieser Anspielung auf Derridas Kritik am Logozentrismus als Phonozen-

trismus vgl. Derrida 1993: 11f. 31 Lacan 1990a: 217. 32 Lacan 1990: 201.

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erleiden, mit Benn: „negativ verendet, nur als Schnittpunkt bejaht“33. Erst vom Akt der Namensgebung, Schicksalgebung, Tötung an ist die Geschichte des Subjekts im Symbolischen abrufbar, wobei der Name nicht die Person selbst repräsentiert (was einfach hieße, sie auf ein Objekt zu reduzieren, wie es in den imaginären Beziehungen zwischen den Wesen üblich ist), sondern das Subjekt von seinem Ende her determiniert. „Was die Wahrheit ist, ist weder das Sein noch das Nichts, sondern daß das Sein in Nichts und das Nichts in Sein - nicht übergeht, sondern übergegangen ist“34, schreibt Hegel, und Lacan nimmt es auf: „Was sich in meiner Geschichte (d.h. der des individuellen Subjekts) verwirklicht, ist nicht die bestimmte Vergangenheit (PASSÉ DÉFINI) dessen, was war, weil es nicht mehr ist, noch ist es das Perfectum dessen, was gewesen ist in dem, was ich bin, sondern die zweite Zukunft (futur antérieur) dessen, was ich gewesen sein werde, was ich dabei bin zu werden.“35

An die Stelle der abgeschlossenen Vollendung des Immer-schon-gewesenSeins tritt die unabschließbare Vollendung des Immer-schon-gewesen-SeinWird, eine antizipierte Nachträglichkeit anstelle einer Husserl’schen Präsenz. Nicht bei Hegel, aber bei Lacan ist die Vollendung des Immer-schongewesen-Sein-Wird unabschließbar, eine Ambiguität, die sich im futur antérieur reflektiert, das sowohl auf die Vergangenheit, als auch auf die Zukunft als Konjektur verweisen kann, zudem eine Ambiguität, in die Lacan sehr verliebt ist36. „Sie werden Freud wohl verstanden haben?“, fragt er gern. Zu Zei-

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Benn 1980: III 16. Hegel 1958: 88. Lacan 1991: 143. Neben dem Futur II macht Lacan Funktion von der Ambiguität des französischen Imperfekts, um die Zeitlichkeit des Subjekts zu logisieren, eine Zeit, ein Konzept von Zeit, in dem, ähnlich wie in den Konzeptionen Heideggers und Derridas, ein Moment der Anwesenheit, der Präsentifizierung des Sinns unmöglich ist. Das Imperfekt im Französischen indiziert nicht einfach ein Vorher, das war, aber nicht mehr ist; vielmehr kommt ihm ein Charakter des Unvollendeten zu, der ebenfalls ein Noch-Nicht bedeuten kann, der also in einem Nachher situiert sein kann, das die französische Grammatik als „Zukunft der Vergangenheit“ (futur du passé) darlegt. Diese Zukunft der Vergangenheit ist der zukünftigen Vergangenheit des futurum exactum genau korrelativ: Es geht nicht um eine tatsächliche Realität, nicht um einen Gegenwartsmoment, sei es ein vergangener, ein gegenwärtiger oder ein zukünftiger Gegenwartsmoment, vielmehr geht es um eine konjekturale Realität, um die Unentscheidbarkeit einer zeitlichkonjekturalen Trennung, die aus der Differentialität des Signifikanten resultiert. Der signifikante Prozess realisiert sich, das Gesetz der Hegel’schen Dialektik gibt es vor, immer nur als ein zwischen-zweien, als eine temporale Spannung zwischen Irrtum und Wahrheit, zwischen An-sich und Für-sich, dem einen und dem anderen. Im Kontrast zum Zeichenmodell der Repräsentation verweist der Signifikant nicht auf ein Signifikat, auf die Anwesenheit eines unzweideutigen Sinns, sondern immer nur auf einen anderen Signifikanten. Das Signifikat konstituiert sich im Verlauf dieser Prozedur immer nur als ein nachträglicher oder antizipatorischer Effekt, jedoch niemals in jenem Moment der Gegenwart, der allein seine Identität, sein Mit-sich-identisch-sein logozentrisch garantierte. Das unbewusste Subjekt ist also einerseits streng determiniert durch sein Sein zum Tode, andererseits ist dieser Determinismus eines im zweiten Futur geschriebe-

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ten von Konjekturalwissenschaft und Kybernetik geht das absolute Wissen in andere Dimensionen ein. Der Name ist die Zeit der Sache – „Das Wort entspricht nicht der räumlichen Distinktion des Objekts, die immer bereit ist, sich in einer Identifikation mit dem Subjekt aufzulösen, sondern seiner zeitlichen Dimension [...] Der Name ist die Zeit des Objekts“37 –, er ist die Zeit des Subjekts, und er benennt eine Geschichte, deren Struktur nicht narrativ, sondern diskret ist. Keine Geschichte im Sinne von Narration, nicht die Pralinenschachtel-Melancholie von Erinnerungen, nicht die Biographie eines Ego zwischen Gipfeltreffen in Rom und Eröffnung der Badesaison in Kellenhusen. Der Name bezeichnet die symbolische Geschichte als Botschaft eines unbewussten Begehrens, einen Code aus Nullen und Einsen, dem sich Subjekte zu Lacans Zeiten unterwerfen müssen. „Jede Maschine kann auf eine Reihe von Relais reduziert werden, die einfach aus Plus oder Minus bestehen. Alles in der symbolischen Ordnung kann mit Hilfe einer derartigen Abfolge dargestellt werden.“38 Im Moment der Namensgebung nimmt das Subjekt „seinen Platz ein und spielt in ihm die Rolle der kleinen Plus und Minus. Es ist selbst ein Element in dieser Kette, die sich, sobald sie entrollt wird, gesetzmäßig organisiert“39. Computer sind die Orte der menschlichen Kultur. Computer, Müll40 – und Grabmäler.

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nen Schicksals allen Zufällen, Kontingenzen, Konjekturen und Ambiguitäten ausgeliefert, die das französische Imperfekt impliziert. Lacan 1991b: 217. Vgl. auch Lacan 1990: 304f: „Erinnern Sie sich an das, was Hegel über den Begriff sagt – Der Begriff ist die Zeit der Sache. Sicher, der Begriff ist nicht die Sache als solche, aus dem einfachen Grund, daß der Begriff immer da ist, wo die Sache nicht ist, er sich einstellt, um die Sache zu ersetzen, wie der Elephant, den ich kürzlich vermittels des Wortes Elephant in den Saal hab' eintreten lassen. Wenn das einige von Ihnen so betroffen gemacht hat, so weil der Elephant tatsächlich da war, sobald wir ihn genannt hatten. Was kann dasein, von der Sache? Es ist weder ihre Form, noch ihre Realität, denn im Augenblick sind alle Plätze besetzt. Hegel sagt es mit großer Strenge – der Begriff ist das, was die Sache dasein läßt, während sie nicht da ist. Diese Identität in der Differenz, die das Verhältnis des Begriffs zur Sache charakterisiert, ist auch das, was macht, daß die Sache Sache ist und daß das fact symbolisiert wird, wie man uns eben gesagt hat. Wir sprechen von Sachen und nicht von etwas Xbeliebigem, das immer unidentifizierbar bleibt. Heraklit überliefert es uns – wenn wir die Existenz der Sachen in eine absolute Bewegung setzen, so daß der Strom der Welt nie zweimal dieselbe Situation durchfließt, so genau darum, weil die Identität in der Differenz schon in der Sache gesättigt ist. Daraus leitet Hegel ab, daß der Begriff die Zeit der Sache ist. Wir befinden uns hier im Herzen des Problems dessen, was Freud vorbringt, wenn er sagt, das Unbewußte sei außerhalb der Zeit angesiedelt. Das ist wahr, und das ist nicht wahr. Es siedelt sich außerhalb der Zeit an genau wie der Begriff, weil es von selbst die Zeit ist, die reine Zeit der Sache, und, weil es als solche die Sache in einer bestimmten Modulation reproduzieren kann, deren materielle Stütze gleichgültig was sein kann. Um nichts anderes geht es im Wiederholungszwang. Diese Bemerkung wird uns sehr weit führen.“ Lacan 1991b: 235. Lacan 1991b: 245. Vgl. Lacan 1996: 281: „Vergessen wir in der Tat nicht, daß dies seit jeher eine der Dimensionen ist, an denen deutlich wird, was der sanfte Träumer so nett die Vermenschlichung des Planeten genannt hat. [...] Wo immer sich ein ungeordneter Haufen von Abfällen findet, gibt es Mensch. Auch die geologischen Epo-

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3.7 Grabmäler Das Grabmal ist ein Zeugnis der menschlichen Kultur als einer solchen, die keiner natürlichen Ordnung korrespondiert wie das Reich der Tiere, sondern die sich einfügt in eine ex-sistierende Ordnung vom Charakter eines transzendenten Immer-Schon. Die Tatsache, dass der Mensch einen Grabstein besitzt als Symbol jenes Namens, der dem Subjekt einen Ort, eine Adresse im Symbolischen zuweist, unter der dieses auch nach seinem biologischen Exitus erreichbar sein wird, ist es, was den Menschen zum Menschen macht. „Ich insistiere – die symbolische Ordnung muß als etwas Aufgesetztes betrachtet werden, ohne daß es kein animalisches Leben geben könnte für dieses seltsame Subjekt, das der Mensch ist. Auf jeden Fall sind die Dinge uns gegenwärtig so gegeben und alles läßt uns denken, daß es immer schon so gewesen ist. Denn jedesmal, wenn wir ein Skelett finden, nennen wir es menschlich, wenn es in einem Grab ist. Welchen Grund kann es dafür geben, diesen Rest in eine Einfriedung aus Stein zu legen? Schon dafür war es notwendig, daß eine ganze symbolische Ordnung eingerichtet wurde, die einschließt, daß die Tatsache, daß ein Herr in der sozialen Ordnung ein Herr Soundso war, verlangt, daß man dies auf dem Grabstein vermerkt. Die Tatsache, dass er Sowieso hieß, übersteigt an sich seine gelebte Existenz. Dies setzt keinen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele voraus, sondern nur, daß sein Name nichts mit seiner lebenden Existenz zu tun hat, daß er sie übersteigt und sich jenseits von ihr erhält.“41

3.8 Gesetz der Differenz Es ist die Differenz, die anerkannt wird. Das Gesetz des symbolischen Todes ist ein Gesetz der Differenz. Als ein solches lässt es sich gerade nicht imaginieren, nicht konkretisieren, nicht reduzieren auf ein bestimmtes Gesetz. Dachen haben ihre Abfälle hinterlassen, sie erlauben uns, eine Ordnung zu erkennen. Die Berge von Schmutz – sie sind eine der Seiten menschlicher Dimension, die man nicht verkennen sollte.“ 41 Lacan 1990a: 130. Vgl. auch Lacan 1991: 166: „Dieses Leben allein überdauert und ist wahrhaftig, denn es wird, ohne sich zu verlieren, in einer ununterbrochenen Tradition von Subjekt zu Subjekt übermittelt. Wie kann man nur übersehen, wie weit es jenes ererbte Leben des Tieres transzendiert, in dem das Individuum in der Gattung verschwindet, da kein Grabmal seine ephemere Erscheinung von der unterscheidet, die es in der Unveränderlichkeit des Typus wieder hervorbringt. Läßt man jene hypothetischen Mutationen des phylum beiseite, die von einer Subjektivität, der der Mensch sich vorerst nur von außen nähert, integriert werden müssen, so unterscheidet sich durch nichts außer durch die Experimente, denen der Mensch sie unterwirft, eine Ratte von einer Ratte, ein Pferd von einem Pferd, es sei denn durch diesen haltlosen Übergang vom Leben zum Tod, während Empedokles, der sich in den Ätna stürzt, im Gedächtnis der Menschen diesen symbolischen Akt seines Seins zum Tode für immer lebendig erhält.“ Vgl. auch Zizek 1991: 106: „Genau aus diesem Grunde repräsentiert das Begräbnisritual die Symbolisierung in ihrer reinsten Form; durch das Begräbnisritual wird der Verstorbene eingeschrieben in den Text der symbolischen Tradition, was ihm, trotz seines Hinscheidens, ein „Weiterleben“ im Gedächtnis der Gemeinschaft garantiert.“

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rin ist es vergleichbar mit Derridas différance, die nicht auf einen bestimmten Begriff gebracht werden kann, sofern die différance sich nur als Differenz zwischen-zweien realisiert, sofern es eine Spur ist, die alle Begriffe generiert und zugleich durchstreicht, mit ihrer eigenen unmöglichen Identität markiert.42 An einer Stelle stellt Lacan dem akademischen Diskurs eine seiner fatalistischen Diagnosen: „Was wäre gewöhnlicher als: zu identifizieren! Darin scheint sogar die wesentliche Denkoperation zu bestehen.“43 Im Gegensatz dazu dreht und windet sich sein Diskurs mit höchster Leidenschaft darum, Identifikation und Konstruktion eines eindeutigen Sinns zu vermeiden. Mit anderen Worten: es geht darum, das Gesetz, die Differenz, anzuerkennen, wieder und wieder im Verlauf eines Diskurses in actu. Lacans Signifikanten landen niemals bei einem eindeutigen Signifikat, um dort repräsentationslogisch als volle Bedeutungen zu gelieren. Lacans Signifikanten produzieren genau wie Derridas Bewegung der différance und wie Hegels Fortschreiten des Begriffs (von dessen großem idealistischen Finale abgesehen) nur temporäre Bedeutungen, Bedeutungseffekte, die schon im nächsten Schritt wieder durchgestrichen, zu reinen Signifikanten zerlegt und rekombiniert werden, um das Gesetz zu realisieren, um sich neu zu verschlüsseln und zu restituieren.44 Es ist eine wahrhaftige Inszenierung: eine metonymische Revue durch die Wissenschaften, durch Linguistik, Mengenlehre, Poesie, Topologie, Politik, Philosophie, Signaltheorie, Physik, Mikrobiologie, Magie. Er durchquert und piratisiert alle möglichen Diskurse, er dekonstruiert wie Derrida die sicheren Bedeutungen des Logozentrismus, er verstört und scheucht auf, er verrätselt und dialektisiert, allerdings ohne Apokatastasis beim Absoluten.45 Und in den jeweiligen Skansionen des Dritten, des symbolischen Gesetzes, entfallen dieser Reise die unterschiedlichsten Blüten: Lacan präsentiert das nicht-repräsentierbare Gesetz des Symbolischen in verschiedenen, historisch weit auseinanderliegenden Wissensfeldern, er identifiziert es nicht, aber er übersetzt es in verschiedene Gesetze verschiedener Diskurse. Das Gesetz des Symbolischen ist das Gesetz, das die Differenz einführt, es ist die Heraufkunft der Sprache, die Einschreibung des nom-du-père, es ist ein Grabmal, es ist ein Akt der Namensgebung, ein Heidegger’scher Wurf, es ist die Freudsche Operation Ödipus46 und die Operation Nullmenge zu Ehren von John von Neumann, es ist der Eintritt in die Welt der Arbeit (Lacan arrangiert ein Rendezvous von Hegel und Marx), es ist ein Akt der Digitalisierung reeller Zahlen, ohne den die Computer nicht liefen, es ist eines jener Axiome, die einerseits ein formales System begründen, die sich aber andererseits, beim Versuch, sie aus dem System selbst abzuleiten, zu Antinomien entzünden – der Begriff der différance lässt sich nicht auf sich selbst anwenden, das symbolische Gesetz lässt sich nicht objektivieren. Stets geht es dabei um eine strukturelle Verbindung von Gesetz, Differenz und Tod. Das Gesetz des Dritten schlägt zu im wahnhaft kontingenten Moment einer Klüftung, die am Beginn jedes symbolischen als eines Systems 42 43 44 45 46

Derrida 1988: 30. Lacan 1987: 257. Vgl. hierzu Kap. 8. Zu Lacans Diskurs vgl. Kap. 10.7. Zu einer ausführlich Herleitung des Lacan’schen Spiegelstadiums aus den Texten und Theorien von Freud vgl. Tholen 2002: 72-83.

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von Differenzen steht. Hierin offenbart sich zugleich der radikal dezisionistische, unbegründbare Charakter des Gesetzes. Es gibt einen bestimmten kontingenten Moment, ein Sprechen, in dem ein Symbol emergiert. Etwas wird aus dem Jenseits, der Sphäre des Unausdenkbaren und Unbenennbaren, des Realen, ins Diesseits, das heißt in die Welt des Benennbaren, die Welt der Symbole und Begriffe befördert. Das vorbegriffliche Reale wird begrifflich gefasst. An der Stelle, an der zuvor oder jenseits das Undenkbare war, erscheint ein Symbol. Und erst dieses Symbol ermöglicht die Denkbarkeit und Vorstellbarkeit dessen, was zuvor uneinholbar war, sofern das Symbolische sich an die Sphäre des Imaginären anheftet. „Vor dem Sprechen ist weder nichts, noch ist nicht nichts. Alles ist schon da, zweifellos, aber allein mit dem Sprechen gibt es Dinge, die sind – die wahr oder falsch sind, das heißt, die sind – und Dinge, die nicht sind.“ Im Akt der symbolischen Tötung „gräbt sich ins Reale das Loch, die Kluft des Seins als solchen“47. Das Gesetz ist keines, das zwischen Leben und Tod, Sein und Nicht-Sein unterscheidet, das Gesetz ist jene Instanz, die die Unterscheidung als eine symbolische Opposition und damit die sogenannte Realität, sofern sie stets auf einer symbolischen Ordnung fußt, erst einführt. Das Gesetz des Symbolischen ist kein Verbot, sondern ein Freud’sches Existenzurteil48, es ist kein Gesetz, das vorschreibt, was sein darf und was nicht, sondern vielmehr eines, das statuiert, was möglich und was unmöglich ist. Und weiter ein Gesetz, das transzendiert werden kann, mehr noch, das seine eigene Transzendierung nahelegt und, mehr noch, kommandiert – in Form eines Sprechens, einer guten Wiederholung, die Arbeit der Psychoanalyse. „Was ist Unwissenheit? Es ist das gewiß ein dialektischer Begriff, denn allein in der Perspektive der Wahrheit konstituiert sie sich als solche. Wenn sich das Subjekt nicht in bezug zur Wahrheit setzt, gibt es keine Unwissenheit. Wenn das Subjekt nicht anfängt, sich die Frage zu stellen, was es sei, gibt es keinen Grund, aus dem es ein Wahres und ein Falsches, nicht einmal, darüber hinaus, Wirklichkeit und Erscheinung geben kann. Vorsicht, wir fangen an, voll in die Philosophie zu geraten. Sagen wir, die Unwissenheit konstituiert sich polar zur Beziehung auf die virtuelle Position einer zu erreichenden Wahrheit. Das ist also ein Zustand des Subjekts, sofern es spricht.“49

3.9 Mythen und Computer Lacan präsentiert das Gesetz des Dritten als einen Akt der Formalisierung reeller Zahlen. Die Operationen des Unbewussten lassen sich darstellen (nicht identifizieren!) als computerimplementierte Algorithmen, als diskrete Prozessionen von Signifikanten.50 Computer (und unbewusste Subjekte) können nur digitalisierte Werte verarbeiten, nur digitale und keine reellen Zahlen. Das reale Sein muss, um als unbewusstes Subjekt diskrete Elemente prozessieren zu können, geklüftet, es muss diskretisiert werden. Ein Beispiel für ein solches Gesetz der Digitalisierung liefert Alan Turing mit seiner Faustregel: 47 48 49 50

Lacan 1990: 289. Vgl. Freud 1999: XIV 12-15. Lacan 1990: 214. Vgl. hierzu Bitsch 2001 Kap. 1.

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Eine Faustregel will keiner metaphysischen Wahrheit gerecht werden, sondern eine zu Kriegszeiten überlebensnotwendige Maschine operationalisieren.51 Die reellen Zahlen, vorstellbar als Dezimalzahlen mit unendlichen Stellen hinter dem Komma, müssen symbolisch verkürzt werden, und so wird der Computer, ohne dass eine philosophische Überlegung über Sinn und Unsinn des Gesetzes voraufgegangen wäre, mit der Faustregel instruiert: Runde nach der fünften Dezimalstelle ab. Es hätte auch die sechste oder siebte Stelle nach dem Komma sein können, die Faustregel ist eine Ur-Sache, ein bis zur Gottlosigkeit unmotiviertes Gesetz. Das symbolische Netz strukturiert und reguliert die Wirklichkeit, und wie jedes symbolische System ist es synchronisch kohärent und vollständig, aber nur sofern es auf einem Set von Axiomen und Gesetzen basiert. Im dritten Seminar korreliert Lacan die Momente von Tod und Zeugung innerhalb der menschlichen Kultur mit der modernen Axiomatik. Axiome im modernen Sinne sind reine Setzungen jenseits jeder philosophischen Wahrheitsfrage, die die Kohärenz und Widerspruchsfreiheit eines formalen Systems absichern.52 Jedoch können diese Axiome aus dem System selbst nicht deduziert werden: Kurt Gödel, 1931, Unvollständigkeitstheorem.53 Die Widerspruchsfreiheit eines formalen Systems T kann nicht mit formalen Mitteln bewiesen werden; für einen solchen Beweis bräuchte es ein mächtigeres System T1, dessen Widerspruchsfreiheit jedoch wiederum nicht in ihm selbst hergeleitet werden kann. Die Fragen der Vollständigkeit (Entscheidungsdefinitheit) und Widerspruchsfreiheit formaler Systeme der Mathematik müssen negativ beantwortet werden.54 Dasselbe gilt für den Moment der Zeugung in der symbolischen Ordnung des Menschen: „Es gibt etwas, das dem symbolischen Einschlagfaden entwischt, die Zeugung in ihrer wesentlichen Wurzel – daß ein Sein aus einem anderen geboren wird [...]. Im Symbolischen erklärt nichts die Schöpfung.“55 Im Kontext der Gödel’schen Logik entspricht dieser inaugurale – dritte – Moment, das Infunktiontreten des Gesetzes des Todes, jenen elementaren axiomatischen Setzungen, die symbolisch nicht bewiesen oder hergeleitet werden können. Seinsklüftung, ein Akt wie ein Rasiermesserschnitt, diskret, verhängnisvoll, unausdenkbar. „Es ist uns absolut unmöglich, über das, was [...] vorausging, anders zu spekulieren denn mit Hilfe von Symbolen, die immer schon haben angewandt werden können.“ Niemand kann den Schritt zurück durch die Wand gehen, jenseits der die Ordnung begann. Das Denken taucht erst nach der symbolischen Ordnung auf, es gibt für Lacan kein vorbegriffliches Denken. Unter dieser Vorgabe kann die Theorie des Spiegelstadiums als Theorie einer vorsprachlichen Etappe unmöglich auf empirische Beobachtungen oder Erfahrungen zurückgehen. Zwar präsentiert Lacan mehrfach eine spezielle Beobachtung im Zusammenhang des Spiegelstadiums: die legendäre Szene vor dem Spiegel, jenes „ursprüngliche Abenteuer, in dem der Mensch zum ersten Mal die Erfahrung macht, daß er sich sieht, sich reflektiert und sich als an-

Vgl. Hagen 1994: 153. Vgl. auch Kittler 1989. Vgl. Meschkowski 1966: 158ff. Vgl. Krämer 1988: 146-150. Vgl. Bitsch 2001 Kap. 13.1. Vgl. auch Tholen 2002: 172: „Jeder Grundsatz, d.h. jedes Axiom, verdankt sich dem Grund-Satz bzw. Grund-Riß des Setzens, welches, um überhaupt möglich zu sein, nichts vor sich liegen hat.“ 55 Lacan 1990a: 238. 51 52 53 54

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ders begreift als er ist“.56 Aber er verweist dabei stets auf die Schranke, die zwei unvereinbare Zeit-Bereiche trennt, und es ist genau diese Schranke, die alle empirischen psychologischen Theorien zum kindlichen Spracherwerb großzügig verkennen. Die Schranke fällt mit dem dritten Moment Hegels, mit der Aufrichtung des Gesetzes, das den Eintritt in eine symbolisch regulierte Wirklichkeit ermöglicht, womit jedoch zugleich alles, was vorher geschah, mit der Marke des Unwirklichen, des Virtuellen, mit einer mythischen Vorzeitigkeit geschlagen wird. Was vor dem Gesetz, Gesetz der Sprache und Wirklichkeit, liegt, ist uneinholbar und entzieht sich jeder Empirie. Lacans Psychoanalyse ist als Fortsetzung der Freud’schen Erfahrung eine Wissenschaft des Realen, nicht der Realität. Sie navigiert mit Mythen und kybernetischen Formalismen, sie unterstellt sich dem Gesetz des Symbolischen, dem Gesetz der Differenz, und damit auch einer differentiellen oder logischen Zeit.57 Aus der Perspektive dieser logischen Zeit heraus beschreibt Lacan das Spiegelstadium. Die „Vorzeitigkeit [des Spiegelstadiums, Anm. d. Verf.] ist nicht chronologisch, sondern logisch, und wir gehen hier nur deduktiv vor.“58 Was Lacan über die Bedingungen des Spiegelstadiums schreibt, gilt nicht weniger für die Theorie des Spiegelstadiums selbst. Die dialektische Oszillation zwischen dem einen und dem anderen, „die konstitutive Rivalität der Erkenntnis im Reinzustand ist offenbar eine virtuelle Etappe.“59 Die oszillatorische Spiegelbeziehung, das Imaginäre in Reinform, ist eine black box: Aufgrund ihrer Vorsprachlichkeit und Vorzeitigkeit kann sie nur retrospektiv, anti-genetisch, formalisiert werden. Im Moment des Immer-schon konvergieren Hegel und Lacan. Immerschon ist auch der Ausgangspunkt von Hegels Phänomenolgie, die so wenig wie Lacans Spiegeltheorie Entwicklungspsychologie betreibt.60 Hegels Beschreibung des dialektischen Prozesses ist die „Rekonstruktion eines Anerkennungsprozesses, der als Wirklichkeit immer schon vollzogen ist“61. Das absolute Wissen ist immer schon, sonst könnte es nicht dialektisch entwickelt werden, das Gesetz muss bereits eingeschrieben sein, sonst könnte sich gar nichts schreiben. Was sich auf der Couch der Psychoanalytiker in Symptomen und Signifikanten-Fieberhalden produziert, ist nie einer wahren Erkenntnis korrelativ, sondern gesetzesgemäß Anerkennung einer unüberbrückbaren Differenz zwischen einem in seiner Unmittelbarkeit und Vorzeitigkeit unzugänglichen Ereignis und dessen retrospektiver Ver- oder Entziffe-

56 Lacan 1990: 105. 57 Der Begriff der logischen Zeit muss an dieser Stelle kommentiert werden, da

58 59 60

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Lacan selbst ihn in zweifacher Hinsicht vewendet. Zum einen spezifiziert er die berühmte, im Gefangenensophisma notierte Theorie der logischen Zeit, auf die in diesem Kontext nicht eingegangen werden kann, zum anderen jedoch adaptiert Lacan den Begriff auch für die mit der Diskretisierung verbundene Revision des Denkens der Zeit; diese wird im Kapitel 5 dieses Buches ausführlich diskutiert. Lacan 1990: 218. Lacan 1991b: 69. Vgl. auch Tholen 2002: 76: „Daß der sekundäre Narzissmus oder das Spiegelstadium nicht als linearer Fortschritt einer entwicklungspsychologischen Reifung eines natürlichen „Ichs“ zu verkennen ist, hat uns das Moment der zeitlichen Kluft gezeigt, ohne die das antizipatorische Springen zwischen Selbstbild und Vorbild nicht prozessieren könnte.“ Vgl. Macho 1987: 84.

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rung. Wahrheit ist immer nur halbe oder relative Wahrheit, sowohl in Bezug auf das Vergangene, als auch in Bezug auf das futurum exactum der Prozedur, das jeden Begriff durchgestrichen haben wird. Er salutiert Hegel, aber zugleich erinnert er daran, dass die Ur-Sache sich aller Wahrscheinlichkeit nach bis zum Ende aller Zeiten in der Ambulanz der Ursachen wiederfinden wird, dass es (aller Wahrscheinlichkeit nach bis zum Ende aller Zeiten) unmöglich sein wird von der Freud’schen Erfahrung nicht betroffen zu sein. „Es ist klar, daß der Irrtum einzig in Termen der Wahrheit definierbar ist. Aber es geht nicht darum, zu sagen, daß es keinen Irrtum gäbe, wenn es keine Wahrheit gäbe, wie es kein Weiß gäbe, wenn es kein Schwarz gäbe. Die Sachen gehen weiter – es gibt keinen Irrtum, der sich nicht als Wahrheit setzte und lehrte. Um alles zu sagen, der Irrtum ist die habituelle Verkörperung der Wahrheit. Und wenn wir ganz streng sein wollen, werden wir sagen, daß, solange die Wahrheit nicht vollkommen enthüllt sein wird, das heißt nach aller Wahrscheinlichkeit bis ans Ende der Zeiten, es zu ihrer Natur gehören wird, sich unter der Form des Irrtums auszubreiten. Man braucht die Sachen nicht viel weiter zu treiben, um darin eine konstitutive Struktur der Enthüllung des Seins als solchen zu sehen. [...] Der Irrtum erweist sich als solcher dadurch, daß er, in einem gegebenen Augenblick, in einen Widerspruch mündet. Wenn ich damit angefangen habe, daß ich sagte, die Rosen seien Pflanzen, die im allgemeinen unter Wasser leben, und es sich in der Folge ergibt, daß ich einen Tag lang unter Wasser bleiben kann, erscheint in meinem Diskurs ein Widerspruch, der die Scheidung zwischen der Wahrheit und dem Irrtum macht. Daher die Hegelsche Konzeption des absoluten Wissens. Das absolute Wissen ist dasjenige Moment, in dem sich die Totalität des Diskurses in sich selber zu vollkommener Widerspruchsfreiheit schließt, und zwar soweit, und darin einbegriffen, daß es sich setzt, expliziert und rechtfertigt. Bis wir von hier aus dies Ideal erreicht haben! Sie kennen nur zu gut den andauernden Disput über alle möglichen Themen und alle möglichen Sujets, mit mehr oder weniger großer Ambiguität je nach den Zonen des zwischenmenschlichen Handelns, und die offenbare Mißhelligkeit zwischen den verschiedenen symbolischen Systemen, die die Handlungen ordnen, den religiösen, rechtlichen, wissenschaftlichen, politischen Systemen. Es gibt weder eine Überlagerung, noch eine Konjunktion dieser Referenzen, zwischen ihnen gibt es Klüfte, Spalten, Risse. Deshalb können wir den menschlichen Diskurs nicht als einheitlich auffassen. Jede Aussendung des Sprechens ist immer, bis zu einem gewißen Punkt, in einer internen Notwendigkeit des Irrtums befangen. Damit sehen wir uns also, anscheinend, zu einem historischen Pyrrhonismus geführt, der den Wahrheitswert alles dessen, was die menschliche Stimme aussenden kann, suspendiert, ihn suspendiert in der Erwartung einer künftigen Totalisierung.“62

Es geht um mehr als nur Formalisierung eines an sich unergründbaren Ursprungsgeschehens, es geht um Leben, Tod und Psychoanalyse. Es geht um die Effekte eines Gesetzes, das ineins Mortifikation und Fluch zur Schlaflosigkeit ist63, um den Widerhall und die Rückwirkung von etwas, das zwar lo62 Lacan 1990: 330-332. 63 Vgl. Lacan 1991b: 296: „Das Leben denkt nur daran, soviel wie möglich zu ru-

hen, indem es den Tod erwartet. Das zehrt die Zeit des Säuglings zu Beginn seiner Existenz auf, in stündlichen Abschnitten, die ihn von Zeit zu Zeit nur ein Äuglein öffnen lassen. Verflixterweise muß man ihn da herausreissen, damit er zu diesem Rhythmus kommt, durch den wir uns in Übereinstimmung bringen mit der Welt.“

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gisch vorzeitig, aber keineswegs absolut vergangen ist. So wird auch die imaginäre Beziehung, die erotisch-aggressive Beziehung zwischen zwei kleinen anderen, dem ersten und zweiten Moment der Hegel’schen Dialektik entsprechend, nicht einfach überwunden, sondern aufgehoben im Hegel’schen Sinn. Aufheben heißt, dass der Widerspruch erhoben wird auf eine höhere Ebene, aber aufheben ist auch bewahren (ich hebe dir etwas auf) – etwas wird nicht vernichtet, sondern ganz im Gegenteil höchst lebendig gehalten. Und dies führt direkt zurück ins Zenit des Spiegelstadions.

3.10 Circuit „Wir haben hier zwei Punkte, O und O'. Warum O und O'? Ein kleines Mädchen – eine virtuelle Frau, also ein im Realen sehr viel engagierteres Wesen als die Jungen – hat eines Tages einen sehr schönen Witz gemacht - Ah! man soll nicht glauben, daß sich mein ganzes Leben zwischen O und O' abspielen wird. Armer Schatz! Es wird sich, dein Leben, zwischen O und O' abspielen, wie für alle Welt. Aber schließlich sagt sie uns da, worauf sie aus ist. Ihr zu Ehren möchte ich diese Punkte O und O' nennen. Damit muß man sich schon abfinden.“64

Das Spiegelstadium bezeichnet keine abgeschlossene Entwicklungsphase eines Kindes, sondern eine Struktur, die das ganze Leben des Subjekts intervalliert.65 Diejenigen, mit denen wir es in unserem alltäglichen Leben zu tun haben, in den freundschaftlichen wie geschäftlichen Netzen, in die wir invol-

64 Lacan 1990: 211f. 65 Hier muss wiederum auf Freud verwiesen werden. Auch er führt die Verschlun-

genheit und Interdependenz von Liebe und Hass an, an vielen Stellen seines Werkes und mit einer vielsagenden Konzentration in seinen kulturwissenschaftlichen Texten, die tief geprägt sind durch Wachsamkeit, Resignation und Desillusionierung. Bei Freud erscheint die unauflösliche Interrelation von Liebe und Hass im doppelten Wortsinne noch unaufhebbarer als bei Lacan. Dies ist durch unterschiedliche Gründe bedingt, deren wichtigster und von Freud selbst wiederholt eingestandener Punkt die zu seiner Zeit noch nicht grundlegend durchleuchtete und theoretisch gestaltete Funktion des Narzissmus, kurzum: das Spiegelstadium betrifft. Ein weiterer signifikanter, Unaufhebbarkeit konnotierender Faktor liegt jedoch auch darin, dass Freud seine Theorie des Unbewussten nicht über Hegel laufen lässt, dass er an keiner Stelle mit dialektischen Grundfiguren arbeitet. So dass man versucht ist, zu resümieren, dass Freud seinen in philosophischen Fragen zutraulicheren Nachfolger an Einsamkeit, Depression – die im Gegensatz zu Lacan bei Freud titelgebend verhandelt wird –, und Kulturpessimismus noch übertrifft. Zu der durch keine Kulturtheorie auf Logenplatz annihilibaren Verbundenheit von Liebe und Hass vgl. Freud 1999: X 332: „Reaktionsbildungen gegen gewisse Triebe täuschen die inhaltliche Verwandlung derselben vor, als ob aus Egoismus – Altruismus, aus Grausamkeit – Mitleid geworden wäre. Diesen Reaktionsbildungen kommt zugute, daß manche Triebregungen fast von Anfang an in Gegensatzpaaren auftreten, ein sehr merkwürdiges und der populären Kenntnis fremdes Verhältnis, das man die „Gefühlsambivalenz“ benannt hat. Am leichtesten zu beobachten und vom Verständnis zu bewältigen ist die Tatsache, daß starkes Lieben und starkes Hassen so häufig miteinander bei derselben Person vereint vorkommen. Die Psychoanalyse fügt dem zu, daß die beiden entgegengesetzten Gefühlsregungen nicht selten auch die nämliche Person zum Objekte nehmen.“

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viert sind, sind zunächst stets kleine andere: relationale andere, die alter egos einer dialektischen Dyade, Projektionsflächen. Jede Erfahrung des Selbst wie auch jede Beziehung zum Objekt, jeder Akt der Vorstellung, der Bedeutungszuweisung, des Denkens, läuft zunächst über eine identifikatorische Struktur, eine narzisstische Verhaftung. Das Spiegelstadium ist eine für das Subjekt konstitutive Struktur, und keine marginale, sondern die Möglichkeitsbedingung jeder Erkenntnis. Erkenntnis ist für solche Wesen, die mit dem Operator Bewusstsein ausgestattet sind, zunächst immer imaginäre Erkenntnis, also eine Erkenntnis, die einen Verkennungsfaktor enthält, der nicht eliminiert werden kann. Die Ich-Funktion ist eine genuine Verkennungsfunktion, und übrigens ist das überhaupt keine Anomalie, kein Fehler innerhalb des Bewusstseins, der korrigiert werden könnte, sondern ein völlig normaler, metabolitischer Trugbildpilot. Das Bewusstsein des Subjekts wird durch die identifikatorische Dialektik der beiden kleinen anderen formatiert, im Unbewussten jedoch hat sich, und das unterscheidet den frühkindlichen oder präziser: den vorzeitigen Status von dem der Realität des Erwachsenen, das Gesetz eingeschrieben. Das ordnungsgemäß programmierte Subjekt hat zwei andere: einen mit einem kleinen a, den Identifikationspartner, von dem das Subjekt unentrinnbar abhängig ist, um sich und überhaupt irgendetwas zu erkennen, und weiter einen mit einem grossen A: das Gesetz im Unbewussten, durch das die blutsaugerische Dyade immer wieder de-eskaliert wird. Es ergibt sich ein Kreislauf über drei Terme. Das Spiegelstadium ist darin eine iterative Funktion, die immer wieder aufgerufen wird, es ist eine über die imaginäre Ebene gehende und mit der Intervention des Dritten endende Übertragungsschleife, an deren Ende eine Differenz anerkannt worden ist, ein Scheitern an der Wahrheit, durch das sich zugleich das Verhältnis des Subjekts zur Wahrheit dialektisch restituiert.66 Im Prinzip wiederholen sich bei jeder Handlung, bei jedem Sprechakt, die drei Schritte der Hegel’schen Dialektik. Das ganze Leben ist ein Wechsel von O und O‘, von ichrestituierenden und ichzerstörenden Momenten, von kleinen Auferstehungen und kleinen Toden. Das Entscheidende aber ist, dass diese Tode, verschaltete Dissoziationen, in Lacans Theorie, wie seine surrealistischen Freunde es zynisch und im Konsens mit Hegel formuliert hätten, die Funktion einer Gestaltungskraft haben. Nach jedem Tod hat sich ein neuer Begriff, ein neues Symbol, eine neue Zahl generiert. Es hat gesprochen, und das Sprechen hat, so definiert es Lacan im expliziten Verweis auf Hegel, schöpferische Funktion: „Es läßt die Sache selbst auftauchen, die nichts anderes ist als der Begriff.“67 Die imaginäre Beziehung, die Ichfunktion, ist eine integrierte Funktion innerhalb eines Algorithmus zur Schöpfung von Begriffen, zur Erzeugung von Kontingenz. Where do you want to go?, so heißt es verräterisch in einer Microsoft Reklame. Aber das Ich hat keine Ahnung, was das heißt. Das ändert nichts an der höchst zweideutigen Lage, der bewusste und bedeutungsabhängige Bewohner der Realität ausgesetzt sind: „Die aggressive Spannung, dieses ich oder der andere ist ganz in jede Art imaginären Funk-

66 Vgl. Lacan 1990a: 54f und 72f. 67 Lacan 1990: 304. Vgl. auch das gesamte Kapitel XIX. Die schöpferische Funk-

tion des Sprechens, in: Lacan 1990: 298-341; vgl. auch Lacan 1991: 125 und Lacan 1991a: 32 und 40f.

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tionierens beim Menschen integriert.“68 „So gibt es zwischen den menschlichen Wesen eine destruktive und tödliche Beziehung. Sie ist übrigens immer da, unterschwellig.“69 Eine kurze Expedition in die Realität ist ausreichend, um genau das mit unterschiedlichen Ausprägungsgraden von Resignation festzustellen. Lacan gibt selbst con brio die Beispiele. Die unmögliche Beziehung der Geschlechter. Die Geschehnisse in den Vorstandsetagen und Aufsichtsräten, wo sich inmitten weltmännischer Accessoires wie dem Chronograph Andromède von Rolex, IBM-Notebooks und einem Humidor aus der Monogrammlinie von Louis Vuitton Sachen ereignen, die jedes Raubtier in mittleren Graden erschüttern würden. Vom „intellektuellen Bestiarium“70, wie Lacan sich im Zuge eines seiner Rundumschläge gegen den akademischen Diskurs ausdrückt, ganz zu schweigen, Herrndiskurse, die nicht sprechen, sondern nur noch zirkulieren wollen, also das Gesetz ihrer Neurose als Wirklichkeit dekretieren und phantasmatische Imperien in Sahneschnittchen aufteilen. „Gottseidank“, so sagt er, gibt es die Welt des Symbols, den großen Anderen, der da eingreift, auf dass rückwirkend Aggressivität in Aggression umgewandelt wird. Aggression heißt, dass der Mord nicht in die Tat umgesetzt wird. Stattdessen wird geschrieben.

3.11 Paranoia Das Spiegelstadium ist ein Affront gegen all jene Theorien, die, wie immer auch, spezifisch oder synthetisch, psychologisch oder kognitiv, ein Bewusstsein als Integrationsprinzip der Welt hochhalten: voluntaristisch, autonom, vernünftig, zurechnungsfähig. Bei Lacan das genaue Gegenteil: das Ich nicht die Zentrale des Apparats, sondern nur eine imaginäre Verkennungsfunktion. Totaldemontage idealistischer Entwürfe vom cartesischen Cogito bis zum Produkt moderner Flachlandtherapeuten. Das Ich steht in einer relationalen Abhängigkeitsbeziehung zum kleinen anderen, es wird ferngesteuert vom großen Anderen, sein armes Leben spielt sich zwischen O und O‘ ab, es ist nichts als Funktion innerhalb eines kontingenzerzeugenden Prozesses. Natürlich darf das Ich von all dem nichts wissen, um nicht noch gefährdeter und wahnsinniger zu werden, als es ohnehin schon ist. Denn Wahnsinn und Paranoia71 flackern am Zenit des Ich. Das Ich, isoliert betrachtet, ist wahnsinnig.72 Als zwei Hauptmerkmale eines Wahns werden in der Psychiatrie und Psychoanalyse der Größenwahn und der Verfolgungswahn geführt. Die paranoische Grunddisposition ergibt sich bereits aus Lacan 1990a: 128. Lacan 1990: 226. Lacan 1991a: 215. Zur Theorie der Paranoia vgl. folgende Texte von Freud: Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia Paranoides) (Freud 1999: VIII 239-320); Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose (Freud 1999: XIII 361-368); Neurose und Psychose (Freud 1999: XIII 385-292). Lacans gesamtes Seminar III widmet sich der Untersuchung der Psychose. Vgl. außerdem Lacans Text Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht (Lacan 1991a: 61-118). Vgl. auch Thomas Machos Text Zeichen aus der Dunkelheit. Notizen zu einer Theorie der Psychose (Macho 1993). 72 Vgl. Lacan 1990a: 118f, 176 und 194. 68 69 70 71

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der Struktur der Identifizierung, des Spiegelstadiums. Wenn Trauma, Entfremdung, Täuschung, Aufspaltung und Verdopplung, unentscheidbare Gefühle von Liebe, Hass, Eifersucht und Angst vor Selbstauflösung am Anfang des Ich stehen, dann wundert es nicht, dass das Ich stets bedroht ist von Kastrations- und Zerstückelungsängsten, von potentiellen Feinden und Doppelgängern. Alles, was über den Spiegel läuft, ist immer schon Bedrohung. Wenn Ich ein dialektisches Tremolo von identitätsstiftenden und identitätsauflösenden Momenten ist, dann ergibt sich hieraus sehr klar, dass bereits eine geringe Störung der Beziehung zum symbolischen Gesetz (und diese Beziehung ist eigentlich immer gestört), das fragile Gleichgewicht auflöst und paranoische Symptome auslöst. Wenn der große Andere als Gesetz der Anerkennung den kleinen anderen nicht richtig kontrolliert, entartet dieser letztere sehr schnell zum Verfolger, zum Spion, zum Widersacher, ein unheimlicher Widersacher, sofern er einerseits nicht fixiert werden kann und andererseits Faszinierendes abstrahlt: die beiden Grundcharakteristika der imaginären Beziehung. Und da die Mutabilitätsrate im Imaginären sehr hoch ist, werden die Feinde disseminieren und das Ich in diversen Materialisationsformen, Schatten, Stimmen, Leitungsstörungen, umgeben. Es ist nicht so, dass wir alle Psychotiker wären, im Gegenteil, da hätte sehr viel an struktureller Läsion sich ereignen müssen, aber es ist so, dass „die Beziehung zu den anderen stets mit einer fundamentalen Instabilität behaftet ist“73. Würde diese fundamentale Instabilität der imaginären Beziehung durch den Dritten, das Todes-Gesetz, nicht immer wieder unterbrochen und aufgelöst, dann wäre das Subjekt wirklich psychotisch. Denn das ist es, was die Struktur der Psychose konstituiert: Es wird nie einen dritten Moment gegeben haben. Das Gesetz hat sich nicht installiert, der Psychotiker ist reduziert auf den ersten und zweiten Moment der Hegel’schen Dialektik. Umso fruchtbarer ist die Phänomenologie der Psychose für das Studium der Ichfunktion, da diese sich hier gewissermaßen unter Experimentalbedingungen isolieren lässt. Lacan betont das immer wieder: „Wir haben uns immer wieder darüber zu befragen, weshalb wir der Frage des Wahnes soviel Bedeutung beimessen“, um dann die Antwort zu geben, dass der Wahn das erste Orakel für alle Fragen nach dem modernen, sich selbst verwirklichenden Ego ist.74 Der Psychotiker hat kein Gesetz, kennt kein Gesetz, hält sich für Gott persönlich, wie die Memoiren des Senatspräsidenten Schreber eindringlich klarmachen. Das wäre der zweite Wahnfaktor, der Größenwahn. Die Freiheit des Psychotikers ist grenzenlos und dadurch natürlich auf Null zusammengezurrt, was den Psychotiker nur umso mehr anhält, auf seiner Freiheit, seiner Herrschaft, seiner Allmacht zu beharren. Und diese Insistenz, dieser Glaube, beseelt auch das Ich der Moderne, allerdings in einer geheimen, unausgesprochenen Form. Das Ich der Moderne kann dies unmöglich aussprechen, würde es doch andernfalls unverzüglich um jene Verkennungen und Visionen gebracht, die auf dem Niveau des Unbewussten immer schon zerstört sind (schließlich ist nicht, wie bei der klinischen Psychose, der Gesamtapparat, sondern nur die Ichfunktion entgleist). Aber dennoch, die Ichs der Moderne,

73 Lacan 1990a: 126. 74 Zur phänomenologischen Bedeutung der Psychose, insbesondere für das Stu-

dium der Ich-Funktion vgl. Lacan 1991: 68f und 91f; Lacan 1991a: 145 und157; Lacan 1990a: 25, 39, 52, 101, 119, 152, 161-163, 183 und 241.

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Softwaremanager, Gipfelstürmer, Intercoiffeure, sie sind spiritualisiert durch den Glauben an ihre Freiheit: „Ein gewisses Feld scheint der mentalen Atmung des modernen Menschen unentbehrlich zu sein, nämlich das, auf dem sich seine Unabhängigkeit nicht nur von jedem Herrn, sondern ebensowohl von Gott behauptet, dasjenige seiner unreduzierbaren Autonomie als Individuum, als individuelle Existenz. Darin gibt es etwas, das in jeder Hinsicht verdient, mit dem wahnhaften Diskurs verglichen zu werden. Er ist ein wahnhafter. Dieser Diskurs der Freiheit [...], gegenwärtig im Innern eines jeden, mit seinen Widersprüchen und seinen Unstimmigkeiten, er ist persönlich und gleichermaßen gemeinschaftlich, und immer, ob wahrnehmbar oder nicht, wahnhaft.“75

Im tiefen Herzen des modernen Ego pulsiert die psychotische Flamme der Freiheit. Die Misere der Moderne ist, dass das Begehren, das im Optimalfall in dialektischen Transzendierungsleistungen schöpferische Funktion vom Unmöglichen macht, nur noch in einer ereignislosen Schleife rotiert. Der Dritte, das Gesetz, es gibt ihn ganz sicher noch, aber er ist suspendiert, er ist verdeckt worden durch ein anderes Gesetz, das kein Gesetz der Differenz, sondern ein vage dichotomisch strukturiertes Gesetz von du sollst und du sollst nicht, ein Über-Ich, darstellt. Die Dreierskansion des Diskurses des modernen Ich ist eine reine Iteration, deren Code sich nicht mehr umschreibt und amplifiziert: ein Code wie ein Metronom, gleichbleibende Zirkulation, ein stabiles, aus abzählbar endlichen Argumenten bestehendes System. Lacan setzt es in ein literarisches Bild: Es ist kein Sprechen mehr, es ist nurmehr eine Sprache, das, „was der Diskurs realisiert, wenn er sich als Sprechen entleert und nichts anderes mehr ist als jene abgegriffene Münze, die, nach einem Bild von Mallarmé, „stillschweigend“ von Hand zu Hand geht“76. Kapitulation stellt sich ein im dritten Moment, mit einer sonderbaren Notwendigkeit; der Dritte ist nicht mehr ein seine eigene Übertretung befehlendes Gesetz der Differenz, er ist ein entmutigend säkulares Verbot. Das Begehren weicht aus in den Bereich, den Georges Bataille als das Profane diffamiert hat: Utilitarismus, mondlose Affekte, Überangepasstheit, ein „resigniertes Sich-Abfinden mit der Realität“ – „wir haben weitaus weniger Vertrauen in den Diskurs der Freiheit, sobald es [...] darum geht, zu handeln, insbesondere im Namen der Freiheit, [dann] hat unsere Haltung angesichts dessen, was es an Realität zu ertragen gilt oder an Unmöglichkeit [...] völlig den Charakter resignierten Sichabfindens, Verzichtens darauf, was dennoch ein wesentlicher Teil unseres inneren Diskurses [der Freiheit] ist“77. Es ergibt sich ein gebrochenes, seltsam widersprüchliches Bild: Da glimmt einerseits der lautlose frenetische Glauben an die persönliche Freiheit und die persönlichen unantastbaren Rechte, dann aber wird dieser Wahn völlig unwahnsinnig beantwortet und beendet durch eine Unterwerfung unter das Heidegger’sche Gesetz des man, das „die Seinsart der Alltäglichkeit vorschreibt“. Wenn die Despotie des man Gesetzeskraft angenommen hat, wird das Subjekt ghettoisiert im Raum der Uneigentlichkeit: „Nicht es selbst ist, die Anderen haben ihm das Sein abgenommen. [...] die unauffällige, vom Dasein als Mitsein unversehends schon übernommene Herrschaft der Anderen. 75 Lacan 1990a: 176ff. 76 Lacan 1991a: 175. 77 Lacan 1990a: 179.

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Man selbst gehört zu den Anderen und verfestigt ihre Macht.“78 Um Macht geht es, um Stabilisierung der Macht. Die imaginäre Beziehung zwischen dem einen und dem anderen wird auch in der Moderne symbolisch reguliert (andernfalls bestünde die Moderne nur aus Psychotikern), aber nur noch auf dem Niveau einer Sprache. Es tritt eine Automatisierung ein, ein perfektes, sich selbst stabilisierendes System, das wiederum an Foucaults Monismus der Macht erinnert: Macht als das komplexe dezentrierte Netzwerk einzelner, antagonistischer Kräfteverhältnisse.79 Alles ist Macht, und Lacan ergänzt diese Theorie aus einem anderen Blickwinkel, wenn er schreibt, dass „wir in in einer Gesellschaft leben, in der die Sklaverei nicht zugegeben wird“. Die Knechtschaft ist nicht abgeschafft, sie ist vielmehr verallgemeinert worden. „Der Bezug derjenigen, die man Ausbeuter nennt, ist nicht weniger ein Dienstverhältnis in Relation zur allgemeinen Ökonomie als derjenige im Gemeinen. So ist die Doppelheit Herr-Knecht im Innern jedes Mitglieds unserer Gesellschaft verallgemeinert.“80 Eine Verallgemeinerung, eine Art Diffusion, eine Strömung, deren dialektische Gegenströmung der Wahn der persönlichen Freiheit ist: „Antinomie, ein unlösbarer Widerspruch, der nicht mehr aufgehoben wird.“81 Das moderne Ich, geboren aus dem Geist der Paranoia, dann die frühe Müdigkeit von unten, Lebenskrisen, Führungskrafttraining, Depression, kostenloses Vergnügen, Menschenrechte, Reflexzonenmassagen, und über allem brütet ein Bewusstsein von Neutralität. „Jeder fühlt sich in seiner Ehre verletzt, wenn er nur der geringsten Bitte um Ratschlag gegenübersteht, wie gering diese auch sei, und beharrt auf seinen Prinzipien [...]. Genaugenommen ist es ein Verzicht jeglicher Parteinahme auf der Ebene des gewöhnlichen Diskurses mit seinen tiefen Zerrissenheiten hinsichtlich des Wesentlichen der Sitten und der Stellung des Individuums in unserer Gesellschaft.“82

3.12 Neurose Es gibt noch eine weitere psychische Störung, die den Zustand des modernen Ich in breiten Graden determiniert: die Neurose. Die Neurose ist konstituiert durch die Verwechslung des symbolischen und des imaginären Todes. Um dies kurz zu erläutern: das symbolische Gesetz ist als Gesetz einer Differenz weniger ein Verbot, als vielmehr eine Artikulation des Unmöglichen. Es existiert eine unüberwindbare Diskordanz zwischen dem symbolischen und dem realen Bereich, und im bezug darauf sagt das symbolische Gesetz, kann es nur sagen: Eine reale Ganzheit, das ist unmöglich, es gibt nur Differenzen. Das Begehren des Subjekts erkennt dieses Gesetz nicht, sondern es anerkennt, d.h. es exekutiert es: Auf der Suche nach dem Unmöglichen generiert es über differentielle Prozeduren das Kontingente, es erzeugt Begriffe.83 Es wurde dargetan, dass dieser Prozess einen Kreislauf darstellt, der über die

78 79 80 81 82 83

Heidegger 1953: 126f. Vgl. Foucault 1979 und 1991a. Lacan 1990a: 177. Lacan 1990a: 180. Lacan 1990a: 180f. Zur Diskordanz des Symbolischen und des Realen und der Weise, wie das Subjekt Funktion von dieser macht vgl. Bitsch 2001.

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imaginäre Ebene abläuft. Daraus folgt, dass das Gesetz des symbolischen Todes im Imaginären repräsentiert sein muss, und dies ist im Kontext der klassischen Psychoanalyse die Kastration. Aus symbolischer Perspektive hat es nie eine Kastration gegeben, weder real noch phantasmatisch, aber das Subjekt muss diesen imaginären Tod durchleiden, damit sich auf der Ebene des Ich ein Äquivalent zum symbolischen Tod herstellt. In der Neurose dominiert der imaginäre Tod auf eine pathologische Weise über den symbolischen Tod. Die Neurose ist also eine Krankheit des Ich, denn der imaginäre Tod konstituiert die Ichfunktion, während der symbolische Tod ausschließlich als signifikante Skansion im Unbewussten operiert. „Wenn der Zwangsneurotiker sich kasteit, dann deshalb, weil er sich mehr als jeder andere Neurotiker an sein Ich klammert, das in sich die Enteignung und den imaginären Tod trägt.“84 Der Neurotiker sucht die für das Subjekt konstitutive Spaltung, den symbolischen Tod, zu verleugnen durch ein kolossales hypermorphes Ego. Er verkettet sich einem imaginären Tod, den er zu kalkulieren und zu einem immer wieder retardierten Zeitpunkt zu besiegen sucht, und verleugnet zugleich jenen anderen, jenen präzedenten symbolischen Tod, der immer schon stattgefunden hat, der sein Schicksal im futurum exactum verziffert hat und aus dem seine Existenz allen Sinn gewinnt, den sie besitzt. Auf diese Weise den symbolischen Tod, die diskret-zeitliche Operationalität der in keiner Zeitrechnung je einholbaren Ur-Sache, im imaginären Tod, der in jedem Fall „die vormalige Präsenz eines nunmehr verloren geglaubten Objekts voraus[setzt]“, verkennend, „vermeidet“ der Neurotiker „das Ungewiße, dasjenige, was unvorhergesehen dazwischenkommt“85. Die Neurose darf nicht mit der Psychose verwechselt werden. In der Psychose hat sich das Gesetz nie eingeschrieben, es kam zur Verwerfung. In der Neurose hat sich das Gesetz des Dritten eingeschrieben, aber es wird verdrängt. Um diese Verdrängung zu erklären, soll auf das Bild zurückgegriffen werden, mit dem Lacan in Anschluss an Hegel die Relation der beiden anderen illustriert: Herr und Knecht. Es gibt von Anfang an eine Spielregel, die die Beziehung zwischen dem Herrn und dem Knecht reguliert, und diese Spielregel ist der Tod. Die Abhängigkeitsbeziehung besteht nicht nur für den Knecht in Bezug auf den Herrn, sie ist reziprok, denn der Knecht weiß, dass der Herr sterblich ist, und mehr noch, er antizipiert seine eigene Freiheit im Augenblick des Todes des Herrn, den er darum begehrt wie nichts anderes, eine ultimative Bedrohung für den Herrn. Die aporetische Beziehung zwischen dem Herrn und dem Knecht kann nur dadurch stabilisiert und in ein Arbeitsverhältnis, eine Produktion von Dingen oder auch Symbolen, Signifikanten, gelenkt werden, dass beide ihr Leben aufs Spiel setzen, der Herr in Form eines Risikos und der Knecht in Form eines verpfuschten Lebens, einer verkürzten Freiheit.86 Bei der Neurose verdrängt der Sklave genau diese symbolische Spielregel, und damit verdrängt er auch die Tatsache, dass das Spiel schon längst begonnen hat. Mit anderen Worten, er ergibt sich dem vexatorischen Regime der Zwangsneurose: Er wartet. Er wartet auf den Tod des Herrn als den Augenblick seiner eigenen unumschränkten Lusterfüllung.87 84 85 86 87

Lacan 1991b: 341. Tholen 2002: 127. Vgl. Lacan 1990: 282f Vgl. auch Zizek 2001: 149: „Das erklärt dann auch die Sackgasse des Zwangsneurotikers, der sein ganzes Leben in der Erwartung des Todes seines Herrn organisiert, um dann endlich ganz lebendig werden und „das Leben genießen“ zu

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„Das ist der intersubjektive Zug des Zweifelns wie des Aufschiebens, die Charakterzüge des Zwanghaften sind.“88 Das Fatale an dieser sich im Warten ausdrückenden Antizipation einer unmöglichen Zukunft wird klar, sofern man sich vergegenwärtigt, dass zwischen dem Herrn und dem wartenden Sklaven ein identifikatorisches, d.h. oszillatorisches Verhältnis spielt, dass beide, die obige Formulierung aufnehmend, nur eine diskrete Zwei ergeben. Das zwanghafte Subjekt identifiziert sich mit einem Toten und dadurch mortifiziert es sich selbst, es ist blockiert. „Es ist in dem antizipierten Augenblick des Todes des Herrn, von dem an es selbst leben wird; doch während es diesen Augenblick erwartet, identifiziert es sich mit dem Herrn als einem Toten und ist aufgrund dessen selbst bereits tot.“89 Der Neurotiker ist blind gegenüber der Tatsache, dass er sich immer wieder verlieren muss, und betreibt statt dessen mit seinen soldatischen Zwangshandlungen und seiner ewigen Hinauszögerung der Handlung eine maßlose Zeitvergeudung und bringt sich zugleich, mit Tholen gesagt, um jede Chance des Überraschtwerdens, jede „Mehr-Lust des unvollendbaren Anders-Werdens“90. Übrigens beherrscht Lacan zufolge die Struktur der Zwangsneurose in erster Linie den Diskurs der Universität und des akademischen Wissen: können; wenn der Herr des Zwangsneurotikers nun tatsächlich stirbt, dann ist die Auswirkung seines Todes freilich genau die gegenteilige: Der Zwangsneurotiker ist mit der Leere des Todes konfrontiert, mit dem absoluten Herrn, der hinter seinem tatsächlichen lauerte.“ 88 Lacan 1991: 160. Zum zwangsneurotischen Kardinalsymptom des Zögerns und Zauderns, so wie es bereits von Freud aufgegriffen wird, vgl. Vogl 2007: 16: „Natürlich kann man hier, mit Freud, an jene strukturale Ambivalenz der Gefühlsrichtungen denken, die sich aus der Verwicklung von Gesetz und Affektlagen ergibt und ein unaufgelöstes Ja und Nein zugleich hinterlässt: einen hysterisierten Mose, einen Hamlet-Mose, wie er sich in der Traumdeutung mit einer Rätselgestalt ankündigte, eingelassen in einen „Konflikt zwischen Es und und Über-Ich“, der sich ausbreitet und wuchert, bis „keine der Verrichtungen des zur Vermittlung unfähigen Ichs der Einbeziehung in diesen Konflikt entgehen kann“. Vor allem aber hat man es hier mit einer Theorie elementaren Zauderns oder Zögerns zu tun, das Aktion und Gesetz, Handlung und Handlungsgrund in ein prekäres Missverhältnis zueinander bringt.“ Zu dem für dieses Kapitel natürlich besonders relevanten Verhältnis zwischen Gesetz und Zaudern vgl. auch den Gesamtkontext: Vogl 2007: 15-24. 89 Lacan 1991: 140. 90 Vgl. Tholen 2002: 141f: „So spricht der psychoanalytische Begriff der Zukunft davon, daß es eine Zeit des Kommens gibt, die stets ankommen kann, selbst aber zur Unzeit, überraschend, einbricht. In gewisser Weise hat die Psychoanalyse keine Zukunft, sondern ist das dem Denken je unmittelbar Zukünftige. Es entbehrt der Vision einer fixierbaren Utopie des Morgen, nicht aber der MehrLust des unvollendbaren Anders-Werdens. Dasjenige also, was hinzukommen kann, setzt die vulgären Zeitekstasen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sie zugleich eröffnend, außer Kraft. Es ist die Zeit des Unmöglichen, gleichsam das „Vor“ vor jeder Zeitvorstellung. Ihrer Dimension oder genauer: Dit-Mension (Sag-Messung), so ein Wortspiel Lacans, kommt der unbeständige Signifikant dazwischen und garantiert so den Abstand, ohne den Reales und Imaginäres (in sich) zusammenfallen würden. Die Zeitlichkeit dieses Abstandnehmens ist eine Zeit, die aus vorwegnehmenden Annahmen und unscharfen Vermutungen besteht. Es ist die Lust an einem unzugänglichen Spiel, das uns herbeispielt und das wir dort in Anspruch nehmen, wo wir wetten oder Strategien aushecken.“

94 ſ DISKRETE GESPENSTER „[...] der Mythos des Zwangsneurotikers, der seiner Struktur nach nicht selten ist in der intelligentsia. Sobald aber der Zwangsneurotiker sich nur um ein wenig der professoralen Perfidie zu entziehen vermag, kann er sich nur noch schwer der Täuschung hingeben, daß seine Arbeit ihm Zugang zum Genuß verschaffen müsse. [...] Tatsächlich folgt er dem Spiel vom Ort des Anderen aus, an dem er sich einrichtet; er schaltet so jedes Risiko aus, speziell das Risiko eines Kampfes, und wiegt sich in seinem „Selbstbewusstsein“, für das der Tod nur zum Spaß existiert.“91

3.13 Wiederholte Fallgeschichten Etwas wiederholt sich, erinnert sich, scheint in den Kontext einer früheren Problemstellung zurückversetzt – „die Unterbringung der Symptome, ihr Hervortreten an den wichtigsten individuellen und sozialen Leistungen, so daß sie Nahrungsaufnahme und Sexualverkehr, Berufsarbeit und Geselligkeit zu stören vermögen, kommt den schweren Fällen von Neurose zu.“92 So als wären ganze Sektoren seiner Lebensfrist, die dennoch mit jeder Sekunde abläuft, unter Chloroform gesetzt worden, verfängt sich der Kleinkreditberater in zehn- bis zwanzigfachen Kontrollen der Haustür, bis er, noch immer aufgewühlt, die letzte Straßenbahn erwischt, die sein pünktliches Erscheinen im Büro garantiert. Der Philosophie-Student eröffnet seine Passage vom 26. ins 27. Semester nicht mit einem Anfangssatz der Descartes-Hausarbeit, sondern mit der bibliografischen Recherche der im vergangenen Semester neu zugänglich gewordenen Forschungsliteratur – so als ob der Tod, die Terminiertheit seiner eigenen Existenz, nur zum Spaß existierte. An dieser Stelle insistiert auch der von Vogl aufgeschlossene und untersuchte Sachverhalt, dass „die ansteigende Konjunktur von Publikationen über Phänomene wie Somnambulismus, Trance, Hypnose und Automatismen [...] von Beobachtungen begleitet [sind], die spezifische Hemmungen und Blockaden auf eine „krankhafte Unentschlossenheit“ zurückführen. Die Beispiele dafür finden sich in den Annalen der Psychiatrie: sei es ein Patient, der bei klarem Verstand stundenlang vor einer Jacke oder einem Glas Wasser verharrt, bevor er das eine oder andere zu ergreifen vermag; sei es ein renommierter Autor, der vor den letzten Zeilen seines Werkes kapituliert und es niemals zum Druck bringt; sei es ein Notar, dem es trotz mehrfacher Versuche unmöglich geworden ist, seine Hand auf ein unausgefertigtes Schriftstück zu heben und dieses mit seiner Unterschrift zu ratifizieren [...] oder sei es ein vermögender Herr, der mitten auf der Straße stehenbleibt, verharrt und sich dann nicht mehr regt [...]. Wenn also Wille und Entschlossenheit sich dadurch auszeichnen, dass sie einen Abschluss und einen Endzustand herbeiführen, dem Ich einen festen Inhalt und Halt geben, sich in der Wahl eines Beweggrunds manifestieren und den Akt und das Werk bejahen bzw. verneinen, so hat man es bei den genannten Fällen mit prekären Zuständen zu tun, in denen eher das Ungewollte getan wird, das „ich will“ nicht zu einem Wollen führt, das Wollen selbst das Gewollte verhindert und

91 Lacan 1991a: 186. 92 Freud 1999: IV 310.

DAS SPIEGELSTADIUM - LACAN MIT HEGEL ſ 95 der Blick auf Handlungsfolgen jedes Handeln suspendiert oder in einen unendlichen Regress von Gründen und Ursachen treibt.“93

Aber auch das Ich ist ein Symptom, es ist das Großmeister-Symptom katexochen, sein prominenter Status und besonders seine außerordentlich resistente und sinistre Verfasstheit wurden im ersten Kapitel herausgestellt. Mit Freud gesprochen, so scheint beim Ich-Symptom der sekundäre Krankheitsgewinn94 bis in derartige Grade erhöht, dass hiermit zugleich eine massiv analgetische Wirkung verbunden ist und die das Symptom eigentlich charakterisierenden Züge des Leidens, der psychischen Auszehrung und Erosion in einen völligen Latenzzustand zurücktreten. Das Subjekt wird derart vom Symptom des Ich präokkupiert, dass es auf eine paradoxale Weise den Eindruck von Gesundheit, Unbezwingbarkeit, Ivan-Lendl-Kondition hinterlässt, der verzagteren Wesen wie ein Spuk erscheinen muss. Professor Bärlauch betritt mit Gravität und im cognacfarbenen Moshammer-Ulster das Auditorium maximum und beginnt die neue Dekade mit einer modifizierten Fassung seiner jährlichen Vorlesung Von den wahren, guten und schönen Ursachen. Wie jedes Jahr hatte er selbst in den Ferien im Angesicht der für die Ewigkeit gemachten Kulisse des Wörthersees diese seine, seit der Habilationsschrift für die Ewig93 Vogl 2007: 58f. Vgl. auch den Fortgang des Zitats, in dem die von Lacan attes-

tierte Affinität der Zwangsneurose zum Akademismus und darüber hinaus, elementarer, der Verlust der Ursache in einen sozial- und wissenschaftshistorischen Kontext gestellt werden: „Damit wird zugleich eine „theoretische“ oder „theoretisierende“ Passion benannt, in der der Übergang zur Praxis nicht oder nicht mehr funktioniert: als hätte der Satz vom Grund hier eine dämonische Attraktion erhalten und das Denken mit einem endlosen Zu-Grunde-Gehen infiziert. Im Zeichen eines allgemein gewordenen Systemhandelns oder Handlungssystems haben sich, jedenfalls in den Augen der Psychiatrie, Enklaven, schwarze Löcher und Leerstellen gebildet, an denen dieser Aktionszusammenhang in flagranter Weise abbricht, stockt oder schlicht kollabiert, und zwar in einer Willens-Pathologie, die von bloßer Willenlosigkeit über Willenslähmung bis zu einem sich selbst blockierenden Willen reicht. Daraus ergibt sich schließlich ein eigentümlicher Chiasmus in der Ansehung des sozialen Funktionssystems: Je mehr sich das Systemhandeln von individuellen Gründen und Absichten löst, desto mehr, so scheint es, werden Motiv, Ursache, Grund und Handlungsgrund zum individuellen Fall oder Problem.“ Vgl. auch den Gesamtkontext, in dem Vogl das Syndrom der sich bis zur Dissoziation des individuellen Systems steigernden Zweifel- und Grübelsucht im Blick auf die hinter ihm stehenden philosophischen, kulturellen und wissenschaftshistorischen (u.a. die im 19. Jahrhundert aufkommende Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie) Diskurse und Ereignisse einer ausführlichen Analyse unterzieht. (Vogl 2007: 5773) 94 Zum sekundären Krankheitsgewinn äußert sich Freud beispielsweise in seinen Vorlesungen; vgl. Freud 1999: XI 399: „Wenn solch eine psychische Organisation wie die Krankheit durch längere Zeit bestanden hat, so benimmt sie sich endlich wie ein selbständiges Wesen; sie äußert etwas wie einen Selbsterhaltungstrieb, es bildet sich eine Art von modus vivendi zwischen ihr und anderen Anteilen des Seelenlebens, selbst solchen, die ihr im Grunde feindselig sind, und es kann kaum fehlen, daß sich Gelegenheiten ergeben, bei denen sie sich wieder nützlich und verwertbar erweist, gleichsam eine Sekundärfunktion erwirbt, die ihren Bestand von neuem kräftigt. Was bei der Neurose einer solchen sekundären Nutzung der Krankheit entspricht, können wir als sekundären Krankheitsgewinn zum primären hinzuschlagen.“

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keit gemachte Wahrheit augmentiert. Professor Schnietzfurt proklamiert in seinen berühmten Donnerstags-Vorlesungen die Wahrheit über den mittleren Feuerbach – all die Donnerstage über all die Jahre hinweg ein und dieselbe Mission, aber ein professorales Sendungsbewusstsein und ein halbjährlich ersetztes Hahnentrittmuster schützen wirksam vor Oxydation. In den Tagträumen von Bärlauch und Schnietzfurt werden Platon und Feuerbach eines Tages gedanklich durchdrungen, wird die Statthalterschaft der Wahrheit von Platon und Feuerbach auf Bärlauch und Schnietzfurt übergegangen sein, und bis dahin werden alle sich in gewissen Zwangshandlungen artikulierenden Gedanken an einen vorzeitigen persönlichen Konkurs verdrängt – Arien von Purcell, ein Tennisurlaub in Boston, ein grandseigneuraler Spiegel verschaffen intermediäre Beruhigung. Nur wenn nach Beendigung des Kolloquiums – Professor Langemann mit einer Geste von Kolophon – die gepflegt konkurrierende Konversation im Meinl am Graben über Eierschwammerln und Wallergröstl mit Kapern fortgesetzt wird, durchwebt ein Lemurengefühl die Subjekte. Aber der Tod existiert – selbst wenn der Teint von Professor Dörr sich der Farbe der soeben aufgetischten Pastete nähert – ja nur zum Spaß. Mit Schwung und jungwissenschaftlicher Dynamik hatte Frau Dr. Winter ihr Habilitationsprojekt über Die Schwerelosigkeit von Platon bis Major Tom aufgenommen, bis sich 8 Jahre und ungezählte Gravitationen durch das Sujet später das Symptom in seinen ersten Zuckungen bemerkbar machte, derart einbruchshafte und drakonische Zuckungen, dass sich kein Ich denke mehr dazwischen schalten ließ. Die Abschnürung des symbolischen Todes, des Muts zur Lücke, forderte ihren Preis; Symptome und seltsame Fragen flankierten Frau Dr. Winter mit Perseveranz und Überallheit: Wo ist mein Schlüssel? Wieviel Schritte brauche ich zum Haus, das Omen? Ist das Gerät aus? Was denkt die schwarze Katze? Is there anybody out there? Wie anfangen und wo aufhören mit der Sekundärliteratur? Wie, wo, wann den Einstieg finden in dies Unaufhörliche der begrifflichen Bewegungen, der Signifikantenbewegungen, die die gute und die schlechte Wiederholung, das Sprechen und das Symptom formatieren?

3.14 Die Wiederholung eines Versuchs Ein weiterer Anlauf, Durchlauf könnte darin bestehen, diese Struktur des neurotischen Symptoms, das von der Verkennung des symbolischen Todes im imaginären Tod kündet, selbst zu befragen. Die Strukturaffinität von guter und schlechter Wiederholung wurde bereits registriert. Lacan betont, dass das Symptom sich „als Signifikant eines aus dem Bewußtsein des Subjekts verdrängten Signifikats“ beschreiben lässt und dass es „Sprechen im vollen Sinn [ist], denn es umfaßt im Geheimnis seiner Chiffrierung den Diskurs des anderen“95. Angewendet auf Frau Dr. Winter: zwischen der Schwerelosigkeit von Platon bis Major Tom und dem iterativen Terrorismus des Schlüssels, des Omens, des Geräts besteht, was deren strukturelle Genese betrifft, kein Unterschied, beides sind Übertragungsleistungen des wie eine Sprache strukturierten Unbewussten. Was die Wahl der jeweiligen Übertragung, das Buch schreiben oder agonal zwischen Schlüssel, Omen, Gerät, Anfang und Ende rotieren, betrifft, so besteht dennoch ein Unterschied von existentieller Dra95 Lacan 1991: 122.

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matik, die dadurch, dass sie nicht auf eine voluntaristische Wahl zurückgeht, noch eskaliert. Die schlechte Wiederholung des Symptoms ist Anzeichen eines opprimierten Begehrens: Das übermächtige Regime des imaginären Todes bedingt eine Zugangsverweigerung zum symbolischen Tod und daraus resultiert das Unvermögen, aus der im gespaltenen Sein seienden Wiederholung des Signifikanten Ur-Sache produktive und schöpferische Funktion, neue Signifikate, neue Metaphern zu machen. Stattdessen codiert sich das in dieser Weise unterdrückte und eingeschränkte Begehren in den Metaphern des Symptoms: „Das Symptom ist eine Metapher, ob man sich das nun eingestehen will oder nicht.“96 An dieser Stelle kann nicht weiter auf die institutionellen und diskursiven Restriktionen, die gerade der akademische Diskurs dem Subjekt auferlegt und die die zwangsneurotische Virulenz dieses Diskurses ausmachen, eingegangen werden. Jedoch gilt für den Fall Winter wie für dieses Buch, dass das Symptom sich nicht in einem Hochamt von Erkenntnis, sondern nur durch harte Arbeit am Begriff auflösen wird, nämlich durch die Arbeit mit der von Freud begründeten Technik: Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. In einem weiteren Anlauf, Durchlauf soll nun also die Struktur des Symptoms befragt und damit der Satz „das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache“ wiederholt werden.

96 Lacan 1991a: 50.

4. Z W I S C H E N

DEN

SCHAUPLÄTZEN

4.1 Zusammenfassung „Voilà. Diese dit-mension – ich wiederhole mich, aber wir sind in einem Bereich, wo justament das Gesetz die Wiederholung ist – diese dit-mension, das ist das Sagen von Freud.“1 Die Psychoanalyse Lacans ist die Wiederholung der Theorie eines wissenschaftlichen Feldes, das gesetzmäßig bestimmt ist durch die Operation der Wiederholung. Lacan wiederholt Freuds Theorie des Anderen Schauplatzes, die eine ontologische Theorie darstellt, sofern dieser Schauplatz das Sein selbst ist, die aber zugleich in einem radikal dissonanten Verhältnis zur Tradition der abendländischen Metaphysik steht. Freud revolutioniert die Ontologie in der Erfahrung und Ergründung eines Seins, das nur in Form einer diskreten Wiederholung seiend ist – Anderer Schauplatz, Ontologie des Operationalen. „Die Zeit der Wiederholung ist kein Vermögen, über das man verfügt. Sie ist weder vergegenwärtigende Erinnerung noch leere Repetition.“ Sie ist vielmehr das Sein selbst, sofern es Funktion macht von der „abgründigen Distanz der Wiederholung“, vom „Unmöglichen, das keinen Bestand hat“, von der ewigen und ewig verfluchten Diskordanz des Symbolischen und des Realen. „Die Theorie des Unbewußten, in ihrer kulturanalytischen Lesart, macht den Platz des Verfehlens frei, der doch stets mit Glücksidolen und kollektiven Heilsvisionen angefüllt wird.“2 Zu seiner Zeit war Freud einsam, heimatlos, auf dem ursächlichen Posten der Verlorenheit mit dieser seiner neuen Anderen Ontologie: „in dem Fall, in dem er war, ich wiederhole es: nichts zu haben, was, auf seinen Gegenstand antwortend, auf demselben Niveau wissenschaftlicher Reifung gewesen wäre, hat er wenigstens diesen Gegenstand auf der Höhe seiner ontologischen Würde zu halten vermocht.“3 Hier taucht es in seiner dunklen Silhouette auf, das angekündigte Geisterhaus. Über, unter und neben Freud nur leerstehende Wohnungen, alle Nachbarn überfrüht verstorben, zwischen Spinnennetzen und in allen Winkeln diskrete Gespenster, aber Freud ertrug Stille, Antwortlosigkeit, transzendentale Obdachlosigkeit und machte sich an die diesem morbiden Ambiente entsprechende Trauerarbeit. Nicht sonnen- und erfolgsorientiert, sondern besessen vom Dunkel der Wahrheit und „entschlossen [zur] Ankündigung einer höllischen Öffnung auf eine Unterwelt hin“4 machte Freud gute Funktion vom Mangel und sendete Botschaften – „wie Nietzsche

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Lacan 1986a: 121. Tholen 2002: 141. Lacan 1991a: 38f. Lacan 1987: 36.

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gewußt hat, wendet sich ein bestimmter Diskurs allein an die Fernsten“5 – die erst Lacan erhörte.6 Lacan hat die Freud’sche Erfahrung in ihrem philosophiehistorischen Kontext situiert, er hat die Anschlüsse Freuds an Descartes und Hegel rekonstruiert, und er hat in Hegels Dialektik die Präludien des diskret prozessierenden Unbewussten aufgezeigt. War dies das Thema der ersten Kapitel, so werden die folgenden Kapitel die Genealogie des Freud’schen Unbewussten in physik-, medien- und medizinhistorischen Diskursen behandeln und damit die These, dass es in Wahrheit Freud und nicht Ferdinand de Saussure war, der die linguistischen Termini von Signifikant und Signifikat eingeführt hat. „Von vornherein“, so Lacan, „[hat] Freud die konstituierende Rolle des Signifikanten im Status des Unbewußten [...] sehr exakt formalisiert.“7 „Auch bei Freud ist die Sprache eine das Psychische strukturierende Instanz; er hat deren Bedeutung erkannt, konnte aber deren theoretische Aufarbeitung nicht leisten, weil ihm die strukturale Linguistik, die zur selben Zeit in Genf aufblühte, noch nicht zur Verfügung stand. Seine Arbeiten, angefangen von der frühen, 1891 verfaßten, 5 6

7

Lacan 1987: 29. Vgl. hierzu auch folgende beispielhafte Stellen aus Freuds Selbstdarstellung. Eine genaue Positionsbestimmung Freuds in der im Experimentaldispositiv integrierten Psychiatrie erfolgt in den Kapiteln 6 und 7. „Der Ruf meiner durch die Autopsie bestätigten Diagnosen trug mir den Zulauf amerikanischer Ärzte ein, denen ich in einer Art von Pidgin-English Kurse an den Kranken meiner Abteilung las. Von den Neurosen verstand ich nichts. Als ich einmal meinen Hörern einen Neurotiker mit fixiertem Kopfschmerz als Fall von chronischer zirkumskripter Meningitis vorstellte, fielen sie alle in berechtigter kritischer Auflehnung von mir ab und meine vorzeitige Lehrtätigkeit hatte ein Ende. Zu meiner Entschuldigung sei bemerkt, es war die Zeit, da auch größere Autoritäten in Wien die Neurasthenie als Hirntumor zu diagnostizieren pflegten.“ (Freud 1999: XIV 36) „Ich wende mich nun wieder zu meiner Niederlassung als Nervenarzt in Wien 1886. Es lag mir die Verpflichtung ob, in der „Gesellschaft der Ärzte“ Bericht über das zu erstatten, was ich bei Charcot gesehen und gelernt hatte. Allein ich fand eine üble Aufnahme. Maßgebende Personen wie der Vorsitzende, der Internist Bamberger, erklärten das, was ich erzählte, für unglaubwürdig. Meynert forderte mich auf, Fälle, wie die von mir geschilderten, doch in Wien aufzusuchen und der Gesellschaft vorzustellen. Dies versuchte ich auch, aber die Primarärzte, auf deren Abteilung ich solche Fälle fand, verweigerten es mir, sie zu beobachten oder zu bearbeiten. Einer von ihnen, ein alter Chirurg, brach direkt in den Ausruf aus: „Aber Herr Kollege, wie können Sie solchen Unsinn reden! Hysteron (sic!) heißt doch der Uterus. Wie kann denn ein Mann hysterisch sein?“ Ich wendete vergebens ein, daß ich nur die Verfügung über den Krankheitsfall brauchte und nicht die Genehmigung meiner Diagnose. Endlich trieb ich außerhalb des Spitals einen Fall von klassischer hysterischer Hemianästhesie bei einem Manne auf, den ich in der „Gesellschaft der Ärzte“ demonstrierte. Diesmal klatschte man mir Beifall, nahm aber weiter kein Interesse an mir. Der Eindruck, daß die großen Autoritäten meine Neuigkeiten abgelehnt hätten, blieb unerschüttert; ich fand mich mit der männlichen Hysterie und der suggestiven Erzeugung hysterischer Lähmungen in die Opposition gedrängt. Als mir bald darauf das hirnanatomische Laboratorium versperrt wurde und ich durch Semester kein Lokal hatte, in dem ich meine Vorlesung abhalten konnte, zog ich mich aus dem akademischen und Vereinsleben zurück. Ich habe die „Gesellschaft der Ärzte“ seit einem Menschenalter nicht mehr besucht.“ (Freud 1999: XIV 39) Lacan 1991a: 38.

ZWISCHEN DEN SCHAUPLÄTZEN ſ 101 die sich mit Aphasie beschäftigt, über die Psychopathologie des Alltagslebens, den Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, die Traumdeutung, bis zur späten Verneinung, um nur die auffälligsten zu nennen, zeigen, daß Freud wesentliche Einsichten der strukturalen Linguistik (R. Jakobson, J. Hjelmslev) vorwegnahm oder zur selben Zeit wie Ferdinand de Saussure in Genf niederschrieb, ohne dies zu wissen. Witze, Träume, Fehlleistungen, auch Symptome erweisen sich als Signifikantenspiele, die auf der Trennung der Ebene der verbalen Signifikanten von derjenigen der Signifikate basieren.“8

4.2 Die Vernichtung von Meringer und Mayer Die Tatsache, dass Freuds Verständnis tief in die Natur der sprachlichen Struktur eingedrungen ist, lässt sich nicht nur implizit aus Freuds antirepräsentativer Konzeption des unbewussten Sinns9 und den unbewussten Mechanismen der Verschiebung und Verdichtung erschließen, sondern ist explizit als konkrete Referenz in Freuds Werk enthalten. Im Kontext der Fehlhandlungen des Versprechens und Verlesens in der Psychopathologie des Alltagslebens nennt Freud zwar nicht den vermeintlichen Entdecker des strukturalen Objekts, aber er nennt die bereits strukturalistisch determinierten Sprachforscher Meringer und Mayer. Es läuft auf eine Kontestation hinaus; so wie Lacan Saussures Zeichentheorie destruieren wird, so destruiert Freud Meringer und Mayer. Seinen Manieren und seiner wissenschaftlichen Integrität entsprechend lässt er die Debatte mit einer neutralen Zusammenfassung der Beobachtungen und Resultate der beiden Sprachforscher beginnen. „Ich befinde mich hier ausnahmsweise in der Lage, eine Vorarbeit würdigen zu können. Im Jahre 1895 haben Meringer und C. Mayer eine Studie über „Versprechen und Verlesen“ publiziert, deren Gesichtspunkte fernab von den meinigen liegen. Der eine der Autoren, der im Texte das Wort führt, ist nämlich Sprachforscher und ist von linguistischen Interessen zur Untersuchung veranlaßt worden, den Regeln nachzugehen, nach denen man sich verspricht. Er hoffte, aus diesen Regeln auf das Vorhandensein „eines gewissen geistigen Mechanismus“ schließen zu können, „in welchem die Laute eines Wortes, eines Satzes, und auch die Worte untereinander in ganz eigentümlicher Weise verbunden und verknüpft sind“ (S. 10).“10

So gewinnbringend dieser Ansatz sich auf den ersten Blick dem an der sprachlichen Struktur des Unbewussten interessierten Psychoanalytiker darstellt, so sehr divergiert er doch auf einen zweiten kompromissloseren Blick von der Motivierung jenes Psychoanalytikers, das heißt eines Medienarchäologen des Unbewussten. Im Prinzip wiederholt sich hier das von Lacan untersuchte Symptom, das die Strukturlinguistik befällt, noch bevor deren vermeintliche Ur-Szene in Saussures Sakristei sich ereignet – das Zeichen wird Gondek 2001: 15. Vgl. hierzu z.B. Freud 1999: XI 33: „Einigen wir uns noch einmal darüber, was wir unter dem „Sinn“ eines psychischen Vorganges verstehen wollen. Nichts anderes als die Absicht, der er dient, und seine Stellung in einer psychischen Reihe. Für die meisten unserer Untersuchungen können wir „Sinn“ auch durch „Absicht“, „Tendenz“ ersetzen.“ 10 Freud 1999: IV 61. 8 9

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objektiviert, anders formuliert, es wird sterilisiert und von seinem realen Medium gesondert. In völliger Asynchronizität, das heißt noch bevor die historische Möglichkeit dieses Verfallens der Linguistik und die dadurch bedingten Missbräuche der Linguistik für eine aufs Symbolische reduzierte unbewusste und narbenlos rationalisierbare Struktur eigentlich gegeben sind, stellt Freud, begabt mit einem ans Hellseherische rührenden analytischen Blick der Meringer-Mayer’schen Untersuchung genau diese Diagnose. Freud findet genau die Symptome des Wissenschaftlers, der seinen Gegenstand, diesen so um seine Abwegigkeiten und Maserungen des Unausdenkbaren subtrahierend, in den Status eines (imaginären) Objekts erhebt, bei den Linguisten Meringer und Mayer. Nämlich zum einen die Tendenz zu einer rein klassifikatorischen und deskriptiven Behandlung des entsprechenden Gegenstandes und zum anderen die Subventionierung eines autonom und souverän über den jeweiligen Gegenstand, in diesem Falle den Laut bzw. das Wort, verfügenden Bewusstseins.11 Freud dagegen betrachtet die Sprache nicht als Linguist, sondern als Psychoanalytiker, das heißt er isoliert das Zeichen nicht von den Wirkungen, die zu seiner Hervorbringung geführt haben. Es gilt hier mit Freud, scharf zu differenzieren und zu raschen Verurteilungen Vorschub zu leisten. Vom ersten Ansatz her fühlt Freud sich von Meringer und Mayer durchaus unterstützt und inspiriert. Denn „sie unterscheiden die Entstellungen, welche die intendierte Rede durch das Versprechen erfährt, als: Vertauschungen, Vorklänge, Nachklänge, Vermengungen (Kontaminationen) und Ersetzungen (Substitutionen)“12. Und weiter macht die Meringer-Mayer’sche Untersuchung ja das von Freud befragte Versprechen zum Thema und sucht, hierin ganz konform mit Freuds Analyse der Fehlhandlungen, „aus den Erscheinungen des Versprechens Schlüsse auf einen Mechanismus zu ziehen, der Laute und Worte zur gegenseitigen Beeinflußung ihrer Artikulation miteinander verknüpft, also Schlüsse, wie sie der Sprachforscher aus dem Studium des Versprechens zu gewinnen hoffte. Im Falle der Störung durch Einflüße außerhalb des nämlichen Satzes oder Redezusammenhanges würde es sich vor allem darum handeln, die störenden Elemente kennen zu lernen, und dann entstünde die Frage, ob auch der Mechanismus dieser Störung die zu vermutenden Gesetze der Sprachbildung verraten kann.“13

Auch hierin stimmt Freud im Stil einer Vorwegnahme von Lacans Desiderat einer Dialektisierung von Wissenschaft und Psychoanalyse noch mit den beiden Autoren überein: Die Linguistik kann und soll von den Resultaten einer Störungsinspektion durchaus profitieren. Dann aber kommt es zur Gabelung. Meringer und Mayer, die Linguisten, erkennen diesen Profit nämlich nicht: „Der Erklärungsversuch, den die beiden Autoren auf ihre Sammlung von Beispielen gründen, ist ganz besonders unzulänglich. Sie meinen, daß die Laute und Silben eines Wortes verschiedene Wertigkeit haben, und daß die Innervation des hochwertigen Elements die der minderwertigen störend beeinflussen kann. Dabei fußen sie offenbar auf den an sich gar nicht so häufigen Vor- und Nachklängen; für andere Er11 Vgl. Freud 1999: IV 61-63. 12 Freud 1999: XI 25f. 13 Freud 1999: IV 64.

ZWISCHEN DEN SCHAUPLÄTZEN ſ 103 folge des Versprechens kommen diese Lautbevorzugungen, wenn sie überhaupt existieren, gar nicht in Betracht. Am häufigsten verspricht man sich doch, indem man anstatt eines Wortes ein anderes, ihm sehr ähnliches sagt, und diese Ähnlichkeit genügt vielen zur Erklärung des Versprechens.“14

Meringer und Mayer suchen den Störungsimpuls rein sprachimmanent zu erklären, sie überschreiten das Feld einer immanenten Linguistik nicht im Hinblick auf das unbewusste Subjekt, das sich in dem Versprechen äußert und überträgt. Freud lehnt diesen Erklärungsversuch, so wie er auch die Reduktion der Formel das-Freud’sche-und-das-sprachstrukturierte-Unbewusste auf die Feststellung und Untersuchung rein sprachlicher Strukturen rigoros refüsiert hätte, ab, nicht ohne jedoch seinen Dank an die beiden Linguisten zu adressieren, dass sie ihn den Weg zu einem Erklärungsversuch für das Versprechen haben finden lassen. Dieser Weg führt jedoch in andere Gegenden, orphisch und finster, in eine für das lichtsuchende Bewusstsein tödliche Finsternis, er führt in die Finsternis des „inneren Getriebes des Seelenlebens“15. Anders als Meringer und Mayer hat Freud es in der Traumdeutung wie auch in der Psychopathologie des Alltagslebens „für nötig gefunden, über den Inhalt der intendierten Rede hinauszugehen“16, um so den jenseits des bewussten Redeinhalts liegenden unbewussten Sinn der Rede zu dechiffrieren. Freud zufolge lässt sich die Sprechstörung weder auf mechanische Ursachen zurückführen (dies wäre der an anderer Stelle dekonstruierte Ansatz Wundts17), noch sprachimmanent oder inhaltlich explizieren, sondern einzig und allein im Rekurs auf den sich darin zur Äußerung bringenden „zurückgehaltenen oder unbewußten Gedanken“. Es sind also „unbewußte Gedanken, die sich entweder durch die Störung selbst verraten (Klapperschlange – Kleopatra) oder einen indirekten Einfluß äußern, indem sie ermöglichen, daß die einzelnen Teile der bewußt intendierten Rede einander stören (Asenatmen: wo Hasenauerstraße, Reminiszenzen an eine Französin dahinterstehen)“18. Damit ist das Deutungsmuster Meringers, nach dessen „Einsicht [...] es irgend eine Ähnlichkeit eines Wortes im intendierten Satze mit einem anderen nicht intendierten [ist], welche dem letzteren gestattet, sich durch die Verursachung einer Entstellung, Mischbildung, Kompromißbildung (Kontamination) im Bewußtsein zur Geltung zu bringen“19, widerlegt. Um den Satz in einer anderen Richtung zu wiederholen: Entstellungen, Mischbildungen und Kompromissbildung entstehen nicht sprachimmanent durch Affinität von Klang oder Inhalt der Worte, sondern vielmehr gehen derartige verbale Fehlhandlungen auf die Einschaltung und Manipulation der bewussten Rede durch unbewusste Gedanken zurück. Damit ist es nur ein Schritt zu den Mechanismen, die Freud in der Traumdeutung als die Entstellungsarbeit des Traumes (Verschiebung und Verdichtung) spezifiziert.20 Freud selbst ver14 15 16 17 18 19 20

Freud 1999: XI 25f. Freud 1999: XI 292. Freud 1999: IV 302. Vgl. Kapitel 6.6. Freud 1999: IV 303. Freud 1999: IV 66. Vgl. Freud 1999: II/III 313: „[...] daß bei der Traumarbeit eine psychische Macht sich äußert, die einerseits die psychisch hochwertigen Elemente ihrer Intensität entkleidet, und anderseits auf dem Wege der Überdeterminierung aus minderwertigen, neue Wertigkeiten schafft, die dann in den Trauminhalt gelan-

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weist an dieser Stelle in der Psychopathologie auf die Traumdeutung, in der er „dargetan [habe], welchen Anteil die Verdichtungsarbeit an der Entstehung des sogenannten manifesten Trauminhalts aus den latenten Traumgedanken hat. [...] Die Bildung von Substitutionen und Kontaminationen beim Versprechen ist somit ein Beginn jener Verdichtungsarbeit, die wir in eifrigster Tätigkeit am Aufbau des Traumes beteiligt finden.“21

Die Entstellung der Traumelemente bzw. die durch die verbale Fehlleistung hervorgerufene Entstellung ist in der psychoanalytischen Theorie grundsätzlich vom Unbewussten her determiniert. Es handelt sich ein jedes Mal um unbewusste Botschaften, wobei der Inhalt der so übertragenen unbewussten Nachricht der jeweiligen Situation entsprechend variieren kann. „Die gewöhnlichste und auch die auffälligste Art des Versprechens ist aber die zum genauen Gegenteil dessen, was man zu sagen beabsichtigt.“22 Freud enumeriert weitere Fälle, in denen „Selbstkritik“ und „innerer Widerspruch gegen die eigene Äußerung“ das Versprechen, ja sogar den „Ersatz des Intendierten durch seinen Gegensatz nötigt.“ Diese Fälle konsolidieren die psychoanalytische Theorie des Versprechens verstärkt gegen die sprachimmanente Argumentation der Linguisten und erweisen sich darüber hinaus als besonders wertvoll für die entschlüsselnde Aufdeckung des am Grund des Versprechens stehenden unbewussten Gedankens. „Man merkt dann mit Erstaunen, wie der Wortlaut einer Beteuerung die Absicht derselben aufhebt, und wie der Sprechfehler die innere Unaufrichtigkeit bloßgelegt hat.“23 Um die sublime Differenz noch einmal zu pointieren: Freud unterschätzt nicht das von den Linguisten herauspräparierte Verhältnis der „Lautbeziehungen“ und der „Wortähnlichkeit“ zu den „Wortassoziationen“, aber er bleibt im Unterschied zur Linguistik nicht bei der schlichten Konstatierung dieses Phänomen ste-

gen. Wenn das so zugeht, so hat bei der Traumbildung eine Übertragung und Verschiebung der psychischen Intensitäten der einzelnen Elemente stattgefunden, als deren Folge die Textverschiedenheit von Trauminhalt und Traumgedanken erscheint. Der Vorgang, den wir so supponieren, ist geradezu das wesentliche Stück der Traumarbeit: er verdient den Namen der Traumverschiebung. Traumverschiebung und Traumverdichtung sind die beiden Werkmeister, deren Tätigkeit wir die Gestaltung des Traumes hauptsächlich zuschreiben dürfen. [...] Ich denke, wir haben es auch leicht, die psychische Macht, die sich in den Tatsachen der Traumverschiebung äußert, zu erkennen. Der Erfolg dieser Verschiebung ist, daß der Trauminhalt dem Kern der Traumgedanken nicht mehr gleich sieht, daß der Traum nur eine Entstellung des Traumwunsches im Unbewußten wiedergibt.“ 21 Freud 1999: IV 66f. 22 Freud 1999: XI 26. Vgl auch den Fortgang den Zitats, der der experimentalpsychologischen Assoziationslehre ein besonderes Gewicht konzediert: „Dabei kommt man natürlich von den Lautbeziehungen und Ähnlichkeitswirkungen weit ab und kann sich zum Ersatz dafür darauf berufen, daß Gegensätze eine starke begriffliche Verwandtschaft miteinander haben und einander in der psychologischen Assoziation besonders nahestehen.“ Vgl. hierzu auch Kapitel 6.6. 23 Freud 1999: IV 96.

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hen, sondern begibt sich auf die Spur einer Deutung, die den Gesichtskreis linguistischer Immanenz transzendiert.24

4.3 Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache Die von der Sekundärliteratur ad infinitum amplifizierte Formel, dass das Unbewusste strukturiert sei wie eine Sprache, müsste demnach Freud revindiziert werden? Dem steht entgegen, dass Freud an keiner Stelle seines Werkes die linguistischen Fachtermini von Signifikant und Signifikat explizit verwendet; ihr Copyright muss weiterhin und anerkanntermaßen bei Saussure bleiben. Und der wie ein Logo, ein leuchtendes Passwort, durch die Sekundärliteratur, insbesondere die frühe deutsche Lacan-Rezeption, geisternde Satz vom sprachstrukturierten Unbewussten spielt in der Tat in so vielen Variationen in Lacans Texten, dass darüber sein Memento von der Inexistenz eines „Lacan’schen Unbewussten“ fast vergessen werden könnte.

4.4 Wessen Unbewusstes? Es bleibt also eine Zweideutigkeit, eine signifikante Zweideutigkeit, die nur wiederholt werden kann und muss – wiederholt, erinnert, durchgearbeitet. Das historische Vorgehen dieser Rekonstruktion des Unbewussten hält sich einfach an die Technik der Analyse selbst – Wiederholen, Erinnern, Durcharbeiten. Lacan praktiziert die Freud’sche Technik der Analyse, und also ist das wissenschaftliche Objekt der Lacan’schen Psychoanalyse, um diesen Faden wieder aufzunehmen: die Freud’sche Erfahrung: „Dies hat sich Freud offenbart, und Freud nannte seine Entdeckung das Unbewußte.“25 In seinen gesamten Schriften und Seminaren gibt es keinen Ort oder Moment, wo Lacan „sein“ Unbewusstes prätendierte, im Gegenteil, er ist beharrlich, er wiederholt es unentwegt: Es geht um „das Unbewußte als Freudscher Begriff“26, „Freud hat es vor mir gesagt“27, „wir lehren nach Freud“28, „wenn ich vom 24 Vgl. Freud 1999: XI 27f. Vgl. auch Freud 1999: IV 93: „Ich hoffe, die Leser

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werden den Wertunterschied dieser Deutungen, die sich durch nichts beweisen lassen, und der Beispiele, die ich selbst gesammelt und durch Analysen erläutert habe, nicht vernachlässigen. Wenn ich aber im stillen immer noch an der Erwartung festhalte, auch die scheinbar einfachen Fälle von Versprechen würden sich auf Störung durch eine halb unterdrückte Idee außerhalb des intendierten Zusammenhanges zurückführen lassen, so verlockt mich dazu eine sehr beachtenswerte Bemerkung von Meringer. Dieser Autor sagt, es ist merkwürdig, daß niemand sich versprochen haben will. Es gibt sehr gescheite und ehrliche Menschen, welche beleidigt sind, wenn man ihnen sagt, sie hätten sich versprochen. Ich getraue mich nicht, diese Behauptung so allgemein zu nehmen, wie sie durch das „niemand“ von Meringer hingestellt wird. Die Spur Affekt aber, die am Nachweis des Versprechens hängt und offenbar von der Natur des Schämens ist, hat ihre Bedeutung.“ Lacan 1991a: 34. Lacan 1987: 26f. Lacan 1991a: 11. Lacan 1991a: 108.

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Buchstaben und vom Sein spreche, wenn ich den andern und den Andern unterscheide, so darum, weil Freud mir diese Begriffe nahelegt“29, „Freud zu überholen, kommt nicht in Frage“, und „alle Gegenstände“ sind belanglos „außer dem einen: den Zugang wiederherzustellen zu der Erfahrung, die Freud freigelegt hat“30. Nur durch den Rekurs auf die von Freud entdeckte „Struktur erhalten wir jedenfalls die Gewißheit, daß mit dem Begriff des Unbewußten etwas bestimmt, erschlossen, objektiviert werden kann“, nur hierdurch konstituiert sich überhaupt erst der wissenschaftliche Gegenstands- und Geltungsbereich der Lacan’schen Psychoanalyse31. Lacan hört nicht auf, er wird nicht müde, es zu wiederholen, er ist beharrlich: Das Unbewusste, das die Theorie von Jacques Lacan behandelt, lässt sich weder vor noch nach Freud datieren, es geht nicht um ein neues Lacansches Unbewusstes, das das Freud’sche ablösen würde, es geht erst recht nicht um ein Integral systematisch und historisch unterschiedlicher Theorien vom Unbewussten. „Das Freudsche Unbewußte hat mit jenen sogenannten Formen des Unbewußten, die ihm vorausgingen beziehungsweise gleichzeitig mit ihm auftraten oder auch jetzt noch in seiner Umgebung auftreten, schlechterdings nichts gemein.“ All diese Nicht-Freud’schen Formen stellen das Unbewusste als das „Nicht-Bewußte oder das mehr oder weniger Bewußte“, also nur als das Negativ des Bewusstseins vor, sie reduzieren sich auf eine räumliche oder substantielle Dichotomie, wohingegen Freud den für sein Unbewusstes bestimmenden Spalt als diskrete Operation denkt, als Vorgang, zeitliches Pulsieren, signifikantes Stakkato, als Wiederholung in actu. So geheimnisvoll, unvorstellbar, stygisch das sich in seiner Trauerarbeit um die Ur-sache verlierende Unbewusste auch ist, steht es dennoch in keiner Verwandtschaftsbeziehung mit dem „romantischen Unbewußten der schöpferischen Phantasie“, ebensowenig mit dem kollektiven Unbewussten von Jung, auch nicht mit dem Okkultismus und dem „heterokliten Gerümpel, das ein Eduard von Hartmann ein einsames Philosophenleben lang unter dem Namen des Unbewußten zusammengelesen hat“32. Es gibt also eine ganze Serie jeweils unterschiedlich formatierter Formen von Unbewussten, von der Antike über den Spiritismus bis hin zum „Funktionieren des Wilden Denkens von Levi-Strauss“, und daneben und strikt zu separieren gibt es „das Unbewußte als solches“33 – das Unbewusste Freuds und das sprachstrukturierte Unbewusste.

4.5 Das Unbewusste Freuds und das sprachstrukturierte Unbewusste Dieser Term subsumiert auf die konziseste Weise das Thema, die Formel, zugleich die Fuge dieses Buches, wobei der Akzent auf das „und“ gesetzt werden muss, das die beiden Terme „Freud’sches Unbewusstes“ und „sprachstrukturiertes Unbewusstes“ junktimiert. Denn es handelt sich in der Tat um eine Junktimierung, um ein logisches „und“, das zwei Terme in einer 29 30 31 32 33

Lacan 1991a: 54. Lacan 1991a: 117. Lacan 1987: 26f. Lacan 1987: 30. Lacan 1987: 19.

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solchen, nämlich unauflöslichen Verbindung notiert, die strenggenommen die einzige Möglichkeit ist, in wenn auch nur kursivierter Form von einem „Unbewussten à la Lacan“ zu sprechen. Das „Unbewusste à la Lacan“ ist kein von Lacan in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts gebautes Kompositum aus den Theoriegebäuden Freuds und de Saussures, es ist keineswegs so, dass Lacan nachträglich die Saussure’sche und über Saussure hinausgehende informationstheoretische Strukturlinguistik in Freuds Konzept des Unbewussten implantierte. Eine solche lineare und ideengeschichtliche Lektüre des Lacan’schen Unbewussten würde völlig die oben betonte Tatsache verfehlen – nämlich das „und“ im Sinne eines logischen Operators, das „Dass“ des von Lacan so oft wiederholten und dennoch von der Sekundärliteratur so oft überhörten Sachverhalts: Das Freud’sche Unbewusste ist ein sprachstrukturiertes Unbewusstes. Lacan denkt das Unbewusste systematisch als die „Beziehung des Begehrens auf jenes Mal der Sprache, das das Freudsche Unbewußte spezifiziert und unsere Konzeption des Subjekts zu einer dezentrischen macht“34. Er adaptiert die Freud’schen Begriffe und Operationen der Verschiebung und der Verdichtung nicht, um sie mittels Jakobsons Funktionen von Metonymie und Metapher zu reformieren, sondern um die von Jakobson als Metonymie und Metapher beschriebenen und benannten Effekte in Freuds Unbewusstem wiederzufinden.35 Und ebenso arbeitet er mit Freud’schen Begriffen von der Übertragung bis zum Todestrieb nicht, um ein Wissen aus dem wissenschaftlichen Zeitalter der Energetik in den neuesten Charme der Saison – die Kybernetik und die Informationstheorie – zu transferieren, sondern um präkybernetische und signaltechnische Funktionen bereits in Freuds psychischem Apparat (wieder-) zu finden. Saussure und Jakobson, Boole und Shannon sind nicht die Lehngötter, die Lacan bei der Weiterentwicklung eines Freud’schen in ein Lacan’sches Unbewusstes assistiert hätten, sie sind vielmehr Wissenschaftler, die in unterschiedlichen Diskursen und Wissensfeldern, die sich im 20. Jahrhundert etabliert haben, Begriffe und Formalisierungen für Phänomene einführen, die Freud geahnt, gesehen, antizipiert hat, die er jedoch – in Ermangelung der respektiven Diskurse und Notationen – nur in der Verzifferung zu artikulieren vermochte. Lacans Theorie des wie eine Sprache strukturierten Unbewussten ist also eine Wiederholung von Freuds Theorie des Unbewussten, aber eine, um es in Anspielung auf den Ausgang des Präludiums zu sagen, gute Wiederholung, eine solche Wiederholung, die zugleich etwas Neues einführt. Er bedient sich Saussures, Jakobsons, Shannons und anderer, zu Freud zurückkommend, auf eine gute Weise – „um fortzuschreiten, muß man auf die Dinge zurückzukommen verstehen. Es ist nicht so sehr seine Wiederholung, die ärgerlich ist, sondern daß man sich seiner schlecht bedient.“36

34 Lacan 1991: 212. 35 Zur Beziehung von Lacan und Jakobson vgl. Kap. 8.9. 36 Lacan 1990a: 134.

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4.6 Lacans Wiederholung des Unbewussten: das brennende Sein Lacans Theorie ist eine Wiederholung der Freud’schen Theorie, er spricht, er praktiziert, er analysiert und entziffert die Geschichte des Unbewussten. Dabei besteht das Neue, das Lacans Wiederholung des Freud’schen Unbewussten ins Spiel bringt, nicht einfach darin, dass er die Freud’sche Erfahrung in jenen strukturalistischen und informationstheoretischen Wissensfeldern verortet, die Freud geahnt, aber noch nicht gekannt hat; das Neue besteht nicht einfach nur darin, die Erfahrung in den wissenschaftlichen Registern der Kybernetik zu deklinieren. Lacans Tribut lässt sich nicht darauf reduzieren, dass er die von Freud beschriebenen unbewussten Vorgänge den Diskursen der Strukturlinguistik gemäß formalisiert und in Signifikant-Signifikat-Modelle übersetzt. Wenn Lacans Psychoanalyse die Ankunft des Freud’schen Unbewussten im 20. Jahrhundert ermöglicht, dann impliziert das weit mehr und anderes als Beisteuerung von Terminologien und die Transkription in die Codes von Linguistik und Informatik, nämlich: Arbeit, hart und unerbittlich, Gedankenarbeit, auf den Wegen des Signifikanten, des Begriffs, des Buchstabens: „Spüren wir indessen nicht, daß, indem wir den Wegen des Buchstabens gefolgt sind, um die Freudsche Wahrheit einzuholen, wir brennen, und daß sein Feuer um sich greift!“37 Ein Durcharbeiten auf den Wegen des Signifikanten, des Begriffs, des Buchstabens, auf den Wegen der Freud’schen Technik selbst – Lacan spezifiziert diese Technik, wie in den vergangenen Kapiteln dargelegt, im Anschluss an die Philosophie von Descartes und Hegel als eine Technik mit ontologischer Ausrichtung und Fragestellung. Freud wendet sich ans Sein, und zwar an ein bestimmtes Sein, an das Sein, das allein brennen kann. Das Schweigen von All und Sphären ist ewig und kalt, Saussures linguistische Formeln bleiben im Übergang zu den Algorithmen und Binärsymbolen der Kybernetik anämisch, und was im sterilen Röhrenlabyrinth einer „Maschine nicht rechtzeitig kommt, verfällt ganz einfach und beansprucht nichts“. Auch wenn der Determinismus des unbewussten Begehrens sich mit Signifikanten oder Befehlssatzlisten von Computern gut lesen lässt, sieht die Sache im Fall des menschlichen Seins, das heißt auf dem Anderen Schauplatz etwas anders aus: brennender, „lebendiger“, und „was nicht rechtzeitig gekommen ist, bleibt in der Schwebe. Darum handelt es sich bei der Verdrängung“38. Brennen kann nur das menschliche Sein, das Unbewusste, nur es kann das Sein, das Reale, das Begehren, den Körper erfahren, nur es kann die Wunde des Seins erleiden – es allein kann Traumata, Verlassenheiten, Todesängste erfahren. Eine bis zur Besinnungslosigkeit gehende Angst, zerstörerisch und schicksalhaft, so dass es ohne Urverdrängung keine Chance des Überstehens gäbe. Nur das menschliche Sein kann brennen, kann sich entzünden an der Frage nach der Ursache und dem Ende, nach Geschick und Botschaft des Seins. Einerseits gilt: die Geschichte eines menschlichen Subjekts stimmt mit dem Lauf einer Rechenmaschine, deren Programmstrukturen – hier stimmt Lacan ganz und gar zu – sich in ein mathematik- und mediengenealogisches Verhältnis zu den Signifikant-Signifikat-Modellen der Lingu37 Lacan 1991a: 34. 38 Lacan 1991b: 390.

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istik bringen lassen, überein, sofern sie entziffert werden können. Andererseits aber unterscheidet sie sich in einem entscheidenden Punkt vom Lauf einer Rechenmaschine: Das menschliche Sein ist ein einziges Drama, ein Drama von der unmöglichen Wiedererinnerung und Wiederholung einer unmöglichen Ur-Sache. Das menschliche Sein stellt, ob privilegiert oder verflucht sei dahingestellt, denn Lacan betreibt keinen Humanismus, die großen alten Fragen der Ontologie. Es – die im menschlichen Sein implementierte Signifikantenkette – verzehrt sich im Feuer einer Frage, auf die es keine Antwort gibt. Um die beiden Seiten, die gleichermaßen berücksichtigt werden müssen, noch einmal anzuführen: Einerseits verweist Lacan darauf, dass „jene Kette, die darauf insistiert, sich zu reproduzieren in der Übertragung, [dem] vergleichbar ist, das man ebenso nennt bei unsern modernen Denkapparaten (die auf einer elektronischen Realisierung der signifikanten Komposition basieren)“39. Und in dieser Hinsicht, zur analytischen Entzifferung dieser Kette, ist „der Begriff des Signifikanten, wie er in der modernen linguistischen Analyse dem Begriff des Signifikats entgegengesetzt wird, unverzichtbar […] für jede Artikulation des analytischen Phänomens“. Darüber dürfen andererseits zwei entscheidende Punkte nicht vernachlässigt werden. Obwohl Freud „diese Linguistik nicht verfügbar gewesen [ist], da sie nach ihm entstand“, hat er nichtsdestoweniger die entscheidenden „Formeln der Linguistik antizipiert“. Und, was noch viel bedeutsamer ist, Freuds Antizipation ereignet sich in „einem Bereich, in dem man ihre Herrschaft am allerwenigsten erwarten konnte“40, nämlich im Bereich der Ontologie, und damit erobert Freud ein Feld, ein Wissen, das sich de Saussure und auch den computermathematischen Strukturlinguistiken im Fahrwasser Saussures wieder verschlossen hat.

4.7 Das Vergessen Freuds und das Objekt der Wissenschaft Dieses Vergessen der Freud’schen Erfahrung – so in nuce die Diagnose, die Lacan den Wissenschaften des 20. Jahrhunderts stellt41 – lässt sich einfach erläutern über die Frage nach der Definition und Struktur von Wissenschaft. Jedes wissenschaftliche Feld konstituiert sich, um es auf die kürzeste Formel zu bringen, durch ein Erfahrungssubjekt, das sich einem der jeweiligen Fachrichtung entsprechenden Objekt oder Untersuchungsgegenstand gegenübersieht. So sind Alpenveilchen und Magnolien wissenschaftliche Objekte der Botanik; Elektronen, Positronen und Ultraviolett-Katastrophen sind Objekte der Physik; Schadstoffe in Müll und Abwässern machen Objekte für eine Wissenschaft namens Abfalltechnik. Gynäkologen untersuchen Eisprünge und Aborte; Sozialwissenschaftler finden ihre Objekte zum Beispiel bei den Rockefellers, von Fuerstenbergs und Kieselstein-Cords; Literaturwissenschaftler holen sich Göttliche Komödien und Menschheitsdämmerungen in ihre Objektfelder.

39 Lacan 1991a: 44f. 40 Lacan 1991a: 124. 41 Vgl. Lacan 1987: 29.

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4.8 Das strukturale Objekt und die linguistische Urszene Das Objekt der strukturalen Linguistik ist die Sprache, darunter das aus Signifikant und Signifikat bestehende Zeichen, die Möglichkeiten seiner Verkettung und Syntaktisierung, Strukturierung und Systematisierung. Signifikant und Signifikat, Struktur und System – die Objekte der Linguistik sind sicherlich „anderer Natur“ als die Atome der Physik, die Pflanzen der Botanik, die Sinne von faustischer Tragweite, welche die klassische Literaturwissenschaft untersucht. Nichtsdestoweniger sind es zunächst Objekte einer Wissenschaft: der Wissenschaft von den sprachlichen Zeichen. Aber mit dieser Wissenschaft hat nach Gilles Deleuze zugleich „alles begonnen“. Alles, das heißt nichts weniger als eine wissenschaftliche Methode und Bewegung des Denkens, die von der Philosophie über die Kulturwissenschaft bis zur Kybernetik fast alle Wissenschaften des 20. Jahrhunderts erobert hat – die Bewegung des Strukturalismus. Deleuze rekonstruiert den Strukturalismus und den daran anschließenden Poststrukturalismus aus einer Urszene, in der „der strukturale Linguist ein Element ganz anderer Natur, das strukturale Objekt entdeckt“42. Wir befinden uns im Untersuchungsraum jener bestimmten Wissenschaft, deren Objekt das sprachliche Zeichen ist und zwar nicht in seinem semantischen oder inhaltlichen Aspekt. Der Untersuchende hat diese substanzialisierende Optik vielmehr hinter sich gelassen und nähert sich seinem Objekt als einer „Kombination, welche sich auf formale Elemente erstreckt, die aus sich heraus weder Form noch Bedeutung, noch Repräsentation, noch Inhalt, noch gegebene empirische Realität, noch hypothetisches funktionales Modell, noch Intelligibilität hinter den Erscheinungen haben“43. Der Linguist entdeckt das strukturale Objekt – ein Objekt, das sich nicht länger durch seine Objektivität, sondern durch Relationalität und Differentialität definiert, „ein System differentieller Verhältnisse, nach denen sich die symbolischen Elemente gegenseitig bestimmen“44. Ein epistemologisch bahnbrechender Moment, eine Entdeckung von schicksalhafter Bedeutung für das Zeitalter und den Lauf der Wissenschaft, eine Behexung des gesamten Jahrhunderts – das Labor des Linguisten als Epizentrum einer Jahrhundertwissenschaft. Ein Element anderer Natur, ein strukturales Objekt, entwischt dem Labor, um im Stil einer Pandemie – Phoneme und Parenteme, Bits und Bytes – die Sphären des Wissens zu überfallen, um Kettenreaktionen von Strukturen und potenzierten Strukturen, Beobachtungen erster und zweiter Ordnung, von Schaltdesigns, Netzwerken, Verweisungssystemen und Topologien zu provozieren und um schliesslich zu kulminieren in dem „Objekt = x, Rätselobjekt oder großes Mobile“45. Nichtsdestoweniger: die Ursache ist die Entdeckung der Linguistik, personifiziert in Saussure und Jakobson, die Ursache der Kolonialisierung der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts durch strukturale Objekte und topologische Räume liegt in der Autopsie eines Sprachzeichens – und damit innerhalb des Radius einer immanenten, ihrem Objekt verhafteten Wissenschaft. Ganz 42 43 44 45

Deleuze 1992: 10. Deleuze 1992: 13f. Deleuze 1992: 23. Deleuze 1992: 42.

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sicher gilt: Deleuze’ Untersuchung des Strukturalismus als Methode wie Denkepoche, als historisches wie systematisches Phänomen, ist von hohem Wert. Auf treffsichere Weise umkreist er das strukturale Objekt – angesichts dessen Mutabilitätsrate nicht einfach – und kennzeichnet es im Blick auf seine elementaren Kriterien. Mit exemplarischem Bezug auf die jeweiligen Diskurse von der Ethnologie bis zur Spieltheorie demonstriert er luzide, unmissverständlich, tiefgreifend, dass und wie „die wissenschaftliche Ambition des Strukturalismus nicht quantitativ, sondern topologisch und relational ist“46, er erhellt die Diskurse und Praktiken eines Dispositivs, das sich vom naiven Objektbegriff gelöst hat und stattdessen die Struktur selbst in ihrem Objektfeld erkennt, er verfolgt diese Produktion des originalen und spezifischen theoretischen Objekts des Strukturalen bis ins hypermorphe Wuchern des Objekts = x. Ganz sicher gilt also, Deleuze’ Verdienst beim Überblicken und summarischen Erfassen des Strukturalismus, seiner Geschichte, seiner Stile, muss unberührt bleiben. Dennoch bleibt eine Rekonstruktion des Strukturalismus aus der Entdeckung der Linguistik an einer Stelle problematisch, und dies ist der Anfang. Am Anfang des Strukturalismus, so die geläufige Geschichte, stehe das wissenschaftliche Objekt Saussures, das aus Signifikant und Signifikat gebildete Spachzeichen, und auch wenn dies im Fortgang der strukturalistischen Bewegung von seiner Besonderheit abstrahiert wird, auch wenn sich eine Trennung vollzieht zwischen der Struktur und dem, worin die Struktur sich verkörpert, eine (in Saussures Unterscheidung von langue und parole bereits präformierte) Trennung zwischen dem System und seiner Aktualisierung, so bleibt dennoch ein eindeutig bestimmbarer Ursprung, ein Anfang erhalten. Am Anfang des Strukturalismus – das wissenschaftliche Objekt einer immanenten Linguistik, auch wenn sich der Export des in Auseinandersetzung mit diesem Objekt entstandenen Codes in alle Wissensfelder wie ein Flächenbrand vollzieht. Am Anfang – ein Objekt, an dem eine Vision sich erprobte, die aus der Retrospektive das Objekt, Gewebe der Sprache, so sehr sterilisiert wie alle anderen Objekte einer auf differentielle Strukturen gebrachten Welt. Am Anfang – ein Objekt, das nachträglich zum Paradigma wird, an dem sich die Erkenntnis dessen vollzogen hat, was die Relaisstation von Welt und Wissenschaft des 20. Jahrhunderts bildet: Struktur, Differentialität, Topologie. Genau dies ist der problematische, der neuralgische Punkt, genau dies ist der Punkt, der mit der Freud-Lacan’schen Konzipierung der Ur-Sache sowie mit Derridas sekundärem Ursprung konfligiert.

4.9 Die Wiederholung des „Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache“ Es ist problematisch, aber es ist wahr im Sinne von eindeutig, es wäre ein eindeutiger Anfang und darüber hinaus die Lösung oder Losung aller Probleme, die eine Geschichte des Freud-Lacan’schen Unbewussten ohnehin nicht züchten sollte. Die Situierung des linguistischen Objekts am Beginn des Strukturalismus entspricht nicht nur der der gängigen Auffassung der Wis-

46 Deleuze 1992: 16.

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senschafts- und Psychoanalyse-Geschichte, sie bereinigt diese Geschichte auch von diversen Widersprüchen, Zweideutigkeiten, Löchern und unerhörten Fragen. Insbesondere beseitigt sie die oben bemerkten Widersprüche in den beiden zentralen Aussagen über Lacans Theorie – „Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache“ und „Lacan ist Poststrukturalist“ –, die beiden Favoriten sekundärliterarischer Wiederholung fallen in die Eindeutigkeit. Und in der Tat ist es eindeutig wahr. Wenn Lacan auf die sprachliche Verfasstheit des Unbewussten verweist, bezieht er sich explizit – viele, unendlich viele Passagen ließen sich hier zitieren – auf die Linguistik bei Saussure und Jakobson sowie auf den Formalismus und die moderne Strukturlinguistik, die sich im Umfeld der Informationstheorie und Kryptologie entwickelt haben. Lacan formalisiert das Unbewusste nach strukturalen und computermathematischen Prinzipien, und dieser Akt der Formalisierung bringt automatisch eine Reformulierung des Freud’schen Unbewussten mit sich. Auch Freud hat mit Formalisierungen gearbeitet – wie anders, wo sich das Unbewusste per definitionem nicht als solches fassen, sondern nur in Formalisierungen, Modellen und Schemata approximieren lässt –, es sei an dieser Stelle nur beispielhaft verwiesen auf die Prä-Kybernetik des psychischen Apparats sowie auf die zahlreichen, Derridas Ursprur vorwegnehmenden Schrift- und Textmetaphern, die im Kapitel 10.7 skrutiniert werden. Dennoch gilt, dass der Terminus der Formalisierung aus wissenschaftshistorischen Gründen auf Lacan eher als auf Freud zugeschnitten ist, einfach weil Lacan unmittelbar unter den Laborbedingungen der formalen Strukturlinguistik und der Mathematik des Digitalen, anders gesagt: unter den Bedingungen der Bell Lab’s, insbesondere Shannons Kommunikationstheorie gearbeitet hat. Apparate und die damit verbundenen Notationen waren in den Bereich der Wirklichkeit gerückt, die Freud, so wie das aus Signifikant und Signfikat bestehende Objekt der Linguistik, noch nicht zur Betastung verfügbar waren, was jedoch – und das ist entscheidend – nicht heißt, dass jene sich für Freud nicht im Bereich der Möglichkeit, der Materialisationsform diskreter Gespenster, der unbewussten Vorahnung befanden. Wie auch immer, es ist Lacan, der das Unbewusste erstmalig in den Begriffen der Saussure’schen Signifikanten und der Algorithmen Shannons artikuliert. Lacan mathematisiert die Psychoanalyse auf der Basis von reinen Signifikanten oder diskreten Elementen, er bezeichnet das unbewusste Begehren als einen „Algorithmus“47, als „eine Syntax, eine gerichtete Folge von Zeichen, das reine Symbol, das seinerseits eine Abfolge erzeugt“, als gerichtete Kette von „Transformationen der kleinen 1 und 0“48, und er sagt: „Die mathematische Formalisierung ist unser Ziel, unser Ideal“49. Man könnte, wie oben bemerkt, Passagen und Zitate von Lacan akkumulieren, die mit diesen Begriffen und in diesem Stil operieren, und so über viele Seiten das diskursanalytische Resultat unterstützen. Um es hier in seiner Eindeutigkeit nur zu nennen: Aus der Partizipation an einem poststrukturalistisch-kybernetischen Dispositiv heraus prägt und begründet Jacques Lacan die Formel, dass das Unbewusste strukturiert ist wie eine Sprache. Die beiden zentralen Verkündigungen, die die Sekundärliteratur zu Lacan bereit hält, fallen in die Eindeutigkeit, beide sind 47 Lacan 1991a: 21. 48 Lacan 1991b: 387. 49 Lacan 1986a: 128. Zu Lacans Formalisierung des Unbewussten mittels struktur-

linguistischer und computermathematischer Notationen vgl. auch Bitsch 2001.

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vollkommen gerechtfertigt bei der Kennzeichnung einer Lacan’schen Theorie des Unbewussten. „Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache“ und „Lacan ist Poststrukturalist“. Damit wird es umso fragwürdiger, ob eine erneute Wiederholung sich rechtfertigen lässt, ob eine weitere Studie zur Geschichte des Unbewussten zwischen Freud und Lacan nicht die reine Futilität ist. Wozu all die Umwege, die Umständlichkeiten, all die Suggestionen von Versäumnis, wozu eine weitere Wiederholung der Theorie und Praxis der Wiederholung? Warum nicht einfach und endlich aufhören, den Schlüssel, um dessen Platz ich weiß, zu suchen, die Schritte zu zählen, warum nicht einfach und endlich austreten aus dem Wirkungskreis der schwarzen Denk-Katze, aus den rettlos um die UrSache zirkulierenden Erinnerungen? Warum nicht aufhören, das Gerät ausund anzuschalten, dieses „Gedächtnis [...], das eine Abfolge kleiner Plusoder Minuszeichen ist, die [...] sich drehen, so wie auf dem Opernplatz die kleinen elektrischen Lämpchen sich entzünden und verlöschen“50? Warum nicht an seinem Ort bleiben, beim Bestand der Bibliografien, beim Mobilar des Jazzcafés, beim Automatismus der Kongressgespenster, warum immer wieder aufbrechen zu neuen Forschungsreisen und -literaturen, warum sich diesem „alternierenden“ Mechanismus übergeben, dessen „Prinzip fordert, daß er seinen Ort verläßt, um zirkulär zu ihm zurückzukehren“51? Warum diese Gefangennahme durch Denkzwänge, die ihren Niederschlag auf Buchmessen und dann in Mängelexemplarkisten im Regen finden und die die Bibliotheksordnungen bis zur Gödelisierung strapazieren? Warum eine Wiederholung einer Geschichte des Unbewussten von Freuds naturwissenschaftlichem bis zu Lacans strukturlinguistischem Einsatz, wenn doch die elementaren Dinge gesagt, belegt, dargelegt, grundgelegt wurden, wenn die Grundlegung der Lacan’schen Theorie im Strukturalismus der Überprüfung standhält? Als da wären, um das Elementare zu wiederholen, drei Markenzeichen der Theorie Lacans: 1. Lacan steht in der Tradition der Freud’schen Theorie und Erfahrung des Unbewussten, 2. Lacan lässt sich diskursanalytisch im Strukturalismus bzw. Poststrukturalismus verorten – was er selbst überblickt –, und 3. Lacans Unbewusstes funktioniert diesem strukturalistischen Diskurs zufolge wie eine Sprache; von Lacan selbst stammt die Formulierung, „daß das Unbewußte strukturiert ist wie eine Sprache“52.

4.10 Die Wiederholung im akademischen Diskurs All das steht geschrieben, die Sekundärliteratur, Wiederholungsmedium kat exochen im akademischen Diskurs, hat es aufgenommen, sie hat die drei Punkte erläutert, untersucht, diskutiert, sie ist die Wege von Lacans Denken nachgegangen, sie hat die Stationen rekapituliert, die Bilanzen gezogen. Und dies nicht etwa im Stil einer einfachen Reproduktion, dies käme dem Genickschuss gleich – denn wir sind im Reich der

50 Lacan 1990a: 204. 51 Lacan 1991: 28f. 52 Lacan 1987: 156.

114 ſ DISKRETE GESPENSTER „sogenannten wissenschaftlichen Literatur [...], [wo] man oft den Eindruck hat, daß das, was die Intention des Diskurses am vollständigsten lenkt, vielleicht nichts anderes ist, als exakt in den Grenzen dessen zu bleiben, was schon gesagt worden ist. Es scheint, daß die letzte Intention jedes Diskurses darin besteht, den Empfängern ein Zeichen zu geben und zu beweisen, daß der Unterzeichnende sozusagen Nicht-Null ist, daß er fähig ist, das zu schreiben, was alle Welt schreibt“53.

Die Vertreter wissenschaftlicher Literatur, Personifikationen von NichtNullen, beweiskräftig, präsenzaffirmierend, intellektuell durchtrainiert, haben die drei Markenzeichen Lacans in ihren Forschungen und Publikationen nicht etwa einfach nur wiederholt, sondern stets auch etwas Neues beigebracht. Mit stets variierenden Akzenten und Nuancen, mit unterschiedlichen Stilen, Methoden, Zu- und Eingängen hat die Sekundärliteratur es von tief unten beleuchtet, aus der Höhe subsumiert, in erweiterte Horizonte gestellt, sie hat die drei Punkte in alle Richtungen und unter allen Blickwinkeln ausgeführt, rekapituliert, bewiesen, durchdekliniert – und dabei stets etwas Neues kristallisiert, zur Verjüngung der Geister und Vermehrung der Werke. Beauty Surgery der Wiederholung. Um zirkulär zum Eingang zurückzukehren: eine Wiederholung des Denkens von Jacques Lacan, der Freud wiederholte, ist eine Wiederholung, und nicht nur eine, sondern die xte Wiederholung. Und nach all dem, desweiteren nach Deleuze’ Abschlussreichtum beim Strukturalismus, nach Differenzphilosophie und der Ortung des Freud’schen Unbewussten, nach all dem stellt sich die berechtigte Frage, ob die Genealogie des Unbewussten nicht als Exegese schon existiert, ob nicht das Bibliotheksgelände in dieser Hinsicht geschlossen und also auch: für alle Wünsche offen ist. Auf sicherem Gelände zumindest die drei Punkte, die drei Markenzeichen: Lacan folgt Freud, Lacan denkt als Strukturalist, das Unbewusste ist sprachstrukturiert – und also die berechtigte Frage, ob man sich nicht doch endlich lösen sollte von diesem Zwangsgedanken, von all den Aktivitäten, die sich obsessionell verbinden mit der Beweisführung der Fähigkeit, das zu schreiben, was alle Welt schreibt. Warum diesen Zwang zur akademischen Profilierung, zur Bereicherung an Wissen, zum Tuning des intellektuellen Ego so weit treiben, um am Ende nur dem „Wahnsinn des Eigendünkels“ vollends zu erliegen, denn an diesem letzten Ende der langen Reihe der „verschiedenen Gestalten wissenschaftlicher Ehrbezeugungen“ wird es wahrhaftig fragwürdig, „wo denn das gute Ende ihres Gewinns zu fassen ist; dieser kann sich doch nicht in der Herausgabe mehr oder weniger umfangreicher Abhandlungen erschöpfen“54.

4.11 Die heilige Angst versus die Ängstlichkeit der Wissenschaft – Dialektik versus Ideengeschichte Also aufhören mit diesen Abhandlungen, aufhören mit der Wiederholung?! Diese Frage würde sich leichtherzig als sichere Vermutung bejahen lassen und so einen seelsorgerischen Einfluss ausüben, nicht auf das Ego der Schreiberin, dafür um so mehr auf die Befindlichkeit der wissenschaftlichen 53 Lacan 1990a: 276. 54 Lacan 1991a: 210.

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Literatur (und die der Bibliothekare). Sie würde sich leicht bejahen, der Kreis und dieses Buch sich mit einer gut sortierten Bibliografie schließen lassen, wäre da nicht in der Geschichte dieses Textes, dieser Wiederholungen, etwas ins Stolpern gekommen, kurze Entgleisungen, wären da nicht Anmerkungen, Bemerkungen gefallen über leichte, eventuelle Ambiguitäten hinsichtlich der drei Aussagen. Nur eine Arrhythmie, Verdunklung von Lidschlaglänge, nichts von großer Bedeutung oder hohem Neuigkeitswert, nur eine Nuance, ein Akzent, eine Blickverschiebung, eine kleine Falte, die sich noch unterspritzen ließe. Eine kleine Akzentverschiebung auf ein kleines Wort, auf das Wort „und“, das, wie oben expliziert, die Elemente des Terms das-UnbewussteFreuds-und-das-sprachstrukturierte-Unbewusste verknüpft, ein Term, der zum Stützpunkt dieses Buches erklärt wurde – der den Nukleus ausmacht, um den die Wiederholungen gravitieren, der die Wiederholungen integriert. Das „und“ integriert wahrhaftig und in actu: Es verknüpft nämlich nicht zwei Arten von Unbewussten, sondern zwei konstitutive Kennzeichen des einen und einzigen Unbewussten. Der Term kontrahiert ein und das einzige Unbewusste, von dem hier (und bei Lacan) die Rede ist: das Freud-Lacan’sche Unbewusste, oder auch: das Freud’sche und – logisches und! – das sprachstrukturierte Unbewusste. Die beiden Markenzeichen, dass die Psychoanalyse strukturalistisch verfährt und ihr wissenschaftliches Objekt eine sprachliche Struktur aufweist, fielen in dem Moment in den Missbrauch – und in den Widerspruch zur Theorie Lacans –, in dem sie separiert würden vom dritten Markenzeichen: der Freud’schen Erfahrung, in dem sie dazu verwendet würden, ein Lacan’sches Unbewusstes von einem Freud’schen Unbewussten abzugrenzen. Denn die sprachliche Struktur ist in der Freud’schen Erfahrung des Unbewussten bereits gegeben: Das Unbewusste überträgt Botschaften, und es arbeitet, indem es, es sei hier wiederholt auf die vier Mechanismen der Traumarbeit verwiesen55, bestimmte, von Lacan als Signifikanten identifizierte Elemente verschlüsselt. Die Akzentuierung, die Punktierung des Operators „und“ in der Formel des Unbewussten läuft also auf eine Art Anweisung hinaus, zugleich Warnung vor Missbrauch der Begriffe, ihrer Geschichten, ihrer Ein- und zugleich Zweideutigkeiten. Die drei Markenzeichen dürfen nicht in der einfachen Form einer Aufzählung genommen werden, sie dürfen nicht einfach serialisiert werden, sie bilden vielmehr eine spezielle, eine klar strukturierte, integrierte, partiell determinierte Serie, und in dieser Art erinnern sie an den im Präludium sowie im 3. Kapitel erläuterten Hegel’schen Dreischritt. Die drei Markenzeichen Lacans dürfen nicht antithetisch voneinander abgegrenzt werden. Die Geschichte darf nicht in einer Weise ideengeschichtlich vereindeutigt und also so erzählt werden: Am Anfang würde ein freudsches Unbewusstes stehen, kurz darauf dann die Emergenz des strukturalen Objekts und der strukturalistischen Wissenschaft, deren Notation Lacan in seiner Rolle als (Post-)Strukturalist adaptieren würde, um damit ein über Freud hinausgehendes sprachstrukturiertes Lacan’sches Unbewusstes zu konzipieren. Es ist evident: Eine solche linearisierende Version birgt in sich die imminente Gefahr einer antithetischen Trennung zwischen einem Freud’schen Unbewussten und einem Lacan’schen Unbewussten, eine mit Lacans wiederholten und nachdrücklichen Aussagen über das Unbewusste radikal 55 Vgl. hierzu Freud 1999: II/III 284-354.

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konfligierende Trennung. Sie birgt nicht nur die Gefahr, sie legt – wie alle Vereinfachungen – einen solchen missbräuchlichen Bezug auf das Unbewusste, also eine strukturalistische Abschnürung eines Lacan’schen Unbewussten sogar nahe. Das aber ist illegitim, da hat die Vereinfachung die Grenze der Konnivenz erreicht. Die Vorstellung, dass der Strukturalismus eine Art Grenz- und Übergangslinie zwischen Freuds und Lacans Konzeptionen des Unbewussten markiere, ist eine in jeder Hinsicht reduzierte Vorstellung, sowohl was die Psychoanalyse, als auch was die Wissenschafts- und Philosophiegeschichte betrifft. Die drei Markenzeichen formieren, so könnte man in wiederholter Anspielung auf Hegel sagen, keine Reihe oder Summe von einzelnen, fürsichseienden Elementen, die sich isolieren oder dichotomisieren ließen, sie bedingen sich vielmehr gegenseitig, sie sind untrennbar verkettet, und in dieser ihrer Struktur lassen sie sich lesen als eine dialektische Synthese – die stets mehr und zugleich weniger als eine Summe ist, nämlich die Anerkennung dieses Mehr-und-zugleich-weniger, dieses Nicht-alle. Stets verbleibt, das muss gerade in Bezug auf die drei Markenzeichen anerkannt werden, eine irreduzible Differenz, ein Schatten von Zweideutigkeit, eine Widersprüchlichkeit, die sich nicht überwinden lässt und die nach Lacan das Prinzip des Signifikanten genuin konstituiert – der symbolische Mangel, so nennt er es an anderer Stelle, die unmögliche Konvergenz des Realen und des Symbolischen. Mehr-und-zugleich-weniger, eines-nicht-ohne-das-andere – ein logisches „und“ vernetzt das Freud’sche und das sprachstrukturierte Unbewusste und (ver)führt zu der Wiederholung der drei Markenzeichen in Form eines spekulativen Satzes, es drängt dazu, die Dinge noch einmal und dabei nicht dasselbe zu sagen. Der Satz „Das Unbewusste Lacans ist strukturiert wie eine Sprache“, lautet korrekt: „Das Unbewusste zur Zeit Lacans ist strukturiert wie eine Sprache“, wobei das „zur Zeit“ die Aufhebung zwischen der Entdeckung Freuds und der der Linguistik und Kybernetik darstellt – eine Aufhebung, keine Fusionierung, die Zweideutigkeit bleibt. Und genau sie ist es, von der Lacan Funktion macht in einer psychoanalytischen und einer wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Hinsicht, die in diesem Buch (mit aller Zweideutigkeit des grammatischen Subjekts und Objekts an dieser Stelle) verfolgen und verführen. „Was Gutes ist, nicht wahr, in dem, was ich erzähle, ist, daß es immer dasselbe ist. Nicht daß ich mich wiederhole, das ist da nicht die Frage. Es ist, weil das, was ich früher gesagt habe, seinen Sinn annimmt nachher.“56

4.12 Das Objekt = x als Patient: Kleinigkeiten und ihre verheerenden Folgen Die von einem „und“ ausgehende Eindrucksstärke ist ganz sicher begrenzt. Es ist nicht triumphal, kein großer Akademiefußball, sehr viel Aufruhr und Wiederholungszwang um eine Petitesse, eine kleine Ungenauigkeit, Zweideutigkeit, aber andererseits ist da die Chaostheorie, ein im Umkreis von Strukturalismus und Kybernetik großgewordener Zweig der Wissenschaft.

56 Lacan 1986a: 40.

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Die Nähe von Chaostheorie und Strukturalismus ergibt sich allein durch einen Vergleich der Anschauungswelten oder imaginären Register beider Bereiche. Dies sei nur ganz am Rande bemerkt und weil es so hübsch ist, wie sich bestimmte Prozesse und Quasi-Objekte57 der Chaostheorie Deleuze’ Beschreibungen der Struktur fügen. Diese Struktur ist, das wird im galoppierenden Verlauf von Deleuze’ Essay immer deutlicher, stets nur einen Schritt vom Abgrund der Struktur entfernt, sie kann in jedem Moment in Unfall oder Krankheit der Struktur entarten.58 Das Objekt = x kann plötzlich vom tauschsystemstabilisierenden Wanderpokal zur Ungestalt, hungrig und gehörnt, werden, es kann – mathematisch – gödelisieren, es kann – onkologisch – metastasieren, es kann, so Deleuze, psychotisiert werden, es kann so kommen, „daß [...] Gott die Wüste wachsen läßt und ein Loch in die Erde gräbt, [...] daß er [...] uns in jener vergeblichen Permutation von einem Unglücksfall zum anderen gehen läßt“59. Die Chaostheorie kann über diese schwere Stunde helfen, in der die Kleinigkeit eines „und“ vor der Übermacht des universitären Diskurses bestehen (gegenständlich betrachtet: eine kleine, fragile, somnambule Hysterie im Nachthemd vor Besteigung des Matterhorns) muss, denn die Chaostheorie hat nicht zuletzt demonstriert, dass minimale Fehler in Anfangsbedingungen im Verlauf des Prozesses exponentiell anwachsen und chaotisches Aufschaukeln und Imponderabilien aller Art bewirken.60 Und – natürlich ist all dies nur ein paränetisches Bild – auf vergleichbare Weise kann eine Nachlässigkeit gegenüber dem logischen Operator „und“ in der Aussage „Lacan behandelt das Freud’sche und wie eine Sprache strukturierte Unbewusste“ zu Widersprüchen, Missverständnissen und Missbräuchen von immenser Größe führen. Um einige Beispiele zu nennen für solche Verkennungen und raum- wie weltfordernden Meinungen: die Annahme der Geburt des strukturalen Objekts in einer linguistischen Urszene, die Behauptung „daß das Unbewußte weder von Wünschen noch von Repräsentationen herrührt, dass es immer leer ist und einzig in den strukturalen Gesetzen besteht“61, die Gleichsetzung des Unbewussten von Lévi-Strauss und Lacan62 oder die Existenzversicherung von Unbewusstem allein aus versicherter Existenz von Struktur. All diese Meinungen und populären Wahrheiten dissonieren mit Lacans Konzept des Unbewussten, und das ist keine Petitesse, keine übersehenswerte Falte mehr, sondern reklamiert im Gegenteil und mit voller Rechtfertigung eine Wiederholung der drei Markenzeichen, und zwar eine solche, die sie nicht einzeln, sondern in ihrer historischen und systematischen Interaktion 57 Zur Theorie des Quasi-Objekts vgl. auch Serres 1987: 344-360. 58 Das strukturale Objekt x verhält sich selbst im Fall von Unfall oder Krankheit

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nicht völlig regellos und lässt sich auch unter diesem Aspekt vergleichen mit dem mathematischen Chaos, das keine völlige Unordnung ist, sondern ein deterministisches Chaos, d.h. eine komplexe mathematische Struktur, die bis zu einer gewissen Zeit bekannten Regeln gehorcht. Vgl. Buzug 1994; Ebeling 1989; Peitgen 1992. Deleuze 1992: 56. Das Chaos entsteht durch Rückkopplung, kybernetische Selbststeuerung des dynamischen Systems (Iteration seiner Zustandsfunktionen) mittels Rekursionsformeln, die sich als sogenannte Trajektorien im Phasenraum mehrfachdimensional abbilden lassen, und gewissen Attraktoren als Grenzgebiet zustreben. Deleuze 1992: 34. Vgl. Lévi-Strauss 1982: 223.

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wiederholt und inspiziert. Dabei geht es nicht um eine Synchronisierung der unbewussten Formel, auch nicht um Hegel’sche Aufhebung, sondern um Anerkennung der mit den drei Markenzeichen verbundenen Zweideutigkeiten. Es geht nicht zuletzt um die Wiederholung der Geschichte dieser signifikanten Zweideutigkeit, eine Geschichte, die sich weit vernervt in der Philosophie, der Wissenschaft und den Medien des 19. und 20 Jahrhunderts.

4.13 Lacans Wissenschafts- und Medientheorie und das signifikante „und“ Eine solche Geschichte aber schreibt (sich) mit Lacans Psychoanalyse – dies hat sich hinsichtlich der Philosophie bereits abgezeichnet, die Bezüge zur Wissenschaft und zu den Medien werden folgen. Sie ist nicht einfach das immanente Feld einer psychotherapeutischen Lehre und Praxis, sondern weit darüber hinausgehend Analyse des abendländischen Subjekts der Wissenschaft und Philosophie. Lacans Psychoanalyse ist Wissenschaftstheorie und Medienontologie. Das „und“ zwischen dem Strukturalismus und dem Unbewussten, die von der wissenschaftlichen Literatur so flott und vorschnell kurzgeschlossen werden, würde am Ende von einer Nebenwirkung zum Hauptsymptom, es würde chaostheoretische Effekte induzieren, und die ReLektüre der drei Markenzeichen würde auf die Geschichte von Strukturalismus, Philosophie und Wissenschaft selber nachbeben. Eine solche und andauernde, pulsierende Detonation, ein wechselseitiger Schwingungskreis zwischen Psychoanalyse und Wissenschaft ist eines der zentralen Anliegen von Lacans Denken. Lacans Sprechen, seine „guten“ Wiederholungen, artikulieren eine Zielrichtung, einen Wunsch, einen Traum, den Freud in seiner defensiven Reserve der Philosophie63 und in seiner Insulation der zeitgenössischen Wissenschaft gegenüber noch nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Im Gegensatz zu Freud interveniert Lacan aktiv und engagiert in philosophische und wissenschaftstheoretische Debatten, um sich dennoch, was die Diskrepanzen zwischen Wunsch und Realität angeht, keinen allzu großen Illusionen hinzugeben: „Wenn die Psychoanalyse eine Wissenschaft werden kann – denn sie ist es noch nicht – und wenn sie in ihrer Technik nicht auf den Hund kommen soll – und vielleicht ist das bereits geschehen –, müssen wir den Sinn ihrer Erfahrung wiedergewinnen.“64 Wie lautet das Anliegen, welche Koordinaten gibt Lacans Traum vor? Es ist der Traum, der Wunsch, dass die wissenschaftliche Literatur sich das „und“, den Kurzschluss zwischen dem Strukturalismus und dem Unbewussten, nicht ganz so leicht und einfach mache, es ist der Wunsch, dass das „und“ nicht dazu missbraucht werde, den Sinn der Freud’schen Erfahrung unter der Vorgabe, ihn weiterzuführen und auf den wissenschaftlichen Punkt des Strukturalismus zu bringen, zu verkennen und zu verschleiern, es ist der Wunsch, dass die Kluft nicht allzu schnell wieder zugeschüttet werden möge. Denn „die Wahrheit ist: die Dimension des Unbewußten, die ich evoziere, sollte vergessen werden, und Freud sah das genau voraus“, „die Kluft sollte vergessen werden“, sie wurde „wieder zugenäht“65, man wollte im „und“ kei63 Vgl. Cremonini 2003: 23ff. 64 Lacan 1991: 107. 65 Lacan 1987: 29.

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auf die Geschichte, die Ursprünge, die Konstitutionsbedingungen seines Objekts, wird der seriöse und konservative Mann von Wissenschaft, gleichzeitig etwas wegwerfend, sagen, dass er seinerseits nichts Unüberbrückbares sehe, und er hat alles Recht auf diese Position bei einem Molekül, einem Alpenveilchen, einem Zellhaufen, der, wie der Patient des Psychologen, nicht spricht bzw. sprechen darf. Das hindert es, das Subjekt der Wissenschaften, jedoch keineswegs am Sprechen, denn es ist immer schon am Angelhaken des Begehrens, auch wenn ich mir sicher bin, den Köder nicht geschluckt und weggeworfen zu haben, auf dass die Objekte sich transformieren, die Geschichte der Wissenschaft ihren Fortgang nimmt und Lacan deren Sprechen, deren Symptome entziffern kann: „In der Art, wie man einen Kranken beobachtet und Schlüsse daraus zieht, bildet sich die Kritik am intellektuellen Bestiarium.“70 Es ist nicht wichtig, ob irgendjemand es versteht, Lacans Sprechen adressiert nicht das Ego, sein Traum entbehrt welt- und wirklichkeitsverbessernder Motive, im Gegenteil: Es funktioniert umso besser, je weniger diese Zwänge herrschen, je weniger „Sie [...] gezwungen [sind], meine zu begreifen. Wenn Sie sie nicht begreifen, um so besser, das wird Ihnen gerade die Gelegenheit geben, sie zu erklären“71. Nicht-Verstehen gibt Gelegenheit zum Erklären, Wiederholen, Durcharbeiten, kurz: zum Lesen, und auch wenn etwas „sich nicht so leicht verstehen läßt, aufgrund der Distanz, die uns trennt von ihm, so ist es wohl da, was mich rechtfertigte meinerseits, Ihnen zu sagen, daß Lesen uns durchaus nicht verpflichtet zu verstehen. Es muß gelesen werden zuerst“72. Mit dieser Gelegenheit, einer dezent formulierten Aufforderung zur Lektüre-Arbeit, beugt Lacan zugleich einer oben angesprochenen Gefahr vor, jener allen Vereinfachungen und Generalisierungen innewohnenden Gefahr – alles, was sich zu leicht verstehen, konsumieren, bereits vorhandenen Wissensbeständen assimilieren lässt, verführt zum Übersehen, zur Fehlerhaftigkeit, Nachlässigkeit, zum Abusus. Ein allzu reibungsloses Verstehen, schnelle Resorption ohne Nebenwirkungen, die am Ende ins Hauptsymptom umschlagen könnten, gereicht sicher zur Befriedigung der Ich-Funktion, und umgekehrt führt die Verirrung in unbekannten Regionen und Kryptologien zu narzisstischen Kränkungen bis zum paranoisierenden Gefühl des Ausgeschlossenseins, und gerade das Publikum wissenschaftlicher Literatur reagiert hier sehr empfindlich. Der wissenschaftlich emanzipierte Leser nimmt es übel, wenn allzu bekannte Tatsachen – wie die des wie eine Sprache strukturierten Unbewussten – enigmatisiert und doch nur wiederholt werden, und vor allem nimmt er es übel, leistet er Widerstand, wenn dieses sein gesichertes Objekt desorganisiert und erschüttert wird, wenn die Grundlagen beben – Beben, Erschütterungen, Schattenhaftes, so als ob etwas im Anflug, im Wartestand eines Sprechens sei. Was das hier in Frage stehende Objekt, das von Freud über Saussure zu Lacan nach drei Markenzeichen, Zeitzeichen, sortierte und idealisierte Unbewusste betrifft, so wirkt sich ein solches Beben auf die Geschichte der Wissenschaft, von der nicht zuletzt Lacan profitierte, selbst aus. Die Geschichte der Wissenschaft, die nie anderes als eine Suite von Beben, Brüchen, Depersonalisationen gewesen ist – retrospektiv hatte Newtons Universum für 70 Lacan 1991a: 215. 71 Lacan 1986a: 38f. 72 Lacan 1986a: 72.

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die Monde nur die Dauer einer Schweigeminute, bis ihr Sprechen sich im Bann der Ätherwellen löste.73 Aber nicht alle, nicht jedes Sprechen kann sich auf dem Vektor des Wissenschaftsdiskurses halten, gerade im Äther haben sich im und nach der Blütezeit des wissenschaftlichen Spiritismus viele Geister verloren, tote Träume, unbesungene Seelen, verwehrte Passagen – Grenzland zur Psychose, dort, wo die Kommunikation aufhört und die Halluzination beginnt, und niemand wird je wissen, ob es Wahnsinn oder ein verkanntes Genie war, ungeheurer Verrat der Zeit. Lacans Diskurs ist von diesem Schicksal entfernt, es hat Übertragung stattgefunden, er hat eine Wette gewonnen74, die Botschaft hat sich übertragen, innerhalb der Wissenschaftsgeschichte hat eine sich Kluft geöffnet, es sich geschrieben. Und das heißt eben nicht, dass jemand, sei es ein platonistisch emotionierter Symbolkettenexperte, sei es der Herr aller Lacan-Spezialisten, eine Geschichte über die Strukturalisierung, Formalisierung, Mathematisierung des Unbewussten geschrieben hätte. Eine solche Geschichte würde die Kluft vielmehr verschließen, sie würde der Ur-Sache eine Ursache, ein mathematisches oder strukturales Symbol substituieren, sie würde das Unbewusste mineralisieren zu einem System oder einer Kette von Symbolen, die – in der Tat, Deleuze hat die Wucherungen des strukturalen Objekt = x plakativ beschrieben – sich in allen Wissenschaftsbereichen im 20. Jahrhundert multipel reproduzieren

4.15 Gute versus schlechte Wiederholung, Dassheit versus Washeit, symbolischer versus imaginärer Mangel Die einzige Chance, mit der sich eine Okklusion der Kluft und der damit verbundene Zustand von Stagnation – das in sich gesättigte Wissen der Akademie, der sich iterativ in seiner Selbigkeit affirmierende Diskurs des professoralen Herrn – verhindern lassen, liegt paradoxalerweise in der Wiederholung selbst. Diese Paradoxie lässt sich in der Frage, in der Spezifizierung dessen, was da wiederholt werden soll und muss, auflösen. Aus Freud-Lacan’scher Perspektive umfasst diese Frage bereits die Unmöglichkeit einer Antwort – worin ihre produktive und im Blick auf den Begriff vitalisierende Kraft liegt –, ist doch die ur-sächliche Wiederholung dadurch konstituiert, dass sie nicht prädizierbar, dass sie, im Jenseits aller Washeiten lokalisiert, vielmehr das reine Dass der Wiederholung selber markiert. Hier schließt sich ein Modus der Demarkation der schlechten von der guten Wiederholung auf. Bezieht sich die schlechte Wiederholung stets auf eine Washeit, ein Objekt, eine Idee, ein eidos, einen nicht-hegelschen, mit sich identischen Begriff, so operiert in der guten Wiederholung das Subjekt selbst als ein Medium, als die Operationalisierung von Ur und Sache, als Alternation von Öffnung und Schließung der Kluft. Aus dieser Perspektive, aus der Konzeption des Subjekts als Medium, lässt sich übrigens nicht zuletzt jener Medienbegriff erinnern und erhellen, den Tholen geltend macht, wenn er betont, dass „technische Medien […] weder Prothesen des Menschen [sind], noch […] der Mensch als Prothese technischer Automaten vollständig verrechnet werden“ könne. Insofern schützt der Lacan’sche Medienbegriff vor der Falle, nämlich vor dem „an73 Vgl. hierzu und für die folgenden Passagen Hagen 2001: 39-41, 57-99, 112-114. 74 Vgl. Wegener 2004: 42ff.

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thropologischen wie neurokulturellen Kurzschluß von Körper und Technik, Menschen und Programmen“, der nichts ist als „ein Phantasma, das die differentielle Kluft der Sprache vergißt und überdeckt“75. Die Differenzierung – Washeit versus Dassheit – lässt sich mit der am Ende des 3. Kapitels erläuterten Unterscheidung eines imaginären und eines symbolischen Todes, deren Verwechslung das Profil der Zwangsneurose bestimmt, konjugieren. Das zwangsneurotische Subjekt verkennt den symbolischen Mangel oder reinen Signifikanten, also die in ihm selbst operierende Differenz und fortschreitende Leistung der Differenzierung, in einem imaginären Mangel. Im Gegensatz zum symbolischen Tod, der auf das reine Dass der eigenen operativen Gespaltenheit des Subjekts verweist und sich so jeder repräsentativischen Darstellbarkeit entzieht, lässt sich der imaginäre Tod vorstellen, exakter formuliert: in ein Objekt der Vorstellung verwandeln, das dem Bewusstsein, dieses zur Eroberung der Welt in der Vorstellung ermächtigend, zur Disposition steht.

4.16 RSI Vergegenwärtigt man sich die Tatsache, dass der symbolische Tod für Lacan nur ein Synonym für den Signifikanten, für die in der Wiederholung seiende differentielle Relation ist, so lässt sich das hier beschriebene Verhältnis auf die Lacan’sche Abgrenzung des Imaginären, des Symbolischen und des Realen übertragen. Ohne ein Komplement im Imaginären, ohne die imaginäre Dimension, wäre es unmöglich, das Unbewusste als operationalisierte Diskordanz des Symbolischen und des Realen überhaupt als Objekt eines bewussten Denkens – das Bewusstsein kann nur mit Objekten bzw. Washeiten denken – zu präparieren. Sicherlich ist das Bewusstsein eine imaginäre Funktion, aber nichtsdestoweniger sind menschliche Subjekte, um überhaupt denken, sprechen, existieren zu können, ohne Ausweg auf diese Funktion angewiesen. Jede Erkenntnis, jede Erfahrung, vollzieht sich nur um den Preis einer unumgehbaren Verkennung. Ohne diese schon durch das Funktionsprinzip des psychischen Apparats anankéhaft vorgegebene Verkennung, ohne diesen unvermeidbaren Täuschungseffekt, gäbe es für das menschliche Wesen überhaupt keine Erkenntnis – der Monitor bliebe schwarz oder im Schneegestöber des Realen. Die Dassheit des Unbewussten, die Bewegung des Begriffs, die reale Aktivität des symbolischen Signifikanten im Subjekt lässt sich nicht als solche, sondern nur über den Umweg der Formalisierung oder Metaphorisierung als eine Washeit vorstellen, was auf der anderen Seite impliziert, dass stets eine irreduzible Differenz bleibt zwischen der Dassheit – dem realen Unbewussten als dem unmöglich Darstellbaren – und der Washeit – der jeweils modifikablen Weise einer Darstellung, die stets nur Näherung, niemals jedoch Punktierung des Unbewussten ist. Einerseits konzediert Lacan also die Notwendigkeit der Etablierung von Washeiten, imaginären Objekten, Signifikaten, um das Unvordenkliche überhaupt auf die Ebene des auf imaginäre Begriffe und Vorstellungen angewiesenen Bewusstseins übertragen zu können, andererseits jedoch mahnt er in und mit seinem Sprechen eindringlich, dass darüber das Dass jenes Akts der metaphorischen Übertra-

75 Tholen 2002: 187.

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gung76 nicht vergessen werde. Die Washeit, das imaginäre Objekt, der Erkenntnisgegenstand einer jeweiligen Wissenschaft, darf nicht essentialisiert und als per se existierend vorausgesetzt werden, sondern muss im Gegenteil auf seine subjektiven Konstitutionsbedingungen hin rekonstruiert werden. Er muss im Hinblick auf die ihm vorgängige Dassheit, im Hinblick auf seine signifikante Genese hin befragt werden. Bezogen auf den Satz, dass das Unbewusste strukturiert sei wie eine Sprache, folgt daraus, dass die operationale Existenz des Unbewussten, das Pulsieren der Kluft, nicht in einen Schatten von Vergessen geraten darf zugunsten der künstlichen Stilllegung und Isolation einer sprachlichen Struktur, die sich zu einem wissenschaftlichen Objekt der Psychoanalyse erklären ließe.

4.17 Sprechen versus Sprache Aus Freud-Lacan’schem Blickwinkel ist eine solche Erklärung antinomisch, sie verbietet sich im Blick auf das spezifische Objekt der Psychoanalyse, das gerade kein Objekt ist, sondern das Subjekt, sofern es spricht und sofern es als ein sprechendes, das heißt ein Begehren, eine Botschaft, nicht zuletzt eine Frage aussendendes Subjekt anerkannt werden muss. Nichtsdestoweniger läuft die Bestimmung „Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache“ Gefahr, sich im Spinnennetz eines strukturalistischen Missbrauchs, in der Verkennung eines artikulierten Sprechens in einer prinzipiell objektivierbaren sprachlichen Struktur zu verfangen. Gerade aus diesem Grund, gerade um dieser Gefährdung der Reduktion des Sprechens auf eine Sprache, des Subjekts auf ein objektivierbares strukturales Gebilde, Vorbeuge zu leisten, darf der Satz „Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache“ nicht von der originär Freud’schen Erfahrung des Unbewussten separiert werden. Nicht nur dass Freud die von der Linguistik terminologisch fundierten Konzepte des Signifikanten und des Signfikats präfigurierte. Mehr noch geht es bei der Verklammerung des Satzes „Das Unbewuste ist strukturiert wie eine Sprache“ mit der Freud’schen Erfahrung darum, dass diese als Erfahrung einer Botschaft, eines Begehrens, einer an den Anderen adressierten Frage eine Voraussetzung, eine unhintergehbare Präliminarie darstellt, um den Satz vom sprachstrukturierten Unbewussten überhaupt im korrekten Lacan’schen Sinne zu situieren und nicht als eine strukturalisierende Verobjektivierung misszuverstehen. Diese untrennbare Interrelation des psychoanalytischen Signifikanten mit dem Begehren des Subjekts motiviert auch die von Lacan vorgenommene Polarisierung von Sprechen und Sprache. Eine Sprache zeichnet sich nach Lacan dadurch aus, dass sie eine Nomenklatur der Dinge, eine Indexierung von Objekten, eine Signifikation von Washeiten herzustellen vermag. Innerhalb dieser Grenzen kann natürlich auch die Sprache, die sprachliche Struktur selbst zu einem Objekt, zu einem wissenschaftlichen Erkenntnisgegenstand werden – es handelt sich um die Linguistik, die ihren Untersuchungsgegenstand unter sprachlichen Bezeichnungen wie „Zeichen“, „Signifikant“ und

76 Vgl. hierzu Kap. 8.9.

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„Signifikat“ führt und damit nicht zuletzt die Sprache zum Objekt macht.77 Im Unterschied zu einer Sprache lässt sich das Sprechen, das die Psychoanalyse untersucht, niemals zum Objekt machen. Ein Objekt kann vermessen und kartographiert werden, es kann seziert und mathematisiert werden, es kann inventarisiert, klassifiziert und experimentell denaturiert werden, aber es kann eines ganz sicher nicht: von sich aus etwas bedeuten, eine Botschaft, ein Sprechen, die Frage eines Begehrens aussenden. Genau dies letztere aber, das an eine Antwort appellierende Sprechen, zeichnet die psychoanalytische Situation aus und damit nicht zuletzt: die wissenschaftliche Situation der Psychoanalyse, die den Erlebniswinkel der reinen Strukturlinguistik transzendiert. Hieraus resultiert ad negativum die Unmöglichkeit eines wie auch immer sprachlich strukturierten psychoanalytischen Objekts. „Ob sie sich als Instrument der Heilung, der Berufsausbildung oder der Tiefeninterpretation versteht, die Psychoanalyse hat nur ein Medium: das Sprechen des Patienten. Die Offensichtlichkeit dieser Tatsache entschuldigt nicht, daß man sie übergeht. Denn jedes Sprechen appelliert an eine Antwort.“78 Das psychoanalytische Feld ist im Unterschied zu den anderen Wissenschaften des abendländischen Gedankenkreises inklusive der Strukturlinguistik durch Intersubjektivität konstelliert, mit anderen Worten: Es besteht nicht aus einem wissenschaftlichen Subjekt, das ein von ihm getrenntes Objekt, sei es ein Haus, ein Atom, eine Zelle, ein Wort oder eine Black Box in variablen Weisen bestimmt, sondern es umfasst vielmehr stets einen Sprechenden und einen Zuhörer, die durch die Achse des Dass des Sprechens diskret verbunden und in wechselseitige Fluktuationen versetzt sind. „Solange ein Zuhörer da ist“, sagt Lacan, „gibt es kein Sprechen ohne Antwort“, und selbst wenn diese Antwort nur in der Form eines Schweigens ergeht, so realisiert sich hierin doch das Freud’sche-und-das-sprachstrukturierteUnbewusste, dessen „zentrale Bedeutung“ im Sprechen und nicht in der Sprache liegt.79 In der von Freud instituierten psychoanalytischen Szene wird die dichotomische Beziehung von Subjekt und Objekt und ineins damit die Washeit des Wortes, auf die ein reiner Strukturalismus letztlich verwiesen bleibt, überwunden in Richtung auf die Dassheit des Wortes, in Richtung auf den lebendigen Hegel’schen Begriff, den Signifikanten, der stets nur über die Achse eines Subjekts verläuft. Die Sprache wird zu einem Sprechen, das etwas ganz bestimmtes beansprucht: „Ihm zu antworten eben.“ Antworten kann der Analytiker sicherlich nur mit Worten, aber dies sind ganz bestimmte Worte, solche nämlich, die nicht mehr attribuierbar sind, die jenseits von gut und böse liegen, die keine Bedeutung und kein Objekt mehr repräsentieren, geschweige denn ein Objekt, ein Wort im konventionell-linguistischen Sinne zu sein; der Analysand beansprucht und bekommt vielmehr das reine Dass der Worte. „Es ist nicht einmal sicher, ob er es mir zu danken hätte, wenn es gute Worte, noch weniger, wenn es schlechte wären. Solche Worte beansprucht er gar nicht von mir. Er beansprucht von mir aus der Tatsache heraus,

77 Lacans äußert diese Vorbehalte gegen die Linguistik an verschiedenen Stellen

seines Werkes, die bis hin zu einer sublimen Dekonstruktion reichen. Vgl. Lacan 1991: 120; Lacan 1991a: 20-25, 175 und 191f; vgl. auch Kap. 8.3 und 8.4. 78 Lacan 1991: 84. 79 Lacan 1991: 85.

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daß er spricht: sein Anspruch ist intransitiv, er verlangt nicht nach einem Objekt.“80 Um eine letzte unter zahllosen Stellen anzuführen, an denen Lacan sich dagegen verwahrt, die sprachliche Verfasstheit des Unbewussten zum Anlass zu nehmen, das Subjekt in einer Struktur zu objektivieren und so letztendlich die Psychoanalyse dem modernen Strukturalismus unterzuordnen. Er räumt ein, dass es sich „bei dem Symbolismus, der in der Analyse zutage gefördert wird, in der Tat um eine Sprache [handelt]“, er gesteht zu, dass das Subjekt am System einer universalen und überindividuellen Sprache, an der Dimension des Symbolischen partizipiert, um jedoch im nächsten Schritt diese Sprache von der Neutralität des Strukturalismus ins Reich eines existentiellen Schicksals, einer unverwechselbaren Stigmatisierung, Gebrochenheit, Gespaltenheit zu überführen: „Aber als Sprache, die das Begehren an eben dem Punkt ergreift, wo dieses sich vermenschlicht, indem es sich zu erkennen gibt, ist sie zugleich das absolut Besondere des Subjekts.“81 Das Begehren vermenschlicht sich an genau dem Punkt, in genau dem bis zur Frenesie unvordenklichen Moment, in dem das Subjekt dem Signifikanten unterworfen wird und damit seinen Eingang in das Reich der Sprache, das Reich der differentiell konstituierten symbolischen Ordnung findet. So sehr sich in dieser Formulierung ein Gewinn, eine Gabe, eine Gnade assoziiert, so weist doch dieser Eintritt in die Sprache gerade in Freuds und Lacans Theorie zugleich ganz andere, gegenteilige anathematische Züge auf. Die Teilhabe an der Sprache, die Vermenschlichung und Individuierung des Begehrens setzt ein ursprüngliches Trauma, das als infinite Wiederholung im Subjekt nachhallende Trauma der Seinsklüftung voraus.82 Die Realisierung des Begehrens in einem Sprechen, in dem sich „das absolut Besondere des Subjekts“ artikuliert, setzt voraus, dass das Subjekt seinen eigenen Mangel an Sein, die subjektimmanennte Differenz, seine Korpsifizierung anerkennt und ins Spiel der Sprache einbringt. Lacan lokalisiert dies in jenem „bedeutungsvollen Moment [...], bei dem die Macht vom Subjekt auf den Andern, den groß Andern, wie wir ihn nennen, überwechselt, also an den Ort des Sprechens, der virtuell Ort der Wahrheit ist“83. Vom Moment des Traumas an, dessen Opazität und unmögliche Erinnerbarkeit Lacan hervorhebt, alterniert das Subjekt zwischen seinem eigenen Mangel an Sein und dem Anderen, den Mangel an dessen Stelle setzend, und unschwer lassen sich in dieser alternierenden Wiederholung der zum Scheitern verurteilte Versuch der Erinnerung und die darin insistierende Frage ausmachen, die das Subjekt persekutieren und die seine Wendung an den Anderen erst motivieren. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Demarkationslinie zwischen dem strukturalen Objekt der Linguistik und dem wie eine Sprache strukturierten Unbewussten noch einmal in ihren grundlegenden Zügen verdeutlichen. Beide, das linguistische Zeichen wie das Unbewusste, zeichnen sich aus durch sprachliche Strukturiertheit, beide lassen sich auf der Basis der Unterscheidung von Signifikant und Signifikat beschreiben, aber damit ist die Spanne ihrer Gemeinsamkeiten auch schon durchlaufen, damit bricht die Analogie ab. Ein Zeichen, ein strukturales Objekt, der wissenschaftliche Gegenstand 80 81 82 83

Lacan 1991: 207. Lacan 1991: 136f. Vgl. Kap. 11. Lacan 1987: 136.

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der Linguistik, ist nicht in existentielle Auseinandersetzungen mit seiner Ursache verwickelt, es wird nicht aufgezehrt durch das Begehren, den uneinholbaren Punkt zu wiederholen, zu präsentifizieren, zu erinnern, an dem sein in Signifikanten prozessierendes Schicksal begann. Ein Zeichen, ein strukturales Objekt wird nicht verfolgt durch Wiederholungszwänge und durch die zwischen Träumerei und Rebellion schwankende Frage nach seiner Dassheit. Im Unterschied zum Subjekt des Unbewussten ruht ein Zeichen, das wissenschaftliche Objekt des Linguisten, völlig neutral, mondlos, fraglos und erlebnislos in seiner Washeit, es spricht nicht, es ist nicht verfangen in einer desperaten und zugleich lichtfordernden Serie von Offenbarungen. Es erwartet keine Antworten, keine Mantik, keine Notverordnungen vom Linguisten, es hat kein Verhältnis zum großen Anderen, zur Anderen Sache des Seins. In diesem Punkt versammelt sich noch einmal die Gegensätzlichkeit zwischen der Washeit des strukturalen Objekts und der Dassheit des sprachstrukturierten Unbewussten. „Latent oder nicht latent, der Andere ist immer schon da in der subjektiven Offenbarung. Er ist da, kaum daß etwas vom Unbewußten sich preisgibt.“84 Lacans Psychoanalyse des wie eine Sprache strukturierten Unbewussten durchquert – das folgende Kapitel 5 wird diese Fährte en detail aufnehmen – das Feld der strukturlinguistischen Untersuchungen von Saussure über Jakobson, Benveniste bis hin zu Shannon, aber zugleich verläuft sie in anderen Bahnen und durch Gebiete, die, wie Freuds Anderer Schauplatz, den Strukturalismus übersteigen und seinen erkenntnistheoretischen Standpunkt hinter sich lassen. Im Gegensatz zur Linguistik berührt das Denken des wie eine Sprache strukturierten Unbewussten noch andere, nämlich ontologische Akupressurpunkte. Die korrigierende Reformulierung der berühmten Formel zu einem das-Unbewusste-Freuds-und-das-sprachstrukturierte-Unbewusste wurde bereits evolviert. Gerade in diesen Passagen sind nun bestimmte Schlüsselbegriffe gefallen – die Offenbarung, die Seinsfrage, die Frage nach Geschick und Geschichtlichkeit –, die auf die Spur eines weiteren Denkers führen, auf die Spur eines Philosophen, der – neben Hegel – für Lacans Theorie des sprachstrukturierten Unbewussten eine kardinale Rolle spielt. Eine ausführliche Spurensicherung des Lacan’schen Werks im Hinblick auf das Denken Martin Heideggers kann innerhalb des begrenzten Rahmens dieser Genealogie nicht geleistet werden. Dennoch soll der hier apostrophierte Wesenszug des unbewussten Subjekts, das in seiner Strukturiertheit nach Signfikant und Signifikat die Frage nach seiner Dassheit stellt (und sich hierin vom linguistischen Zeichen unterscheidet), Anlass geben zu einem kleinen Exkurs.

4.18 Exkurs: Lacan und Heidegger Die Offenbarung, das Sein zum Tode, die Geschichtlichkeit: Freud’sche Fragen, Fragen ohne Antwort, die Heimarmene der Erfahrung, einer Erfahrung, die vergessen werden sollte, so sagt Lacan und spielt, wie stets gut versteckt und verschlüsselt, auf Heideggers Kritik an der Seinsvergessenheit der abendländischen Wissenschaft und Philosophie an. Heidegger steht Freud und Lacan in gewisser Hinsicht überhaupt nicht fern, auch Heidegger postuliert eine Wiederholung in der Erinnerung. Die Geschichte der abendländi84 Ebd.

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schen Philosophie muss wiederholt und auf ihre Symptome hin entziffert und destruiert werden, mit Heidegger: man muss „die Seinsfrage wiederholen“ und dazu „erst einmal die Fragestellung richtig ausarbeiten“.85 Auch bei Heidegger setzt sich das Feld einer Wissenschaft – die Philosophie als Wissenschaft vom Sein einbegriffen – zunächst aus Subjekt und Objekt zusammen. Im Anschluss daran beschreibt Heidegger die subjektiven Tätigkeiten des Untersuchens und Erforschens als ein Suchen und Fragen, um so das jeweilige Objekt als das Gefragte, das Erfragte und das Befragte bestimmen zu können und folgende Erkenntnis zu formulieren: „Jedes Suchen hat sein vorgängiges Geleit aus dem Gesuchten her.“86 Kann eine positivistische Einzelwissenschaft es sich halbwegs ungestraft erlauben, die in dieser Aussage Heideggers implizierte Tatsache zu vernachlässigen, so darf eine Wissenschaft vom Sein, eine Ontologie, die Augen nicht davor verschließen, dass das Gesuchte kein äußeres, vom Subjekt unterschiedenes Objekt ist, sondern dass vielmehr das Gesuchte das Subjekt selbst ist. Das Objekt ist das Subjekt der Frage, des Suchens. Hierin wiederholt sich etwas, nämlich die Freud’sche Erfahrung, die Lacan in ihren philosophiehistorischen Kontexten wieder aufsucht. Was Heidegger für die Ontologie anmahnt, die für diese wissenschaftliche Disziplin mehr als andere lagerechte Anerkennung der unmöglichen Trennung von Subjekt und Objekt, der unmöglichen Objektivierbarkeit des Seins, entspricht genau der Erfahrung, mit der Freud seitens der Patienten konfrontiert wird: das Scheitern der cartesischen Schlussfolgerung, die Diskordanz von Ich denke und Denken, die Übernahme des Anderen Schauplatzes als jenes seienden Seins, das sich sein Seiend-Sein nicht mehr vorstellen kann. In Heideggers Philosophie wie in der Freud-Lacan’schen Psychoanalyse sind Subjekt und Objekt nicht substanziell unterscheidbare Entitäten, sondern unterschiedliche Realisationsformen des Seins. Lacan hat auf die Vorahnung dieses sich in der Zeit realisierenden Seins in Hegels Philosophie verwiesen – Hegels Relativierung des Objekts zur Erfahrungsmodalität im Verlauf eines Bewusstseins-Prozesses sowie die Performanz des Sprechens waren Thema des 3. Kapitels –, zugleich aber schränkt Lacan diese Vorläuferschaft bei Hegel dahingehend nachdrücklich ein, dass das Suchen und Fragen bei Hegel terminiert ist im absoluten Wissen. Das ist bei Heidegger und in der Psychoanalyse Freud’scher Tradition nicht mehr der Fall. Das Fragen gehört, wie Heidegger es formuliert, wesensgemäß zum seienden Sein, und Lacan sagt völlig entsprechend: „Was mich als Subjekt konstituiert, ist meine Frage.“87 Fragen oder Suchen, Denken oder Begehren – es wird in seiner gesamten Geschichte getrieben, mobilisiert durch diese Frage – die sich wahlweise artikuliert als Frage nach dem Sein, dem Grund, dem Anfang und dem Ende, und die die Philosophie, die Religion und andere Wissenschaften in unterschiedlichen Intensitätsgraden von Verdrängung trägt.88 Daher „verdient denn die Psychoanalyse [...] wegen 85 Heidegger 1953: 4 und 15f. Vgl. auch Derrida 1986: 56ff; Pöggeler 1963: 47

und 51f. 86 Heidegger 1953: 5. 87 Lacan 1991: 144. 88 Sofern die Psychoanalyse dieser untrennbar mit den Kräften des Unbewussten

verbundenen Frage nachgeht, darf und will sie, Freud betont es nachdrücklich, nicht auf eine Theorie und Praxis psychischer Erkrankungen eingeengt werden, sondern muss in ihren für eine Kulturwissenschaft wegweisenden Potentialen genutzt werden. Vgl. Freud 1999: XI 404: „Man kann sie [die Psychoanalyse]

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ihrer tiefgreifenden Voraussetzungen und weitumfassenden Beziehungen einen Platz im Interesse eines jeden Gebildeten“89. Und auch wenn Heidegger selbst sich, womöglich aus Gründen, die nur eine Psychoanalyse zutage zu fördern vermöchte, hier mehr als renitent gibt, so beargwöhnt er doch das durch Vernunft und Aufgeklärtheit autonome Bewusstsein nicht weniger als Freud und Lacan, so attackiert er doch zelosamente die Denkweise eines „logisch geschulten, alles durchrechnenden und darum meist hochfahrenden Verstandes“90. Wie auch immer, bei Heidegger wie bei Freud und Lacan verästelt sich das Fragen in die Nacht; nicht in die Nacht der Unendlichkeit, keine Seelenromantik, aber in eine Nacht, die sehr lang werden kann, da ihre Grenze die Endlichkeit, der Tod des Subjekts selbst ist. Zu Lebzeiten jedoch wird es keine Antwort finden auf die Frage nach der Ur-Sache. Gerade hinsichtlich einer Genealogie des Unbewussten und einer Wiederholung der Freud’schen Erfahrung ins 20. Jahrhundert spielt Heidegger eine kleine, aber entscheidende Rolle: Lacan wundert und fragt sich nicht umsonst, warum „die Jagd aufs Dasein* hier, nämlich in bezug auf das Unbewußte Freuds, nicht mehr Profit herauszuschlagen verstanden hat“91. Denn Heidegger durchläuft eine Art Freud’sche Erfahrung zweiter Art, wenn er die Aporien einer Wissenschaft und Philosophie entdeckt92, Aporien, deren

89 90

91 92

auf Kulturgeschichte, Religionswissenschaft und Mythologie ebensowohl anwenden wie auf die Neurosenlehre, ohne ihrem Wesen Gewalt anzutun. Sie beabsichtigt und leistet nichts anderes als die Aufdeckung des Unbewußten im Seelenleben.“ Vgl. Freud 1999: II/III 552: „Es scheint, daß Traum und Neurose uns mehr von den seelischen Altertümern bewahrt haben, als wir vermuten konnten, so daß die Psychoanalyse einen hohen Rang unter den Wissenschaften beanspruchen darf, die sich bemühen, die ältesten und dunkelsten Phasen des Menschheitsbeginnes zu rekonstruieren.“ Vgl. Freud 1999: XIII 426: „Die Anwendungen der Psychoanalyse auf Religionswissenschaft und Soziologie (Referent, Th. Reik, O. Pfister), welche zu diesem Ergebnis geführt haben, sind noch jung und nicht genügend gewürdigt, aber es ist nicht zu bezweifeln, daß weitere Studien die Sicherheit dieser wichtigen Aufschlüsse nur erhöhen werden. [...] So darf man die Erwartung aussprechen, daß die Psychoanalyse, deren Entwicklung und bisherige Leistung hier in knapper und unzureichender Weise dargestellt wurde, als ein bedeutsames Ferment in die kulturelle Entwicklung der nächsten Dezennien eingehen und dazu verhelfen wird, unser Weltverständnis zu vertiefen und manchem im Leben als schädlich Erkanntem zu widerstreben.“ Freud 1999: XI 404. Heidegger 1959: 12. Vgl. Lacan 1991b: 39: „ Mit anderen Worten, der einzige Vorwurf, den ich Ihnen zu machen hätte, wenn ich mir das erlauben darf, ist, daß Sie alle zu intelligent erscheinen möchten. Alle Welt weiß, daß Sie’s sind. Warum dann so erscheinen wollen? Und ohnehin, was liegt schon daran, sei’s, es zu sein, sei’s, so zu erscheinen?“ Lacan 1991a: 174f. Heidegger subsumiert diese Aporie, indem er einerseits die für die Wissenschaft konstitutive Eskamotierung des Seins (in Freud-Lacan’scher Terminologie: des im Realen seienden subjektiven Begehrens) zugunsten einer Beschränkung auf ein bestimmtes positives Sachgebiet oder Objektfeld kritisiert (vgl. Heidegger 1953: 9f). Auf der anderen Seite aber vermisst er bei großen Teilen der Philosophie die „Strenge des Denkens“, die „Härte“, den „Ernst“ und die „Rücksichtslosigkeit“, die jene vom diskursiven und dianoetischen Procedere einer Wissenschaft übernehmen könnte. „Die eindeutige Ablehnung aller Philosophie ist eine Haltung, die jederzeit Achtung verdient; denn sie enthält mehr an Philosophie, als sie selbst weiß. Die bloße, durch mancherlei Vorbehalte sich von Anfang an

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Grund in der Verkennung der Tatsache liegen, dass das Objekt des Fragens zugleich das Subjekt des Fragens ist. Solange diese Aporien keine Lösung gefunden haben, „kann der Arzt nicht anders, als die Versicherung, „das Bewußtsein sei der unentbehrliche Charakter des Psychischen“, mit Achselzucken zurückweisen, und etwa, wenn sein Respekt vor den Äußerungen der Philosophen noch stark genug ist, annehmen, sie behandelten nicht dasselbe Objekt und trieben nicht die gleiche Wissenschaft“93. Heidegger macht eine der Freud’schen korrelative Erfahrung: die der Dissoziation der klassischen Beziehung zwischen einem einheitlichen Subjekt oder res cogitans und einem ganzheitlichen, vor- und stillstellbaren wissenschaftlichen Erfahrungsobjekt, der res extensa. Heideggers Bestimmung des Gefragten als das, was notwendig zu jedem Fragen als Fragen nach gehört, impliziert zum einen (wie Hegel es antizipierte) eine operative Interferenz und Vernetzung von Subjekt und Objekt, die zugleich und unvermeidbar die klassische SubjektObjekt-Dualität dekomponiert.94 Zum anderen aber unterläuft das Fragen das Gefragte selbst: Objekt der Frage ist schließlich das Fragen nach, die subjektive zeitliche Operation des Fragens selbst, und daraus resultiert die Unmöglichkeit, das Objekt der Frage länger im Sinne eines vorstellbaren, feststellbaren, substantifizierbaren Gegenstandes zu isolieren. Als Operation des Fragens fällt das Gefragte in die Unvorstellbarkeit und in eine Abwesenheit, die nicht einfach das Gegenteil von Anwesenheit ist, sondern Moment der Frage heraushaltende Spielerei mit philosophischen Gedanken zu Zwecken geistiger Unterhaltung oder Auffrischung ist verächtlich; denn sie weiß nicht, was im Gedankengang eines Denkers aufs Spiel gesetzt ist.“ (Heidegger 1961: I 481.) Vgl. hierzu auch Freud 1999: XI 44 und 94. 93 Freud 1999: II/III 616. 94 Dieses Verhältnis bestimmt auch die für die analytische Situation konstitutive, von Freud erkannte Intersubjektivität; vgl. z.B. folgende Stellen bei Freud: „Es ist in diesen späteren Stadien der Arbeit von Nutzen, wenn man den Zusammenhang errät und ihn dem Kranken mitteilt, ehe man ihn aufgedeckt hat. Hat man richtig erraten, so beschleunigt man den Verlauf der Analyse, aber auch mit einer unrichtigen Hypothese hilft man sich weiter, indem man den Kranken nötigt, Partei zu nehmen, und ihm energische Ablehnungen entlockt, die ja ein sicheres Besserwissen verraten. [...] war stets durch vielfache unverdächtige Reminiszenzen bezeugt, daß ich eben richtig geraten hatte. Man braucht sich also nicht zu fürchten, vor dem Kranken irgend eine Meinung über den nächstkommenden Zusammenhang zu äußern; es schadet nichts. (Freud 1999: I 230); „Ich pflege bei den Traumanalysen mit Patienten folgende Probe auf diese Behauptung nie ohne Erfolg anzustellen. Wenn mir der Bericht eines Traums zuerst schwer verständlich erscheint, so bitte ich den Erzähler, ihn zu wiederholen. Das geschieht dann selten mit den nämlichen Worten. Die Stellen aber, an denen er den Ausdruck verändert hat, die sind mir als die schwachen Stellen der Traumverkleidung kenntlich gemacht worden, die dienen mir wie Hagen das gestickte Zeichen an Siegfrieds Gewand. Dort kann die Traumdeutung ansetzen. Der Erzähler ist durch meine Aufforderung gewarnt worden, daß ich besondere Mühe zur Lösung des Traumes anzuwenden gedenke; er schützt also rasch, unter dem Drange des Widerstands, die schwachen Stellen der Traumverkleidung, indem er einen verräterischen Ausdruck durch einen ferner abliegenden ersetzt. Er macht mich so auf den von ihm fallen gelassenen Ausdruck aufmerksam.“ (II/III 519f); „[...] daß die Psychoanalyse die Technik befolgt, sich soweit es nur angeht die Lösung ihrer Rätsel von den Untersuchten selbst sagen zu lassen. So soll uns auch der Träumer selbst sagen, was sein Traum bedeutet.“ (XI 98)

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selbst, Moment des Denkens im Freud’schen Sinne – ein postcartesisches Denken, das sich nicht länger selbst als denkend vorstellen und so seiner selbst versichern kann, ein Denken, das von der Repräsentation seines eigenen Ich denke wie von der Repräsentation aller anderen gedachten Objekte irreduzibel getrennt ist.95 Der genaue Nachweis, d. h. die Entzifferung von Heideggers Denken im Blick auf den Diskurs und die Formkreise der Freud-Lacan’schen Psychoanalyse wäre Thema eines anderen Buches. An dieser Stelle muss der Hinweis genügen, dass sich die Freud’sche Erfahrung als Erfahrung jenes „Ortes [...], an dem sich die Transparenz des klassischen Subjekts aufspaltet“96, bei Heidegger, wenn auch aus einer völlig anderen, teilweise sogar gegensätzlichen Perspektive und Orientiertheit, wiederholt. Dieser Hinweis ist nichtsdestoweniger entscheidend und motiviert durch die auf der Suite Lacans vorgenommene wissenschafts- und philosophiehistorische Rekonstruktion des Unbewussten. Denn das ist eines seiner zentralen Themen: Jacques Lacan beherbergt auf seiner Couch das Subjekt der Wissenschaft und Philosophie des Abendlands. Heideggers Rolle in der Geschichte dieses Subjekts besteht nach Lacan darin, dass er als Vertreter der Ontologie im 20. Jahrhundert einen Schlüssel, einen Zugang zum Freud’schen Subjekt verschafft, den die Strukturlinguistik, die für die Formation dieses Subjekts dennoch konstitutiv ist, versäumt hat, was dazu führt, dass sie in gewisser Weise hinter Freuds und Lacans Stand der Erfahrung zurückfällt. Heideggers Duktus, seine beharrliche Neigung zur Privatisierung von Begriffen, ist bar jeder Gelenkigkeit und Offenherzigkeit hinsichtlich der Anschlüsse anderer Denksysteme, aber: So heterogen die Diskurse von Psychoanalyse und Daseinsanalyse nebeneinanderstehen, Heidegger befindet sich dennoch auf derselben Loipe wie Freud und Lacan. Heidegger ist auf der Spur des Seins, auf der Spur eines freudschen Seins, eines solchen, das Sein nur in der Zeit seiend ist und das (im vollen Angesicht all der damit verbundenen Aporien und fundamentalontologisch-phänomenologischen Gegenmaßnahmen, um diese Aporien überstehen und überwinden zu können97) die Frage danach stellen, das heißt sprechen und begehren kann. Von methodischen Parallelen – Strukturanalysen, Dechiffrierungen, (Re-)Konstruktionen der Geschichte –, in denen sich das gemeinsame Dispositiv von Psychoanalyse und Daseinsanalyse zeigt98, abgesehen, gibt es eine alarmierende Nähe von Heideggers Sein zum FreudLacan’schen Unbewussten. Es gibt eine archäologische Verbindung des Unbewussten und des Heidegger’schen Seins: Der operationale Aspekt des Unbewussten trifft sich mit dem Begriff des Seins, so wie Heidegger ihn in Abwendung von der klassischen Ontologie konzeptualisiert. So wie das Unbewusste nicht als solches ist, sondern nur arbeitend, seiend, pulsierend, sprechend, so ist Heideggers Sein seiend nur als Prozess des Suchens, des Fragens, nicht zuletzt und auch bei Heidegger: des Sprechens.99 Das Sein realisiert sich nur zeitlich als 95 Vgl. Heidegger 1951/52: 6, 9f, 15 und 61. Vgl. auch Heidegger 1953: 42. 96 Lacan 1991a: 174f. 97 Vgl. Heidegger 1953: 5-17, 113-117, 130-135 und 231-350; vgl. auch Tholen

2002: 132f. 98 So leitet Tholen die Antizipation des Signifikanten bei Heidegger her. Vgl. Tho-

len 2002: 172ff. Vgl. hierzu auch Wetzel 1989. 99 Nicht nur Heideggers Rede vom „Dichtungscharakter des Denkens“ (Heidegger

1954: 23) lässt sich mit Lacan korrelieren, wenn dieser, um den Gegensatz zwi-

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5. D I E V O R G E S C H I C H T E D E S F R E U D ’ S C H E N UND-DES-SPRACHSTRUKTURIERTEN UNBEWUSSTEN IN DER WECHSELSTROMPHYSIK 5.1 Die Zeichen der Klassik In seinem Buch Die Ordnung der Dinge beschreibt Michel Foucault die Epoche der klassischen Welt und Wirklichkeit, die Epoche des Cartesianismus, als eine episteme, deren ontologische und erkenntnistheoretische Matrizen durch ein Zeichenmodell vorgegeben werden: durch das Modell von PortRoyal, das Modell der Repräsentation. Foucaults archäologische Rekonstruktion der klassischen episteme lässt sich mit Jacques Derridas Dekonstruktion des Logozentrismus in der Grammatologie und mit Lacans Untersuchung zum Betriebsgeheimnis der cartesischen (Bild-)Welt im Kontext der Theorie des Blicks korrelieren.1 Das klassische Repräsentationsmodell nimmt seinen Ausgangspunkt bei einer Dualität von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt. Ein solides und unveränderliches Erkenntnissubjekt beobachtet und beschreibt, kurzum: objektiviert seinen wissenschaftlichen Gegenstand. Die Schablone für diese klare Demarkation von Subjekt und Objekt ist die Philosophie von Descartes, die das Verhältnis von res cogitans und res extensa, das Verhältnis eines punktuellen Cogito zu einer räumlich ausgedehnten Welt thematisiert. Es handelt sich um ein identitätsphilosophisches Konzept: Das cartesische Cogito, das Bewusstsein, zeichnet sich aus durch Selbstgewissheit und Selbsttransparenz. Dieses Bewusstsein objektiviert seinen Erkenntnisgegenstand, das Requisit der res extensa, das heißt, aus dem analytischen Blickwinkel von Lacan und Foucault: Es ersetzt den realen, als solchen unergründbaren, unsagbaren und unvorstellbaren Gegenstand durch seine eigene Vorstellung von diesem Gegenstand. Die apriorische Voraussetzung dieser Erkenntnistechnik ist das Modell der Repräsentation. Alle potentiellen Gegenstände der Erkenntnis müssen, um überhaupt erst zu solchen zu avancieren, dem binären Zeichenmodell des klassischen Logozentrismus unterstellt werden, nämlich einer durch das Signifikat dominierten untrennbaren Verknüpfung von Signifikant und Signifikat. Auf die Welt der Dinge wird eine Schablone, ein Netz, die Totalität eines Zeichensystems gelegt, das von der Koextension und exakten Abbildbarkeit Ding-Zeichen ausgeht bzw. diese erst erzeugt. 1

Das seit dem Dispositiv der Wissenschaften vom Realen als verzeitlicht und operational gedachte Sein dissoniert mit den von der episteme der Repräsentation verwalteten Definitionen von Sein, Subjekt und Objekt. Zu den folgenden Absätzen vgl. Foucault 1974: Kapitel 7, 8 und 9; Lacan 1987: Kapitel 6, 7, 8 und 9; vgl. auch Siegert 2003: Teil II: „Riß“. Derridas Dekonstruktion wurde im vorangegangenden Kapitel bereits besprochen.

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In der repräsentationslogischen Epoche geht die Benennung der Dinge der Welt vonstatten, indem die reale Welt durch ein von der Bedeutung und vom Bewusstsein administriertes Zeichensystem gefiltert wird. Alles, was durch diesen Filter fällt, wird fortan nicht mehr zur Welt gehören; was nicht benennbar und vorstellbar ist, ist fortan nicht mehr existent. Die klassische episteme ist geprägt durch eine völlige Transparenz des Zeichensystems auf die Welt hin. Um es mit Foucault zu pointieren, sie ist konstituiert durch den Zusammenfall des Seins und des Seins als Wort der Sprache. Foucault zeigt auf, dass und wie das Verb sein die ontologische Überbrückung von Sprache und Denken sichert. Im Sinne einer reduplizierten Repräsentation repräsentiert das Verb sein zugleich das Sein der Sprache bzw. der Repräsentation und (in Form einer attributiven Verbindung) das Sein aller anderen Dinge. Es bedingt auf komplexe und dennoch am Ende antinomische Weise, dass das Sein notwendig die Sprache bzw. den Diskurs und der Diskurs notwendig das Sein bedingen wird. Im Verb sein liegt das Monopol der Entscheidungsgewalt über Sein und Nicht-Sein.2 Lacan nimmt diesen Sachverhalt auf und beschreibt sein Funktionsprinzip wie folgt.3 Das klassische Subjekt imperialisiert die Welt in der Vorstellung: Nur das, wovon es eine Vorstellung und eine diese Vorstellung abbildenden Namen hat, hat eine ontologische Berechtigung, alles andere wird ausgeblendet, eskamotiert. Ein solches Funktionsprinzip der Welterzeugung supponiert natürlich eine perfekte Verkennung der apriorischen, unbewussten Mechanismen. Das klassische Cogito ist erstens blind gegenüber dem Bruch, der fundamentalen Unterschiedenheit zwischen der Existenz des realen Gegenstands und der Existenz dieses Gegenstands als eine durch einen Signifikanten fixierte imaginäre Bedeutung im begrenzten Radius seines Bewusstseins.4 Zweitens ist es blind gegenüber der Tatsache, dass die Wahrheit dieser Gegenstände nicht in einer metaphysisch fundamentierten und beglaubigten Bedeutung liegt, sondern vielmehr in der Existenz des reinen und bedeutungslosen Signifikanten selbst. Denn nur dieser Signifikant garantiert die Identität des vorgestellten Gegenstands mit sich selbst. Nur aufgrund der Tatsache, dass die imaginäre, als solche volatile Vorstellung mit einem ganz bestimmten materiellen Signifikanten verknüpft wird, ist eine Kontinuität und Identität der Dinge der Welt in der Zeit möglich. Die klassische Repräsentation stellt sich so als eine Ontologisierung dar – ein Akt der Seinsstiftung, der das Reale zugunsten einer in der Vorstellung re-präsentierbaren Realität elidiert.

5.2 Bruch In der episteme des 20. Jahrhunderts macht sich ein fundamentaler Bruch bemerkbar in Bezug auf die klassischen Konzeptionen des Verhältnisses zwischen dem wissenschaftlichen Subjekt und seinem Erkenntnisobjekt bzw. der Natur (den man z. B. mit Katherine Hayles als das Auftauchen des „Posthumanen“ beschreiben könnte).5 Dieser Bruch manifestiert sich in einer radika2 3 4 5

Vgl. Foucault 1974: 132ff. Vgl. Lacan 1987: 83ff. Vgl. Lacan 1991a: 22. Vgl. auch Crary 2002: 225-283.

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len Veränderung, einer Fraktur, einer Verstörung in der Beziehung des Subjekts zur Sprache: Die Kongruenz des Seins und des Wortes sein bricht auseinander, der Signifikant wird nicht länger restlos vom Signifikat resorbiert. Mit Derrida gesprochen, das Erlöschen der phonischen Signifikanten in ihrem Aussprechen, auf das der Logozentrismus als Phonozentrismus spekulierte, um den wahren und ewigen Sinn zu halten, funktioniert nicht länger reibungslos. Es bleiben materielle Spuren, es bleibt ein signifikantes Glitzern beim Sprechen zurück, das sinnlose Glitzern der Signifikanten in ihrer physischen Körperlichkeit.6 Ein ähnliches Phänomen registriert Foucault, wenn er schreibt: „Und genau, wenn sich diese Sprache im nackten Zustand zeigt, sich aber gleichzeitig jeder Bedeutung entzieht, als wäre sie ein großes und leeres System [...], dann erkennen wir den Wahnsinn in seiner gegenwärtigen Form, den Wahnsinn, so wie er sich der modernen Erfahrung als ihre Wahrheit und ihre Entstellung gibt.“7 Die plötzlich wieder auftauchende Spur des befreiten und deliranten Signifikanten jenseits jeder Bedeutung zeigt sich und inszeniert sich Foucault zufolge in der modernen Literatur. Die symbolische Artistik von Mallarmé, auf den Lacan des öfteren rekurriert, sowie der Furor von Nietzsche affrontieren die klassische Philologie und die Hermeneutik, die am Anfang und am Ende des Sprechens immer nur den Sinn auffinden wollten. Bei Nietzsche und Mallarmé „wird die Sprache ohne Anfang, ohne Endpunkt und ohne Verheißung wachsen. Die Bahn dieses nichtigen und fundamentalen Raumes zeichnet von Tag zu Tag den Text der Literatur.“8 Nietzsches Nihilismus zersprengt den hortus conclusus der Bedeutungen und legt den blickzerstörenden Blick auf das horror vacui des Seins frei, und nicht zuletzt ist es Nietzsche, der zum ersten Mal jene Frage aussprechen wird, die die Ausrichtung der Psychoanalyse Freuds und Lacans bestimmt: Wer spricht? Das Sprechen und Begehren von Nietzsche und Mallarmé, von den anderen Vertretern der neuen literarischen Avantgarde, Bataille, die Dadaisten, die Surrealisten, hier ganz zu schweigen, visiert „nicht die Bedeutung des Wortes, 6

7 8

Vgl. Derrida 1993: 59-66, 70, 75f, 77-83, 90-94, 130-32, 150-53, 165f, 167-70. Derrida legt im Kontext seiner Dekonstruktion des Logozentrismus von Platon bis hin zu Saussure dar, dass, sofern das natürliche Band bzw. die Opposition und Zuordnung von inneren und äußeren Funktionen nicht stabilisiert wird, folgender Effekt eintritt: Kontaminationen von Signifikanten und Signifikaten, Aufhebung oder sogar Inversion des natürlichen Repräsentationsverhältnisses Wort-Schrift, Dissemination von Sinn, Verlust des Ursprungs, Unmöglichkeit der Differenzierung von Urbildern und Abbildern, Präsenzen und Repräsentationen. „Unerträglich und doch faszinierend ist gerade diese intime Verknüpfung von Bild und Ding, Graphie und Phonie; sie geht so weit, daß das gesprochene Wort durch eine Spiegelung, Verkehrung oder Perversion seinerseits zum Spekulum der Schrift zu werden scheint, wobei diese „die Hauptrolle usurpiert“. Die Repräsentation verflicht sich mit dem dem, was sie repräsentiert; dies geht so weit, daß man spricht, wie man schreibt, daß man denkt, als wäre das Repräsentierte lediglich der Schatten oder der Reflex des Repräsentierenden. Gefährliche Promiskuität, unheilvolle Komplizität zwischen Reflex und Reflektiertem, welches narzisstisch sich verführen läßt. In diesem Spiel der Repräsentation wird der Ursprungspunkt ungreifbar. Es gibt Dinge, Wasserspiegel und Bilder, ein endloses Aufeinander-Verweisen – aber es gibt keine Quelle mehr.“(Derrida 1993: 65) Foucault 1974: 449. Foucault 1974: 77.

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sondern sein rätselhaftes und prekäres Sein“9. Dieses rätselhafte und prekäre Sein des Wortes, seine irreduzible Materialität, sein signifikanter Status, wird die gesamte Wissenschaft und Philosophie des 20. Jahrhunderts vektorisieren. Der Signifikant in seinem differentiellen Wert – und nicht als Repräsentation der Bedeutung – determiniert in unterschiedlichen Formen und Intensitätsgraden die neu entstehenden Wissenschaften: Linguistik, Strukturalismus, Ethnologie, Psychoanalyse, Informationstheorie.

5.3 Lacans Konzept des Signifikanten Dabei lässt sich diese Rehabilitation des Signifikanten nach der jahrhundertelangen logozentrischen Privilegierung des Signifikats als Grund und Integrationszentrum des Modells der Repräsentation nicht vereinfachen als eine schlichte Inversion. Wurde dies auch in der Einleitung bereits entwickelt, so ist der Punkt doch derart gravierend, dass sich eine Wiederholung an dieser Stelle rechtfertigt. Es geht nicht darum, das durch den Vorrang der Bedeutung befestigte logozentrische Schema der Repräsentation einfach umzukehren und nun die Übermacht des Signifikanten zu reklamieren. Lacans Theorie lässt sich nicht dahingehend vereinfachen, dass er das Signifikat ganz einfach substituierte durch einen sinnlosen, aus der Klinik des Formalismus importierten Signifikanten, ein rein symbolisches Element, in dem sich nur die klassisch ontologische Forderung nach einer mit sich identischen Einheit als Symptom schlecht repetierte.10 Gerade aus diesem Grund, gerade um dieses Symptom, diese Schließung der Kluft abzuwenden, darf eine Rekonstruktion des Lacan’schen Signifikanten sich nicht auf eine Geschichte der Formalisierung und Mathematisierung von Saussures Linguistik bis hin zu den adstringierten Codes der modernen Computermathematik und den weltlosen Gebilden der Systemtheorie beschränken. Eine Interpretation, die Lacans Konzept des Signifikanten einfach mit der symbolischen Dimension identifizierte, würde sich letztendlich in einem von allem Sein desinfeszierten reinen Formalismus verlaufen und darin den eigentlich realen und medialen Faktor des Unbewussten versäumen. Der Signifikant bei Lacan stellt zwar eine differentielle und diskrete Relation, wie sie in den oben genannten Bereichen thematisiert wird, dar, es handelt sich jedoch um eine spezifische Differenz, macht sie doch vom Sein, vom Unbewussten selber Funktion, macht sie doch das Sein zum Medium seiner eigenen Botschaft: Sie macht das Sein pulsieren zwischen den beiden Momenten Sein und Nicht-Sein, Schließung und Öffnung der Kluft. Eine Psychoanalyse, die die Botschaften, die guten und schlechten Wiederholungen des Subjekts untersucht, wird also unmöglich jemals den Signifikanten von seiner realen Dimension, vom mediatisierten oder, wie Lacan in Anlehung an dieses Wort sagt, korpsifizierten Sein abstrahieren wollen, sondern im Gegenteil die primordiale Diskontinuität des Symbolischen und des Realen, die sich als Signifikant ins Sein, dieses zum begehrenden Subjekt machend, schreibt, fokussieren. Es wurde schon gesagt: Was Lacan eigentlich fasziniert, was ihn besessen macht, ist der Bezug des Symbolischen zum Realen, es ist die ursprünglich von Freud empfangene operationalisierte Bot9 Foucault 1975: 370 10 Vgl. Kap. 12.1 und 12.4.

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schaft namens das Unbewusste. Damit soll Lacans zum Teil massiver Gebrauch von den ihn umgebenden strukturalistischen, formalistischen und mathematischen Notationssystemen keineswegs in Abrede gestellt werden; es soll lediglich dessen Motiv klar herausgestellt werden. Gerade weil dieses Unbewusste ein mediales Reales, eine als solche unerfahrbare Dassheit ist, müssen seine Wirkungen mit alternativen und formalisierenden Mitteln erfasst und entziffert werden. Das operationalisierte Sein kann und muss zu analytischen Zwecken mittels der Register der Strukturlinguistik und der digitalen Mathematik zwar logisiert werden, aber es ist erstens durch eine solche Logisierung nicht zu exhaurieren und zweitens darf es nicht mit deren Operatoren, sei es das Saussure’sche Zeichen, sei es die axiomatisierte Mengenlehre, identifiziert werden. Denn es kommt aus dem Realen, es entspringt in einem traumatischen und kontingenten Moment der Seinsspaltung.11

5.4 Trauma, Tremolo, Phobie, Paranoia, Diskontinuität – und die wissenschaftlichen Subjekte der medialen Psychoanalyse „Um die Jahrhundertwende 1900 dämmert eine [...] Welt herauf, [die] dabei ist, ihren Seinsgrund zu verlieren.“12 Das Reale explodiert. Das Reale – etwas wiederholt sich, nimmt seinen Lauf – ist das „Angstobjekt par excellence“13. Das Reale, das Unbewusste, konnotiert, gut psychoanalytisch, Trauma, Tremolo, Phobie, Paranoia, Diskontinuität, Zerstückelung und auch die diesen horrenden Phänomenen entsprechenden Abwehrmaßnahmen von der Verdrängung bis zur Verwerfung, Abwehrmaßnahmen, die dennoch nur Funktion des einen ursprünglichen Traumas sind. Lacan operiert mit diesen Begriffen und Konzepten jedoch nicht in der Immanenz eines psychoanalytischmedizinischen Diskurses, im Gegenteil, er sucht eine Fundierung und Formatierung eben dieses Diskurses in den ihn umgebenden Wissenschaften und Künsten: in der reellen Mathematik, in der Physik, in der Biologie, in der Philosophie und nicht zuletzt im Strukturalismus. Lacans Psychoanalyse lässt sich nicht reduzieren auf den Diskurs einer Psychotherapie, er versteht seine Psychoanalyse vielmehr – und das ist nicht zuletzt einer der Gründe für seinen Ausschluss seitens der psychoanalytischen Vereinigung Frankreichs – zugleich als eine Wissenschaftstheorie und Erkenntnistheorie, eine Medientheorie und Philosophie. Und in diesem Sinne rezipiert er auch Freud, der diese Entwicklung mit seinem Hinweis, „daß mit der Annahme unbewußter Seelenvorgänge eine entscheidende Neuorientierung in Welt und Wissenschaft angebahnt ist“14, bereits prophezeit hatte. Freud selbst ist bereits interdisziplinär ausgerichtet – er ist Mediziner, Psychoanalytiker, aber er ist auch Literat – und erweist sich als Wissenschaftler und Wissenschaftstheoretiker: energetisch-thermodynamisch in seinem Frühwerk, symbolistisch-struktura11 Zur Seinsspaltung vgl. Lacan 1986/87: 59; Lacan 1991: 146f und 220; Lacan

1990: 354; Lacan 1991b: 223; Lacan 1996: 116 und 126. 12 Hagen 2004. Vgl. hierzu auch Christina von Brauns Kapitel „Das „schwindlige“

Subjekt“ in: Braun 2001: 21-23. 13 Lacan 1991b: 210. 14 Freud 1999: XI 15.

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listisch in seinen späteren Werken; dort wird Freud zum Kryptologen, zu einem der ersten Kybernetiker.15 Geht es also bei Freud und Lacan ums Reale, um Trauma, Tremolo, Phobie, Paranoia, Diskontinuität, Zerstückelung und deren Abwehrmaßnahmen, dann geht es darin zugleich um die Geschichte des Subjekts der abendländischen Wissenschaft. Diese lässt sich jedoch, wie in der bereits beschriebenen Lacan’schen Projektion einer Dialektisierung von Psychoanalyse und Wissenschaft, nicht einseitig mit den von Freud und Lacan geprägten Begriffen psychoanalysieren. Vielmehr muss auf der anderen Seite auch die Osmose von Begriffen, Gedanken- sowie Formkreisen von der Wissenschaft in den psychoanalytischen Diskurs, in dessen Modelle und Metaphern in Rechnung gestellt werden. Dies lässt sich in einem besonderen Ausmaß für die bei Freud in Form der psychischen Realität und bei Lacan im Begriff des Realen indizierte Dimension geltend machen. Angesichts des wechselseitigen Feedbacks zwischen dem psychoanalytischen und dem wissenschaftlichen Subjekt, auf das die von Heidegger herausgestellte Konvergenz von Subjekt und Objekt des Fragens zutrifft, muss ein Verfahren gewählt werden, das die Freud’sche Erfahrung des realen Unbewussten ihrerseits in ihrem wissenschafts- und medienhistorischen Kontext aufsucht. Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten – so lauteten die Koordinaten, die Freud als psychoanalytische 15 An dieser Stelle soll das Verhältnis von Wissenschaft und Psychoanalyse, so

wie Freud es überblickt, kurz gestreift werden werden. Freud deliberiert bezüglich dieses Themas so tief, er geht an so vielen Stellen seines Werkes darauf ein, dass eine genauere Darlegung ein eigenes Buch erforderte. Freud changiert, was die Wissenschaft betrifft, zwischen Fatalismus und produktiver Kritik. Aber er beharrt auf der wissenschaftlichen Ausrichtung der Psychoanalyse, wenn auch in Rechnung gestellt werden muss, „daß die Psychoanalyse eine noch sehr junge Wissenschaft ist, daß sie viel Mühe und Zeit zur Vorbereitung erfordert, und daß sie vor gar nicht langer Zeit noch auf zwei Augen gestanden ist.“ (XI 309f) Dennoch steht die Psychoanalyse anderen Wissenschaften, wie zum Beispiel der Physik, in nichts nach, so sagt er, „daß Sie offenbar unrecht daran tun, ein Wohlgefallen oder eine Abstoßung, die Sie verspüren, als Motiv für ein wissenschaftliches Urteil zu verwenden. Was macht es, daß Ihnen die Resultate der Traumdeutung unerfreulich, ja beschämend und widerwärtig erscheinen? Ca n’empêche pas d’exister, habe ich als junger Doktor meinen Meister Charcot in ähnlichem Stile sagen gehört. Es heißt demütig sein, seine Sympathien und Antipathien fein zurückstellen, wenn man erfahren will, was in dieser Welt real ist. Wenn Ihnen ein Physiker beweisen kann, daß das organische Leben dieser Erde binnen kurzer Frist einer völligen Erstarrung weichen muß, getrauen Sie sich auch ihm zu entgegnen: Das kann nicht sein; diese Aussicht ist zu unerfreulich? Ich meine, Sie werden schweigen, bis ein anderer Physiker kommt und dem ersten einen Fehler in seinen Voraussetzungen oder Berechnungen nachweist. Wenn Sie von sich weisen, was Ihnen unangenehm ist, so wiederholen Sie vielmehr den Mechanismus der Traumbildung, anstatt ihn zu verstehen und ihn zu überwinden.“(XI 146) Dabei verhalten sich die Psychoanalytiker, und hierin ist nicht zuletzt die auch von Lacan geübte Polemik gegen geläufige akademische Haltungen impliziert, im Grunde sogar noch „wissenschaftlicher“ als die Wissenschaft, wenn „[wir] die Verpflichtung von uns weisen, auf den ersten Anlauf eine glatte und durch Einfachheit sich empfehlende Theorie zu erreichen. Wir vertreten deren Komplikationen, solange sie sich der Beobachtung adäquat erweisen, und geben die Erwartung nicht auf, gerade durch sie zur endlichen Erkenntnis eines Sachverhaltes geleitet zu werden, der, an sich einfach, den Komplikationen der Realität gerecht werden kann.“ (X 289)

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Methode vorgab, und nach diesen Anweisungen verfahren Lacan sowie übrigens auch, auf jeweils unterschiedliche Weise, seine kontemporären poststrukturalistischen „Kollegen“, der Archäologe und Diskursanalytiker Foucault und der dekonstruktivistische Philosoph der différance Derrida.

5.5 Wiederholung von Geschichten Um eine Konturierung des Lacan’schen Signifikanten als einer Operation im Realen herzustellen, muss, dies wurde bereits betont, damit wurde bereits begonnen, die Geschichte des Strukturalismus selbst wiederholt werden. Der Signifikant, so wie ihn die Psychoanalyse konzeptualisiert, also nicht rein symbolisch, sondern in seinem Verhältnis zum Realen des Subjekts, lässt sich nicht aus einer linguistischen Urszene deduzieren. Vielmehr führt eine Wiederholung dieser Geschichte umgekehrt dazu, dass das vermeintlich loyale Objekt Saussures, das aus Signifikant und Signifikat aufgebaute Zeichen, einer Dissoziation erliegt, sobald es in seinem Verhältnis zum Unbewussten, zum Realen, zu den sich nach dem Untergang der repräsentationslogischen Ära neu etablierenden Künsten, Medien und Wissenschaften wieder(-ge-)holt wird. Bevor dieser Fall des Saussure’schen Zeichens im 8. Kapitel mit Lacan rekonstruiert und damit zugleich die Konzeption des Signifikanten bei Lacan erläutert werden wird, soll die Spur des oben genannten Bruchs noch einmal wiederaufgenommen und in ihren Auswirkungen – Trauma, Tremolo, Phobie, Paranoia, Diskontinuität – skizziert werden, nicht zuletzt um die Emergenz des Unbewussten als eines medialen Realen in medienarchäologischer Hinsicht zu beschreiben, um die Freud’sche Erfahrung zu verlebendigen. Zwischen 1850 und 1900, zur Zeit der Freud’schen Entdeckung, ereignet sich der Paradigmenwechsel, der die Wissenschaften der Jahrhundertwende erzittern lässt und der zur Kollabion der klassischen Trennung von Subjekt und Objekt, res cogitans und res extensa, führt. Der Gegenstand verdunkelt sich, er desintegriert, er entzieht sich. Eine zu Zeiten der Klassik sichtbare und vorstellbare, eine klassifizierbare und logifizierbare Natur verschwindet, und stattdessen grassiert die Ungestalt, das Unsichtbare, das Unförmige, das Reale. Dies wiederum ruft eine Traumatisierung und Verstörung des Subjekts hervor. „Die Exzentrik, der Wahnsinn, das Leid an der Entfremdung, die Exzesse des Todes und der Vernichtung, aber auch diese jenseitige Kraft der Avantgarde in ihrer Kunst, – das könnte sich erklären damit, daß ab 1900 in die Epistemologie des Wissens ein Riß eingreift, der über Jahrzehnte hin, bin in die fünfziger Jahre hinein fast unerkannt bleibt.“16

Der Umbruch von der repräsentationsphilosophischen zur modernen epistme, von der Natur zum Realen, befällt das gesamte szientifische Feld um 1900: Biologie, Neurologie, Mathematik, Physik etc. So zeigt sich das „Angstobjekt par excellence“ in der Mathematik des Reellen, in der sich Monsterfunktionen, unauflösbare Antinomien und antieuklidische Räume zur Entladung bringen und in einer Krise der Anschauung kulminieren, die sich nur durch

16 Hagen 2004.

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die Abwehrmaßnahmen der Formalisierung abfedern lässt.17 Die klassische Naturgeschichte des Sichtbaren wird zu einer, wie Foucault das Phänomen porträtiert, „wilden Ontologie“ – das Reale als das per definititionem Unvorstellbare invadiert die moderne Biologie und Physiologie. Mit einer seitdem nie wieder erreichten Vehemenz, Eskalation und Umsturzgewalt entzündet sich jenes Anti-Phänomen, das die Repräsentationslogik und die damit verbundene klassische Ontologie diffamiert, in unterschiedlichen Diskursen und Experimentalanordnungen, auf unterschiedlichen Schauplätzen und unterschiedlichen wissenschaftlichen Feldern.

5.6 Das Unbewusste und die Geschichte der elektrischen Medien Etwas wiederholt sich, etwas nimmt seinen Lauf, es wird aus dem Schlaf des Seins gerissen, die traditionelle wird zur operationalen Ontologie. Um 1900 emergieren die elektrischen und elektromagnetischen Medien, die das gesamte 20. Jahrhundert und damit nicht zuletzt auch das Unbewusste Freuds und Lacans im Sinne eines medialen Apriori determinieren.18 Zwischen Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts haben sich entscheidende Ereignisse und Entdeckungen in der Geschichte der Elektrizitätsphysik zugetragen, die als Genealogie der elektrischen Medien zugleich eine entscheidende Rolle für den die Zeit und die Konzeption des Unbewussten betreffenden epistemologischen Wechsel spielt. Anfang der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts wird die bis dahin in Physik und Philosophie als ein kontinuierliches Fließen vorgestellte Zeit zur Serie oder Frequenz diskreter Ereignisse oder elektrischer Funken. Die ganze Welt, und insbesondere die Welt der Wissenschaft, wird unterminiert durch die unendliche Oszillation zweier diskreter Zustände, eines elektrischen und eines magnetischen Feldes, sich selbst in reiner Selbstdekonstruktion gegenseitig aufrufend und zerstörend. Kurz nach Faradays Entdeckung des Prinzips der Funkeninduktion und des Stroboskopeffekts implementieren Faradays Induktionsspule, Saxtons Wechselstromgenerator und Ruhmkorffs Funkeninduktor eine Hegel’sche schlechte Unendlichkeit in den elementaren Stromflussveränderungen des Wechselstroms. Eine zeitlos-ewige Rekursion, ein oszillierender Wahn, der keine Abbruchbedingung mehr kennt – das Sein tritt in die unmögliche Wiederholung ein, die Ur-Sache der Schlaflosigkeit wird injiziert.19 Damit ist aber zugleich eine neue Zeit implementiert worden, eine nicht-chronologische Zeit, eine zwischen on und off alternierende Zeit, ein diskreter Takt, der Takt der kurz darauf von Hertz nachgewiesenen Radiowellen20, der Takt der elektrischen Medien und nicht zuletzt jener Takt, der in Form einer Frequency Master Clock die technische Möglichkeitsbedingung eines jeden Computers darstellt – der Takt der différance in ihren Verräumlichungen und Verzeitlichungen, die Skansionen des 17 Vgl. Mehrtens 1990; Siegert 2003; Volkert 1986; Tyradellis 2003 und Vogl

2007: 89-93. 18 Vgl. Hagen 1995/96: Teil 4.3: Medientheorie ist immer Mediengeschichte. 19 Zur Geschichte dieses Medienaprioris der Schlaflosigkeit vgl. Hagen 2005: 18-

40. 20 Zu den konsequent mit Ruhmkorffs arbeitenden Versuchen Hertz’ vgl. Hagen

2005: 3-15.

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Unbewussten, die, nachdem es die subjektimmanente Differenz anerkannt und instrumentalisiert hat, die guten und die schlechten Wiederholungen, die lethischen Botschaften, die Briefe mit Inkubationszeit und die Traversalen des Symptoms intervallieren. So radikal bedeutungslos diese in den beiden alternierenden Zuständen des Wechselstroms implementierte Zeit fortläuft, so werden sich dennoch mit Anbruch des Zeitalters der Kybernetik und der digitalen Rechenmaschinen alle möglichen Bedeutungen im Binärcode darin einschreiben, prozessieren und übertragen21, und so wird es seine Gedanken durch das subjektimmanente Pulsieren von Ur und Sache transportieren, so wird die diskrete signifikante Wiederholung im Subjekt korpsifiziert. Von exakt dem Moment an, in dem das on-off in der Induktionsspule als dem allen elektrischen Medien zugrundeliegenden Geräteprinzip selbstimplikativ und automatisch läuft, in dem magnetisches und elektrisches Feld sich gegenseitig und endlos induzieren, können Übertragungsnetze getaktet und synchronisiert und Botschaften programmiert werden. Lacan situiert in genau diesem Moment den eigentlichen Anbruch der Kybernetik. „Von dem Moment an, wo man die Möglichkeit gehabt hat, die beiden Merkmale aufeinander umzuklappen, aus der Schließung [der Tür, Anm. d. Verf.], das heißt dem Kreislauf, etwas zu machen, wo's durchläuft, wenn's geschlossen ist, und wo's nicht durchläuft, wenn's offen ist, da ist die Wissenschaft der Konjektur übergegangen in die Realisierungen der Kybernetik. Wenn es Maschinen gibt, die ganz allein kalkulieren, addieren, totalisieren, all die Wunder tun, die der Mensch bis dahin für das Eigentümliche seines Denkens gehalten hatte, dann deshalb, weil die Fee Elektrizität, wie man sagt, uns erlaubt, Stromkreise herzustellen, Stromkreise, die sich öffnen oder schließen, die sich unterbrechen oder sich wiederherstellen in Abhängigkeit von der Existenz kybernetischer Türen. Beachten Sie aber, daß das, worum es geht, die Relation von Zugang und Schließung als solche ist. Sobald die Tür sich öffnet, schließt sie sich. Wenn sie sich schließt, so öffnet sie sich. Eine Tür muß nicht offen oder geschlossen sein, sie muß offen und dann geschlossen sein und dann offen und dann geschlossen. Dank dem elektrischen Stromkreis und dem mit sich selbst verschalteten Induktionskreis, das heißt dank dem, was man ein feed-back nennt, genügt's, daß die Tür sich schließt, damit sie sogleich durch einen Elektromagneten wieder in den Zustand der Öffnung versetzt wird, und das ist von neuem ihre Schließung und von neuem ihre Öffnung. Sie erzeugen so das, was man eine Oszillation nennt. Diese Oszillation ist die Skansion. Und die Skansion ist die Basis, auf der Sie unaufhörlich die geordnete Wirkung werden einschreiben können durch eine Reihe von Montagen, die nicht mehr sein werden als Kinderspiele.“22

21 Vgl. Kittler 1993 und 1993a. Vgl. auch Hagen 1989: 212: „[…] eine hochab

strakte syntaktische Maschinen-Logik, die im Ergebnis ein universelles Medium schafft, das alle anderen Medien – neben der Schrift auch Bild, Klang, Film, Stimme etc. – so problemlos darstellen kann wie sich selbst.“ Und Hagen 1989: 220: „Ein genügend schnelles Aggregat von Folgezyklen kann jeden beliebigen Zustand simulieren, sofern nur seine Zustände vor oder nach dem gegebenen Zustand diskret definierbar sind.“ 22 Lacan 1991b: 382.

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5.7 Diskrete Zeiten und Relationen Zugleich ist es der Beginn einer neuen Zeit im buchstäblichen Sinne, ein radikaler apriorischer Bruch hinsichtlich des Denkens von Zeit. Die Vorstellung von Zeit im Sinne einer linearen und kontinuierlichen Folge von Momenten wird supplementiert durch die diskrete Zeit der Wechselströme und elektromagnetischen Resonanzen.23 Heideggers Destruktion der metaphysischen Präsenzphilosophie, Foucaults Zurückweisung des Geschichtsdenkens der Linearität, Derridas Analyse des abendländischen Logozentrismus als Ideologie der Präsenz werden von dieser neuen Zeit ebenso formatiert wie das Freud-Lacan’sche Gedächtnis- und Geschichtskonzept24. Dominierte bis zum Anbruch der operationalen Ontologie, bis zur Entdeckung des Anderen Schauplatzes, die klassische Folge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft das Zeit-Denken, so verstört die diskrete Zeit die bis weit in die Ursprünge der abendländischen Philosophie zurückreichende Tradition an einem empfindlichen Punkt: an dem seiner Gegenwartsverhaftung. Stellte sich das traditionelle Zeitverständnis Zeit stets als eine chronologische Reihe von Gegenwartsmomenten vor – jeder Moment ist irgendwann einmal Gegenwart gewesen oder wird irgendwann einmal Gegenwart sein –, so wird genau diese Gegenwart, diese Vorhandenheit mit all dem, was sie an Logos und erfüllter Bedeutung konnotiert, in der diskreten Zeit radikal inexistent.25 Hier ist keiner der beiden elementaren Momente als solcher, sondern jeder ist stets nur, was der andere nicht ist. Ein elektrisches Feld existiert nicht fürsichseiend neben einem nachfolgenden magnetischen Feld, ein elektrisches Feld induziert nur durch sein Zusammenbrechen ein magnetisches Feld usf. Die Beziehung zwischen den Momenten der symbolischen Zeit der Wechselund Computerströme ist nicht länger eine Beziehung zwischen zwei ganzen, substantiellen Elementen, die je für sich objektiviert oder ontologisiert werden können, sondern beide Elemente existieren nur in ihrem relationalen oder differentiellen Bezug aufeinander, keinem der beiden Zustände kommt ein isoliertes Sein oder eine Präsenz jemals zu – der reine Signifikant operiert im Unbewussten. Er ist nicht, sondern prozessiert nur im Sinne einer unendlichen Selbstdekonstruktion des Voraufgehenden in Form einer Antizipation, die wiederum nichts als ihre eigene Selbstdekonstruktion heraufbeschwört. (Ein weiteres Mal schließt sich hier das Spiegelstadium auf, so wie es, in der imaginären Vorstellung zwar die Szene der beiden einander in Liebe und Hass gegenüberstehenden Individuen evozierend, in Wahrheit doch nur der 23 Entscheidend für diesen revolutionären Wandel des klassisch-okzidentalen

Zeitverlaufs ist natürlich auch das wissenschaftshistorisch mit der Diskretisierung verbundene Denken der Irreversibilität, das mit dem Zweiten Thermodynamischen Hauptsatz emergiert. Eine gesonderte Behandlung der Entropie würde jedoch den Radius dieser Untersuchung sprengen; stattdessen sei verwiesen auf: Kassung 2001: bes. 132-258; Böhme 1966; Wald 1889; Boltzmann 1897; Prigogine 1979. Weitere irreparable Erschütterungen des linearen Zeitdenkens ergingen seitens der Chaostheorie und der „Theorie dissipativer Naturprozesse“ mit ihren „katastrophenfreudigen Zufällen“ (Tholen 2002: 130). 24 Vgl. Kap. 10. 25 Vgl. Hagen 1989: 219-221 und 226-229; Tholen 2002: 125-138; Heidegger 1953: 18ff; Heidegger 1951/52: 60-63; Zimmerli/ Sandbothe 1993: 6-11 und 20-23.; Grossklaus 1997: 11-51.

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alternierenden Bewegung, dem Pulsieren eines medienapriorisch durch die diskrete Zeit bestimmten unbewussten Subjekts entspricht.)

5.8 Die Genealogie des Unbewussten aus der Geschichte des Wechselstroms I War in Leibniz’ Sentenz „Ein Ding ist, ist nicht“ die folgenschwere Verbindung zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein innerhalb eines mathematischen Diskurses immerhin schon (in einer noch prä-hegelschen Weise) aufgerufen, so wird diese Sentenz, wie Siegert gezeigt hat, im 19. Jahrhundert ad infinitum serialisiert: ein Ding ist, ist nicht, ist, ist nicht, ist, ist nicht usw. „In den elektrischen Medien des 19. Jahrhunderts erscheint diese Serie als maschinisierter, das heißt endlos wiederholter Schaltvorgang: an, aus, an, aus usw. Das ist der Wechselstrom in seiner digitalisierten Form.“26 Eine Serie wird instradiert, die jeweils als diskreter Wechsel zwischen Sein und NichtSein, An und Aus, seiend ist, ohne dass dieses Sein noch zum Bewusstsein, zur Präsentifizierung eines Moments von Sein kommen könnte. Die reine, haltlose und radikal unbewusste Rekursion dieses Seins konvergiert nicht mehr in einer cartesischen Epiphanie, in der es, sich selbst als Sein vergewissernd, für einen Moment zur Ruhe kommen könnte, sondern perpetuiert, um seines Seins willen, als infiniter und infinit unbewusster Wiederholungszwang. „Die technischen Medien erscheinen als Elemente innerhalb eines sehr ausdifferenzierten und in scheinbar sehr heterogene Diskurse hineinreichenden technisch-mathematischen Dispositivs, das von diesem Wiederholungszwang artikuliert ist und das an seinen Rändern (dort wo es Schnittstellen zu menschlichen Sinnen organisiert) Medien und Diskurse anlagert.“27 An diesem Dispositiv partizipiert auch die Freud’sche Psychoanalyse. Das technische Apriori der Freud’schen Entdeckung, der Entdeckung des in der diskreten Wiederholung operationalisierten Seins, liegt in der Geschichte des Wechselstroms, die im folgenden rekapituliert werden soll. Der Elektromagnetismus, der als eine Interferenz von Diskursen, Techniken und Untersuchungsmethoden seine massiven Wirkungen im Feld der Wissenschaften und Künste um 1900 zeigt, ist im Kontext der Physik in einem anti-newtonschen Diskurs situiert.28 Er steht in Opposition zu den insbesondere in Frankreich dominanten und auf Newton rekurrierenden Modellen von Laplace, Biot, Poisson u. a., und im Diskurs der Philosophie konfligiert er mit Kants transzendentaler Deduktion, die auf der Voraussetzung des Newton’schen Billard-Ball-Universums basiert, in dem alle Phänomene über attraktive und antagonistische Fernwirkkräfte zwischen den kleinsten Materieteilchen (actio in distans) expliziert werden.29 Der Kantianer Hans Chris26 Vgl. Siegert 2003: 305. 27 Siegert 2003: 307. 28 Zu dem im folgenden dargelegten, sich über Oersted, Ampère und Faraday bis

hin zum Ruhmkorff erstreckenden Geschichte vgl. Hagen 2005: 18-21 und 145150. 29 Vgl. hierzu Neuser 1995: 107: „An den ungelösten methodischen Problemen der Newtonschen Physik, die sich ergeben, wenn man den erkenntnistheoretischen Status von Kausalitäten in der Natur bestimmen will, hat Immanuel Kant (1724-1804) angeknüft und eine Lösung gefunden, die einerseits zum Erfolg des deutschen Idealismus führte und andererseits der mathematischen Naturwis-

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tian Oersted restituiert 1812 in seinem Werk Ansicht der chemischen Naturgesetze Kants Newton’sches Modell durch ein Nahwirkungsmodell undulatorischer Kräfteverbreitung. Oersteds Diskurs über die Elektrizität wird nicht länger durch ein Newton’sches Universum bestimmt, sondern wird informiert durch eine sich in Paris neu formierende Gruppe anti-laplacescher Physiker und Chemiker – die Vertreter der Wellentheorie des Lichts und der Ätherphysik (u. a. Arago, Fresnel und Fourier). Die modernen Pariser AntiLaplacianer und der sich in Kopenhagen von Kant und Newton verabschiedende Oersted leiten die Diskurse und Medien des Elektromagnetismus ein. Dann, 1820, die große und alles entscheidende Entdeckung, der erste Anruf des Unbewussten – Oersted stößt auf die Ablenkung einer Magnetnadel durch fließenden Strom, er suspendiert die seit Gilbert gültige Trennung von Elektrizität und Magnetismus30, er entdeckt die Wechselwirkungen zwischen Elektrizität und Magnetismus, er verkündet, sich selbst hymnisch in die dritte Person setzend: „Der Elektromagnetismus wurde im Jahre 1820 von Hans Christian Oersted, Professor an der Universität Kopenhagen entdeckt“31, und er versendet seine entsprechende Abhandlung in lateinischer Sprache an alle anerkannten wissenschaftlichen Gesellschaften. Diese rief dort Reaktionen zwischen Überraschung, Konsternation und Ablehnung hervor. Die newtonianisch mechanisierte Physik konnte ein derart anti-newtonianisches und damit subversives Phänomen wie den von Oersted beschriebenen Elektromagnetismus (selbst wenn weder Oersted noch die konventionellen Physiker Europas die wahren subversiven Implikationen des Elektromagnetismus zu erkennen und zu verbalisieren in der Lage waren) nur beargwöhnen.32 Und dennoch, Oersteds Entdeckung setzt „die Kaskade der elektrischen Medien in Gang“. „Dieser gern für zufällig erklärte Beweis von der elektrodynamischen Kraft fließender Ladungen ist der entscheidende Knotenpunkt in der Entwicklung der Elektrizität. Mit Oerstedts Entdeckung, praktisch noch im selben Jahr 1820, wird Telegrafie möglich, die Entdeckung der Induktion folgte auf dem Fusse, eine mathematische Theorie der Elektrodynamik wurde beschreibbar, ebenso der Feldbegriff der elektrisenschaft, die sich auf Erfahrung stützt, zum Durchbruch verhalf. Der historische Erfolg der Kantschen „Kritik der reinen Vernunft“ wie auch der mathematischen Naturwissenschaften liegt in der Entdeckung und Formulierung einer transzendentalphilosophischen Erkenntnislehre für die mathematischen Naturwissenschaften.“ Newtons Physik stellt für Kant ein perfektes Beispiel für eine eigentliche Naturwissenschaft dar, da sie jene Gesetze, die sie als die der Natur deklariert, zunächst ausschließlich mathematisch deduziert und erst in einem zweiten Schritt auf mechanische Probleme anwendet. Newtons „eigentliche“ Physik „basiert auf a priori-Annahmen und stellt die Möglichkeit von Erfahrungen dar. Erst die Anwendung der physikalischen Gesetze auf mechanische Probleme bedeutet, Erfahrung aufgrund synthetischer a priori-Gesetze zu gewinnen [...] Das Newtonsche Gesetz der wechselseitigen Massenanziehung scheint notwendig in der Natur der Dinge selbst zu liegen und wird daher auch als a priori erkennbar vorgetragen, so daß kein anderes Gesetz der Attraktion zu einem Weltsystem als „schicklich“ gedacht werden kann.“(Neuser 1995: 111) Vgl. auch Falkenburg 1987; Friedman 1992; Mudroch 1987. 30 Zu Gilberts nominalistischer Demarkation von „vis magnetica“ und „vis electrica“ vgl. Gilbert 1600: 54: „Vim illam electricam nobis placet appellare“. 31 Hans Christian Oersted, zit. nach Williams 1960: 60. 32 Vgl. Simonyi 1990: 336f.

DIE VORGESCHICHTE DES UNBEWUSSTEN IN DER WECHSELSTROMPHYSIK ſ 151 schen Kraft; Motoren und Generatoren elektrischer Kraft werden baubar, die Radiowellen werden keine 50 Jahre nach Oerstedt theoretisch vorhergesagt, kaum 70 Jahre später nachgewiesen, – alles Effekte, die auf dem intrinsischen Zusammenhang von Elektrizität und Magnetismus beruhen.“33

Und diese sich mit dem Impetus einer Sprungwelle emporhebenden Medien und Diskurse setzen nicht zuletzt die Freud-Lacan’sche Psychoanalyse in Gang. Sie setzen, denn das Objekt ist das Subjekt der Psychoanalyse, das Unbewusste in Gang, jene korpsifizierte Frage, „die sich auf der Ebene des Verhältnisses menschlichen Seins zum Signifikanten als solchem [stellt], weil auf der Ebene des Signifikanten jeder Zyklus des Seienden mit Einschluß des Lebens in seiner Bewegung von Verlust und Wiederkehr wieder in Frage gestellt werden.“34 Zunächst aber sollen die Stationen der Kaskade weiter Revue passieren. Ein Zeitgenosse Oersteds fühlte sich durch die brandheiße Neuentdeckung der Wechselwirkungen zwischen Magnetismus und Elektrizität ganz besonders inflammiert. Der Mathematiker, Chemiker und Philosoph André-Marie Ampère ließ sich nicht aufhalten, gleich ein neues Zeitalter zu akklamieren. Gleich, das heißt bereits eine Woche später, nahm dieses Zeitalter seinen Lauf in Ampères Nachweis, dass die von Oersted zwischen elektrischen und magnetischen Erscheinungen aufgefundenen Wechselwirkungen auch zwischen elektrischen Leitern auftreten, je nachdem ob die Ströme in diesen in gleiche oder in entgegengesetzte Richtungen fließen – das Fanal der Elektrodynamik.35 Ampère komplementiert seine Experimente durch haarfeine Mathematisierung und ist sehr rasch in der Lage, eine erste, „auf der Höhe der Mathematik seiner Zeit differentialgeometrisch formulierte“ mathematische Theorie zu präsentieren.36 Noch im selben Jahr, 1820, erscheint Ampères Ableitung eines Gesetzes zur Beschreibung der elektrodynamischen Wechselwirkung der Ströme. Die eigentliche und große Rolle, die Ampère in der Entwicklung des physikalischen Diskurses zukommt, liegt in dieser, dem eigentlichen „Schließmoment“37 voraufgehenden Mathematisierung des von Oersted entdeckten Phänomens. So wird sich Maxwell unmittelbar auf die Mathematik Ampères beziehen und diesen als den „Newton der Elektrodynamik“ glorifizieren38; selbst in der zeitgenössischen Physik wird der Einfluss von Stoffen auf das magnetische Feld noch

Hagen 1998: 149. Lacan 1996: 285. Blondel 1982: 76. Hagen 2005: 21. Der „Schließmoment“, auch „Moment des Verstehens“, bezeichnet nach Lacans Theorie der logischen Zeit das dritte, abschließende, einer Hegel’schen Synthese vergleichbare Abschlussmoment. Vgl. hierzu Lacan 1986: 103ff und Lacan 1987: 45. 38 Vgl. Maxwell 1890: 2, 162: „Die experimentelle Untersuchung, aufgrund deren Ampère das Gesetz der mechanischen Wechselwirkung zwischen elektrischen Strömen aufstellen konnte, muß als eine der glänzendsten Leistungen der Naturwissenschaften gelten. In ihrer Gesamtheit scheinen Theorie und Experiment voll entwickelt und gerüstet dem Hirn des Newtons der Elektrizität entsprungen zu sein: der Form nach in perfekter Vollendung, in ihrer Präzisität unangreifbar und zu einer Formel zusammengefaßt, aus der sich alle Phänomene ableiten lassen und die für immer ein Eckpfeiler der Elektrodynamik bleiben wird.“ 33 34 35 36 37

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häufig unter Bezug auf Ampères Modell und die Mathematik der ampèreschen Molekularströme beschrieben. Dennoch muss mit Lacan auch die Trägheit des Imaginären einkalkuliert werden, mit anderen Worten, der für die Ich-Funktion konstitutive Widerstand, der sich der Erneuerung gesicherter Wahrheitsbestände entgegenstellt.39 Ein Tatbestand, den übrigens Ampère selbst, lange vor Erhebung des Widerstands zum technischen Grundbegriff der Psychoanalyse, erkannte. 39 Vgl. Lacan 1991b: 11 und 27-29. Lacans Wissenschaftstheorie basiert streng

auf der Unterscheidung von Wahrheit und Wissen. Was die Wahrheit betrifft, so überdauert diese nicht in zeitloser und überpersönlicher Universalität, sondern existiert nur transient und in Anknüpfung an ein ganz bestimmtes Wissen. Lacan spezifiziert dieses Wissen als etwas, das „mit einer bestimmten Trägheit versehen sein muß“; das Wissen muss, um eine Wahrheit stützen zu können, einen gewissen Aspekt von Permanenz und Widerständigkeit aufweisen. Es muss in ein symbolisches System, in eine bestimmte Anzahl allgemein anerkannter Sätze und Gesetze eingeschrieben werden, um auf diese Weise eine bestimmte wissenschaftliche oder auch alltägliche Welt funktionieren zu machen – eine Welt, in der es möglich ist, zwischen „Wahrheit“ und „Falschheit“ zu unterscheiden, eine Welt, in der es eine durch Verkennung und Trägheit, heißt: Resistenz dieser Verkennung konstituierte „ganze Wahrheit“ gibt. Aber so übermächtig diese Trägheit des Imaginären auch sein mag – und bei den neurotischen Vetretern des professoralen Herrndiskurses unüberwindbar lebenslänglich –, so weist sie dennoch variierende Halbwertzeiten auf. Der Residenz der „ganzen Wahrheit“ sind also zeitliche Grenzen gesetzt. Anders hätte die Maxwell’sche Wellentheorie des Lichts Newtons Korpuskularlehre nie ablösen, anders wäre der Operator 2 (das Beispiel, mit dem Lacan hier arbeitet) nie in die Welt gesetzt werden können. Das Wissen, also die vorläufige, verkürzte, saisonale Wahrheit, wird irgendwann exundiert von dem Begehren zur Wahrheit, das – wie bereits beschrieben – als ein Hegel’scher Prozess Funktion vom Scheitern, vom Unmöglichen macht. Neue Symbole bzw. Denkmodelle emergieren demnach stets in Momenten reiner und wahnhafter Kontingenz, paroxysmale Momente, Gewaltakte, die die bestehenden trägen, imaginären Realitäten sprengen und durch Erweiterung oder Revolution mitunder an den Rand der Desorganisation führen, wie es nicht zuletzt die Geschichte des Wechselstroms mit ihren von Hagen aufgezeigten massiven psychotischen und okkultistischen Infusionen zeigt. (Vgl. z. B. Hagen 2005: 115-142, 163-167; vgl. auch Hagen 2001: 57-99 und Hagen 1999) Zu dem der Trägheit äquivalenten Phänomen des Widerstands vgl. Lacan 1991a: 47: „Wo sie sich darauf versteifen, die Natur des Widerstands in einer emotionalen Stetigkeit und als ein dem Diskurs Äußerliches anzusehen, zeigen die Psychoanalytiker von heute nur, daß sie von einer jener fundamentalen Wahrheiten erfaßt sind, die Freud durch die Psychoanalyse wiederaufgedeckt hat. Nämlich: daß man einer neuen Wahrheit nicht einfach ihren Platz einräumen kann, denn es geht vielmehr darum, daß wir unsern Platz in ihr einnehmen. Sie verlangt, daß man sich aufstören läßt. Es genügt nicht, sich bloß an sie zu gewöhnen. Man gewöhnt sich ans Reale. Die Wahrheit verdrängt man.“; und Lacan 1986: 176f: „Welche Triebfeder läßt nun den Psychoanalytiker anderswo vor Anker gehen? Wenn die Annäherung an das Verdrängte von Widerständen begleitet ist, die das Maß der Verdrängung angeben, wie Freud uns sagt, so impliziert das zumindest eine enge Beziehung zwischen den beiden Termen. Diese Beziehung erweist sich hier als in gegenläufiger Richtung funktionierend. Der Wahrheitseffekt, der sich im Unbewußten und im Symptom einstellt, fordert vom Wissen eine Disziplin, die unbeugsam seiner Kontur folgt, denn diese Kontur geht gegen den Strich der für seine Sicherheit allzu bequemen Anschauungen.“

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„Jedermann leistet Widerstand, wenn er seine hergebrachten Ansichten ändern sollte.“40 Mit Freud: „Wie Sie wissen, hat die Menschheit ein instinktives Abwehrbestreben gegen intellektuelle Neuheiten.“41 Ampères Begründung der Elektrodynamik42 stellte keine einfache Ablösung, keine Annullierung des Newton’schen Universums dar, sondern ereignete sich vielmehr als ein diskontinuierlicher Übergang auf eine andere Ebene, auf der Newton als Spur, als Symptom noch im neuen Dispositiv der Oszillation persistierte. „Das Nichtzusammenbringen von reproduzierbaren Effekten des Elektromagnetismus mit einer gängigen Theorie der Elektrodynamik, die keine solchen Effekte erlaubte; sowie ein neues theoretisches Wissen über Elektromagnetismus, das keinen reellen Effekt seines empirischen Beweises zu produzieren zuließ, das war die paradoxe Lage in den 1880er Jahren.“43 Dieser Konflikt zwischen Newtonismus und Ätherianismus manifestiert sich in Ampères Theorie in Form einer Diskrepanz zwischen Stil und Duktus, die noch immer der Physik Newtons verhaftet sind, einerseits, und seiner induktiven Methode sowie den experimentellen Aufbauten andererseits, die vom Prinzip her bereits das Prinzip des Zeigertelegraphen antizipieren und sich damit bedingungslos dem Medium der Oszillation verschrieben haben.44 Einerseits war Ampère um Neutralität und Offenheit bemüht, andererseits konnte er nur widerwillig an die Richtigkeit der Beobachtung Oersteds glauben. Wolfgang Hagen hat diese Ampères Denken inhärierende Ambivalenz, die für das Unbewusste konstitutive Zweideutigkeit, medienhistorisch hergeleitet.45 Nichtsdestoweniger, die Entdeckung Oersteds trifft die physikalische Welt und deren experimentelle Laboratorien mit detonativer Gewalt, sie mobilisiert eine rasante Serie von weiteren experimentellen und theoretischen Investigationen, sie war zu alarmierend und zu innovativ, als dass die führenden Gelehrten jener Zeit diesen Gedanken hätten übergehen können. Erweist sich Ampère in seinen Bemühungen, die Gesetze seiner Elektrodynamik und die Gesetze der Newton’schen Dynamik zu kompatibilisieren, als Verwalter eines Zwischenreiches zwischen der neuen oszillierenden Ära und der alten Tradition eines gesicherten Universums, so radikalisiert Michael Faraday (1791-1867) das Prinzip der Operationalität und markiert damit die eigentliche Zäsur zwischen der klassischen und der neuen, auf der unendlichen ursächlichen Wiederholung basierenden Ontologie. Im Universum der Physiker ruft Faraday Emotionen zwischen Grandezza und Stardust auf – unendlich oft wurde er zelebriert als der bedeutendste Experimentalphysiker, Maxwells Ovation beinahe noch großartiger als jene an Ampère46. Im Stil eines Direttis40 Ampère, Brief aus dem Jahre 1920, zit. in: Williams 1960: 60. 41 Freud 1999: XI 219. 42 Pierre Duhem, zu Recht den Ruf als erster „moderner“ Wissenschaftshistoriker

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der Physik tragend, hat ausgeführt, dass Ampère im ganzen Unterschied zu Faraday kein praktisch-experimentell veranlagter Physiker war und schon aus diesem Grund das erste fundamentale Elementargesetz nur „intuitiv“ finden konnte. Vgl. Duhem 1908: 263-267. Hagen 2005: 7. Vgl. Aschoff 1995: 2, 46-50. Vgl. auch Caneva 1980: 121-138. Vgl. Hagen 1998 und Hagen 2004. Vgl. Maxwell 1981: Preface: „Vor meinem Studium der elektrischen Erscheinungen hatte ich mir vorgenommen, keine mit diesem Themenkreis zusammenhängende Mathematik zu lesen, solange ich Faradays Werk, Experimentelle Untersuchungen über die Elektrizität, nicht gründlich durchgearbeitet hatte [...]

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simas steigt der Stern Faraday auf vom subalternen Buchbinderlehrling über den Laboranten, den Sekretär und Reisebegleiter Davys, den studierten Elektrizitätsforscher und Elektrochemiker bis hin zur Ernennung zum Direktor der Royal Institution 1925, bis dann, unterbrochen von den sich in den 40er Jahren einstellenden Nervenkrisen, der Faraday-Effekt, die Faraday-Drehung, der Diamagnetismus und der Paramagnetismus folgen. Faradays Arbeiten werden in den Jahren 1832 bis 1856 in den Experimental Researches in Electricity unter den fortlaufenden Paragraphen 1-3340 publiziert.47 Faraday befreit sich von Newton, er befreit sich aus Ampère’scher Befangenheit, er zerschlägt den Knoten des Symptoms, indem er die Newtonschen Fernwirkungskräfte einer Oersted’schen Rotationskraft subordiniert. 1821 erhält er den Auftrag, einen Forschungsbericht über die Oersted’sche Entdeckung zu verfassen. Wie seine Vorgänger, insbesondere Priestley, beginnt Faraday seine Arbeit mit der Wiederholung der entsprechenden Experimente, die er kommentieren und analysieren soll, aber im Unterschied zu jenen überschreitet Faraday bereits in dieser frühen Schrift bei weitem das Niveau einer bilanzierenden Zusammenfassung. Er weist eine Kraft nach, die von einem durch einen Leiter fließenden Strom auf den Pol eines Stabmagneten ausgeübt wird, und im Anschluss zeigt er, dass diese Kraft längs eines Kreises wirkt. Damit ist im Prinzip bereits der erste Elektromotor – wenn auch noch sehr gut chiffriert – konstruiert, und für dieses Mal brauchte es keinen Psychoanalytiker, um die Zeichen zu lesen, denn kurz darauf baut Faraday selbst die Maschine, bei der ein Leiter um einen Magneten rotiert, er baut den Elektromotor. Der Elektromagnetismus hat sich als Apparat materialisiert. 1831 entdeckt Faraday die Induktion und damit das Grundprinzip des Wechselstroms, dessen wissenschaftliche Konsequenzen die Feldtheorie und die Maxwell’schen Feldgleichungen sein werden.48 Die Ahnung, dass in Analogie zur Influenzerscheinung der Elektrostatik auch der Strom in einem Stromkreis auf irgendeine Weise den Strom in einem zweiten Stromkreis beeinflussen müsse, beherrschte mehr oder weniger intensiv bereits die romantische Naturphilosophie. Die Vermutung, dass ein Strom in einem benachbarten Leiter aus dem Grund einen Strom induziert, weil im ersten Kreis ein solcher bereits fließt, lag schon in der Atmosphäre. In unmittelbarer Nähe der Entdeckung hielt sich Ampère auf, und um so stärker wurde er von der Ahnung behelligt, was sich in seinen Briefen dokumentiert; andererseits jedoch konnte sich aufgrund der symptomatischen Blockaden und Widerstände das Ereignis im Subjekt Ampère noch nicht vollziehen, und so schließt dieser besagte Briefe mit der resignativen Einsicht, dass eine solche Einwirkung nicht vorausgesetzt werden könne, da leWenn irgendetwas davon, was ich hier niedergeschrieben habe, Studenten dazu verhilft, Faradays Ausdruckweise und Gedankengänge verstehen zu lernen, werde ich eine meiner Hauptzielsetzungen erreicht haben, nämlich das Vergnügen mit anderen zu teilen, das ich selbst beim Lesen von Faradays Werken empfand.“ 47 Zum Lebenslauf und zu den Entdeckungen Faradays vgl. Simonyi 1990: 34043. 48 Vgl. Faraday 1896: I, 11. Das Induktionsgesetz formuliert den Zusammenhang zwischen der zeitlichen Änderung des elektrischen Feldes und des magnetischen Feldes. Maxwell beschreibt später die dazu inverse Erscheinung, um sie nach seinem berühmten Gleichungssystem zu mathematisieren und damit die Epoche der klassischen Elektrodynamik zu beenden. Vgl. Simonyi 1990: 322.

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diglich beim Ein- oder Ausschalten des Stromes etwas zu beobachten sei. Ampère kapituliert. Er stellt die Fahndung nach diesem letzteren Effekt ein und hat so – wie er später mit leiser Bitterkeit konstatiert – die Faraday’sche Entdeckung versäumt, dass gerade in dieser elementaren Funktion der Einund Ausschaltung, der diskreten Unterbrechung und der Serialisierung dieser Unterbrechung, die eigentliche bis zum apriorischen Umbruch reichende Revolution des Wechselstroms lag. „Ein zweihundertunddrei Fuß langer Kupferdraht wurde um eine breite Holzrolle gewickelt und zwischen den Windungen desselben ein zweiter gleichfalls zweihundertunddrei Fuß langer Draht, durch dazwischengelegten Zwirnsfaden vor gegenseitiger Berührung geschützt. Eine dieser Spiralen wurde mit einem Galvanometer verbunden und die andere mit einer kräftigen Batterie von hundert vierquadratzölligen Plattenpaaren, die Kupferplatten wiederum doppelt. Wurde nun die Kette geschlossen, so zeigte sich eine plötzliche, aber sehr schwache Wirkung am Galvanometer, und dasselbe trat ein im Moment der Unterbrechung des Stromes. Aber solange der Strom ununterbrochen durch die eine Spirale hindurchging, konnte weder am Galvanometer noch sonst eine Induktionswirkung auf die andere Spirale wahrgenommen werden, obschon von der großen Stärke der Batterie die Erwärmung der ganzen mit ihr verbundenen Spirale und die Helligkeit des Entladungsfunkens, wenn er zwischen Kohlen übersprang, Zeugnis ablegte.“49

Der Grundvorgang des Unbewussten, die Wiederholung von Ur und Sache realisiert sich erstmalig in Form der Faraday’schen Maschine, einer reinen Unterbrechungsmaschine, einer durch die blinde, bewusstlose, chronische Alternation von Ein- und Ausschaltung konstituierten Maschine – eine Maschine, die einfach nur die Elementaroperation von Stromflussveränderung: ein/aus, die diskrete Operation kat exochen, das Oszillieren einer Spule in einem Magnetfeld exekutiert. Das Objekt im Sinne einer materialisierbaren Ursache wird liquidiert in die Rotation einer Ur-Sache, das Sein wird zu einer reinen Serialität ohne Anfang und Ende. „Induktionselektrizität ist kein Phänomen, das auf eine stoffliche Ursache zurückgeführt werden könnte wie der Galvanismus oder die Reibungselektrizität. Sie existiert nur, insofern geschaltet wird, und auch dann nur in einem Augenblick, dessen Dauer von der Ordnung des Infinitesimalen ist. Dauerhafte Induktionselektrizität ist folglich ein Effekt der Wiederholung, der Serialisierung des momentanen Ein/Aus.“50

In den besinnungslos katatonen, haltlosen, digitalen Sprüngen einer Galvanometernadel auguriert sich „das Rinnsal, in dem sich das Begehren situiert, [...] das, was darunter läuft, was, eigentlich gesprochen, das ist, was wir sind, und auch das, was wir nicht sind, unser Sein und unser Nicht-Sein“51, noch ohne dass jemand, denn noch war es zu früh, noch war der Weg zu weit, die Tür zu fern, die sich Freud auf den Anderen Schauplatz hin öffnete, die Zeichen hätte entziffern können. Bis dorthin, bis hin zu den Laboratoriumsgeräten der Freud’schen Epoche, war noch eine Serie von gerätetechnischen Optimierungen erforderlich, noch gab es Hindernisse, noch lief der Unterbre49 Michael Faraday, zit. in: Simonyi 1990: 342. 50 Siegert 2003: 341f. 51 Lacan 1996: 383f.

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chungsvorgang maschinell, war also nicht vollständig automatisiert. Um die infinite Rekursionsschleife, den selbstdekonstruktivistischen Wechsel des elektrischen und des magnetischen Feldes endgültig zu operationalisieren, musste das on/off, musste die Spule selbsttätig zum Rotieren gebracht werden. Es musste also, nachdem Faraday das Prinzip der Induktion entdeckt hatte, noch eine Reihe von Verbesserungen und Verfeinerungen der Apparatur folgen, um den Wechselstromgenerator praktisch, ingenieurstechnisch und nicht zuletzt als Gerätschaft psychologischer Laboratorien einsatzfähig zu machen. Ein Jahr später, 1932: Hippolyte Pixii konstruiert den Funkeninduktor. Die Elementarteile des Apparats sind ein Hufeisenmagnet und mit Kupferdraht umwickeltes, ebenfalls hufeisenförmiges Weicheisen. Die Enden des Drahtes sind an der Oberfläche mit Quecksilbernäpfen verbunden. Wird die am Magneten angebrachte Kurbel in Drehung versetzt, produzieren sich an den Drahtenden Serien von elektrischen Funken.52 1933: der Physiker Emil Lenz aus Petersburg formuliert die im Faraday’schen Induktionsgesetz im Prinzip bereits enthaltene Lenz’sche Regel, nach der der induzierte Strom eine solche Richtung hat, dass sein Feld der Ursache für den Induktionsvorgang entgegenwirkt. Wird z. B. ein Leiter in einem Magnetfeld bewegt, dann fließt der induzierte Strom so, dass die vom Magnetfeld auf ihn ausgeübte Kraft der Bewegung entgegengerichtet ist. Ebenfalls 1933: der britische Physiker William Ritchie konstruiert den Kommutator, ein Gerät zur Gleichrichtung von Wechselströmen, das 1936 von Clarke optimiert wird.53 1834: in Joseph Saxtons Wechselstromgenerator rotieren drei Spulen durch ein Magnetfeld, das, phasenverschoben, in ihnen einen permanent die Richtung wechselnden Strom induziert.54 1836: Nicholas J. Callan erfindet die Induktionsspule, bestehend aus einem mit zwei isolierten Windungen umspulten Eisenkern, wobei die Windungen des ersten schweren Drahtes den primären Strom führen und die des zweiten, zahlreicheren und feineren Drahtwindungen den sekundären Strom. Wird der primäre Kreis unterbrochen, ruft das zusammenbrechende magnetische Feld einen kurzen Strom hoher Spannung in der sekundären Spule hervor.55 1838: Charles Grafton Page, ein vom Elektromagnetismus präokkupierter Arzt aus Salem, Massachusetts, führt Callans Induktionsspule, bei der der primäre Stromkreis noch durch einen handbetätigten Schalter unterbrochen werden musste, der Vervollkommnung, das heißt der vollendeten Maschinisierung zu, indem er die Induktionsspule mit einem Elektromotor verkoppelt. So „implementierte Page das Ge-Stell in einer Maschine, die sich nur einschaltete, um sich auszuschalten und sich ausschaltete, um sich einzuschalten. [...] Magnetisches und elektrisches Feld rufen sich, indem sie abwechselnd zusammenbrechen, gegenseitig auf.“56 Und dann – weihevolle Skansion – verbindet Heinrich Daniel Ruhmkorff 1851 das Prinzip der Selbstunterbrechung mit einer Funkenstrecke in der sekundären Spule, um mit dem so entstehenden Funkeninduktor zugleich den entscheidenden Schalter zur Betätigung des Unbewussten zu konstruieren.57 Denn der Ruhmkorff’sche Funkeninduktor, oder auch einfach und legendär: der Ruhmkorff, 52 53 54 55 56 57

Vgl. Simonyi 1990: 343f. Vgl. Ritchie 1883: 320-21. Vgl. auch Simonyi 1990: 343. Vgl. Saxton 1834 : 155-156, zit. nach Siegert (2003). Vgl. Shiers 1971: 80. Vgl. Siegert 2003: 344. Vgl. Kosack 1903: 15f. Vgl. auch Hagen 2005: 12f.

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avancierte von der Mitte des 19. Jahrhunderts an zu einem der wichtigsten und unverzichtbarsten Geräte in den physiologischen und psychologischen Laboratorien, in denen die Körper in jenen Rhythmus versetzt wurden, in dem die Botschaft des Unbewussten, die Botschaft vom rhythmisch pulsierenden Sein sich überträgt.

5.9 Epistemologische Zäsur in Folge der Faraday’schen Entdeckung: die neue Zeit Faradays Untersuchungen des Wechselstroms leiten einen Paradigmenwechsel in den Betrachtungen der Elektrizitätsphysik im besonderen und im epistemologischen Code von Wissenschaft und Philosophie im allgemeinen ein. Das durch Diskontinuität und Wiederholungszwang artikulierte Dispositiv der Oszillation beherrscht auch die Felder jenseits der elektrischen Medien – die elektrische und elektromagnetische Skansion des Wechselstroms entzündet sich als eine alle Bereiche der Wissenschaft und Kunst überfallende Jaktation.58 Der Wechselstrom und seine Effekte, die eine operationalisierte Ontologie ausmachende Wiederholung, der unaufhaltsame Triller zwischen Sein und Nicht-Sein, bilden das gemeinsame Apriori der monströsen Mathematik, der Elektrizitätsphysik und der durch das Stroboskopprinzip bestimmten Fotografie.59 Die Psychoanalyse partizipiert an dieser Zäsur in zweierlei Hinsicht: Zum einen installiert sich das auf dem Wiederholungszwang basierende Unbewusste buchstäblich mit den Apparaten und Medien des Wechselstroms, zum anderen jedoch inspiziert und rekonstruiert der psychoanalytische Diskurs, wie anfänglich dargelegt, den Übergang vom klassischen zum operationalisierten Sein, von, um es mit Lacan zu sagen, der Natur zum Realen. „Man achte darauf, daß ich vom Realen spreche und nicht von der Natur.“60 Die apriorisch mit der klassischen Ontologie versäumten Medien der Repräsentation werden dispensiert zugunsten der operational konstituierten Signalmedien, oder, um es noch forcierter zu formulieren: Das Medium im eigentlichen Sinne, nämlich im Sinne eines realen Medialen, emergiert mit der Faradaysierung eines zuvor vorstellbaren, stillstellbaren und instantiierbaren Seins. Im Lauf der Wechselstromgeneratoren, panisch unaufhaltsam und dennoch bis zur Erblindung unmenschlich, in den Zitterpartien der Körper, die noch ausführlich kommentiert werden, nicht zuletzt in der reellen Mathematik enthüllt sich das wahre, nämlich nämlich das Ungesicht des Reellen. In der Physik, in der Biologie, in der Mathematik und ihren Apparaten und Methoden konfrontiert sich die Wahrheit, dass die Natur nicht das Reale, sondern nur die phantasmatische und das heißt imaginierbare Konzeption, das entwilderte Bild des Realen war. Die seltsam immobile und künstliche Bühnenwelt der klassischen Repräsentation61 verliert sich, ohne dass jemand hingehen und sie brutal demontieren müsste, ganz einfach im Dunkel wie ein 58 Vgl. Asendorf 1989. 59 Und die Fotografie wiederum spielt, wie es zahlreiche Vergleiche und Meta-

phern Freuds verschlüsseln, eine entscheidende Rolle als mediales Apriori der Psychoanalyse. Vgl. Hagen 2005: 136ff. 60 Lacan 1991a: 12. 61 Vgl. Foucault 1974: 171-178 und 203ff.

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autistischer Stern, sie entfällt dem Lauf der Zeit, der sie nie wirklich passiert hat, sie wird invisibilisiert, überschrieben, sie verebbt im Uneinholbaren.62 Der Vehemenz, mit der das sich entbergende Reale das Subjekt von der Natur, also von der episteme der Repräsentation und dem Universum Newtons, wegreißt, ihm den Grund und Boden des Seins entzieht, korreliert nach Foucault eine frenetische, von nietzscheanischen Impulsen animierte Erkenntniskritik – „für die Erkenntnis [ist] das Sein der Dinge Illusion, ein Schleier, den man zerreissen muß, um die stumme und unsichtbare Heftigkeit wiederzufinden, die sie in der Nacht verschlingt.“63 Ineins jedoch entsteht das Desiderat nach neuen Theorien, Methoden und Praktiken, die die Untersuchung, Vermessung und Berechnung des von der Natur ins Reale metastasierten und so in eine unaufhörliche wie unvorstellbare Verzeitlichung übergangenen Seins gewährleisten können. Nicht zuletzt lassen sich Nietzsches symphonische Verkündigungen vom Tod Gottes, der Ankunft des Übermenschen, der Schubkraft der Dionysie und weitere in diesem lebensphilosophisch-vitalistischen Kreis situierte Gedankengebirge als Reaktion auf das mediatisierte Reale interpretieren. Andere Verfahren in anderen Bereichen verlaufen seriöser, sublimierter, leiser als mit NietzscheDonnerhall, so zum Beispiel die Arithmetisierungen und Formalisierungen des Reellen in der Mathematik. Im Umbruch von Sichtbarkeit und Repräsentation zur chokhaften Unsichtbarkeit wird der mathematische Begriff der Darstellbarkeit auf Kosten des Imaginären im Symbolischen fundiert.64 Die Diskordanz zwischen (symbolischer) Darstellbarkeit und (anschaulicher) Vorstellbarkeit determiniert den gesamten mathematischen Diskurs der Moderne zwischen Dirichlet und John von Neumann. Foucault vergleicht die sich in der Mathematik vollziehende Hygienisierung des Reellen mittels formalistischer und axiomatischer Methoden mit den Verfahren der modernen Sprachwissenschaften, die für ihn historisch weitaus früher einsetzen als der Strukturalismus, nämlich mit der historischen Philologie von Bopp, Rask und Grimm. Bereits hier bemerkt Foucault eine „Nivellierung der Sprache, die sie auf den reinen Status eines Objekts bringt“65, eine Reduktion des Wortes auf einen in der Geschichte „deponierten Gegenstand“66 entsprechend der mathematischen Formalisierung. War die Natur in der episteme der Repräsentation stilisiert worden zu einem Idyll, das, pittoresk, friedlich und unbeweglich, gleichsam außerhalb der Zeit und der zeitlichen Prozesse lag, so setzte der nach dem Ende der Klassik und damit dem Ende der buchstäblich pazifizierten Zeitlichkeit eintretende unendliche Transitzustand verschiedene, selbst temporäre Zeit- und Geschichtstheorien frei. Foucault nennt zwei unterschiedliche (und miteinander inkompatible) Beispiele. Zum einen den resignativen Geschichtspessimismus Ricardos, der die Endlichkeit des individuellen Daseins, den als Mangel aufgefassten Tod fokussiert: „Auf langen, aber unvermeidlichen, doch zwingenden Wegen wird die Geschichte den Menschen bis zu jener Wahrheit geführt haben, die 62 Hier könnte man eine der zahlreichen, medial induzierten Zäsurierungen der

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Wahrnehmung ansetzen, die Tholen beschreibt, nämlich jene, in der die von der Antike tradierte Verknüpfung von Sehen und Wissen endgültig gekappt wird. Vgl. Tholen 2002: 15f, Vgl. auch Braun 2001: 24ff. Foucault 1974: 340. Vgl. Mehrtens 1990: insbes. Kap. 1, 2 und 6; Hofstadter 2000: 90-164 . Foucault 1974: 361. Foucault 1974: 368.

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ihn in sich selbst arretiert.“67 Die in der anthropologischen Endlichkeit implizierte Leere, die sich in Ricardos Ökonomie als genuiner Mangel in der Struktur des menschlichen Begehrens manifestiert, wird durch eine Geschichte beantwortet, die sich in ihrer eigenen Antwortlosigkeit, Monotonie und Exhaustion justiert. Foucaults zweites Beispiel ist das marxistische Postulat der Revolution, „in dem die Geschichte sich nur befestigt, insoweit sie das beseitigt, was sie bis dahin ständig gewesen ist“68, eine Theorie, die, wie die Ricardo’sche Ökonomie, nach nicht allzu langer Dauer von den Zeit- und Geschichtstheorien der Moderne, u.a. von Hölderlin, Nietzsche, Bataille und Heidegger kassiert wird. „Der Marxismus ruht im Denken des 19. Jahrhunderts wie ein Fisch im Wasser. Das heißt: überall sonst hört er auf zu atmen.“69 Ein weiterer Fall, diesmal die Kunst betreffend, lässt sich über den Umweg Étienne-Jules Marey, Begründer der grafischen Methode zur Bewegungsnotation70, rekonstruieren. Marey gründete nach dem Scheitern seiner Arztpraxis ein physiologisches Laboratorium, um als freier Forscher physiologische Bewegungsstudien zu praktizieren und auf der technischen Basis des Ruhmkorffs – und das heißt nichts weniger als des Wechselstroms – neue Methoden zu deren Perfektionierung zu entwickeln und zugleich die Erfindung neuer Maschinen voranzutreiben, jene „Überfülle an außerordentlichen Apparaturen, Pantographen, Odographen, Myographen, Pneumographen, um nur einige zu nennen – eine Überfülle von Schrift-Werkzeugen: die unmittelbar aufzeichnen!“71 1878 stößt Marey in der Zeitschrift La Nature auf die Fotoserien von Eadweard James Muybridge und konstruiert daraufhin eine fotografische Flinte nach dem Vorbild von Jules Janssen, die ihn in den Stand setzt, die Bewegungsfolgen eines Körpers in zeitlicher Ausdehnung zu kategorisieren (womit er sich von Galton emanzipiert, der die Spur mehrerer Körper im komprimierten Raum der Doppelbelichtung typisiert72). Auf diese Weise entstanden durch Vielfachbelichtungen die Marey’schen Phasenbilder, die als temporalisierte alle Gesetze klassischer Repräsentation subvertieren und zugleich die Kunst der Avantgarde stimulieren: „Aus diesen Vielfachbelichtungen entstanden Mareys Phasenbilder, die gegen alle mitteleuropäischen Konventionen der Repräsentation verstießen und sofort in der bildenden Kunst eine avantgardistische Welle auslösten: seit der Renaissance hatte jeder Bilderrahmen eine klare Einheit von Ort und Zeit vorgegeben. Mareys Bilder, die einen Zeitverlauf zeigten, ließen sich in diesem Sinne nicht lesen. Sie inspirierten dafür Avantgardekünstler, Bewegungsabläufe auf dem Tableau abzubilden. Impressionisten wie Edgar Degas in seinen Tänzerinnen-Friesen, Frantisek Kupka oder Foucault 1974: 319. Foucault 1974: 318. Foucault 1974: 320. Die graphische Methode und die diese realisierenden Apparaturen werden con brio von der Psychiatrie in der Salpêtrière aufgenommen. Vgl. Binet/Féré 1887. 71 Huberman 1997: 57. 72 Zu den kriminalistischen Klassifikationsstudien von Galton vgl. Galton 1980. Die Tatsache, dass sich auch Freud implizit auf Galton bezieht, unterstützt noch einmal das zentrale Argument, dass zwischen der Entdeckung des Unbewussten und der Experimentalisierung, Operationalisierung und besonders auch der fotografischen Auszeichnung des Lebens ein unverkennbarer medienapriorischer Zusammenhang existiert. 67 68 69 70

160 ſ DISKRETE GESPENSTER Jacques Villon; Futuristen wie Giacomo Balla oder Luigi Russolo, auch die späteren Suprematisten Kasimir Malevich und Natalia Goncarova und, natürlich superparadigmatisch, Marcel Duchamps treppensteigender Akt führten die Phasenbilder als neues Gefühl eines sich in der Zeit verwandelnden und auflösenden Körpers gegen die identifizierende Zentralperspektive ins Feld der Leinwand.“73

Es geht bei dieser Aufzählung verschiedener Ereignisse aus den Bereichen der Mathematik, der Anthropologie, der Sprachforschung, der Geschichtstheorie und der Kunst nicht um eine erschöpfende Erfassung, sondern vielmehr um die Exposition von Beispielen für die unterschiedlichen und heterogenen Effekte, die die durch die Stroboskopierung und Operationalisierung des Seins herbeigerufene neue Zeit jenseits von Legato und Chronologie provoziert hat. Das traditionelle und – wie gezeigt – untrennbar mit identitätsphilosophischen und logokratischen Bewusstseinskonzepten vernähte Zeitdenken wird untergraben durch jene Andere Zeit des Seins, in der die klassische Enklave inklusive Kirchturm, Newton-Eudämonie und Linné-Herbarium keinen Raum zum Überleben mehr finden kann. Die mit der Faradaysierung einbrechende Zeit des Realen, des in Oszillation versetzten Seins, des Seins als Zeit, die Zeit der unheilbaren Schlaflosigkeit, ist konstituiert durch den irreduziblen Entzug jedes Jetzt-Momentes74, in dem die Zeit, und sei es nur für eine Lehngottsekunde, zur Beruhigung und Vergegenwärtigung käme; stattdessen werden alle Jetzt-Momente selbst zerstört, um noch in ihrem Verschwinden den nächsten Moment aufzurufen, der, jenseits jedes fürsichseienden Jetzt, wiederum nur den ersten Moment innerhalb einer unmöglich vorstellbaren und präsentifizierbaren Zeit induzieren wird. Der Wechselstrom 73 Holl 2002: 211. 74 Heideggers Destruktion der Gegenwartsverhaftung der klassischen Ontologie

wurde oben bereits ausgeführt. Eng verbunden mit dem abendländischen Syndrom der Präsenzfixierung ist die Vorstellung einer kontinuierlich als eine Folge von Jetzt-Momenten verlaufenden Zeit; die philosophische Restitution dieser uneigentlichen, objektivierbaren Innerzeitigkeit zugunsten eines operationalen Seins- und Zeitkonzepts bildet einen Kardinalpunkt von Heideggers Philosophie. Vgl. Heidegger 1924: 9f; vgl. auch ders. 20f: „Das Vorlaufen ergreift das Vorbei als eigentliche Möglichkeit jedes Augenblicks, als das jetzt Gewisse. Das Zukünftigsein als Möglichkeit des Daseins als jeweiligen gibt Zeit, weil es die Zeit selbst ist. So wird zugleich sichtbar, daß die Frage nach dem Wieviel der Zeit, Wielange und Wann, sofern die Zukünftgkeit eigentlich die Zeit ist, daß diese Frage der Zeit unangemessen bleiben muß. Nur wenn ich sage: die Zeit zu berechnen hat die Zeit eigentlich keine Zeit, so ist dies eine angemessene Aussage. Doch haben wir das Dasein, das selbst die Zeit sein soll, kennengelernt als mit der Zeit rechnend, ja sogar sie messend mit der Uhr. Das Dasein ist da mit der Uhr, wenn auch nur der nächst alltäglichen von Tag und Nacht. Das Dasein rechnet und fragt nach dem Wieviel der Zeit, ist daher nie bei der Zeit in der Eigentlichkeit. So fragend nach dem Wann und Wieviel verliert das Dasein seine Zeit. Was ist mit diesem Fragen als dem die Zeit verlierenden? Wohin kommt die Zeit? Gerade das Dasein, das mit der Zeit rechnet, mit der Uhr in der Hand lebt, dieses mit der Zeit rechnende Dasein sagt ständig: ich habe keine Zeit. Verrät es damit nicht sich selbst in dem, was es mit der Zeit macht, sofern es ja selbst die Zeit ist? Die Zeit verlieren und sich dazu die Uhr anschaffen! Bricht hier nicht die Unheimlichkeit des Daseins auf?“ Zu Heideggers Destruktion der Jetzt-Zeit im besonderen und zu den Implikationen der von realen Medienprozessen sowie ihren Entzügen bestimmten a-linearen und diskreten Zeit im allgemeinen vgl. Tholen 2002: 125-146.

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implementiert die Zeit des Diskreten, eine Zeit, die zugleich eine bis dahin dominante Identitätsphilosophie, die ihrerseits einen bewusstseinsphilosophischen Subjektbegriff und ein damit korrespondierendes logozentristisches Sinnkonzept verteidigt, unterminiert. Der Raum, der mit dieser neuen Zeit auftaucht, ist, mit Foucault, ein solcher, in dem das Andere und das Gleiche nicht mehr in homogener Form auftreten können, es ist vielmehr „ein Raum, der von Anfang an sich in der Form der Zerstückelung gibt“75, es ist ein Anderer Schauplatz. Das Reale in seiner Unverfügbarkeit, Unberührbarkeit und Unvorstellbarkeit entzieht sich jeder bewusstseins- und bedeutungsfixierten Aneignung – das Reale ist das Unbewusste.76 Das Reale, das Unbewusste, ist jedoch auch das, was Lacan in seinen Passagen zum Ding* Heideggers als das operationale Feld bestimmt77 – wieder einmal geht es um Arbeit. Auch wenn der Fisch des Marxismus nach dem Ausgang des 19. Jahrhunderts auf dem Trockenen liegt, so muss er doch von Lacan reanimiert werden, wenn es darum geht, einen Einwand („es war mir kürzlich gegeben, einen Schwachkopf zu hören“) zu liquidieren, der die Sprache, das Reich des Signifikanten, von den marxistischen Hauptfixierungen auf Arbeit und Produktion zu trennen sich anmaßt.78 Für Lacan gilt das genaue Gegenteil: Alle Aktivitäten des Signifikanten, Denken, Sprechen, Handeln, Träumen, alle Leistungen des Unbewussten, wachend wie im Schlaf, haben nichts gemein mit jenen philosophischen Haltungen, die sich, was den Advent der Wahrheit betrifft, auf Quietismus, Kontemplation, Innerlichkeit oder auch Initiation verlassen. Unschwer, das Bündnis zu erkennen, das Lacan mit Freuds Bestimmung des Denkens als ein Handeln, ein Probehandeln, eingeht.79 „Das also haben wir mit aller Strenge zu untersuchen, wenn wir den geringsten Fortschritt im Denken machen wollen, was wir tun. Natürlich zwingt uns nichts dazu. Ich gestehe sogar, daß der größte Teil der menschlichen Wesen sich gemeinhin davon dispensiert, und auf nicht weniger befriedigende Weise erfüllt, was er zu tun hat. Ich würde sogar weiter gehen – man kann den Diskurs, und sogar die Dialektik, außerordentlich weit treiben und dabei vollkommen aufs Denken verzichten. Nichtsdestoweniger impliziert jeder Fortschritt in der symbolischen Welt, der fähig ist, eine Enthüllung darzustellen, zumindest für einen kleinen Augenblick, eine Anstrengung des Denkens.“80

75 Foucault 1974: 332. 76 Zu Freuds und Lacans Gleichsetzungen des Unbewussten mit dem Realen vgl.

Wegener 2005. 77 Vgl. Lacan 1996: 128. 78 Lacan 1986/87: 10f. Zum Konzept der Arbeit bei Lacan vgl. auch Lacan 1991:

86f und 158f; Lacan 1991a: 10f und 14; Lacan 1986: 159 und 210; Lacan 1990: 281f und 358f; Lacan 1991b: 131, 268f und 326; Lacan 1996: 389f und Lacan 1986a: 104f und 144. 79 Vgl. Freud 1999: II/III 605. 80 Lacan 1990: 335. Unverkennbar auch hier Lacans Prägung durch Freud, der allen Philosophenhauswirtschaften von Diogenes bis zur Vita kontemplativa eine Absage erteilt und die Denkvorgänge als eine handelnde Aktivität des Sekundärprozesses konzipiert, von der zum Primärprozess gehörigen Arbeit der Traumgedanken ganz abgesehen. Vgl. Freud 1999: II/III 571f und 605.

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Die Signifikanten Lacans, die unbewussten Vorstellungen Freuds81, sind aufs engste mit Arbeit und Operation vernetzt, stellen sie doch nichts geringeres dar als die Arbeit des durch die Klüftung operationalisierten Seins selbst. Cremonini hat gezeigt, dass der Begriff des Seins bei Lacan unauflösbar mit dem Genießen verwoben ist.82 Das Genießen ist das Sein, insofern es als ganzes unmöglich ist und aus dieser Unmöglichkeit heraus in die unendliche Operation der diskreten Wiederholung geworfen wird. „Was sie wissen müssen, ist, daß es ein Wissen gibt, das nicht rechnet, das aber nichtsdestoweniger für das Genießen arbeitet. Was an der Arbeit des Unbewußten läßt sich nicht schreiben?“83 Lacan gibt die bekannte Antwort an dieser Stelle im Rekurs auf Freud: „Daß der, zweifelsohne sexuelle, Genuß in der Verzifferung ist, wird in der Rede Freuds offenbar, und zwar deutlich genug, um daraus schließen zu können, was deren Inhalt ist: Hier nämlich ist das, was der bestehenden Sexualbeziehung im Wege steht, daß diese Beziehung also nie sich niederschreiben kann: will sagen, daß die Sprache von ihr immer nur Zeugnis gibt als von einer unendlichen Schikane.“84

Die Sexualbeziehung kann nicht als solche, als fürsichseiende logozentrische Bedeutung niedergeschrieben werden, die Geschlechterbeziehung existiert nicht85, kein Logos und keine Losung der Liebe, es gibt vielmehr nur eine Geschlechterdifferenz im strengsten Sinne des Wortes, eine Differenz in actu – die Verliebtheit funktioniert, überspitzt gesagt, wie ein Wechselstromgenerator. Die Liebe und die Liebe zur Wahrheit – all die glorreichen Werte, die großen Dinge, das Sternenleuchten der guten alten Zeit – sie fallen mit dem Fanal der diskreten Operationalität, sie werden verinnert, faradaysiert, aber dies, wie bei allen Umbrüchen, nicht ohne Verweigerungen, Komplikationen und Diskontinuitäten. Der Fall Joseph Henry demonstriert es in exklusiver Deutlichkeit.

5.10 Henrys Maschine und der Kampf um die Wahrheit Kurz nach Faradays Entdeckung der Induktion baut Joseph Henry die Selfacting Electromotive Engine. Ein stabförmiger Elektromagnet wird wie eine Schaukel auf einer Achse befestigt. Wenn der Elektromagnet eingeschaltet wird und sein Eisenkern sich entsprechend polarisiert, wird sein Südpol von einem der beiden Magneten angezogen. Auf diese Weise wird zwar der 81 Zur Spezifizierung des Signifikanten bei Freud vgl. auch die besonders im

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Spätwerk herausgestellte Unterscheidung zwischen unbewussten Sachvorstellungen und vorbewussten oder bewussten Wortvorstellungen. Vgl. Freud 1999: X 299f. Vgl. Cremonini 2003: 128. Lacan 1991a: 14. Lacan 1991a: 10f. Lacans Schibboleth von der Inexistenz des Geschlechterverhältnisses wäre Sujet eines eigenen Buches. An dieser Stelle können nur die entsprechenden Stellen in Lacans Werk referenziert werden. Lacan 1991: 102; Lacan 1991a: 8, 11, 2325 und 127f; Lacan 1986a: 11-17, 37-43, 49-52, 62-64, 67, 73f, 78-80, 86-89, 94f, 102, 122f, 129f und 158.

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Stromkreis unterbrochen, der Elektromagnet jedoch im selben Zug umgekehrt polarisiert, so dass er vom anderen Magneten angezogen wird und so weiter und so weiter. So sehr die Maschine mit Verve die neue Zeit zum Laufen bringt, so wenig entspricht dieser maschinisierte A-logozentrismus jedoch den Gefühlen und Motiven ihres Erfinders. In Joseph Henry personifiziert sich der Konflikt zwischen der alten, sich in der Liebe zur ewig vorhandenen Wahrheit verzehrenden Zeit und der neuen Zeit der reinen Operationalität zwischen Euphorie und agonaler Schlaflosigkeit. Die Intention, die Henry seiner Maschine zumutet, ist paradigmatisch für den das Faraday’sche Zeitalter kennzeichnenden Hiatus zwischen der akademischen Wissenschaft (experimental philosophy) und der Philosophie einerseits und der praktischen ingenieurstechnischen Realität, der Elektrotechnik als der innovativen Leitindustrie des 19. Jahrhunderts auf der anderen Seite. Was Joseph Henry betrifft, so identifizierte er sich mit den Philosophen; kompromisslos repulsierte er alle Kommentare, die seine Konstruktion als einfache Maschine und so in seinen, Henrys Augen entweihen wollten und prononcierte stattdessen die forttragende philosophische Funktion der Self-acting Electromotive Engine. Henry wollte seine Maschine nicht in den Dienst eines Seines stellen, das in reiner diskreter Performanz ingenieurstechnischen bis hin zu apparatemedizinischen Funktionen dient oder psychoanalytisch entschlüsselbare Gedanken prozessiert, sondern sah vielmehr eine noblere Destination für die Engine vor: Sie sollte die diskrete Bewegung nicht ausführen, sondern repräsentieren, auf dass die Königsdisziplin der Philosophie mit ihrer Hilfe eine weitere und höhere Wahrheit zur Offenbarung bringe. Henrys Wunsch einer Indienstnahme seiner Maschine durch die Philosophie – er selbst bezeichnete sie als „philosophical toy“ „to exhibit the motion“86 – lässt sich als Symptom dafür registrieren, dass der Übergang vom repräsentationslogischen zum operationalen Denken in der Philosophie im allgemeinen und in der wissenschaftlichen Physik im besonderen nicht narbenlos, sondern diskontinuierlich verlief. Markierte Faradays Maschinisierung des Elektromagnetismus das Ende der Repräsentation, so war die Physik dennoch noch immer partiell der repräsentativischen episteme verpflichtet. Den institutionalisierten Wissenschaftlern, darunter in erster Linie den Philosophen, ging es wie Henry um Darstellung; die von ihnen gebauten Geräte sollten physikalische Phänomene repräsentieren. Faradays Erfindung hingegen war durch die Deterritorialisierung des Elektromagnetismus motiviert, sie inaugurierte das MaschineWerden des Elektromagnetismus. Und dennoch, all die Nostalgie und apokatastatische Sehnsucht schaukeln auf verlorenem Posten. Logos, Liebe, Liebe zur Wahrheit, Ursache und platonische Kalokagathie sind unwiederholbar verloren, die alte Zeit ist vorüber, das Verhängnis hat seinen Lauf genommen. Die Elektromotoren rotieren, das Sein ist durch die rekursiv operationale Klüftung zum Unbewussten geworden. Maschinen sind nicht mehr, um eine überzeitliche physikalische Wahrheit zu repräsentieren, Maschinen sind um ihrer selbst, um der unendlichen iterativen Bewegung willen. Das Wesen der Maschine kommt zu sich, aber nicht als Ankunft eines ganzen Sinns, sondern als dessen genaues Gegenteil: Die Maschine unterläuft und zerstört den ganzen logozentrischen Sinn, den die episteme der Repräsentation und das cartesische Denken voraussetzten. Das Sein der Maschine, das maschinisierte Sein, ist kein ewiges, 86 Vgl. Gee 1991: 56f.

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zugleich überzeitliches und präsentisches Sein, sondern ein mit Freud und Heidegger radikal verzeitlichtes Sein; und die Ingenieure und Physiker im Anschluss an Faraday bauen ihre Maschinen gerade um dieses operationalen Seins wegen, nicht um was auch immer in einem Repräsentationsmodell zu arretieren, sondern einfach nur, weil sie wollen, dass das läuft. Die Erfinder, deren Dithyrambie Henry als unphilosophisch beargwöhnte – Hufschmiede wie Davenport, Ärzte wie Page, pensionierte Artillerieoffiziere aus Woolwich wie Sturgeon –, konstruierten ihre Maschinen nicht zur Kundgebung einer Wahrheit, die diese jenseits der Maschine fundiert, sondern aufgrund der maschinellen Operation selber, einer endlosen Oszillation, die sich nach Henry auf keine useful purpose mehr berufen konnte. Die Zukunfts-Adresse des Seins sowie der technischen Maschinen hat sich geändert; das allen folgenden Apparaten zugrundeliegende Ge-stell im Weltalter der Technik ist der in der Induktionsspule ad infinitum maschinisierte Wechselstrom, die reine Schaltung, deren Wesen im Schalten und nicht in der Einmündung in eine letzte Bedeutung besteht. Dabei vibrierte in Wahrheit eine ganz andere Wahrheit, eine heiße Spur in unmittelbarer Nähe von Joseph Henry. Wäre er seinem narzisstischen Alter Ego des platonisch mechanisierten Philosophen weniger ausweglos verkettet, wäre er nicht mit derartig unverrückbarer Überzeugung Logos und Liebe zur wahren Bedeutung verfallen, wäre er dekonstruktivistischer Philosoph wie Derrida, Archäologe wie Foucault oder gar Psychoanalytiker wie Lacan gewesen, dann hätte er an seinem „philosophical toy“ einige ganz andere epistemogene Laternen entzünden, dann hätte er die Ebenen der Repräsentation und der useful purpose in einer einzigen Bewegung übersteigen und selbst zum ersten Medientheoretiker avant la lettre aufsteigen können. Er hätte, wie Freud, in eine Vorsehung eintreten können, in seinem Fall die Vorsehung der „ortlosen und beweglichen List des Technischen, die sich nicht beheimaten lässt“87 und des „mit dem Computer als symbolischer Maschine deutlich gewordenen Gestaltwechsels in der Definition des Technischen selbst“88. Denn damit sind zwei Punkte angesprochen, deren Verkennung – ähnlich wie die Verkennung des Saussure’schen Zeichens als Urszene des Strukturalismus – das Verständnis der Genealogie der Medien im allgemeinen und des Computers im besonderen aus einem unausdenkbaren, unübertragbaren, unversöhnbar transhumanen und jenseits jeder imaginären Assimilierbarkeit liegenden Abgrund noch immer behindern. Die Verkennung dieses Abgrunds, die Verkennung des medialen Realen, subventioniert erstens eine „evolutionäre Technik-, Ingenieurs oder Mathematikgeschichte“89, die „Grundannahme einer evolutiven Verbindungslinie zwischen Mensch und Technik“. Dagegen macht Tholen „die prinzipielle Aporie einer solchen anthropologischen wie ontologischen Reduktion der Technik“ geltend, die in fataler Weise dazu führt, „daß die als ontisches Kontinuum unterstellte Linearität, die zugleich das Schema der regressiven wie progressiven Kulturkritik technokratischer Vernunft bedingt, als eine symmetrische und lineare Entwicklung vorgestellt wird, bei der sich in spiegelbildlicher Entsprechung Wesensbestimmungen

87 Tholen 2002: 190. 88 Tholen 2002: 170. 89 Tholen 2002: 184.

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und -eigenschaften von Mensch und Maschine korrelieren ließen“90. Damit ist bereits die zweite mediengeschichtlich obstruktive Verkennung angesprochen, nämlich der unmögliche Versuch der Aneignung und egomorphisierenden Zähmung des realen Medialen durch identifikatorische Massnahmen: „Die vermeintliche Wesensverwandtschaft zwischen Mensch und Maschine erweist sich als Analogieschluß, der sich mit stets neuen Argumenten ebenso bestätigen wie widerlegen läßt. Er dreht sich im Kreise deshalb, weil die vermeintliche Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit bereits in Gestalt einer bloß imitativen und funktional äquivalenten Leistungsfähigkeit unterstellt wird. Im Zeitalter der elektronischen Medien und des Computers als der universellen Maschine, die – ihrer binären Prinzipschaltung gemäß – alle vormaligen Maschinen und Medien zu emulieren erlaubt, kehrt das Dilemma der imaginären Assimilation von Mensch und Maschine wieder. […] Die List der Technik wird zurechtgestutzt auf körpereigene Funktionen. Die LeibEigenschaft dieses Maschinenbildes ist im doppelten Sinne des Wortes zu verstehen: Zum einen ist der perfekte, alles könnende Automat gleichsam der göttliche Doppelgänger und das Ideal-Bild eines autonomen Subjekts.“91

In diesem narzisstisch strukturierten Mensch-Maschine-Verhältnis manifestieren sich jedoch letztlich nur apotropaische Versuche, Abwehrmaßnahmen, mittels derer „der Mensch seine Angst vor der rätselhaften Unbestimmtheit und Zweckoffenheit des Technischen [kaschiert]“92 – aporetische Versuche der Abfederung des ur-sächlichen Traumas einer Operationalisierung, gegen das sowohl das Schema der Suprematie der Technik über den Menschen, wie auch das der instrumentalisierenden Bemeisterung der Technik seitens des Menschen93 ins Leere gehen, weil diese Operationalisierung das Sein im Sin90 Tholen 2002: 170. Vgl. auch den Fortgang des Zitats, der das weitreichende

Ausmaß dieser Verkennung deutlich macht: „Folge dieses strikt evolutiven Schemas – ohne Brüche und Risse – ist, wie gerade die endlose Debatte über die Ähnlichkeit von Mensch und Maschine, von „Gehirn“ und „Computer“ usw. im Rahmen der Erforschung der künstlichen Intelligenz gezeigt hat, die Annahme einer funktionalen Äquivalenz der „Leistungen“ menschlicher und maschineller Intelligenz.“ 91 Tholen 2002: 190f. 92 Tholen 2002: 191. 93 Auch diese mit der Entgegensetzung von Natur und Technik kollaborierende Antagonisierung hat Tholen im Anschluss an Benjamin und Heidegger dekonstruiert. Vgl. hierzu Tholen 2002: 169: „Der landläufige Technikbegriff unterstellt, daß das Natürliche vom Technischen in ontologischer Hinsicht unberührt sei: Technik – als Inbegriff instrumenteller, zweckdienlicher Mittel – kommt den natürlichen Bestimmungen bzw. den Bestimmungen des Natürlichen hinzu. Im alltäglichen Umgang mit Maschinen und Medien mag diese Einstellung zur Technik mit ihrem bipolaren Schema (Natürlichkeit versus Künstlichkeit, Mittel versus Zweck) hinreichen. Doch indem wir in diesem Fragehorizont verbleiben, d. h. die Technik nur als Instrument definieren bzw. uns vor-stellen, bleiben wir, wie die Technik- und Sprachphilosophie Heideggers gezeigt hat, dem blinden Willen verhaftet, sie nur bemeistern und beherrschen zu wollen. Eben dadurch aber entgeht uns die Vorgängigkeit einer stets medial zäsurierten Wahrnehmung und Erfahrung. Denn es gibt keine Wahrnehmung, die durch ihre natürliche Gegebenheit hinreichend bestimmt wäre. Wahrnehmung ist stets eine medienvermittelte. Sie ist immer schon vom Künstlichen affiziert, angewiesen auf die List der techné, die erst etwas erscheinen läßt – auch die Welt der Instrumente.“

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ne des Lacanschen Realen selbst konstituiert. Aber all das, all diese Fragen und Verfängnisse, vermochten ihre Tentakel noch nicht so weit zurück durch die Zukunft zu verlängern, dass sie Joseph Henry, in dieser Weise um Chance oder eben Verkennung gebracht, erreicht hätten. Was Henry betrifft, so echauffierte dieser sich nur über die mit den modernen Wechselstromapparaturen verbundenen Apostasen vom Platonismus. Ein Freud’sches Unbehagen verspürte er noch nicht.

5.11 Freuds Analysetechnik: Operationalität versus Repräsentation Die Perspektive der Ingenieure, die die implementierte Wiederholung nicht als solche objektivieren und auf eine ganze und eindeutige Bedeutung bringen wollen, teilt auch der Psychoanalytiker Freud, wenn er die Träume seiner Patienten analysiert. Freud betrachtet die Träume nicht unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung, sondern expediert in die Genese der Traumarbeit, in die Verdichtungen und Verschiebungen, die sich auf der Basis der diskreten Wiederholung bilden und transportieren.94 „Er [Freud, Anm. d. Verf.] weist 94 Beispielhaft sollen hier folgende Stellen herangezogen werden: Freud 1999:

II/III 284: „Das erste, was dem Untersucher bei der Vergleichung von Trauminhalt und Traumgedanken klar wird, ist, daß hier eine großartige Verdichtungsarbeit geleistet wurde. Der Traum ist knapp, armselig, lakonisch im Vergleich zu dem Umfang und zur Reichhaltigkeit der Traumgedanken.“; II/III 310: „Was in den Traumgedanken offenbar der wesentliche Inhalt ist, braucht im Traum gar nicht vertreten zu sein. Der Traum ist gleichsam anders zentriert, sein Inhalt um andere Elemente als Mittelpunkt geordnet als die Traumgedanken.“; II/III 313: „Ich denke, wir haben es auch leicht, die psychische Macht, die sich in den Tatsachen der Traumverschiebung äußert, zu erkennen. Der Erfolg dieser Verschiebung ist, daß der Trauminhalt dem Kern der Traumgedanken nicht mehr gleich sieht, daß der Traum nur eine Entstellung des Traumwunsches im Unbewußten wiedergibt.“ Und schließlich II/III 600ff: „[...] Von da an erleidet der Gedankenzug eine Reihe von Umwandlungen, die wir nicht mehr als normale psychische Vorgänge anerkennen, und die ein uns befremdendes Resultat, eine psychopathologische Bildung, ergeben. Wir wollen dieselben herausheben und zusammenstellen: 1) Die Intensitäten der einzelnen Vorstellungen werden nach ihrem ganzen Betrage abflußfähig und übergehen von einer Vorstellung auf die andere, so daß einzelne mit großer Intensität versehene Vorstellungen gebildet werden. Indem sich dieser Vorgang mehrmals wiederholt, kann die Intensität eines ganzen Gedankenzugs schließlich in einem einzigen Vorstellungselement gesammelt sein. Dies ist die Tatsache der Kompression oder Verdichtung, die wir während der Traumarbeit kennen gelernt haben. Sie trägt die Hauptschuld an dem befremdenden Eindruck des Traums, denn etwas ihr Analoges ist uns aus dem normalen und dem Bewußtsein zugänglichen Seelenleben ganz unbekannt. Wir haben auch hier Vorstellungen, die als Knotenpunkte oder als Endergebnisse ganzer Gedankenketten eine große psychische Bedeutung besitzen, aber diese Wertigkeit äußert sich in keinem für die innere Wahrnehmung sinnfälligen Charakter; [...] Im Verdichtungsvorgang setzt sich aller psychische Zusammenhang in die Intensität des Vorstellungsinhalts um. 2) Es werden wiederum durch freie Übertragbarkeit der Intensitäten und im Dienste der Verdichtung Mittelvorstellungen gebildet, Kompromisse gleichsam […]. Gleichfalls etwas Unerhörtes im normalen Vorstellungsablauf, bei dem es vor allem auf die Auswahl und Festhaltung des „richtigen“ Vorstellungselements ankommt.“

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[...] darauf hin, daß ihn am Traum allein dessen Bearbeitung interessiert“95, so Lacan, um sich an anderer Stelle zu wiederholen, apostrophierend, „daß ihn allein die Traumarbeit, sofern sie sich in der Erzählung selbst vollzieht, interessiert, das heißt, daß der Traum ihm nur als Vektor des Sprechens gilt.“ Der „Vektor der Sprechens“, die sich auf der Prozedur der diskreten, im Sein implementierten Wiederholung einschreibenden Arbeitsleistungen des Unbewussten sind es, die Freud skrutiniert, nicht die sich unter den Symbolen und Bildern des Traums verbergenden Sinne, nicht die potentiell enthüllbaren Rätsel und Mysterien – das Unbewusste ist kein philosophical toy, sondern eine Traummaschine, deren Signifikantenoperationen auf eine ganz andere denn utilitaristische, nämlich psychoanalytische Weise useful sind, wenn zum Beispiel Chiffren und Überdeterminierungen rücktranskribiert werden können, die sich jedoch andererseits und mit elektromagnetischer Unaufhörlichkeit im Unerinnerbaren verlieren.96 „Dergestalt, daß alle Phänomene, die er vom Vergessen, beziehungsweise Zweifel, angibt, welche die Erzählung hemmen, als Signifikanten in diesem Sprechen zu interpretieren sind, und daß, bleibe von einem Traum auch nur ein genauso verschwindender Brocken wie die vage Erinnerung an das Gesicht des Katers, das sich auf so beunruhigende Weise vor den Augen von Alice verflüchtigt.“97

Es geht also bei dem sehr speziellen Sinn, den Freuds Traumdeutung kristallisieren will, nicht mehr um eine Bedeutung im Sinne der repräsentativischen episteme, sondern um einen solchen, der, wie die Apparate mit und nach Faraday, zutiefst durch Operationalität konstituiert ist. Das Sinnvolle, das die Psychoanalyse am Traum wie an den anderen Bildungen des Unbewussten herausarbeiten will, darf nicht verwechselt werden mit einem versteckten, latenten Sinn, der sich hinter dem manifesten verborgen hätte. Freud selbst warnt vor einer solchen illegitimen und substantiell reduzierten Verwechslung. Er betont, dass „das Wesen des Traums“ nicht im „latenten Inhalt“ zu suchen sei, sondern einzig und allein in der Traumarbeit: „sie allein ist das Wesentliche am Traum, die Erklärung seiner Besonderheit“98. Die Traumarbeit lässt sich nicht mit irgendeinem Inhalt oder Sinn identifizieren, einfach weil sie nicht inhaltlich und substantiell, sondern operational konstituiert ist. Sie stellt einen Prozess der Entstellung, nicht der Darstellung dar, sie operiert 95 Lacan 1991: 214. 96 Denn am Nabel des Traums bricht der Weg ab. Vgl. Freud 1999: II/III 530: „In

den bestgedeuteten Träumen muß man oft eine Stelle im Dunkel lassen, weil man bei der Deutung merkt, daß dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will, aber auch zum Trauminhalt keine weiteren Beiträge geliefert hat. Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt. Die Traumgedanken, auf die man bei der Deutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Abschluß bleiben und nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt auslaufen. Aus einer dichteren Stelle dieses Geflechts erhebt sich dann der Traumwunsch wie der Pilz aus seinem Mycelium.“ Vgl. auch Freud 1999: II/III 285: „[...] daß man eigentlich niemals sicher ist, einen Traum vollständig gedeutet zu haben; selbst wenn die Auflösung befriedigend und lückenlos erscheint, bleibt es doch immer möglich, daß sich noch ein anderer Sinn durch denselben Traum kundgibt. Die Verdichtungsquote ist also – streng genommen – unbestimmbar.“ 97 Lacan 1986: 188f. 98 Freud 1999: II/III 510f.

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in ihrer unaufhörlichen diskreten Wiederholung nicht, um bei einem Inhalt anzuhalten, sondern vielmehr um bereits bestehende Sinnkonstrukte zu entstellen.99 „Die Traumentstellung ist das Werk der Traumarbeit“100, so Freud, an anderer Stelle: „der Traum darf einen Wunsch aus dem Ubw nach allerlei Entstellungen zum Ausdruck bringen“101, schließlich sagt er klar, „daß [wir] jene Arbeit, welche den latenten Traum in den manifesten umsetzt, die Traumarbeit heiss[en]. [...] Was bei den anderen Träumen [d.h. nicht den infantilen, sondern den Träumen des erwachsenen, durch Zensur und Verdrängungleistungen determinierten Subjekts, Anm. d. Verf.] an Traumarbeit noch hinzugekommen ist, das heißen wir die Traumentstellung, und diese ist durch unsere Deutungsarbeit rückgängig zu machen.“102

Freuds Profilierung des Traumes als Entstellung korreliert einer Auffassung des Deutens, die mit dem traditionellen Schema, demzufolge ein Signifikant ein ganz bestimmtes Signifikat repräsentiert, bricht, eine Technik, die sich 99

100 101

102

Traumarbeit, Arbeit der Entstellung und die oben erläuterten Mechanismen Verdichtung und Verschiebung sind für Freud, allesamt konstituiert durch ihren operativen Faktor, im Prinzip identisch. Vgl. Freud 1999: II/III 344f: „Wir haben es bisher mit der Untersuchung zu tun gehabt, wie der Traum die Relationen zwischen den Traumgedanken darstellt, griffen dabei aber mehrfach auf das weitere Thema zurück, welche Veränderung das Traummaterial überhaupt für die Zwecke der Traumbildung erfährt. Wir wissen nun, daß das Traummaterial, seiner Relationen zum guten Teile entblößt, einer Kompression unterliegt, während gleichzeitig Intensitätsverschiebungen zwischen seinen Elementen eine psychische Umwertung dieses Materials erzwingen. Die Verschiebungen, die wir berücksichtigt haben, erwiesen sich als Ersetzungen einer bestimmten Vorstellung durch eine andere ihr in der Assoziation irgendwie nahestehende, und sie wurden der Verdichtung dienstbar gemacht, indem auf solche Weise anstatt zweier Elemente ein mittleres Gemeinsames zwischen ihnen zur Aufnahme in den Traum gelangte.“ Freud 1999: XI 137. Freud 1999: II/III 576. Vgl. hierzu auch den Fortgang des Zitats auf S. 576 und 579f: „[...] während sich das herrschende System auf den Wunsch zu schlafen zurückgezogen hat, und diesen Wunsch durch Herstellung der ihm möglichen Besetzungsänderungen innerhalb des psychischen Apparats realisiert, endlich ihn die ganze Dauer des Schlafes über festhält. [...] Schon im Laufe des Tages oder erst mit Herstellung des Schlafzustands hat der unbewußte Wunsch sich den Weg zu den Tagesresten gebahnt, seine Übertragung auf sie bewerkstelligt. Es entsteht nun ein auf das rezente Material übertragener Wunsch, oder der unterdrückte rezente Wunsch hat sich durch Verstärkung aus dem Unbewußten neu belebt. Er möchte nun auf dem normalen Wege der Gedankenvorgänge durch das Vbw, dem er mit einem Bestandteil ja angehört, zum Bewußtsein vordringen. Aber er stößt auf die Zensur, die noch besteht und deren Einfluß er jetzt unterliegt. Hier nimmt er die Entstellung an, die schon durch die Übertragung auf das Rezente angebahnt war.“ Freud 1999: XI 174. Das Zitat impliziert den untrennbaren Nexus von Entstellung und Zensur, der hier nicht im besonderen verhandelt werden kann. Vgl. jedoch XI 139f: „Wir sprechen direkt von einer Traumzensur, der ein Stück Anteil an der Traumentstellung zuzuschreiben ist. Überall, wo Lücken im manifesten Traum sind, hat die Traumzensur sie verschuldet. Wir sollten auch weitergehen und eine Äußerung der Zensur jedesmal dort erkennen, wo ein Traumelement besonders schwach, unbestimmt und zweifelhaft, unter anderen deutlicher ausgebildeten erinnert wird.“

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nicht länger auf Versuche erstreckt, einen vermeintlich wahren, profunden Sinn aus dem Traum herauszupräparieren und auszulegen, sondern die vielmehr die – den Rahmen des Traums selbst transzendierende103 – Dynamik und die Struktur des Traum-Denkens untersucht. Womit sich ein weiteres Mal die Formel des Freud’schen-und-des-sprachstrukturierten-Unbewussten bestätigt findet. An dieser Stelle soll jedoch keine weitere Vertiefung in Freuds Strukturanalysen erfolgen, vielmehr geht es um die Verankerung des arbeitenden Unbewussten im Faraday’schen Zeitalter.

5.12 Revolutionierung von Räumen und Zeiten Die Unvereinbarkeit von repräsentationslogischer und psychoanalytischstrukturaler Deutung lässt sich konsolidieren durch die verschiedenen RaumVorstellungen, die mit beiden Ansätzen jeweils verbunden sind: mit dem Unterschied zwischen Newtons Universum und dem in Faradays Entdeckung präformierten und von Maxwell mathematisierten Feldlinienmodell des Wechselstroms. Basiert eine repräsentationslogische oder hermeneutische Traumdeutung auf einem homogenen und kontinierlichen, in Vorder- und Hintergrund, Oben und Unten aufteilbaren Raum entsprechend dem Weltmodell der klassischen Mechanik, so setzt Freud dagegen den alle imaginären Raumvorstellungen destruierenden Anderen Schauplatz des als Wiederholung seienden Unbewussten. Lacan präsentiert im Zuge seiner Dekonstruktion des Newton’schen Weltbildes ein schmerzhaftes Szenario von geknebelten, zum Schweigen gebrachten Monden104, das sich als direkte Überleitung in Freuds nichtrepräsentativische Traumtheorie und die für diese bestimmende Konzeption des Traum-Raumes lesen lässt. Entspräche der Traum-Raum einem newtonschen Weltbild, also einem durch eine Sprache geregelten imaginären Phantasma von Einheit und Geschlossenheit, so könnte er vom Subjekt separiert und wie ein Objekt ausgelotet, auf seine Ecken, Kanten, Ingredienzen hin untersucht werden. Er könnte, wo hier schon zwischen-den-Diskursen gesprungen wird, auf dem Gelände der Psychologie ausgesetzt und dort verlassen werden – ein Ende in restituierter Normalität, Gelassenheit und Harmonie, ein Erfreuen am Mirabellenbusch und ein Schläfchen in der Laube, die unbesungenen Folgen eines Diminuendo, einer Niederlage, Pazifizierung des Begehrens. Freud würde diese Räume, die in psychoanalytischer und nicht psychologischer Sicht Regionen von Knebelung und sublimierter Folter machen, gar nicht erst betreten haben, weil er sich in anderen Zonen aufhielt, weil er sich in den Zonen der Zeit, einer im doppelten Wortsinn postnewtonschen Zeit bewegte, weil er den durch stroboskopische Wechsel rhythmisierten Träumen folgte.105 Die Raumauffassung der klassischen Mechanik opponiert mit der „Räumlichkeit“ des von Freud konzipierten Anderen Schauplatzes. Freud setzt das Denken des Unbewussten nachdrücklich ab vom Denken eines „Unterbewusstseins“, das der oben beschriebenen kontinuierlich-homogenen Raumkonzeption verhaftet bleibt, und betont dagegen die Zeitlichkeit und 103 104 105

Vgl. auch Weber 1989: 133-137. Vgl. Lacan 1991b: 301-307. Lacan 1986a: 37: „[...] der Traum, Gründer jeder Idee von Erkenntnis“

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Heterogenität des Traum-Raumes.106 Der Traum hat oder findet strenggenommen nie seinen Platz oder Ort, sondern verweist vielmehr stets auf einen Ab-ort, einen unmöglichen Platz. Ein elektrisches Feld ist kein Ort, der neben einem anderen Ort, magnetisches Feld, koexistiert, ein elektrisches Feld verweist nur in seinem Zusammenbrechen auf ein magnetisches Feld, das wiederum nur ein durch sein eigenes Zusammenbrechen konstituierter Moment ist, der wieder ein elektrisches Feld hervorruft: in schlechter Unendlichkeit auf der der Route zum Ab-Ort, der als reine Operationalität unaufhaltsam und undarstellbar ist – jene „ortlose und bewegliche List des Technischen, die sich nicht beheimaten lässt“107. Jeder Versuch der exakten Ortung oder Lokalisierung des von Freud beschriebenen Nabels des Traumes ist zum Scheitern verurteilt; es gibt keinen Raum mehr, in dem der Analytiker, und sei er noch so gründlich und scharfsichtig, eine Ursache zu sondieren vermöchte, es gibt nur eine Prozedur, deren Ur-Sache unerinnerbar und nichtsdestoweniger operativ, seiend, ist. Ein weiteres Indiz für Freuds Eintritt in die neue Zeit: Er konzipiert den Vorgang der Traumdeutung nicht als Beobachtung (was eine Externalisierung und Objektivierung des Traumes voraussetzte), sondern als Intervention in ein konfliktreiches Kräfteverhältnis.108 Der Raum des Traumes ist kein Raum im Newton’schen Sinne, ebensowenig ein luftleeres Vakuum oder ein spirituelles Pneuma, sondern vielmehr handelt es sich um ein mit antagonistischen Kräften und Wellen durchwobenes Feld – das Feld des von Faraday operationalisierten Wechselstroms, eine Elektrizität im Sinne der neuen Zeit, sofern sie „zu allen Systemen der Bewegung in Raum und Zeit invariant bleibt.“ „Elektrische Effekte, lesen wir heute in jedem Schulphysikbuch, ha106 107 108

Zu Freuds Traumdeutung vgl. auch Goldmann 2003. Tholen 2002: 190. Vgl. Freud 1999: X 285: „Der Kern des Ubw besteht aus Triebrepräsentanzen, die ihre Besetzung abführen wollen, also aus Wunschregungen. Diese Triebregungen sind einander koordiniert, bestehen unbeeinflußt nebeneinander, widersprechen einander nicht. Wenn zwei Wunschregungen gleichzeitig aktiviert werden, deren Ziele uns unvereinbar erscheinen müssen, so ziehen sich die beiden Regungen nicht etwa voneinander ab oder heben einander auf, sondern sie treten zur Bildung eines mittleren Zieles, eines Kompromisses, zusammen.“ Ein hervorragendes Beispiel für konfligierende Kräfteverhältnisse im Subjekt bietet auch die manisch-depressive Erkrankung: „Unsere Erwartung, die ökonomische Bedingung für das Zustandekommen der Manie nach abgelaufener Melancholie aus der Ambivalenz abzuleiten, welche diese Affektion beherrscht, könnte sich auf Analogien aus verschiedenen anderen Gebieten stützen; aber es gibt eine Tatsache, vor welcher sie sich beugen muß. Von den drei Voraussetzungen der Melancholie: Verlust des Objekts, Ambivalenz und Regression der Libido ins Ich, finden wir die beiden ersten bei den Zwangsvorwürfen nach Todesfällen wieder. Dort ist es die Ambivalenz, die unzweifelhaft die Triebfeder des Konflikts darstellt, und die Beobachtung zeigt, daß nach Ablauf desselben nichts von einem Triumph einer manischen Verfassung erübrigt. Wir werden so auf das dritte Moment als das einzig wirksame hingewiesen. Jene Anhäufung von zunächst gebundener Besetzung, welche nach Beendigung der melancholischen Arbeit frei wird und die Manie ermöglicht, muß mit der Regression der Libido auf den Narzissmus zusammenhängen. Der Konflikt im Ich, den die Melancholie für den Kampf um das Objekt eintauscht, muß ähnlich wie eine schmerzhafte Wunde wirken, die eine außerordentlich hohe Gegenbesetzung in Anspruch nimmt.“ (Freud 1999: X 446)

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ben keine Bezugssysteme außer denen, die durch die Lichtgeschwindigkeit und die Masse/Energie-Relation der Relativitätstheorie gegeben sind.“109 Freuds analytischer Intersubjektivität zufolge110 beschränkt sich dieses Feld nicht auf das Subjekt des Traumes, sondern involviert auch den Deuter des Traums, den Analytiker – ähnlich wie bei Heidegger manifestiert sich in dieser Konzeption auch die mit der neuen Zeit verbundene Auflösung der klassischen Subjekt-Objekt-Dualität zugunsten einer zeitlichen Operationalität zweier unterschiedlicher Momente. All diese Faktoren bedingen, dass im Intervall zwischen Traum-Ereignis und Traum-Bericht stets unvermeidliche Verfälschungen, Modifikationen oder Abfälschungen des tatsächlichen Traums liegen. Das für den Traum konstitutive Nicht-Wissen und die darin implizierte Unmöglichkeit der Verbalisierung lassen sich nur um den Preis einer Manipulation und nachträglichen Re-konstruktion des Traums überwinden und in verbalisierbares Wissen überführen. Anders gesagt: eine Trennung des eigentlichen Traum-Zeitraums und des Post-Zeittraums, d.h. der Zeit der Vergegenwärtigung und Rekonstruktion des Traums ist unmöglich. Eine Rede, die über den Traum als über etwas Stattgefundenes, Vergangenes spricht und die somit impliziert, dass er eine zeitliche Geschlossenheit erreicht hat und repräsentationslogisch mit einer bestimmten Bedeutung ausgestattet werden kann, verkennt den eigentlichen Charakter des Traumes. Die Vorstellung vom Traum als einem abgeschlossenen Zeitraum oder einer abgeschlossenen Geschichte im Sinne der alten Zeit objektiviert den Traum in einer fehlerhaften Weise, da sie die Tätigkeit des im Rhythmus der neuen Zeit arbeitenden Unbewussten durch die Fiktion eines bewussten und rationalen Zuschauers oder Beobachters verstellt. Um den oben bereits angedeuteten Konnex zwischen Intersubjektivität und Zeitlichkeit, genauer: der neuen Faraday’schen Zeit, die Freuds Denken medienapriorisch bestimmt, noch einmal zu zementieren. Die Intersubjektivität kristallisiert sich innerhalb der analytischen Szene; hier zeigt sich, dass die autonome Haltung eines Erzählers der von ihm erzählten Geschichte, der Traumgeschichte, gegenüber auf Dauer nicht haltbar ist. Die klassische, dem repräsentativischen Modus folgende Form der Narration wird in der Analyse aufgegeben, denn es gibt, jenseits der rein imaginären Ebene dieser Narration, eine symbolische Dimension, die, so Lacan, ein Ort, eine Instanz, mehr jedoch noch ein Moment in einem prinzipiell unabschließbaren Prozess, einer unendlichen und sich unendlich transformierenden Geschichte ist.111 Die analytische Situation ist dadurch konstituiert, dass der Erzähler mit dieser seiner Geschichte nicht in einem Zustand imaginären Monologismus allein ist und nicht auktorial über sie disponieren kann, sondern dass er sie modifizieren muss, weil eine symbolische Anforderung an ihn herangetragen wird: Die Geschichte muss verbalisiert, sie muss kommuniziert und vom großen Anderen des Symbolischen anerkannt werden. Lässt sich bei einer Erzählung bzw. 109 110

111

Hagen 1998: 148. Vgl. Freud 1999: II/III 518f: „Es ist richtig, daß wir den Traum beim Versuch der Reproduktion entstellen; wir finden darin wieder, was wir als die sekundäre und oft missverständliche Bearbeitung des Traumes durch die Instanz des normalen Denkens bezeichnet haben. Aber diese Entstellung ist selbst nichts anderes als ein Stück der Bearbeitung, welcher die Traumgedanken gesetzmäßig infolge der Traumzensur unterliegen.“ Vgl. auch Freud 1999: II/III 286. Vgl. Lacan 1991a: 180f.

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Traum-Erzählung im traditionellen Sil eine Kommunion von Erzähler und Zuhörer erzeugen, so wird mit der Intervention des Symbolischen das Verhältnis in eine Dissymmetrie überführt. Vom Moment der Installation des Symbolischen als einer genuinen Differenz an können zwar beide Positionen, Erzähler und Hörer, von einer Person inkorporiert werden, aber zwischen den Positionen selbst besteht eine Differenz. Das duale Schema Subjekt versus Objekt wird substituiert durch die Intersubjektivität, in der Subjekt und Objekt nicht länger singularisierbare und fixe Wesen, sondern unterschiedliche (zeitliche) Positionen eines performativen Aktes des Erzählens/Hörens darstellen. Das Subjekt muss auf den „Vektor des Sprechens“112 gebracht, sein Sein muss in die infinite Wiederholung versetzt werden, auf deren Basis sich unterschiedlichste Versionen einer Geschichte übertragen lassen, die es in Wahrheit nie gegeben hat. Die klare Zuordnung und Positionierung eines Subjekts und eines Objekts, eines Erzählers und seiner Traumerzählung, wird in der Analyse aufgehoben zugunsten der Aktivität des Sprechens, und gleichzeitig werden damit Subjekt und Objekt als separate Instanzen dekomponiert. Das Subjekt, das den Versuch einer Objektivierung des Traumes unternimmt, dissoziiert und wird mehr und mehr in die sich fragmentierende und assoziativ multiplizierende Traumszenerie eingezogen. Im Zuge der Erinnerung und das heißt Ent-stellung des Traums, kurz: im Zuge der Fortsetzung des Traums, werden Subjekt und Objekt mehr und mehr verschlungen und vermischt. Dieser Prozess weist dieselbe Zeitstruktur der Nachträglichkeit auf wie die Erinnerung der Urszene: Traum wie Urszene existieren nicht als Originalfassungen oder Urbilder, sondern sind immer schon unbewusste Arbeit der Entstellung oder Reproduktion. Die Signifikanten sind promiskuitiv, die Tyrannei der Erinnerung insisiert, und der Traum hört niemals auf. Die Geschichte der elektrischen und elektromagnetischen Medien zeigt es.

5.13 Newton versus Faraday: die alte und die neue Zeit „So einfach es auch ist, das Oerstedsche Experiment, die Ablenkbarkeit der Nadel durch fließenden Strom, zu replizieren, so erklärt dennoch erst eine relativistische Deutung von Magnetismus und Elektrizität das OerstedtPhänomen auf konsistente Weise innerhalb der post-newtonschen Physik.“113 So simpel und leichtfertig sich dieses Experiment, dieser „entscheidende Knotenpunkt in der Entwicklung der Elektrizität“114, auch hinspielte, so welterschütternd waren doch seine Konsequenzen, nämlich genau jene Durchsetzung einer post-newtonschen Physik, die unausdenkbare Geister, lethische Gestalten und nicht zuletzt das Unbewusste aus dem Schlaf riss, die Bandagierungen und Knebel löste und Monde hysterisierte, die die gesicherten Zeichen einer Sprache entfesselte und in die Wellenbewegung eines Sprechens versetzte, deren Adressaten herrenlos, zweideutig, signifikantenpräokkupiert

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Lacan 1986: 189. Vgl. Feynman 1993: 2, 245ff. Hagen 1998: 149.

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waren: Paragnosten, wissenschaftliche Okkultisten, Psychoanalytiker.115 Hinzu kam, dass ein junger französischer Wissenschaftler, August Fresnel116, dem Newton’schen Herrndiskurs, der Raum und Zeit rückhaltlos in die Regularität und Objektivität dirigiert hatte, einen empfindlichen Schlag versetzte, indem er den Beweis führte, „daß das sichtbare Licht nicht aus newtonschen Korpuskeln (wie die französische Wissenschaftsavantgarde bis dahin glaubt) bestehe, sondern aus wellenförmigen Erscheinungen in einem allesdurchdringenden Medium“. Was dazu führte, „daß das 19. Jahrhundert fortan unumstößlich von den Wellentheorie des Lichts ausging und damit, vor allem in England, von der Existenz eines allesdurchdringenden Äthers“.117 Oersteds Entdeckung und Faradays Operationalisierung des Wechselstroms postulieren physikalische Welterklärungsmuster, die dem newtonschen Regime ihre Gefolgschaft aufkündigen. Eine solche, immerhin ein ganzes Universum betreffende Revolution verläuft nicht ohne die entsprechenden Folgen, die von massiven Widerständen bis zu zähen Retardationen reichen. Denn Newtons Universum war potent, seine Herrschaft einflussreich und gesinnungskräftig, vor allem aber: Es funktionierte unwidersprüchlich. Derart kopflose, schattensüchtige und subversive Erscheinungen wie ein signifikantes „und“ standen unter dem strengen Verdikt von Schweigen und Unmöglichkeit, es gab leichte Sommerbrisen und farbenfrohe Regenbögen, aber nicht die geringsten Zuckungen von Unbewusstem, nicht die leisesten Signale aus den Katakomben des Seins.118 Im 17. Jahrhundert ereignete sich mit der Dynamik von Galilei und Newton ein entscheidender Durchbruch der Wissenschaft, der zur Emergenz der Bewegung führte und der damit eine Zäsur bezüglich der auf statische Dinge, ein starres Weltbild, beschränkten Mathematik und Physik der Griechen darstellte. Den Griechen „fehlte eine zutreffende Theorie der Dynamik, eine Theorie für die schöne Weise, in der die Natur tatsächlich die Ortsveränderung der Körper von einem Augenblick zum anderen steuert“119. Erst vom Moment der Erfindung des Huygen’schen Pendels120 an, in dem mit der Möglichkeit der Standardisierung die „Realzeit“ aufhören konnte, sich nicht zu schreiben, um die Uhr als symbolischen Taktgeber zu produzieren, konnte das statische Weltbild der Griechen gefahrlos in den Rhythmus der Menschentage eintreten. Huygens Erfindung initiiert den astralen Takt, auf dessen Basis auf der einen Seite Galilei und Newton Geschwindigkeiten und Ortsveränderungen von Körpern bestimmen121 und auf 115

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Zum Zusammenhang von Okkultismus und Wechselstromphysik vgl. Apke 1995; Berman 1983; Crookes 1898 und 1920; Meya/Sibum 1987; Hagen 1999 und 2001. Zu Fresnels Leben, Experimenten und Theorien vgl. Simonyi 1990: 350f. Hagen 1998: 153. Vgl. hierzu auch Foucault 1995: 17: „Für die Physik in ihrer klassischen Form war das Diskontinuierliche gleichzeitig das Gegebene und das Undenkbare: das, was sich in der Art der verstreuten Ereignisse (Entscheidungen, Zufälle, Initiativen, Entdeckungen) bot; und was durch die Analyse umgangen, reduziert und ausgelöst werden mußte, damit die Kontinuität der Ereignisse erscheinen konnte.“ Penrose 1991: 156. Huygens 1673: 114. Zu den Messungen Newtons und Galileis, der mit den 1638 publizierten Discorsi die Wissenschaft der Dynamik inauguriert, die den Übergang von antikem Mythenglauben und moderner Wissenschaft markiert, vgl. Penrose 1991: 157.

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der, einer ganz anderen Spur folgend, andererseits Leibniz die Dualität von Geist und Materie durch eine Börse von Monaden ersetzt.122 Die Zeit, die zuvor aufgrund fehlender Funktionen und Operatoren eskamotiert werden musste (damit sie nicht zu sprechen begann), wurde ins symbolische System einer Sprache integriert. „Eine solche Uhr braucht man aber, um den Ortsveränderungen feste Zeiten zuordnen zu können und daraus die Geschwindigkeiten und Beschleunigungen von Körpern zu bestimmen.“123 Galilei applizierte das Pendel von Huygens und zeigte 1583, dass ein Pendel als zuverlässiges Zeitmessgerät dienen, dass also Ortsveränderung domestiziert, das heißt auf feste Zeiten bezogen werden konnte. Und weiter konnte dann Newton „auf dem eindrucksvollen Fundament, das Galilei gelegt hatte, [...] eine Kathedrale von majestätischer Pracht errichten“124. Kommandoartig erteilt Newton der Physik drei Gesetze, anders formuliert, er delegiert an materielle Objekte, Raumpunkte und Sekunden, wie sie sich zu verhalten haben, um zur Harmonie und Störfreiheit des Universums beizutragen. Die ersten beiden ersten Gesetze wurden bereits von Galilei formuliert oder zumindest als Phänomene beschrieben.125 Erstes Newton’sches Gesetz: Wenn auf einen Körper keine Kraft wirkt, setzt er seine Bewegung gleichförmig und geradlinig fort. Zweites Newton’sches Gesetz: Wenn eine Kraft auf einen Körper wirkt, so ist diese Kraft gleich dem Produkt aus der Masse und der Beschleunigung des Körpers (also die Änderung seines Impulses pro Zeiteinheit). Drittes Newton’sches Gesetz: Die Kraft, mit der ein Körper A auf einen Körper B einwirkt, ist genau gleich und exakt entgegengesetzt der Kraft, die Körper B auf Körper A ausübt, also jene sagenumwobene Newton-Aussage, dass es zu jeder Wirkung stets eine gleich große Gegenwirkung gibt. Damit waren Basis, Voraussetzung und Fundament für das Newton-Universum gesichert – Basis und Voraussetzung jenes gehorsamen Objekts, das erstens sein Objekt-Sein nicht aufgibt und das zweitens nicht auf Störwege abweicht. Objekte bzw. Teilchen, die sich im Raum bewegen und dabei den Gesetzen der euklidischen Geometrie gehorchen – mit Newton fand der Herrndiskurs der Mathematik seinen Meister und konnte die Physik monopolisieren. Die Beschleunigungen der Teilchen werden bestimmt durch die unausweichlichen Newton’schen Kräfte, die via Vektorrechnung mathematisiert werden: Die auf jedes Teilchen wirkende Kraft errechnet sich durch Addition (Gesetz der Vektoraddition) aller Einzelkräfte,

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Auch das Konzept Leibniz' ist, Wiener zufolge, formatiert durch Huygens Pendel. Jede Monade levitiert in einem eigenen axiomixistischen Raum. Die einzelnen Monaden konstituieren hermetische Mikrokosmen, miniaturisierte Universen, autistische, fensterlose Perlen – „die passiv tanzenden Figuren oben auf einer Spieluhr“. „Die Monade ist ein verkleinertes Newtonsches Sonnensystem.“ Und dennoch wird jede Monade ebenso wie Newtons Planet justiert durch das Kommando des harmonischen Prästabilisators zur Kausalität, durch eine für alle Ewigkeiten statarisch fortlaufende Gottesuhr. Zusammen mit anderen Monaden ist sie integriert in einem göttlich gesteuerten Gehäuse, in einer „Welt von Automaten, die er [Leibniz, Anm. d. Verf.], wie es bei einem Schüler von Huygens natürlich ist, nach dem Vorbild des Uhrwerks konstruiert.“ Vgl. Wiener 1963: 77ff. Penrose 1991: 157. Penrose 1991: 161. Vgl. Penrose 1991: 157ff. Zu Newtons physikalischer Theorie vgl. auch Kassung 2001: 115-129.

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die auf das entsprechende Teilchen durch sämtliche anderen Teilchen ausgeübt werden. Natürlich muss das System, um eine entsprechende imaginäre physikalische Realität imperialisieren und also ohne Widersprüche regieren zu können, wohldefiniert sein. Es braucht und gibt bei Newton eine eindeutige Regel, die die exakte Kenntnis der von einem Teilchen A auf ein anderes Teilchen B ausgeübte Kraft möglich macht. Auch diese ist durch eine Mathematik gesichert, die in der Vektorrechnung fordert, dass diese Kraft längs der kürzesten Verbindungslinie zwischen A und B wirkt. Appliziert auf Newtons Gesetze sind die Konsequenzen für das Universum wie folgt: „Handelt es sich um eine Gravitationskraft, so wirkt sie zwischen A und B anziehend, und ihre Stärke ist proportional zum Produkt der beiden Massen sowie umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstands zwischen ihnen. Anstelle dieses invers quadratischen Gesetzes kann für andersartige Kräfte eine andere Ortsabhängigkeit gelten, und die Kraft kann von einer anderen Teilcheneigenschaft als der Masse abhängen.“126

Diese ganze Performance wäre Newton jedoch niemals geglückt, wäre er nicht Sonntagskind des Herrndiskurses (also der Mathematik) gewesen. „Um all dies zu erreichen, mußte Newton viele mathematische Techniken entwickeln, vor allem die Differentialrechnung. Aufgrund seiner enormen mathematischen Fähigkeiten und seiner ebenso großartigen physikalischen Intuition war all diesen Bemühungen ein phänomenaler Erfolg beschieden.“127 Newton ist der Programmierer des klassischen Universums, er liefert einen perfekt durchstrukturierten und durch apodiktische Setzungen gegen Widersprüche und ergo Systemdestabilisierungen abgesicherten Entwurf, der in räumlicher wie zeitlicher Hinsicht streng determiniert ist128 und der damit, der hier mitgeführten Unterscheidung folgend, das Goldene Zeitalter der durch Ewigkeit, Präsenz und Irreversibilität129 bestimmten alten Zeit verwirklicht. Selbstredend fügte sich auch William Gilberts um 1600 getroffene Unterscheidung von elektrischen und magnetischen Kräften den Newton’schen 126 127 128

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Penrose 1991: 162. Penrose 1991: 162. Vgl. Penrose 1991: 163: „Mit einem speziellen Kraftgesetz (etwa dem invers quadratischen Gravitationsgesetz) entsteht aus dem Newtonschen Regelwerk ein präzise festgelegtes System von dynamischen Gleichungen. Werden die Positionen, Geschwindigkeiten und Massen der verschiedenen Teilchen zu einer Zeit vorgegeben, so sind ihre Positionen und Geschwindigkeiten (sowie ihre Massen – sie gelten als konstant) für alle späteren Zeiten mathematisch determiniert.“ Zu der mit der alten Zeit unauflöslich verbundenen Irreversibilität vgl. Jantsch 1996: 162: „Wird keine Interaktion in Betracht gezogen, so beziehen sich die dynamischen Gleichungen auf Teilchen-Trajektorien, auf den Fall eines einzelnen Teilchens, das sich vom Punkt A zum Punkt B oder vom Punkt B zum Punkt A bewegt. Es herrscht völlige Umkehrbarkeit. Die Zeit tritt in den Gleichungen auf, aber ohne ausgezeichnete Richtung.“ Vgl. auch Serres 1993: 272: „Es liegt auf der Hand, daß die Zeit innerhalb eines Ensembles aus beweglichen materiellen Punkten, die über den Raum verteilt sind und einem Gesetz gehorchen, zum Beispiel dem Newtonschen Gesetz, vollkommen reversibel ist. [... ] Das System im mathematischen oder logischen Sinne ist unabhängig von der Zeitvariablen; das System im Sinne der üblichen Mechanik hängt zwar von der Zeit ab, nicht aber von deren Richtung.“

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Gesetzen der Natur; zwischen den Kräften in Gilberts Elektrizitätstheorie und denjenigen in Newtons Gravitationstheorie herrschte Isomorphie. Gilbert adaptiert, wenn auch in umgekehrter Form, das Newton’sche Prinzip der invers quadratischen Funktion, er gehorcht dem Herrn. Wobei hier im Blick auf die Elektrizität spezifiziert werden muss, dass es erstens nicht um die Massen von Teilchen, sondern um ihre Stärke oder Ladung geht (damit wird das Newton’sche Objekt schon ein wenig entobjektiviert), und dass zweitens – im Gegensatz zu der auf Anziehungskräften basierenden Gravitation – elektrische Kräfte in einem Verhältnis der Abstoßung zueinander stehen. Die imaginären Grundelemente (Objekte, Teilchen) des Newton’schen Weltmodells werden vorstellbar, wenn sie in den mathematisch-geometrischen Diskurs transkribiert werden: exakt bestimmbare Punkte ohne räumliche Ausdehnung, die grundlegende Koordinaten bilden und somit den Raum erst aufspannen. Ob als Kugel oder als Punkt imaginiert, die Teilchen werden in jedem Fall lücken- und ausnahmslos instruiert durch das (Newton) bekannte Set an grundlegenden Befehlen, also die Kraftgesetze (z.B. das invers quadratische Anziehungsgesetz der Gravitation). Und: die Kugeln, Punkte oder Teilchen sind das Beispiel kat exochen für die im vorangegangenen Kapitel vorgestellten imaginären Objekte. „Am Ende des [17., Anm. d. Verf.] Jahrhunderts war Newtons Sieg vollständig. Der Newtonsche Gott regierte erhaben in der unendlichen Leere des absoluten Raums, in dem die allgemeine Anziehungskraft die aus Atomen aufgebauten Körper des unermeßlichen Alls miteinander verband und sie gemäß streng mathematischen Gesetzen kreisen ließ. [...] Die Anziehungskraft [...] wurde zu einer reinen Naturkraft, zu einer Eigenschaft der Materie, welche die mechanistische Auffassung stärkte, anstatt sie zu verdrängen.“130

Newton, der größte Raum-Zeit-Anankast vor Albert Einstein, inauguriert die dynamische Wissenschaft mit einer einheitlichen Darstellung der Mechanik und der Formulierung eines darauf aufbauenden physikalischen Weltbildes131 – absoluter Raum, sedierte Planeten und ein chronisches Kreisen. Das System ist geschrieben, der Kosmos vollbracht, das All wird häuslich, egomorph, erlebnislos, und im Innern tickt ewig Gottes Metronom. „Was im Zentrum bleibt, das ist diese liebe Gewohnheit, die macht, daß das Signifikat schlußendlich immer den gleichen Sinn bewahrt. Dieser Sinn ist gegeben durch 130 131

Koyré 1957: 246f. Das erste Newton’sche Bewegungsgesetz statuiert den quantitativen Zusammenhang zwischen der Änderung des Bewegungszustandes und der ihr zugrundeliegenden Kraft in der Formel F = ma = m V²/r oder Kraft = Masse x Beschleunigung. Das Gesetz liefert bei Kenntnis des Bewegungsablaufes die Kraft oder bei Kenntnis der Kraft die Bewegung. Alle speziellen wissenschaftlichen Fälle und Konstellationen von Kraft und Bewegung können auf diese Korrelation rekurriert werden. Das zweite oder universelle Gravitationsgesetz besagt, dass die zwischen zwei beliebigen Körpern wirkende Anziehungskraft proportional zum Produkt der Massen und indirekt proportional zum Quadrat des Abstandes der Körper ist. Die Gravitationskonstante G mAmB/R² adressiert die gemeinsame ballistische Basis himmlischer und irdischer Bewegungsabläufe. Vgl. Kassung 2001: 118-121 und 123-25; vgl. auch Serres 1992: 195-202.

DIE VORGESCHICHTE DES UNBEWUSSTEN IN DER WECHSELSTROMPHYSIK ſ 177 das Gefühl, das jeder hat, weil er Teil seiner Welt ist, das heißt, seiner kleinen Familie und alles dessen, was sich darum dreht. [...] Das Signifikat findet sein Zentrum, wohin sie es auch bringen mögen.“132

Die Repulsionskraft des pathogenen Kerns oder des urverdrängten Signifikanten, Magnet von Zufällen, verstörenden Gedanken und Explosionen im Gebälk, wird entwildert zum Gravitationsgesetz der Astronomie, anders gesagt: zur neurotischen Abdichtung des Systems gegen die Tatsache, dass alles auch ganz anders hätte kommen können. Eine partikulare Sequenz des Newton’schen Unbewussten, Signifikantenprozessor wie jedes andere Unbewusste auch, wird abgespalten, verewigt, mechanisiert, um als monotoner Takt, als ostinate Sprache, als symbolisches Wissen, das schwerknochige Rollen der Planeten zu fundamentieren. „Mais enfin! Cet espace, cette gravitation! [...] En un mot, on évoquait l'inconscient de la particule. Cette vérité s'est éteinte, très rapidement – on a renoncé à rien comprendre aux petites formules, et c'est très bien ainsi, toute la valeur est là.“133 Auf eine im Kapitel 3.15 untersuchte zwanghafte Weise obturiert Newton in seinem Planetenwissen den Punkt des Zweifels, des Nicht-Seins, um so zugleich jede Chance des Versäumnisses, des Unzeitgemäßen, des Überraschenden zu verhindern.134 Newtons Welt, in der Monaden und Planeten in der gleichen Weise berechnet und in ihren dynamischen Abläufen determiniert, in der alle physikalischen Prozesse mechanisch rekonstruiert werden können, ist verleimt in einem Sein ohne Fenster, Türen und Vakanzen, so dass kein Ereignis hier je mit den Flügeln zu schlagen beginnen wird. Newtons Universum ist Welt, Welt als solche und schlechthin, Welt im weltmäßigsten Sinne, objektive Welt, imaginäre Perfektion135 ohne Flusen, ohne Schatten und Taumel, ohne jegliche Bild132 133 134

135

Lacan 1986a: 47. Lacan 1991c: 100. Vgl. Tholen 2002: 9: „Das perfektfuturische Image, das nach dem Befund der Negativen Anthropologie dem überraschungsfreien Identitätsdenken eigen ist, entschlüsselt sich erst in einer Topographie des Imaginären, welche die Phantasmatik abgeschlossener Raum- und Zeitvorstellungen zu bestimmen erlaubt.“ Vgl. auch Tholens Verweis auf die Kollaboration solcher Raumvorstellungen mit den oben dargestellten klassischen Zeitkonzepten, die durch Linearität und einer mit der Ewigkeit kontaminierten Gegenwart bestimmt sind: „Für und seit Augustinus ist in Gottes Geist das Universum instantan, Zeit also in Gestalt einer vollständigen Monade gespeichert. Stillgestellt wird hiermit die unvordenkliche Gegenwart als ein überraschendes Ereignis, welches unvorhersehbar kommt.“ (Tholen 2002: 126) So wie die Objekte, also die Teilchen oder Punkte, so ist auch diese Welt im Lacan’schen Sinne imaginär. Es ist ein, wie im Fortgang gezeigt wird, symbolisch regulierter, imaginärer Entwurf, konstruiert aus jener weitreichenden und gemächlichen Materie, die überall, sei es auf der Erdoberfläche, auf einem Planeten oder dem Mond, dem Bewegungsgesetz und dem Gravitationsgesetz, der Sprache des vereinheitlichten Feldes, mit temperamentloser Gleichförmigkeit gehorcht. Newton schreibt die Sprache dieser Welt, der Welt für exakte Wissenschaftler, dessen „Korrelat jenseits, das Sein selbst war, das Sein, genommen als ewiges“. „Diese Welt, aufgefaßt als das Ganze, mit dem, was dieses Wort, welche Öffnung man ihm auch geben mag, mit sich bringt an Begrenztem, bleibt eine Auffassung – das ist da wohl das Wort – eine Sicht, ein Blick, ein imaginärer Griff. [...] Die Sprache – die geschmiedete Sprache des philosophischen Diskurses – ist so, daß in jedem Augenblick, Sie sehen es, ich nicht umhin kann, zurückzugleiten in diese Welt, in dies Unterstellte

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störung. Die Kugeln lassen sich exakt abbilden auf geometrische Punkte, sie haben ihr Fundament im imaginären Paralleluniversum der Mathematik, und sie haben ein weiteres Fundament – weil Newton sich auf keine Unsicherheiten und Hypothesen einlässt – in der Korpuskeltheorie, die eine Vorstellung der Kugeln als ganze, einheitliche, präsentische Elemente vorschreibt. Keine Taumel, keine Schatten, Newtons Kugeln stellen perfekte Objekte vor, so angepasst, normalisiert und berechenbar wie Patienten von Psychologen. Welt braucht exakte raumzeitliche Vermessung, Welt fordert ein vernünftiges Verhältnis von Raum und Zeit. Die Sprache der Kugeln, ihre Bewegung, ihre Gravitation, die ewig gleichen Kreise, die sie ziehen, sie brauchen ein unmissverständliches Gesetz, einen Takt, Kommando vom Metronom, sie brauchen eine Standardisierung der Zeit. Newton, der sich auf keine Unsicherheiten, keine Hypothesen, kein Sprechen einlässt, braucht das gleichförmige Schlagen des Huygen’schen Pendels, Frequency Master Clock einer Welt, der gegenüber jeder Bildschirmschoner schon Visualisierung eines Nervenzusammenbruchs ist. Die technische Bedingung der Möglichkeit, Newtons Universum die ihm gemäße hoheitliche Geltung zu verschaffen, liegt indes in einem Ge-stell, das mit den diskreten elektromagnetischen Medien noch nichts zu schaffen hat, das mit ihnen sogar, sofern letztere mit der Seinsfrage im Heidegger’schen und Freud’schen Sinne verbunden werden, gar nichts zu schaffen haben will. Dieses Ge-stell ist die Uhr. „Wenn wir uns darüber ins Klare setzen, was eine Uhr ist, wird damit die in der Physik lebende Erfassungsart lebendig und damit die Weise, in der die Zeit Gelegenheit bekommt, sich zu zeigen. [...] Als was begegnet die Zeit für den Physiker? Das bestimmende Erfassen der Zeit hat den Charakter der Messung. Messung gibt an das Wielange und das Wann, das Von-wann-bis-wann. Eine Uhr zeigt die Zeit. Eine Uhr ist ein physikalisches System, auf dem sich die gleiche zeitliche Zustandsfolge ständig wiederholt unter der Voraussetzung, daß dieses physikalische System nicht der Veränderung durch äußere Einwirkung unterliegt. Die Wiederholung ist zyklisch. Jede Periode hat die gleiche Zeitdauer. Die Uhr gibt eine sich ständig wiederholende gleiche Dauer, auf die man immer zurückgreifen kann. Die Aufteilung dieser Dauerstrecke ist beliebig. Die Uhr misst die Zeit, sofern die Erstreckung der Dauer eines Geschehens auf gleiche Zustandsfolgen der Uhr verglichen und von da in ihrem Soviel zahlenmäßig bestimmt wird.“136

Ohne eine raumzeitliche Synchronisierung, ohne die Garantie der zyklischen Wiederholung von standardisierten Zeiteinheiten, ohne exakte Periodisierung, gerieten die Sterne und Atome der traditionell raum-zeitlich motivierten Physik zumindest potentiell in die Gefahr, in die Versuchung, sich in einer unmäßig verlängerten Nacht zu verirren. Ohne eine durch eine vom Prinzip her noch immer dem Huygen’schen Pendel entsprechende Uhr gewährleistete Regularität der Zeit, ohne eine Adjustierung von Raum und Zeit, gäbe es keine Welt. Die Zeit muss wie der Raum einheitlich parzelliert und portioniert werden, eine linear ablaufende Sequenz von vorstellbaren und homogenen Taktschlägen oder Jetztmomenten muss den ontischen Bereich intervallieren.

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einer Substanz, die sich durchtränkt findet von der Funktion des Seins.“ (Lacan 1986a: 48f) Heidegger 1924: 6 und 8f. Hierzu und zum Zusammenhang von Zeit und Zählen vgl. auch Tholen 2002: 136f.

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Die klassische Uhr ermöglicht eine imaginäre Assimilation der per definitionem in den Entzug von Denkbarkeit gestellten Zeit137, sie formatiert die Erlebniswinkel der Alltäglichkeit und einer noch immer dem Phantasma einer Welt, eines Universums, vernetzten Physik in gleicher Weise. Die von Foucault für die Naturwissenschaft geltend gemachte Logik der Repräsentation muss also konjugiert werden mit den von Heidegger und Lacan angestellten Überlegungen zur Funktion der Zeitmedien, oder besser und pointierter, der Uhren und Pendel, auf der die Epoche der klassischen oder exakten Wissenschaften zur Eliminierung aller Störfrequenzen und allen Rauschens ruht. Die durch den Pendelschlag, metronomisch und gleichförmig, vereinheitlichte Zeit, strenger und heideggerianscher noch, die durch das Pendel instradierte lineare Serie von objektierbaren, vorstellbaren JetztMomenten ist die Möglichkeitsbedingung der Verkennung des Realen als Realität.138 Wenn Heidegger nicht ohne Hintersinnigkeit fragt: „Was erfahren wir von der Uhr über die Zeit?“, dann muss seine Antwort auf dem Hintergrund einer Theorie gelesen werden, derzufolge das apriorische und damit notwendig unbewusste Wissen den Diskurs der Alltäglichkeit immer schon mechanisiert.139 „Die Zeit ist etwas, in dem beliebig ein Jetztpunkt fixiert werden kann, so daß immer von zwei verschiedenen Zeitpunkten der eine früher, der andere später ist. Dabei ist kein Jetztpunkt der Zeit vor dem anderen ausgezeichnet. Er ist als Jetzt das mögliche Früher eines Später, als Später das Später eines Früher. Diese Zeit ist durchgängig gleichartig, homogen. Nur sofern die Zeit als homogene konstituiert ist, ist sie messbar. Die Zeit ist so ein Abrollen, dessen Stadien in der Beziehung des Früher und Später zueinander stehen. Jedes Früher und Später ist bestimmbar aus einem Jetzt, welches aber selbst beliebig ist. [...] Die primäre Bestimmung, die die

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Denn anders als in imaginären Bildern ist die Zeit, sofern sie wie oder als das Unbewusste und das mediale Reale in einen Bereich apriorischer Unvordenklichkeit fällt, in wissenschaftlichen oder auch alltäglichen Denk- und Erlebnishorizonten gar nicht zu navigieren. Vgl. Tholen 2002: 10: „Gleichviel, ob als Geist oder Schema – immer stellen wir uns Zeit in Bildern vor: als gezogene Linie oder geschlossenen Kreis, als reversiblen oder irreversiblen Zeitpfeil.“ Vgl. auch ders. 133: „Alle, von Zenon über Aristoteles bis Bergson, kontrovers gebliebene Aporetik von Zahl und Zeit, von Bewegung und Unbewegtheit, kreist um den Entzug der Zeit. Wie aber dieser Entzug zu denken ist – ob als Beständigkeit einer gezählten Jetzt-Zeit oder als unvordenkliche Differenz –, ist von entscheidender Bedeutung. Innerhalb der philosophischen Tradition oszillieren die Zeichen der Zeit um diesen Chiasmus von Anwesenheit und Abwesenheit. Warum aber die Zeit von allen Rätseln, die von alters her die Metaphysik sich und den Menschen stellte, das am wenigstens gelöste ist; glaubte man sicher zu wissen: Die Frage nach der Zeit falle immer schon in die Zeit, in der beständig alles geschehe. Demnach setzen Begriff wie Erfahrung von Zeit diese schon voraus. Und ebenso sei die Vorstellung der Zeit – gleichviel, ob ihre relationale Dimension oder ihre modale Dreifaltigkeit als Bezugspunkt gewählt wird – vor aller Erfahrung a priori gegeben.“ Auf eine ähnliche Weise funktioniert auch das Phantasma des einen und wahren Kalenders, dessen reale Schattenseiten und Symptome Thomas Macho untersucht hat. Vgl. Macho 2002. Vgl. hierzu auch Tholen 2002: 133 und 137f.

180 ſ DISKRETE GESPENSTER Uhr jeweils leistet, ist nicht die Angabe des Wielange, des Wieviel der gegenwärtig fließenden Zeit, sondern die jeweilige Fixierung des jetzt.“140

Seit Newton und Descartes wird der Körper als Maschine konzipiert141, und in die Maschine des Descartes ist eine Funktion der Imagination eingebaut, die Silhouetten, Schemen und Lemuren innerhalb einer diffusen Vornatur verkürzt, formalisiert und in der Vorstellung repräsentiert – das ist der Stand der Dinge, von dem Foucault ausgeht, das schreibt Foucault, und nichts anderes schreibt Lacan, auch wenn er die Funktion der Uhr dabei stärker und in engerer Anlehnung an Heidegger hervorhebt. „Der Mensch muß“, damit die Repräsentation funktioniert, „seine Uhr haben, seine Taschenuhr“142. Der Unterschied zwischen der Zeitepoche der Uhren und der mit Freud, Hegel und den elektrizitätstechnischen Experimenten des Wechselstroms einsetzenden Zeit des diskretisierten Seins – das sich im Kontext dieser Genealogie verknüpfen, aber nicht identifizieren lässt mit dem Heidegger’schen Sein als Zeit – liegt nach Lacan darin, dass das Reale vor der Operationalisierung kein Medium im strengen Sinne, keine implementierte Funktion der Speicherung, Berechnung und Übertragung, sondern in seiner Domestikation zur Natur auf das beschränkt gewesen ist, was stets zur selben Zeit an derselben Stelle seinen Auftritt hat. „Die Realität setzt sich für den Menschen – und eben darin geht sie ihn an –, weil sie strukturiert ist und weil sie das ist, was sich seiner Erfahrung als das darstellt, was immer an derselben Stelle wiederkehrt.“143 Ein Objekt kann vermessen und kartographiert werden, es kann seziert und mathematisiert werden, es kann inventarisiert, klassifiziert und experimentell denaturiert werden, aber es kann eines ganz sicher nicht: von sich aus etwas be-deuten, eine Botschaft, ein Sprechen, die Frage eines Begehrens aussenden. „Einerseits artikuliert, andererseits nicht mit dem Signifikanten „eins“, ist das Subjekt des Unbewußten nur als jener flüchtige Punkt des Sprechens, an dem sich die Signifikanten miteinander verketten. Es „ist“ nur im Kiel dieses Sprechens (énonciation), aber es vermag dieses sein Sein nur als das Ausgesprochene (énoncé) zu fassen, wo es als es selbst gerade nicht mehr ist. [...] es ist, was es nicht ist, und ist nicht, was es ist.“144

Im Unterschied dazu ist die (imaginäre oder ontische) Wirklichkeit konstant, das Universum ist perfekt durchkomponiert: Einheitliche Kugeln gravitieren im Takt einheitlicher Sekunden, Minuten, Stunden, Tage. Die Geburt der exakten Wissenschaft ist zugleich die Geburt des Menschentages, des Tages eines Menschen – Zellstoffverwerter mit Eigenbewusstsein, die Individualisten des Abendlands, zu autonom, zu vernünftig, zu einheitlich, um länger tanzend mit den Rhythmen der Witterung und den Riten der Fruchtbarkeit verbunden zu sein. Ganz sicher, es gibt Ballett-Premieren, eine Pool Party auf Capri, es gibt Halloween, aber diese Dinge werden den Normalbürger nicht aus dem Takt bringen. Sie lassen sich in die Ethik seines Lebens integrieren, 140 141 142 143 144

Heidegger 1924: 9. Vgl. Lacan 1991b: 98. Vgl. auch Descartes 1997: 53-54 und Hagner 1994: 14-17. Lacan 1991b: 378; vgl. auch Lacan 1987: 80-87. Lacan 1996: 93. Cremonini 2003: 117.

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sofern er im Alltäglichkeitsfall – Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge, emsige Tage und ruhige Nächte – am Vormittag den grauen Kontext der Verwaltung betritt, direkt überwiesen von den U-Bahnen und Stadtautobahnen, von den unsichtbaren ontologischen Strukturen eines In-der-Welt-Seins, die ihn nach Dienstschluss weiter verweisen werden in Supermärkte kurz vor Ladenschluss und zweimal wöchentlich zum Psychologen, der seinen Takt normalisieren und die Algorithmen der Um-zu-Botschaft wieder auffrischen wird wie ein Telegraphenrelais. Dennoch ist hier ein Innehalten geboten – das Existential der Zuhandenenheit145 und das Ge-stell des Telegraphenrelais fallen historisch in die Zeit von Kybernetik und Konjekturalwissenschaft, also in eine Zeit, die nicht nur chronologisch weit entfernt ist von der Newtonik, sondern auch durch epistemologische Brüche radikal von ihr getrennt ist. In der Zwischenzeit hat sich viel ereignet: Die Singularisierbarkeit und Vorhandenheit von Kugeln und Sekunden ist liquidiert worden in die Wellentheorie des Lichtes und in jene elektromagnetischen Resonanzen, die sich als diskrete Wechselwirkungen von Elektrizität und Magnetismus, als Pulsieren des Realen, jeder Präsentifizierung, Repräsentation, Imagination entziehen. Diese relativ lange Expedition in die Newtonik ist durchaus motiviert. Newtons Raum-Zeit-Konzept ist von Relevanz für die (rhetorische) Frage, ob die alte Zeit einfach untergegangen ist oder ob sie nicht vielmehr in der uhrengeregelten Kasuistik der Alltäglichkeit subsistiert?! Alsdann sollte, um darin zugleich den Inhalt dieses Kapitels abschließend zu resumieren, die Dominanz und Übermächtigkeit des Newton’schen Weltbildes und der darin implizierten Vorstellbarkeit und Objektivierung von Zeit herausgestellt werden, die zugleich die Durchsetzung der mit dem Faraday’schen Denken verbundenenen Revision des Denkens von Zeit (und Raum) in großem Ausmaß und mit bis an die Gegenwart reichenden Folgen obstruierte. Die Reaktionen der kontemporären Physiker bezeugen, dass die Newton’sche Fernwirkungstheorie nur sehr zögernd und unter großen Vorbehalten zugunsten der Wellentheorie des Lichts und der damit verbundenen Faradaysierung aufgegeben wurde. Das Newton’sche Weltbild und insbesondere die darin vorherrschende Mathematik hatte sich derart unverrückbar eingeschrieben, dass die gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich tätige Generation von Mathematikern und theoretischen Physikern zunächst den Versuch unternahm, das neue Phänomen des Elektromagnetismus mit Hilfe Newton’scher Prinzipien zu erklären und zu kompatibilisieren.146 Auf ein prominentes Beispiel dieses Widerstandes gegen eine Suspendierung des Newton’schen Weltbildes wurde verwiesen: Ampère stützt sich bei der Ableitung des Grundgesetzes der Elektrodynamik auf das Newton’sche physikalische Weltbild, um so zwischen der neuen diskreten Zeit des Elektromagnetismus und einem alten und heimatlichen Welterklärungsmuster zu alternieren. Nichtsdestoweniger hat das Ereignis, das Welt und Natur, akkurater: die Verkennung des Realen als Natur, und damit ein raumzeitlich berechenbares Universum in Vertigo versetzt und die Ankunft des Unbewussten einleitet, detoniert; jenes Ereignis, das viele Jahre später eine medienontologisch verfahrende Psychoanalyse in den Stand eines Wissens versetzen sollte, mit dem die scheinbar überpersönliche, notwendige, gravitätische Newton-Welt zum neurotischen Phantasma relativiert werden konnte. Nichtsdestoweniger hat es 145 146

Zum Existenzial der Zuhandenheit vgl. Heidegger 1953: 66-71. Vgl. den Teil 5.8 dieses Kapitels; vgl. auch Simonyi 1990: 343.

182 ſ DISKRETE GESPENSTER

sich ereignet. Faraday entdeckt die Induktion und den Stroboskopeffekt, die Serie der immer weiter verbesserten und verfeinerten Wechselstromgeneratoren, die schließlich in Form des Ruhmkorffs auch mit den Körpern vernetzt werden sollen, nimmt ihren Lauf. Der Wechselstromgeneratoren, der Medien, denn das hat sich ereignet, ohne dass jemand es schon in seinen ganzen Ausmaßen begriffen hätte – das Reale ist zum Medium, das Sein ist mediatisiert worden. Faraday, so Maxwells Hommage, war das Genie, das die Initiation des Mediums in sich sich trug, und zudem ein Subjekt, in dem diese Initiation, eben da Faradays Blick nicht dem Herrndiskurs der Mathematik unterworfen war, sich zur Entfaltung bringen konnte: „Faraday sah im Geiste die den ganzen Raum durchdringenden Kraftlinien, wo die Mathematiker fernwirkende Kraftzentren sahen; Faraday sah ein Medium, wo sie nichts als Abstände sahen; Faraday suchte das Wesen der Vorgänge in den reellen Wirkungen, die sich in dem Medium abspielen, jene waren aber damit zufrieden, es in den fernwirkenden Kräften der elektrischen Fluida gefunden zu haben [...]. Vielleicht gereichte es der Wissenschaft zum Vorteil, daß Faraday, obzwar er mit den grundlegenden Formen des Raumes, der Zeit und der Kraft innigst vertraut war, kein Berufsmathematiker war. So war er nicht der Versuchung ausgesetzt, sich in die vielen interessanten, rein mathematischen Forschungsarbeiten zu verstricken, zu welchen ihn seine Entdeckungen veranlaßt hätten, wenn er sie in mathematischer Form dargestellt hätte; und er fühlte sich weder dazu verpflichtet, seine Ergebnisse in eine dem mathematischen Geschmack der Zeit entsprechende Form einzuzwängen noch sie in einer Form auszudrücken, die die Mathematiker hätten angreifen können. So konnte er seine eigenständige Arbeit unbehelligt fortsetzen, seine Ideen den Tatsachen anpassen und sie in einer natürlichen, untechnischen Sprache ausdrücken.“147

Faraday war nicht verfangen in den Konflikten und Double Binds, die zum Beispiel Ampère bei der Erfahrung des eigentlichen vesuvischen Ausmaßes des elektromagnetischen Phänomens einschränkten, ein Phänomen, dessen reell mathematische Anschreibbarkeit, dessen Schließmoment148 noch ausstand, mehr noch, dessen Schließmoment seltsame Züge von Zerdehnung an sich haben sollte. „Ab 1840 gibt es reelle Apparaturen des Medialen, die einfach nur funktionieren, z.B. Telegrafen und Kameras. Symbolische Beschreibungen innerhalb einer zureichend formalisierten Wissenschaft existieren nicht. Die Technologien enthalten ein reelles Wissen, das (noch) niemand weiß. Diese Differenz zwischen den beiden Wissensarten ist eine historische, oder anders gesagt, das Historische an technischelektrischen Medien liegt in eben dieser Differenz der Wissensarten. Sie ist zeitlich gebunden an Diskurse, also vorläufige Aussagen, und sie produziert im Symbolischen überschüssige Imagination, waghalsige Deutungen und große Verwirrungen.“149 147 148

149

Maxwell, zit. in: Simonyi 1990: 343. Der Schließmoment ist der dritte und letzte Moment innerhalb der aus drei Momenten (Augenblick des Sehens, Zeit zum Begreifen, Moment des Verstehens) bestehenden logischen Zeit des Unbewussten. Vgl. Lacan 1987: 36 und 45; vgl. auch den Lacans Text Die logische Zeit und die Assertion der antizipierten Gewissheit, Lacan 1986: 101-122. Hagen 2005: 3. Zur Geschichte der zeitlichen Dissonanz sich medial entzündender Effekte des Reellen einerseits und ihrer Überführung in säkular-

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Überschüssige Imagination, waghalsige Deutungen, große Verwirrungen und Phänomene, die sich unmöglich phänomenalisieren ließen. Dann konnten es nur phänomenologische Phänomene im Sinne Heideggers gewesen sein, also „solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, daß es seinen Sinn und Grund ausmacht.“150 Das phänomenologische Phänomen ist keine Unsichtbarkeit im Sinne einer Sichtbarkeit mit negativem Vorzeichen, es kann als eine im Sein implementierte prozessuale Struktur weder positiviert noch negativiert werden, es ist das Dass der reinen diskreten Wiederholung, die Grundoperation des Unbewussten. Daraus ergibt sich für das phänomenologische wie für das psychoanalytische Procedere das Postulat, dass dieses Sich-Entziehende und Sich-Verbergende nur in seinem SichVerbergen phänomenologisch beschrieben und verstanden werden kann – die Freud’sche Technik, die sich nicht mehr dem platonischen Unikat und seinem repräsentativischen Abglanz verhaftet, sondern den Orakeln des Unbewussten in ihrer Arbeit folgt, die das reine Dass des Sich-Entziehens, des Sich-Verbergens, der Entstellungen registriert, jenen in der diskreten Zeitlichkeit bedingten Entzug, der den Traum, das Unbewusste konstituiert. Das Medium, das Ge-stell, das sich von Faradays Elektromotor über Pages Optimierungen bis hin zu den modernen Netzen und Maschinen des digitalen Erdzeitalters im und als mediales Reales implementierte, formatiert – Lacan sagt es im Vortrag über Psychoanalyse und Kybernetik explizit – das Unbewusste. Und diese Formatierung verläuft in zwei Schritten, über zwei Geleise, die nicht separiert werden dürfen, sondern vielmehr durch ein logisches „und“ verbunden sind – über die spezifisch Freud’sche Erfahrung und die mit ihr verbundenen Aporien, die Freud die sprachliche Struktur des Unbewussten divinieren machen151 sowie über Lacans hegelianische Rückkehr zu Freud und damit zum Signifikanten als einem korpsifizierten Element.152 Im Fall des menschlichen Seins muss, es wiederholt sich, ein ur-sprüngliches Klüftungs-Trauma vorausgesetzt werden, damit sich die neue Faraday’sche Zeit installiert und das Subjekt dem Rhythmus unterworfen wird, in der es sich „der Entfaltung der strukturellen Alternation widmet, in der die An- und Abwesenheit sich gegenseitig aufrufen“153. Dieses Trauma, das mitsamt seinen Folgen im 11. Kapitel in seinem Vorfall und Ablauf genauer untersucht werden wird, ist die Möglichkeitsbedingung des Unbewussten, sofern es durch die Performanz der Wiederholung skandiert wird, kurzum: sofern es sich um das Freud’sche-und-das-sprachstrukturierte Unbewusste handelt, um ein – so die die Hauptthese dieses Buches – Medium im Realen auszumachen. Die Genese dieses spezifischen unbewussten, verzeitlichten Seins wird in diesem Buch – so die Vorgaben – in Feldern rekonstruiert, die unterschiedliche Bereiche von der Philosophie, der Elektrizitätsphysik und Signaltheorie, der Medienarchäologie, der Physiologie bis hin zur kybernetischen Strukturlinguistik umfassen; eine Rekonstruktion, die zugleich Lacans Desiderat einer Dialektisierung von Wissenschaft und Psychoanalyse realisiert, denn

150 151 152 153

wissenschaftlich anschreibbares und erklärbares Wissen andererseits vgl. auch Hagen 2005: XXf, 1-7 und 26-40. Vgl. auch Hagen 2001: 57-99. Heidegger 1953: 35. Vgl. Kap. 7. Vgl. Kap. 8. Lacan 1991: 46.

184 ſ DISKRETE GESPENSTER

sie zwingt zur Revision der Annahme einer angeblich in Saussures Entdeckung zu lokalisierenden Urszene der Linguistik. Wurden die Bezüge zur Philosophie Hegels, der die Verzeitlichung des Seins und eine Art „Unbewusstes“ präformiert, und zur Wechselstromphysik als der Ankunft eines neuen, mediatisierten Seins bereits besprochen, so gilt es nun, die Freud’sche Erfahrung des Unbewussten als Erfahrung einer Korpsifizerung, d.h. eines vom Ge-stell der diskreten Zeit bestimmten und wahrhaft gezeichneten Körpers zu rekapitulieren. Das folgende 6. Kapitel wird den Einzug der Wechselstromgeneratoren in die psychologischen und physiologischen Laboratorien, wo die neuen, das Subjekt (de-)formierenden Apparate laufen, verfolgen. An dieser Stelle sollen die Befunde dieses Kapitels zur Emergenz des realen Medialen kurz bilanziert und bezüglich der bereits debattierten Unterscheidungen des symbolischen und des imaginären Todes bzw. der Dassheit und der Washeit reformuliert werden. Die Diskretisierung des Seins erfolgt im traumatischen Moment der Zufügung des Seinsmangels, von Lacan auch als symbolischer Tod beschrieben, der eine Kluft derart ins Reale des Seins einführt, dass dieses in Folge zwei diskrete Zustände annehmen, also wie eine Induktionsspule funktionieren kann. Als ein solches Ge-stell oder Medium kann es – und der Verlauf der Medien- und Psychoanalysegeschichte von Freud zu Lacan zeigt dies auf – unterschiedliche Entwürfe, sei es das verwunschene Vorstellungsgewirke des Traums, sei es eine sogenannte objektive und vorhandene Wirklichkeit inklusive Bahnhofsuhren, Armbanduhren, Küchenuhren und Radioweckern, Fahrplänen, Terminkalendern, Öffnungszeiten und anderen wirklichkeitstypischen Washeiten automatisieren. Es selbst jedoch entzieht sich als reine Dassheit einer Operation jeder Feststellung, Vor-stellung und Reflexion. Die entstellende Arbeit des Traumes lässt sich so wenig essentialisieren, wie sich die Jaktationen von Henrys Philosophical Toy als Washeit und damit platonischer Läuterung darbieten würden.

6. K O R P S I F I Z I E R U N G 6.1 Körper unter Strom: Die Genealogie des Unbewussten aus der Geschichte des Wechselstroms II Auch die epistemischen Felder und Praktiken, die das Dispositiv der Experimentalwissenschaften – das Dispositiv Sigmund Freuds – formieren, sind untrennbar mit der Geschichte des Wechselstroms vernetzt. Hier evoziert die Verzeitlichung und Operationalisierung des Seins nicht minder Assoziationen von Trauma, Tremolo, Phobie, Paranoia und Diskontinuität. Grundlage der psychophysischen und experimentalpsychologischen Experimente in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Praktiken und Medien der Zeitund Frequenzmessung, die stets auch Techniken der Aufzeichnung und Messung, Techniken der Schrift und Techniken der Einschreibung darstellen.1 In Du-Bois Reymonds und Helmholtz’ Untersuchungen zu Nervenlaufzeiten und tetanischen Zuckungen – die die Tetanisierung von Versuchstieren und Versuchspersonen implizieren – meldet sich ein, wenn auch noch nicht streng freudianisch definiertes, so doch bereits präformiertes, nämlich: perforiertes Unbewusstes. Im Zuge der Experimente und der in ihnen zum Einsatz kommenden Apparaturen (deren Funktionsweise größtenteils vom Wechselstrom-Prinzip des Funkeninduktors direkt abgeleitet oder in Analogie zu ihm entwickelt wurde) wurden die Körper deformiert und später neu zusammengesetzt. „Die Methode, Erfahrungen zu machen, ging im Verlauf des Jahrhunderts unter die Haut und perforierte die Körper. Die ersten filmischen Experimente, die Physiologen am Ende des 19. Jahrhunderts herstellten, sind einfach Fortführungen jener Experimente mit zerschnittenen Körperteilen in den Laboratorien, und sie dienten dem gleichen Zwecke: wiederzubeleben, was zugunsten des Experiments vorher zerstört worden war.“2

Die Körper werden der neuen diskontinuierlichen Zeit entsprechend hergerichtet, installiert, mediatisiert. In den physiologischen und psychotechnischen Laboratorien des ausgehenden 19. Jahrhunderts werden serienweise Testgeräte und Vermessungsapparaturen konstruiert, zu denen in erster Linie chronometrische und fotografische Techniken3 gehören. Empfiehlt sich hierin 1 2 3

Vgl. Didi-Huberman 1997: 39-55, 117-126, 197- 287. Für die folgenden Passagen vgl. auch Holl 2002: 170-292. Holl 2002: 181f. Und dass diese fotografischen Techniken den Körper und insbesondere den weiblichen Körper nicht weniger angriffslustig, gnadenlos und folgenschwer invadierten und formierten als Ruhmkorffs, Stromschneider und Schlitteninduk-

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einerseits eine Geschichte der Verfeinerung der Vermessungstechniken für physiologische Funktionen, so darf darüber nicht vergessen werden, dass mit der Entwicklung neuer Test-Apparate auch neue Körper konstruiert werden. Helmholtz’ Physiologie, Wundts experimentelle Psychologie, Claude Bernard und Carl Ludwig, nicht zuletzt Flechsigs Neurologie untersuchen Wahrnehmung als Reizverarbeitung in den Nerven. Das alte beseelte Körperbild wird suspendiert zugunsten der Entwürfe und anthropologischen Modelle einer neuen – operationalen – Ontologie. „Apparate, Nerven und ihre physiologischen Schnittstellen werden verbunden zu Medien. Das Individuum muß Wahrnehmungsverhältnisse eingehen, die durch kein Bewußtsein mehr zu kontrollieren sind.“4 Die Körper werden ihren Cogitos enteignet, um nach dieser experimentellen Erfahrung im Labor nicht mehr die gleichen Körper zu sein wie zuvor. Die Versuchsaufbauten haben die Körper tätowiert und durchlöchert, sie haben sich in die Körper eingeschrieben, sie sind Teil der Körper geworden, die sie untersucht haben. Installiert in und vernetzt mit den Körpern, werden diese neuen Medien und Apparate die gesamte Welt und Wahrnehmung des 20. Jahrhunderts bestimmen.5 Inwiefern ist dieses für den Ausgang des 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts paradigmatische Rondo von Elektrizität und Experiment mit vollem Recht innerhalb des Radius einer Geschichte der Freud-Lacan’schen Psychoanalyse zu situieren? Die Antwort gibt und verstärkt sich in gleich dreifacher Hinsicht. Zunächst schreibt sich mit den um 1900 a-rhythmisierten und faradaysierten Körpern ein aufschlussreiches Kapitel innerhalb der medienhistorischen Genese von Lacans Begriff der Korpsifizierung. Zweitens ist das Unbewusste Lacans, wie dargelegt, von Freuds Konzept nicht zu isolieren, mehr noch: Das Unbewusste ist, um Lacan zu wiederholen, ein freudscher Begriff. Und die durch Ruhmkorff’sche Wechselstromgeneratoren und

4 5

torien, macht Christina von Braun unmissverständlich klar: „In der Pariser Ecole de Médecine steht eine Statue, die ebenfalls die sexuellen Implikationen dieses wissenschaftlichen Blicks verdeutlicht. Sie trägt den Titel: „Die Natur entschleiert sich vor den Augen der Wissenschaft“ und stellt die schamvolle Selbstentkleidung eines weiblichen Körpers dar. Anders als der alttestamentarische Begriff des „Erkennens“, der auch Sexualität mit Wissen verbindet, dabei aber vor allem die Erkenntnis der eigenen Unvollständigkeit oder Sterblichkeit hervorhebt, stellt dieses naturwissenschaftliche „Erkennen“ einen einseitigen Vorgang dar. Dieses „Erkennen“ beinhaltet das Eindringen in und die Inbesitznahme von Weiblichkeit und damit ein Omnipotenzphantasma. Mit der Entstehung der Photographie (man wird es mir nachsehen, wenn ich hier die vielschichtige Geschichte des Blicks in so verkürzter Form wiedergebe; ich versuche hier nur einen Aspekt, der sich auf die Subjektkonstitution und ihre geschlechtlichen Implikationen bezieht, herauszuarbeiten), mit der Entstehung der Photographie also wird diese Einseitigkeit des Blicks noch eine zusätzliche Dimension erfahren: Es entsteht ein Auge, das sich selbst der Betrachtung der anderen entziehen kann; ein Auge, das – wie Gott – sieht, ohne selbst gesehen zu werden. Zugleich erlaubte die Photographie die Phantasie, daß es möglich sei, die Zeit zum Stillstand zu bringen.“ (Braun 1996: 5f.) Vgl. auch Braun 2001: 207-225. Holl 2002: 176. Vgl. hierzu auch Braun 2001: 38-40 und 207-235. Zu einer ausführlichen Darlegung des Zusammenhangs von Körpern und Medien aus psychoanalytischer und gendertheoretischer Perspektive vgl. auch Angerer 2000, Angerer 2001 und Angerer 2007.

KORPSIFIZIERUNG ſ 187

weiteres chronometrisches Experimentiergerät ausgerüsteten Laboratorien sind das unmittelbare Habitat des jungen Freud. Die Laboratorien evozieren ein tickendes, zuckendes Pandämonium, in dem es inszeniert wird – das Charivari der Neurasthenie, der große Bogen der Hysterie und all die anderen Phänomene, deren Tragweite divinatorisch sein soll bis hin zu den denkzwangartig repetierenden Fragen von Patienten und Schreiberinnen: Wo ist mein Schlüssel? Wieviel Schritte brauche ich zum Haus, das Omen? Ist das Gerät aus? Was denkt die schwarze Katze? Is there anybody out there? Wie eine Genealogie des Unbewussten wiederholen? Wie anfangen und wo aufhören mit der Sekundärliteratur? Wie, wo, wann den Einstieg finden in diese Zirkulation von Wiederholungen, in die Spirale, die Schwindel erzeugt und das Bewusstsein verlieren macht?

6.2 Körper-Medien-Verbindungen Wenn in diesen und den folgenden Passagen die Lacan’sche Korpsifizierung und deren Vorgeschichte in Freuds sich zwischen Laboratorium und Signifikantenbatterie entfaltenden Konzeptionen, wenn die Vernetzung von Körpern und Medien oder auch die Einschreibung und Installation der Medien des Diskreten in die Körper analysiert und dargelegt wird, dann wird dabei doch, das sei nachdrücklich hervorgehoben, ein äußerster Abstand gewahrt zu den zahlreichen Untersuchungen zu Mensch-Medien-Schnittstellen, die, so unterschiedlich ihre Einsatzpunkte und Blickwinkel auch sein mögen, doch allesamt unausgesprochen ein imaginäres oder spiegelbildliches Körper-MedienVerhältnis unterstellen. Tholen dekonstruiert all diese sich zwischen wissenschaftlichem Burger King und einer in der Krankenhauskapelle des Marienhospitals gelesenen Messe für den Menschen zur Entladung bringenden anthropomorphen Zähmungen der Mensch-Medien-Konnexion wie folgt: „Die Axiomatik der leiblichen Projektion oder systemischen Selbsterhaltung, die in den meisten kulturanthropologischen Medientheorien unbefragt bleibt, konstruiert einen Referenzrahmen unmittelbarer Wechselwirkung zwischen Körperfunktion und technischem Gerät: Die Leistungen der modernen Technik werden teleologisch bestimmt als Erweiterung der physischen und sensorischen Fähigkeiten des menschlichen Körpers oder als Steigerungsfähigkeit seiner Intelligenz. Doch diese Rückbindung des Technischen an den menschlichen Leib folgt der Funktion des imaginären Körperbildes des Menschen: Das Bild, das notgedrungen der Mensch sich von seinem Körper macht, hält diesen – einheitsstiftend – zusammen. Ausgehend von diesem kohärenten bzw. ganzheitlichen Körper-Bild projiziert der medienanthropologische Diskurs dieses auf die Technik. Folgerichtig gehorcht diesem Diskurs zufolge jeder „technische Ersatz eines Organs“ auf gleichsam organische Weise dem Gestaltungswillen und Ganzheitsstreben des Leibes. Der – wie immer auch unfreiwillige – Fetischismus dieser Projektion liegt in der Vorgabe, es gäbe ein vom dinglichen Schein des Technischen ablösbares und unersetzbares Proprium des Menschen, in welchem die Technik sich letztlich aufzuheben habe. Indem diese Diskurse die Medien als prothetische Ordnungen eines Selbst oder Wir fingieren, d. h. unter dem Namen Leib, Leben oder Geist zum ureigensten Bestand des Menschen hinzuzählen, verdoppeln sie den anthropomorphen Narzissmus noch dort, wo sie das Ende des Menschen beschwören. Die Frage nach dem Ort des Menschen kann nur gestellt werden als die Frage nach der Möglichkeit der Bedingungen technischer Kommuni-

188 ſ DISKRETE GESPENSTER kation, in deren Namen „wir“ über Kommunikation kommunizieren. Jenseits des anthropologischen Zirkels wird sich so die Frage nach der Technik zu der nach ihrer medienhistorischen Un-Beständigkeit verschieben.“6

Daraus folgt, dass eine solche Frage nach der Technik im Sinne eines Heidegger’schen Ge-stells und weiter die Frage nach der Verbindung, die Körper mit einer so verstandenen Technik eingehen, die Weise, in denen sie von ihr affiziert, manipuliert und konfiguriert werden, sich nur unter der Voraussetzung auf eine Antwort hin bewegen kann, dass nicht länger der imaginäre, via narzisstischer Spiegelung homogenisierte Körper, sondern der von diesem von Lacan streng unterschiedene reale Körper in Rechnung gestellt wird. Ähnlich wie Foucault, der gegen die Setzung einer ideengeschichtlich beschreibbaren wahren oder natürlichen Wirklichkeit die wirklichtskeitsgenerative Potenz von diskursiven und nicht-diskursiven Ereignissen setzt7, verwahrt sich auch Lacan nachdrücklich gegen jede Vorstellung von einem vermeintlich natürlichen Körper. Ein natürlicher Körper, einheitlich, egomorph und ursprünglich, metaphorisch vielleicht etwas wie einer naturbelassenen Tomate Vergleichbares, oder auch nur ein solcher Körper, der die Bewohner des Kollektivphantasmas namens Realität nicht in mittlere Grade von Verstörung versetzen würde, ist für Lacan zutiefst imaginär und Resultat einer hochkomplexen und künstlichen Konstruktion innerhalb eines auf Identität und Authentizität gehenden Menschenbiotops. Naturbelassen, das heißt nicht von der kunstvollen Spiegel-Maschinerie der Hominisierung und Homogenisierung für menschlich-imaginäre Wirklichkeiten präpariert, würde sich der Körper vielmehr auf höchst widernatürliche Weise konfrontieren: „nicht erfaßbare Organe“, „falsche Organe“8, die jedoch körperbildend wirken in ihrem Bezug „auf bestimmte ausgewählte Punkte [...], auf Punkte eines Aufklaffens, auf eine begrenzte Anzahl von Mündern an der Oberfläche des Körpers“9. Auf diese Weise etabliert Lacan eine vom imaginären, d.h. vorstellbaren Körper unterschiedene Konzeption eines realen Körpers, der sich in und aufgrund seiner radikalen Unvorstellbarkeit und Unberührbarkeit nur in einer brutalen, affrösen, jede harmonische Menschennatur diffamierenden Metaphorik nahe bringen lässt: ein Bereich „jenseits aller Benennung“, für den „das Wort Aas völlig unzureichend ist, das totale Einsinken jener Art von Blähung, die das Leben ist“10, jene „schreckliche Entdeckung [...] des Fleisches, das man niemals sieht, den Grund der Dinge, die Kehrseite des Gesichts, des Antlitzes, die Sekreta par excellence, das Fleisch, aus dem alles hervorgeht, aus der tiefsten Tiefe selbst des Geheimnisses, das Fleisch, insofern es leidend ist, insofern es unförmig ist, insofern seine Form durch sich selbst etwas ist, das Angst hervorruft. Vision der Angst, Identifikation der Angst, letzte Offenbarung

Tholen 2002: 17f. Zu den auf imaginären Spiegelbeziehungen beruhenden anthropologischen und instrumentellen Verkennungen des Medialen vgl. auch Tholen 2008. Vgl. hierzu insbesondere auch – wie soeben erwähnt – Angerer 2000, Angerer 2001 und Angerer 2007. 7 Vgl. Foucault 1995: 13-20, 67-75, 184-200 und 235-249. 8 Lacan 1987: 205f. 9 Lacan 1996: 116. 10 Lacan 1991b: 294. 6

KORPSIFIZIERUNG ſ 189 des Du bist dies – Du bist dies, was am weitesten entfernt ist von dir, dies, welches das Unförmigste ist“11.

Das vom historisch kontingenten und je nach den zugrundeliegenden Medien und Diskursen formatierten und umformatierten imaginären Körperbild unterschiedene Reale des Körpers fällt für Lacan in ein Feld der absoluten Unerfahrbarkeit – ein Feld jenseits des Bereichs, in dem Körper in Straßenbahnen ins Büro oder zur Ausstellungseröffnung fahren oder sich im Le Pavillon über Kaninchen auf Pilztorte und einer Nougat-Komposition auf thailändischer Blumenduftmango über Atemtherapie, Tai Chi12, Mayr-Kur13, Hatha-Yoga und Lomi-Lomi14 austauschen, aber auch ein Feld jenseits jeder physiologischen oder neurologischen Objektivierbarkeit. Die für dieses Kapitel und darüber hinaus für das gesamte Buch grundlegende Lacan’sche Differenzierung zwischen dem je nach Medienzeitalter und Wissensbereich wechselnden imaginären Körperkonzept und dem realen Körper, der sich, unvorstellbar, unnahbar, unverfügbar, jeder materialistischen und jeder mathematischen, jeder ontologischen und jeder sinnesphysiologischen Festlegung entzieht, hebt, zusammen mit Foucaults archäologischer Betrachtungsweise, auf eine Rekonstruktion des Medien-Werdens eines zwischen Haut und Fleisch liegenden Körpers ab, die sich von einer Ideengeschichte und dem entsprechenden Geschichts- und Entwicklungsdenken ebenso wie von den oben beschriebenen medienanthropologischen Ansätzen distanziert und stattdessen den Blick auf die jeweiligen Diskurse, Medien, Repräsentationstechniken richtet, die Körper(-bilder) erst hervorbringen. Der durch die medizinischen Visualisierungstechniken des 20. und 21. Jahrhunderts vom Kymographen bis zum 7 Tesla Tier-MR-Scanner hervorgebrachte oder eben neu konfigurierte Körper, ist also nicht weniger konstruiert und artifiziell als die Körper-Automaten von Descartes15 und La Mettrie im mechanistischen Zeitalter. Die nach sichtbaren Identitäten und Unterschieden geordneten Körperteile im Tableau der Klassik16 entsprechen eben11 Ebd. 199f. 12 Chinesische Meditationsform mit fließenden, tänzerischen Elementen; harmoni-

siert, entspannt, regt den Kreislauf an und sorgt für eine gute Haltung. 13 Heilfasten mit Brötchen und Milch nach dem Arzt Franz Xaver Mayr. Ziel ist

Entschlackung des Körpers. 14 Hawaiische Massage, charakterisiert durch Alternation von sanften und kräfti-

gen Griffen, dient, begleitet durch Gymnastik und Gesang, zur Muskelentspannung. 15 Vgl. Descartes 1997: 53-54; vgl. auch Hagner 1994: 14-17. 16 Dieses Arrangement stellt in der klassischen episteme nach Foucault die „fundamentale Anordnung des Wissens [dar], das die Erkenntis der Wesen nach der Möglichkeit ordnet, sie in einem System von Namen zu repräsentieren“. (Foucault 1974: 203). Vgl. auch ders. 179: „Die große Verbreitung der Wesen auf der Oberfläche der Erde kann durch die Kraft der Struktur gleichzeitig in die Abfolge einer beschreibenden Sprache und in das Feld einer mathesis eintreten, die eine allgemeine Wissenschaft der Ordnung wäre. Diese konstitutive und so komplexe Beziehung entsteht in der offensichtlichen Einfachheit eines beschriebenen Sichtbaren.“ Und 204: „Das historische Apriori, das im achtzehnten Jahrhundert die Untersuchungen oder Auseinandersetzungen über die Existenz der Gattungen, die Stabilität der Arten, die Übertragung der Merkmale durch ganze Generationen begründet hat, ist die Existenz einer Naturgeschichte: die Organisation eines bestimmten Sichtbaren als Gebiet des Wissens, die Defini-

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sowenig dem realen Körper wie die Körper von Neckermann-Touristen zwischen ägyptischen Königsgräbern, Pyramiden und gigantischen Tempelanlagen. Und die Naturfreunde auf La Palma, umgeben von üppiger Vegetation, hohen Bergen, Vulkanen, fruchtbaren Tälern und Lorbeerwäldern, sind sogar noch weiter von dem mit der Natur verwechselten Realen entfernt wie die Körper des doppler-sonographierten Herrn Reuscher oder derjenige von Christa Müller beim Leistungs-EKG. Lacans Demarkation des realen und das heißt per definitionem unübertragbaren und unausdenkbaren Körpers von einem in Bildern oder Formalisierungen zugänglich und zutraulich gemachten imaginären Körper trifft auf den Großen Sonnengruß auf der Yogamatte ebenso zu wie auf Herrn Erwin an der Herz-Lungen-Maschine im St. JosefsHospital, auf die Eleven des Turnvaters Jahn ebenso wie auf den von McLuhan im Zuge einer phantasmagorischen Anthropotechnogenese ins Leben gerufenen Körper, dessen Ohr eine Erweiterung des Radios, dessen Auge das Fernsehen verlängert und dessen Füße sich zum Auto extendiert haben17. Abgründe, nicht nur topographisch und lebensweltlich, das ist völlig klar, zwischen den Schmidtbauer-Ritzels in lebensfroher Stimmung zwischen schmucken Patrizierhäusern, lauschigen Grachten und den blühenden Parks von Amsterdam und dem in fragilen und arrhythmischen Pieptönen über Monitore flimmernden Restleben auf der Intensivstation des St. Sebastians-Klinikums. Aber was dort piept, ist noch immer das positive Objekt, ohne das es keine medizinische Wissenschaft gäbe, so wie durch die Tulpenblüte von Amsterdam nicht das Reale, sondern imaginäre Körper schweifen. Zeitliche Abgründe zwischen den anatomischen Studien von Michelangelo, Raffael, Dürer und Leonardo, die selbst den berühmten Anatom Vesalius an Akribie übertrafen18, und den über den Bildschirm flimmernden Transkriptionen der in CT-Röhren liegenden Körpern, aber in beiden Fällen ist es nicht die wahre Natur, die sich offenbart, sondern eine durch Medien, die Zentralperspektive im einen, computerisierte Bildgebungsverfahren im anderen Fall, hervorgebrachte Konstruktion bzw. Konfiguration eines Körpers. So wie zwischen den wilden, faunischen, von einer „Verzehrung des Lebens durch sich selbst“19 zeugenden Körpern der sich im 19. Jahrhundert formierenden, vitalistisch unterspülten Biologie und den Körper-Manifestationen in den mikrobiologischen Labors und Hypogäen der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts – DNA-Doppelhelix von Watson und Crick, sliding filament Modell für die Muskelkontraktion von Huxley und Hanson, Ängströms im Röntgenstrukturbild aufgelöstes Myoglobin usf.20 – der Übergang der Biologie zur Technoscience21, aber nicht der Fortschritt zum Sesam des Seins liegt22. Me-

17 18 19 20 21

tion der vier Variablen der Beschreibung, die Konstituierung eines Raumes von Nachbarschaften, in dem jedes Einzelwesen, gleich welcher Art sich ansiedeln kann.“ Vgl. McLuhan 1992: 17-27. Vgl. auch Hagen 2000, Hagen 2002 und Bitsch 2008. Vgl. Vollmuth 2004 und Baader 1968. Foucault 1974: 339. Vgl. Chadarevian 1994: 182. Mit dem von Bruno Latour und Jacques Derrida übernommenen Begriff der Technoscience markiert Donna Haraway die durch die Technisierung des Wissens bedingte epistemologische Zäsur um 1950, durch die klassische Dichotomien wie Technik versus Natur, Subjekt versus Objekt und Natürlichkeit versus

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dienzeitalter und Körper im Wechsel, zeitliche Abgründe und räumliche Abgründe zwischen den Kurven und Zacken eines Eisprinzessinnenkörpers und einem ins Wintermärchen Allgäu projizierten Skifahrerkörper: majestätische Berge, prunkvolle Schlösser, verträumte Städtchen im Schnee, die imaginäre Natur, aber nicht das Reale. Zeitliche Abgründe, räumliche Abgründe. Klopstock in klassizistischen Parkanlagen und das Röntgenbild einer DavosLunge sind nicht näher oder weiter vom natürlichen Körper entfernt, eben weil es keinen natürlichen Körper, sondern nur unterschiedliche, von Medien, Diskursen und epistemischen Konstellationen instruierte Körperkonstruktionen gibt. In der Zeitspanne zwischen 1850 und 1900, in der Zeit des Experimentaldispositivs, als diskrete Gespenster Freud das Unbewusste signalisierten, ereignet sich eine jener Zäsuren, die zusammen mit neuen Wirklichkeiten und Wahrnehmungsweisen auch neue imaginäre Körper hervorbringen. Und aber zu den Generatoren dieser neuen imaginären Körper zählt – und hier zeigt sich abermals der medienwissenschaftliche Anteil der Psychoanalyse – nicht zuletzt das Unbewusste, das mit Medien vernetzte und von Medien programmierte „Fleisch, das man niemals sieht“, das korpsifizierte Sein.

6.3 Die Arbeitsplätze von Sigmund Freud „Die Psychoanalyse wird als Wissenschaft nicht durch den Stoff, den sie behandelt, sondern durch die Technik, mit der sie arbeitet, charakterisiert.“23 Unauflöslich ist diese Technik mit der neuen Zeit und besonders mit den Techniken der neuen Zeit, den Medien der Diskretisierung verwoben. Das große Abenteuer des Unbewussten, die Expedition ins Unvordenkliche, die Wanderung zum Anderen Schauplatz hat nicht begonnen im kultivierten Ambiente von Sprech- oder Arbeitszimmern, ausgestattet mit Kelims, Truhen aus Tibet, Schreibtischen in dunkler Wengé und Sofas mit Persönlichkeit. Sie hat nicht nicht begonnen mit Louis XVI-Tischchen, auf denen sich eine Uhr in Form eines kleinen Totenkopfes aus weißem glasierten Nymphenburger Porzellan und ein mit Blattgold gestalteter byzantinischer Kalender befanden, um die Stimmung der Hora und den exakten Zeitpunkt einer traditionell linear ablaufenden Zeit anzusagen. Das große Abenteuer des Unbewussten, an dem die Physiker, die Physiologen, die Linguisten und die Informatiker beteiligt waren, hat, um die Frage nach dem Mobilar noch für einen Moment zu suspendieren, in einer anderen Zeit begonnen, als Standuhren aus Ulmenwurzelholz und Cartier-Armbanduhren sie hätten aussagen können.24 Zu der Zeit, als das Abenteuer begann, waren diese Uhren mit ihren filigranen Zeigern und siamkatzengesichtigen Ziffernblättern bereits beatmet durch einen Hauch Künstlichkeit untergraben und aufgelöst werden. Vgl. Haraway 1995: 105 und 111. 22 Vgl. hierzu Lily Kays Dekonstruktion der für die Ouvertüren der Biotechnologie typischen Siegeszuggefühle hinsichtlich der Entschlüsselung und Eroberung des „Buchs des Lebens“. Entsprechend nüchtern und detachiert zeigt Kay auf, dass eine wissenschaftshistorische Analyse zum linguistic turn in der Biowissenschaft lagerechter ist als Triumphalismus bezüglich einer illusorischen Näherung des Realen. (Kay 1994) 23 Freud 1999: XI 404. 24 Vgl. McReynolds 1980: The Clock Metaphor in the History of Psychologie.

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von Musealität. Denn das Abenteuer hat in einer anderen Zeit begonnen, es hat aus der neuen Zeit her seinen Anlauf genommen, aus der mediatisierten Zeit. Zeitbasierte Medien und in Wechselstromgeneratoren medial implementierte Prozesse deportieren klassische Zeitmessgeräte, jene Uhren, vermittels derer Zeit zum Objekt eines statuarischen, präsenzaffirmierenden und bis zur höchsten Dignität einheitlichen Subjekts gemacht werden konnte, in die Anachronie. Natürlich hatte Freud auch ein Arbeitszimmer, und später, sehr viel später, nachdem er die Psychoanalyse als Technik des Sprechens begründet hatte, nachdem er auf das-Unbewusste-als-das-sprachstruktierte-Unbewusste schicksalhaft und doch ohne jedes Vodoo verfallen war, war dieses Arbeitszimmer sogar direkt mit dem Anderen Schauplatz vertunnelt. Es war die Sakristei all der Störfrequenzen der Erinnerungen, es war das Abaton, der Keller, aber vielleicht auch die Loge der Ur-Sache. Es war übrigens ein besonderes Arbeitszimmer, eine Legende von Arbeitszimmer, es existieren zahlreiche Fotografien von diesen sehr distinguierten Räumen, Sprechzimmer und Arbeitszimmer, ausgestattet mit Jugendstil-Regal, kunstvoll geschnitzter Pendeluhr aus Zedernholz, Chinnoiserien und Marie Bonapartes altgriechischen Accessoires25, und womöglich sogar Kelims und Truhen aus Tibet, man müsste es auf den Bildern überprüfen. Vielleicht würde der Blick dann auch all die Totenmasken und die präkolumbianische Grabwächterstatue streifen, und vielleicht würden sich, aber das wäre schon jenseits des Sehfeldes, eine Müdigkeit aus schweren Nächten, tiefes Wissen, Schattensüchte erahnen, entziffern lassen – denn als Arzt hatte Freud den Tod lange schon begriffen, und zwar in all den Dimensionen, real, symbolisch, imaginär, die die Epoche den empfangsbereiten Antennen seines Unbewussten darbot. Als Arzt hatte er Hirnabszesse, Aborte, Rattenbissfieber, Gefäßschäden, regelwidrige Blutungen und Blutungen post partum, Letalfaktoren, Asthmaanfälle und letzte Krämpfe gesehen. Als Schüler des Hysterie-Meisters Charcot wurde er konfrontiert mit Anästhesien, Hyperästhesien, Hyperalgesien, desweiteren „Dermalgien“, „Myosalgien“, „Cephalgien“, „Epigastralgien“, „Rachialgien“, „Neuralgien“, „Zölialgien“, „Thorakalgien“, „Myelosalgien“, „Arthralgien“, „Neuralgien“, „laryngo-bronchiale Hyperästhesien“, „pseudokruppale Atemnöten“, „Hyperästhesien der Verdauungswege“, „Nephralgien“, „Zystalgien“ und „Hysteralgien“26 Die Erfahrungen, die Freud während seiner Tätigkeit in der internistischen Praxis Nothnagels machte, resonieren noch sehr viel später, als er die Analogie zwischen der Entstehung der Neurose und der einer Infektionskrankheit aufstellte. „Man befindet sich dann wohl in derselben Stellung gegen die Neurose, welche der Arzt gegen eine akute Infektionskrankheit einnimmt. Die ätiologischen Momente haben zu einer verflossenen, jetzt der Beeinflußung entzogenen Zeit ihre Wirkung in genügendem Ausmaße geübt, nun werden dieselben nach Überwindung des Inkubationsintervalls manifest; die Affektion läßt sich nicht abbrechen; man muß ihren Ab-

25 Marie Bonaparte hat Freud großzügig mit griechischen Vasen und Statuen be-

schenkt. Vgl. Schur 1972: 506 und 592. 26 Briquet 1859 : I, 181-206.

KORPSIFIZIERUNG ſ 193 lauf abwarten und unterdes die günstigsten Bedingungen für den Kranken herstellen.“27

Als Psychiater sah er Katatonien, Willenslähmungen, manichäisches Leiden, Alptraumräume und schizothyme Rhythmen, er sah das menschliche Leiden, die Krankheit des Menschen kat exochen, er sah sie mit den Augen von Ananké. Er sah Dystonien, unübertragbaren Tremor, Schwermut in extremis, er sah all die Kranken, Nervolabilen, die Abendgestalten, die Freitagskinder, er sah die Hinfälligkeit der organischen Existenz, die, Euphemismus einer Leiche, nach Lacan einen unter unzähligen Wegen und Wegweisern auf der Spurensuche des Seins ausmacht, nicht nur, wenn man Schlachter oder Onkologe, sondern auch wenn man Psychoanalytiker werden will. Und dennoch, Freud sah, was auch seine Lehrer, Kollegen und Zeitgenossen, was auch Helmholtz, Wundt, Flechsig, Charcot und Du-Bois Reymond gesehen hatten, nämlich Trauma, Tremolo, Phobie, Paranoia, Diskontinuität. Aber er vollendete seine Bahn – nicht einmal eine klassische Laufbahn mit Zimmertemperatur, zu viele Gebrochenheiten, zu viele Umwege, Umkehrungen, Unüberholbarkeiten, Erschütterungen, Verhinderungen28 – auf seine eigene unwiederholbare Weise. Er ging nicht wie Helmholtz, Wundt, Flechsig, Charcot und Du-Bois Reymond als großer Physiologe, Psychotechniker, Psychiater in die Geschichte ein, sondern begründete einen anderen Weg. Einen Weg, den man nur rückwärts gehen, den man nur wiederholen kann, um dennoch den Zeitpunkt und das Objekt seines Ursprungs immer wieder zu verfehlen. Im Unterschied zu den großen Physiologen, Psychotechnikern und experimentellen Psychologen seiner Zeit erbrachte er keine objektiven Messergebnisse, keine geschlossenen Systeme und Systematiken, er requirierte weder Kartographierungen noch physikalisch und materialistisch fundierte Ergebnisse oder ikonografische Bilddokumente. Freud sah am Ende nur ein mythischneurasthenisches, ein zwischen Symbol und Sekret schwankendes Grauen,

27 Freud 1999: I 262f. Dennoch bleibt, dass Freuds Ort zu keinem Zeitpunkt seiner

Studien unwidersprüchlich lokalisierbar ist: Er ist weder eindeutig in der ärztlichen, noch eindeutig in der psychoanalytischen Praxis. Dieser Verortung zwischen den Schauplätzen gemäß versäumt er es auch nicht, auf die Grenzen der Analogie zwischen einer neurotischen und einer infektiösen Krankheit hinzuweisen. Vgl. hierzu den Fortgang des Zitats: „Beseitigt man nun während einer solchen akuten Periode die Krankheitsprodukte, die neu entstandenen hysterischen Symptome, so darf man sich darauf gefaßt machen, daß die beseitigten alsbald durch neue ersetzt werden. Der verstimmende Eindruck einer Danaidenarbeit, einer „Mohrenwäsche“ wird dem Arzte nicht erspart bleiben, der riesige Aufwand von Mühe, die Unbefriedigung der Angehörigen, denen die Vorstellung der notwendigen Zeitdauer einer akuten Neurose kaum so vertraut sein wird wie im analogen Falle einer akuten Infektionskrankheit, dies und anderes wird wahrscheinlich die konsequente Anwendung der kathartischen Methode im angenommenen Falle meist unmöglich machen.“ 28 Sowohl die sozialen Verhältnisse, in denen er lebte (Freud hatte sich früh verheiratet und musste überdies den Unterhalt für viele seiner Geschwister bestreiten), als auch der um 1900 bereits latent herrschende Antisemitismus verstellten Freud die Möglichkeit zu der akademischen Karriere, die er sich als sein eigentliches Lebensziel erträumt hatte. Vgl. Gay 1989: 31-48.

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und er hinterließ das leere Grab des Gottes29, Kenotaph – den symbolischen Tod, ein Spuk im Realen, der an einen Begriff, an einen Signifikanten appellierte. Und es wurde bereits gesagt, dass diese Operation unendlich ist. Aber dennoch partizipieren die Experimente von Helmholtz bis Charcot an der Genealogie dieses diskreten Spuks, das heißt an der Genealogie jenes Unbewussten, die dieses Buch verfolgt – des „Unbewussten als solchen“, des Freud’schen-und-des-sprachstrukturierten-Unbewussten. Und dies nicht einfach nur, weil der Diskurs der experimentellen Physiologie Freuds Schriften weiträumig durchläuft und sein Denken oder Stationen seines Denkens determiniert, sondern vielmehr auch weil er aus der Unversöhnlichkeit des materialistischen und des symbolistischen Ansatzes, die von ihm Besitz ergriffen hatte, Metaphern konstruierte, in denen sich die sich in der Metapher manifestierte Washeit als Notwendigkeit für den Vorlauf, zugleich den Rückgriff auf die Dassheit verriet. Ohne eine wenngleich diskontinuierliche Vernetzung mit den diskursiven Beziehungen – und das heißt den diskursiven und nicht-diskursiven Ereignissen30 – der materialistischen Psychiatrie und Physiologie wäre Freud womöglich einer konventionell-logozentrischen Konzeption von Metapher verpflichtet geblieben, die den pathogenen Kern, den Un-Sinn und die Ur-Sache im operativen Kern einer jeden Metapher, den Lacan später und ausgerüstet mit Saussure’schen Termini nachweisen wird31, verkennt. Freud verwendet seine Metaphern operativ in genau der Weise, die Lacan später im Brennpunkt und unter der strikten Voraussetzung der Differentialität des Signifikanten akzentuieren und von dem logozentrischen, bedeutungsfixierten Schema der Metapher, das eine schlichte Substitution eines Sinns durch einen anderen Sinn mit dem Ziel eines poetischen Effekts beschreibt32, abgrenzen wird. In der (Freud’schen) Metapher geht es jedoch nicht um eine simple Übersetzung, sondern um die Transformation und Verschlüsselung von etwas, das sich, reine Dassheit, reine Operationalität des Seinsmangels im Unbewussten, als solches unmöglich präsentifizieren lässt. Die Erfahrung einer solchen Dassheit, mit anderen Worten: eines solchen Mediums konnte sich, zumal es um reale Körper ging, nicht in der apollinisch gestillten Atmosphäre eines Arbeitszimmers in Grau-, Flieder- und Elfenbeintönen mit handgefertigten Ahornmöbeln und venezianischen Muranoglaslampen vollziehen. Sie konnte sich ebensowenig an einem Schreibtisch im Stil des preussischen Klassizismus, entspannt durch einige geschnitzte Holzdosen in Käferform, eine Gesichtsmaske der Dogen aus Mali und ein Glas mit Goldfischpaaren, ereignen, sie konnte sich, zumindest in ihrer ersten realen, tsunamihaften Heftigkeit, nur im Laboratorium zum Geschehen bringen. „Um zu klären, wie Wahrnehmung funktioniert, ob sie eine Tätigkeit der immateriellen Seele oder des chemisch-physikalischen Körpers ist, wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts Geräte entwickelt und Laboratorien eingerichtet, die die unwillkürlichen und unsichtbaren Bewegungen der Menschen vergrößern, aufzeichnen und analysieren sollen.”33 29 Vgl. Lacan 1991a: 195: „Ohne Zweifel, der Leichnam ist ein Signifikant, jedoch

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ist das Grab des Moses für Freud so leer wie das Grab Christi für Hegel. Keinem von beiden hat Abraham sein Geheimnis preisgegeben.“ Vgl. Foucault 1995: 67ff. Vgl. Kap. 8. Zum pathogenen Kern vgl. auch Kap. 12. Zum klassischen Konzept der Metapher vgl. Kurz 1988: 7-27. Lacans sich hierzu in Opposition setzendes Schema wird im Kapitel 8.9 besprochen. Holl 2002: 171.

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Nicht dass all die Ärzte, Physiologen, Psychiater und Psychotechniker nicht auch über die ihrem Format entsprechenden, raummäßig gebieterischen Arbeitszimmer verfügten, aber über die Fragen, für die bis dahin die Philosophie zuständig und privilegiert war, über die Fragen nach Sein, Seele und Subjekt, nach Wahrnehmung und Wesen, wird mit dem Beginn der neuen Zeit und der Experimentalwissenschaften nicht mehr nur am Schreibtisch entschieden. Die Arbeitsplätze verdoppeln sich, das klassische Denk- und Arbeitszimmer wird supplementiert durch das Laboratorium. Und dies Laboratorium, dessen Epizentrum der bereits erwähnte Ruhmkorff, der legendäre Wechselstromgenerator der Psychotechnik war, hatte eine weitaus größere Bedeutung als nur die eines Supplements – es war der Landebereich der Subjekte der medialen Psychoanalyse, es war der höchst reale Schauplatz von Traumata, Tremolos, Phobien, Paranoien und Diskontinuitäten, diese ganze ruhmkorffinduzierte Stampede von Störfrequenzen, die das unbewusste, von der Wiederholung vergewaltigte Subjekt konstituierten. Im Laboratorium gab es keine Standuhren aus Ulmenwurzelholz und keine Wanduhren wie verspielte, ziselierte Horengesichter aus Messing, im Laboratorium tickte vielmehr das Ge-stell der neuen Zeit, die sich bis zum großen Angstanfall – das Kapitel 7 wird es demonstrieren – in die Körper einschrieb. Nun soll für einen Moment zu der Formel, die dieses Buch fugiert, zurückgekehrt werden: das Freud’sche-Unbewusste-und-das-sprachstrukturierte-Unbewusste. Es wurde gezeigt, dass Lacan die Freud’sche Erfahrung, „das Unbewusste als solches“, nicht mit einem zu einer reinen Struktur mineralisierten Gewirke gleichsetzen will, wie sie ansatzweise von Lévi-Strauss, Deleuze und anderen strukturlinguistisch hyperaktiven Theoretikern des Unbewussten vorausgesetzt wird. Vielmehr soll die Formel, auch das wurde erläutert, wie ein spekulativer Satz gelesen werden, das heißt es soll es eine Dialektisierung vorgenommen werden zwischen der sprachlich-strukturalen Kodifizierung und dem realen Medium, dem diskretisierten und geklüfteten Sein, welches diesen Code transportiert. Im Fall des sprechenden menschlichen Seins wird dieses Medium durch einen Körper gestellt, und dieser Körper, dieser vom Tode gezeichnete, von den Ge-stellen der neuen Zeit traumatisierte und in Tremolos, Spasmen und diskordante Ruckbewegungen versetzte Körper steht in Form eines Auslösers am Ausgangspunkt der Freud’schen Erfahrung. Hat das vorige Kapitel das Wesen und Ge-stell der neuen, diskreten Zeit, die das Unbewusste bestimmt und die die Voraussetzung für seine sprachliche Verfasstheit, seine Signifikanten-Arbeit, macht, evolviert, so muss nun - quasi als ein weiteres Modul innerhalb der Rekonstruktion des Freud’schen-und-des-sprachstrukturierten-Unbewussten – die Vernetzung des Seins mit diesen Ge-stellen, die Einschreibung der diskreten Zeit in die Körper thematisiert werden. Es geht, mit anderen Worten, um die Darlegung unterschiedlicher Varianten von Unbewussten, die sicherlich so wenig wie Deleuze’ Unbewusstes der Struktur mit dem „Unbewussten als solchen“ koinzidieren, die aber nichtsdestoweniger, insofern sie mit Freuds Erfahrung inklusive seiner Antizipation der sprachlichen Strukturiertheit der Botschaft untrennbar verbunden sind, in die Genealogie gerade auch des Unbewussten als solchen fallen. Freud musste, um es erfahren zu können, zunächst in die Niederungen des Körpers, in die Katakomben der Physiologie, in jene Laboratorien gehen, in denen das Sein faradaysiert, tetanisiert, lazeriert, von den Medien der diskreten Zeit geklüftet wurde. Er musste von den diskursiven und nicht-diskur-

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siven Ereignissen akupunktiert werden, die sich in seiner unmittelbaren Nähe, in den Grenzen des experimentalwissenschaftlichen Dispositivs abspielten. Eine Geschichte der Freud’schen Erfahrung muss auch die ersten Zuckungen, die ersten Effekte, die ersten Vorformen des Unbewussten umfassen – Bleulers physiologisch-funktionale Theorie des Unbewussten als Wissenschaft der Affekte, Bernards Theorem des stabilisierenden milieu intérieur, Wundts und Ludwigs experimentell-physiologisch fundierte Seelenforschung, Du-Bois Reymonds und Helmholtz’ galvanometrische Messung von Nervenlaufzeiten in motorischen Fasern, die jede bewusste Wahrnehmungsschwelle unterlaufen, schließlich Flechsigs embryologische oder myelogenetische Methode und seine cerebralen Kartographierungen. Freud selbst gibt in seinem Kurzen Abriss der Psychoanalyse einen Rückblick auf diese wissenschaftlich-historische Situation: „Die Psychoanalyse ist auf einem engbegrenzten Boden erwachsen. Sie kannte ursprünglich nur das eine Ziel, etwas von der Natur der sogenannten „funktionellen“ Nervenkrankheiten zu verstehen, um die bisherige ärztliche Ohnmacht in der Behandlung derselben zu überwinden. Die Neurologen dieser Zeit waren in der Hochschätzung chemisch-physikalischer und pathologisch-anatomischer Tatsachen erzogen worden, sie standen zuletzt unter dem Eindruck der Funde von Hitzig und Fritsch, Ferrier, Goltz u. a., welche eine innige, vielleicht eine ausschließliche Bindung gewisser Funktionen an bestimmte Teile des Gehirns zu erweisen scheinen. Mit dem psychischen Moment wußten sie nichts anzufangen, sie konnten es nicht erfassen, überließen es den Philosophen, Mystikern und Kurpfuschern und hielten es auch für unwissenschaftlich sich mit ihm abzugeben; dementsprechend eröffnete sich auch kein Zugang zu den Geheimnissen der Neurosen, vor allem der rätselhaften „Hysterie“, die ja das Vorbild der ganzen Gattung war. Noch als ich 1885 an der Salpêtrière hospitierte, erfuhr ich, daß man sich für die hysterischen Lähmungen mit der Formel begnügte, sie seien in leichten funktionellen Störungen derselben Hirnpartien begründet, deren schwere Schädigung die entsprechende organische Lähmung hervorrufe.“34

An dieser Stelle drängt sich unhintergehbar eine Frage auf. Warum, so drängt die Frage, fehlen in der obigen Aufzählung die von Freud doch explizt erwähnten „Funde von Hitzig und Frisch, Ferrier, Goltz, u.a.“, Charcots Investigationen der spinalen Systemerkrankungen und seine Einführung des systematischen Krankheitsbildes der Hysterie, Fechners Formulierung des Maßprinzips der Empfindlichkeit als Übertragungs- und (negative) Verstärkungsformel von Physik in Psyche in den Elementen der Psychophysik, die Physiologie Brückes und Gilbreths auf einem physiologischen und psychologischen Fundament errichtete Theorie menschlicher Arbeitsbewegungen? Warum werden diejenigen Forscher, die doch am nächsten mit Freuds Werk assoziiert sind, deren Einfluss auf Freud erwiesenermaßen am größten war, hier nicht eingehend und in separaten Kapiteln vorgestellt und in ihrem Verhältnis zur Freud’schen Lehre skrutiniert? Wo bleibt die konzentrierte Untersuchung des Verhältnisses von Freud zu Charcot und Fechner, deren Theorien ihn doch unmittelbarer und persönlicher umfangen haben, als beispielsweise das Theorie- und Experimentiergebäude Helmholtz’? Der Grund liegt darin, dass die ersteren in der Forschungsliteratur annähernd exegetisch durchgespielt 34 Freud 1999: XIII 405f.

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und erschlossen sind, während die Betrachtung von Helmholtz oder Flechsig als kontemporäre Wissenschaftler Freuds zwar keineswegs neu ist, aber doch hinsichtlich der Freud-Forschung eher an der Peripherie liegt. Auch wenn die Wiederholung Leitmotiv und Methode dieses Buches bildet, so würde es doch dessen Umfang sprengen, gar in eine schlechte Wiederholung auslaufen, Charcot, Fechner und Brücke in ihrer Bedeutung für Freuds Denken zu rekapitulieren. Darum müssen einige – sehr selektive – Hinweise auf Werke, die sich diesen Themenbereichen ausführlich zugewendet haben, hier genügen.35 Und so werden sich die folgenden Analysen dieses Kapitels unter Absehung von Charcot und Fechner auf die Ansätze von Bernard, Ludwig, Wundt, Bleuler, Flechsig, Du Bois-Reymond und Helmholtz erstrecken. Die Ereignisse, die sich auf diesen experimentalphysiologischen und psychologischen Feldern zutragen, die Botschaften, die sich hier – wenngleich nur für Freud, nur für das Konzept einer Lacan’schen, medientheoretisch basierten Psychoanalyse – ankündigen, bilden einen unverzichtbaren Teil der Genealogie des Freud’schen-und-des-sprachstrukturierten-Unbewussten, und die Involvierung der Signifikanten der Linguistik und der Informationstheorie kann erst, das wird Thema des 8. Kapitels sein, nach und aufgrund dieser realen Mediatisierung des Körpers, dieser Korpsifizierungstechniken erfolgen. Die Möglichkeitsbedingung der Rede vom sprachstrukturierten Unbewussten, die Möglichkeitsbedingung von Freuds Vorahnung und Präfiguration dieser Sprachstrukturiertheit ist das Auftauchen eines neuen Diskurses über die Körper. „Dadurch daß Körperbewegungen aufgezeichnet, analysiert und bearbeitet werden konnten, konnte ein neuer Diskurs über Körper verhängt werden, der das Reale des Zitterns und Schwankens zur Realität einer Diagnose führte.“36 Die Wissenschaft von den Körpern und die Wissenschaft von den Symbolen, Laboratorium und Studierzimmer, sind verbunden durch ein logisches „und“. Ganz sicher hatte die Vielzahl der Kollegen und Lehrer des frühen Freud das Kommando des radikal materialistischen Denkens auf der Basis der experimentellen Physik und Chemie respektvoller und zugleich leichtfertiger verinnerlicht: Jede psychologische Behauptung muss physikalisch-experimentell fundamentiert werden. Ganz sicher konnten sie sich aus diesem Grunde mit größerer Unbefangenheit und Überzeugung ihren Forschungen widmen, glaubten sie doch im Gegensatz zu Freud, mit ihren Messergebnissen ein positives Wissen von ihrem Gegenstand zu etablieren, waren sie doch weniger von jenem Unbehagen und der bis an Paragnosie rührenden Ahnung von Tod und Schicksal behindert. Ganz sicher waren sie, anders als Freud, nicht all diesen Zweifeln, Ängsten und im Traum noch insistierenden Gedanken* ausgeliefert. Sie hatten möglicherweise einen robusteren Schlaf und vermochten die Bresse-Taube mit Wirsingblatt im Bischoff am See zu goutieren, ohne gleichzeitig von revelatorischen alltagspathologischen Gedanken hinsichtlich der Tischgespräche oder der Manieren der Tischgesellschaft besetzt zu sein. Wundt wäre, hätte er sich mit der Gabel an der rosigen Tischdekoration anstatt am eigenen Wirsingblatt vergriffen, sicher nicht in Gedanken 35 Zu Charcots Hysterie-Studien vgl. Charcot 1874; Charcot 1893; Braun 1985;

Medicus 1989; Schuller 1990; Schneider 1985 und Schneider 1994. Was Fechners Psychophysik betrifft, so sei vewiesen auf: Fechner 1860; Arendt 1999; Buggle/Wirtgen 1969; Dupéron 2000; Heidelberger 1993 und 2000; Lennig 1994; Riepe 2001 und 2002 sowie Schröder 1991. 36 Holl 2002: 171.

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über „Opferhandlungen, bestimmt, das Schicksal zu erweichen, Unheil abzuwehren u. dgl.“37 versunken, er wäre, mit Freud, nicht zur Deutung übergegangen.38 Flechsig setzte, nachdem er sich augenrollend an der ersten Gräte verschluckt hatte, den Genuss seines Seehechts mit Thymian und Oliven unbeirrt fort, ohne zu überlegen, dass „unsere Fehlleistungen die Ausübung aller jener frommen und abergläubischen Gebräuche [ermöglichen], die wegen des Sträubens unserer ungläubig gewordenen Vernunft das Licht des Bewußtseins scheuen müssen“39. Hermann von Helmholtz, Carl Ludwig, JeanMarcot Charcot, sicher war ihre Haltung professoraler, ihre Ichfunktion majestätischer, postmortal bis hin zu Statuen und Marmorbüsten, größere Souveränität gegenüber dem wissenschaftlichen Objekt. Bei Freud war die Verbindung zwischen Laboratorium und Arbeitszimmer weniger narbenlos, glatt, gesichert, jovial. Er konnte nicht mit solch unerschütterlicher Ruhe experimentell gewonnene Messergebnisse intabulieren, er konnte nicht mit der Gelassenheit von Salpêtrière-Experimentatoren das Laboratorium verlassen, um unmittelbar darauf im Abeitszimmer zu protokollieren: „Besondere Sensibilität: Das Ticktack einer an das linke Ohr gehaltenen Uhr wird kaum wahrgenommen; vom rechten Ohr wird es aus 10 Zentimeter Entfernung gehört. Gesicht: W. erkennt links nur rot; rechts verfügt sie über alle Farben außer violett. Geruch: fehlt links, rechts ein wenig gemindert. Geschmack: Salz, Zucker, Peffer, Koloquinte werden weder auf der einen noch auf der anderen Seite geschmeckt.“40

Bei Freud liegt zwischen der chronometrischen oder experimentellen Musterung im Labor und der ätiologisch sicheren Notiz zum Befund im Arbeitszimmer nicht jener homogene Übergang, Freud sagte nur, Unwegbarkeiten anstelle von Übergängen ausgesetzt, „ich befinde mich einen Moment lang in der interessanten Lage, nicht zu wissen, ob das, was ich mitteilen will, als längst bekannt und selbstverständlich oder als völlig neu und befremdend gewertet werden soll“41. Freuds unauslotbarer, ab-ort-artiger Aufenthaltsort lag eher zwischen den Schauplätzen, zwischen dem Labor und dem Studierzimmer, und seine Theorie, die Theorie des Unbewussten, hatte nicht viel von dem, was der Prototyp des Forschers voll Selbstbewusstsein als seine Theorie lanciert.42

37 Freud 1999: IV 194. 38 Vgl. Freud 1999: XI 83: „Deuten heißt einen verborgenen Sinn finden; davon

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kann bei dieser Einschätzung der Traumleistung natürlich keine Rede sein. Sehen Sie die Beschreibung des Traumes bei Wundt, Jodl und anderen neueren Philosophen nach; sie begnügt sich mit der Aufzählung der Abweichungen des Traumlebens vom wachen Denken in einer den Traum herabsetzenden Absicht, hebt den Zerfall der Assoziationen, die Aufhebung der Kritik, die Ausschaltung alles Wissens und andere Zeichen geminderter Leistung hervor.“ Freud 1999: IV 194. IPS 1879/80: 26. Freud 1999: XIV 59. Vgl. Freud 1999: XIII 211-213 und 405-410.

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6.4 Prophetie und Fatalismus Freuds Theorie war alles andere als eine solche ausgemachte Sache, keine in sich ruhende und terminologisch sicher befestigte Erkenntnisleistung, nicht das Produkt einer abgeschlossenen Bewusstseinsleistung. Anders als viele seiner Zeitgenossen war er beherrscht von Selbstzweifeln, Unsicherheiten, von Demut, um nur einen anderen Begriff zu benutzen. Unentwegt korrigiert er sich selbst, nimmt sich zurück, revidiert, macht sich Vorwürfe aufgrund voreiliger Schlüsse und dadurch bedingter Irrtümer. „Ich vermute daher, wiederum mit aller Zurückhaltung, die der Unwissenheit geziemt“43, so eine von Freuds charakteristischen Artikulationen, andernorts die so selbstkritische wie besessene Hingabe an die Wiederholung: „So fängt unsere Arbeit erst nach der Lösung des Problems von neuem an“44, oder er betont: „aber auch unser Aufbau ist noch unfertig“ und spricht „von den vielen Unklarheiten [...], die wir durch unser Vordringen in das Dunkel der Psychologie auf uns gezogen haben“45, und schließlich, ein weiterer Klang aus der Freud’schen Melodie bescheidener, aber nicht unwissenschaftlicher Zurückhaltung, ein Auszug aus seinen Vorlesungen: „Es ist mehr als die gebräuchliche Redensart, wenn ich bekenne, daß die vielen Mängel der Vorträge, die ich Ihnen gehalten habe, mich selbst empfindlich bedrücken. Vor allem tut es mir leid, daß ich so oft versprochen habe, auf ein kurz berührtes Thema an anderer Stelle wieder zurückzukommen, und dann hat der Zusammenhang es nicht ergeben, daß ich mein Versprechen halten konnte. Ich habe es unternommen, Ihnen von einer noch unfertigen, in Entwicklung begriffenen Sache Bericht zu geben, und meine kürzende Zusammenfassung ist dann selbst eine unvollkommene geworden. An manchen Stellen habe ich das Material für eine Schlußfolgerung bereit gelegt und diese dann nicht selbst gezogen.“46

Immer wieder werden Komplikationen in scheinbar einfache Sachlagen eingetragen: „Wir sehen eben, alles Interesse für ein Problem ist unzureichend, wenn man nicht auch einen Weg kennt, den man einschlagen kann, daß er zur Lösung hinführe. Wir haben diesen Weg bis jetzt nicht. Die experimentelle Psychologie hat uns nichts gebracht als einige sehr schätzbare Angaben über die Bedeutung der Reize als Traumanreger. Von der Philosophie haben wir nichts zu erwarten, als daß sie uns neuerdings hochmütig die intellektuelle Minderwertigkeit unseres Objekts vorhalte; bei den okkulten Wissenschaften wollen wir doch keine Anleihe machen.“47

Er scheut sofort, will man ihn in die Vereinbarung einbinden, seine Theorie als vollständige und abgeschlossene zu signieren, und beharrt stattdessen, dass wir jede „Verpflichtung von uns weisen, auf den ersten Anlauf eine glatte und durch Einfachheit sich empfehlende Theorie zu erreichen. Wir vertre43 44 45 46 47

Freud 1999: I 290. Freud 1999: XI 38. Freud 1999: II/III 597. Freud 1999: XI 482. Freud 1999: XI 94.

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ten deren Komplikationen, solange sie sich der Beobachtung adäquat erweisen, und geben die Erwartung nicht auf, gerade durch sie zur endlichen Erkenntnis eines Sachverhaltes geleitet zu werden, der, an sich einfach, den Komplikationen der Realität gerecht werden kann“48. Die Warnung vor dem Konsum des Verstehbaren ergeht, bevor sie bei Lacan zur berühmt-berüchtigten Parole wird, von seiten Freuds, der sagt: „Ich bitte Sie aber, davon nicht zuviel verstehen zu wollen. Es ist ein Stück Deskription, welches mit ruhiger Aufmerksamkeit angehört werden soll“49. Und an späterer Stelle: „Ich verstehe das alles sehr gut, aber ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, es auch für Sie verständlich zu machen. Auch habe ich Schwierigkeiten, es Ihnen zu beweisen.“50 Was bezweckt Freud nun mit dieser Aussage, die es Bärlauch, Schnietzfurt und anderen selbstgefälligen Vertretern des akademischen Diskurses scheinbar leicht macht, die Psychoanalyse zu disqualizieren und deren Begründer eines Defizits an Kohärenz und Beweiskraft zu überführen? Was bringt ihn dazu, sich in einer von ihm selbst in ihrer Bedrohlichkeit und Schakalhaftigkeit erkannten gesellschaftlichen und wissenschaftspolitischen Lage51 so zu exponieren, sich in solcher Verletzlichkeit, beinahe Abschussbereitschaft zu stellen anstatt sich und seine Theorie mit einer mehrmotorigen Ichfunktion auszustatten und zu empfehlen ? Die Antwort auf diese Fragen würde sich eigentlich erübrigen, aber um an dieser Stelle einem möglichen Nichterkennen der Wiederholung vorzubeugen, soll an die im 4. Kapitel, dort aus dem Blickwinkel Lacans dargelegte Beziehung zwischen Wissenschaft und Psychoanalyse bzw. an den besonderen Status der Psychoanalyse als Wissenschaft erinnert werden. Einerseits bezieht sich die Psychoanalyse wie jede andere Wissenschaft auf ein bestimmtes Objekt, in ihrem Fall ist es das Unbewusste. Aber auf der anderen Seite liegt gerade in diesem ihrem Objekt, im „Unbewussten als solchen“, insofern dieses sich von den Objekten anderer Wissenschaften, hießen sie Atom oder Seele, fundamental unterscheidet, der Grund für den genannten besonderen Status der Psychoanalyse. Darin der Grund für den quasi innerdynamischen, teilweise durch das Objekt im Heidegger’schen Sinne besorgten Schutz vor der Verkennung einer Washeit in einer Dassheit, eines Subjekts in einem Objekt, einer Verkennung, für die jede andere Wissenschaft aus inneren konstitutiven Gegebenheiten weitaus anfälliger ist. Darin der Grund für jene andauernde Verunsicherung, für die beharrende Notwendigkeit zur Zurücknahme und Restitution der von der Psychoanalyse aufgestellten Thesen und Modelle, wodurch jedoch genau die für die Analyse wesentliche Immunisierung gegen die Ausrufung vermeintlich unantastbarer, de facto jedoch transienter und imaginärer Wahrheiten bedingt wird. Darin der Grund 48 49 50 51

Freud 1999: X 289. Freud 1999: XI 174. Freud 1999: X 230. Vgl. Freud 1999: XI 8: „Sollte sich aber gar jemand unter Ihnen finden, der sich nicht durch eine flüchtige Bekanntschaft mit der Psychoanalyse befriedigt fühlte, sondern in eine dauernde Beziehung zu ihr treten möchte, so werde ich ihm nicht nur abraten, sondern ihn direkt davor warnen. Wie die Dinge derzeit stehen, würde er sich durch eine solche Berufswahl jede Möglichkeit eines Erfolges an einer Universität zerstören, und wenn er als ausübender Arzt ins Leben geht, wird er sich in einer Gesellschaft finden, welche seine Bestrebungen nicht versteht, ihn misstrauisch und feindselig betrachtet und alle bösen, in ihr lauernden Geister gegen ihn losläßt.“

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für Freuds bis an schonungslose Selbstkritik reichende Zurückhaltung, in der doch nur der bereits ausgeführte und hier wieder-ge-holte Wunsch sich ausspricht, den Lacan an die Geistes- sowie die Naturwissenschaften adressiert: der Wunsch nach Interdisziplinarität, nach einer produktiven Rückkopplung, nach einer Dialektisierung von Wissenschaft und Psychoanalyse. Freud nimmt also, versichernd, dass er „bereit [sei], mit [seinem] Glauben über die Beweiskraft [seiner] bisherigen Erfahrungen hinauszugehen“52, Lacans Wunsch vorweg, oder, denn schließlich wird die Theorie und Praxis der Wiederholung durch die „Rückkehr zu Freud“ dynamisiert, dieser wiederholt eine von Freud instigierte Operationalität der Begriffe und des Wissens: „Es gibt da noch viel zu erforschen und zu diskutieren. Aber ich bin zufrieden, wenn Sie aus unseren bisherigen Erörterungen darüber eine gewisse Erschütterung Ihrer bisherigen Anschauungen und einen Grad von Bereitschaft für die Annahme neuer gewonnen haben. Im übrigen bescheide ich mich, Sie vor einer ungeklärten Sachlage zu belassen.“53 Ist die traditionelle Wissenschaft, unbeirrt durch ihre eigenen Fehlhandlungen und unangetastet vom Verdacht auf Neurose, bestrebt, den ihr zugeordneten Objektbereich diskursiv und mit imperialen phantasmatischen Ansprüchen zu kolonisieren, so geht es der Psychoanalyse darum, dieser Überhebung von possessiven Wahrheiten und der damit verbundenen Unsensibilität eines autonomen Ego gegenüber Botschaften vom Anderen Schauplatz ein Ende zu bereiten. Damit will Freud jedoch so wenig den wissenschaftlichen Fortschritt subvertieren, wie er sich selbst in den sich wiederholenden Nachfragen, ob „Ihnen das, was ich Ihnen sage, nicht zu dunkel und kompliziert [ist]“ und ob „ich Sie nicht dadurch, daß ich so oft zurücknehme und einschränke, Gedankengänge anspinne und dann fallen lasse, [verwirre]“54, die Eignung als psychoanalytischer Wissenschaftler in Lehre und Forschung absprechen will. Aber wie Lacan, vor Lacan erkennt Freud, dass Wissenschaft, zumindest wenn sie nicht im Geiste der Zwangsneurotiker Bärlauch und Schnietzfurt, sondern des Hysterikers Hegel betrieben wird55, nicht die mit professoraler Intumeszenz resonierende Antwort an die erste Stelle setzen darf, sondern im Gegenteil der Frage den Vorzug einräumen muss. Was denkt die schwarze Katze? Wie eine Geschichte über die Theorie und Praxis einer Wiederholung wiederholen? Wie, wo, wann den Einstieg finden in diese Zirkulation von Wiederholungen, in die Spirale, die Schwindel erzeugt und das Bewusstsein verlieren macht? Lacan fragen, und Lacan antwortete: Freud fragen. Und was sagt Freud? „Wir sehen sofort weitere Fragen auftauchen und ahnen überhaupt, daß sich um so mehr Anlässe zu neuen Fragen ergeben werden, je weiter wir im Verständnis kommen“56. Die Frage, die – mit Hegel – durch das iterative Scheitern an der Wahrheit in die Insistenz gerufene Frage, ist das Movens der Wissenschaft, und zugleich ist sie das Passwort zu all jenen, für den konformistischen Wissenschaftler so Freud 1999: I 435. Freud 1999: XI 75. Freud 1999: XI 291. Lacan differenziert in seiner Wissenschaftstheorie harsch zwischen dem Diskurs des Wissens bzw. der Akademie, der durch die Zwangsneurose automatisiert wird, und dem Diskurs der Wissenschaft; dieser entspricht dem Zustandsbild der Hysterie, und sein erster Verteter ist Lacan zufolge Hegel. Vgl. Lacan 1991a: 167; Lacan 1988: 39; Lacan 1991c: 31-61 und 191-226. 56 Freud 1999: XI 61. 52 53 54 55

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ganz und gar untypischen und deplazierten Kommentaren Freuds, die oben Revue passiert sind. Wenn Freud sagt: „Indem ich den Versuch wagte, tiefer in die Psychologie der Traumvorgänge einzudringen, habe ich eine schwierige Aufgabe unternommen, welcher auch meine Darstellungskunst kaum gewachsen ist. Die Gleichzeitigkeit eines so komplizierten Zusammenhangs durch ein Nacheinander in der Beschreibung wiederzugeben und dabei bei jeder Aufstellung vorausseztungslos zu erscheinen, will meinen Kräften zu schwer werden.“57

, so liegt hierin kein Eingeständnis seines eigenen Ungenügens, sondern vielmehr höchster Respekt vor jenem „Gegenstand“, der die Psychoanalyse zum einen von herkömmlichen, sich mit Atomen oder Seelen beschäftigenden Wissenschaften segregiert, der sie jedoch andererseits zum unverzichtbaren dialektischen Supplement einer jeden, grundsätzlich durch ein unbewusstes Begehren angetriebenen Wissenschaft macht. Wenn er sagt: „Die Wichtigkeit und Unübersichtlichkeit des Gegenstandes möge nun die Anfügung von einigen anderen Sätzen in loserer Anordnung rechtfertigen“58, dann versucht er nicht, sich mit unreellen, Rechenschaft schuldig bleibenden Methoden aus der Affäre zu ziehen. Und wenn er sagt: „Ich [gab] Ihnen weitläufige, schwer übersehbare Theorien, die nie vollständig waren, zu denen immer noch etwas Neues hinzukam, arbeitete mit Begriffen, die ich Ihnen noch nicht vorgestellt hatte, fiel aus der deskriptiven Darstellung in die dynamische Auffassung, aus dieser in eine sogenannte ökonomische, machte es Ihnen schwer zu verstehen, wie viele von den angewendeten Kunstworten dasselbe bedeuten und nur aus Gründen des Wohllautes miteinander abwechseln“59,

dann will er sich darin nicht implizit einer Oberflächlichkeit, eines Mangels an Überzeugung und einer Inkohärenz überführen, sondern mit der Methode des Durcharbeitens und der Wiederholung, der Offenheit und Bereitschaft zur Revision auf operative Weise vertraut machen. Und nicht zuletzt, womit dieser Exkurs zur Theorie und Praxis von Frage und Wiederholung beendet und die Fahndung nach dem Unbewussten bei der Psychophysik fortgesetzt werden soll, gibt es auch einen ganz anderen Freud, kämpferisch und inkorrumpierbar der von ihm gemachten Entdeckung verschrieben, der jedem Zweifel, ob er am Ende selbst seinen Ansatz zu unwissenschaftlicher Spekulation degradieren könnte, ein Ende macht. „Wie immer“, so spricht er voller Stolz, „Sie meine Resultate aufnehmen mögen, ich darf Sie bitten, dieselben nicht für die Frucht wohlfeiler Spekulation zu halten. Sie ruhen auf mühseliger Einzelerforschung der Kranken, die bei den meisten Fällen hundert Arbeitsstunden und darüber verweilt hat.“60 Und an anderer Stelle weitere klare Botschaften aus dem nur von diskreten Gespenstern benachbarten Geisterhaus, das Freud, die Ehre und Überzeugung haltend trotz aller Verlorenheit und Götterdämmerung, nicht verlassen hätte zugunsten eines warmen Zimmers in der Villengegend einer geschlossenen wissen57 58 59 60

Freud 1999: II/III 593. Freud 1999: X 167. Freud 1999: XI 392f Freud 1999: I 458.

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schaftlichen Gesellschaft, die ihn sehr schnell sachliche und bequemere Begründungen des Unbewussten in einem anderen Zusammenhang hätte finden lassen: „Ein Anrecht auf Überzeugung hat erst derjenige, der ähnlich wie ich viele Jahre lang an demselben Material gearbeitet und dabei dieselben neuen und überraschenden Erfahrungen selbst erlebt hat. Wozu denn überhaupt auf intellektuellem Gebiet diese raschen Überzeugungen, blitzähnlichen Bekehrungen, momentanen Abstossungen? Merken Sie nicht, dass der „coup de foudre“, die Liebe auf den ersten Blick, von einem ganz verschiedenen, affektiven Gebiet hergenommen sind? Wir verlangen nicht einmal von unseren Patienten, daß sie eine Überzeugung oder Anhängerschaft an die Psychoanalyse mitbringen. Das macht sie uns oft verdächtig. Eine wohlwollende Skepsis ist uns die erwünschteste Einstellung bei ihnen.“61

Wie in dieser nie endenen Kolonne von Fragen vom Verbleib des Schlüssels über das Omen, das zwischen An und Aus oszillierende Gerät bis hin zum wissenschaftlich soliden Einstieg und Ausgang in die Wiederholung auch noch die Kolonne von Freud-Zitaten legitimieren, die diese Passagen füllen? Wie vor Bärlauch und Schnietzfurt eine sachliche und bequeme Begründung für eine Konglomeration von Zitaten finden? Wie die Reserve vor einer nur scheinbar professionellen und kursorischen Summation von Freuds Reserve verlieren? Ende mit dem Piangendo und im Text fortfahren – aber doch nicht ohne, zu groß ist die Versuchung, noch einmal Freud sprechen zu lassen, wie nur Freud sprechen konnte. Er hatte im Vorlauf zu Lacan die in den Villen und an den Lehrstühlen herrschende „Perfidie“62 des akademischen Diskurses so gut durchschaut, dass es einfach frevelhaft wäre, ihn zu „kubieren“.63 „Ich kann ferner geltend machen, daß ich im Laufe meiner Arbeiten meine Ansichten über einige wichtige Punkte modifiziert, geändert, durch neue ersetzt habe, wovon ich natürlich jedesmal öffentlich Mitteilung machte. Und der Erfolg dieser Aufrichtigkeit? Die einen haben von meinen Selbstkorrekturen überhaupt nicht Kenntnis genommen und kritisieren mich noch heute wegen Aufstellungen, die mir längst nicht mehr dasselbe bedeuten. Die anderen halten mir gerade diese Wandlungen vor und erklären mich darum für unzuverlässig. Nicht wahr, wer einige Male seine Ansichten geändert hat, der verdient überhaupt keinen Glauben, denn er legt es zu nahe, daß er sich auch mit seinen letzten Behauptungen geirrt haben kann? Wer aber an dem einmal Geäußerten unbeirrt festhält oder sich nicht rasch genug davon abbringen lässt, der heißt eigensinnig und verrannt. Was kann man angesichts dieser einander entgegengesetzten Einwirkungen der Kritik anderes tun als bleiben, wie man ist, und sich benehmen, wie das eigene Urteil es billigt? Dazu bin ich auch entschlossen und ich lasse mich nicht abhalten, an all meinen Lehren zu modeln und zurechtzurücken, wie es meine fortschreitende Erfahrung erfordert.“64

61 Freud 1999: XI 250. 62 Lacan 1991a: 186. 63 Vgl. Lacan 1996: 250: „Freud überwindet man nicht. [...] Man bewegt sich im

Innern. Man läßt sich führen von dem, was er uns an Ausrichtungen gegeben hat. Was ich Ihnen hier gebe, das ist der Versuch, die Essenz einer Erfahrung zu fassen, soweit sie von Freud angeleitet wurde. Es ist in keiner Weise ein Versuch, Freud zu kubieren oder ihn zu resümieren.“ 64 Freud 1999: XI 251f.

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Freud gab sich niemals als Herr eines Diskurses, er präsidierte niemals eine akademische Firma namens Wahrheit, im Gegenteil, er war reserviert, fatalistisch, saturnisch, er brachte nur ungute Gefühle auf für alle hellenischen Wahrheiten. Er hat stets nur Dämmerlichtfarben gesehen, Zweifel, Ungewissheiten, Nebelwände, und hinter diesen Nebelwänden die Symptome, Zuckungen, die Meldungen des Unbewussten, Würgmale vergangener Traumata, Unheilbarkeiten. Er war kein Herr, er war kein Fortschrittsoptimist, es gab die Totenmasken und die präkolumbianische Grabwächterstatue, womöglich auch einen antiken Porzellanaugur, einen Apothekerschrank aus Mahagoni, eine hölzerne Ganeshi-Statue, ein Medusenhaupt aus Bronze und Laren, Lemuren, Manen aus schwarzem Granit. Aber es ist unwahrscheinlich, dass ein Thanksgiving-Engel aus den USA Happiness verbreitete65, unwahrscheinlich auch die spielerische Harmonie von Amethyst-Bäumchen, Quarzvögeln, Organzakissen, florentinischen Engeln und einer Meissener Konkordia. „Ich bedaure es, aber es ist eine Tatsache, Freud war nicht fortschrittsgläubig, und zwar in keiner Weise, es gibt in diesem Zusammenhang sogar außerordentlich skandalöse Sachen bei ihm. So geringer Optimismus bezüglich der durch die Massen eröffneten Perspektiven mag sicher vor den Kopf stoßen, wenn er aus der Feder eines unserer Führer kommt, es ist aber notwendig, daß auf ihn hingewiesen wird, wenn man wissen will, woran wir sind.“66

Der Psychiater Sigmund Freud verstieg sich nicht dazu, seine Theorie zu repräsentieren, sondern teilte Ahnungen mit, allerdings leidenschaftliche und überzeugte Ahnungen von jenem es, das wir bis heute nicht kennen, über dessen Existenz bis heute kein Beweis vorliegt, nicht die Spur eines Beweises, nur Spuren. Freuds Existenz konterkariert, zumindest wenn man den Elogen und den Loipen von Lacans „Rückkehr“ folgt, ein klein wenig, fast unmerklich, das (auch in diesem Buch vertretene) medienarchäologische Theorem von der strengen Determiniertheit des menschlichen Subjekts durch das jeweilige historisch-mediale Apriori. Im Fall Freuds ist da ein klein wenig – eine Art Spiritismus. Er konterkariert es, um es zugleich auf einer höheren Potenzebene zu bestätigen, denn das Mediale, das sind – und genau das zeigt die Psychoanalyse und transzendiert damit eine sich stets in gefährlicher Nähe von Technokratie aufhaltende Medientheorie –, das Mediale, das sind nicht nur die technischen Medien, die Apparate, die sterilen Geräte aus Metall und mit Antennen. Antennen? Über die Polysemie dieses Signifikanten – Antennen – lässt der Dreh sich machen. Antennen, so könnte man sagen, gehören nicht nur zur Ausrüstung nachrichtentechnischer Geräte, vielmehr hatte 65 Vgl. Lacan 1996: 21: „[...] ich brauche Sie nicht an die Geschichte der aus

Deutschland nach Amerika eingewanderten Person zu erinnern, die gefragt wird – Are you happy? – Oh yes, I am very happy. I am really very, very happy, aber nicht glücklich! Freud übersieht nicht, daß das Glück für uns etwas ist, das als Ziel alles Suchens, und sei es ein noch so ethisches, gelten muß. Was jedoch entscheidend ist und nicht genug erkannt wird in seiner Bedeutung – unter dem Vorwand, daß man einem Mann nicht mehr zuhört von dem Augenblick an, wo er sein Gebiet im eigentlichen technischen Sinne zu verlassen scheint –, was ich im Unbehagen in der Kultur lesen möchte, ist, daß, wie Freud uns sagt, auf dieses Glück absolut nichts vorbereitet, weder im Makrokosmos noch im Mikrokosmos.“ 66 Lacan 1996: 222.

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auch Freud selbst Antennen, Freud selbst, das Unbewusste Freuds, die in Freuds Körper pulsierende Botschaft. Das Mediale also – das sind nicht nur Geräte aus Metalldraht, Kurbeln, Tasten und Schaltern. Das Mediale umfasst seit der Experimentalwissenschaft, die bis zur Sucht von Ruhmkorffs und anderen chronometrischen Apparaten präokkuppiert war, nicht zuletzt die menschlichen Körper – Träger von Botschaften, die den jeweiligen Bewusstseinsfunktionen der Körper völlig unbekannt waren. Unbewusst. Freud hätte die Botschaft nicht empfangen, er hätte das Freud’sche-unddas-sprachstrukturierte-Unbewusste nicht ergründen können, hätte er nicht im unmittelbaren Umfeld des medizinisch-psychiatrischen Laboratoriums als Arzt praktiziert, hätte er nicht Histologie und Neurophysiologie studiert, wäre sein Denken nicht formatiert worden durch die experimentelle Psychologie und Physiologie. Bestimmend für Freuds Apriori war zunächst der für das Denken des 19. Jahrhunderts typische Diskurs: „Der Arzt hat dem Körper gegenüber die Einstellung jenes Herrn, der eine Maschine demontiert. Da wird man ruhig prinzipielle Erklärungen abgeben können, diese Einstellung ist radikal. Davon ist Freud ausgegangen, und das ist’s, was sein Ideal war – pathologische Anatomie treiben, anatomische Physiologie, entdecken, wozu dieses komplizierte Apparätchen dient, das da im Nervensystem verkörpert ist. “67

Eine Rekonstruktion des Freud’schen-und-des-sprachstrukturierten-Unbewussten erfordert den Rekurs auf die in den Ereignissen der Experimentalphysiologie und -psychiatrie statthabenden ersten Meldungen des Unbewussten, des verzeitlichten Seins. Auch wenn erst Freud die Botschaft erhören und in umgekehrter Form an Lacan kommunizieren wird. Das ändert nichts daran, dass Freud, Lacan hat es explizit gesagt, Arzt war. Das sind die Fakten. Von 1872 bis 1883 legt er ein Medizinstudium an der Wiener Universität ab, spezialisiert sich in den Fachbereichen Histologie und Neurophysiologie, der Lehre von den organischen Geweben und dem Nervensystem, wird unter anderem von dem als Begründer des Materialismus in der Psychologie in die Geschichte eingegangenen Physiologen Ernst Brücke ausgebildet68 und erbringt in dieser Zeit einige wichtige Pionierarbeiten über Nervenzellen. Freud selbst erinnert sich in seiner Selbstdarstellung positiv an diese Zeit: „Im physiologischen Laboratorium von Ernst Brücke fand ich endlich Ruhe und volle Befriedigung, auch die Personen, die ich respektieren und zu Vorbildern nehmen konnte. Brücke stellte mir eine Aufgabe aus der Histologie des Nervensystems, die ich zu seiner Zufriedenheit lösen und selbständig weiterführen konnte. Ich arbeitete in diesem Institut von 1876-1882 mit kurzen Unterbrechungen und galt allgemein als designiert für die nächste sich dort ergebende Assistentenstelle.“69

Die Hoffnung findet keine Erfüllung. Auf Brückes Rat hin, der Freud mit schonungsloser Ehrlichkeit damit konfrontiert, dass seine Aufstiegschancen im akademischen Bereich als Jude denkbar gering seien, praktiziert Freud von 1882 bis 1885 als Assistenzarzt am Wiener Allgemeinen Krankenhaus, um die Voraussetzung für die Eröffnung einer privaten Praxis zu erlangen. 67 Lacan 1991b: 97. 68 Vgl. Gay 1989: 40-45. 69 Freud 1999: XIV 35.

206 ſ DISKRETE GESPENSTER „Die Wendung kam 1882, als mein über alles verehrter Lehrer [Brücke, Anm. d. Verf.] den großmütigen Leichtsinn meines Vaters korrigierte, indem er mich mit Rücksicht auf meine schlechte materielle Lage dringend mahnte, die theoretische Laufbahn aufzugeben. Ich folgte seinem Rate, verließ das physiologische Laboratorium und trat als Aspirant in das Allgemeine Krankenhaus ein. Dort wurde ich nach einiger Zeit zum Sekundararzt (Interne) befördert und diente an verschiedenen Abteilungen, auch länger als ein halbes Jahr bei Meynert, dessen Werk und Persönlichkeit mich schon als Studenten gefesselt hatten.“70

Auch Meynert interveniert mit seinen Vorstellungen und Plänen für den weiteren Karriereverlauf in Freuds Leben, aber im Unterschied zu Brückes fairer und pragmatisch motivierter Inblicknahme der politischen und wissenschaftspolitischen Lage sind Meynerts Ratschläg tendenziöser und massiv durch eigene Interessenbildung getragen. Sie erweisen sich so weniger als wohlwollende Empfehlungen, als vielmehr als Versuche einer Lenkung, eines manipulativen Eingriffs in Freuds Biografie. Als hätte Meynert den Entdecker des Unbewussten wie ein aus der Zukunft kommendes Phantombild vor sich gesehen, wollte er ihn vom Sprechzimmer endgültig ins Laboratorium, Sektion Neuropathologie, dirigieren. Freud, bereits zu diesem Zeitpunkt sensibilisiert für Botschaften zwischen Physis und Psyche, zwischen Labor und Couch, ist diese Hintersinnigkeit nicht entgangen. „Ich war nun ein ebenso eifriger Arbeiter im gehirnanatomischen Institut wie früher im physiologischen. Kleine Arbeiten über Faserverlauf und Kernursprünge in der Oblongata sind in diesen Spitalsjahren entstanden und immerhin von Edinger vermerkt worden. Eines Tages machte mir Meynert, der mir das Laboratorium eröffnet hatte, auch als ich nicht bei ihm diente, den Vorschlag, ich solle mich endgiltig der Gehirnanatomie zuwenden, er verspreche, mir seine Vorlesung abzutreten, denn er fühle sich zu alt, um die neueren Methoden zu handhaben. Ich lehnte, erschreckt durch die Größe der Aufgabe, ab; auch mochte ich damals schon erraten haben, daß der geniale Mann mir keineswegs wohlwollend gesinnt sei.“

Nichtsdestoweniger hat die ein knappes halbes Jahr 1883 andauernde Arbeit in der Psychiatrischen Klinik bei Theodor Meynert, bei aller Ambivalenz der Persönlichkeit der bedeutendste Gehirnanatom und Neuropathologe dieser Zeit, Freud zur Spezialisierung in der Neuropathologie bewegt71 und ihn so für die spätere Rezeption der Studien Flechsigs vorbereitet. Im Wintersemester 1885/86 verbringt Freud als Stipendiat die legendären 19 Wochen bei Jean-Martin Charcot, dem ruhmvollen Neurologen und Direktor der Salpêtrière. Der kompromisslose Materialist Charcot hinterlässt ein lebenslanges Nachbild in Freuds Gedächtnis, die innovativen Theorien und Präsentationen der Hysterie prägen Freud tief und übertragen die ersten Impulse auf den späteren Psychoanalytiker. Nach erfolgreicher Beendigung des Studiums ist Freud als Assistenzarzt bei dem Internisten und Chirurg Hermann Nothnagel tätig72, zu dem er ein gutes und vertrauensvolles Verhältnis hat. Nothnagel schickt später Patienten zu Freud73, unterstützt Freuds Professur74, und Freud 70 71 72 73

Freud 1999: XIV 35. Vgl. Gay 1989: 54-67. Vgl. Gay 1989: 40f und 59. Vgl. Gay 1989: 67.

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geht bei der Beschäftigung mit Spezieller Pathologie und Therapie sehr auf die Anregungen Nothnagels ein75. Von Paris aus kehrt er nicht direkt nach Wien zurück, sondern „[ich hielt] mich einige Wochen in Berlin auf, um mir einige Kenntnisse über die allgemeinen Erkrankungen des Kindesalters zu holen.“ Auf Betreiben von Kassowitz, Leiter eines öffentlichen Wiener Kinderkrankeninstituts, hin hat der Berliner Klinikchef Baginsky Freud eine eigene Abteilung für Nervenkrankheiten bei Kindern eingerichtet. Freud erinnert sich an die „freundliche Aufnahme und Förderung“76, die ihm hier entgegengebracht wird und die ihn für einen Moment zu ernsthaften Überlegungen bezüglich einer Niederlassung in Berlin bewegt77. Übrigens wird auch die Protektion von Kassowitz durch streng medizinisch dominierte Arbeiten Freuds angeregt, genauer durch die ersten beiden Publikation über Aphasie – hier bezieht sich Freud auf die zu seiner Zeit blühende Erforschung des cerebralen Sprachzentrums anhand von Gehirnschädigungen78 – sowie über die infantile zerebrale Paralyse.79 Histologie, Neurophysiologie, Innere Medizin, Pathologie, Gehirnanatomie – Freud ist völlig in das medizinische Dispositiv um 1900 eingebunden, mit außergewöhnlicher Begabung, Klugheit und Studiertheit und mit zumindest vordergründiger Absorption und Leidenschaft bewegt er sich geschmeidig im Charme der Diskurse, in der aufgehenden Sternenkonstellation der experimentalpsychologischen Wissenschaften. Histologie, Neurophysiologie, Innere Medizin, Pathologie, Gehirnanatomie – und nicht zuletzt Pharmakologie. Und hier wird Freud verwickelt in eine jener tückischen Geschichten, bei denen die Witterung einer sich scheinbar fortschrittsweisend gestaltenden Zukunft in eine böse Falle, auf eine falsche Fährte lockt.80 In den Jahren 1884 bis 1887 untersucht Freud die Wirkung von Kokain und stellt mit Euphorie fest, ein völlig harmloses, als Stimmungsaufheller wie auch als Anästhetikum einsetzbares Wundermittel entdeckt zu haben. Zunächst testet er es an sich selbst, dann verschreibt er es, überzeugt durch eine Wirksamkeit ohne schädliche Nebenwirkungen, seiner Verlobten Martha, und schließlich taucht sein guter Freund, der Physiologe Ernst von Fleischl-Marxow, auf der Bildfläche auf. Fleischl-Marxow leidet an einer bösartigen Geschwulst an der Hand, von solcher Schmerzhaftigkeit, dass er im Verlauf einer sich stetig erhöhenden Einnahme von Morphium süchtig geworden ist. Freud rät seinem Freund, besorgt im Angesicht von dessen Leidensgeschichte, überzeugt und sans soucis zu Kokain. 1885 assistiert er seinen Kollegen Carl Koller und Leopold Königsstein bei einer erfolgreichen Augenoperation an Jakob Freud. Als örtliches Betäubungsmittel wird Kokain verwendet. Dann überschlagen sich die Dinge. Freud eröffnet sich sehr plötzlich die Möglichkeit einer Reise zu Martha, die er zu diesem Vgl. Gay 1989: 158-161. Vgl. Gay 1989: 104. Freud 1999: XIV 38. Vgl. Gay 1989: 436. Vgl. Changeux 1984: 46-50. Vgl. Freud 1999: XIV 38: „Aus dem Kassowitzschen Institut habe ich im Laufe der nächsten Jahre mehrere größere Arbeiten über die einseitigen und doppelseitigen Gehirnlähmungen der Kinder veröffentlicht. Demzufolge übertrug mir auch später 1897 Nothnagel die Bearbeitung des entsprechenden Stoffes in seinem großen „Handbuch der allgemeinen und speziellen Therapie.““ 80 Zu der im folgenden geschilderten Kokain-Affäre vgl. Gay 1989: 55-57; vgl. auch Weibel 2002: 18-23. 74 75 76 77 78 79

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Zeitpunkt seit zwei Jahren nicht gesehen hat. Kurzfristig trifft er die Entscheidung, die Reise anzutreten und die Kokain-Studien zu unterbrechen, nicht ohne zuvor die baldige Vertiefung der Analysen und die Publikation der Ergebnisse anzukündigen und außerdem Königsstein mit der Bitte um weitere Prüfungen anzugehen. Nach seiner Rückkehr erfährt er die bittere Neuigkeit, dass Freund Koller in der Zwischenzeit, voll Hypokrisie und Opportunismus, Freuds Untersuchungen vereinnahmt und den Anspruch für sich erhoben hat, die Anwendungsmöglichkeiten des Kokains entdeckt zu haben. Eine kurzandauernde Zerschmetterung über die Infamie Kollers und die verpasste Chance wird abgelöst durch eine Gefühlsmischung aus großer Erleichterung, dass Koller Freud nolens volens davor bewahrt hat, sein Ansehen zu ruinieren, und die eigenen, wissenschaftliche Sorgfalt und Wachsamkeit betreffenden Selbstanklagen. Denn die Kokain-Affäre explodiert in einen Skandal. Das augenscheinlich so benigne und vielversprechende Mittel zeigt, als 1886 die ersten Fälle von Kokainsucht publik werden, seine janusköpfige Seite als eine Droge mit primärem Abhängigkeitspotential, die ihre Benutzer psychisch und am Ende auch physisch in den Bankrott führt (so auch den mittlerweile rettlos kokainabhängigen Fleischl-Marxow). Eine Fermate, ein Innehalten – was veranlasst diese Passagen, die in ihrer ausführlichen Narrativierung die Argumentation dieses Kapitels, die Lokalisierung von Freuds Diskurs zugleich in und jenseits des experimentalphysiologischen Feldes, zu überrunden, zu verlassen scheinen? Davon abgesehen, dass sich in dieser Episode ein weiteres Mal Freuds früher und nachhaltig prägender Aufenthalt an einem Arbeitsplatz namens Labor dokumentiert, diesmal in seinen pharmakologischen Abteilungen81, sollen diese Absätze auch kurz in ein Themenfeld expedieren, das, wie Appignanesi und Forrester gezeigt haben, Stoff für ein 774 Seiten langes Buch hergibt.82 Nun bietet gerade die Kokain-Geschichte einen Anhaltspunkt, an dem sich eine kurze Anekdote, eine kleine Laterne, zu diesem völlig anderen Themen- und Untersuchungswinkel anknüpfen lässt, ohne jeglichen Anspruch auf Tiefgang und Eintritt in Freuds wissenschaftliche Eruierung der Frau und der weiblichen Sexualität, dafür mit der Warnung vor Überhöhung und Verallgemeinerung. Um die Laterne anzuzünden, ist eine Wiederholung erforderlich, in den Worten und mit dem retrospektiven Blick von Freud selbst. „Im Herbst 1886 ließ ich mich in Wien als Arzt nieder und heiratete das Mädchen, das seit länger als vier Jahren in einer fernen Stadt auf mich gewartet hatte. Ich kann hier rückgreifend erzählen, daß es die Schuld meiner Braut war, wenn ich nicht schon in jenen jungen Jahren berühmt geworden bin. Ein abseitiges, aber tiefgehendes Interesse hatte mich 1884 veranlaßt, mir das damals wenig bekannte Alkaloid Kokain von Merck kommen zu lassen und dessen physiologische Wirkungen zu stu81 Chemisch-pharmakologische Diskursfragmente gehen noch in Freuds späte

Spekulationen zum Unbewussten ein. Vgl. hierzu Freud 1999: X 144: „Drittens muß man sich daran erinnern, daß all unsere psychologischen Vorläufigkeiten einmal auf den Boden organischer Träger gestellt werden sollen. Es wird dann wahrscheinlich, daß es besondere Stoffe und chemische Prozesse sind, welche die Wirkungen der Sexualität ausüben und die Fortsetzung des individuellen Lebens in das der Art vermitteln. Dieser Wahrscheinlichkeit tragen wir Rechnung, indem wir die besonderen chemischen Stoffe durch besondere psychische Kräfte substituieren.“ 82 Appignanesi/Forrester 1994.

KORPSIFIZIERUNG ſ 209 dieren. Mitten in dieser Arbeit eröffnete sich mir die Aussicht einer Reise, um meine Verlobte wiederzusehen, von der ich zwei Jahre getrennt gewesen war. Ich schloß die Untersuchung über das Kokain rasch ab und nahm in meine Publikation die Vorhersage auf, daß sich bald weitere Verwendungen des Mittels ergeben würden. Meinem Freunde, dem Augenarzt L. Königstein, legte ich aber nahe, zu prüfen, inwieweit sich die anästhesierenden Eigenschaften des Kokains am kranken Auge verwerten ließen. Als ich vom Urlaub zurückkam, fand ich, daß nicht er, sondern ein anderer Freund, Carl Koller (jetzt in New York), dem ich auch vom Kokain erzählt, die entscheidenden Versuche am Tierauge angestellt und sie auf dem Ophthalmologenkongreß zu Heidelberg demonstriert hatte. Koller gilt darum mit Recht als der Entdecker der Lokalanästhesie durch Kokain, die für die kleine Chirurgie so wichtig geworden ist; ich aber habe mein damaliges Versäumnis meiner Braut nicht nachgetragen.“83

Wahrhaftig ein generöser Akt. Er hat es Martha nicht nachgetragen. Dass die Reise erstens auf seinem eigenen Entschluss beruht und dass sie, zweitens und noch relevanter, ganz zufällig seinen wissenschaftlichen Ruf vor bleibender Schädigung bewahrt, wird von dem großen Psychoanalytiker eskamotiert. Doch zurück zu den Fakten: Histologie, Neurophysiologie, Innere Medizin, Pathologie, Gehirnanatomie, Pharmakologie. Freud ist Absolvent einer hochrangigen medizinischen Ausbildung, er ist Arzt um 1900, im Ambiente, im Timbre des Laboratoriums. „Als ich als junger Student meine erste wissenschaftliche Arbeit unter der Leitung v. Brückes ausführte, beschäftigte ich mich mit dem Ursprung der hinteren Nervenwurzeln im Rückenmark eines kleinen, noch sehr archaisch gebildeten Fisches. Ich fand, daß die Nervenfasern dieser Wurzeln aus großen Zellen im Hinterhorn der grauen Substanz hervorgehen, was bei anderen Rückenmarktieren nicht mehr der Fall ist. Aber ich entdeckte auch bald darauf, daß solche Nervenzellen sich außerhalb der grauen Substanz an der ganzen Strecke bis zum sogenannten Spinalganglion der hinteren Wurzel vorfinden, woraus ich den Schluß zog, daß die Zellen dieser Ganglienhaufen aus dem Rückenmark in die Wurzelstrecke der Nerven gewandert sind. Dies zeigt auch die Entwicklungsgeschichte; bei diesem kleinen Fisch war aber der ganze Weg der Wanderung durch zurückgebliebene Zellen kenntlich gemacht. Bei tieferem Eingehen wird es Ihnen nicht schwer fallen, die schwachen Punkte dieser Vergleichungen aufzuspüren. Wir wollen es darum direkt aussprechen, daß wir es für jede einzelne Sexualstrebung für möglich halten, daß einzelne Anteile von ihr auf früheren Stufen der Entwicklung zurückgeblieben sind, wenngleich andere Anteile das Endziel erreicht haben mögen.“84

Diese Rhetorik und Thematik, das Aroma des Psycholabors, wird Freud also Zeit seines Lebens mitführen, spät, sehr viel später noch, wenn er an seinem Schreibtisch zwischen einer Lilie in leichenblauer Muranoglasvase und einem Aschenbecher in Delphiform ventiliert, „daß uns jedes physiologische Verständnis dafür [fehlt], auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln sich diese Bändigung des Todestriebes durch die Libido vollziehen mag“85. Es hat 83 Freud 1999: XIV 38f. 84 Freud 1999: XI 352. Zu den neurowissenschaftlichen Grundlagen vgl. Chan-

geux 1984: 53-88. 85 Freud 1999: XIII 376f.

210 ſ DISKRETE GESPENSTER

sicher Wandlungen, Zäsuren, Akzentverschiebungen und vor allem Transgressionen in kulturphilosophische, orphische, thanatologische Bereiche vom frühen neurophysiologisch dominierten Psychiater zum späten, solonischen und doch umso mehr Fragen stellenden Psychoanalytiker gegeben. Aber jede Auslegung dieser Veränderung als eine homogene Entwicklungslinie verbietet sich mit dem Verweis auf die hier leitende und mit zahlreichen Zitaten auf ihre Richtigkeit hin geprüfte These, dass sich Freud nicht von einem frühen zu einem späteren Arbeitsplatz hin entwickelt, sondern dass er vielmehr von Anfang an und bis zum Ende zwischen Labor und Sprechzimmer, Cerebellum und dunklem Kontinent fluktuiert. Beginnt Freud seine Laufbahn als Mediziner in einer materialistisch ausgerichteten Epoche, so kann er doch bereits sehr früh der Tatsache nicht ausweichen, muss er sich eingestehen, dass der Arbeitsalltag in einer Internistenpraxis für ihn als lebenslanger Beruf nicht vorstellbar ist. Dennoch eröffnet Freud im April 1886 eine private Praxis als Neuropathologe in Wien und begegnet den ersten Fällen von mustergültiger Hysterie. Die Zusammenarbeit mit Breuer hat schon vor Jahren begonnen86, der von beiden Freunden gemeinsam reflektierte Fall Anna O. nimmt 1882 seinen Lauf, die Studien über Hysterie erscheinen 1885. Freuds erster Blick in die Schattenwelt des Unbewussten, die erste, in einem neurophysiologischen Duktus kodifizierte Schrift zur Psychoanalyse, der um 1895 niedergeschriebene Entwurf einer Psychologie87, liegen zu dem Zeitpunkt bereits hinter ihm. Das sind die Fakten einer mit einer fundierten medizinischen Grundausbildung beginnenden und später in die Psychoanalyse umschwenkenden Biografie. Dass diese Laufbahn in keiner Weise linear und kontinuierlich verläuft, dass sich Freuds Denken von Anfang an nicht unwidersprüchlich dem Diskurs des Arztes und Naturwissenschaftlers zuordnen lässt, dokumentiert sich in seinem Rückblick auf die Motivation seiner Berufswahl: „Als Kind von vier Jahren kam ich nach Wien, wo ich alle Schulen durchmachte. Auf dem Gymnasium war ich durch sieben Jahre Primus, hatte eine bevorzugte Stellung, wurde kaum je geprüft. Obwohl wir in sehr beengten Verhältnissen lebten, verlangte mein Vater, daß ich in der Berufswahl nur meinen Neigungen folgen sollte. Eine besondere Vorliebe für die Stellung und Tätigkeit des Arztes habe ich in jenen Jugendjahren nicht verspürt, übrigens auch später nicht. Eher bewegte mich eine Art von Wißbegierde, die sich aber mehr auf menschliche Verhältnisse als auf natürliche Objekte bezog und auch den Wert der Beobachtung als eines Hauptmittels zu ihrer Befriedigung nicht erkannt hatte.“88

Was Freud eigentlich in Atem hält und ihn zur Immatrikulation in Medizin veranlasst, sind zwei Autoren, die zumindest auf den ersten Blick nicht gerade ein affines Verhältnis suggerieren – Darwin und Goethe.89 Nun sollen die86 87 88 89

Vgl. Gay 1989: 78-90. Vgl. Wegener 2004; vgl. auch Wittenbecher 1991. Freud 1999: XIV 34. Vgl. hierzu den Fortgang des Zitats aus Freuds Selbstdarstellung, Freud 1999: XIV 34: „Indes, die damals aktuelle Lehre Darwins zog mich mächtig an, weil sie eine außerordentliche Förderung des Weltverständnisses versprach, und ich weiß, daß der Vortrag von Goethes schönem Aufsatz „Die Natur“ in einer populären Vorlesung kurz vor der Reifeprüfung die Entscheidung gab, daß ich Medizin inskribierte.“

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se Ausführungen, die kein summarisches geschweige denn detailreiches Überblicken der Biografie Freuds, sondern vielmehr einen Ausblick geben sollen auf seine schwierige Position, sowohl in systematischer – zwischen Physis und Psyche –, als auch in historischer Hinsicht – zwischen Physiologie und Signaltechnik –, unterbrochen und beendet werden. Es hat sich ergeben und wird in den folgenden Kapiteln konsolidiert, dass ein eigentümlich chiastisches Verhältnis von Laboratorium und Sprechzimmer, von Medizin und eine die Medizin weit auf literatur- und kulturwissenschaftliche, linguistische und kybernetische Felder hin transzendierende Deutungskunst Freuds Denken und Schreiben bis zum Ende bestimmt. Doch zunächst zu den Psychophysikern als Initiatoren der Korpsifizierung.

6.5 Claude Bernard und die Anfänge der experimentellen Physiologie Die Geschichte des Freud’schen-und-des-sprachstrukturierten-Unbewussten interferiert mit der Geschichte der Inspektion menschlicher Körper durch eine Nervenphysiologie, die sich als eine Verfeinerung der Vermessungstechniken für physiologische Funktionen beschreiben lässt und mit der parallel zu der Entwicklung neuer frequenzbasierter Test-Apparate auch neue, zeitlich rhythmisierte Körper generiert werden. Der Körper und die Seele, die aus selenischer Levitation gerissen und als Teilbereich des Körpers integriert wird, werden den neuen Medien der diskreten Zeit entsprechend chronometrisiert. Die Physiologie des 19. Jahrhunderts lässt sich rekonstruieren als Konstitution des bis heute neuronal bestimmten Körpers, der durch medizinische, pharmakologische und zeitlich-mediale Techniken modifiziert, manipuliert und depersonalisiert werden kann. Das 19. Jahrhundert ist die große Epoche der physiologischen Laboratorien, ihrer Installation, ihrer Einrichtung, ihrer Bestückung mit zahlreichen Experimentier- und Messgeräten, die zu großen Teilen auf den Ruhmkorff’schen Wechselstromgenerator, das Medium der neuen diskreten Zeit in der Medizin kat exochen, zurückgehen. Die glorreiche Überallheit des Ruhmkorff – und es emergieren gänzlich neue Welten und Maßtäbe der menschlichen Gefühlswelt. Ausrichtung, Kapazität, Intensität und Komplexität der menschlichen Emotionen hängen nicht mehr von individuellen Temperamenten und Persönlichkeiten ab, sondern korrelieren den jeweiligen technischen Standards der Testgeräte. Die zeitbasierten, die diskreten und diskretisierenden Testgeräte erzeugen die „neuen“ Gefühle, und diese Gefühle, pointierter: die „Schlotterformen“90 finden ihre entsprechenden Äquivalente in den kardinalen Erfindungen der experimentellen Physiologie und Psychologie. Die Schlotterformen – die Spasmen, Konvulsionen, Zuckungen, die brutalen Jaktationen und geloleptischen Abstürze, die die Patienten überfallen, die Triller von Katalepsie, die langen Nächte des Deliriums, die Demütigungen der Epilepsie und die parakinetischen Störfrequenzen: Wirkungen der spinalen und cerebralen Läsion oder Effekte ihrer Messgeräte? „Während in den Laboratorien die Seelentätigkeiten auf ihre chemischen und physikalischen Grundlagen hin geprüft wurden, stellten sich gleichzeitig, als Nachtansicht 90 Holl 2002: 165.

212 ſ DISKRETE GESPENSTER dieser Forschungen, Ausnahmezustände der Sinnes- und Wahrnehmungsorgane ein: Trancen und Entrückungen, unberechenbare Anfälle, Fits und Tics, die ja durch die Forschungen gerade ausgeschlossen werden sollten. Es schien, als würde die konzentrierte Erforschung einer bestimmten seelischen oder geistigen Leistung andere Nervenverbindungen ebenfalls automatisch in Gang setzen und unkontrolliert den Körper verwirren lassen. Neue Aufschreibetechniken und -apparate wurden konstruiert, um die Gesetze dieser Zustände zu erfassen, und die neuen Apparate riefen wiederum andere seltsame Effekte hervor. So stellten sich, gerade um 1848, in den Jahren der großen Gespenster-Austreibungen, immer neue unbekannte Phänomene ein.”91

Diskrete Nerventechnik, diskreter Nervenspuk. Immer neue unbekannte Phänomene, und inmitten dieses ganzen Crescendos im Laboratorium Freud, der Entdecker des „Unbewussten als solchen“, der Begründer der Psychoanalyse. Die Psychoanalyse arbeitet mit der Wiederholung und mit der Wiederholung der Frage. Also: krankhafte Aberrationen? Vodoo im Spinalganglion? Theurgie der Messgeräte? Schadenzauber des großen Anderen? Wie auch immer: Ende der Repräsentation. Im selben Zug, wie das klassische Subjekt in einen „Schalt-Körper“92 transformiert wird, fällt auch das klassische Zeichenmodell.93 Der Krampf, eine diskrete Zitterpartie ohne Abbruchbedingung, eine rekursive Dauerzuckung ohne Erlösung in einer finalen, fürsichseienden, bedeutenden Geste, ein in die endlose Wiederholung versetzter Todesmoment – iterative, operationale Klüftung. Es ist eine ganze Serie von Toden, von symbolischen Toden, von tödlichen Signifikanten, die in keinem Moment, weder dem des endgültigen Todes noch dem einer repräsentationslogischen Katharsis, mehr zeichenhaft zu sich selbst kommen kann. Verdammnis zum Untot, Fluch zur Wiederholung. Der Krampf repräsentiert nicht, der Dualität von Signifikant und Signifikat zufolge, den Tod, der Krampf ist nicht das Zeichen des Todes, sondern vielmehr ist (im Sinne von: seiend), operiert er als symbolischer Tod, als Diskordanz des Symbolischen und des Realen, als korpsifizierter Signifikant. Damit bildet der Krampf einen geheimen Knotenpunkt zwischen der Genealogie des Freud’schen-und-des-sprachstrukturierten Unbewussten, des Strukturalismus und der im Dispositiv des Wechselstroms integrierten Laboratoriumspsychologie. Um zu letzterer und damit nicht zuletzt zum Thema dieses Kapitels zurückzukehren, der Ursprung der neuen physiologischen Methoden führt nach Frankreich, zu Claude Bernards Einführung in die experimentelle Medizin im Jahre 1865. In diesem Sinne wurden die Nerven im Experimentaldispositiv physiologisch wie physikalisch exploriert und mit den entsprechenden Medien vernetzt, auf dass seelische oder psychische Leistungen reproduzierbar und aufschreibbar wurden.94 Bernard verteidigt con brio die Vivisektion und den experimentellen Zugriff aufs Körperinnere95, jene berüchtigte und vielumstrittene medizinische Invasion, die von verschiedenen Seiten und in öffentlichen Kampagnen attackiert wird.96 Im Fokus von Bernards Theorie steht 91 Holl 2002: 175. 92 Didi-Huberman 1997: 221. 93 Zum Zusammenhang zwischen dem Phänomen des Krampfes und dem Ende

der Repräsentation vgl. auch Siegert 2003: 350-376. 94 Vgl. Holl 2002: 178. 95 Vgl. Holl 2002: 179. 96 Vgl. Braun 1992: 10.

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das Theorem des stabilisierenden milieu intérieur; dieses postuliert ein Gleichgewichtsprinzip, das alle innerkörperlichen Verhältnisse in harmonischem Austausch hält, das jedoch mit steigendem Komplexitäts- und Spezifizierungsgrad des Organismus instabiler und störanfälliger wird.97 Und gerade die Störung als Zerstörung war für Bernard von immensem epistemogenen Wert, stellte für ihn den „Schlüssel zur Erkenntnis“ dar.98 So legitimierten sich für Bernard auch seine Experimente zu den sekretorischen Körperfunktionen und den unterschiedlichen vasomotorischen Mechanismen, die mit Hilfe eines exorbitanten Einsatzes von Kurare und anderen Nervengiften durchgeführt wurden. Die experimentelle Exploration physiologischer Körperfunktionen impliziert stets auch die chemische oder technische Destruktion des Körpers – Perforation, Mutilitation, Intoxikation, Tetanisierung. Die Körper werden deformiert und inaktiviert, um dann in der Hoffnung auf einen epistemologischen Zugewinn zumindest versuchsweise wieder reanimiert zu werden.

6.6 Seelenfragen und ihre Techniken: Carl Ludwig In Deutschland nahm die Entwicklung der experimentellen Physiologie einen Lauf, der umwegiger und camouflierter war, aber nichtsdestotrotz ebenfalls zum Aufbau und zur Expansion der Laboratorien führte. Während Frankreich ganz französisch nonchalant und umstandslos mit der Examination der physiologischen Funktionsprinzipien von Denken, Wollen und Fühlen begann, musste in Deutschland erst ein Streit um die Seele als Nationalwert, der Göttinger Materialismusstreit von 1854, vorweggehen, ein Grundsatzstreit, den Carl Vogt epigrammatisch mit „Seele oder Sekret“ benannte.99 Mit einschneidenden politischen und institutionellen Konsequenzen schalten sich Physiologen, Chemiker und Physiker um die bis dato von den Geisteswissenschaftlern monopolisierte Seelendiskussion ein. Die Aufnahme physiologischer, physikalischer und medientechnischer Fragen in die Ätiologie der bis dato von der Psychologie und Philosophie administrierten Seele verwandelt das provinzielle Städtchen Göttingen in eine furiose Gefechtsstation. Ein Vermittler und Sachverständiger wird dringend benötigt, und so wird der Physiologieprofessor Carl Ludwig konsultiert (der kurz darauf auf einen Bonner Lehrstuhl berufen wird). Ludwig kann angesichts der verhärteten Fronten – Seele oder Sekret – nur eingeschränkt vermitteln und harmonisieren. Die Folgejahre sind bestimmt durch eine Auseinanderdividierung und Verfächerung der wissenschaftlichen Disziplinen mitsamt der jeweiligen Laboratorien und Experimentiergeräte, und, hierdurch bedingt, durch eine korrelative Ausdifferenzierung der Seelenfunktionen. Und als dann um 1870 die Trennung von Psychologie und Physiologie öffentlich deklariert und institutionell vollzogen wurde, war die Seele als dichotomisches Pendant zum Sekret dennoch bereits verwirkt.100 Denn mit der Institution der Psychologie als autonome Disziplin durch Wilhelm Wundt in Leipzig hatte sich bereits ein 97 Vgl. Bernard 1865: 98-110. Vgl. auch Holl 2002: 179. 98 Holl 2002: 179. 99 Vgl. Vogt 1855. 100 Degen 1954.

214 ſ DISKRETE GESPENSTER

solches wissenschaftliches Feld etabliert, das mit Seelen im Sinne von tiefem Wesen, Äthesie und geistgewirkter Innerlichkeit sowie den respektiven moralischen Fragen nicht mehr viel zu schaffen hatte. Wundt beharrt zwar auf einer Abgrenzung des psychologischen vom experimentell-physiologischen Seelenbegriff, ihm zufolge umfasst der Begriff der Seele das ganze Gebiet der inneren Erfahrung, allerdings ist diese innere Erfahrung zu diesem Zeitpunkt bereits durch äußere Erfahrungen, durch die von Bernard und anderen mit Nervengiften oder zeitbasierten Apparaten durchgeführten Experimente induziert worden.101 Dies dokumentiert sich unmissverständlich in Wundts Darlegung des Seelenbegriffs, die auf ein Resumée physiologischer Grundlagenforschung hinausläuft. Wundt konzeptualisiert die Seele als ein Netzwerk von psychischen Einzelfunktionen, die sich dem Labor-Apparat, der sie jeweils testet, kundgeben.102 Die Seelenanalyse wird also auch in der Psychologie perpetuiert als Nervenanalyse, und technische Apparate invadieren die Institute der Philosophie. Bereits 1824 hatte Johann Friedrich Herbart, Kants Nachfolger in Königsberg, eine Systematik der Vorstellungen und ihrer assoziativen Verknüpfungen projektiert, die von mechanischen Gesetzten gesteuert wird. Im Zuge der Optimierung der Mikroskoptechnik begann um 1830 eine Reihe von Versuchen zur Extirpierung von Hirngewebe. 1851 folgt Wallers Nachweis der Vernetzung von Nervenfasern und Nervenzellen, kurz darauf die Entwicklung einer Methode zur präzisen Verletzung von einzelnen Nerven, so dass in Folge deren Bahnen anhand der sekundären Degeneration durch Gehirn und Rückenmark rekonstruiert werden können.103 Fritsch und Hitzig lokalisieren motorische Funktionen im Großhirn von Hunden, um daraufhin die Lage zu bilanzieren und die Seele endgültig zu profanieren: Seelenfunktionen manifestieren sich umso filigraner und differenzierter, je geringer die zugrundeliegende Gehirnverletzung ist.104 Daraus wiederum resultiert für die Unterstellung einer Seele als Gesamtfunktion des psychischen Lebens, dass deren perfekter experimenteller Nachweis notwendig nur eine totale cerebrale Demontage darstellen könne – „totaler Schaden - totale Seele”105. In diesem Punkt konvergieren Seelen- bzw. Nervenkunde mit Freuds Blickwinkel und Vorgehensweise, denen zufolge sich der psychische Apparat nur als ein gestörter, genuin dysfunktionaler (re-)konstruieren lässt. „[...] unser Interesse für die Psychologie der Symptombildung muß eine außerordentliche Steigerung erfahren, wenn die Aussicht besteht, durch das Studium pathologischer Verhältnisse Aufschluß über das so gut verhüllte normale seelische Geschehen zu bekommen“106, schreibt Freud. An anderer Stelle unterstreicht er, „daß die Pathologie uns hier Verhältnisse verraten kann, welche wir am normalen Objekt übersehen müssen“107, und abermals (und an vielen weiteren Stellen108) bemerkt er: „Wiederum werden wir das anscheinend Ein101 102 103 104 105 106 107 108

Zu Wundt vgl. das folgende Kapitel. Vgl. Wundt 1874: 5-12. Vgl. Boring 1950: 57-69; vgl. auch Changeux 1984: 53-88. Vgl. Rothschuh 1964: 273-76; vgl. auch Changeux 1984: 43. Holl 2002: 173. Freud 1999: XI 307. Freud 1999: XI 338. Vgl. z. B. Freud 1999: IV 304: „Ich möchte eher betonen, daß hier, wie so häufig in der Biologie, die normalen oder dem Normalen angenäherten Verhältnisse ungünstigere Objekte der Forschung sind als die pathologischen.

KORPSIFIZIERUNG ſ 215

fache des Normalen aus den Verzerrungen und Vergröberungen des Pathologischen erraten müssen“109. Diese Phänomenologie der Störung ist charakteristisch für die gesamte Psychophysik und taucht wie ein Reflex wieder auf in Heideggers (Anti-)Phänomenologie, in der ein Ding erst als defizitäres aus dem Gefüge der Zuhandenheiten in die Vorhandenheit tritt.110 Freuds psychischer Apparat existiert nicht in Form eines intakten, eubiotisch justierten, mit platonischer Hellsicht entstörten Urbildes, das erst nachträglich, sekundär, durch ungünstige Einwirkungen oder Unfälle dereguliert worden wäre. Es muss hier nur an all die Patienten erinnert werden, die dieses Buch durchgeistern, der von Alpträumen und Angina pectoris verfolgte Citybanker, die exzitable Sekretärin, der arachnophobe Wirtschaftsvisionär, der zur ewigen Retardation verhexte Philosophiestudent – sie waren es, die Zwangsneurotiker und Hysteriker, über die sich, neben den Träumen, das Unbewusste erstmalig bei Freud meldete. Freuds Modell des psychischen Apparats rekurriert auf ein schlechthin gestörtes Subjekt, das nicht etwa durch die Unterstellung der Möglichkeit eines gesunden oder normalen Subjekts konkomitiert würde. Lacan selbst spricht diesen Sachverhalt an und nimmt dabei Freuds Brief Nr. 52 zur Grundlage. In diesem Brief, so Lacan, mache Freud den „psychischen Apparat“ zum Thema, den er zwecks Exploration von Gedächtnisphänomenen entwickelt habe. Dabei, so betont Lacan, geht es nicht um funktionierende, sondern um gestörte Gedächtnisse: Der „psychische Apparat seiner [Freuds, Anm. d. Verf.] Kranken“ koinzidiert nicht mit dem „des idealen Individuums”. „Das Schema des psychischen Apparates bei Freud ist dafür gedacht, die Gedächtnisphänomene zu erläutern, d.h. das, was nicht läuft.”111 Gedächtnisphänomene, also die Arbeitsresultate einer unentwegten Erinnerungsarbeit an eine unmögliche Ur-Sache sprechen nur im Code von Störungen und Defekten. Um zurück zu den Laboratorien und den Pionieren der nerventechnisch inflammierten Seelenvisionären, um zu Carl Ludwig, jenem frühen und famosen experimentalphysiologischen Seelenforscher zu kommen.112 Unüberholbar sein Charisma, sein Ruhm, sein Einfluss auf die Formation und Entwicklung der experimentellen Psychologie ab 1850 – die Liste der Schüler von Ludwig ist zugleich die Liste der großen Namen der Experimentalpsychologie: Granville Stanley Hall (Gründer des ersten amerikanischen Labors für Psychologie an der Johns-Hopkins Universität) Ivan Michajloviv Secenov (Gründer der russischen Reflexologie), Ivan Petrovic Pavlov, Ernst Mach und Paul Emil Flechsig. Die Myriaden von Experimenten, die in psychologischen

109 110 111 112

Was bei der Erklärung dieser leichtesten Störungen dunkel bleibt, wird nach meiner Erwartung durch die Aufklärung schwerer Störungen Licht empfangen.“ Oder Freud 1999: X 286: „Die unbewußten Vorgänge werden für uns nur unter den Bedingungen des Träumens und der Neurosen erkennbar, also dann, wenn Vorgänge des höheren Vbw-Systems durch eine Erniedrigung (Regression) auf eine frühere Stufe zurückversetzt werden. An und für sich sind sie unerkennbar, auch existenzunfähig, weil das System Ubw sehr frühzeitig von dem Vbw überlagert wird, welches den Zugang zum Bewußtsein und zur Motilität an sich gerissen hat.“ Freud 1999: X 148. Vgl. Heidegger 1953: 71ff. Lacan 1990a: 203. Die folgenden Untersuchungen stützen sich zu großen Teilen auf Schröer 1967 und Holl 2002: 182-184.

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KORPSIFIZIERUNG ſ 217

Analytiker der Züricher Schule haben, so fasst Freud weiter zusammen, Wundts Theorie der Assoziation adaptiert und „damit die erste Brücke von der Experimentalpsychologie zur Psychoanalyse geschlagen“115. Und noch intensiver hebt er Wundts Verdienst für die Assoziationslehre hervor, wenn er den wissenschaftlichen Folgereichtum des Experiments beurteilt, über das sich nämlich die „sogenannten Komplexe“116 entdecken, die die Seele organisieren und determinieren. Dann aber bricht die Hommage ab, und wie sollte sich dies charakteristischer artikulieren als in Form einer Frage. „Was haben diese [sogenannten Komplexe, Anm. d. Verf.] aber mit dem Traum zu tun?“117 Darauf gibt Wundt keine Antwort, gerade indem er eine Antwort gibt, die jede solche weitere Frage erübrigt, die Funktion von dem jedes Bewusstsein unterlaufenden diskreten Zeitfaktor zwischen U(h)r und Sache machen könnte. Die einfache Antwort, dass die Beziehung zwischen Reizwort und Reaktion als eine streng determinierte auf psychische Komplexe und (durch Fortführung des Assoziationsexperiments) auf „Komplexabkömmlinge“118 verweist, ist nicht ausreichend. Nicht ausreichend für einen Psychoanalytiker, der sich wiederholt in sein Geisterhaus zurückzieht und wiederholt die Dinge in Frage stellt in solch typischen Bemerkungen wie: „Es ist sicherlich eine berechtigte Mahnung, daß man gegen so einfache Problemlösungen misstrauisch sein soll.“119 Nicht ausreichend, um zu verhindern, dass die Schleusen des anything goes sich öffnen und damit automatisch dem Bewusstsein das letzte Wort überlassen; nicht ausreichend, um es nicht am Ende doch zu provozieren, sich zurückzuziehen, zu verschlüsseln, sich in die Wiederholung des Symptoms Ego zu philosophieren. Das vom Sprechen ins logozentrische Philosophieren, von der Übertragung ins Cogito-Symptom, von der guten in die schlechte Wiederholung zurückgegangene Subjekt, hier der als Psychologe firmierende Physiologe Wundt, gibt auf die Frage nach dem Zusammenhang von psychischem Komplex und Traum keine Antwort, zumindest keine solche, die bereits in den Wirkungsbereich der Psychoanalyse führen würde. Denn Wundt übersieht oder verkennt ein Moment.120 Freud benennt dieses von Wundt übersehene Moment im Kontext seiner Darlegung der Assoziationstechnik als Funktion der Traumdeutung. Er be115 116 117 118 119 120

F reud 1999: XI 107. Freud 1999: XI 107. Die Natur dieser sogenannten Komplexe wird im weiteren Verlauf der Darlegung genau erklärt. Freud 1999: XI 107. Wundt, zit. in: Freud 1999: XI 108. Freud 1999: XIII 388. So Freuds Worte bei seiner Herleitung der Technik der freien Assoziation aus Wundts Psychologie. Vgl. dazu Freud 1999: XI 108: „Sie haben recht, aber Sie übersehen ein Moment. Übrigens gerade jenes, wegen dessen ich das Assoziationsexperiment nicht zum Ausgangspunkt für diese Darstellung gewählt habe. Bei diesem Experiment wird die eine Determinante der Reaktion, nämlich das Reizwort, von uns willkürlich gewählt. Die Reaktion ist dann eine Vermittlung zwischen diesem Reizwort und dem eben geweckten Komplex der Versuchsperson. Beim Traum ist das Reizwort ersetzt durch etwas, was selbst aus dem Seelenleben des Träumers, aus ihm unbekannten Quellen, stammt, also sehr leicht selbst ein „Komplexabkömmling“ sein könnte. Es ist darum die Erwartung nicht gerade phantastisch, daß auch die an die Traumelemente angeknüpften weiteren Einfälle durch keinen anderen Komplex als den des Elements selbst bestimmt sein und auch zu dessen Aufdeckung führen werden.“

218 ſ DISKRETE GESPENSTER

mängelt hier, dass die Wundt’sche Theorie „unfähig [ist], irgendein Motiv anzugeben, welches die Beziehung zwischen dem äußeren Reiz und der zu seiner Deutung gewählten Traumvorstellung regelt, also die „sonderbare Auswahl“ zu erklären, welche die Reize „oft genug bei ihrer produktiven Wirksamkeit treffen““121. Wodurch diese Unfähigkeit, der eben nicht einfach Kurzsichtigkeit, sondern vielmehr eine Verkennung zugrundeliegt, genau konstituiert ist, wird im Verlauf dieses Kapitels in ausdifferenzierter Form erklärt. Für den Moment sei nur wiederholt, dass es Wundt nicht gelingen wollte, mit seiner innovativen Entdeckung der Assoziation (sowie weiterer von der Psychoanalyse rezipierter Phänomene wie die „so häufigen alltäglichen Fehlleistungen, Vergessen, Versprechen, Verlegen usw.“) die Erweiterung des Zusammenhangs Bewusstsein auf die Beteiligung eines Unbewussten hin zu befördern. Mit „Zuständen von Ermüdung, Ablenkung der Aufmerksamkeit u. dgl.“ argumentierend, hat Wundt zugunsten des Cogito und dessen Gnade zu Schlaf und Ermüdbarkeit das ohne Unterbrechung arbeitende und dabei Sinn produzierende Unbewusste exmittiert, hat, mit Freuds Worten, fehlhandlerisch übersehen, „daß solche Vorkommnisse sinnreich sind und durch die Störung einer bewußten Intention durch eine andere, unterdrückte, oft direkt unbewußte, entstehen“122. Über Wundts experimentalpsychologische Experimente zur Assoziation und zu anderen Wahrnehmungsleistungen bzw. -fehlleistungen war ein für die Genese der Psychoanalyse entscheidender Diskurs zwar aufgerufen, doch mussten die Entdeckungen erst einem geeigneten Beurteiler übergeben werden, damit sich hierin das Unbewusste Gehör verschaffen konnte. Wilhelm Wundt, von der wissenschaftlichen Ausbildung her Physiologe, wird 1875 als Professor für Philosophie nach Leipzig gerufen123, und dort errichtet er das erste Institut für experimentelle Psychologie, die Erschaffung eines Psycho-Labors, die sich matriziell auf alle weiteren folgenden Institutsgründungen in aller Welt auswirken wird.124 Die Leipziger Berufung wird initiiert durch den Astronomen Zöllner, der sich von Wundt Lösungshilfe bei einem astronomischen Wahrnehmungsproblem erhofft125, und dies führt direkt zu dem Gerät, zu dem Medium der neuen Zeit, das die Glorie Wundts, oder besser und abgemessener: einen weiteren Sprung in der Genealogie des verzeitlichten Seins möglich macht. Nicht eine untadelige Platon-Studie, sondern die Erfindung eines chronometrisches Geräts, der KomplikationsUhr, nobilitiert den Physiologen Wundt zum Leipziger Philosophieprofessor.126 Ursprünglich als Beitrag zur Lösung des Zöllner’schen Problems, zur vereinfachenden und modifikablen Simulation der Sternwarten-Situation entwickelt, findet Wundts Gerät im Psycho-Labor universale Anwendung zur

121 122 123 124

125 126

Freud 1999: II/III 228. Freud 1999: XIII 414f. Zu Wundts Denken und Leben vgl. Arnold 1980 und Hiebsch 1977. Vgl. auch Pias 2000: 16: „G. Stanley Hall, erster amerikanischer Graduierter in Psychologie, Postdoktorand bei Wundt in Leipzig und nebenbei Verfasser einer Spieltheorie, importierte die Experimentalpsychologie zwischen 1883 und 1885 an die Johns Hopkins University und löste damit eine Welle von transatlantischen Institutsgründungen aus.“ Vgl. Pias 2000: 12f. Vgl. auch Littman 1979: 49f. Zur Beziehung zwischen Wundt und Zöllner und speziell zur Komplikationsuhr vgl. Boring 1950: 144-149. Vgl. auch Holl 2002: 194-197.

KORPSIFIZIERUNG ſ 219

Messung der Zeiten von Reaktionen und Assoziationen.127 Die Zeit, die diskretisierte, in genauen Rhythmen ablaufende Zeit wird zum Grundvorgang, der alles in Sachen Sein und Seele interpretiert. Die von Helmholtz in die Neurophysiologie eingeführte Zeitmessung (mit der zugleich das wissenschaftliche Subjekt der Neurophysiologie auf entscheidende Weise transformiert, nämlich auf Temporalität und Geschwindigkeit hin konditioniert wird) wird von Wundts experimenteller Psychologie übernommen und auf komplexere mentale Prozesse übertragen. Auch bei Wundt bildet die Zeit das Epizentrum aller Untersuchungen: Er inauguriert das Feld der mentalen Chronometrie. Wundt examiniert das gesamte Feld jener neuronalen Aktivitäten, die von der experimentellen Psychologie als Seelentätigkeiten adressiert werden – Perzeption, Apperzeption, Aufmerksamkeit, Reminiszenz, Assoziation etc. Dabei ist – was Wundt selbst natürlich verkennungstüchtig camoufliert und mit zunehmender Professoralisierung und Vergreisung mehr und mehr verleugnet – der Output der Messungen immer schon determiniert durch den Input bzw. die respektiven, sich in den Experimentiergeräten materialisierenden Selektionsprinzipien: „Die Geräte aus dem Laboratorium wurden stillschweigend ins Innere des Menschen projiziert”. Die technischen Voraussetzungen des Wundt’schen Seelenapparates, Chronoskope und Komplikationsuhren, werden aus dem Raum einer liebevoll immanenten Beschreibung des Bewusstseins und des Seelenorgans ausgewiesen. „Die Erfahrungen sollen von ihren Voraussetzungen im Experimentalaufbau möglichst nichts mehr wissen. Der regelmässig rhythmisch bewegte Körper, wie er im Laufe der Forschungen durch Uhrwerke getestet worden war, scheint Wundt zuletzt der Natur des Körpers und des Bewußtseins anzugehören.”128 In seiner späten Einführung in die Psychologie exkommuniziert Wundt endgültig die äußeren Gerätschaften, um Rhythmus und Skansion als Merkmale und Funktionen in den Organismus, in die immanente psychophysische Organisation der Wahrnehmung zu integrieren – das Bewusstsein wird durch seine eigenen, es fundamentierenden Prinzipien, nicht aber durch externe Uhrwerke skandiert: „Unser Bewußtsein ist rhythmisch angelegt. Der Grund dieses Verhaltens liegt aber schwerlich in einer spezifischen, bloß dem Bewußtsein zukommenden Eigenschaft, sondern er steht offenbar mit unserer gesamten psychophysischen Organisation in engster Beziehung. Das Bewußtsein ist rhythmisch angelegt. So folgen sich Herzbewegungen, Gehbewegungen in regelmäßigen Rhythmen. Unter ihnen empfinden wir zwar die Pulsation des Herzens im normalen Zustande nicht. Wohl aber wirken schon die Atmungen, wenn auch nur als schwache Erregungen, auf uns ein, und bilden vor allem die Gehbewegungen einen deutlichen erkennbaren Hintergrund unseres Bewußtseins.“129

Eine harmonische und jambisch emotionierte Vorstellung; dennoch ist und bleibt es eine Tatsache, dass Wundts Seelenrhythmen erst durch das Ticken des von ihm selbst arrangierten Uhrenparks instradiert werden. Auf den ersten Blick suggeriert sich eine Ähnlichkeit zwischen den von Wundt in die Seele bzw. das Bewusstsein translozierten und dort autonom laufenden zeitli127 128 129

Vgl. Wundt 1874: 782ff. Holl 2002: 189. Wundt 1911: 3.

220 ſ DISKRETE GESPENSTER

chen Serien und Freuds Unbewusstem, in der Wiederholung seiend und zeitlich pulsierend. Auf einen zweiten und kälteren Blick hin aber zeigt sich eine Unvereinbarkeit, eine Dissonanz beider Konzepte. Nicht nur, dass der Bereich, in dem Wundt die zeitlich rhythmisierten Assoziationen und Emotionen lokalisiert, die Seele, sich von Freuds Anderem Schauplatz grundsätzlich unterscheidet. Freud und nach ihm, in noch ausdrücklicherer und expliziterer Form, Lacan, verstehen das Unbewusste vielmehr als ein Medium, ein solches Medium oder mediatisiertes Sein hingegen, das sich von den materialistischen Überzeugungen durch seine Hyothetizität und Unnachweisbarkeit unterscheidet. Dabei lädt sich Freud mit dem resignativen Eingeständnis der wissenschaftlich-materialistischen Unbeweisbarkeit seines Unbewussten möglicherweise ein Zuviel an Gefühlen des Versagens und Versäumnisses auf seine Schultern. Um dies deutlich werden zu lassen, muss Wundt für einige Absätze verlassen werden zugunsten einer Wiederholung der dem Sujet dieses Buches, dem Unbewussten, innewohnenden Dynamik. Wird dieses Unbewusste in Freud-Lacan’scher Tradition als ein mediales Reales betrachtet – und dies ist das Fundament dieser Genealogie –, dann ist die Demarkationslinie zwischen einem technischen und einem korpsifizierten Unbewussten gerade im Hinblick auf deren Epistemologie und Wissenschaftlichkeit sehr viel weniger einleuchtend, als es zunächst scheint. Man könnte sogar, gewagt, aber mit Freud und Lacan konsequent behaupten: Sie existiert nicht. Es wurde bereits dargelegt und sei an dieser Stelle wiederholt, dass diese Genealogie des Unbewussten medienarchäologisch fundiert ist, dass sie, kurz gesagt, das Unbewusste als ein im Sein implementiertes Medium rekonstruiert. Im Zentrum von Wolfgangs Hagen Medientheorie, auf die sich das Buch methodisch wie inhaltlich bezieht, stehen die Leitbegriffe der Kontingenz und der Zäsur: „Technische Medien gehen aus der Geschichte des Wissens als kontingente Zäsur hervor, zumeist als ein Akt großer, überraschender und oft zunächst völlig unerkannter Unwahrscheinlichkeit.“130 Das Wissen, das ein jeweiliges Medium impliziert – und dies trifft auf die Telegraphie, die Bildmedien und nicht zuletzt auf das noch immer zwischen Medizin, Philosophie und Kybernetik schwirrende Unbewusste zu –, läuft den von diesen Medien ausgehenden Effekten und den, wie Hagen es im Bezug auf Rheinbergers epistemisches Ding formuliert, „Artefakten der Artikulation“ hinterher. Die Geschichte eines Mediums verläuft also nicht etwa so, dass die technischen Realisationen eines wissenschaftlich wie kulturell formativen Ge-stells durch ein positives Wissen oder wissenschaftliche Wahrheit kontrapunktiert würden, sondern vielmehr geht es, und dies reflektiert sich auch in der Geschichte der Seelenkunde oder Psychotechnik, um kontingente Zäsuren im Wissen, was nach Hagen zugleich „Zäsuren des Unwissens und Ungewissen“ umgreift: „Es geht um Kontingenzen, die Kontexte aufreißen, in welchen ohne weiteren Grund und oft sehr plötzlich „Etwas“ auf der Ebene der Wahrnehmung und der Welt erscheint, existiert und beschrieben werden kann, gebaut wird und gebraucht, das gleichwohl wissenschaftlich „unwahr“ bleibt, inkonsistent, ungewiß und ungefähr [...]. Gemeint ist ein technisches „Etwas“, das materiell und funktionell existiert, aber von den vorhandenen, im Feld der Wissenschaft gekoppelten Diskursen mit einer Wahrheitsfunktion nicht angeschrieben werden kann. (Bei der Telegrafie bei130

Hagen 2004.

KORPSIFIZIERUNG ſ 221 spielsweise reichte es über Jahrzehnte hin, sie mit ihren allen unerklärlichen Fehlern und funktionellen Schwächen als immer noch überlegenes Nachrichtensystem kulturell, ökonomisch und politisch zu implementieren, ohne daß man im Sinne der Wahrheitsfunktion einer Wissenschaft verstand, warum und wie sie tatsächlich funktionierte).“131

Das ließe sich auch wie eine Beschreibung des Unbewussten lesen, Beschreibung des Unbeschreiblichen und Unvordenklichen – es, ein „Etwas“, ein mediales Reales nimmt sein Lauf, eine operationale Ontologie, die sich dennoch nicht ontologisieren lässt (also kein ontologisches Operationales macht), ein im Sein implementierter Prozess, der funktionell existiert, aber als solcher nicht sichtbar gemacht, nicht objektiviert werden kann, und zwar, was das Unbewusste betrifft, bis auf den heutigen Tag nicht. Und genau in diesem Punkt unterscheidet sich die Theorie des Freud’schen-und-wie-eine-Sprachestrukturierten-Unbewussten von all den zahlreichen Diskursen – von der experimentellen Psychologie, der Physiologie, der Psychiatrie über die Linguistik bis hin zur modernen Informationstheorie –, die die Genealogie des Unbewussten kreuzen, sie in Etappen transportieren und mitkonstituieren. Die von Freud betonte Hypothetizität des Unbewussten ist also kein Zeichen der Unwissenschaftlichkeit der Psychoanalyse, sondern belegt vielmehr die in der Freud’schen Erfahrung liegende Präfiguration einer modernen Wissenschafts- und Medientheorie, die Wundts Positivismus der Seele hegelianisch aufhebt. „Man wehrt sich gegen das Gefühl, die Beobachtung für sterile theoretische Streitigkeiten zu verlassen, darf sich dem Versuch einer Klärung aber doch nicht entziehen. Gewiß sind Vorstellungen, wie die einer Ichlibido, Ichtriebenergie und so weiter, weder besonders klar faßbar noch inhaltsreich genug; eine spekulative Theorie der betreffenden Beziehungen würde vor allem einen scharf umschriebenen Begriff zur Grundlage gewinnen wollen. Allein ich meine, das ist eben der Unterschied zwischen einer spekulativen Theorie und einer auf Deutung der Empirie gebauten Wissenschaft. Die letztere wird der Spekulation das Vorrecht einer glatten, logisch unantastbaren Fundamentierung nicht neiden, sondern sich mit nebelhaft verschwindenden, kaum vorstellbaren Grundgedanken gerne begnügen, die sie im Laufe ihrer Entwicklung klarer zu erfassen hofft, eventuell auch gegen andere einzutauschen bereit ist. Diese Ideen sind nämlich nicht das Fundament der Wissenschaft, auf dem alles ruht; dies ist vielmehr allein die Beobachtung. Sie sind nicht das Unterste, sondern das Oberste des ganzen Baues und können ohne Schaden ersetzt und abgetragen werden. Wir erleben dergleichen in unseren Tagen wiederum an der Physik, deren Grundanschauungen über Materie, Kraftzentren, Anziehung und dergleichen kaum weniger bedenklich sind als die entsprechenden der Psychoanalyse.“132

Weder Freud noch Lacan erheben je den Anspruch darauf, die unumstößliche Wahrheit des Unbewussten formuliert zu haben, sie prätendieren nicht, die akademische Wissenschaft des Unbewussten gegründet zu haben, sie etablieren kein positives Wissen über das Unbewusste. Sie halten im Gegenteil ein derartig positives, wissenschaftlich geerdetes und diskursiv in sich ruhendes Wissen über das Unbewusste – ihren jeweiligen Stilen gemäß, Reserve bei 131 132

Hagen 2004. Freud 1999: X 142.

222 ſ DISKRETE GESPENSTER

Freud, strategische Verstörung bei Lacan – in Suspension, um damit zugleich die Nerven für die Kontingenz, die Unberechenbarkeit, die Sprengkraft dieses medialen Realen zu sensibilisieren, um, kurz gesagt, der insistierenden Frage vor der sicheren Antwort die Priorität zu geben. „Diese Aufklärung klingt ja plausibel, aber sie ist erstens noch zu wenig bestimmt und läßt zweitens mehr neue Fragen und Zweifel auftauchen, als wir beantworten können. Wir wollen uns der Diskussion derselben nicht entziehen, wenn wir auch nicht erwarten können, durch sie hindurch den Weg zur Klarheit zu finden.“133 Das 4. Kapitel hat diesen Punkt – die Frage nach der Psychoanalyse als Wissenschaft und als diskursiviertem Wissen – bereits debattiert; an dieser Stelle ging es nur darum, im Kontext der Laborpsychologie die bereits formulierte These zu belegen, dass Freuds und Lacans Ergründung des Unbewussten vom Procedere her eher einer Medientheorie im Sinne Hagens folgt – so wie ja auch ihr „Gegenstand“ in diesem Buch als ein Medium betrachtet wird – als einer Wissenschaft im strengen Sinne, das heißt einer mit einem selbstbezüglichen Diskurs und einer Wahrheitsfunktion ausgestatteten Disziplin. Wundts Seele, Bernards milieu intérieur und ebenso Deleuze’ Unbewusstes der Struktur (be)treffen zwar das „Unbewusste als solches“, sie schreiben sich in seine Geschichte ein, aber sie reklamieren doch je für sich, ein mit einer variablen epistemologischen Versicherung ausgestattes Komplettwissen darzustellen, von der Freud seine Erfahrung gerade fernhält. Das also segregiert den Raum, das Geisterhaus, in dem Freud sich aufhält, von der Sphäre Wundts. In dieser existierte, unzweifelhaft und affektvoll, ein „Etwas“, dessen Takte und Tätigkeiten sich mittels eines chronometrischen Apparates, einer Uhr, vermessen ließen. Zwecks populärwissenschaftlicher Bekömmlichkeit ersetzt Wundt diesen Laborapparat in seiner Einführung durch ein Gerät, das die Emotionen klavierspielender Töchter aus gutbürgerlichen Häusern temperiert: durch das Metronom.134 Damit wird das Hypogäum zur Ergründung der Seele, das Psycho-Labor, in einer diminuierten Form bis in die Leipziger Vorstadtvillen hinein erweitert und für den Durchschnittsbürger freigegeben. Es ist durchaus im Sinne der Einführung, dass der Leser zu Selbstversuchen ermuntert werde135 – und in dieser, nur marginalen und oberflächlichen Weise lässt sich eine Parallele ausmachen im Hinblick auf die für eine nicht-akademische Leserschaft geschriebenen Werke wie die Psychopathologie des Alltagslebens oder Die Traumdeutung. Der Wundt’sche Selbstversucher versetzt sich durch das Ticken des Metronoms in eine Erwahrtungshaltung, um auf diese Weise die Erfahrung einer sich unvermittelt einstellenden psychischen (Eigen-)leistung zu durchlaufen: Metronomisch gleichförmige und ostinate Schläge werden durch die Leistungen des Seelenorgans verlebendigt und verwandelt in unterschiedlich akzentuierte Taktreihen.136 Durch Seelenaktivität, das heißt im Zeitalter der experimentellen Psychologie schlicht: durch Perzeption, generiert sich aus dem nivellierten Ticktack eines Metronoms ein Inhalt in das Bewusstsein. Die Wahrneh133 134 135 136

Freud 1999: X 442. Vgl. Wundt 1911: 2-6. Vgl. Wundt 1911: 17. Vgl. z.B. Freud 1999: II/III 542: „Streng genommen brauchen wir die Annahme einer wirklich räumlichen Anordnung der psychischen Systeme nicht zu machen. Es genügt uns, wenn eine feste Reihenfolge dadurch hergestellt wird, daß bei gewissen psychischen Vorgängen die Systeme in einer bestimmten zeitlichen Folge von der Erregung durchlaufen werden.“

KORPSIFIZIERUNG ſ 223

mung selbst initiiert die Metamorphose einer gleichförmig, unbunt und diskret ablaufenden Zeit in die Mannigfaltigkeit einer nach dem Rhythmus der Organe choreographierten Welt.137 Das in dieser Weise von Wundt in seinen Funktionen beschriebene Seelenorgan lässt sich mit Freuds psychischem Apparat bzw. der funktionalen Beziehung zwischen Unbewusstem und Bewusstsein vergleichen. Es ist – bei aller Verschiedenheit zwischen beiden Modellen, die dieser Vergleich am Ende feststellen muss –, nicht auszuschließen, dass Freuds Entwurf des psychischen Apparats durch den Diskurs und die Experimente Wundts partiell determiniert wurde. Fakt ist, dass Freud selbst Parallelen zwischen beiden Theorien klar erkennt. So bemerkt er zum Beispiel bezüglich der Traumdeutung: „In allem Wesentlichen mit dieser Lehre identisch ist die Äußerung von Wundt, die Vorstellungen des Traumes gehen jedenfalls zum größten Teil von Sinnesreizen aus, namentlich auch von solchen des allgemeinen Sinnes, und sind daher zumeist phantastische Illusionen, wahrscheinlich nur zum kleineren Teil reine, zu Halluzinationen gesteigerte Erinnerungsvorstellungen.“138 Zurück zu den psychischen Apparaten von Wundt und Freud. Es bleibt zunächst zu konstatieren, dass beide Modelle durch die neue diskrete Zeit formatiert sind, beide sind zeitlich-funktional und nicht substanzialistisch konstituiert. Dabei muss eingewendet werden, dass die Frage nach dem Substrat, das die jeweiligen temporalen Bewusstseinsfunktionen realisiert, Wundt im Gegensatz zu Freud so wenig beunruhigt, dass er die von der experimentellen Psychologie vollzogene und ineins eskamotierte und totgeschwiegene Verwandlung des Seelen- in ein Nervenorgan an keiner Stelle auch nur berührt. Ohne dass Wundt die mit der Diskretisierung verbundene Fallkrise der

137

138

Wundt erläutert diesen Vorgang u. a. am Beispiel der Gehwerkzeuge, die durch Seelenleistungen von einfachen Pendelbewegungen zur virtuosesten Eukinetik übergehen können (vgl. Wundt 1911: 3f). Vgl. hierzu – als interessante Parallele – Freuds Ausführungen zu Gehstörungen als Beispiele für neurotische Hemmungen in Hemmung, Symptom und Angst. Interessant sind dabei nicht nur die Parallelen, sondern vielmehr auch die gegenteiligen Orientierungen, mit der Freud Geh-, Schreib- oder (Alarm!) Klavierspielstörungen erklärt; Freud 1999: XIV 116: „An den spezialisierten Hemmungen ist die Tendenz leichter zu erkennen. Wenn das Klavierspielen, Schreiben und selbst das Gehen neurotischen Hemmungen unterliegen, so zeigt uns die Analyse den Grund hiefür in einer überstarken Erotisierung der bei diesen Funktionen in Anspruch genommenen Organe, der Finger und der Füße. Wir haben ganz allgemein die Einsicht gewonnen, daß die Ichfunktion eines Organes geschädigt wird, wenn seine Erogeneität, seine sexuelle Bedeutung, zunimmt. Es benimmt sich dann, wenn man den einigermaßen skurrilen Vergleich wagen darf, wie eine Köchin, die nicht mehr am Herd arbeiten will, weil der Herr des Hauses Liebesbeziehungen zu ihr angeknüpft hat. Wenn das Schreiben, das darin besteht, aus einem Rohr Flüssigkeit auf ein Stück weißes Papier fließen zu lassen, die symbolische Bedeutung des Koitus angenommen hat, oder wenn das Gehen zum symbolischen Ersatz des Stampfens auf dem Leib der Mutter Erde geworden ist, dann wird beides, Schreiben und Gehen, unterlassen, weil es so ist, als ob man die verbotene sexuelle Handlung ausführen würde. Das Ich verzichtet auf diese ihm zustehenden Funktionen, um nicht eine neuerliche Verdrängung vornehmen zu müssen, um einem Konflikt mit dem Es auszuweichen.“ Freud 1999: II/III 227.

224 ſ DISKRETE GESPENSTER

Ontologie, die Freud so sensibel erfahren hat, in Rechnung stellt, konzipiert er ein radikal temporalisiertes Seelenorgan, dessen Struktur der Relation zwischen Unbewusstem und Bewusstsein zunächst nicht unähnlich ist. Alle Bewusstseinsinhalte werden bei Wundt präzediert durch zeitliche Segmentierung und Rhythmisierung in einem physisch gedachten Unbewussten. Die in den rhythmischen Experimenten durch tickende Uhrwerke induzierte Erwartungshaltung wird in ein Unbewusstes transloziert und verstanden als eine subjektive Leistung, die die metronomischen Signale der Außenwelt in sinnvolle Taktreihen konvertiert und damit eine durch Vielfarbigkeit und Allotropie ausgezeichnete Bewusstseinswelt erzeugt. Um zunächst die Gemeinsamkeit noch einmal zu fixieren: Das Wundt’sche Modell ist mit Freuds Apparat vereinbar, denn beide legen eine relationale und keine substantielle Trennung zwischen dem bewussten und dem unbewussten Bereich zugrunde. Wundt profiliert wie Freud eine zeitliche Übersetzungsleistung als Konstituens der Unterscheidung von Unbewusstem und Bewusstsein, es geht nicht um eine räumliche Separation zweier substantiell unterschiedener Reiche. Aber oben wurde im Zusammenhang mit der Frage nach dem medialen Realen und der medienarchäologischen Inkubation der Freud-Lacan’schen Psychoanalyse bereits aufgewiesen, dass tiefe Differenzen diese vordergründigen Gemeinsamkeiten zwischen Wundts Seele und Freuds psychischem Apparat überschatten. Ein wegweisendes Indiz dieser Differenzen zeigt sich bereits dann, wenn die jeweiligen, zeitlich bestimmten Übersetzungsoperationen, die das Unbewusste vom Bewusstsein trennen, kritischer und genauer in den Blick genommen werden. Wo Freud die ursprüngliche Botschaft unrückholbar auf den Anderen Schauplatz hin transzendiert (oder dort versenkt), da bleiben die Übersetzungsleistungen der Wundt’schen Seelen im Bezirk des „Eigenen Schauplatzes“ – die Trasse vom monochromen, ostinaten Takt des Außenreizes über die subjektiven, die quasi-unbewussten Rhythmisierungen, mit denen die Seele die vielfarbige und feinschattierte Bewusstseinswelt komponiert, lässt sich mit psychophysischen Messinstrumenten oder, was die private Familiensphäre in der Vorstadtvilla betrifft, via Selbstanalyse von Erwartungshaltungen linear und eindeutig zurückverfolgen. Mit den Worten Freuds: „Die Ichpsychologie, die wir anstreben, soll nicht auf die Daten unserer Selbstwahrnehmungen, sondern wie bei der Libido auf die Analyse der Störungen und Zerstörungen des Ichs begründet sein.“139 Die Übersetzungen, die Wundts Seele vollbringt, sind im Unterschied zur Operationalität des Freud’schen Unbewussten keine Entstellungen, keine Chiffrierungen, keine nachträglichen Umschlüsselungen eines Originals, das noch dazu in der Vorzeitigkeit des wie nie Gewesenen auf immer verloren ist. Im Gegenteil, ein Metronom ersetzt auch für den Laien den Psychoanalytiker, eine artige, geübte und aufmerksame Erwartungshaltung lässt subjektive, welt- und bewusstseinskonstituierende Rhythmisierungsleistungen transparent und nachvollziehbar werden. Aus dieser Perspektive entfremden sich das Wundt’sche und das Freud’sche Unbewusste bis zur Inkompossibilität, radikalen Gegensätzlichkeit. Die chronometrischen Aktivitäten des Unbewussten bei Wundt approximieren beinahe ein Husserl’sches Transzendentalego, jene Verkennungs- und Verschlüsselungsoperationen, die das Freud’sche Unbewusste ausmachen, sind bei ihm nicht gegeben. 139

Freud 1999: XI 438.

KORPSIFIZIERUNG ſ 225

Anders, analytischer, einen Schritt weiter machend formuliert: Wundt selbst elidiert, eine solide und wissenschaftliche Kenntnis der Seelenleistungen vorgebend, die mit dem Medium der Diskretisierung verbundene Kontingenz und Unwahrscheinlichkeit, zu deren Effekten nicht zuletzt das Unbewusste zählt. Wundt muss, will er die temporalisierte Seele nicht als Effekt einer durch die Diskretisierung um ihre Ursache gebrachte und zutiefst konsternierte Ontologie erkennen, eine sich als positives Wissen gebende Hypothese lancieren, derzufolge die Kadenzen der Außenwelt als eigenständige Leistungen eines psychophysisch konstituierten Unbewussten den Kadenzen der Innenwelt akkommodiert werden. Es ist nur konsequent symptomatisch, dass Wundt darüber ebenso vergisst, dass nicht „wir“ die Intervalle von Außeneindrücken dem Seeleninneren anpassen, sondern dass am Anfang, und darin hatte seine Berufung nach Leipzig schließlich ihren Grund, das Ausgangsproblem darin bestanden hatte, unbewusste Wahrnehmungsleistungen durch äußere Einflüsse verfälscht worden waren. Nichtsdestoweniger oder gerade darum perennieren die psychologischen Experimente: Versuchsreihen zur Veränderung und Manipulation des Körperrhythmus, Versuchsreihen zur Minimierung oder Verlängerung seiner Takte, Beobachtung der dadurch hervorgerufenen Modifikationen in der Wahrnehmung. Und bei all dem perenniert auch das für die Wundt’sche Psychologie exemplarische Symptom der Verkennung. Wundt vernetzt die Nerven, um deren subjektive oder „unbewusste“ Eigenleistung zu explorieren und um zu vergessen, dass die Nerven diesen Takt ihrer Impulse erst verraten konnten, als sie bereits vernetzt waren, als die Skansionen ihrer Erwartungshaltung bereits höchst künstlich und technisch induziert worden waren. Was das Unbewusste nach Art von Wundt, die via Metronom standardisierte bürgerliche Seele, im Gegenzug zu anderen Invokationen des „Unbewussten“ vermissen lässt, ist der dämonische Impetus, der Charcots, Fechners und in sublimer Weise auch Freuds Konfrontation mit der (medial initiierten) Dissoziation des klassischen Seins prägt. Was bei der von Wundt unternommenen Rückbindung des menschlichen Subjekts an die diskrete Zeit, bei diesem behaglichen und harmoniesüchtigen Unternehmen der Psychologie fehlt, ist die technische Obsessivität, die Frenesie, die mit den Signalen und Stroboskopen verbundene Paranoisierung. Was fehlt in dieser späten experimentalpsychologischen Nische des okzidentalen Bewusstseins, ist das okkulte Element.140 Wundts Psychologie neutralisiert das Unbewusste, sie dekoloriert es, sie normalisiert es. Sie führt einen wohlwollenden und oberlehrerhaften Diskurs, der, um von den opulenten Inszenierungen Charcots und den Fechner’schen Nächten des Wahnsinns hier gar nicht zu reden, das Unbewusste um jenen Aspekt des Unheimlichen, des Unbehaglichen, des Unsäglichen, des Inkommensurablen und Kontingenten subtrahiert, der für die Psychoanalyse in Freud’scher Tradition bezeichnend ist. Kurz gesagt: Wundt will vom medialen Realen eigentlich nichts wissen, sondern unter dem Namen des Unbewussten einen bürgerlichen und logozentrischen Subjektbegriff in der Epoche der neuen Zeit rehabilitieren. Aber dies, ohne sich von deren Medien und der durch diese angerichteten epistemologischen Verunsicherungen und physi140

Ebendies qualifiziert offenbar gerade Wundts psychophysikalische Ausdruckspsychologie zur methodischen Grundlage von Sprechtechnik im Schauund Hörspiel. Vgl. Hagen 2005: 141ff.

226 ſ DISKRETE GESPENSTER

schen Verheerungen beeinflusst zu fühlen. Wundt führt seine Schüler – das Schicksal der Testpersonen sei hier zensuriert – nicht über die Himmelstreppe bis zu Luzifers Sprung, sondern über die Eingangstreppe der Vorstadtvilla und geradewegs hinein bis zum Schott. In diesem Zusammenhang erscheint es nur folgerichtig, wenn nicht nur die Präludien und Fugen, sondern auch die Partituren der Texte ein alphabetisiertes bürgerliches Subjekt unterstellen und adressieren: „Auf der Oberfläche der unbewußten psychischen Leistungen erscheinen zur Gratifikation die Inhalte bürgerlichen Seelenlebens”141. Damit ist bereits ein weiteres, zur Grundausstattung des psychologischen Laboratoriums zählendes Gerät aufgerufen: das Tachistoskop, das ebenfalls der Bestimmung des Feldes von Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsschwellen dient. Experimente mit unverbundenen Elementen (Buchstaben) und verbundenen Elementen (Takte) sollen die Bewusstseinsleistungen hinsichtlich der Systematisierung und Sequenzialisierung seiner Inhalte demonstrieren. Wundt untersucht die Lesefähigkeit im Kontext optischer Reizverarbeitung: Normalerweise können sechs unverbundene Elemente auf einen Blick wahrgenommen werden, aber das Bewusstsein transzendiert diese seine Rechenleistung auf zwanzig Elemente, sobald es sich in der Ordnung einer ihm bekannten Sprache und damit der Dimension der Bedeutung befindet.142 „Wundts Beispiel sind die Wahlverwandtschaften, die auch dann noch zusammenhalten, wenn sie nicht richtig buchstabiert sind.”143 Ein analoges Experiment führt Wundt für akustische Reize durch mit dem Ergebnis, dass hier ebenso sechs Ereignisse das Maximum der erfassbaren Einheiten sind, dass sich jedoch in Takten mit drei variierenden Hebungen sechs Einheiten aller Kombinationen erfassen lassen. Damit ist für Wundt das mit dem mitteleuropäischen Bildungsbürger kongruente Subjekt schon exhauriert, ein Subjekt jedoch, das nicht länger wie das klassische Bewusstsein auf der Basis des repräsentationslogischen Schemas Signifikate erfasst, sondern das, als ein Subjekt der experimentellen, chronometrisch mechanisierten Psychologie, auf der Voraussetzung aufruht, dass jede seiner Bedeutungskonstitutionen durch eine voraufgehende physiologische Rhythmisierung hervorgerufen wird. Einerseits bleibt Wundt also den konventionellen, ganzheitlichen Konzepten von Bewusstsein verhaftet, andererseits jedoch folgen seine Befunde zur Bedeutungsgenese der für das Dispositiv der diskreten und zeitbasierten Medien (wie auch für die moderne antinaturalistische Poesie von Baudelaire bis Mallarmé) charakteristischen Zweischrittigkeit von Dekomposition und Rekonstitution einzelner Elemente. Die tachistoskopische Zerlegung ganzer Worte oder Sätze in ihre signifikanten Einheiten weist von ihrem strukturellen Procedere her Analogien zu Freuds Zerlegung des Sprachmaterials der vom Patienten erzählten Träume oder Deckerinnerungen auf. So hebt er hervor, dass „[man] alles, was das Vergessen am Trauminhalt gekostet hat, [...] oft durch die Analyse wieder hereinbringen [kann]; wenigstens in einer ganzen Anzahl von Fällen kann man von einem einzelnen stehen gebliebenen Brocken aus zwar nicht den 141 142

143

Holl 2002: 191. Zum Tachistoskop und dem damit vernetzten diskursiven Umfeld vgl. Kittler 1995: 279-283; vgl. auch Zeitler 1900: 403 und Ebbinghaus 1905-13: I, 709f. Kittler zufolge hat der Leseforschungspionier Donders direkt mit elektrischen Induktionsfunktion gearbeitet, vgl. Erdmann/Dodge 1889. Holl 2002: 192. Zu Wundts bürgerlich-logozentrischen Konzeptionen von Sprache und Subjekt vgl. auch Wundt 1904: I, 565ff.

KORPSIFIZIERUNG ſ 227

Traum – aber an dem liegt ja auch nichts –, doch die Traumgedanken alle auffinden“144. An anderer Stelle jedoch präsentiert er ein Beispiel, das Wundts Doppelbeseeltheit, wenn dieser abends vom arbeitstäglichen Labor in die mit Porzellanuhren, majestätischem Flügel und klassischen Ursachen ausgestattete Vorstadtvilla heimkehrt, und darüber hinaus den Unterschied zwischen der Freud’schen und der Wundt’schen Technik genau punktiert. „Eine meiner Patientinnen hat während der Behandlung ihren Vater verloren. Sie bedient sich seitdem jedes Anlasses, um ihn im Traume wieder zu beleben. In einem ihrer Träume kommt der Vater in einem gewißen, weiter nicht verwertbaren Zusammenhange vor und sagt: Es ist ein Viertel zwölf, es ist halb zwölf, es ist drei Viertel zwölf. Zur Deutung dieser Sonderbarkeit stellte sich nur der Einfall ein, daß der Vater es gerne gesehen hatte, wenn die erwachsenen Kinder die gemeinschaftliche Speisestunde pünktlich einhielten. Das hing gewiß mit dem Traumelement zusammen, gestattete aber keinen Schluß auf dessen Herkunft. Es bestand ein durch die damalige Situation der Kur gerechtfertigter Verdacht, daß eine sorgfältig unterdrückte, kritische Auflehnung gegen den geliebten und verehrten Vater ihren Anteil an diesem Traum hätte. In weiterer Verfolgung ihrer Einfälle, anscheinend weit vom Traum entfernt, erzählt die Träumerin, gestern sei in ihrer Gegenwart viel Psychologisches besprochen worden, und ein Verwandter habe die Äußerung getan: Der Urmensch lebt in uns allen fort. Jetzt glauben wir zu verstehen. Das gab eine ausgezeichnete Gelegenheit für sie, den verstorbenen Vater wieder einmal fortleben zu lassen. Sie machte ihn also im Traum zum Uhrmenschen, indem sie ihn die Viertelstunden der Mittagszeit ansagen ließ.“145

Die Medien der Psychotechnik als endgültige Dispensierung repräsentationslogischer Bewusstseins- und Bedeutungskonzeptionen haben sich, und zwar ohne die logozentrischen Rückfälle, die Wundt am Tachistoskop einholen, konsequenter mit Freuds Unbewusstem rückgekoppelt – macht er sich und seinen Analysanden in einem anderen berühmten Vergleich nicht selbst zum Schwingkreis eines Telefons? – und so eine Technik der Entzifferung ermöglicht, die sich von der klassischen Angelegenheit des Signifikats zugunsten des relationalen Signifikanten fernhält. Eine Technik, eine Rede über Klapperschlangen, Kleopatra, Asenatmen und gitanesrauchende Femmes fatales, die den Vorstadtvillenpatriarchen, in diesem Moment gerade mit hochgeschlossener Gattin und Tochter mit weißem Kragen beim abendlichen Din144

145

Freud 1999: II/III 522. Klassisch sind in diesem Zusammenhang, also der Disparität des Wundt’schen Bewusstseins, das Signifikate hervorbringt und sich an ihnen orientiert, und des Freud’schen Subjekts, das mit genau gegenteiligen Intentionen Signifikanten verschlüsselt, auch Freuds Vergleiche der Traumsprache mit „primitiven“ Bilderschriften, Hieroglyphenschriften und insbesondere der von ihm aufgrund ihres schöpferischen Potentials hochgeschätzten chinesischen Schrift: „Die [chinesische, Anm. d. Verf.] Sprache besteht also sozusagen nur aus dem Rohmaterial, ähnlich wie unsere Denksprache durch die Traumarbeit in ihr Rohmaterial unter Hinweglassung des Ausdrucks der Relationen aufgelöst wird. Im Chinesischen wird in allen Fällen von Unbestimmtheit die Entscheidung dem Verständnis des Hörers überlassen, der sich dabei vom Zusammenhange leiten läßt.“ (Freud 1999: XI 237) Zu den anderen genannten Beispielen vgl. Freud 1999: XI 236-238 und II/III 346f. Freud 1999: IV 303.

228 ſ DISKRETE GESPENSTER

ner, gebildete Konversation über einer Haustaube mit Trüffelsauce, in arge Perplexität versetzt hätte. Es ist jene Perplexität, die Bildungsbürgern a fortiori widerfährt bei der Begegnung mit „unbewußten Gedanken, die sich entweder durch die Störung selbst verraten (Klapperschlange – Kleopatra) oder einen indirekten Einfluß äußern, indem sie ermöglichen, daß die einzelnen Teile der bewußt intendierten Rede einander stören (Asenatmen: wo Hasenauerstrasse, Reminiszenzen an eine Französin dahinterstehen)“146. So sehr also Freuds Praxis der Analyse des Traums als ein Rebus, dessen Elemente auseinandergenommen und rekombiniert werden können, vom technischen Procedere her durch seine Erfahrungen im Laboratorium geprägt ist, so sind doch die von ihm gesetzten Voraussetzungen, Akzente und Lenkungen von Wundts Exploration der Seele des gebildeten Durchschnittsbürgers grundverschieden. Die Psychoanalyse Freud-Lacan’scher Tradition spekuliert erstens nicht auf den Einsatz von Bildung und Intellekt im Verlauf der Sitzung, und zweitens begegnet sie nicht einem von Bach bis Goethe kultivierten Normalbewusstsein, sondern einem zwischen Ur und Sache gespaltenen und durch diese Spaltung neurotisierten, hysterisierten, paranoisierten oder wie auch immer genuin verletzten Subjekt. Was den ersten Punkt angeht, so hat Lacan diese auf Freud zurückgehende Aufforderung zur freien Assoziation, zur Stimulation signifikanter (und nicht signifikativer) Bestände bis zur Begrüßung des freien Falls in die Debilität hin radikalisiert: „Das Subjekt ist eigentlicherweise der, den wir anhalten, nicht, wie wir ihm sagen, um ihn zu bestricken, alles zu sagen – man kann nicht alles sagen – sondern Blödheiten zu sagen, darauf kommt es an. Mit diesen Blödheiten werden wir dann die Analyse machen und eintreten in das neue Subjekt, das das des Unbewußten ist.“147 Zweitens desillusioniert die Freud-Lacan’sche Psychoanalyse jeden Glauben an ein gesundes Subjekt, dessen belesene Emotionen und Gedanken homogen bis zu seinen Ursprungsrhythmen zurückverfolgt können, und behandelt stattdessen unbewusste Gedanken, die ab initio auf eine solche operationale Weise an der Ur-Sache, an der Unmöglichkeit erkrankt sind, aufgrund deren sie sich nicht als solche, sondern nur in ihren Wirkungen erfassen lassen. Es handelt sich um Wirkungen, die die Frage nach dem eigentümlichen Wissen, das die Spaltung „ist“, in Signifikaten und Symptomen chiffrieren und dabei entstellen, anstatt sie klar zu exponieren. Und aus diesem Grund kann die Psychoanalyse dem Bewusstsein, das – und seien seine Beteuerungen von Wahrhaftigkeit, Wissen und Integrität noch so souverän – als Effekt eines medialen Realen, einer Kontingenz, einer Unwahrscheinlichkeit zugleich die Verstellung dieser seiner Kontingenz, seiner Ungewissheit, seiner Un-Ursächlichkeit ist, nur tiefes Misstrauen entgegenbringen. Vereinfacht gesagt, feingeistige Bedeutungen und Gedanken im bildungsbürgerlichen Sinne sind für eine Analyse des unbewussten Begehrens, jener paradoxalen Struktur, die zugleich ein Nicht-Begehren-Wollen ist, nicht nur unbrauchbar, sondern hinderlicher Ausdruck eines vom Ich ausgehenden Widerstands.148 Darum muss 146 147 148

Freud 1999: XI 241f. Lacan 1986a: 26. Vgl. Freud 1999: XI 296f: „Wenn wir es unternehmen, einen Kranken herzustellen, von seinen Leidenssymptomen zu befreien, so setzt er uns einen hefti-

KORPSIFIZIERUNG ſ 229

die Psychoanalyse die antiintellektualistische Spielregel aufstellen, dass das Bewusstsein das Denken, das Wissen, die Assertionen des Gedachten und Gewussten einstelle, auf dass die Schleusen auf das Gesagte, die Gedanken*, die Signifikanten hin geöffnet werden. „Es ist gerade in dem Maße, als er geruht, nicht mehr zu denken, der gute Mann, daß man vielleicht ein klein wenig mehr wissen wird, daß man einige Konsequenzen ziehen wird aus dem Gesagten – aus dem Gesagten, von dem man sich nicht lossagen kann, das ist die Spielregel. Daraus taucht ein Sagen auf, das nicht immer so weit geht, ex-sistieren zu können zum Gesagten. Auf Grund dessen, was zum Gesagten kommt als Konsequenz. Es ist da die Probe, wo, in der Analyse irgendeines, er mag noch so blöde sein, ein gewißes Reales berührt werden kann.“149

Dies Reale, das mediale Reale, umgeht Wundt, wenn er eine epistemologische Konstruktion bemüht, in der das Subjekt auf dem „Eigenen Schauplatz“ zwischen Erwartung und Erfüllung, zwischen Anspannung und Entspannung alterniert150, wenn er, medientheoretisch formuliert, die mit den Medien der Diskretisierung verbundene Kontingenz und Klüftung des klassisch-ontologischen Seins aus dem Radius seiner experimentellen Psychologie externalisiert. Nach Wundt lässt sich der für das (normale, bürgerliche) Subjekt konstitutive Wechsel zwischen Erwartung und Erfüllung – anders als das Pulsieren des korpsifizierten Seins – ohne Rückbindung an das Medium, das diesen Wechsel skandiert und, mehr noch: operationalisiert, denken und wissenschaftlich objektivieren. (Was nichts daran ändert, dass es – auch bei Wundt – Medien sind, und nicht die innerpsychologische Wahrnehmung, die die Taktschläge kommandieren): „Man pflegt im gewöhnlichen Leben die Phänomene, die in solchen Fällen wahrzunehmen sind, als einen Wechsel zwischen Erwartung und Erfüllung zu bezeichnen. Verfolgt man aber diese Erwartung näher, so bemerkt man, daß der Vorgang der Erwartung in diesem Fall ein stetig und regelmäßig veränderlicher ist. In dem Augenblick unmittelbar nach dem Taktschlag beginnt sich die Erwartung auf den folgenden zu spannen, und diese Spannung wächst an, bis derselbe wirklich eintritt. In dem gleichen Moment wird die Spannung plötzlich durch das Phänomen der den

149 150

gen, zähen, über die ganze Dauer der Behandlung anhaltenden Widerstand entgegen. Das ist eine so sonderbare Tatsache, daß wir nicht viel Glauben für sie erwarten dürfen. [...] der Kranke produziert alle Phänomene dieses Widerstandes, ohne ihn als solchen zu erkennen, und es ist bereits ein großer Erfolg, wenn wir ihn dazu gebracht haben, sich in diese Auffassung zu finden und mit ihr zu rechnen. Denken Sie doch, der Kranke, der unter seinen Symptomen so leidet und seine Nächsten dabei mitleiden läßt, der so viele Opfer an Zeit, Geld, Mühe und Selbstüberwindung auf sich nehmen will, um von ihnen befreit zu werden, der sollte sich im Interesse seines Krankseins gegen seinen Helfer sträuben. Wie unwahrscheinlich muß diese Behauptung klingen! Und doch ist es so, und wenn man uns diese Unwahrscheinlichkeit vorhält, so brauchen wir nur zu antworten, es sei nicht ohne seine Analogien, und jeder, der wegen unerträglicher Zahnschmerzen den Zahnarzt aufgesucht hat, sei diesem wohl in den Arm gefallen, wenn er sich dem kranken Zahn mit der Zange nähern wollte.“ Zum Widerstand vgl. auch Freud 1999: X 130-136 und XIII 16-18 und 241-244. Lacan 1986a: 26. Vgl. Wundt 1911: 35-40.

230 ſ DISKRETE GESPENSTER neuen Taktschlag begleitenden Erfüllung des Erwarteten abgelöst, worauf dann der gleiche Prozeß in dem nächsten Intervall sich wiederholt.“151

Damit formuliert Wundt die quasi-unbewusste, gleichwohl nicht in Symptomen und Fehlhandlungen exkorporierte Basis für seine Differenzierung von Gefühl, Vorstellung und Bewusstsein. Die Erwartungs-Erfüllungs- bzw. Anspannungs-Entspannungsfolge liegt nach Wundt kurz unterhalb der Wahrnehmungsschwelle zum Bewusstsein und kennzeichnet ein subjektives, das Bewusstsein unterspülendes Gefühl: „Es springt in die Augen, daß diese Zustände, die wir kurz als die Kontraste der Spannung und Lösung bezeichnen wollen, mit demselben Recht Gefühle zu nennen sind, die überall, wo sie vorkommen, als subjektive Relationen des Bewußtseins Empfindungen und Vorstellungen begleiten, nicht aber mit diesen identisch sind.“152 An dieser Stelle sei auf den Unterschied zwischen der Physiologie, die Gefühle und Empfindungen als neuronale Aktivitäten egalisiert, und der Psychologie, die eine präzise Distinktion von Gefühl und Empfindung bzw. Vorstellung vornimmt, hingewiesen. Dieser Antagonismus zwischen einer rein materialistisch-neurophysiologischen Bestimmung der Bewusstseinsleistungen und einer Forschungsrichtung, die, konsequent psychologisch, den Empfindungen und Vorstellungen einen Schutzraum gegen ihre radikale Materialisierung einrichtet, spiegelt sich, wenn auch unter anderen Voraussetzungen und mit tiefer reichenden Fragestellungen, in Freuds Alternieren zwischen dem materialistischen und dem metapsychologisch-symbolischen Zugang zum Unbewussten wider. Ein Alternieren, ein Schwanken, in dem die Freud präokkupierende Frage nach der psychischen oder physischen „Existenz“ des Unbewussten sich ausspricht, manchmal bis zum äußersten komprimiert, wie das folgende Beispiel zum Zusammenwirken von Affekten, Signifikanten und Gedächtnisleistungen zeigt: „In allen Fällen, wo der Verdrängung die Hemmung der Affektentwicklung gelingt, heißen wir die Affekte, die wir im Redressement der Verdrängungsarbeit wieder einsetzen, unbewußte. Dem Sprachgebrauch ist also die Konsequenz nicht abzustreiten; es besteht aber im Vergleiche mit der unbewußten Vorstellung der bedeutsame Unterschied, dass die unbewußte Vorstellung nach der Verdrängung als reale Bildung im System Ubw bestehen bleibt, während dem unbewußten Affekt ebendort nur eine Ansatzmöglichkeit, die nicht zur Entfaltung kommen durfte, entspricht. Streng genommen und obwohl der Sprachgebrauch tadellos bleibt, gibt es also keine unbewußten Affekte, wie es unbewußte Vorstellungen gibt. Es kann aber sehr wohl im System Ubw Affektbildungen geben, die wie andere bewußt werden. Der ganze Unterschied rührt daher, daß Vorstellungen Besetzungen – im Grunde von Erinnerungsspuren – sind, während die Affekte und Gefühle Abfuhrvorgängen entsprechen, deren letzte Äußerungen als Empfindungen wahrgenommen werden. Im gegenwärtigen Zustand unserer Kenntnis von den Affekten und Gefühlen können wir diesen Unterschied nicht klarer ausdrücken.“153

Dies eine Beispiel für jenes Alternieren, das für Freud charakteristisch ist, das überdies eine noch immer aktuelle, virulente Debatte nach sich zieht, soll 151 152 153

Wundt 1911: 36. Ebd. 38. Freud 1999: X 277.

KORPSIFIZIERUNG ſ 231

hier Genüge tun, wird sich doch das gesamte Kapitel 7.5 auf diesen Punkt konzentrieren. Historisch offenbart sich Wundts psychologisches Laboratorium in diesem Gefüge als oxymoronaler Schauplatz, der die Seele, das Bewusstsein als Abaton der Vorstellungen, der Emotionen und Bedeutungen, die die Welt bewegen, auratisieren will, indem er auf paradoxale Weise deren Konstruktionsprinzipien technisch-chronometrisch ermittelt – und damit die Seele im Endeffekt entmystifiziert, ihre Aura in nervliche Elementaroperationen liquidiert. Denn es sind gerade jene subjektiven Gefühle, die die Vorstellungen und Empfindungen – also das, was die Seele transzendentalsignifikatslogisch hält und adelt – kontrapunktieren, ohne mit ihnen identisch sein zu sollen, die in Wundts Laboratorium ein besonderes Augenmerk erhalten. Zur Beobachtung steht ihre Manipulierbarkeit: die Veränderung des subjektiven Gefühls in Relation zur veränderten Taktfolge bei der AnspannungsEntspannungsfolge. Eine Maximierung der Intervalle (also eine Minimierung der Reizfrequenz) führt zur Zunahme der Spannung und korrelativ dazu zu einer intensiveren Wahrnehmung der Spannung; im selben Zug schlägt das in Erwartung der Entspannung sich einstellende Lustgefühl in ein Unlustgefühl um. Eine Minimierung der Intervalle (Maximierung der Reizfrequenz) eliminiert singulär erfahrbare Spannungs- und Lösungsgefühle und ruft so einen ununterbrochenen Erregungszustand, eine Zitterpartie hervor, die ebenfalls als Unlust erfahren wird. Auf mittlere Größe zurückgestellt wirkt der Rhythmus sedierend – buddhistische Ataraxie in den Termen okzidentaler Laboratoriumspsychologie. Wundt treibt seine experimentelle Gefühlsanalyse weiter und baut darauf eine ganze Gefühlssynthese auf. Mittels der Metronomversuche induziert er komplexe und sogar ambige Gefühle, die nicht mit bestimmten Vorstellungen verkettet sind. Seiner Theorie zufolge lassen sich alle komplexen Gefühle wie Freude, Heiterkeit, Sorge, Zorn, Furcht etc. in drei emotionale Grundpaare zerlegen: Lust und Unlust, Spannung und Lösung, Erregung und Beruhigung, und umgekehrt können aus diesen elementaren Gefühlspaaren alle höher strukturierten Gefühle künstlich erzeugt werden.154 Aus einem anderen (Blick)-Winkel des experimentalphysiologischen Dispositivs verschlüsselt sich hier wiederum die Matrix von Freuds Lust-Unlustprinzip, das im Kontext der Helmholtz’schen Physiologie und insbesondere Energetik genauer expliziert wird. Dennoch darf gerade auch an dieser Stelle der Verweis nicht ausbleiben, dass das Prinzip, mit dem Freud die Relation zwischen den elementaren Zuständen des psychischen Apparats (Lust und Unlust, Erregung und Entspannung) und den entsprechenden, ins Psychische translozierten Vorstellungen anschreibt, in Wundts Laboratorium vorbereitet worden zu sein scheint.155 Hinzu kommt der oben offengelegte Sachverhalt, dass Wundt 154 155

Zu Wundts Gefühlsanalyse und -synthese aus elementaren Lust-UnlustOppositionen vgl. Holl 2002: 202f. Die Analogie zwischen Wundts Interrelation von Lust und Unlust, Entspannung und Erregung, zu den von Freud aufgestellten Gesetzen des LustRealitätsprinzips ist evident. Die Interdependenz des Lust- und des Realitätsprinzips bestimmt für Freud das Gesamt des libidinösen Haushaltes. Das Ziel der psychisch-libidinösen Aktivität liegt in der Verschaffung von Lust, die sich schlicht als Vermeidung von Unlust realisiert. Auf diese Weise fungiert das Lust-Unlust- als Regulationsprinzip, das durch Aufschub und Transformation libidinöser Energien zu große Spannungszustände vermeidet. Da Unlust stets die Augmentation von Erregungsquantitäten und Lust deren Verminde-

232 ſ DISKRETE GESPENSTER

bei all seinen Versicherungen hinsichtlich der psychologischen Orientiertheit und Dominanz seiner Forschung die physiologischen Faktoren nicht etwa nur übergeht, sondern sogar als Argument in seinen auf die Psychologie und Seelenforschung verpflichteten Ansatz integriert. Der Unterschied bleibt der, dass Freud, um die Kontingenz, die Unwahrscheinlichkeit, die Unveräußerlichkeit und damit zugleich um die unüberbrückbaren Defizite und Verfehlungen im kontemporären positivistischen Diskurs über das korpsifizierte Reale wissend, zwischen Psychologie und Physiologie hin und her geschaukelt wurde, wohingegend Wundt zwischen der Tatsache, dass Gefühle sich physiologisch durch somatische Veränderungen (z.B. Erweiterung und Verengung der Blutgefäße, endokrinologische Verschiebungen, etc.) und dem Glauben an eine subjektive Relaisstation aller Empfindungen und Evokationen einer multiplen Seele, ambiphisch schillernd zwischen einem Husserl’schen Transzendentalich und einer Leibniz’schen Seele, keine Antithese sah, oder anders: jede Antithese, jedes Nicht-Wissen um die kontingenten Effekte der Labormedien annihilierte. So dass er, hymnisch und von Erkenntnis ergriffen, deklamieren konnte: „Nicht als einfaches Sein, sondern als geordnete Einheit vieler Elemente ist die menschliche Seele, was Leibniz sie nannte: [...] ein Spiegel der Welt.“156 Weltlicher, analytisch-detachierter und medientechnischer formuliert: ein Spiegel des Laboratoriums und insofern Effekt einer in Bezug auf das kontemporäre Wissen medialen Opazität und Kontingenz.157 Diesen Effekt ahnte, so zeigen die Referenzierungen, Freud auf eine sensiblere Weise als Wundt. Freud scheint die in der experimentellen Psychologie kapriziös betriebene Camouflage des Seelenbegriffs mit derart nüchterner analytischer Schärfe durchschaut zu haben, dass er sich in der Traumdeutung auf Wundts Ansatz als eine eindeutig physiologische Theorie bezieht, ohne die seelenbezogene Besorgnis Wundts auch nur zu kommentieren. Er betont zunächst die Akkordanz seiner Theorie des Traumes mit der „Äußerung von Wundt, die Vorstellungen des Traumes gehen jedenfalls zum größten Teil von Sinnesreizen aus, namentlich auch von solchen des allgemeinen Sinnes“, die bis in den Bereich „zu Halluzinationen gesteigerter Erinnerungsvorstellungen“ reichen können.158 Dann jedoch die entscheidende Volte, in der er das „aus psychischen Motiven entsprungene“, „seelische Phänomen“ (!) des Traumes von Wundts Lehre abgrenzt, eben weil jene den Traum reduktionistisch als den „Erfolg eines physiologischen Reizes“ erklären zu können glaubt.159 Der Befund, dass Freud Wundts Theorie an dieser Stelle als eine physiologische (und nicht psychologische) Theorie rezipiert, gewinnt durch die Tatsache, dass Freud im unmittelbaren vergleichenden Anschluss auf die Explikationen des Neuroanatomen Meynert eingeht, nur noch an nachdrücklicher Aussagekraft.160 Da-

156 157 158 159 160

rung impliziert, handelt es sich bei diesen beiden für die Libido konstitutiven Gesetzen um ökonomische Prinzipien. Zu einer weitergehenden Explikation des Lustprinzips vgl. Kap. 6.10. Wundt 1874: 863. Vgl. Holl 2002: 203. Freud 1999: II/III 227. Freud 1999: II/III 228. Vgl. Freud 1999: II/III 228: „Auf eine ähnliche Voraussetzung ist z. B. die Erklärung der Zwangsvorstellungen aufgebaut, die Meynert durch das berühmte Gleichnis vom Zifferblatt, auf dem einzelne Zahlen stärker gewölbt vorspringen, zu geben versuchte.“

KORPSIFIZIERUNG ſ 233

bei geht es Freud, wie es sich an zahlreichen Stellen der Traumdeutung manifestiert, nicht darum, die Beteiligung physiologischer und somatischer Faktoren an der Traumgenese zu verneinen, er erteilt keine einfache Absage an Wundts Theorie.161 Dennoch deutet seine Attribuierung dieser „Lehre von den somatischen Traumreizen“ als „beliebt“ und „bestechend“ schon an, dass Freud sich bei aller Höflichkeit aufgerufen sieht, sie zu derogieren, „den schwachen Punkt in ihr aufzuweisen“, sie zu ergänzen durch eine Hervorhebung der den Traum motivierenden nicht-somatischen Regungen. Denn die Theorie Wundts erweist sich, so Freud, als „unfähig, irgendein Motiv anzugeben, welches die Beziehung zwischen dem äußeren Reiz und der zu seiner Deutung gewählten Traumvorstellung regelt“, sie vermag es nicht, die spezifische Selektion „zu erklären, welche die Reize oft genug bei ihrer produktiven Wirksamkeit treffen“162. Freud kann sich über die Beziehung zwischen Physis und Psyche, Nerven und Seele nicht auf die Weise Beruhigung verschaffen wie Wundt, der noch in einem auf Hochtouren laufenden psychotechnischen Labor den bürgerlichen Ableger eines transzendentalen Bewusstseins wiederbelebt, ohne diese Düperie vor sich verantworten zu müssen, allerdings auch ohne die Chance zu erhalten, die Botschaft vom Medium des Subjekts (im doppelten Wortsinne) zu empfangen. Ein möglicher Einwand darf bei dieser Argumentation nicht übergangen werden, dass nämlich Freud über Wundts oben ausführlich dargelegten ReImport des Bewusstseins in die chronometrisierte Physiologie nicht in zureichender Weise informiert gewesen sei. Dagegen spricht zum ersten und hauptsächlich bereits die archäologische Methode dieser Arbeit, die gegen jede Ideengeschichte Lacan folgen und eine diskursanalytisch fundierte Psychoanalyse des unbewussten Subjekts der Wissenschaft durchführen will. Als Vertreter des experimentalpsychologischen Dispositivs wurde Freud in jedem Fall, ob bewusst oder unbewusst, durch dessen Subtexte und Experimentalanordnungen determiniert. Zum zweiten findet Wundt in vielen Texten Freuds und dort in den unterschiedlichsten Kontexten Erwähnung – ein unabweisbares Indiz für Freuds intensive Kenntnis von Wundts gedanklichen Wegen und Tunnelungen. Von der umfassenden Adaption Wundts in Totem und Tabu abgesehen, geht Freud auch in einem ganz anderen und für dieses Kapitel relevanteren Zusammenhang auf die Wundt’sche Assoziationslehre ein, nämlich in der Psychopathologie des Alltagslebens in den Passagen über die verbalen Fehlhandlungen. Ähnlich wie in der Traumdeutung ist Freuds Verhältnis zu der hier thematisierten Wundt’schen Theorie der Assoziationen ambivalent: Einerseits affirmiert er sie und findet in ihr eine Unterstützung seiner eigenen Thesen, andererseits überführt er sie der Inkonsistenz. Freuds Adaption der Wundt’schen Assoziationslehre wurde zu Beginn dieses Kapitels bereits dargelegt. Dies soll nun wieder aufgenommen und vertieft werden. Freud schreibt zunächst mit aller Reverenz: „An dieser Stelle der Erörterung muß 161

162

Vgl. z.B. Freud 1999: II/III 343. Ein anderes Timbre erhält dieses Zugeständnis allerdings, wenn Freud sagt: „Aus der Beziehung der Träume zum Schlafzustand haben wir geschlossen, daß der Traum die Reaktion auf einen den Schlaf störenden Reiz ist. Wie wir gehört haben, ist dies auch der einzige Punkt, an dem uns die exakte experimentelle Psychologie zu Hilfe kommen kann; sie erbringt den Nachweis, daß während des Schlafes zugeführte Reize im Traume erscheinen.“ (Freud 1999: XI 88) Freud 1999: II/III 228.

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man aber der Äußerungen Wundts gedenken, der in seiner umfassenden Bearbeitung der Entwicklungsgesetze der Sprache (Völkerpsychologie, 1. Band, 1. Teil, S. 371 u. ff., 1900) auch die Erscheinungen des Versprechens behandelt.“ In Folge zitiert Freud größere Passagen aus Wundts Buch, die den „ungehemmten Fluß der von den gesprochenen Lauten angeregten Laut- und Wortassoziationen“ betreffen.163 Bezeichnet Freud dies mit Wundt als positives Moment, so gilt ihm die diesen freien Assoziationsfluss konteragierende Hemmung, die durch die Wirkungen des Willens und durch die gezielte willensgesteuerte Aufmerksamsfunktion ausgelöst wird, als das negative Gegenstück. Das von Wundt positiv konnotierte „Spiel der Assoziation“ kann sich auf variable Weise vollziehen. Es kann sein, dass ein kommender Laut vorweggenommen oder aber ein vorhergehender Laut repliziert wird, es kann sich um die Interpolation eines durch Gewohnheit geübten Lautes in die Kette handeln, und schließlich kann es sein, „daß ganz andere Worte, die mit den gesprochenen Lauten in assoziativer Beziehung stehen, auf diese herüberwirken“. Ähnlich modifikabel sind für Wundt die negativen, die die Assoziation störenden und hemmenden Kräfte.164 Freud schickt seiner konstruktiven Kritik an Wundt, anders gesagt: dessen Korrektur im Blick auf seine eigenen psychoanalytischen Resultate also eine genaue Darlegung von Wundts Theorie voran, die mit der respektvollen Summation endet: „Ich halte diese Bemerkungen Wundts für vollberechtigt und sehr instruktiv.“ Dann jedoch erfolgt eine Wendung. Freud leitet zu seiner Überzeugung von der Notwendigkeit einer Ergänzung und Modifikation der Wundt’schen Assoziationstheorie hinüber: „Vielleicht könnte man mit größerer Entschiedenheit als Wundt betonen, daß das positiv begünstigende Moment der Sprechfehler – der ungehemmte Fluss der Assoziationen – und das negative – der Nachlass der hemmenden Aufmerksamkeit – regelmässig miteinander zur Wirkung gelangen, so daß beide Momente nur zu verschiedenen Bestimmungen des nämlichen Vorganges werden. Mit dem Nachlass der hemmenden Aufmerksamkeit tritt eben der ungehemmte Fluss der Assoziationen in Tätigkeit; noch unzweifelhafter ausgedrückt: durch diesen Nachlass.“165

Bei Freud stehen die beiden Momente, der den Sprechfehler positiv motivierende und der ihn negativ inhibierende Moment, nicht mehr, wie bei Wundt, in einem einfachen Verhältnis der Gegensätzlichkeit; für Freud handelt es sich im Gegenteil um zwei interagierende, einander bedingende Momente ein und derselben psychischen Prozedur. Es liegt auf der Hand, dass es an dieser Stelle weniger darum geht, die Feinheiten und Unterschiede von Wundts und Freuds jeweiligen Konzeptionen des Versprechens zu evolvieren. Vielmehr soll ein bestimmter Modus des Freud’schen Denkens in den Fokus gerückt werden, womit sich nur – in rückläufiger wie vorläufiger Hinsicht – ein zentrales Sujet dieses Buches wiederholt: die von Freud vollzogene Dialektisierung zweier Momente, seien 163 164 165

Freud 1999: IV 68. Wundt 1904: 380f. Freud 1999: IV 69. Zum Kontext der Aufmerksamkeit vgl. auch Freud 1999: II/III 108: „Der Betrag von psychischer Energie, um den man so die kritische Tätigkeit herabsetzt, und mit welchem man die Intensität der Selbstbeobachtung erhöhen kann, schwankt erheblich je nach dem Thema, welches von der Aufmerksamkeit fixiert werden soll.“

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es positive oder negative Assoziationsfaktoren, seien es von außen oder innen kommende Reize, sei es die Zweiheit von Subjekt und Objekt, Ich und Welt. Durch diesen Schritt kommt Freud in den Vorzug, ein in den Vertretern seines Dispositivs noch immer in unterschiedlichen Formen arbeitendes Symptom zu überwinden und damit in eine Richtung vorzustoßen, die aus der Temporalisierung und Diskretisierung des Seins diejenigen Konsequenzen zieht, die schließlich zum Realen im medialen Sinne, zum Freud’schen-undsprachstrukturierten-Unbewussten führen. Ein solches impliziert jedoch immer schon eine gerichtete und verschlüsselte Botschaft. Das hat Freud, anders als Wundt, der sein Beobachtungsmaterial nicht auf solche psychoanalytische Erwartung hin prüfen wollte und konnte, erkannt. Und so kann Freud „unter den Beispielen von Versprechen, die ich selbst gesammelt [habe]“, folgerichtigerweise „kaum eines [finden], bei dem ich die Sprechstörung einzig und allein auf das, was Wundt „Kontaktwirkung der Laute“ nennt, zurückführen müßte.“ Freud geht weiter, er erhört ein mediatisiertes Subjekt, bezogen auf den hier besprochenen Zusammenhang, einen „einzelnen, unbewußt gebliebenen Gedanken, der sich durch das Versprechen kundgibt und oft erst durch eingehende Analyse zum Bewußtsein gefördert werden kann“166. Dieselbe Situation, Freuds Aneignung von Wundts Schule und ineins die Überschreitung von deren Betrachtungswinkel, wiederholt sich später in der Psychopathologie, als Freud Wundt im Kontext seiner Analyse des Verschreibens heranzieht. Freud hebt die „bemerkenswerte Begründung“ hervor, mit der Wundt die „Tatsache, daß wir uns leichter verschreiben als versprechen“, verbindet.167 Wieder lässt Freud hier zunächst Wundt selbst sprechen: „Im Verlaufe der normalen Rede ist fortwährend die Hemmungsfunktion des Willens dahin gerichtet, Vorstellungsverlauf und Artikulationsbewegung miteinander in Einklang zu bringen. Wird die den Vorstellungen folgende Ausdrucksbewegung durch mechanische Ursachen verlangsamt wie beim Schreiben [...], so treten daher solche Antizipationen besonders leicht ein.“168 Und wieder setzt er unmittelbar zum Protest, milder ausgedrückt, zu einer Rektifizierung an. In distinguiertem Stil artikuliert er, dass Wundts Erklärungsversuch „Anlaß zu einem Zweifel [gibt], den ich nicht unerwähnt lassen möchte, weil er nach meiner Schätzung der Ausgangspunkt einer fruchtbaren Untersuchung werden kann.“ In diesem Sinne verweist er auf das bekannte Phänomen, dass die Aufmerksamkeit des Lesenden beim Vorlesen vom vorgetragenen Text divergiert, um sich in anderen Gedankengängen zu verlieren. Freud bemerkt als „Folge dieses Abschweifens der Aufmerksamkeit“, dass der Vorlesende, wird er bei seiner Tätigkeit unterbrochen und befragt, außerstande ist, „anzugeben [...], was er gelesen hat.“ Die Unterbrechung des Lesers, die im Zitat von Wundt mit den Verlangsamungen der Ausdrucksbewegung aufgrund mechanischer Ursachen korreliert wird, führt bei Freud anders als bei Wundt nicht zum Versprechen des Lesers, im Gegenteil: Auch wenn der Leser „wie automatisch gelesen“ hat und auf unterbrechende Nachfrage keine Auskunft über den Inhalt des Vorgelesenen machen kann, hat er dennoch „fast immer richtig vorgelesen“169.

166 167 168 169

Freud 1999: IV 69. Freud 1999: IV 145. Wundt 1904: 374. Freud 1999: IV 145.

236 ſ DISKRETE GESPENSTER

Freud und Wundt kommen also zu unterschiedlichen Schlüssen, und betrachtet man diese Unterschiedlichkeit genau, dann kristallisiert sich ein ganz bestimmter Punkt heraus, in dem Freud sich nicht mit Wundts Deutung verständigen kann. Es ist die Aufmerksamkeit, die in Wundts Theorie, wie oben ausgeführt, eine kardinale Rolle spielt, eine Rolle, die Freud nicht übernimmt. Freud glaubt nicht an eine Kausalbeziehung zwischen einer Verminderung der bewussten Aufmerksamkeit und einer Vermehrung von Lesefehlern. „Ich glaube nicht, daß die Lesefehler sich unter solchen Bedingungen merklich vermehren. Von einer ganzen Reihe von Funktionen sind wir auch gewohnt anzunehmen, daß sie automatisch, also von kaum bewußter Aufmerksamkeit begleitet, am exaktesten vollzogen werden.“ Freud entzieht der Aufmerksamkeit, die für Wundt genau die Funktion ist, mit der er die Bewusstseinsphilosophie in seine durch Zeitmedien gestützte Experimentalpsychologie re-integrieren kann, ihre (mit allem psychoanalytischen Humor gesagt) Besetzungsenergie. Er folgert, „daß die Aufmerksamkeitsbedingung der Sprech-, Lese- und Schreibfehler anders zu bestimmen ist, als sie bei Wundt lautet (Wegfall oder Nachlass der Aufmerksamkeit)“170. Sprech- oder Lesestörungen werden nicht durch eine Minimierung der Aufmerksamkeit, durch eine momentane Nachlässigkeit oder Ermüdung des Bewusstseins171, das bei Wundt letztlich wieder zur Hauptzentrale des bürgerlichen Subjekts dekoriert wird, erwirkt, sondern durch die Intervention eines unbewussten Wunsches. „Die Beispiele, die wir der Analyse unterzogen haben, gaben uns eigentlich nicht das Recht, eine quantitative Verminderung der Aufmerksamkeit anzunehmen; wir fanden, was vielleicht nicht ganz dasselbe ist, eine Störung der Aufmerksamkeit durch einen fremden, Anspruch erhebenden Gedanken.“172 In seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse nimmt Freud seine Einwände gegen Wundts Theorie der Aufmerksamkeit noch einmal auf: „Wenn jemand in einer wichtigen Rede oder mündlichen Verhandlung durch ein Versprechen das Gegenteil von dem sagt, was er zu sagen beabsichtigt, so ist das nach der psycho-physiologischen oder Aufmerksamkeitstheorie kaum zu erklären.“173 Der Akzent liegt hier stärker auf einer allgemeinen Kritik an der Experimentalpsychologie, die, für sich allein genommen, das eigentliche Motiv der Fehlleistung, nämlich die sich via Entstellung aus dem Unbewussten übertragende Meldung, unweigerlich versäumen muss. „Alle diese kleinen Züge der Fehlleistungen werden durch die Theorie der Aufmerksamkeitsentziehung nicht gerade aufgeklärt.“ Um es wiederholt zu betonen: dies heißt nicht, dass Freud die Experimentalpsychologie einfach verwirft, dass er deren Forschungsergebnisse entbehren möchte – „aber darum braucht diese Theorie noch nicht falsch zu sein“ –, aber sie müssen durch andere Blickwinkel und Grundannahmen, nämlich die des sprechenden Unbewussten, kom-

170 171

172 173

Freud 1999: IV 145f. Vgl. hierzu auch Freud 1999: XI 40: „Man könnte noch mit dem Philosophen Wundt die Auskunft finden, daß das Versprechen zustande kommt, wenn infolge von körperlicher Erschöpfung die Assoziationsneigungen die Oberhand über die sonstige Redeintention gewinnen. Das ließe sich sehr gut hören, wenn dem nicht die Erfahrung widerspräche, nach deren Zeugnis in einer Reihe von Fällen die körperlichen, in einer anderen die Assoziationsbegünstigungen des Versprechens vermißt werden.“ Freud 1999: IV 145f. Freud 1999: XI 23.

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plettiert werden: „Es fehlt ihr vielleicht an etwas, an einer Ergänzung, damit sie voll befriedigend werde.“174 Noch eine weitere in der Kolonne berühmter Freud’scher Fehlleistungen soll angeführt werden: das Namenvergessen. Gerade hier bleibt Freud seiner diplomatischen Wohlerzogenheit treu. Fern jeder dogmatischen Versteinerung bestreitet er die von der experimentellen Psychologie eruierten psychophysischen Voraussetzungen für Störungen im Ablauf der Bewusstseinsakte nicht, und so räumt er auch für den Fall des Namenvergessens eine besondere Erleichterung aufgrund „psycho-physiologischer“ Bedingungen ein, zum Beispiel schwere Erschöpfung, Ermüdung, Migräne, akute Stressituationen, Kammerflimmern, Menopausensyndrome. Nur lässt er es bei diesen „Erleichterungen“ des Namenvergessens nicht bewenden, sondern ergänzt sie, die spezifische psychoanalytische Terminologie mit der Experimentalpsychologie verstrickend, durch Überlegungen bezüglich der „Einmengung eines Unlustmotivs“. Eine den experimentalpsychologischen Ansatz überschreitende „analytische Untersuchung“ wird unterschiedliche Modifikationen dieser Einmengungen, deren Funktionen und Wirkungen herausarbeiten. So können Namen vergessen werden, weil die betreffende Person „sie selbst nicht mag oder weil sie ihn an Unliebsames mahnen“. Diese direkte Meldung des Unlustprinzips kann, und dies ist der bei weitem häufigere Fall, auch indirekt durch Assoziation und Verschlüsselung ergehen, wenn zum Beispiel der „Name bei ihm [der jeweiligen Person, der das Vergessen widerfährt, Anm. d. Verf.] einem anderen Assoziationskreis angehört, zu dem er innigere Beziehungen hat. Der Name wird dort gleichsam festgehalten und den anderen momentan aktivierten Assoziationen verweigert“175. In demselben Experimentaldispositiv situiert, von denselben chronometrischen Medien umgeben, vom selben Zeit-Geist im buchstäblichsten Sinne obsediert und arbeitend in Laboratorien, in denen der diskrete Takt der Apparate und der Rhythmus der tetanisierten Nerven bis zur Konfluenz hyperagieren und die sich so der Hyopostase der Zuckung kat exochen nähern – letztendlich aber trennen sich die Wege von Freud und Wundt. Angereichert durch Begriffe wie die Aufmerksamkeit kann Wundts Diskurs neben seiner psychotechnischen Determiniertheit dennoch als bewusstseinsphilosophische Rede über normale und gebildete Vorstadtvillengewächse in Kommunionskleidern, soignierten Redingotes, artigen Häkel-Cardigans und Hermes’ Bundfaltenklassiker funktionieren. Wundt selbst setzt sich im vornehmen Fischgrätmuster unter weißem Arztkittel über die Freud’sche Aporie zwischen Physis und Psyche hinweg, und so gelingt ihm ein sicherer Durchbruch ins Lichtbringerische eines Bewusstseins, das, auch wenn es durch Psychotechnik und Chronometrie modernisiert ist und sich so in den Rahmen der post-repräsentativischen episteme einschreiben lässt, dennoch eher das Residuum einer vergangenen Epoche als ein Durchbruch in Richtung der operationalen Ontologie ist. Freuds in den Vorlesungen vorgetragenes Urteil hätte Wilhelm Wundt in einen Zustand von beherrschtem Furor versetzt: „Es fehlt die philosophische Hilfswissenschaft, welche für Ihre ärztlichen Absichten dienstbar gemacht werden könnte. Weder die spekulative Philosophie noch die deskriptive Psychologie oder die an die Sinnesphysiologie anschließende sogenannte 174 175

Ebd. 25. Ebd. 71.

238 ſ DISKRETE GESPENSTER experimentelle Psychologie, wie sie in den Schulen gelehrt werden, sind imstande, Ihnen über die Beziehung zwischen dem Körperlichen und Seelischen etwas Brauchbares zu sagen und Ihnen die Schlüssel zum Verständnis einer möglichen Störung der seelischen Funktionen in die Hand zu geben.“176

Beherrschter Furor, Verständnislosigkeit, Ressentiment, aber es hätte Wundt nicht wirklich in Verlegenheit gebracht. Er hätte, den Blick nach vorn gewendet, sein korrektes Jacket noch einmal zurechtgerückt, er hätte sich gestrafft und am Ende seine Assistenten in den Landgasthof Adler zu Stubenküken mit Morcheln, Rotbarbe auf Fenchel und gebackenen Kaffeetrüffeln auf Tonkabohneneis eingeladen. Freud dagegen wechselte vom Laboratorium zum Schreibtisch, und dies nicht etwa, um die unter Laborbedingungen gewonnen Resultate zu dementieren, sondern vielmehr um sie mit anderen Hypothesen, Erfahrungen und Überlegungen zu vernetzen, zu erweitern und auf eine post-hegelianische Weise zu dialektisieren, die sich keine Aufhebung zwischen den physischen und psychischen Faktoren mehr erhofft. Er wollte nicht von seinem Ort gedanklicher Stille zwischen Aschenbechern aus Muranoglas mit eingeschmolzenem Silberstaub, den Geschenken aus Marie Bonapartes altgriechischer Bonbonniere und einem Beistelltisch aus südamerikanischem Sucupiraholz aus einen Angriff gegen die von mentaler Chronometrie vibrierenden Laboratorien, gegen die Psychophysiologie führen. Aber er wollte aus einer erweiternden Adaption dieser Psychophysiologie heraus einen Angriff gegen das Ego führen, denn „es ist das viel missbrauchte Vorrecht der bewußten Tätigkeit, daß sie uns alle anderen verdecken darf, wo immer sie mittut“177. Versucht Wundt, noch während das Labor auf Hochtouren läuft und tickt, eine säkulare, aber angemessen elegante Konfektion des Transzendentalichs zu reanimieren, so folgt Freud einer Ahnung von ganz anderer Dimension und Mächtigkeit, nämlich der „auf richtige psychologische Ahnung gegründeten Huldigung vor dem Ungebändigten und Unzerstörbaren in der Menschenseele, dem Dämonischen, welches den Traumwunsch hergibt und das wir in unserem Unbewußten wiederfinden“178.

6.8 Wahnsinn und Normalität: Freud mit Bleuler Einer der prominentesten Schüler Wundts, der 1922 die Verbindung zwischen den Laborapparaten und den psychischen Reaktionen vollzieht, ist Eugen Bleuler.179 Bleuler entwickelt eine Theorie der Gelegenheitsapparate, mit der er die Fähigkeit der Psyche demonstriert, äußere Apparate wie artifizielle Reflexe in sich zu involvieren, als solche zu aktivieren und zu desaktivieren – Verschaltung von Körper und Apparat, Mediatisierung, Korpsifizierung. „Wir setzen dann einfach für bestimmte Gelegenheiten mit unserem Willen durch bestimmte Schaltstellungen einen Apparat zusammen, der nun mehr oder weniger selbsttätig fungiert und überhaupt einem angeborenen Reflex-

176 177 178 179

Ebd. 13. Freud 1999: II/III 618. Ebd. 619. Vgl. Holl 2002: 204.

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oder Triebapparat gleich ist. Wir reden dann von Gelegenheitsapparaten.“180 Bleuler konstruiert und operationalisiert eine physiologische Funktion aus den Seelenelementen, die Wundt zuvor in seinem Laboratorium freigelegt und nach Subroutinen untersucht hatte. Und so ist es nur konsequent, wenn Bleuler seine eigene Tätigkeit durch ein charakteristisches Experiment aus Wundts Laboralltag exemplifiziert: „Wir machen im psychologischen Laboratorium Versuche über die Reaktionszeit und tippen auf Erscheinen eines Signals mit einem bestimmten Finger so schnell als möglich auf einen elektrischen Taster. Dabei bedürfen die einzelnen Reaktionen keines besonderen Willensentschlusses mehr, ja wir brauchen nicht einmal an das Experiment zu denken: wir behalten dennoch die richtige Stellung bei und reagieren „automatisch“ im richtigen Augenblick. Bei komplizierten Versuchen, Wahlreaktionen oder Assoziationsexperimenten ist es ein häufiges Vorkommnis, daß das bewußte Ich verwirrt ist oder glaubt, besonders langsam reagiert zu haben, während der Automatismus gut funktionierte, oder umgekehrt. Man hat also durch den Willen einen Apparat zusammengestellt, der vollständig analog ist den physisch erworbenen Reflexeinrichtungen.“181

Eugen Bleuler, Schweizer Professor, Leiter der sagenumwobenen BurghölzliKlink, als Schüler von Charcot ausgebildet in der Hysterie-Theorie und Lehrer von Carl-Gustav Jung182 publiziert 1924 das Lehrbuch der Psychiatrie, mit dem er zum „Innovator des iatokratischen Diskurses in der Psychiatrie“183 avanciert.184 Was heißt das? – das heißt, zunächst ganz vereinfacht beschrieben: Bleulers Anliegen gehen dahin, die Patienten nicht als per se unzurechnungsfähige Objekte zu exkommunizieren, sondern sie zu verstehen. Im Blick auf diese Vereinfachung würden Freud und Lacan als einfache Antipoden der Bleuler’schen Methode erscheinen, sofern es ihrer Psychoanalyse gerade nicht darum geht, zu verstehen, sondern zu entziffern. „Wenn Sie verstehen, um so besser, behalten Sie es für sich, es ist nicht wichtig zu verstehen, sondern das Wahre zu erreichen.“185 Dennoch ist in Vereinfachungen, worauf in anderen Kontexten schon verwiesen wurde, stets eine Verfälschung des Sachverhaltes virulent. Und so ist auch die psychiatriegeschichtliche Stellung Bleulers und damit die Beziehungen, die er zur Freud-Lacan’schen Tradition ausbildet, komplexer. Bleulers Begriff des Verstehens lässt sich nämlich nicht einfach mit einer Hermeneutik à la Jaspers186 oder Gadamer gleichsetzen, sondern basiert vielmehr auf anderen Motivationen, die wiederum mit den antipsychiatrischen Konzepten des jungen Lacan und seiner surrealistischen Kooperationspartner konform gehen.187 Die innovative Haltung Bleu180 181 182 183 184 185 186 187

Bleuler 1921: 278. Bleuler 1921: 278. Vgl. Ellenberger 1973: 165ff. Holl 2002: 100. Zu Bleulers psychiatrischer Theorie vgl. auch Hell 2001 und Scharfetter 2001. Lacan 1990a: 69. Vgl. Lacan 1990a: 7f. Lacans Doktorthese von 1932, De la psychose paranoïaque dans ses rapports avec la personalité, wurde von den Surrealisten, insbesondere von Dalí und Breton, con brio rezipiert. Daneben verfasste Lacan zwei Aufsätze für die Surrealistenzeitschrift Minotaure (Das Problem des Stils und die psychiatrische Auffassung paranoischer Erlebnisformen und Motive des paranoischen

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lers liegt in seiner Ablehnung jeder dezisionistischen, medizintheoretisch immanenten Abgrenzung von „gesund“ und „krank“; statt dessen relativiert er, auch hier den Aspirationen des jungen Lacan nahestehend, den Befund der Krankheit mit Blick auf das soziale Umfeld und das persönliche Befinden des Patienten. Bleuler verfolgt also reformpsychiatrische Absichten: Wenn es sich mit Geistern und Akoasmen leben und arrangieren lässt, so liegt für ihn keine mentale Derangiertheit vor, und die Diagnose der Schizophrenie koinVerbrechens. Das Verbrechen der Schwestern Papin). Lacan war in den dreißiger Jahren der einzige Vertreter der Psychiatrie, der sachlich in der Lage und persönlich bereit war, den verwegenen Formulierungen der Surrealisten mit einer wissenschaftlich ernst zu nehmenden Theorie zur Seite zu stehen. Insbesondere unterstützte er in den zwanziger und dreißiger Jahren die antipsychiatrischen Konzeptionen der Surrealisten, denen zufolge es keine exakte Segregation zwischen Wahnsinn und Normalität geben kann. Die Surrealisten postulieren in Vorwegnahme von Foucaults Thesen eine neue Dialogisierung von Wahnsinn und Vernunft: Dem Wahnsinn als Negativität der Vernunft soll die ihm bestrittene Autonomie und schöpferische Funktion revindiziert werden. Lacan schließt sich dieser Auffassung an, wenn er zum Beispiel in dem Minotaure-Aufsatz über Das Problem des Stils den plastischen, literarischen und poetischen Reichtum der Psychose betont. Die Fähigkeiten des Paranoikers, so Lacans Bilanz, sind Voraussetzungen des künstlerischen Stils im umfassenden Sinne. In seiner Doktorthese sowie im Papin-Aufsatz konsolidiert er die von den Surrealisten aufgenommene, anti-kraeplinsche These, derzufolge die Paranoia kein konstitutioneller Krankheitsherd im Sinne der endogenen Psychosen, also nicht eine Disponiertheit pathogener Typen, sondern ein ansteckendes und nachahmbares Phänomen darstelle. Dies wird zur Basis der surrealistischen Spekulationen über eine Allerweltsvirulenz der Paranoia. Die Surrealisten situieren die Pathologie nicht in konstitutionellen, individualpathologischen Zusammenhängen, vielmehr soll sie in alltagspsychologische, gesellschaftliche und kunstästhetische Diskurse integriert werden. Beide Ansätze, die (Anti-)psychiatrie von Lacan und von den Surrealisten, werden getragen durch einen phänomenologischen Diskurs, der sich in Lacans Doktorthese und den genannten Aufsätzen luzide reflektiert. Denn beide affirmieren eine positiv-phänomenologische Beobachtung und Beschreibung der in den psychotischen Phänomenen selbst gegebenen symbolischen Ausdrucksmomente. Eine phänomenologische Beschreibung des Wahns übt Verzicht auf alle hypothetischen Angaben zur Konstitution des Wahnkranken und nimmt stattdessen einzig die aktuale Wahngegebenheit als Ausgangspunkt. Das originär psychotische Erlebnis wird, so Lacan, nur dann begreifbar, wenn es in dieser seiner reinen Gegebenheit als Geschehen belassen und als solches beschrieben wird, nämlich als die einheitliche Struktur einer unmittelbaren intellektuellen Selbst- und Weltanschauung. Entgegen der klassischen psychiatrischen Schule, die die Pathologie unter der Kategorie des Defekts einordnet, attestiert Lacan dem Wahnsinn eine eigene Originalität. Bleulers Appelle an das Verstehen der Sprache des Wahnsinns und die Integration des Wahnsinnigen in eine Gemeinschaft von Subjekten lässt sich mit diesem, von der klassischen Route divergierenden Zweig der Psychiatriegeschichte korrelieren; es gibt mehr Affinitäten zu dem von Lacan, den Surrealisten (und u.a. auch von Binswanger und Janet) vertretenen phänomenologischen Näherungen der Pathologie und ihren antipsychiatrischen Implikationen als zu einer Psychologie, die im Zuge einer Objektivierung des Subjekts, darin den Methoden der klassisch-medizinischen Nosologie vergleichbar, eine dezisionistische Trennlinie zwischen Paranoia und Normalität oktroyiert. Vgl. Lacan 1932 und Lacan 1990a: 23-26; vgl. Kraeplin 1893; Cowles 1981: 140; Dalí 1974 und Dalí 1984; Gorsen 1974; Mahr 1998.

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zidiert für Bleuler nicht notwendig mit der einer Krankheit, sondern möge, so seine gutgelaunten Wünsche, nur als ein Synonym für eine Andersheit aufgefasst werden. Bleuler privilegiert die Perspektive der Patienten und ihrer Befindlichkeiten vor der psychisch erkalteten Perspektive des Arztes und der methodischen Effektivität, er respektiert die paranoisch tingierten Welterklärungsmuster der „Kranken“, ohne jene ab ovo als normabweichend zu entwerten. Bleuler – ein Sozial-Ethno-Psychiater, der sein Leben zu Teilen in WG-artigem Stil zusammen mit den Patienten verbringt, „in großer Abgeschiedenheit von der übrigen Welt“188, so die Worte, mit denen sein Sohn diese Praxis, diese kontinuierlich mit der ärztlichen Tätigkeit versäumte Existenzpraxis erinnert. Mit antipsychiatrisch-äthesischen, teilweise empathischen Affekten beugt sich Bleuler zu seinem Patienten und dessen privatisiertem Allotria hinüber, und es ist Bleuler, der für eine Ersetzung des alten, in seinen weltverbessernd emotionierten Ohren pejorativen Terminus der Dementia praecox durch die neuere Bezeichnung der Schizophrenie plädiert.189 Anders als den zweiten bekannten Gründervater der Schweizer Schule, Carl Gustav Jung, mit dem er zunehmend in Streitigkeiten gerät, den er insbesondere in seinem Spätwerk als Renegaten der Psychoanalyse diskrediert, hat Freud Eugen Bleuler seine ganze Wertschätzung geschenkt. Zu Zeiten geht er so weit, Bleuler die Auszeichnung zu verleihen, dass dieser die Schlüssel des von der Psychoanalyse untersuchten Krankheitsbildes hinsichtlich der Paranoia in der Hand halte – „Bleuler [hat] bei verschiedenen Psychosen Mechanismen aufgezeigt, wie die durch Analyse bei den Neurotikern eruierten“190 –, und ihm eine unentbehrliche Rolle in der Gründungsgeschichte der Psychoanalyse zuzusprechen.191 Auch sucht er in Bleulers Schriften Unterstützung bei der Verteidigung gegen die zahlreichen, vom Amoralismus bis zum Pansexualismus reichenden Vorwürfe, die seine eigene psychoanalytische Theorie attackieren.192 In der Erinnerung bringt er die Erhebung der

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192

Bleuler 1955: 111. Vgl. Bleuler 1911: 7-11. Zu Bleulers Theorie der Schizophrenie vgl. auch Quartier-Frings/Baud 1999 und Baud 2003. Freud 1999: XIV 87. Vgl. Freud 1999: III 223: „Etwa so weit als im Vorstehenden angedeutet, war die Psychoanalyse durch die Arbeit des Referenten vorgeschritten, der sie durch länger als ein Jahrzehnt allein vertrat. Im Jahre 1906 begannen die Schweizer Psychiater E. Bleuler und C. G. Jung lebhaften Anteil an der Analyse zu nehmen“; vgl. auch Freud 1999: XIV 305: „Die Psychoanalyse, deren Anfänge durch zwei Daten (Breuer und Freud, Studien über Hysterie, 1895; Freud, Traumdeutung, 1900) bezeichnet werden können, fand zunächst kein Interesse bei Ärzten und Publikum. 1907 begann die Beteiligung von Schweizer Psychiatern unter der Führung von E. Bleuler und C. G. Jung in Zürich.“ Vgl. Freud 1999: XIV 466, Fußnote: „Am tiefsten reicht aber die Vermutung, die an die Ausführungen in der Anmerkung S. 66 anknüpft, daß mit der Aufrichtung des Menschen und der Entwertung des Geruchssinnes die gesamte Sexualität, nicht nur die Analerotik, ein Opfer der organischen Verdrängung zu werden drohte, so daß seither die sexuelle Funktion von einem weiter nicht zu begründenden Widerstreben begleitet wird, das eine volle Befriedigung verhindert und vom Sexualziel wegdrängt zu Sublimierungen und Libidoverschiebungen. Ich weiß, dass Bleuler („Der Sexualwiderstand“. Jahrbuch für psychoanalyt. und psychopathol. Forschungen, Bd. V, 1913) einmal auf das

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Psychoanalyse, „diese Zeit des Kampfes und der ersten Blüte“, unmittelbar mit der Kooperation mit Bleuler in Verbindung, der eng an seiner Seite war als zweiter Herausgeber des Jahrbuchs für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen (1909-1914).193 Müssen solche Reverenzen auf eine noch vor dem Bruch mit Jung liegende Zeit datiert werden, so baut Freud im Verlauf der Entwicklung eine zunehmende Distanz zu Bleuler auf, aus der keine Abweisung, wohl aber eine ausdifferenzierte Grenzziehung folgt. All dies, die Affirmation, die Reserve, die Ambivalenz, sich auf seiten Freuds wie Bleulers gleichermaßen vollziehend, sich gegenseitig übertragend, reflektiert sich in einem von Freud selbst verfassten Rückblick auf die Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse, aus dem hier, um eine möglichst unmittelbare Vorstellung des Verhältnisses der beiden Ärzte zu vermitteln, eine längere Passage zitiert wird: „Zuerst sammelte sich in Wien ein kleiner Kreis von Schülern um mich; nach 1906 erfuhr man, daß sich die Psychiater in Zürich, E. Bleuler, sein Assistent C. G. Jung und andere lebhaft für die Psychoanalyse interessierten. Persönliche Beziehungen knüpften sich an, zu Ostern 1908 trafen sich die Freunde der jungen Wissenschaft in Salzburg, verabredeten die regelmäßige Wiederholung solcher Privatkongresse und die Herausgabe einer Zeitschrift, die unter dem Titel Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen von Jung redigiert wurde. [...] Bald darauf veröffentlichte Bleuler seine Schrift zur Verteidigung der Psychoanalyse (Die Psychoanalyse Freuds 1920). So erfreulich es war, daß in dem Streit einmal auch Gerechtigkeit und ehrliche Logik zu Worte kamen, so konnte mich die Arbeit Bleulers doch nicht völlig befriedigen. Sie strebte zu sehr nach dem Anschein der Unparteilichkeit; es war kein Zufall, daß man gerade ihrem Autor die Einführung des wertvollen Begriffes der Ambivalenz in unsere Wissenschaft zu danken hatte. In späteren Aufsätzen hat Bleuler sich so ablehnend gegen das analytische Lehrgebäude verhalten, so wesentliche Stücke desselben bezweifelt oder verworfen, daß ich mich verwundert fragen konnte, was für seine Anerkennung davon erübrige. Und doch hat er auch später nicht nur die herzhaftesten Äußerungen zugunsten der Tiefenpsychologie getan, sondern auch seine großangelegte Darstellung der Schizophrenien auf sie begründet. Bleuler verblieb übrigens nicht lange in der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, er verließ sie infolge von Mißhelligkeiten mit Jung und das Burghölzli ging der Analyse verloren.“194

In Folge sollen Parallelen und Divergenzen der beiden Psychiater dargetan werden; dabei werden zwei interferierende Hauptpunkte als Gegenstand der Untersuchung hervortreten: die in beiden Ansätzen implizierten antipsychiatrischen Impulse und die angehende psychoanalytische Psychosentheorie. Der genaueren Betrachtung, die mit der Antipsychiatrie einsetzen wird, sei eine Rekapitulation von Freud selbst vorangestellt: „Es ließ sich nicht bezweifeln, daß Neurosen und Psychosen nicht durch eine scharfe Grenze getrennt waren, so wenig wie Gesundheit und Neurose, und es lag zu nahe, zur Erklärung der so rätselhaften psychotischen Phänomene die Einsichten heranzu-

193 194

Vorhandensein einer solchen ursprünglichen abweisenden Einstellung zum Sexualleben hingewiesen hat.“ Vgl. Freud 1999: XIII 417. Freud 1999: XIV 75 und 77.

KORPSIFIZIERUNG ſ 243 ziehen, die man an den bisher ebenso undurchsichtigen Neurosen gewonnen hatte. Schon Referent hatte in der Zeit seiner Vereinsamung einen Fall von paranoider Erkrankung durch analytische Untersuchung halbwegs verständlich gemacht und in dieser unzweideutigen Psychose dieselben Inhalte (Komplexe) und ein ähnliches Kräftespiel wie bei simplen Neurosen nachgewiesen. E. Bleuler verfolgte bei einer ganzen Anzahl von Psychosen die Anzeichen von dem, was er Freudsche Mechanismen nannte [...]. Die umfassende Bearbeitung der Schizophrenie durch Bleuler (1911) hat dann die Berechtigung psychoanalytischer Gesichtspunkte für die Auffassung dieser Psychosen in wahrscheinlich endgiltiger Weise dargetan.“195

Freud konvergiert, wenn auch mit mehr Zurückhaltung und Reserve als die späteren surrealistischen, philosophischen und psychoanalytischen Revolutionäre der Psychiatrie inklusive Lacan, mit Bleuler, wenn er bereits im Zuge seiner frühen klinischen Erfahrungen bemerkt, dass „der Ausdruck einer pathologischen Disposition“ „nicht notwendig mit persönlicher oder hereditärer Degeneration identisch zu sein braucht“196. Er fordert als eine der Grundvoraussetzungen für die psychiatrische und psychoanalytische Arbeit, dass „man sich [...] von dem theoretischen Vorurteile frei halten [muß], man habe es mit abnormen Gehirnen von dégénerés und désiquilibrés zu tun, denen die Freiheit, die gemeinen psychologischen Gesetze der Vorstellungsverbindung über den Haufen zu werfen, als Stigma eigen wäre“197. Dies zumal die in der klassischen Psychiatrie gängige Statuierung einer „neuropathischen Disposition“, die als „Zeichen einer allgemeinen Degeneration“ begriffen wird, sich der Therapie als ein Hindernis in den Weg stellt, und wie Bleuler stellt er sich auf die Seite der Patienten, wenn er polemisiert, dass die „überreichliche Verwendung“ dieses „bequemen Kunstworts“ zu Lasten der „armen Kranken“ geht, „denen zu helfen die Ärzte recht ohnmächtig sind“198. In ähnlicher Weise steht Freud auf der Seite des sozialmedizinisch orientierten Bleuler was die mit der psychiatrischen Konstitutionstheorie eng verbundene These von einer hereditären Krankheitsveranlagung betrifft (die zitierten Stellen haben darüber bereits viel ausgesagt). Seine rhetorische Frage, ob „wir den Satz, der die Vorherrschaft des erblichen Einflußes verkündet, auch im negativen Sinne dahin verstehen [dürfen], es sei gleichgültig, welche Erlebnisse an diese Seele herangetreten sind, sie war dazu bestimmt, irgendeinmal einen Wahn zu produzieren?“199, diskreditiert die auf ent-subjektivierende Nomenklaturen200 reduzierte Psychiatrie unmissverständlich. Kurzum, ganz im Akkord mit Bleulers reformpsychiatrischen Voraussetzungen entkräftet Freud die klassisch-psychiatrischen Argumente der hereditären Wahndisposition, die eine hysterische oder neurotische Symptomatik automatisch mit Degeneration verbinden – „das ist [...] eigentlich ein Wert-

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Freud 1999: XIII 421. Freud 1999: I 62f. Freud 1999: I 298. Freud 1999: I 510. Freud 1999: XI 258. Vgl. Freud 1999: XI 267f: „Vielleicht wollen Sie im Hinblick auf unsere Besprechungen vorher wissen, wie sich die gegenwärtige Psychiatrie zu den Problemen der Zwangsneurose verhält. Das ist aber ein armseliges Kapitel. Die Psychiatrie gibt den verschiedenen Zwängen Namen, sagt sonst weiter nichts über sie.“

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urteil, eine Verurteilung anstatt einer Erklärung“201. Ähnlich wie Foucault bestreitet er die von der Psychiatrie errichtete Nivellierung von „Sonderbarkeit“ bzw. „Andersheit“ und Degeneration.202 „Nun glauben wir ja, daß Personen, die solche Symptome entwickeln, von Natur aus etwas anders sein müssen als andere Menschen. Aber wir möchten fragen: Sind sie mehr „degeneriert“ als andere Nervöse, z. B. die Hysteriker oder als die an Psychosen Erkrankenden?“ Wie an vielen Stellen seiner Schriften verwahrt er sich gegen die psychiatrische Degenerationstheorie, um es hier jedoch nicht nur bei der rhetorischen Frage zu belassen, vielmehr führt er ein nachdrückliches Gegenargument an, einen Befund, der sich unmittelbar aus der psychoanalytischen Praxis ergibt, die den Patienten nicht auf ein Objekt mit einem bestimmbaren Degenerationsfaktor beschränkt, sondern als ein Subjekt zum Sprechen bringt. Erst dann, erst wenn man den bequemen und autoritären Standort des Arztes, der seine jeweiligen Symptom-Objekte klassifiziert, verlässt und sich dem Symptom als Botschaft eines individuellen Subjekts zuwendet, weitet sich das Gesichtsfeld dahingehend, „daß solche Symptome auch bei ausgezeichneten Menschen von besonders hoher und für die Allgemeinheit bedeutsamer Leistungsfähigkeit vorkommen“203, womit die Degenerationsthese endgültig demissioniert wäre.204 Und schließlich befördert er die Erweiterung des Zusammenhangs der brennenden Frage nach dem Symptom, die von der Psychiatrie durch die Diagnose geistiger Degeneration vereinfachend erledigt wird, bis in den Bereich der großen Persönlichkeiten der Geschichte, der Genies in den Wissenschaften und Künsten: „Für gewöhnlich erfahren wir ja, dank ihrer eigenen Diskretion und der Verlogenheit ihrer Biographen von unseren vorbildlich großen Männern wenig Intimes, aber es kommt doch vor, daß einer ein Wahrheitsfanatiker ist wie Émile Zola, und dann hören wir von ihm, an wieviel sonderbaren Zwangsgewohnheiten er sein Leben über gelitten hat.“205

In Parenthesen, aber unumgänglich: „[...] jawohl, Genie ist eine bestimmte Form reiner Entartung unter Auslösung von Produktivität. [...] Es litten an ausgesprochener klinischer Schizophrenie: Tasso, Newton, Lenz, Hölderlin, Swedenborg, Panizza, van Gogh, Gogol, Strindberg, latent schizophren waren: Kleist, Claude Lorrain. An Paranoia: Gutzkow, Rousseau, Pascal. Melancholie: Thorwaldsen, Weber, Schubert, Chopin, Liszt, Rossini, Molière, Lichtenberg, mit Vergiftungsideen: Mozart, mit Selbstmord: Raimund. Hysterische Anfälle hatten: Platen, Flaubert, Otto Ludwig, Molière. Es starben an Paralyse: Ma201 202 203 204

205

Freud 1999: XI 268. Vgl. Foucault 1973. Freud 1999: XI 268. Nicht dass die klassischen Psychiater die mit besonderen Begabungen und scharfem Verstand ausgezeichneten Patienten gänzlich ignoriert hätten. Aber ihre Bemühungen laufen dennoch auf klassifikatorische Differenzierungen hinaus, sie „sprechen von Dégéneres supérieurs“. Erst die Psychoanalyse räumt die Degenerationstheorie endgültig beiseite, indem sie zeigt, „daß man diese sonderbaren Zwangssymptome wie andere Leiden und wie bei anderen nicht degenerierten Menschen dauernd beseitigen kann. Mir selbst ist solches wiederholt gelungen.“ Vgl. Freud 1999: XI 268. Freud 1999: XI 268.

KORPSIFIZIERUNG ſ 245 kart, Manet, Maupassant, Lenau, Donizetti, Schumann, Nietzsche, Jules Goncourt, Baudelaire, Smetana. Es starben an arteriosklerotischer Verblödung: Kant, Gottfried Keller, Stendhal, Linné, Böcclin, Faraday. Es starben durch Selbstmord: Kleist, van Gogh, Raimund, Weininger, Garschin. Es hatten Triebvarianten in homoerotischer Richtung: vierzig. Es waren ihr Leben lang asexuell: Kant, Spinoza, Newton, Menzel (die berühmte Stelle aus seinem Testament: „es fehlt an jedem selbstgeschaffenen Klebestoff zwischen mir und der Außenwelt“). Es tranken, wobei Trinken keine bürgerliche Flüssigkeitsaufnahme bedeutet, wie zum Beispiel bei Goethe, der sein Leben lang täglich ein bis zwei Flaschen Wein trank, sondern Trinken mit der erklärten Absicht des Rauschs: Opium: Shelley, Heine, Quincey (fünftausend Tropfen pro Tag), Coleridge, Poe. Absinth: Musset, Wilde. Äther: Maupassant (außer Alkohol und Opium), Jean Lorrain. Haschisch: Baudelaire, Gautier. Alkohol: Alexander (der im Rausch seinen besten Freund und Mentor tötete und der an den Folgen schwerster Exzesse starb), Sokrates, Seneca, Alkibiades, Cato, Septimius Severus (starb im Rausch), Cäsar, Muhamed II., der Große (starb im Delirium tremens), Steen, Rembrandt, Carracci, Barbatello Poccetti, Li T'ai-po („der grosse Dichter, welcher trinkt“, starb durch Alkohol), Burns, Gludc (Wein, Branntwein, starb an Alkoholvergiftung), der Dichter Schubart, Schubert (trank seit dem fünfzehnten Jahr), Nerval, Tasso, Händel, Dussek, G. Keller, Hoffmann, Poe, Musset, Verlaine, Lamb, Murger, Grabbe, Lenz, Jean Paul, Reuter (Dipsomane, Quartalssäufer), Scheffel, Reger, Beethoven (starb bekanntlich an alkoholischer Leberzirrhose). – Fast alle waren ehelos, fast alle kinderlos, über glückliche Ehen weiß man eigentlich nur von einem halben Dutzend Musikern, dann von Schiller und Herder. Viele körperliche Mißbildungen: Mozart hatte verkrüppelte atavistische Ohren, Scarron war ein Krüppel ohne Beine, Toulouse-Lautrec von Kindheit an gelähmt, Verlaine hatte Henkelohren, der einen Wasserkopf, jener einen prognathen kriminellen Oberkiefer, der eine tierische fliehende Stirn, der idiotische Kinder –, das Produktive, wo immer man es berührt, eine Masse durchsetzt von Stigmatisierungen, Rausch, Halbschlaf, Paroxysmen; ein Hin und Her von Triebvarianten, Anomalien, Fetischismen, Impotenzen –: gibt es überhaupt ein gesundes Genie? Es gibt eine durch die enormste geistige Gewalt lebenslänglich kompensierte Antinomie, es gibt die immer wieder durch spirituelle Leistungen gelöschte primäre Dyshormonie: Goethe ist der Fall dafür, ähnlich Schiller, auch Leibniz. Aber doch auch Goethe ist, wie Möbius nachgewiesen hat, ein äußerst empfindsamer, höchst reizbarer Psychopath und Gefühlsmensch gewesen, ja daneben lief, einwandfrei festgestellt, eine ganz leichte Form von Zyklothymie mit Depressionen, wo die Produktion völlig darniederlag, und dann wieder Perioden von Hypomanie und übertriebener Jugendlichkeit. Und auch Lombroso, der immer nach den Génies intègres suchte und Voltaire zu ihnen rechnete, wird heute dahin korrigiert, daß Voltaire bei näherem Zusehn ebenfalls ein gefährlicher, reizbarer und hypochondrischer Psychopath gewesen sei. Man bedenke auch folgendes: es gibt einige scheinbar Gesunde, aber in ihrer nächsten Erbumgebung sehen wir klassische Psychopathien: Hegel selbst gesund, seine Schwester geisteskrank; Hauff und Kerner Schwesternsöhne, aber die dritte Schwester geisteskrank, die Grossmutter somnambul; Balzac scheinbar gesund, aber sein Vater legte sich eines Tages ohne jedes Motiv ins Bett und stand erst nach zwanzig Jahren wieder daraus auf: es sind dies alles wohl nur latent Labile, scheinbar Geschonte bei schon begonnener erbmäßiger Entartung.“206

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Benn 1980: II 34-37.

246 ſ DISKRETE GESPENSTER

Obwohl diese Zeilen aus Gottfried Benns Essay über das Genie sich erstens durch die Adaption der Vererbungslehre von Freuds Ausgangspunkt unterscheiden und darüber hinaus, zweitens, negativer, nihilistischer, zynischer tingiert sind als die Überlegungen Freuds, geben sie, wie auch die in Fussnote 9 ausgeführte antipsychiatrische Motivation des Surrealismus, einen eindeutigen Hinweis darauf, dass die Debattierung des Wahnsinns für das gesamte Dispositiv um 1900 und weit über die Psychiatrie hinaus im doppelten Wortsinne symptomatisch ist. Das Benn-Zitat leitet aber über die Frage nach der hereditären Disposition zurück zu Bleuler und Freud. In einem Punkt hinsichtlich der Ablehnung der psychiatrischen Degenerationstheorie, die Freud und Bleuler teilen, überschreitet der erstere den letzteren sogar noch. Macht sich Bleuler primär um die gesellschaftliche Integration und Anerkennung psychisch erkrankter Subjekte verdient, bekämpft er wie Freud deren gesellschaftliche wie allgemein intersubjektive Disqualifizierung als Degenerierte und die daran anschließende Ausschließung, so geht es Freud bei dem Nachweis, dass ein pathologisches Symptom gerade nicht mit einem geistigen Abbau von Struktur, mit geistiger Desorganisation und Verheerung gleichgesetzt werden darf, sondern vielmehr die genau entgegengesetzten Merkmale, eine klare und auf ihre Art logische Strukturiertheit, sprachliche Verfasstheit, aufweist, um mehr: nämlich um den wissenschaftlichen Nachweis des „Unbewussten als solchen“.207 Es muss, am Ende dieser Ausführungen zur Antipsychiatrie jedoch der Zusatz gemacht werden, dass Freuds Lossprechung der Kranken von dem automatischen geistigen Zerfall, den die klassische Psychiatrie ihnen nachsagt oder prophezeit, zwar eine generelle Verneinung der Konstitutionstheorie nahelegt. Dies ist jedoch, und in Freuds späteren Schriften zur Libidotheorie dokumentiert sich das noch deutlicher als in den frühen Studien, nicht der Fall. Freuds Weigerung, die Patienten in einem durch weiße Kittel autorisierten Rundumschlag als intellektuell und affektiv Degenerierte zu brandmarken, impliziert, wie an späterer Stelle gezeigt wird, keine generelle Distanzierung von der Konstititutionstheorie (worin Freud sich von der Kooperation Lacan-Dalì unterscheidet). Es steht außer Zweifel, dass Freud, der seine Patienten nach einem sorgfältig geführten Terminkalender einzeln und nacheinander in einem durch eine doppelte „und durch einen Filzüberzug verstärkte“ Tür vom Wartezimmer getrennten Behandlungszimmer empfangen hat – und dort sind einige gleich zum jungfräulichsten Beginn der Behandlung in eine Falle gelaufen, in

207

Vgl. hierzu Freud 1999: XI 287: „Man muß doch bekennen, in diesen Symptomen der Zwangsneurose, diesen Vorstellungen und Impulsen, die auftauchen, man weiß nicht woher, sich so resistent gegen alle Einflüsse des sonst normalen Seelenlebens benehmen, den Kranken selbst den Eindruck machen, als wären sie übergewaltige Gäste aus einer fremden Welt, Unsterbliche, die sich in das Gewühl der Sterblichen gemengt haben, ist wohl der deutlichste Hinweis auf einen besonderen, vom übrigen abgeschlossenen Bezirk des Seelenlebens gegeben. Von ihnen aus führt ein nicht zu verfehlender Weg zur Überzeugung von der Existenz des Unbewußten in der Seele, und gerade darum weiß die klinische Psychiatrie, die nur eine Bewußtseinspsychologie kennt, mit ihnen nichts anderes anzufangen, als daß sie sie für die Anzeichen einer besonderen Degenerationsweise ausgibt.“

KORPSIFIZIERUNG ſ 247

der Freud das Symptom eines zu lebensfrohen Egos decouvriert hat208 – jeden Vorschlag, sich später mit den Patienten des Tages über einer Synthese von Steinpilz und Steinbutt zu versammeln, mit distinguierter Entrüstung zurückgewiesen hätte. Und doch setzt auch er ähnlich wie Bleuler eine – allerdings imponderable – Sympathiebeziehung als Fundament der psychoanalytischen 208

Vgl. hierzu die ausführliche Anekdote, die Freud in seinen Vorlesungen erzählt. Freud 1999: XI 252-254: „Ich habe die einfache Tür zwischen meinem Warte- und meinem Behandlungs- und Ordinationszimmer verdoppeln und durch einen Filzüberzug verstärken lassen. Die Absicht dieser kleinen Vorrichtung leidet ja keinen Zweifel. Nun geschieht es immer wieder, daß Personen, die ich aus dem Wartezimmer einlasse, es versäumen, die Türe hinter sich zu schließen, und zwar lassen sie fast immer beide Türen offen stehen. So wie ich das bemerke, bestehe ich in ziemlich unfreundlichem Ton darauf, daß der oder die Eintretende zurückgehe, um das Versäumte nachzuholen, mag es auch ein eleganter Herr oder eine sehr geputzte Dame sein. Das macht den Eindruck von unangebrachter Pedanterie. Ich habe mich auch gelegentlich mit solcher Forderung blamiert, da es sich um Personen handelte, die selbst keine Türklinke anfassen können und es gern sehen, wenn ihre Begleitung ihnen diese Berührung erspart. Aber in der Überzahl der Fälle hatte ich recht, denn wer sich so benimmt, wer die Türe vom Wartezimmer zum Sprechzimmer des Arztes offen stehen läßt, der gehört zum Pöbel und verdient, unfreundlich empfangen zu werden. [...] Diese Nachlässigkeit des Patienten ereignet sich nämlich nur dann, wenn er sich allein im Wartezimmer befunden hat und also ein leeres Zimmer hinter sich zurückläßt, niemals wenn andere, Fremde, mit ihm gewartet haben. In diesem letzteren Falle versteht er sehr wohl, daß es in seinem Interesse liegt, nicht belauscht zu werden, während er mit dem Arzt spricht, und versäumt es nie, beide Türen sorgfältig zu schließen. So determiniert ist das Versäumnis des Patienten weder zufällig noch sinnlos, ja nicht einmal unwichtig, denn wir werden sehen, es beleuchtet das Verhältnis des Eintretenden zum Arzt. Der Patient ist von der großen Menge jener, die weltliche Autorität verlangen, die geblendet, eingeschüchtert werden wollen. Er hat vielleicht durchs Telephon anfragen lassen, um welche Zeit er am leichtesten vorkommen kann, er hat sich auf ein Gedränge von Hilfesuchenden gefaßt gemacht, etwa wie vor einer Filiale von Julius Meinl. Nun tritt er in einen leeren, überdies höchst bescheiden ausgestatteten Warteraum und ist erschüttert. Er muß es den Arzt entgelten lassen, daß er ihm einen so überflüssigen Aufwand von Respekt entgegenbringen wollte, und da – unterläßt er es, die Türe zwischen Warte- und Ordinationszimmer zu schließen. Er will dem Arzt damit sagen: Ach, hier ist ja niemand und wahrscheinlich wird auch, so lange ich hier bin, niemand kommen. Er würde sich auch während der Besprechung ganz unmanierlich und respektlos benehmen, wenn man seine Überhebung nicht gleich anfangs durch eine scharfe Zurechtweisung eindämmen würde. Sie finden an der Analyse dieser kleinen Symptomhandlung nichts, was Ihnen nicht bereits bekannt wäre: Die Behauptung, daß sie nicht zufällig ist, sondern ein Motiv hat, einen Sinn und eine Absicht, daß sie in einen angebbaren seelischen Zusammenhang gehört, und daß sie als ein kleines Anzeichen von einem wichtigeren seelischen Vorgang Kunde gibt. Vor allem anderen aber, daß dieser so angezeigte Vorgang dem Bewußtsein dessen, der ihn vollzieht, unbekannt ist, denn keiner der Patienten, welche die beiden Türen offen gelassen haben, würde zugeben können, daß er mir durch dieses Versäumnis seine Geringschätzung bezeugen wollte. Auf eine Regung von Enttäuschung beim Betreten des leeren Wartezimmers würde sich wahrscheinlich mancher besinnen, aber der Zusammenhang zwischen diesem Eindruck und der darauffolgenden Symptomhandlung ist seinem Bewußtsein sicherlich unerkannt geblieben.“

248 ſ DISKRETE GESPENSTER

Arbeit, ist diese doch „mühselig und zeitraubend für den Arzt“ und „setzt ein großes Interesse für psychologische Vorkommnisse und doch auch persönliche Teilnahme für den Kranken bei ihm voraus“. Und er setzt fort: „Ich könnte mir nicht vorstellen, daß ich es zustande brächte, mich in den psychischen Mechanismus einer Hysterie bei einer Person zu vertiefen, die mir gemein und widerwärtig vorkäme, die nicht bei näherer Bekanntschaft imstande wäre, menschliche Sympathie zu erwecken [...].“ Im Unterschied zu Bleuler wird diese Haltung jedoch nicht von sozialen oder philantrophischen Affekten motiviert, was auf flagrante Weise deutlich wird, vergegenwärtigt man sich die „nicht minderen Bedingungen“, die Freud „von seiten der Kranken“ fordert: „Unterhalb eines gewißen Niveaus von Intelligenz ist das Verfahren überhaupt nicht anwendbar, durch jede Beimengung von Schwachsinn wird es außerordentlich erschwert“209. Aus der Widerlegung der klassisch-psychiatrischen Degenerationsthese ganz im Stil Bleulers folgt nicht, dass Freud Zustände von geistiger Dissoziation, Schwachsinn und Debiliät grundsätzlich annihiliert, und hierin offenbart er keine Arroganz, wie ein zartbesaiteter Sozialpsychiater sie spüren könnte, sondern einfach einen nüchternen Sinn für die Realität, und diese umfasst gerade auch die Realität und die realistischen Heilungsaussichten bezüglich einer psychoanalytischen Methode, die sich von Bleulers Ambitionen zur Kommunikation mit den Patienten im Kreis einer zur großen Familie harmonisierten Irrenanstalt grundsätzlich unterscheidet. Freud lehnt solchen Willen zu Kommunikation und Verstehen grundsatzkräftig ab, und dies nicht allein aus einer realistischen Einschätzung der aus diesem Vorgehen resultierenden oder vielmehr nicht resultierenden Therapieerfolge, sondern weil er, wenn er daran „erinnert [...], [daß] eine andere Richtung der analytischen Aktivität [...] bereits einmal ein Streitpunkt zwischen uns und der Schweizer Schule gewesen [ist]“, von dem untrüglichen Gespür geleitet wird, dass sich bei Bleuler und seinen Patienten über Rotbarsch in Senfsauce bereits die moderne, ein persönlich und/oder kollektiv sinnträchtiges Ideal-Ich installierende Psychologie, unumständlich gesagt: der Feind der Freud-Lacan’schen Psychoanalyse ankündigt. „Wir haben es entschieden abgelehnt, den Patienten, der sich Hilfe suchend in unsere Hand begibt, zu unserem Leibgut zu machen, sein Schicksal für ihn zu formen, ihm unsere Ideale aufzudrängen und ihn im Hochmut des Schöpfers zu unserem Ebenbild, an dem wir Wohlgefallen haben sollen, zu gestalten.“

Betrachtet man die sich im Fortgang des Zitats kundgebende Haltung, so scheint zunächst ein Widerspruch zu Freuds oben vorgestellter Assertion vorzuliegen, dass eine langdauernde analytische Arbeit mit einem Hysteriker oder Neurotiker, demgegenüber ihm Sympathie, Interesse und Hinneigung abgingen, für ihn nicht vorstellbar sei. Nun aber heißt es plötzlich: „ich habe Leuten helfen können, mit denen mich keinerlei Gemeinsamkeit der Rasse, Erziehung, sozialen Stellung und Weltanschauung verband, ohne sie in ihrer Eigenart zu stören.“210 Der Widerspruch lässt sich jedoch, zumindest partiell, auflösen, indem zunächst die Kontextualisierung der Stelle beachtet wird: Es geht hier präzise und konzentriert um eine Polemik gegen die Ich-Psycho209 210

Freud 1999: I 264. Freud 1999: XII 190.

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250 ſ DISKRETE GESPENSTER

wird am Ende eine Fortsetzung finden. Zunächst soll jedoch der für die Positionierung beider Theorien unumgängliche Kommentar zur Psychose folgen. Die scheinbar uneinheitliche Haltung Freuds – eine Solidarität mit einem so „kühlen Parteigänger wie E. Bleuler“212, eine Wertschätzung von dessen reformativer Intervention in die Theorieverkrustung der klassischen Psychiatrie einerseits, der Verdacht ichpsychologischer Vorgehensweisen durch Oktroyierung eines Ideal-Ichs andererseits – findet eine Erklärung nicht zuletzt in der unterschiedlichen Klientel beider Psychiater. Wobei die Pointe genau da liegt, dass in bezug auf Bleuler von Klientel gar nicht gesprochen werden kann; im Unterschied zu den akribisch-sukzessiv im Terminkalender notierten Fällen Freuds waren Bleulers Insassen größtenteils außerstande, einfach und alltäglich ins Büro oder in den Laden zu gehen, Kindern in der Schule das Einmaleins beizubringen, im prosaischen Lärm der Autos und Omnibusse zur Arbeit zu fahren oder im Kaffeehaus über Mohnkipferln, Buchten und Liwanzen die Tageszeitungen von Wien zu lesen. Sie waren nicht eingezogen in den Lärm des Großtadtverkehrs, sondern okkupiert von den „lärmenden Krankheitserscheinungen [...], die von dem vergeblichen Bestreben der Libido herrühren, den Rückweg zu den Objekten zu finden“213, von den Stigmata der von Freud unter den Aktual- sowie narzisstischen Neurosen subsumierten Psychosen, Schizophrenien und jagenden Melancholien. Freud räumt selbst ein, dass die Psychoanalyse, zumindest auf ihrem derzeitigen Forschungs- und Wissensstand, ihren Zuständigkeitbereich begrenzen muss und für die „narzisstischen Affektionen, [zu denen ] die psychoanalytische Auffassung auch alle die Leiden rechnen [müßte], die in der Psychiatrie „funktionelle Psychosen“ genannt werden“214, keine Heilungsschancen prophezeien kann.215 Darüber hinaus setzt er weitere Begrenzungen. „Die psychoanalytische Therapie ist derzeit nicht allgemein anwendbar; ich kenne für sie folgende Einschränkungen: Sie erfordert ein gewißes Mass von Reife und Einsicht beim Kranken, taugt daher nicht für kindliche Personen oder für erwachsene Schwachsinnige und Ungebildete. Sie scheitert bei allzu betagten Personen daran, 212 Freud 1999: XIII 223. 213 Freud 1999: XIII 231. 214 Freud 1999: XIII 420f. 215 Vgl. Freud 1999: XI 262: „Vielleicht hat nun die viel befehdete Psychoanaly-

se auch Freunde unter Ihnen, welche es gern sehen, wenn sie sich auch von anderer, von der therapeutischen Seite her rechtfertigen ließe. Sie wissen, daß unsere bisherige psychiatrische Therapie Wahnideen nicht zu beeinflussen vermag. Kann es vielleicht die Psychoanalyse dank ihrer Einsicht in den Mechanismus dieser Symptome? Nein, meine Herren, sie kann es nicht; sie ist gegen diese Leiden – vorläufig wenigstens – ebenso ohnmächtig wie jede andere Therapie. Wir können zwar verstehen, was in dem Kranken vor sich gegangen ist, aber wir haben kein Mittel, um es den Kranken selbst verstehen zu machen. Sie haben ja gehört, daß ich die Analyse dieser Wahnidee nicht über die ersten Ansätze hinaus fördern konnte.“ Vgl. auch Freud 1999 X 295: „Bei der Schizophrenie hat sich uns dagegen die Annahme aufgedrängt, daß nach dem Prozesse der Verdrängung die abgezogene Libido kein neues Objekt suche, sondern ins Ich zurücktrete, daß also hier die Objektbesetzungen aufgegeben und ein primitiver objektloser Zustand von Narzissmus wieder hergestellt werde. Die Unfähigkeit dieser Patienten zur Übertragung – soweit der Krankheitsprozeß reicht, – ihre daraus folgende therapeutische Unzugänglichkeit, die ihnen eigentümliche Ablehnung der Außenwelt, das Auftreten von Zeichen einer Überbesetzung des eigenen Ichs.“

KORPSIFIZIERUNG ſ 251 daß sie bei ihnen, dem angehäuften Material entsprechend, allzuviel Zeit in Anspruch nehmen würde, so daß man bis zur Beendigung der Kur in einen Lebensabschnitt geraten würde, für welchen auf nervöse Gesundheit nicht mehr Wert gelegt wird.“216

Die vordergründige Arroganz, die konservative Grundhaltung, die Freud von Bleuler trennt, beruht also weniger auf grundsätzlich verschiedenen politischen Positionen, sondern auf den unterschiedlichen Vorstellungen von Heilung und dem damit verbundenen unterschiedlichen „Material“ der beiden Psychiater. „Daß die Methode [die Psychoanalyse, Anm. d. Verf.] in diese Schranken gebannt ist, erklärt sich zum guten Teil aus den Verhältnissen, unter denen ich sie ausarbeiten mußte. Mein Material sind eben chronisch Nervöse der gebildeteren Stände.“217 Freud dechiffriert die Symptome, die Fehlhandlungen, Träume und signifikanten Assoziationen, er eruiert die „Rolle, welche Witzworte, Zitate, Lieder und Sprichwörter im Gedankenleben der Gebildeten spielen“218, er untersucht diejenigen Verschlüsselungen, die sich mittels der psychoanalytischen Kryptotechnik seiner Zeit und seines Wissenstandes auflösen lassen, die seiner Methode zugänglich sind. Freud stellt sein Problem besonders scharf auf die Psychoneurosen, Hysterie und Zwangsneurose219, ein, und auf diesem Feld nimmt nun das Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten seinen Lauf; auf diesem Feld beginnt die „angestrengte Arbeit von vielen Monaten und selbst Jahren, um zu zeigen, daß die Symptome eines Falles von neurotischer Erkrankung ihren Sinn haben, einer Absicht dienen und aus den Schicksalen der leidenden Person hervorgehen“220. Auf diesem Feld geht es221 an die Ar216 217 218 219

220

Freud 1999: I 513. Freud 1999: I 514. Freud 1999: II/III 350f. Zu der für diese Absätze wesentlichen Unterscheidung von Psychoneurosen und narzisstischen Neurosen vgl. auch Freud 1999: XIII 224f: „Ihr wichtigster theoretischer Fortschritt war wohl die Anwendung der Libidolehre auf das verdrängende Ich. Man kam dazu, sich das Ich selbst als ein Reservoir von – narzisstisch genannter – Libido vorzustellen, aus welchem die Libidobesetzungen der Objekte erfließen und in welches diese wieder eingezogen werden können. Mit Hilfe dieser Vorstellung wurde es möglich, an die Analyse des Ichs heranzutreten und die klinische Scheidung der Psychoneurosen in Übertragungsneurosen und narzisstische Affektionen vorzunehmen. Bei den ersteren (Hysterie und Zwangsneurose) ist ein nach Übertragung auf fremde Objekte strebendes Maß von Libido verfügbar, welches zur Durchführung der analytischen Behandlung in Anspruch genommen wird; die narzisstischen Störungen (Dementia praecox, Paranoia, Melancholie) sind im Gegenteil durch die Abziehung der Libido von den Objekten charakterisiert und darum der analytischen Therapie kaum zugänglich. Diese therapeutische Unzulänglichkeit hat aber die Analyse nicht behindert, die reichhaltigsten Ansätze zum tieferen Verständnis dieser den Psychosen zugerechneten Leiden zu machen.“ Freud 1999: XI 241. Und es ist zugleich jene Arbeit, aus der, wie gezeigt, die Psychoanalyse hervorgeht. Vgl. Freud 1999: XIII 215: „Referent wählte für die Behandlungsweise, die nun auf viele andere Formen neurotischer Störung ausgedehnt werden konnte, den Namen Psychoanalyse. Diese Psychoanalyse war nun in erster Linie eine Kunst der Deutung und stellte sich die Aufgabe, die erste der großen Entdeckungen Breuers, daß die neurotischen Symptome ein sinnvoller Ersatz für andere unterbliebene seelische Akte seien, zu vertiefen.“

252 ſ DISKRETE GESPENSTER

beit, auf eine lange Route, auf eine umwegige und langjährige Expedition in eine Zeit, die, der neuen Zeit entsprechend, nicht einfach chronologisch vergangen, sondern zugleich gegenwärtig operativ, temporal im Sinne Heideggers ist.222 Im Verlauf der Beseitigung der Widerstände223 und der darauf folgenden Aktivierung einer Serie von Übertragungen224 kann der Analytiker einer Psychoneurose so

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224

Um dieses „es“ an dieser Stelle noch einmal zu spezifizieren: Es handelt sich nicht einfach um das singuläre Patientensubjekt, das unter der Ägide des Arztes seine Geschichte wiederholt und verbalisiert, sondern um das psychoanalytische Feld, das sich intersubjektiv zwischen dem Analytiker und dem Analysanden aufspannt und auf dem ungelöste Konflikte aus der Vergangenheit des Patienten reaktualisiert und in Kooperation mit der Arbeit des Analytikers einer Lösung zugeführt werden. Hierin liegt ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Ansatz Freuds und Bleulers Verstehen des Patienten: Freud behält die Separierung von Arzt und Patient – keine gemeinsame lukullische Erfahrung von Apfelsauerkraut mit Würstchen kann darüber hinwegtäuschen – weiterhin bei. Vgl. Freud 1999: X 131: „Wir haben nun gehört, der Analysierte wiederholt anstatt zu erinnern, er wiederholt unter den Bedingungen des Widerstandes; wir dürfen jetzt fragen, was wiederholt oder agiert er eigentlich? Die Antwort lautet, er wiederholt alles, was sich aus den Quellen seines Verdrängten bereits in seinem offenkundigen Wesen durchgesetzt hat, seine Hemmungen und unbrauchbaren Einstellungen, seine pathologischen Charakterzüge. Er wiederholt ja auch während der Behandlung alle seine Symptome. Und nun können wir merken, daß wir mit der Hervorhebung des Zwanges zur Wiederholung keine neue Tatsache, sondern nur eine einheitlichere Auffassung gewonnen haben. Wir machen uns nun klar, daß das Kranksein des Analysierten nicht mit dem Beginne seiner Analyse aufhören kann, daß wir seine Krankheit nicht als eine historische Angelegenheit, sondern als eine aktuelle Macht zu behandeln haben. Stück für Stück dieses Krankseins wird nun in den Horizont und in den Wirkungsbereich der Kur gerückt, und während der Kranke es als etwas Reales und Aktuelles erlebt, haben wir daran die therapeutische Arbeit zu leisten, die zum guten Teile in der Zurückführung auf die Vergangenheit besteht.“ Zu Heideggers gegen den traditionellen Zeitbegriff gewendeter Temporalität vgl. Heidegger 1953: 19. Vgl. auch Tholen 2002: 125-127 und 136-138. Vgl. hierzu Freud 1999: X 127.: „der Arzt deckt die dem Kranken unbekannten Widerstände auf; sind diese erst bewältigt, so erzählt der Kranke oft ohne alle Mühe die vergessenen Situationen und Zusammenhänge. Das Ziel dieser Techniken ist natürlich unverändert geblieben. Deskriptiv: die Ausfüllung der Lücken der Erinnerung, dynamisch: die Überwindung der Verdrängungswiderstände.“ Zu Freuds Konzept des Widerstands vgl. auch Freud 1999: II/III 520, X 130-136, XI 296-304 und 453f- 461, XIII 16-18. Vgl. Freud 1999: X 135: „Die Übertragung schafft so ein Zwischenreich zwischen der Krankheit und dem Leben, durch welches sich der Übergang von der ersteren zum letzteren vollzieht. Der neue Zustand hat alle Charaktere der Krankheit übernommen, aber er stellt eine artefizielle Krankheit dar, die überall unseren Eingriffen zugänglich ist. Er ist gleichzeitig ein Stück des realen Erlebens, aber durch besonders günstige Bedingungen ermöglicht und von der Natur eines Provisoriums. Von den Wiederholungsreaktionen, die sich in der Übertragung zeigen, führen dann die bekannten Wege zur Erweckung der Erinnerungen, die sich nach Überwindung der Widerstände wie mühelos einstellen.“ Zum Konzept der Übertragung vgl. auch Freud 1999: XI 460-462 und 471-473. Die Übertragung steht in einer nahen, einer dialektischen Beziehung

KORPSIFIZIERUNG ſ 253 „durch einen Schlußprozess vom Bewußtseinseffekt zum unbewußten psychischen Vorgang vordringen; er erfährt auf diesem Wege, daß der Bewußtseinseffekt nur eine entfernte psychische Wirkung des unbewußten Vorgangs ist, und daß letzterer nicht als solcher bewußt geworden ist, auch daß er bestanden und gewirkt hat, ohne sich noch dem Bewußtsein irgendwie zu verraten“225.

Die Psychoneurosen durcharbeitend wird Freud unausweichlich zur Entdeckung des Unbewussten gebracht, wird er „unausweichlich zu der Annahme gedrängt, daß es Tendenzen beim Menschen gibt, welche wirksam werden können, ohne daß er von ihnen weiß“226, und damit errichtet sich für ihn automatisch die Gefechtsstation, von der aus er die Argumente und Einsatzpunkte der Psychologie mit wissenschaftlicher Potenz verbieten kann227. Damit „setzen wir uns aber in Widerspruch zu allen das Leben und die Psychologie beherrschenden Anschauungen“228. „Die erstere [die Psychologie, Anm. d. Verf.] arbeitet wie eine Kosmetik, die letztere [die Psychoanalyse, Anm. d. Verf.] wie eine Chirurgie.“229 Entscheidend für das Verhältnis Freud-Bleuler, insbesondere für den Psychologisierungsvorwurf, den Freud an Bleuler richtet, ist jedoch das von ersterem selbst mit aller Fairness und Gerechtigkeit gemachte Eingeständnis, dass er diese seine Entdeckung wohl an den Psychoneurosen, nicht aber an den Aktualneurosen und den narzisstischen Störungen hätte machen können, in allgemeiner Terminologie: an hysterischen und neurotischen, nicht aber an psychotischen Symptomen.230 Das stellt nämlich diesen Psychologisierungsvorwurf respektive Freuds ambivalente Stellungnahme zu Bleulers Theorie in ein anderes Licht. (Nebenbei sei auf das sublime, aber relevante Detail hingewiesen, dass Freud die Zürcher Schule kritisiert und damit wohl mehr Jung als Bleuler selbst adressiert.) Bleulers Patienten fielen zu großen Teilen unter die Aktual- und narzisstischen Störungen, es waren pathologische Melancholiker, Schizophrene, Paraphreniker und manisch-depressive Freitagskinder, also genau diejenigen Kranken, die den Krypto-Psychoanalytiker Freud selbst in eine Impasse geführt hätten, auch wenn er sich von dort aus kaum zu

225 226 227

228 229 230

zum Widerstand; Übertragung und Widerstand können nicht voneinander isoliert betrachtet werden. Vgl. X 130f. Freud 1999: II/III 617. Freud 1999: XI 70. Vgl. Freud 1999: I 538: „Die offenbar sehr bedeutsamen Vorgänge der normalen und pathologischen Abwehr und die Verschiebungserfolge, zu denen sie führen, sind, soweit meine Kenntnis reicht, von den Psychologen noch gar nicht studiert worden, und es bleibt noch festzustellen, in welchen Schichten der psychischen Tätigkeit und unter welchen Bedingungen sie sich geltend machen. Der Grund für diese Vernachlässigung mag wohl sein, daß unser psychisches Leben, insofern es Objekt unserer bewußten inneren Wahrnehmung wird, von diesen Vorgängen nichts erkennen läßt, es sei denn in solchen Fällen, die wir als „Denkfehler“ klassifizieren, oder in manchen auf komischen Effekt angelegten psychischen Operationen.“ Vgl. auch Freud 1999: IV 294f, X 272, XIII 226f. Freud 1999: XI 70. Freud 1999: XI 468. Zur Unterscheidung dieser beiden unterschiedlichen psychopathologischen Register vgl. Freud 1999: XIII 224f. Freud betont an vielen Stellen seines Werkes, dass die Inspektion der Psychosen bis auf weiteres ein Desiderat der Psychoanalyse sei. Jacques Lacan ist dem nachgekommen.

254 ſ DISKRETE GESPENSTER

einer Praxis des Verstehens, der Kommunikation und einer sozialisierenden Geselligkeit bei Greyerzer Poulardenbrust mit Kartoffelravioli und Gewürzsauce hätte animieren lassen. Der Verdacht auf eine Inkompatibilität beider Konzepte, der sich anlässlich der oben untersuchten Zitate aufgetan hat, muss also stark relativiert und unter anderen bereits genannten und noch anzuführenden Hinweisen auf Übereinstimmungen in Freuds und Bleulers Basiseinstellungen, im Blick auf das unterschiedliche, ihren Konzepten jeweils zugrundeliegende „Material“ nahezu ausgeräumt werden. Und würde Freud sich zu dem Psychiater, der ihm auf seinem tastenden, explizit vorläufigen und unsicheren Vorstoß ins Gebiet eines in die Psychose gefallenen Freud’schen-und-sprachstrukturierten-Unbewussten gerade bezüglich semiotisch-sprachlicher Forschungsakzente ganz besonders inspiriert hat, jemals direkt in Opposition setzen?231 Bleiben also die Gemeinsamkeiten, die Affinitäten, die, wenngleich auf einen Wissenschaftsdiskurs beschränkten und nicht in eine verwegen surrealistische Wissenschafts-Ästhetik übersetzende Tendenz zur Aufhebung der psychiatrisch und machtpolitisch indoktrinierten Unterscheidungen von Wahnsinn und Normalität. Um diesem Gesichtspunkt, bei dem sich die Übereinstimmungen Freuds mit Bleulers Konzeption, aber auch die feinen Differenzen zeigen, in Folge gut und kurz zu wiederholen und so zu schließen. An die oben zitierte und dargelegte Dementierung der klassisch-psychiatrischen These von der hereditären Bestimmtheit zur Pathologie anknüpfend, schreibt Freud, dass „derselbe Zusammenhang uns auch verbietet, [...] krankhafte Zustände der Funktion als die Bedingung dieser uns abnorm und fremdartig erscheinenden psychischen Vorgänge anzusehen. [...] daß die Grenze zwischen nervöser Norm und Abnormität eine fließende, und daß wir alle ein wenig 231

Vgl. zu diesem Zusammenhang, der hier nicht ausführlich verfolgt werden kann, Freud 1999: X 295-98: „Bei den Schizophrenen beobachtet man, zumal in den so lehrreichen Anfangsstadien, eine Anzahl von Veränderungen der Sprache, von denen einige es verdienen, unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet zu werden. Die Ausdrucksweise wird oft Gegenstand einer besonderen Sorgfalt, sie wird „gewählt“, „geziert“. Die Sätze erfahren eine besondere Desorganisation des Aufbaues, durch welche sie uns unverständlich werden, so daß wir die Äußerungen der Kranken für unsinnig halten. Im Inhalt dieser Äußerungen wird oft eine Beziehung zu Körperorganen oder Körperinnervationen in den Vordergrund gerückt. [...] Die schizophrene Rede hat hier einen hypochondrischen Zug, sie ist Organsprache geworden. [...] Soweit zeugen diese beiden Beobachtungen für das, was wir hypochondrische oder Organsprache genannt haben. Sie mahnen aber auch, was uns wichtiger erscheint, an einen anderen Sachverhalt, der sich beliebig oft z. B. an den in Bleulers Monographie gesammelten Beispielen nachweisen und in eine bestimmte Formel fassen läßt. Bei der Schizophrenie werden die Worte demselben Prozeß unterworfen, der aus den latenten Traumgedanken die Traumbilder macht, den wir den psychischen Primärvorgang geheissen haben. Sie werden verdichtet und übertragen einander ihre Besetzungen restlos durch Verschiebung; der Prozeß kann so weit gehen, daß ein einziges, durch mehrfache Beziehungen dazu geeignetes Wort die Vertretung einer ganzen Gedankenkette übernimmt. Die Arbeiten von Bleuler, Jung und ihren Schülern haben gerade für diese Behauptung reichliches Material ergeben.“ Vgl. auch Freud 1999: X 179: „Ein dringendes Motiv, sich mit der Vorstellung eines primären und normalen Narzissmus zu beschäftigen, ergab sich, als der Versuch unternommen wurde, das Verständnis der Dementia praecox (Kraepelin) oder Schizophrenie (Bleuler) unter die Voraussetzung der Libidotheorie zu bringen.“

KORPSIFIZIERUNG ſ 255

nervös seien“232. Das Neue dieser Wiederholung erschließt sich also aus der Umkehrung und Umakzentuierung der Gesichtspunkte: Die Psychoanalyse stellt, darin weit über Bleulers Reformpsychiatrie hinausgehend, die Existenz eines normalen Subjekts selbst mit einem unverkennbar nihilistischen Impuls in Frage. So wie an anderer Stelle gezeigt wurde, dass Psychoanalyse Wissenschaftstheorie und Medienarchäologie umgreift233, so betritt sie die Gebiete der Ethik und Kulturwissenschaft mit einem Schritt, der diese zum detonieren bringt – wenn sie die Frage „Wie behandelt man ein krankes Subjekt?“ in einem Zug mit der Frage „Wie behandelt man ein Subjekt?“ stellt. Auf eine nicht unwidersprüchliche Weise konform mit Bleulers Gelöbnis zum Verständnis, auf unwidersprüchlich sichere Weise ungewollt Dalís kritisch-theoretische Paranoia stark machend234, erinnert Freud an die logisch-sprachlich strukturierte Botschaft, die das Unbewusste jeweilig ist: „Die Wahnidee ist nichts Unsinniges oder Unverständliches mehr, sie ist sinnreich, gut motiviert, gehört in den Zusammenhang eines affektvollen Erlebnisses der Kranken.“235 Nichtsdestoweniger und bei allem goodwill Bleulers, eine Botschaft kann der psychoanalytischen Theorie zufolge nicht einfach verstanden, sondern nur entschlüsselt werden. Weiterhin darf nicht übersehen werden, dass die von Freud wie von Bleuler ausgehende Absage an die konventionelle Demarkation von Krankheit und Gesundheit, dass, positiv und mit Freud formuliert, „die Grenze zwischen nervöser Norm und Abnormität eine fließende, und daß wir alle ein wenig nervös seien“236, dennoch über eine eigene und andere Fundierung sowie Ausrichtung verfügt. Auch hier muss wieder der Abgrund vergegenwärtigt werden zwischen den Patienten Bleulers – Psychotiker und Schizophrene, die gegen seine Kommunenvision bis auf den heutigen Tag das Verdikt von Neuroleptika und geschlossenen Abteilungen haben überdauern lassen – und den Patienten Freuds, hysterische Dozentinnen oder zwangsneurotische Finanzbeamte, die nicht die kompulsive Notwendigkeit einer stationären Behandlung aufzeigen, sondern, euphemistisch gesagt: lediglich klarmachen, dass „der Unterschied zwischen nervöser Gesundheit und Neurose [...] sich also aufs Praktische ein[schränkt] und [...] sich nach dem Erfolg [bestimmt], ob der Person ein genügendes Maß von Genuß- und Leistungsfähigkeit verblieben ist“237. Zwischen Bleuler und Freud steht eine unterschiedliche Nuancierung: Liegt bei dem oben in dieser Position vorgestellten Sozialpsychiater Bleuler der Akzent auf dem „sozial“, so liegt er bei dem Psychoanalytiker Freud auf dem „psycho“. „Psycho“ wie Psychoneurosen: Das Unbewusste erschließt sich Freud beim Studium der Hysterie, der Neurose, bei deren Fehlhandlungen und Versprechern, und nicht zuletzt des Traumes, und dementsprechend definieren sich bei Freud die Kategorien von psychischer Gesundheit bzw. Normalität und Pathologie. „Wir sind genötigt, eine Anzahl von Annahmen, die sich beim Neurotiker infolge des Zusammenhanges zwischen seinen Träumen und seinen Symptomen ergeben, 232 233 234 235 236 237

Freud 1999: IV 309. Vgl. bes. Kap. 4.13 und 4.19. Vgl. Dalí 1974: 288-307. Freud 1999: XI 260. Freud 1999: IV 309. Freud 1999: XI 476.

256 ſ DISKRETE GESPENSTER auch auf den gesunden Menschen zu übertragen. Wir können es nicht in Abrede stellen, daß auch der Gesunde in seinem Seelenleben das besitzt, was allein die Traumbildung wie die Symptombildung ermöglicht, und müssen den Schluß ziehen, daß auch er Verdrängungen vorgenommen hat, einen gewißen Aufwand treibt, um sie zu unterhalten, daß sein System des Unbewußten verdrängte und noch energiebesetzte Regungen verbirgt, und daß ein Anteil seiner Libido der Verfügung seines Ichs entzogen ist. Auch der Gesunde ist also virtuell ein Neurotiker, aber der Traum scheint das einzige Symptom zu sein, das zu bilden er fähig ist. Unterwirft man sein Wachleben einer schärferen Prüfung, so entdeckt man freilich – was diesen Anschein widerlegt –, daß dies angeblich gesunde Leben von einer Unzahl geringfügiger, praktisch nicht bedeutsamer Symptombildungen durchsetzt ist.“238

Die Virulenz einer psychoneurotischen (nicht paranoischen!) Erkrankung ist nicht oder zumindest nicht primär ein konstitutioneller Faktor, sondern in jedem Subjekt angelegt, sofern es unbewusst operiert, das heißt nach Maßgabe seiner Verdrängungen Signifikantenketten transformiert239. Schärfer formuliert: sofern Subjektivität Unbewusstheit und damit Verdrängung und damit eine unvermeidliche Arbeit zur Erinnerung der Ur-Sache in und durch deren Transformation impliziert, ist per Korollarium jeder „Gesunde [...] virtuell ein Neurotiker“. Wo ein jeder träumt und der Alltag eines jeden „von einer Unzahl geringfügiger, praktisch nicht bedeutsamer Symptombildungen durchsetzt ist“, liegt der Verdacht nahe, dass die Dunkelziffer all der zwischen Sparkasse, Buchhandlung, Universität und in den Abendstunden zwischen den Schweizer Stuben und dem Borchardt am Gendarmenmarkt zirkulierenden psychoneurotisch erkrankten Subjekte höher ist als angenommen. Als krank anerkennt das Subjekt sich nur in dem Maße, in dem ein zunehmendes Interesse an seinen Alpträumen, remittierenden Zwangshandlungen und hysterischen Überreiztheiten, an seinen unerklärlich unbewusst produzierten und gegen das eigene vermeintlich unschuldige Selbst gerichteten Vexationen nimmt. „Die Symptome – wir handeln hier natürlich von psychischen (oder psychogenen) Symptomen und psychischem Kranksein – sind für das Gesamtleben schädliche oder wenigstens nutzlose Akte, häufig von der Person als widerwillig beklagt und mit Unlust oder Leiden für sie verbunden. Ihr Hauptschaden liegt in dem seelischen Aufwand, den sie selbst kosten, und in dem weiteren, der durch ihre Bekämpfung notwendig wird.“240

Ad memoriam gloriam des Wirtschaftsvisionärs mit dem forschenden Händedruck und der galoppierenden Arachnophie, des hochneurotischen Kleinkreditberaters, dessen Ich exakt richtig denkt, dass die Türklinke desinfesziert ist, was ihn vom Griff zur Sagrotan-Literflasche nicht entbindet. „Diese beiden Kosten können bei ausgiebiger Symptombildung eine außerordentliche Verarmung der Person an verfügbarer seelischer Energie und somit eine Lähmung derselben für alle wichtigen Lebensaufgaben zur Folge haben.“241 Seid verwarnt, Ihr Professoren Langemann und Dörr: Das Auditorium Ma238 239 240 241

Freud 1999: XI 475. Vgl. Kapitel 8 und 10. Freud 1999: XI 372. Freud 1999: XI 372f.

KORPSIFIZIERUNG ſ 257

ximum kann sich wie die Luxusstationen der Villeggiatur – sei es das Amanpuri, High Thai, Relaxen in Phuket, willkommene Unterbrechung der langen Winterzeit; seien es die Ende des 19. Jahrhunderts in Sellin auf Rügen entstanden fünf Villen des Hotel-Parks Ambiance, Klassizismus, Kreide und wilhelminische Bäderarchitektur; sei es das Le Sireneuse, Dolce Wellness in Positano; sei es das rheinländische Barockschloss Bensberg, das sich vor 300 Jahren Kurfürst Johann Wilhelm II. als Maison de retraite errichten ließ; sei es der Wörthersee – eines Tages ganz plötzlich verschließen. Seid verwarnt, Langemann und Dörr, eines Tages wird nur noch die trostlose Retrospektive auf eine Vergießung, Vergeudung, Auszehrung242, ein nicht wieder gut zu machendes Versäumnis bleiben, und aus dem Off wird die Stimme Freuds hallen: „Du bist der Natur einen Tod schuldig“243. Und dennoch lassen sich die zwischen Leid von Krankheit und normalisiertester Gesundheit changierenden, nicht zuletzt alternierenden Syndrome von Langemann, Dörr, Bärlauch, Winter und all den anderen, bis jetzt aufgetretenen Patienten Freuds auf eine, mit Lacan diagnostiziert244, Läsion in der imaginären Struktur rekurrieren. Denn das unterscheidet die psychoneurotischen Störungen der Hysterie, Zwangsneurose und Phobie von Bleulers Psychotikern, die durch eine moiréhaft irreversible Strukturverletzung des Symbolischen aus jener kollektiv als solche respektierten „Wirklichkeit“ exmittiert werden, in die Bleuler sie, aufopferungsvoll, verständnisvoll, onkelhaft und doch auf verlorenem Posten, wieder einzuführen versucht. Seine reformpsychiatrische Gründung von Schicksalsgemeinschaften, friedlichen Enklaven oder Gemeinden, Ärzte und Patienten in gemeinsamem Gespräch, geteilte Chrono-Bio-Rhythmen, über ein und der selben Wildente mit Knoblauch und Rosmarin parlierend, muss angesichts einer unumgänglichen Realität, an der sich von Freud über Lacan und bis heute nichts geändert hat, von ihrem Anspruch abrücken, die Welthaftigkeit der Schizophrenen, die unmöglich und niemals existent gewesen sein wird, zu restituieren. Einfach und brutal formuliert, Personen, die von einer Psychose angegriffen worden sind, sind 242

243 244

Vgl. hierzu Freuds in Jenseits des Lustprinzips in einem biologistischen Diskurs chiffrierte Endzeitspekulationen von durchgebrannten, in den Zustand von finaler Lähmung, Erstarrung, Erkaltung übergehenden Reizleitungen: „Die Embryologie als Wiederholung der Entwicklungsgeschichte zeigt auch wirklich, daß das Zentralnervensystem aus dem Ektoderm hervorgeht, und die graue Hirnrinde ist noch immer ein Abkömmling der primitiven Oberfläche und könnte wesentliche Eigenschaften derselben durch Erbschaft übernommen haben. Es wäre dann leicht denkbar, daß durch unausgesetzten Anprall der äußeren Reize an die Oberfläche des Bläschens dessen Substanz bis in eine gewisse Tiefe dauernd verändert wird, so daß ihr Erregungsvorgang anders abläuft als in tieferen Schichten. Es bildete sich so eine Rinde, die endlich durch die Reizwirkung so durchgebrannt ist, daß sie der Reizaufnahme die günstigsten Verhältnisse entgegenbringt und einer weiteren Modifikation nicht fähig ist.“ (Freud 1999: XIII 25) Freud, zit. in Schur 1972: 40. Lacan differenziert Neurosen und Psychosen, indem er die ersteren auf einen in der imaginären Dimension und die letzteren auf einen in der symbolischen Dimension situierten Defekt zurückführt. Vgl. Lacan 1990: 150f. Zur Unterscheidung der neurotischen Verdrängung und der psychotischen Verwerfung vgl. auch die Kapitel 3.11, 11.9 und 11.10. Vgl. auch Freud 1999: XIII 365: „Die Neurose verleugnet die Realität nicht, sie will nur nichts von ihr wissen; die Psychose verleugnet sie und sucht sie zu ersetzen.“

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unrückholbar geistig erkrankt, das sah Freud so, das sah Lacan so, das sieht die gegenwärtige Psychoanalyse so, was jedoch gerade nicht heißt, und hier hat sich Bleuler meritiert, hier haben sich Freud, Lacan, Prinzhorn, Janet, Binswanger und viele andere Psychiater angeschlossen, von den Vertretern der Ästhetik ganz zu schweigen, dass sie als hereditär belastete, konstitutionell verfluchte und kulturell futile Schwachsinnige depraviert werden dürfen, dass sie nicht gerade, Genie und Wahnsinn, Tasso, Newton, Lenz, Hölderlin, Swedenborg, Panizza, van Gogh, Gogol, Strindberg, Kleist, Claude Lorrain, Gutzkow, Rousseau und Rönne, zu künstlerischer Produktivität befähigt wären. Um so weniger aber dürfen die Psychoneurotiker, gleichwohl sie ein in ökonomisch-libidinöser Hinsicht benachteiligtes, schweres und am Ende sogar durch die „Verarmung der Person an verfügbarer seelischer Energie“, die „Lähmung derselben für alle wichtigen Lebensaufgaben“245, den „gefürchteten Endausgang der Willenslähmung“246 bedrohtes Leben führen, nach Freud unter die Psychopathologien rubriziert werden. Werden narzisstisch-psychotische Affektionen von noch unklaren Mächten angeschoben, so lässt der lange Zeit in einer Grauzone zwischen Krankheit und Normalität sich abspielende Verlauf von Psychoneurosen sich fundierter und sicherer rückverfolgen, er lässt sich – der spezifisch Freud’schen Konzeption gemäß – in ökonomische Begriffe übersetzen und mit diesen reformulieren.247 Damit sind die Losungen von Freuds Spezifizierung des Unterschiedes, oder besser: der Aufhebung eines klar kontrastierbaren Unterschiedes von geistiger Gesundheit und Aberration bereits gefallen. Die Psychoneurotiker werden nicht radikal durch eine Schranke vom Habitat der Normalpersonen separiert, sondern existieren lediglich unter erschwerten ökonomisch-libidinösen Bedingungen. Der Unterschied ist nicht qualitativ, sondern quantitativ, und überhaupt handelt es sich weniger um einen Unterschied, als vielmehr um eine Skalierung, mittels derer sich ein Mehr-oder-Weniger an Krankhaftigkeit bzw. Normalität jeweils bestimmen lässt. „Da es [...] hauptsächlich auf die Quantität der so in Anspruch genommenen Energie ankommt, so erkennen Sie leicht, daß „Kranksein“ ein im Wesen praktischer Begriff ist. Stellen Sie sich aber auf einen theoretischen Standpunkt und sehen von diesen Quantitäten ab, so können Sie leicht sagen, daß wir alle krank, d. i. neurotisch sind,

245 246 247

Freud 1999: XI 372f. Freud 1999: XIV 148. An dieser Stelle sei bemerkt, dass Bleuler und Freud die jeweiligen Probleme auf eine nicht diskordante, aber doch verschiedene Weise bearbeiten. Wird Bleulers Arbeit durch ihren sozialen Impetus, durch eine akribische Beobachtung mit anschließender deduktiv-konzeptueller Erstellung von Modellen und Hypothesen und nicht zuletzt die zentrale Motiviertheit zum Verstehen angeleitet, so dominiert bei Freud eine ätiologische Fragestellung nach der Herkunft des Symptoms, die mit der jeweiligen und singulären Geschichte zusammenhängt – Heideggers Geschick spielt dabei eine größere Rolle als sozial-gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Die ätiologisch bestimmte Analyse solcher Fälle veranlasst Freud jedoch, hier wieder die Parallele zu Bleuler, zur Erstellung unterschiedlicher Konzeptionen des psychischen Apparats (topisch, dynamisch, ökonomisch, schließlich metapsychologisch).

KORPSIFIZIERUNG ſ 259 denn die Bedingungen für die Symptombildung sind auch bei den Normalen nachzuweisen.“248

Die von Bleuler über Breton bis hin zu Foucault propagierte Verabschiedung einer antithetischen Grenzziehung zwischen Wahnsinn und Vernunft wird von Freud partiell für die Psychoneurosen (nicht für die narzisstisch-psychotischen Störungen!) übernommen und auf die Achse der ökonomischen Libidotheorie gestellt, woraus sich ein nicht qualitativer, sondern quantitativer Umgang mit der in Frage stehenden Grenzziehung ergibt und damit eine Überwindung der traditionellen Antithese. Er betont, er habe „einen neuen Faktor in das Gefüge der ätiologischen Verkettung eingeführt [...], nämlich die Quantität, die Größe der in Betracht kommenden Energien“, denn: „Mit rein qualitativer Analyse der ätiologischen Bedingungen reichen wir nicht aus.“ Diese Differenzierung lässt sich auf die beiden unterschiedlichen Ansätze, den dynamischen und den ökonomischen, applizieren: „um es anders zu sagen, eine bloß dynamische Auffassung dieser seelischen Vorgänge ist ungenügend, es bedarf noch des ökonomischen Gesichtspunktes.“ Bezogen auf die Aktivierung einer Psychoneurose resultiert daraus nun, „daß der Konflikt zwischen zwei Strebungen nicht losbricht, ehe nicht gewiße Besetzungsintensitäten erreicht sind, mögen auch die inhaltlichen Bedingungen längst vorhanden sein“249. Wovon aber hängt die Eruption der Krankheit dann genau ab? An dieser Stelle kommt die oben bemerkte Tatsache ins Spiel, dass Freud sich mit seiner Theorie an der programmatisch geforderten Revision der Trennung von Wahnsinn und Vernunft partiell und indirekt beteiligt, aber eben nur – partiell und indirekt. Übrigens im doppelten Wortsinne, denn Freuds Überlegungen zu den quantitativ-energetischen Kriterien von psychischer „Krankheit“ sind im Kontext der Partialtriebe lokalisiert. Er beteiligt sich partiell an der Aufhebung von Wahnsinn und Vernunft, er steuert eine Reformierung des Verhältnisses und Neuperspektivierung durch Anlegen seiner quantitativen Libidotheorie bei. „Die pathogene Bedeutung der konstitutionellen Faktoren richtet sich danach....“ – mit einer eigenen und anderen Theorie ausgerüstet muss Freud die Konstitutionshypothese nicht mehr mit solcher Radikalität zurückweisen wie in seinen frühen Schriften – „...wie viel mehr von dem einen Partialtrieb als von einem anderen in der Anlage gegeben ist; man kann sich sogar vorstellen, die Anlagen aller Menschen seien qualitativ gleichartig und unterscheiden sich nur durch diese quantitativen Verhältnisse“250. Auf eine eigentümliche Weise ist damit die von Reformpsychiatern, Avantgardisten, Philosophen und nicht zuletzt dem frühen Freud vollblütig angefochtene psychiatrische Lehre von einer konstitutionellen Veranlagung zur Geisteskrankheit zugleich integriert und umso endgültiger erledigt worden. Freud hat sie durchgearbeitet. Wie sieht das Resultat dieser Analyse aus? Was folgt aus dem Faktum oder Fatum, dass alle Menschen von ein und derselben, also qualitativ betrachtet gleichen Libido durchpulst werden, deren jeweilig quantitative Distribution, freier Verkehr oder Stauung, Entladung oder Agglomeration, jedoch individuell verschieden ist? Unterstützt diese Theorie die Aussicht auf 248 249 250

Freud 1999: XI 372f. Freud 1999: XI 389. Freud 1999: XI 389.

260 ſ DISKRETE GESPENSTER

die Durchsetzung jenes revolutionären und fanalgleichen Aktes, der den Wahnsinn aus seiner repressiven Position und Exkommunikation erlöst? Ja, in gewisser Weise sekundiert Freuds quantitative Ätiologie psychischer Deregulationserscheinungen diese Aussicht; und doch auch wieder nicht, denn diese Aussicht und Aussichten kat exochen, libidinös motorisierte Projekte, zeichnen sich in der Welt, in der Freud lebt, eine Welt voller Unbehagen und Gnadenlosigkeit, letztlich nur noch aus durch ihre „Begabungen zum Tode“251. Diese Welt hat nichts vom Glanz und von den Levitationen einer surréalité, und es ist auch nicht Bleulers in ein kleines Arkadien verwandelte Irrenanstalt, in der Ärzte und Patienten gemeinsam unter den alten Eichen im Louisenpark flanieren, im Café Belvedere intimen Gedankenaustausch erproben oder, ein sich unermüdlich wiederholender Bilderbogen aus dieser Welt, die Ärzte über einer Poularde in der Schweinsblase sensible Gesprächsversuche mit den Patienten machen und unter den Patienten initiieren. Partiell – denn eines muss in Parenthesen wiederholt werden: Die Unbeirrbarkeit von Freuds Konzept hat ihr Fundament an den Psychoneurotikern, die auch ohne psychiatrische Begleitperson über einer Buttercremetorte im Café Belvedere ihre Allgemeinvorstellungen hochhalten durften. Sie verliert sich hingegen bei der Passage zu den Psychosen. Bei Freud gibt es einen fundamental anderen Soundtrack, mehr Trauer und Thanatologie als progressiv emotionierte Psycho-Sozialtheorie, es ist dunkler, fatalistischer, eben unbehaglicher, und das, was die Unterscheidung aufhebt, das Passwort: quantitative Libido, ist ein schweres Schicksal, eine Destination zur Erkrankung, eher eine Behinderung als ein Anlass zu mensch- und gesellschaftsverbessernden Kampagnen – und klebriger, toxischer als Buttercremetorte. „Die Zähigkeit, mit welcher die Libido an bestimmten Richtungen und Objekten haftet, sozusagen die Klebrigkeit der Libido, erscheint uns als ein selbständiger, individuell variabler Faktor, [...] dessen Bedeutung für die Ätiologie der Neurosen wir gewiß nicht mehr unterschätzen werden. Eine ebensolche „Klebrigkeit“ der Libido – aus unbekannten Gründen – kommt nämlich unter zahlreichen Bedingungen beim Normalen vor und wird als bestimmendes Moment bei den Personen gefunden, welche in gewissem Sinne der Gegensatz der Nervösen sind, bei den Perversen.“252

Ein klebriges, von Lacan so kulinarisch wie affrös stilisiertes „Wesen“, Libido, Homelette, Lamelle, Grauen und Ekel hervorrufend, eine Phobie, eine Anorexie, expressionistische Symptome vermöchte es auszulösen.253 Und dennoch ist dieses klebrig-quantifizierbare „Noumenon im negativen Verstande“254, von Lacan zum genannten „Wesen“ hypostasiert, nichts anderes als das, was den Menschen, von denen es außerhalb des defaitistischen Gedankenkreises Freuds angeblich auch normale Vertreter gibt, ausmacht und zum Existieren bewegt. An dieser Stelle kommt erneut das oben angesprochene Verhältnis Freuds zur klassisch-psychiatrischen Konstitutionstheorie ins Spiel. Es wurde gesagt, dass Freud diese nicht einfach annulliert, er verkoppelt sie vielmehr mit, er überführt sie in seine Libidotheorie, um sie so einer Modifikation und 251 252 253 254

Lacan 1991b: 295. Freud 1999: XI 360f. Vgl. Lacan 1991a: 226-228 und Lacan 1987: 206f. Vgl. Kant 1787: B 307.

KORPSIFIZIERUNG ſ 261

damit verbunden einer Relativierung zu unterziehen. Allerdings müssen auch diese Neuerungen Freuds, was sie wiederum selbst relativiert, in dem ihnen gemäßen Spektrum, den Psychoneurosen, betrachtet werden; ihre Übertragung auf die narzisstischen Neurosen, von Freud selbst nur mit äußerster Vorsicht und Reserve vollzogen, erforderte eine hier nicht machbare Erweiterung des Argumentationsrahmens, letztlich eine eigene Untersuchung. Was besagt nun Freuds spezielle libidotheoretische Konstitutionsthese? „Die größte Erleichterung für die Entstehung einer Neurose liegt in der Unfähigkeit, eine ansehnlichere Libidostauung durch längere Zeit zu ertragen. Sie merken, daß hier auch das konstitutionelle Moment zu seinem Recht kommt, dem wir seine Rechte ja nie bestreiten wollen.“ Aber: er reduziert sich erstens nicht auf dieses eine ätiologische Moment der Psychoneurose, und zweitens vernachlässigt er darüber nicht den Patienten, der im Gegensatz zur Psychiatrie, die ihn als eines unter anderen ihrer Objekte typologisiert, ein durch seine jeweilige Botschaft und seine jeweilige Geschichte geprägtes Subjekt sein darf und soll. Aus diesem Grund „verwahren [wir] uns nur dagegen, wenn jemand über diesem Anspruch alle anderen vernachlässigt und das konstitutionelle Moment auch dort einführt, wo es nach den vereinten Ergebnissen von Beobachtung und Analyse nicht hingehört oder an die letzte Stelle zu rücken hat“ 255. Wie aber lauten die anderen Momente, die völlig unabhängig von der Fähigkeit oder Unfähigkeit libidinöser Verarbeitung, also völlig unabhängig von der individuellen Konstitution, sich durch Analyse als ätiologische Faktoren, als Auslöser der Erkrankung erweisen? An wen könnte diese Frage sich richten? – An einen solchen Psychiater, der sich der Enklavierung im psychiatrischen „Fachbereich“ widersetzt und sich stattdessen für die Betrachtung der mit der Pathologie grundsätzlich verbundenen gesellschaftlichen und sozialen Umstände und Zustände offengehalten hat, kurzum: zum Beispiel an Eugen Bleuler. Die Motive der beiden Psychiater dürfen nur, so wie ihre Methoden sich unterscheiden, nicht einfach kurzgeschlossen werden; auch das ist nicht zuletzt durch ihr unterschiedliches „Material“ bedingt. Geht es Bleuler um eine reformpsychiatrisch und sozialwissenschaftlich aufmerksame „Behandlung“ von Psychotikern, so ist Freuds „Behandlung“ ganz anders konnotiert: erinnern, wiederholen, durcharbeiten der symbolischen Geschichte des Subjekts.256 Die Ereignisse dieser Geschichte, die im Subjekt hysterische oder neurotische Symptome hervorgebracht haben, welche ab einem bestimmten quantitativen Grad als krankhaft bestimmt werden müssen, reichen von einer konstitutionellen Unfähigkeit bei der Verarbeitung größerer Libidomengen über kontingente Erlebnisse in der Kindheit und auch im späteren Leben bis hin zu gesellschaftlichen Bedingungen, die die Existenz des Subjekts unmäßig belasten und am Ende überfordern. So kommt Freud zu folgender Unterscheidung von psychischer Gesundheit und Krankheit, die als eine nicht-dichotomische und nicht rein immanent psychiatriemedizinische mit Bleulers Standpunkten vergleichbar ist, andererseits aber aus oben angeführten Gründen – Verschiedenheit des „Materials“, der Methode (Verstehen versus Entzifferung) und auch vom Realitätssinn her anders orientierte Projekte – von Bleulers Reformpsychiatrie divergiert. 255 256

Freud 1999: XI 423. Zum Vergleich der symbolischen und der imaginären Geschichte des Subjekts vgl. Kap. 9.2.

262 ſ DISKRETE GESPENSTER „An dem einen Ende der Reihe stehen die extremen Fälle, von denen Sie mit Überzeugung sagen können: Diese Menschen wären infolge ihrer absonderlichen Libidoentwicklung auf jeden Fall erkrankt, was immer sie erlebt hätten, wie sorgfältig sie das Leben auch geschont hätte. Am anderen Ende stehen die Fälle, bei denen Sie umgekehrt urteilen müssen, sie wären gewiß der Krankheit entgangen, wenn das Leben sie nicht in diese oder jene Lage gebracht hätte. Bei den Fällen innerhalb der Reihe trifft ein Mehr oder Minder von disponierender Sexualkonstitution mit einem Minder oder Mehr von schädigenden Lebensanforderungen zusammen. Ihre Sexualkonstitution hätte ihnen nicht die Neurose gebracht, wenn sie nicht solche Erlebnisse gehabt hätten, und diese Erlebnisse hätten nicht traumatisch auf sie gewirkt, wenn die Verhältnisse der Libido andere gewesen wären.“257

Bei all den Beteuerungen zum Verstehen und zur Versöhnung von Wahnsinn und Normalität lässt sich Bleuler jedoch nicht auf der psychologischen, sondern – wie oben bereits angedeutet – auf der medienarchäologisch-psychoanalytischen Achse innerhalb der Geschichte des unbewussten Subjekts situieren. Dies reflektiert sich bereits in seiner rückhaltlosen Applikation moderner Aufzeichnungstechniken: sein Lehrbuch ist, der Ikonographie der Hysterie von Charcot und Londe vergleichbar258, illustriert mit Fotografien mimischer und physiognomischer Äußerungen von Katatonikern, Kataleptikern, Melancholikern und Psychotikern. Seine anamnestische Methode wird formatiert durch neue Aufzeichnungstechniken zur analogen Speicherung visueller und akustischer Daten – das gesamte geblümte Magazin der unsäglichsten Einzelheiten, Marginalien und Inzidenzien wird speicherbar. In Bleulers Procedere, in seiner Aufzeichnungstechnik, spiegelt sich ein Einschnitt im Diskurs der westlichen Medizin und Psychiatrie bezüglich des Krankheitsbildes wider, der in modifizierter Form auch Freuds Konzeption des unbewussten Subjekts und des psychischen Apparates determiniert. Die individuelle Autobiografie, das sakrosankte und durch eine mit einer überpersönlichen Vernunft begnadete und über eben diese Vernunft unifizierbare Wesen, das von Descartes bis hin zu Hegel als Relaisstation der Ontologie exzellierte, verwandelt sich in ein unter einem gesichtslosen Namen adressierbares Konvolut von motorischen Anomalien – namenlos zwar, und dennoch unverfügbar subjektiv und singulär. Wo ein Transzendentalsignifikat dem klassischen Subjekt Norm, Ausrichtung und Horizont gespendet hatte, tut sich mit der durch neue Techniken und Zeiten der Diskretisierung ausgelösten Sprengung der rein philosophischen Spähre jener Spalt auf, aus dem ein Unbewusstes, eine Störung schlechthin, ein durch eine Störung operationalisiertes und singularisiertes Subjekt sich erhebt. Ein Subjekt zur neuen, psychotechnisch innervierten Zeit von Bleuler, Wundt und Freud definiert sich nicht länger durch Einheitlichkeit in Geist und Geschichte, sondern im Gegenteil durch die singulären und frakturierten Artikulationen einer bis zur Schlaflosigkeit unheilbaren Geisteskrankheit: „Das Krankheitsbild hat sich geändert. Aus der Erzählung einer Lebensgeschichte sind optische und akustische Aufzeichnungen von Körperbewegungen, Zuckungen, Mimiken und verrückten Reden geworden. “259

257 258 259

Freud 1999: XI 360. Bleuler 1916. Holl 2002: 101.

KORPSIFIZIERUNG ſ 263

Bleulers Systematisierung und Klassifizierung folgt den von den technischen Aufzeichnungstechniken präskribierten Kriterien260 und lässt sich in dieser Bewegung, in dieser Bestimmtheit mit der Freud’schen Psychoanalyse – verstanden als Teil des experimentalwissenschaftlichen Dispositivs, als Laborerfahrung – vergleichen. Weiter manifestiert sich in Freuds Approximation des Affekts261 der Einfluss Bleulers, der seine psychiatrische Physiologie explizit als eine Wissenschaft der Affekte ausweist, die sich auf die Wundt’sche unter dem Alibi der Seelenforschung betriebene Nervenphysiologie stützt. Empfindungen stellen nach Bleuler – konsequent nach der von Wundt entworfenen Matrix – primäre psychische Funktionen dar, aus denen alle weiteren und höheren nervenphysiologischen Prozesse sich synthetisieren.262 Daraus folgt für Bleuler – und hier taucht eine weitere entscheidende, alarmierende Parallele zu den Freud’schen Entwürfen auf –, dass Wahrnehmungen niemals auf die Gegenwart und auf die Perzeption einer „objektiven“ Realität begrenzt sind, sondern immer über eine Reaktivierung der physischen Erinnerungsspuren früherer Empfindungen funktionieren. Jede Wahrnehmung rekurriert physiologisch auf eine frühere Wahrnehmung, jede Wahrnehmung ist neu arrangierte Erinnerung mehr denn Registratur eines gegenwärtigen Phänomens – die Entsprechung der Freud-Lacan’schen Gedächtnistheorien (die ausführlich in den Kapiteln 9 und 10 behandelt werden) springt ins Auge. Und sie beweist, dass das Freud’sche-und-das-sprachstrukturierteUnbewusste sich nicht ausschließlich, nicht eindeutig aus präformalistischen und strukturalen Kategorien ableiten lässt, sondern dass vielmehr der Körper, der von der experimentellen Psychologie und Physiologie vermessene, dekomponierte und medial restituierte Körper mit Nachdruck in die Geschichte des Unbewussten eingetragen werden muss. Die Konzeptualisierungen, die Bleuler und Freud vom Ablauf des Denkens und vom Gedächtnis erarbeiten, werden von ein und demselben medialen Apriori: von der Experimentalisierung, Elektrifizierung, Stroboskopierung des Seins miniert, und Bleuler scheint Freud direkt zu soufflieren, wenn er bemerkt, dass das Denken und Assoziieren den sich in der Vergangenheit verfächernden Spuren nach bestimmten Gesetzen folgt und dass es sich „sich am besten unter dem Bilde von Schaltungen in einer elektrischen Anlage vorstellen [läßt], die verschiedene Apparate miteinander verbinden und unabhängig voneinander laufen lassen, sie aus- und einschalten kann.“263 Bleuler und Freud, beide unbewusst und das heißt mit Hagen medienapriorisch264 an der Genealogie des Unbewussten schreibend, werden stroboskopiert durch ein und dieselbe diskrete Zeit, die sich in Ruhmkorffs und anderen chronometrischen Laboratoriumsgeräten materialisiert. Bleulers Theorie der nervösen Schaltungen ist nicht nur eines der klarsten Beispiele dafür, dass jede Psychologie nur offenbart, welche Funktionen allgemeiner Datenverarbeitung jeweils von Maschinen im 260 261 262 263 264

Vgl. z.B. Bleuler 1916: 10-15. Vgl. Freud 1999: X 275-279, XI 410-425 und XIII, 212f. Vgl. Bleuler 1916: 21ff. Bleuler 1916: 16. Wolfgang Hagen etabliert eine auf dem Begriff des Medien-Aprioris basierende Medientheorie, die davon ausgeht, „daß technische Medien, nachdem sie existieren, phänomenologisch und epistemologisch unhintergehbar sind, weil sie – in situ – eine phänomenologisch und epistemologisch unvordenkliche Intervention, Epoché und Zäsur vollziehen“ (Hagen 2002: 199)

264 ſ DISKRETE GESPENSTER

Realen implementiert sind. Bleuler beschreibt seine Schaltungen, die Freud u.a. im Zusammenhang der Traumtheorie explizit aufnimmt265, wie folgt: „Das Bild der Schaltungen erlaubt uns auch, eine Menge anderer Phänomene, wie die Ideenflucht, die schizophrene Assoziationsstörung, die hypnotischen Erscheinungen, das Bestehen verschiedener Persönlichkeiten neben- oder nacheinander in der nämlichen Psyche, die Erscheinungen des Unbewußten und eine Menge von pathologischen Symptomen, die sonst gerne geleugnet werden oder ungern zugegeben werden, zu erfassen.“266

Und letztendlich resonieren diese Stakkatos, diese Skansionen, in all den menschlichen Subjekten, also in allen jenen ohne Ausnahme, die die Zerreißprobe des Seins nicht überstanden, sondern nur mehr oder weniger gut, durch mehr oder weniger gut entwickelte Ich-Funktionen kompensiert haben. Eine Zerreißprobe, eine Sprengung des ganzen, homogenen Seins, von denen die Patienten, die durch dieses Buch geisternden Schicksale Kunde geben. Das graue Telefonfräulein mit verbotenen Wünschen, die zwischen Newton-Lady und Fille Fatale, ob mit oder ohne Bananeneis, irisieren. Der von der spukhaften, unsichtbaren Ubiquität schwarzer Witwen umgebene und noch bei der gemeinsamen Zigarre nach Vertragsabschluss unmerklich zitternde Essiggurkendirektor. Der im Pentagramm zwischen Kaffeemaschine und Lichtschalter, Aktiendepot und Dividende ruckhaft springende Sparkassenprokurist. Schließlich die Oberseminarrunde von Professor Bärlauch, dessen Teint noch verklärt ist vom Guten, Wahren und Reinen des Wörthersees nach einem Vortrag über Platonische Eutrophie im Schwarzen Hahn, Ochsenwade in Rotweinsauce, und nur der graumelierte Philosophiestudent sieht, wie der Kalbskopf zwischen warmem Kartoffelsalat in ein insistierendes Antlitz von Descartes mit Kalbskopf mutiert. Affekte, orphische Signale, „Hieroglyphen des Unheimlichen, eines mitleidlosen Schicksals“267 im pazifistischen Ambiente der Wirklichkeit, die nicht zerbricht, die nur verrutscht, jederzeit korrigierbar, die verstrahlt, aber das Sein der Dinge vermag seine Fragilität, seine Zittrigkeit, seine Anfälligkeit zu verbergen. Anfälligkeit, Anzeichen, Affekte – eine stolze Akademie-Belle-de-Jour mit samtschwarzer Mantona nascht verträumt an ihrem Soufflée mit Tahiti-Vanille, aber auch sie vermag den Anfall, den Salto mortale-Affekt, die hysterische Konvulsion, die auf der

265

266 267

Vgl. hierzu Freud 1999: II/III 494: „zumeist lassen sich die Schaltgedanken immerhin auf Material in den Traumgedanken zurückführen, welches aber weder durch seine eigene Wertigkeit noch durch Überdeterminierung Anspruch auf Aufnahme in den Traum erheben könnte.“ An anderer Stelle will Freud Bleulers Konzept der Schaltungen nicht nachvollziehen und setzt seine eigene quantitative Libidotheorie dagegen. Einerseits scheint Freud die Digitalität noch nicht erreicht zu haben, andererseits und eigentümlicherweise definiert er das Digitale korrekt elektrizitätshistorisch als den Schwellenwert des Analogen. Vgl. Freud 1999: XIII 302: „Ich möchte auch die Frage aufwerfen, ob das hier betonte quantitative Moment nicht hinreicht, um die Phänomene zu decken, für die Bleuler und andere neuerdings den Begriff der „Schaltung“ einführen wollen. Man müßte nur annehmen, daß eine Widerstandssteigerung in einer Richtung des psychischen Ablaufs eine Überbesetzung eines anderen Weges und damit die Einschaltung desselben in den Ablauf zur Folge hat.“ Bleuler 1916: 16. Macho 2005.

KORPSIFIZIERUNG ſ 265

Zeitspirale auf sie zurast, nicht abzuwenden, ihre Auspizien nicht zu verleugnen. Vibrationen, Schwankungen, ich-ferne Unstetigkeiten wie eine sich sehr allmählich verdunkelnde Wolke über der Runde – die Inkrustierung der Neurose, die Brisen von Paranoia, das Spektakel der Hysterie –, noch gebannt, noch abgefedert in der Uneigentlichkeit des In-der-Welt-seins, aber dennoch: Das Laboratorium in operando, die Psychophysik der egowidrigen Schaltungen hat seinen Radius, seinen Schwingungskreis, seinen Einflussbereich bereits gesichert, die Unbewussten im Schwarzen Hahn sind bereits, ohne dass sie es wüssten und wollten, medientechnisch beseelt. Wo ist mein Schlüssel? Wieviel Schritte brauche ich zum Haus, das Omen? Ist das Gerät aus? Was denkt die schwarze Katze? Is there anybody out there? Wie eine Genealogie des Freud’schen-und-des-sprachstrukturierten-Unbewussten schreiben, ohne sich in der Hoffnung, in dem Leichtsinn, in der Wehmut zwischen zwei Schauplätzen zu verlieren? Bleibt nichts als die Wiederholung, das Durcharbeiten der Geschichte, die sich zwischen der Wechselstromphysik, der Psychotechnik und dem Strukturalismus ereignete, eine Wiederholung jenseits aller Ambitionen, die Ur-Sache des Unbewussten punktieren zu können, aber dennoch motiviert dadurch, Indizien zu sammeln, die eine Herleitung des Begriffs der Korpsifizierung und seiner Implikationen möglich machen. Bleibt – an dieser Stelle – nichts, als weiterzumachen mit Bleuler und Freud. Und sofort drängen weitere Parallelen zwischen beider Konzeptionen des psychischen Apparats heran. Bleulers Theorie des Unbewussten erweist sich, auch wenn er dies nicht wie Freud zu einer Ambivalenz, einer Frage, einer Ahnung von Korpsifizierung eskalieren lässt, als physiologisch-funktional orientiert. Wie bei Freud kann Bleulers Maschine nicht nur durch äußere Reize (Wahrnehmungen), sondern ebenso durch innere, vom Unbewussten produzierte Reize innerviert werden. Und wie Freud demarkiert Bleuler den Bereich der Affekte von den reinen Reflexhandlungen, wobei der letztere jedoch den Verlauf dieser Demarkationslinie gänzlich anders und komplikationsloser festlegt. Bleuler grenzt die Affekte, die sein physiologisch-funktional bestimmtes Unbewusstes ausmachen, durch Bezug auf körper- bzw. zentralnervös immanente Kriterien von den einfachen Reflexen ab. Im Unterschied zu den Reflexen sind Affekte, so Bleuler, dadurch ausgezeichnet, dass sie nicht über subkortikale, sondern über die Nervenbahnen der Großhirnrinde prozessieren. Bleulers Affekte lassen sich, so schreibt er, als Engramme, als Inskriptionen in die „lebende Substanz“ der Gehirnrinde, auch ohne Bewusstwerdung, ohne „assoziative Verbindung mit dem Ichkomplex reaktivieren“. Auf der Basis dieser Definition lassen sich dann auch jene Wahrnehmungen explizieren, die nicht durch äußere Reize hervorgerufen werden.268 Asymptotisch nähert sich Bleuler der unbewussten Signifikantenkette, dem Freud’schen-und-dem-sprachstrukturierten-Unbewussten, dem Körper, der durch die Ex-sistenz des Symbolischen seiner Leibeigenschaft, seiner Ganzheit enteignet und zum Medium seiner eigenen existentiellen Botschaft gemacht wird. Er nähert sich – um sich dann aber doch zu insulieren in einem Laboratorium zu Ehren Wundts oder sich zurückzuziehen in die oben genannten WGs im Zeichen der Versöhnung von Wahnsinn und Normalität über Simonen-Magronen, im Zeichen einer Quadrille des Verstehens von Psychiater und bankrotter Seele.

268

Vgl. Bleuler 1916: 5-21. Vgl. auch Scharfetter 2001.

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Anders als Freud, der den Affekt im Zwielicht zwischen Soma und Psyche, zwischen körperlicher Zeremonie, ekstatisch, suizidal, in jedem Fall zerreißend, und Artikulation eines Unsäglichen beschattet, errichtet Bleuler den reinen und ausgewiesen nicht sprachlichen Affekt als sein wissenschaftliches Objekt. Vom Trieb über die Wahrnehmung bis zur Innervation subsumiert Bleuler nahezu alle, das Unbewusste konstituierenden Aktivitäten unter einer Affekttheorie, die von jeder Sprachlichkeit ausgeschlossen bleibt.269 Er „experimentierte mit der Vermittlung von Gefühlen, die jenseits von Sprache und Bedeutung affektiv übertragen werden sollen”270. Mehr noch, er setzt in seiner Theorie der Affekte voraus, dass die unbewusste affektive Übertragung durch Nervenverbindungen überhaupt mit der von ihm auf den Bereich des Bewusstseins reduzierten Sprache konfligiert. Im Gegensatz zu Freud erreicht Bleuler den Lacan zufolge revolutionären Ansatz des wie eine Sprache strukturierten, des sich in sprachlich-logischer Form artikulierenden und entstellenden Unbewussten nicht. Für Bleuler kann sich eine unbewusste Botschaft nur in Form von Affekten, aber nicht in einer syntaktisierten, im weitesten Sinne symbolisch-sprachlichen Form übertragen. So sehr sich also seine Konzeptionen der unbewussten Schaltungen und Gedächtnisleistungen in einen Bezug zu Freuds korrelativen Entwürfen setzen lassen, so steigt Bleuler durch seine Dichotomisierung des physiologischen Affekts einerseits und der sprachlich-strukturalistischen Flanke andererseits doch nicht in die Liga der Auguren des Freud’schen-und-wie eine-Sprache-strukturierten-Unbewussten auf, er ahnt noch nicht die Korpsifizerung, die sich durch eine dialektische und nicht einfach gegensätzliche Relation von Körper und Sprache definiert.

6.9 Freud und Flechsig: Hirnhunger, eine anorektische Penelope und die Hölle Hätten sich Wundt und Bleuler – in ihrer bigotten Rücksicht auf die Seele, mit der die experimentelle Psychologie ihre medialen Körpertechniken eskamotiert – von den distinguierten Menükarten des Margaux oder des Burgrestaurants Staufeneck noch der gefüllten Perlhuhnbrust oder der BabyLanguste mit Prinzessbohnen und Thymian zugewogen, so verhehlte Flechsig, alle dianoetischen Tischmanieren ignorierend, nicht seine Gier, seine hungrige Lust – nach frischem Hirn. Frisches Hirn. Hier assoziiert sich, aber das sei nur beiläufig bemerkt, ein Fall des Analytikers Ernst Kris, den Lacan kritisch und im Bezug auf seinen fehlenden Abschlusswert aufgreift. Lacan resumiert diesen Fall, in dessen Mittelpunkt ein Patient und seine befremdliche Leibspeise: frisches Hirn, stehen, um sich, nicht etwa von der Körperlichkeit, aber von der reduzierten Auffassung der materialistischen Psychiatrie zu distanzieren, die mit der Annahme einer Lokalisierbarkeit des Unbewussten im Körper, präziser: im Gehirn arbeitet.271 Frisches Hirn. Da assoziiert sich weiter die ganz und gar nicht lukullische, vielmehr kehlenabschnürende Panik, die den Senatspräsidenten Schreber, Freuds und Lacans berühmtester Psychosenfall, im Angsicht von Flechsig, von Flechsigs chefärztlicher Allmacht, von Flechsigs manischem Trieb 269 270 271

Ebd. Holl 2002: 103. Vgl. hierzu ausführlich Lacan 1986: 117f.

KORPSIFIZIERUNG ſ 267

nach frischem Hirn, das heißt: nach Vivisektion befiel.272 Die klassische psychoanalytische Geschichtsschreibung entwildert diese Panik, gleichzeitig den psychotischen Unfall in ihr Haupt- und Parademodell des unbewussten Funktionierens integrierend, zu einer wie auch immer imaginären Kastrationsangst. Selbst Freud arbeitet, im Fall der Psychose im allgemeinen und der Schreber’schen Krankheit im besonderen, mit diesen Annahmen – verweigerte Kastration und verdrängte Homosexualität –, die ihn in Sackgassen des Denkens führen werden, die erst Lacan, nichtsdestoweniger von ihnen profitierend, auflöst.273 Das Änigma, die Ätiologie, die Emergenz der Psychose würde eine ganz eigene und unabhängige Achse, eine gleichwertige Alternative bilden, mit der sich die Genealogie des Unbewussten, des Freud’schenund-des-sprachstrukturierten-Unbewussten, der korpsifizierten Botschaft des Seins schreiben ließe. Es wäre ein anderes Unternehmen, ein anderes Abenteuer, ein anderes Libretto dessen, welche verheerenden Fälle das Fallbeil des Signifikanten im Sein anzurichten vermag. Es wäre ein anderes und umfangreiches Buch. Und aus diesem Grunde kann und soll der Knoten, der Freud und Lacan, Flechsig und Schreber, den kleinen und den großen Anderen einander verkettet und verbindet, hier nicht gelöst, geschweige denn berührt werden. Dieses Kapitel muss sich auf die Rolle beschränken, die Flechsig im Zuge der Korpsifizierung des Seins zukommt, es muss sich darauf beschränken, die Koordinaten, die Flechsigs Position im Dispositiv der experimentellen und materialistischen Psychiatrie ausmachen, zu bestimmen. Dies aber rührt nicht, reloziert nicht Flechsigs Obsession: Hirn, und mehr noch – Schrebers Menetekel waren bei aller psychotischen Abirrung in diesem Punkt sehr realitätsgerecht – frisches Hirn. Der passionierte Gehirnanatom definiert seine Passion selbst als „mechanische Betrachtung der Seelenerscheinungen“274. Etwas wiederholt sich: Seelenerscheinungen – „Wer die Dinge beseelt, muß auch mit der Möglichkeit ihrer Feindschaft rechnen.“275 Aber verglichen mit Flechsig, der epistemogene dendritische Delikatessen in einer Soße aus Kavernom, Graumasse und Blutfontäne vorzieht, geht Wundt die Nervensache Seele noch auf geradezu museal empfindsame Weise an. Bei Flechsig läuft die Exploration der materiellen Grundlagen seelischer Vorgänge nicht ohne die potentielle Gefährdung und Destruktion von Patientenhirnen ab. Es wundert nicht, wenn Flechsig im Fall Schrebers einen „zentralen Ort im Aufbau des Wahns”276 markiert, einen zentral-cerebralen Ort, denn der Chefarzt der Leipziger Nervenklinik war in der Tat mehr auf die wilde und wuchernde Materialität der Pathologie fixiert, als dass er deren symbolischen Artikulationen und existentialphiloso272

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274 275 276

Vgl. Kittler 1984. Von der imaginär-psychotisierenden Beziehung zwischen Flechsig und Schreber ist es nur ein Schritt zu der Erkenntnis, daß die schrebersche (und damit implizit auch die Flechsig’sche) Psychose medieninduziert ist. Eine psychoanalytisch und medienarchäologisch fundierte Darlegung des Zusammenhangs zwischen Schrebers Psychose und Flechsigs Vivisektionstrieb gibt Hagen 2001: 20-24. Vgl. auch Stingelin 1989 und 1990. Vgl. hierzu Freuds 1910 erschienene Studie Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia, Freud 1999: VIII, 239-320. Zu Lacans Resititution dieser auf eine latente Homosexualität hin orientierten Interpretation vgl. Lacan 1990a: 42-45. Flechsig 1886a: 19, vgl. auch ders. 31ff. Macho 2005. Lacan 1990a: 36.

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phischen Prêt-a-Porter-Effekten die Gnade eines Bleuler’schen Verstehens, einer Freud’schen Entzifferung oder sei es nur die allzumenschlichste Form von Respekt erwiesen hätte. Die verbalen Äußerungen der Patienten wie auch andere non-verbale Manifestationen ihres Leidens, Konvulsionen oder Gemütsverschattungen, konkomierten für Flechsig nur die zeremonielle Offenbarung der ganzen Wahrheit im Akt der Trepanation. Sie waren für ihn nur „begleitendes Archivmaterial zu den Präparaten, die sie einst sein würden“277. Und wenn die Befriedigung von Flechsigs vivisektorischem Hunger schon von unterschiedlichen, mit moralischen Argumenten arbeitenden Seiten der Psychiatrie und Psychologie sabotiert wurde, so räumte Flechsig hinsichtlich des epistemologischen Wertes noch immer dem Befund der Obduktion den Vorrang vor jeder anderen symptomanalytischen Methode ein. „So bietet überhaupt die Erhebung des Leichenbefundes den directesten Weg, um zur Erkenntnis gesetzmässiger Abhängigkeitverhältnisse zwischen Geistesstörung und Hirnanomalien vorzudringen.“278 In Flechsigs wissenschaftlichem Trieb zur Verortung der Seele im Gehirn erreicht die materialische Psychiatrie einen Kulminationspunkt, in dem sie sich beinahe selbst überschlägt und pervertiert. Nichtsdestoweniger bleibt, dass Flechsig, von dem diskursiven Netzwerk, das sich ausgehend von Schreber entzündet, abgesehen, eine Station, eine wenngleich geschlossene Abteilung in der Geschichte der Korpsifizierung bildet.279 Das Unbewusste verästelt sich, verliert sich in den Körpern – und auch wenn die materialistische Psychiatrie, wenn Flechsigs cerebralwissenschaftliche Akorie retrospektiv in Scheitern und Sackgassenbefund geendet ist, so musste die immaterielle Seele, um ein Unbewusstes, ein mediales Reales werden zu können, zunächst in den Körper infundiert werden, sie musste zunächst den Prozeduren und Experimenten in Wundts und Flechsigs Laboratorien unterzogen werden. Aber Flechsig selbst war, verfolgt durch ein Cerebrum, in dem sich großäugig und großtierig das absolute Wissen sollte materialisieren können, von „jener unbestimmten Region [...], wo der Geist dem Körper begegnet“280 noch weit entfernt. Er meritiert sich durch die Konzeption der embryologischen oder myelogenetischen Methode, die der Investigation der Entwicklung der Nervenfasern dient. An den Gehirnen menschlicher Embryonen und Säuglinge lassen sich die aufeinander folgenden Entwicklungsstufen durch die sukzessive Markreifung der Nervenstränge nachvollziehen. Im Fokus von Flechsigs Theorie stehen die den individualgeschichtlichen wie auch phylogenetischen Entwicklungsendpunkt bildenden Nerven in der Hirnrinde, die eigentlichen Organe der Seelentätigkeit, die Flechsig als „Associativgebiete“281 bezeichnet und kartographiert. Eine weitere, von Flechsig vorgenommene Gehirnkartographierung bezieht sich auf die Rindenfelder der hinteren Wurzeln. Flechsig spezifiziert die Funktion dieses Ortes, den er in Anlehnung an Munk als die „Körperfühlsphäre“ definiert, dahingehend, dass hier die Körpergestalt hergestellt wird, die als inneres Spiegelverhältnis das Bewusstsein in physiologischer Reflexivität konstituiert. „Die Körperfühlsphäre bildet das 277 278 279

280 281

Holl 2002: 252. Flechsig 1886a: 34. Zu Flechsigs im folgenden dargelegter Seelen-Nervenphysiologie sowie zur Beziehung Schreber-Flechsig vgl. Hagen 2001: 12, 15-23, 39ff und 47ff. Vgl. auch Stingelin 1990: 101-115 und Stingelin 1989: 59f. Schur 1972: 90. Flechsig 1896: 26.

KORPSIFIZIERUNG ſ 269

Centralorgan der psychischen Spiegelung affectiver Körperzustände und stellt die entsprechende Componente zu den Gemüthsbewegungen.“282 Das innere Wahrnehmungssystem bildet den ersten Bereich innerhalb der Körperfühlsphäre, es handelt sich, so Flechsigs embryologischer Befund, um „das erste Gefühl eines jeden Fötus“283. Flechsig erhebt die Welt zum Hirn und das Hirn zur Welt. Erhebt ein cerebralphysiologisches Monopol auf alles, was das Sein berührt, bewegt und reflektiert. Steckt den Claim ab, exegetisiert die Sphären, kartographiert die Reiche. Flechsig, Napoleon der Gehirne, okkupiert die ontologische Zone mit der Gewalt eines materialistischen Tsunami, und – kein Zweifel, dass in einem solchen mit Präzision und Allmacht vermessenen und intabulierten Cerebraluniversum für den großen Anderen kein Ort, sondern nurmehr eine Schreber’sche Anaphylaxie, eine psychotische Verwerfung bleibt. „Kein Zweifel, daß es der Gestalt des Dr. Flechsig in ihrer Forscherstrenge (im Buch von Frau Macalpine findet sich ein Bild 44, das ihn vor dem Hintergrund einer kolossalen Vergrößerung einer Gehirnhemisphäre zeigt) nicht gelungen war, Ersatz zu bieten für die plötzlich wahrgenommene Leere der Inauguralverwerfung.“284 Flechsigs Kolonisierung einer neurophysiologisch fundierten Seele, eines potentiell vivisezierbaren und essbaren Seelensubstrats exmittiert zusammen mit dem großen Anderen auch jede moralische Instanz, oder präziser noch: sie usurpiert jede moralische Instanz. Im Regime Flechsigs wird auch die Moral der Gehirnanatomie unterstellt: In seiner Rektoratsrede von 1894 verkündet er, dass es in der Gehirnphysiologie nicht zuletzt um die großen Fragen nach Ethik und Gesetz geht, darum nämlich, „die Sittenlehre physiologisch zu begründen, um womöglich die Gesetzgebung hierauf basieren zu können“.285 Auf die Landkarte des Cerebrums, auf diese sorgfältig parzellierte und segmentierte Tafel haben sich die Betätigungen der Seele geschrieben, von diesem Flechsig’schen Meisterwerk aus lassen sie sich herleiten und ablesen. Entscheidend ist die hierin vom Herrndiskurs Flechsig vorgegebene Direktion: Bewusstseinsprozesse und alle höheren geistigen Vorgänge reflektieren die Konfiguration des Gehirns, und nicht etwa, keinesfalls, vice versa. „Im Aufbau unseres Geistes, in den großen beharrenden Zügen seiner Gliederung, spiegelt sich klar und deutlich die Architectur unseres Gehirns wider.“286 Flechsig, einer der Unerbittlichsten unter allen materialistischen Psychiatern, lässt sich nicht im geringsten durch die Freud’sche Frage nach dem Primat oder der Sekundarität von psychischen und physischen Vorgängen irritieren. Die Ur-Sache, das nicht ursprüngliche, unentscheidbar zwischen Psyche und Physis liegende Ur-springen, das das Freud-Lacan’sche Unbewusste, die im Sein implementierte Signifikantenkette, konstituiert, berührt Flechsig nicht einen Wimpernschlag lang. Dieser hat sein mit dem Gehirn konvergierendes Universum restlos erschlossen und kartographiert, er hat seine neurophysiologische Forschungsreise mit der Errichtung eines Hirnglobus erfolgreich und 282 283 284 285

286

Flechsig 1896: 33f. Zu Flechsigs Hirnkartographierung vgl. auch Breidbach 1997: 222-226. Holl 2002: 273. Lacan 1991a: 115. Vgl. Flechsig 1882 und 1886a: 34. Martin Stingelin hat den Hinweis gegeben, dass Gottfried Benn sich in einem Beitrag über die medizinische Seelenlehre auf diese Rede im Titel bezieht. Vgl. Stingelin 1990: 102. Flechsig 1986: 3.

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imperial abgeschlossen, wohingegen Freuds Wissenschaft sich „mit der Situation eines Entdeckungsreisenden vergleichen [läßt], der sich zu einer Reise aufmacht, ohne sein Ziel zu kennen, der keine Landkarten und keinen Kompass hat und nicht weiß, welche Werkzeuge er benötigen wird, wenn er die Reise angetreten hat“287. Auf dieser Reise passiert Freud die Station – Paul Emil Flechsig. Das kommt unerwartet. Läge nach all dem doch der Schluss nahe, dass dessen Lehre von seiten der Psychoanalyse hingerichtet ist. Und in der Tat widerfährt Flechsig ja von Lacan eine geräuschvolle Ablehnung: Erst wird er mit Schreber in seinem Hunger nach Hirn bestialisiert, dann diminuiert und in einer psychotische Dyade mit seinem Patienten abgelegt. Zu welchem Zeitpunkt und von welcher Position im symbolischen System des Wissens aus aber erfolgt diese Vernichtung? Sie erfolgt auf dem Plateau der Kybernetik, also nachdem die klassisch-materialistische Gehirnanatomie bereits abgelöst worden ist von kybernetischen Disziplinen, die cerebrale Prozesse auf einer endekrinologischen und informationstheoretischen Grundlage konzipieren. Flechsig ist einer der letzten großen Männer der abgedankten räumlichkartographischen Symbolik des Gehirns. Die Protagonisten dieser Genealogie sind keine Egos, die ein Wissen präsidieren, sondern, mit Foucault und Lacan, Subjekte, die von den ihrer Zeit entsprechenden Medien und Diskursen stilistisch und gesetzgeberisch umfangen werden. Und auch wenn präkybernetische Linien zu Freuds Zeiten sich kristallisierten, wenn Freud im besonderen die Vibrationen dieser Linien wahrnahm, so war das Denken nichtsdestoweniger vom Materialismus beherrscht, und der Herrscher der Gehirnwissenschaft war eben – Flechsig. Freud war aus wissenspolitischen und epistemologischen Gründen außerstande, seine Hörer und Kollegen im Stil Lacans dazu zu bewegen, sich von der Angelegenheit Flechsig fernzuhalten. Zumindest an seinem ersten Arbeitsplatz, der, wie dargelegt, nicht in einem linearen, sondern in einem dialektischen Gegensatz zu dem Sprechzimmer steht, das später in Freuds Theorie und Praxis über das frühe Labor dominiert, scheint er mit Flechsigs Denken – über den er als Spezialist für Gehirnanatomie unter Meynert und Nothnagel gut informiert war – vereinbar zu sein. Auch wenn es im Angesicht des Bildes – der Kapitän der Gehirne vor der Landkarte seines Geist und Körper umfassenden Imperiums, der dynastieprägende Embryologe über Cappuccino vom Frontallappen – überrascht, Flechsig selbst hat Freud das Mysterium der Medulla oblongata, des ersten Forschungsobjekts eröffnet: „In gewißem Sinne blieb ich doch der zuerst eingeschlagenen Arbeitsrichtung treu. Brücke hatte mich an das Rückenmark eines der niedrigsten Fische (AmmocoetesPetromyzon) als Untersuchungsobjekt gewiesen, ich ging nun zum menschlichen Zentralnervensystem über, auf dessen verwickelte Faserung die Flechsigschen Funde der ungleichzeitigen Markscheidenbildung damals gerade ein helles Licht warfen. Auch daß ich mir zunächst einzig und allein die Medulla oblongata zum Objekt wählte, war eine Fortwirkung meiner Anfänge.“288

Nicht so gierig wie Flechsig nach gratiniertem Stilton-Käse auf grauer Masse, aber ebenso innerviert und eifrig über dem embryologischen Präparat – so 287 288

Freud in einem Brief an Fliess, zit. in: Schur 1972: 97. Freud 1999: XIV 35.

KORPSIFIZIERUNG ſ 271

lässt sich der junge Gehirnforscher Freud sogar mit dem hungrigen Dämon mit aufrecht in der Faust gehaltenem Skalpellbesteck an ein und demselben Tisch im Chez Science plazieren. Beide lassen sich, zwar mit Umsicht, in ein und dasselbe materialistische Denkregister integrieren. „Ich war nun ein ebenso eifriger Arbeiter im gehirnanatomischen Institut wie früher im physiologischen. Kleine Arbeiten über Faserverlauf und Kernursprünge in der Oblongata sind in diesen Spitalsjahren entstanden und immerhin von Edinger vermerkt worden.“ Im Unterschied zu Freud bricht dieses Triebschicksal, das Flechsig ganz und gar und bis in heiße Grade erfasst hat, im Ablauf der Freud’schen Überlegungen bald ab. Die Euphorie verliert sich bald. Freud stellt ernüchtert fest, dass „die Gehirnanatomie [...] in praktischer Hinsicht gewiß kein Fortschritt gegen die Physiologie [war]“289, und wird bald – sind nicht so viele Figuren des großen Anderen, agnostizistisch oder lebensweisheitlich betrachtet, nur Saisongötter? – von der Aussicht auf Paris, auf den Starmediziner der Hysterie, geblendet.290 Dennoch, bei allen Lebensweisheiten, dieses Buch folgt der Theorie und Praxis der Wiederholung, und auch Stundengötter hinterlassen Spuren – die Gehirnanatomie schreibt sich noch in sehr viel spätere Texte Freuds ein: „Wir wissen schon, wo wir hiefür anzuknüpfen haben. Wir haben gesagt, das Bewußtsein ist die Oberfläche des seelischen Apparates, das heißt wir haben es einem System als Funktion zugeschrieben, welches räumlich das erste von der Außenwelt her ist. Räumlich übrigens nicht nur im Sinne der Funktion, sondern diesmal auch im Sinne der anatomischen Zergliederung. Auch unser Forschen muß diese wahrnehmende Oberfläche zum Ausgang nehmen.“291

Die Stelle zeigt unmissverständlich, dass Flechsig’sche Begriffe in Freuds Konstruktion des psychischen Apparats eingehen, dass er mit Vorstellungen aus der Gehirnkarte arbeitet und baut. Aber ebenso flagrant ist der Hiatus, der zwischen dieser, es sei wiederholt und betont, Konstruktion und Flechsigs empirischem Phantasma liegt. Die epistemische Welt des Materialismus ist für Freud mit der Entdeckung der sinnvollen, das heißt sprechenden Struktur und Orientiertheit von Symptomen und Fehlhandlungen aus den Angeln gehoben. Der Materialismus verbleibt nur in der Funktion von Bildern, Metaphern und Vergleichen – sei es das „Gehirnmännchen“ oder die „Hörkappe“292 – für das unverfügbar Reale und unverortbar Prozessuale; nur indirekt diffundiert Flechsigs Lehre in Freuds Überlegungen. 289 290

291 292

Freud 1999: XIV 36. Vgl. Freud 1999: XIV 36: „In der Ferne leuchtete der große Name Charcots und so machte ich mir den Plan, hier [in Wien, Anm. d.Verf.] die Dozentur für Nervenkrankheiten zu erwerben und dann zur weiteren Ausbildung nach Paris zu gehen.“ Freud 1999: XIII 246. Vgl. Freud 1999: XI 141: „Nach diesen Bemerkungen über die Wirkungen der Traumzensur wenden wir uns nun ihrem Dynamismus zu. Ich hoffe, Sie nehmen den Ausdruck nicht allzu anthropomorph und stellen sich unter dem Traumzensor nicht ein kleines gestrenges Männlein oder einen Geist vor, der in einem Gehirnkämmerlein wohnt und dort seines Amtes waltet, aber auch nicht allzu lokalisatorisch, so daß Sie an ein „Gehirnzentrum“ denken, von dem ein solcher zensurierender Einfluß ausgeht, welcher mit der Beschädigung oder Entfernung dieses Zentrums aufgehoben wäre. Es ist vorläufig

272 ſ DISKRETE GESPENSTER

Es geht also nicht um Präparate des Unbewussten, wie sie sich von der Medulla oblongata noch anfertigen ließen. Es, je mehr Freud zwischen die Arbeitsplätze und damit zwischen die Fronten von Medizin und Geisteswissenschaft gerät, es geht um eine Frage, um die Frage, die „aufgeworfen werden [muß], wenn wir uns von der psychischen Topik, der psychischen Tiefendimension, eine bestimmtere Idee bilden wollen.“ Freud räumt zwar ein, und hier echot der nach materialistischen Prinzipien ausgebildete Mediziner, der Flechsig unmöglich wie Lacan ridikülisieren kann, dass „sie [die Frage, Anm. d. Verf.] über das rein Psychologische hinausgeht und die Beziehungen des seelischen Apparates zur Anatomie streift“, sogar dass „es [...] ein unerschütterliches Resultat der Forschung [ist], daß die seelische Tätigkeit an die Funktion des Gehirns gebunden ist wie an kein anderes Organ“293, aber zu tatsächlich verifizierbaren Annahmen bezüglich der genauen Lokalisation des Unbewussten fühlt er sich nie und nimmer berechtigt. Und spricht es explizit aus: die Freud’sche psychische Topik hat mit der medizinischen Anatomie und Flechsig Hirnkarte nichts zu tun: „Ein Stück weiter – es ist nicht bekannt, wie weit – führt die Entdeckung von der Ungleichwertigkeit der Gehirnteile und deren Sonderbeziehung zu bestimmten Körperteilen und geistigen Tätigkeiten. Aber alle Versuche, von da aus eine Lokalisation der seelischen Vorgänge zu erraten, alle Bemühungen, die Vorstellungen in Nervenzellen aufgespeichert zu denken und die Erregungen auf Nervenfasern wandern zu lassen, sind gründlich gescheitert. Dasselbe Schicksal würde einer Lehre bevorstehen, die etwa den anatomischen Ort des Systems Bw, der bewußten Seelentätigkeit, in der Hirnrinde erkennen und die unbewußten Vorgänge in die subkortikalen Hirnpartien versetzen wollte. Es klafft hier eine Lücke, deren Ausfüllung derzeit nicht möglich ist, auch nicht zu den Aufgaben der Psychologie gehört. Unsere psychische Topik hat vorläufig nichts mit der Anatomie zu tun; sie bezieht sich auf Regionen des seelischen Apparats, wo immer sie im Körper gelegen sein mögen, und nicht auf anatomische Örtlichkeiten.“294

Im Gegensatz zum Materialismus, der in Flechsigs Parzellierung eines von ihm zumindest in der Phantasie missbräuchlich eingenommenen Reiches

293 294

nichts weiter als ein gut brauchbarer Terminus für eine dynamische Beziehung.“ Vgl. auch XIII 252-54: „Aber auch das Verdrängte fließt mit dem Es zusammen, ist nur ein Teil von ihm. Das Verdrängte ist nur vom Ich durch die Verdrängungswiderstände scharf geschieden, durch das Es kann es mit ihm kommunizieren. Wir erkennen sofort, fast alle Sonderungen, die wir auf die Anregung der Pathologie hin beschrieben haben, beziehen sich nur auf die – uns allein bekannten – oberflächlichen Schichten des seelischen Apparates. Wir könnten von diesen Verhältnissen eine Zeichnung entwerfen, deren Konturen allerdings nur der Darstellung dienen, keine besondere Deutung beanspruchen sollen. Etwa fügen wir hinzu, daß das Ich eine „Hörkappe“ trägt, nach dem Zeugnis der Gehirnanatomie nur auf einer Seite. Sie sitzt ihm sozusagen schief auf. [...] Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche. Wenn man eine anatomische Analogie für dasselbe sucht, kann man es am ehesten mit dem „Gehirnmännchen“ der Anatomen identifizieren, das in der Hirnrinde auf dem Kopf steht, die Fersen nach oben streckt, nach hinten schaut und wie bekannt, links die Sprachzone trägt.“ Freud 1999: X 273. Ebd.

KORPSIFIZIERUNG ſ 273

einen Höhepunkt an Selbstbewusstsein erreicht, betont der Psychoanalytiker, dass der anatomisch-materialistischen Grundlegung seiner Hypothesen bis auf weiteres unüberschreitbare Grenzen gesetzt, mehr noch, dass eine solche Grundlegung, bleibt sie indirekt doch mit der traditionellen Dichotomie von Innen und Außen, Geist und Körper, verleimt, gar nicht unter seine Bezirke, unter sein Begehren nach der Wahrheit fällt. Freud hat nicht einfach nur eine Vorgeschichte, die ihm eine radikale Depravierung Flechsigs unmöglich macht, er hat andererseits auch Lacans Unterscheidung des Realen, des Symbolischen und des Imaginären, die Ablösung jener traditionellen Dichotomie, vorbereitet. Er zielt, mit Heidegger, nicht auf das Seiende, sondern auf das Sein ab, oder besser: auf das Seiende nur insofern es sich in und als Sein realisiert. Und gemessen an der Sensibilität und dem Respekt, den er seinem Objekt entgegenbringt, steht er zu Flechsig in einem Verhältnis wie ein Quantentheoretiker zu einem Klempner oder wie ein Metaphysiker zu einem Garagenbastler. Aber bevor Flechsig, zumindest in diesem Buch, mit Freud durchgearbeitet und überwunden sein wird, bevor er mit einer mit Crème fraîche und Markklößchen verfeinerten Cerebrospinalflüssigkeit wird abgespeist werden können, noch eine Bemerkung zu Freuds wenn auch sehr verzerrter Anlehnung an den großen Gehirnforscher. Wiederum geht es um ein Bild, jedoch mehr als das, zugleich Bild und Methode – die Vivisektion, an deren Durchführung in der Realität Freud, in diesem Charakterzug ein mit Flechsig vergleichbarer wild-anarchischer Wissenschaftler, keine moralischen Bedenken gehindert haben, sondern ein Mangel an materialistischer Gesinnungskräftigkeit, ein mangelnder Glaube an die tatsächliche Effizienz dieses Verfahrens. Der Zusatz war nicht akzidentiell: In der Realität hat Freud keine Vivisektionen vorgenommen, dazu bestand für ihn keine Notwendigkeit, war er doch anders als Flechsig, der letztendlich auch nur an einem zu engen Fachhorizont gelitten hat, nicht auf die imaginäre Realität beschränkt, sondern hatte Zugang zu den anderen Dimensionen, die Lacan später als das Reale, das Symbolische und das Imaginäre benennen wird.295 An diesen Nahtstellen, in und durch das im Realen korpsifizierte Sprechen hat Freud viviseziert: Er hat nicht integrierte Stellen im Realen des Patienten, traumatische, diskontinuierliche und fragmentierte Abgründe zur Symbolisierung gebracht mittels der spezifischen psychoanalytischen Technik der Dekomposition und Rekomposition, der depersonalisierenden Verstörung und anschließenden Anerkennung296. Erst wird destruiert und seziert, und am Ende liegt das „Hauptgewicht der psychotherapeutischen Einwirkung auf dieser Synthese, eine Art Wiederherstellung des gleichsam durch die Vivisektion Zerstörten“297. Das ist mehr als Vergleich, das übersteigt jene Kategorie, in der nichts und niemand ernst genommen wird, die Realität, den durch eine objektivierende Sprache konsolidierten Raum, den die Psychoanalyse dekonstruiert. „Ich nenne es, die Dinge ernst nehmen. Wenn ich Ihnen gesagt habe, daß man die Dinge ernst nehmen muß, dann deshalb, damit Sie genau diese Tatsache ernst nehmen, daß Sie sie nie ernst nehmen.“298 Was aber heißt es in diesem Kontext, die Dinge ernst zu nehmen und zu behaupten, Freuds Adap295 296 297 298

Vgl. Kap 4. Vgl. auch Butler 2005: 132-136. Zu dieser kardinalen Methode der Analyse vgl. Kap. 10.4. Freud 1999: XII 185. Lacan 1990a: 112.

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tion der Vivisektion sei mehr als ein Vergleich, der eine bestimmte Methode illustrierte, nämlich die Zweiheit von Desintegration und Wiederzusammensetzung: „Wir haben den Kranken analysiert, das heißt seine Seelentätigkeit in ihre elementaren Bestandteile zerlegt, diese Triebelemente einzeln und isoliert in ihm aufgezeigt; was läge nun näher als zu fordern, daß wir ihm auch bei einer neuen und besseren Zusammensetzung derselben behilflich sein müssen? Sie wissen, diese Forderung ist auch wirklich erhoben worden. Wir haben gehört: Nach der Analyse des kranken Seelenlebens muß die Synthese desselben folgen!“299

Würde man dies so von Freud vorgestellte Verfahren in einem einfachen Vergleichsverhältnis zu Flechsigs (nicht zuletzt auch nur visionärer, weil von Gegnern ausgebremsten) Arbeit zwischen Blutströmen und Knochenmehl setzen, so griffe das bezogen auf den methodischen wie inhaltlichen Ausgangspunkt dieser Untersuchung: das mediale Reale, zu kurz, es schlösse, ein Wort wird wiederholt, die Ebenen der Realität und Realen kurz. Und die Folge wäre eine Verkennung der Tatsache, dass das Prinzip der De- und Rekonfiguration nicht aus einem von einem in der imaginären Wirklichkeit wohnhaften Ich, Paul Emil Flechsig, propagierten Verfahren abgeleitet werden kann, sondern dass seine Wurzel in den medialen Konventionen liegt, die sich mit den Techniken und experimentellen Ereignissen am Ende des 19. Jahrhunderts etabliert haben. Man könnte so weit gehen, zu sagen, dass das von Flechsig und Freud unterschiedlich denotierte Prinzip der Re- und Dekomposition – Vivisektion – vom medialen Realen, von den entsprechenden, es operationalisierenden Medien her instruiert wird. Proportional zu der Unruhe, die Freud bei der Frage Physis oder Psyche befiel, wurde er sensibilisierter für die Weisung von unten300, die Operation des medialen Realen, dessen Erfahrung, positiv gewendet, den Zusammenbruch einer einfachen Entscheidungsmöglichkeit Physis oder Psyche ja gerade voraussetzte. Nur so konnte er Flechsig’sche Vorstellungen und Ausdrucksmodelle, sie gleichzeitig ihrer objektivierenden Macht enteignend, applizieren, dabei jedoch zugleich den materialistischen Erlebniswinkel, der in der cerebralen Kartographie Flechsigs einen Höhepunkt erreicht, transzendieren. Freud schreibt: „Wollen wir mit einer Topik der seelischen Akte Ernst machen, so müssen wir unser Interesse einer an dieser Stelle auftauchenden Zweifelfrage zuwenden. Wenn ein psychischer Akt (beschränken wir uns hier auf einen solchen von der Natur einer Vorstellung) die Umsetzung aus dem System Ubw in das System Bw (oder Vbw) erfährt, sollen wir annehmen, daß mit dieser Umsetzung eine neuerliche Fixierung, gleichsam eine zweite Niederschrift der betreffenden Vorstellung verbunden ist, die also auch in einer neuen psychischen Lokalität enthalten sein kann, und neben welcher die ursprüngliche unbewußte Niederschrift fortbesteht? Oder sollen wir eher glauben, daß die Umsetzung in einer Zustandsänderung besteht, welche sich an dem nämlchen Material und an derselben Lokalität vollzieht?“301

299 300 301

Freud 1999: XII 185. Vgl. Lacan 1991: 52 und 104. Freud 1999: X 272f.

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Dieser ganz typisch im Modus einer Frage formulierte Abschnitt verrät, dass Freud im Gegensatz zu Flechsig, der seiner Kartographierung des Gehirns mit Überzeugung von sich und der klassischen Raumvorstellung verleimt war, tiefer in die Natur dessen eingedrungen ist, was Topik und Topologie im einsetzenden kybernetischen Denkzeitalter bedeuten und mit sich führen. „Stellen wir uns ein netzförmiges Diagramm vor, das in einem Darstellungsraum eingezeichnet ist. Zu einem bestimmten Zeitpunkt (wie wir noch sehen werden, repräsentiert das Netz den je spezifischen Zustand einer veränderlichen Situation) besteht es aus einer Mehrzahl von Punkten (Gipfeln), die untereinander durch eine Mehrzahl von Verzweigungen (Wegen) verbunden sind. Jeder Punkt repräsentiert eine These oder ein eindeutig definierbares Element einer wohlbestimmten empirischen Menge. Jeder Weg steht für eine Verbindung oder Beziehung zwischen zwei oder mehreren Thesen oder für einen Determinationsfluß zwischen zwei oder mehreren Elementen dieser empirischen Situation. Dabei ist per definitionem kein Punkt gegenüber einem anderen privilegiert, und keiner ist einseitig einem anderen untergeordnet; jeder Punkt hat seine eigene Kraft (die in der Zeit möglicherweise variiert), seinen eigenen Wirkungsbereich oder sein eigenes Determinationsvermögen.“302

So die Eingangspassagen von Michel Serres’ Das Kommunikationsnetz: Penelope – eine Topologie der Zeitlichkeit, die hier nicht einfach mit der Freud’schen Topik gleichgesetzt, sondern zunächst als Kontrastfolie zu Flechsigs Landkarte eingerichtet und präsentiert werden soll. Penelope beschreibt kein statisches, sondern ein dynamisches, sich in der Zeit veränderndes System, dessen Zeitlichkeit in Form von Linien, Verästelungen von Linien und Gipfelpunkten, kurz: in der topologischen Form eines Netz- oder Fließdiagramms dargestellt wird. Diese topologisch-diagrammatische Darstellung bezieht sich auf eine diachronisch-synchronische Architektur: Veränderungen und Modifikationen in der Diachronie manifestieren sich als strukturelle Veränderungen in der Synchronie, das heißt dem Zustand des Systems zu einem bestimmten Moment einer nicht-chronologischen Zeit. Mit jeder Transformation in der Diachronie restituiert sich das Netz in der Synchronie; die reziproken Beziehungen und Verteilungen von Punkten (Gipfeln) und Verzweigungen (Wegen) werden umstrukturiert und sind dennoch an jedem Zeit-Punkt synchronisch beschreibbar. Gerade bezüglich des kontrastierenden Vergleichs mit der von Flechsig errichteten räumlichen Abbildung des Gehirns und seiner unterschiedlichen Sektoren, der diese Einbindung von Serres’ Kommunikationsnetz motiviert, ist eine Fußnote von der soeben zitierten Seite signifikant. Diese besagt, dass die jeweilige konkrete Realisation der Determination (Analogie, Deduktion, Einwirkung, Gegensatz, Reaktion) akzidentiell und sekundär gegenüber den Termini des Diagramms ist, die allein Relationen ausdrücken. Die von Serres eingenommene Perspektive erweist sich als bedingungslos kybernetisch: Mit dem „Kommunikationsnetz“ werden Systeme ausschließlich auf ihren funktionalen Aspekt hin analysiert, ihre konkrete physikalische oder gegenständliche Realisierung ist nicht relevant.303 302 303

Serres 1991: 9. Serres „Kommunikationsnetz“ lässt sich mit zahlreichen Konzeptionen, die in diesem Buch Revue passieren, in eine produktive Beziehung setzen. Mit Hei-

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Freuds Topik balanciert zwischen Flechsigs Gehirn, so sehr Raum und atomisierbares Objekt, dass es mit Skalpell und Atlas angegangen werden kann, und Serres’ Netzdiagramm, wenn er die „psychische Lokalität“ dahingehend befragt, ob sie „Zustandsänderungen“ der „unbewußten Niederschrift“ indiziert und sich damit als nicht materialistisch, sondern relational aufschließt. Sein Leben lang wird Freud auf diesem schmalen Grad balancieren – Raum oder Relation, Physis oder Psyche, Materialität oder Kommunikation, und in dieser Aporie ist der Lacan’sche kybernetische Diskurs der Materialität der Kommunikation, der korpsifizierten Signifikantenkette, bereits aufgerufen. Aber das ist keine Ermäßigung, keine Versöhnung, keine Erlösung des rätselnden, zweifelnden, fragenden, oszillierenden Freud, eine Aporie bleibt es bis zum Ende und bis heute. Einerseits-andererseits. Einerseits haben Freuds Überlegungen zu Gehirn und Gedächtnis ein völlig anderes Gepräge, so passioniert und so verzweifelt, dass jeder Blutdurst darüber vergeht. Einige Punkte, die das Kapitel über die Gedächtnistheorie betreffen, müssen an dieser Stelle vorgezogen werden. Bereits in seinem frühen, auf das Schriftmodell basierten Gedächtnisentwurf, revolutioniert Freud die materialistische Theorie, indem er kein räumliches, sondern ein dynamisches Gedächtnis konzipiert.304 Aber bereits in dieser frühen Phase, im Zuge seiner Arbeit am Entwurf, stößt Freud auf ein Problem, das ihn lange begleiten und das erst sehr spät einer Lösung zugeführt wird. Das Problem ergibt sich aus dem Postulat, das er an seinen psychischen Apparat richtet: Der Apparat muss einerseits immer wieder neue Eindrücke empfangen und in sich aufzeichnen können, also stets eine neutrale und unvoreingenommene Aufzeichnungsfläche bereithalten, andererseits jedoch die bereits erfahrenen Daten sich einprägen und speichern können, damit eine gewisse Konstanz gesichert bleibt. Im Entwurf gelingt es Freud noch nicht, den psychischen

304

deggers Begriff der Zeitlichkeit: auf der ontologischen oder existenzialen Ebene des In-der-Welt-seins sind Welt und Dasein immer schon strukturell integrierte Elemente und keine isolierbaren Wesenheiten. Ebenso mit Heideggers Restitution der modalen Kategorien, die die Möglichkeit höher ansetzt als die Notwendigkeit. Vgl. Heidegger 1953: 56f und 143f. Weiter mit Foucault: diskursive und nicht-diskursive Praktiken determinieren und konfigurieren unsere Wirklichkeiten und unser Bewusstsein im Sinne von unbewusst laufenden Codes. Ganz wichtig: mit Lacans Modell des unbewussten Gedächtnisses, das im 9. und 10. Kapitel behandelt wird. Der gemeinsame Nenner dieser Diskurse ist ihre durch A-Linearität und Topologie konstituierte Zeitlichkeit. Sogar Hegel, thematisiert im 1. und 3. Kapitel, von Derrida als erster Differenzphilosoph apostropiert, wäre hier anzuführen, denn seine Theorie ist, insofern sie die Elemente nicht als solche, als positive Einheiten, sondern differentiell via negativer Abgrenzung bestimmt, mit Serres’ Relationen kompossibel. Wobei gerade hier auch auf die Unterschiede abgehoben werden muss: Hegels dialektischer Prozess ist im Gegensatz zu Serres’ Kommunikationsnetz als Generator von Möglichkeiten ein Verlauf des NotwendigMachens, ein Unterschied, den Serres’ in seinem Text selbst stark macht. In einem Brief an Fliess schreibt er: „Du weißt, ich arbeite mit der Annahme, daß unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichtung entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt. Das wesentlich Neue an meiner Theorie ist also die Behauptung, daß das Gedächtnis nicht einfach, sondern mehrfach vorhanden ist, in verschiedenen Arten von Zeichen niedergelegt“ (Freud 1986: 102.) Vgl. auch Freud 1999: XVI 43-56.

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Apparat so zu konstruieren, dass diese beiden Funktionen, Wahrnehmung und Gedächtnis, sich nur als jeweilig operierende ausschließen. Er bleibt einer partiell substanzialisierenden Optik verhaftet, indem er Wahrnehmung und Gedächtnis auf zwei unterschiedliche Neuronengruppen bzw. Systeme verteilt. Ein Modell, das dies beides gleichzeitig zu umfassen und darzustellen vermöchte, ist lange Zeit nicht in Sicht und bleibt ein dringender Wunsch der metapsychologischen Forschung: „Einen Apparat, der diese komplizierte Leistung vermöchte, können wir vorderhand nicht ausdenken.“305 Erst später wird der Apparat funktionalisiert und damit prä-kybernetisiert, nämlich in der legendären Schreib- und Schriftmaschine Wunderblock. „Vor einiger Zeit ist nun unter dem Namen Wunderblock ein kleines Gerät in den Handel gekommen [...]. Es will nicht mehr sein als eine Schreibtafel, von der man die Aufzeichnungen mit einer bequemen Hantierung entfernen kann. Untersucht man es aber näher, so findet man in seiner Konstruktion eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit dem von mir supponierten Bau unseres Wahrnehmungsapparates und überzeugt sich, daß es wirklich beides liefern kann, eine immer bereite Aufnahmefläche und Dauerspuren der aufgenommenen Aufzeichnungen.“306

Die Schreibszene Wunderblock besteht darin, dass eine sensible Oberfläche beschrieben wird und diese Inskriptionen durch das Abtrennen der oberen, aufnehmenden Schicht von der darunter sich befindenden, Spuren zurückhaltenden Wachstafel gelöscht werden – hierin produziert sich die alternierende Wiederholung von An- und Abwesenheit, Ur und Sache, des Unbewussten. Der psychische Apparat kann nun die beiden Funktionen von Wahrnehmung und Gedächtnis technisch realisieren, ohne dass dafür jeweils interne apparatetechnische Gadgets ausdifferenziert werden müssten, aber er kann diese Funktionen nicht gleichzeitig ausführen: entweder Wahrnehmung oder Gedächtnis im Sinne eines temporalen Entweder-Oder. Der Grund ist einfach und liegt auf der Hand. Der Speicherplatz ist begrenzt. Entweder etwas kommt zur sinnlichen Präsenz im Wahrnehmungssystem, kann in exakt diesem Moment aber keine Spuren einschreiben (würde dies zugelassen, so wäre die Speicherkapazität des Systems schnell überschritten), oder aber es zirkuliert in signifikanter Form im unbewussten Gedächtnis, was automatisch impliziert, dass es unmöglich sinnlich und bewusst wahrgenommen werden kann. Wahrnehmung und Gedächtnis stehen in einem Verhältnis der Exklusion. Die bewusste Wahrnehmung ereignet sich „geradezu an Stelle der Erinnerungsspur“307, und im Zuge dieser Operation eines unentwegten Einschreibens und Verlöschens realisiert sich die Ent-stellung. Freuds Gedächtnistheorie auguriert eine Topologie der Zeit, die für die Wissenschaften des 20. Jahrhunderts von der Naturwissenschaft über die Philosophie bis hin zur Psychologie, von Serres bis zur Systemtheorie, konstitutiv werden wird (dies zeigt sich beispielsweise in den von Schmidt publizierten interdisziplinären Beiträgen zur Gedächtnisforschung aus der Psychologie, Neurophysiologie und Kognitionswissenschaft308).

305 306 307 308

Freud 1999: Nachtragsband 391. Freud 1999: XVI 5. Freud 1999: II/III 545. Vgl. Schmidt 1991 und Sinz 1979.

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Andererseits lässt sich gerade auch in einer Genealogie des Unbewussten aus der Zeitlichkeit der Frage nach dem Raum nicht ausweichen. Es lässt sich nicht übersehen, dass das Unbewusste bei Freud anders als bei Lacan, der durchgängiger mit Symbolketten, Algorithmen und anti-euklidischen Topologien arbeitet, und im Gegensatz zu dem Faktum, dass Freud selbst vor einer Verwechslung des Unbewussten mit einem Unter-Bewusstsein warnt, noch immer Raumvorstellungen evoziert. Noch einmal ein Blick zurück ins 1. Kapitel: Lacan beschreibt die Freud’sche Erfahrung als die Erfahrung der Öffnung auf eine höllische Unterwelt hin; und noch einmal die berühmte Stelle, diesmal ausführlich in ihrem Kontext: „Der große G. Th. Fechner spricht in seiner „Psychophysik“ (II. Teil, S. 520) im Zusammenhange einiger Erörterungen, die er dem Traume widmet, die Vermutung aus, daß der Schauplatz der Träume ein anderer sei als der des wachen Vorstellungslebens.“309 Es braucht nicht gesagt zu werden, dass die Koordinaten dieses Schauplatzes vom euklidischen Idyll wie von der siegesbewusst verwalteten Landkarte eines erschlossenen Territoriums unüberholbar weit entfernt sind. Der Andere Schauplatz weist im Gegenteil in seinen Facetten, Schattierungen, in seiner fremdländischen, a-geographischen Andersheit, die einem cartesisch mechanisierten Ego jede Orientierung verwehrt, all jene Konstituenten auf, die Hartmut Böhme für „imaginäre Jenseitsräume“ geltend macht. Völlig übereinstimmend mit den im 1. und besonders im 4. Kapitel mit Lacan dargelegten Funktionen und Interaktionen der Dimensionen des Realen, des Symbolischen und des Imaginären, weist Böhme darauf hin, das das „Imaginäre“ diesem Raum keineswegs einfach nur einen fiktiven oder phantastischen Charakter zuspricht. Vielmehr spielt das Imaginäre oder Phantasmatische für jede Apperzeption die Rolle der Bedingung der Möglichkeit und lässt sich nicht zu einer „bloßen Vorstellung“ derogieren.310 Das Imaginäre ist bei Lacan das Resultat einer Übersetzung der im Realen implementierten, in diskreten symbolischen Elementen laufenden Kette in die jeweiligen Bilder und Begriffe, die jeden Wahrnehmungs- und Denkakt erst ermöglichen. In gleicher Weise erweist es sich als unverzichtbar für Atomphysiker, Baumschulenmitarbeiter, Literaten, Gespensterfänger, Mathematiker oder Hausbewohner, da ein menschliches Bewusstsein, das im Unterschied zu Computern nicht in binären Unterscheidungen denken kann, unumgehbar auf Objekte – sei es ein Haus, eine Seele oder eine Zahl – verwiesen ist, nur mit imaginären Objekten manövrieren kann. Unter Objekte fallen auch Raumvorstellungen, seien es euklidische oder hilbertsche Räume, der Wörthersee, das Auditurium Maximum, ein sterilisierter OP-Saal oder der Horus-Tempel in Edfu, „weiße Erde von Thule bis Avalun“311. Diesseits oder Jenseits, Alptraumraum, Robbe-Grillets Geisterstadt, der Cyberspace – alle setzen, handelt es sich doch letztlich um imaginäre Objekte, ein Kant’sches Apriori von Räumlichkeit voraus. Aber so wie die alte Zeit, das statarische Fortschreiten einheitlicher Sekunden auf der Matrix von Huygens Pendel, medialer Generator des Universums von Newton sowie der nach Alpenveilchen und Narzissen unterscheidbaren Flora der klassischen episteme312, von der Faradaysierung unterlaufen wird, so werden aus klassischen, euklidisch zähmbaren Räumen Gauss’sche 309 310 311 312

Freud 1999: II/III 541. Böhme 2000a: 61. Benn 1980: IV 67. Vgl. Foucault 1974: 88f, 106f, 186ff und 171-173.

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Ebenen, Möbiusbänder, von Neumanns Dichtematrizen und der geteilte Saal, ein Anderer Schauplatz und schließlich virtuelle Welten. Und irgendwann war da auch Alice, auf der Fährte eines weißen Kaninchens in ein Loch gefallen, im freien Fall in einem dunklen Schacht, hinab an Regalen mit Landkarten, Bildern und einem leeren Glas mit der Aufschrift „Orangenmarmelade“ in eine Andere Welt. Unterstehen diese Räume, wie bemerkt, der Räumlichkeit als einer kantschen, apriorischen Anschauungsform, mit Böhme: „der Ausdruck „Jenseits“ setzt eine Grenze voraus, bis zu der jener Raum der konventionalisierten Wirklichkeit reicht, in der physisch gehandelt wird“313, so muss darüber hinaus die Tatsache stark gemacht werden, dass Jenseitsräume für die Realität konstitutiv sind, immer schon und bis auf weiteres. Ihre Raumhaftigkeit impliziert stets die diesseitige materielle Welt, mit der sie über Schwellen und Pforten in Verbindung steht. „Das Raum-Zeit-Kontinuum des Diesseits ist mithin nicht so kontinuierlich, wie man glaubt; sondern es ist gleichsam perforiert; es kann überall Eingänge oder Tore aufweisen für den Einfall des Jenseitigen.“314 Alice’ Fall ins Wunderland demonstriert dies mit Brillanz, und genau so lässt sich an den Erlebnissen, in die Alice in diesem Wunderland eingezogen wird, an den Erscheinungen, die sich ihr stellen und sie umgreifen, zeigen, dass mit der Übertretung der Raumgrenze, mit dem Eintritt in eine jenseitige Wirklichkeit, zugleich eine Transformation des Jenseitsreisenden vollzogen wird – man bedenke, wie viele Kekse und Fläschchen, übrigens allesamt keinesfalls nur wolkige, pudrige Fatae Morganae, sondern symbolisch mit „Iss mich“ oder „Trink mich“ beschriftete Dinge, Alice passieren muss, die sie miniaturisieren, riesenhaft vergrößern und seltsam mutieren lassen. Jenseitsräume „können [...] nicht betreten werden [...], ohne einen Wechsel in der eigenen Identität zu vollziehen: man muß tot sein oder wenigstens, wie ein Schamane, den eigenen Körper verlassen können“315. Um noch auf ein weiteres Argument Böhmes einzugehen, das für eine Betrachtung des Anderen Schauplatzes – und übrigens nicht weniger für die Phantasmagorien, die Flechsig so großen Appetit gemacht und seine Landkarten inspiriert haben – als Raum relevant ist. Böhme weist nach, dass in der Moderne (die in diesem Buch mit dem Freud und Flechsig umgreifenden Dispositiv einsetzt) „das Religiöse die Form flottierender Energien annimmt, die alles und jedes mit willkürlicher Wucht und mit mächtigen Bindungskräften besetzen können, ganz besonders aber Phänomene des Neuen und Vielversprechenden“316. Böhme qualifiziert die Dynamik der modernen Religiosität als „wild“ – sofern ihre Besetzungen eine institutionelle Rückbindung vermissen lassen – und als „heiß“ – da dieser Prozess keiner reflexiven Kontrolle unterzogen wird. Die durch Nietzsches Verkündigung vom Tod Gottes stimulierten Kräfte werden zum Motor des Technischen, während im Gegenzug das Imaginär-Jenseitige selbst technisiert wird. So realisiert sich im Cyberspace eine Fortsetzung vorgängiger Jenseitskonzepte, etwa der Dualität von Himmel und Hölle.317 Die freigesetzten imaginär-religiösen Energien der säkularisierten abendländischen Kultur irisieren in DSL-Kanälen und Sili-

313 314 315 316 317

Böhme 2000a: 63. Böhme 2000a: 64. Böhme 2000a: 64. Böhme 2000: 436. Böhme 2000: 436.

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konchips, und im Cyberspace kommt ein Jenseits zur Entfaltung, das jedoch weniger die elevierten Sphären der abendländischen Metaphysik, seraphisch und heilig, sondern eher Höllen und orphische Unterwelten konnotiert. „Man kann behaupten, daß die Hölle der absolut gesteigerte Raum der pathischen Seite des Leibempfindens darstellt, während der Himmel eine doppelte Befreiung ist: Befreiung vom sterblichen Fleisch und Befreiung vom pathischen Gefühlsraum.“318 Werden hier nicht die Umrisse und das Kolorit des Anderen Schauplatzes erkennbar? Lässt er sich in dieser Konzeption nicht deutlich erspüren und wiederfinden? Steht das Unbewusste Freuds, für einmal in einen räumlichen Erlebniswinkel gestellt, nicht in dieser von Böhme rekonstruierten Tradition der Jenseitsräume von okkulten Geisterreichen bis hin zum Cyberspace? Ist das Unbewusste, so wenig sich jede Gleichsetzung, auch nur Parallelisierung hier verbietet, nicht zumindest in Mikrodosen nicht nur mit Flechsig’schen, sondern auch mit Jung’schen Vorstellungskreisen kontaminiert? So schreibt Freud von „Schichten der psychischen Tätigkeit“319, vom „Kern unseres Wesens“320, pythisch, tief und unausdenkbar, und von den „dunklen Gebieten des Seelenlebens“321. Böhmes Medientheorie lässt sich applizieren auf die „dunklen Schicksalsmächte“322, die Freud anruft, und auf seine unbehagliche Schlussfolgerung: „Auch der Haß tobt sich schrankenlos aus. Rache- und Todeswünsche gegen die nächststehenden, im Leben geliebtesten Personen, die Eltern, Geschwister, den Ehepartner, die eigenen Kinder sind nichts Ungewöhnliches. Diese zensurierten Wünsche scheinen aus einer wahren Hölle aufzusteigen“323. Das Haus – ruft sich hier nicht ein Geisterhaus wiederholt in Erinnerung? – ist eine von Freud bevorzugte, eindeutig räumliche Metapher: „daß es [das Ich, Anm. d. Verf.] nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht“324, oder: „Das Ich fühlt sich unbehaglich, es stößt auf Grenzen seiner Macht in seinem eigenen Haus, der Seele. Es tauchen plötzlich Gedanken auf, von denen man nicht weiß, woher sie kommen; man kann auch nichts dazu tun, sie zu vertreiben. Diese fremden Gäste scheinen selbst mächtiger zu sein als die dem Ich unterworfenen; sie widerstehen allen sonst so erprobten Machtmitteln des Willens, bleiben unbeirrt durch die logische Widerlegung, unangetastet durch die Gegenaussage der Realität.“325

Freuds Anderer Schauplatz ist verbunden mit einer unaufhörlichen Invokation des Dunklen: „von dem Moment an, da wir in die seelischen Vorgänge beim Träumen tiefer eindringen wollen, werden alle Pfade ins Dunkel münden“326, „wir [sind] [...] ja genötigt [...], ins Dunkle hinaus zu bauen“327, und die „für uns so imperativen Lust- und Unlustempfindungen“ bilden „das dun318 319 320 321 322 323 324 325 326 327

Böhme 2000a: 69. Vgl. auch Böhme 2000: 431. Freud 1999: I 538. Freud 1999: II/III 609. Freud 1999: XI 61. Freud 1999: IV 231. Freud 1999: XI 143. Freud 1999: XI 295. Freud 1999: XII 9. Freud 1999: II/III 515f Freud 1999: II/III 553.

KORPSIFIZIERUNG ſ 281

kelste und unzugänglichste Gebiet des Seelenlebens“328. Besonders sensibilisiert zeigt er sich für die Gestalten aus der Unterwelt, prägend für die von Böhme untersuchten modernen Jenseitsräume. Die Symptome der Zwangsneurose setzt er in Korrespondenz (und Kommunikation?) mit „übergewaltigen Gästen aus einer fremden Welt, Unsterbliche, die sich in das Gewühl der Sterblichen gemengt haben“329, und im Zusammenhang einer Diskussion der Übertragungsliebe heißt es: „Zur Triebunterdrückung, zum Verzicht und zur Sublimierung auffordern, sobald die Patientin ihre Liebesübertragung eingestanden hat, hieße nicht analytisch, sondern sinnlos handeln. Es wäre nicht anders, als wollte man mit kunstvollen Beschwörungen einen Geist aus der Unterwelt zum Aufsteigen zwingen, um ihn dann ungefragt wieder hinunter zu schicken.“330 Nicht zuletzt ist es, was den Raum des Unbewussten angeht, sein Anliegen, „die verschlossensten Fächer des Seelenlebens [zu] eröffnen“331. Vielleicht um diskrete Gespenster entschwirren zu lassen. Aber all das ist fern, sehr fern von Flechsigs Traum, die Hirnkarte in einem mit dem Besteck aus Messer und Säge vollzogenen, phantasmagorischen, höllischen Bacchanal zu verifizieren. Auf die so beschriebene Weise wird ein Rahmen für die Entfaltung der psychischen Topik als Raum verliehen, und diese Tatsache steht für sich, sie muss erfahren, wissenschaftlich konstatiert und anerkannt werden als Teil einer Genealogie des Unbewussten. Aber bei allen höllenräumlichen Evokationen, die durch Freuds Versinnlichung des Unbewussten als ein Anderer Schauplatz hervorgerufen werden, dominiert in dieser Genealogie doch das mediale Apriori der diskreten Zeitlichkeit, und Freud selbst hätte die psychische Topik näher mit Serres’ Topologie der Zeit assoziiert wissen wollen als mit dem anderen oder unteren Ende einer, wenngleich nicht mehr den klassischen geographischen Gesetzen folgenden Welt. Als Metapsychologe hat er sich über den Trieb zum Verzehr332 des Hirnorgans erhoben, hat er angekündigt und durchgesetzt, „daß wir von dem rein deskriptiven Sinn des Wortes „unbewußt“ zum systematischen Sinn desselben Wortes fortschreiten“333, und im Stil Penelopes eine Topologie entworfen, die unter verschiedene Perspektiven und Begriffe, systematische, dynamische und ökonomische, treten kann.334 Seine Topik ist konstituiert 328 329 330 331 332

333 334

Freud 1999: XIII 3f. Freud 1999: XI 287. Freud 1999: X 312. Freud 1999: XI 461. Vgl. Lacan 1987: 197f: „Wahrheit, so verstanden, ist, was der Wahrheit hinterherläuft – und auch ich laufe und ziehe Sie, wie die Hunde des Aktäon, hinter mir her. Ganz gewiß werde ich mich, sobald ich am Lager der Göttin bin, in einen Hirsch verwandeln, den Sie dann verschlingen können – doch bleibt uns bis dahin noch ein wenig Zeit.“ Freud 1999: XI 304. Vgl. Freud 1999: XIII 240-243: „Wir sind aber zum Terminus oder Begriff des Unbewußten auf einem anderen Weg gekommen, durch Verarbeitung von Erfahrungen, in denen die seelische Dynamik eine Rolle spielt. Wir haben erfahren, das heißt annehmen müssen, daß es sehr starke seelische Vorgänge oder Vorstellungen gibt, – hier kommt zuerst ein quantitatives, also ökonomisches Moment in Betracht – die alle Folgen für das Seelenleben haben können wie sonstige Vorstellungen, auch solche Folgen, die wiederum als Vorstellungen bewußt werden können, nur werden sie selbst nicht bewußt. Unseren Begriff des Unbewußten gewinnen wir also aus der Lehre

282 ſ DISKRETE GESPENSTER

durch Zeitlichkeit – „Wenn ich den einen psychischen Vorgang im Seelenapparat den primären benannt habe, so tat ich dies nicht allein mit Rücksicht auf die Rangordnung und Leistungsfähigkeit, sondern durfte auch die zeitlichen Verhältnisse bei der Namengebung mitsprechen lassen.“335 – und durch Prozessualität, was sich aufs deutlichste in seinem Diskurs abzeichnet. Es geht um „seelische Akte“336, „Prozesse der Verdrängung“337 und „bestimmte unbewußte Vorgänge, die eben den Sinn des Symptoms enthalten“338, um „unbewußte Akte“339, das „Spiel seelischer Kräfte“340, „zweierlei Vorgänge oder Ablaufsarten der Erregung“341 und „irgendwie gestörte Vorgänge, die unbewußt bleiben mußten“342, schließlich um die „Annahme unbewußter seelischer Vorgänge“343, „psychische Akte [...], welche zu ihrer Erklärung andere Akte voraussetzen, für die aber das Bewußtsein nicht zeugt“344, und um die Tatsache, „daß jeder seelische Vorgang [...] zuerst in einem unbewußten Stadium [...] existiert und erst aus diesem in die bewußte Phase übergeht“345. Im Gegensatz zu der Dimension, die der Begriff der Regression nahelegt, konzeptualisiert er diese als einen zeitlichen Vorgang, der allein zu Darstellungszwecken topische Modelle postuliert.346 Am Ende dieser Folge von Beispielen für das Primat

335 336 337 338 339 340 341 342 343 344 345 346

von der Verdrängung. Das Verdrängte ist uns das Vorbild des Unbewußten. Wir sehen aber, daß wir zweierlei Unbewußtes haben, das latente, doch bewußtseinsfähige, und das Verdrängte, an sich und ohne weiteres nicht bewußtseinsfähige. Unser Einblick in die psychische Dynamik kann nicht ohne Einfluß auf Nomenklatur und Beschreibung bleiben. Wir heissen das Latente, das nur deskriptiv unbewußt ist, nicht im dynamischen Sinne, vorbewußt; den Namen unbewußt beschränken wir auf das dynamisch unbewußte Verdrängte, so daß wir jetzt drei Termini haben, bewußt (bw), vorbewußt (vbw) und unbewußt (ubw), deren Sinn nicht mehr rein deskriptiv ist. Nun können wir mit unseren drei Termini, bw, vbw und ubw, bequem wirtschaften, wenn wir nur nicht vergessen, daß es im deskriptiven Sinne zweierlei Unbewußtes gibt, im dynamischen aber nur eines. Für manche Zwecke der Darstellung kann man diese Unterscheidung vernachlässigen, für andere ist sie natürlich unentbehrlich.“ Freud 1999: II/III 608f. Freud 1999: XIII 215. Freud 1999: X 264. Freud 1999: XI 288f. Freud 1999: X 265. Freud 1999: XIII 216. Freud 1999: II/III 616. Freud 1999: XI 289. Freud 1999: XIII 213. Freud 1999: X 265. Freud 1999: XI 305. Vgl. beispielsweise Freud 1999: X 286f: „Die unbewußten Vorgänge werden für uns nur unter den Bedingungen des Träumens und der Neurosen erkennbar, also dann, wenn Vorgänge des höheren Vbw-Systems durch eine Erniedrigung (Regression) auf eine frühere Stufe zurückversetzt werden. An und für sich sind sie unerkennbar, auch existenzunfähig, weil das System Ubw sehr frühzeitig von dem Vbw überlagert wird, welches den Zugang zum Bewußtsein und zur Motilität an sich gerissen hat. Die Abfuhr des Systems Ubw geht in die Körperinnervation zur Affektentwicklung, aber auch dieser Entladungsweg wird ihm, wie wir gehört haben, vom Vbw streitig gemacht.“ Vgl. auch Lacan 1990a: 141f.

KORPSIFIZIERUNG ſ 283

des temporalen Elements in Freuds Topik (die sich leicht verlängern ließe) sei auf den zeitlich konzipierten Transfer einer im Dispositiv der Energetik quantifizierten Libido verwiesen: „Wir haben so geschaltet, als gäbe es im Seelenleben – unentschieden, ob im Ich oder im Es – eine verschiebbare Energie [...]. Ohne die Annahme einer solchen verschiebbaren Energie kommen wir überhaupt nicht aus.“347 Das Ende ist klar, die Zugänge und Versperrungen sind klar, das kaltbläuliche Licht des Laboratoriums wird in ein Chiaroscuro versetzt. Eine von monströsem Appetit getriebene Vision, Küchengerüche zwischen urteutonischem Eintopf, Ödem und Leichenblut, kartographischgrauen Übermenschschatten und französisch erschlankten Formalismen verwirren sich zu jenen Dämmerlichtfarben, in denen Freud, Aporie zwischen Physis und Psyche, Neurochirurgie und Kommunikationsnetz, grübelte, zweifelte, verzweifelte und beizeiten einen kleinen Wimpel von Hoffnung sah – „Wir kommen mit all diesen Spekulationen zu nichts; da wir nicht warten können, bis uns die Entscheidungen der Trieblehre von einer anderen Wissenschaft geschenkt werden, ist es weit zweckmäßiger, zu versuchen, welches Licht durch eine Synthese der psychologischen Phänomene auf jene biologischen Grundrätsel geworfen werden kann.“348

347

348

Freud 1999: XIII 272f. Vgl. auch XIII 31: „So operieren wir also stets mit einem großen X, welches wir in jede neue Formel mit hinübernehmen. Daß dieser Vorgang sich mit quantitativ verschiedenen Energien vollzieht, ist eine leicht zulässige Forderung, daß er auch mehr als eine Qualität (zum Beispiel in der Art einer Amplitude) hat, mag uns wahrscheinlich sein; als neu haben wir die Aufstellung Breuers in Betracht gezogen, daß es sich um zweierlei Formen der Energieerfüllung handelt, so daß eine freiströmende, nach Abfuhr drängende, und eine ruhende Besetzung der psychischen Systeme (oder ihrer Elemente) zu unterscheiden ist. Vielleicht geben wir der Vermutung Raum, daß die „Bindung“ der in den seelischen Apparat einströmenden Energie in einer Überführung aus dem frei strömenden in den ruhenden Zustand besteht.“ Sowie X 360: „Dem Psychologen aber ist die Trauer ein großes Rätsel, eines jener Phänomene, die man selbst nicht klärt, auf die man aber anderes Dunkle zurückführt. Wir stellen uns vor, daß wir ein gewisses Maß von Liebesfähigkeit, genannt Libido, besitzen, welches sich in den Anfängen der Entwicklung dem eigenen Ich zugewendet hatte. Später, aber eigentlich von sehr frühe an, wendet es sich vom Ich ab und den Objekten zu, die wir solcher Art gewissermaßen in unser Ich hineinnehmen. Werden die Objekte zerstört oder gehen sie uns verloren, so wird unsere Liebesfähigkeit (Libido) wieder frei. Sie kann sich andere Objekte zum Ersatz nehmen oder zeitweise zum Ich zurückkehren. Warum aber diese Ablösung der Libido von ihren Objekten ein so schmerzhafter Vorgang sein sollte, das verstehen wir nicht und können es derzeit aus keiner Annahme ableiten. Wir sehen nur, daß sich die Libido an ihre Objekte klammert und die verlorenen auch dann nicht aufgeben will, wenn der Ersatz bereit liegt. Das also ist die Trauer.“ Freud 1999: X 144.

284 ſ DISKRETE GESPENSTER

6.10 Eine Zusammenfassung, ein Intermezzo von Du Bois-Reymond und dann der große Helmholtz Der Frage nach dem änigmatischen und eigentümlichen Wissen darum, was der Strom ist, ist immer schon unter Einsatz des Körpers nachgegangen worden. Die Geschichte der Elektrizität ist mit einer spezifischen Erfahrung des Körpers, einer zwischen Schmerz und Ekstase, Masochismus und Allure wechselnden körperlichen Erfahrung verwoben349 und hat sich insofern einer rein cartesischen Aneignung entzogen. Lacan selbst verweist darauf, dass die abendländische Philosophie und Wissenschaft ganz sicher andere Wendungen genommen hätten, wenn Descartes anstelle des „ich sehe mich mich sehen“ von einem „ich erwärme mich, indem ich mich erwärme“ ausgegangen wäre.350 Andere Wendungen, andere Spannungslagen, andere Temperierungen, Temporationen des Seins. Aber im Zuge der Faradaysierung der Medizin war es ohnehin vorbei mit der Dominanz des Bewusstseins, der präsenzmetaphysischen Fundierung des Seins, mit der Heidegger’schen Verkennung der Zeit als Sein, als Medium des in diskreten Wiederholungen Seienden. Auch der Gleichstrom hatte bereits – so die Ergebnisse der Anwendung der Elektrizität in der Medizin, die ihrerseits eine lange, sich bis ins Mittelalter erstreckende Geschichte hat351 – Wirkungen auf den tierischen und menschlichen Muskel ausgeübt. Unabhängig von seiner Dauer induziert Gleichstrom eine einzige Muskelreaktion, eine Kontraktion mit Beginn des Stromflusses und eine Entspannung beim Abstellen des Stromflusses.352 Bei wechselstromartigen Stromkreisunterbrechungen ab einer bestimmten Frequenz dagegen bleiben die Entspannungsphasen aus. Eine Serie tetanischer Zuckungen läuft an. „Der experimentell hervorgerufene Starrkrampf ist eine psycho-physiologische Signatur des Wechselstromzeitalters.“353 Das idealistische Bewusstsein entartet zum unbewussten manischen Willen des Wechselstroms. In den modernen Wechselstromexperimenten wird das Cogito durch den akzelerierten Takt des on/off unterlaufen, der jede sonore Selbstgewissheit dissoziiert. Die neurologischen Bestände des Subjekts rücken in den Fokus der am medialen Dispositiv des Elektromagnetismus teilhabenden Psychologie, Psychiatrie, Physiologie und Psychotechnik.354 Das Subjekt wird dezentriert, es wird diskretisiert – korpsifiziert: Die ersten und genuinen Aktivitäten des Unbewussten, diskrete Wiederholungen, werden durch die Gestelle der neuen Zeit installiert. Eine neue Zeit, eine Frenesie, eine Besessen349

350 351 352 353 354

Vgl. Hagen 2001: 39ff. Die von Hagen in Erinnerung gerufenen Propagandanszenierungen der Gefahren von Wechselstrom, die Edison 1887 gegen seinen Kontrahenten Westinghouse vorgenommen hat, als Edison zunächst einen Hund, dann auch einen Elefanten öffentlich mit einem Wechselstromgenerator zu Tode stromschlug (vgl. Hagen 2005: 161), bilden nur eine erinnerungsträchtige Anekdote in dieser Geschichte. Vgl. Lacan 1987: 87. Vgl. Abraham 1912; Blumtritt 1983; Kloss 1987; Rosenberger 1882-90 und Sattelberg 1982. Vgl. Wagner 1846: 10f. Vgl. auch Changeux 1984: 42-45. Siegert 2003: 349. Hierzu und zu den folgenden Passagen zur Tetanisierung und Faradaysierung des Seins vgl. Siegert 2003: 345-368

KORPSIFIZIERUNG ſ 285

heit, ein unwiderrufliches Ereignis – der zur Botschaft destinierenden Tötung, aber das hätte nur Freud so sagen können. „Es entstand eine Industrie, ein Handel! Hören Sie sich zum Beispiel die QuasiReklame jener „Induktionsmaschine“ an, die 1874 in der Revue photographique des Hôpitaux de Paris angepriesen worden ist: „Dieser Apparat besteht aus einem hufeisenförmigen Magnet, vor dessen Polen sich ein von zwei Rollen und einem Treibriemen bewegter Elektro-Magnet dreht. Die Intensität der Stöße läßt sich leicht regulieren, indem man einen Kontakt aus Weicheisen näher oder ferner gegen die Magnetpole hält; wird dieser Kontakt ganz entfernt, so erhält man die maximale Wirkung, die sich in unerträglichen Stößen kundtut. Diese Induktionsmaschine hat ein graziöses Äußeres, und mit ihrem niedrigen Preis ist sie für jeden Praktiker erschwinglich: Der Verlag unserer Zeitschrift kann sie zu einem Preis von 30 Francs verschaffen.““355

Ein Schnitt, ein Einsatz, eine Anfangsblende, rasch, willkürlich, rhapsodisch. 1840 entdeckt der italienische Physiker und Physiologe Carlo Mateucci die sekundäre Kontraktion: Ein Froschmuskel, dessen Nerv um den kontrahierten Muskel eines anderen Frosches geschlungen ist, zuckt. 1842 unterzieht Emil Du Bois-Reymond das Phänomen, dirigiert durch seinen Lehrer Johannes Müller, einer genaueren Inspektion und stößt so auf den „Nervenaktionsstrom“356. Nervenaktionsstrom ist Wechselstrom, der nicht in von Magnetfeldern umgebenen Spulen, sondern in körperlichen Nervenfasern läuft, was nichts an der Tatsache ändert, dass die Induktionsspule das technisch-mediale Apriori des neuen, mittels Tetanisierung getesteten Körpers darstellt. In den Experimenten von Du Bois-Reymond wird die von Faraday entdeckte und maschinisierte Induktionselektrizität in die Wissenschaften von den Körpern assimiliert. Dabei gelten für den Faraday’schen Wechselstrom und den Du Bois-Reymond’schen Nervenaktionsstrom dieselben Gesetze: Muskeln zucken nur in Abhängigkeit von der Stromflussveränderung, das heißt nach dem Prinzip des diskreten Wechsels des magnetischen und des elektrischen Feldes.357 Das technische Apriori des Nervenaktionsstroms ist, um es zusammenzufassen, die Induktion, das Signal eines gleichgerichteten Wechselstroms. Du Bois-Reymond produziert und provoziert die Ströme mit dem auf Page zurückgehenden Stromschneider, einer Maschine, die den Volta’schen Gleichstrom in eine Serie fast dauerloser diskreter Impulse fragmentiert. Wird der Nerv mit dem vom Stromschneider kommenden Signal innerviert, so reagiert er mit Muskelkontraktionen, die direkt proportional zur Signalfrequenz verlaufen.358 Die Seelen von Fröschen und Menschen bestehen nicht in der Tiefe ihres Was, sondern in der diskreten Dassheit von Frequenzen und Oszillationen: eskalierend in Wahnsinn oder Tetanus. An den Nervenaktionsstrom schließt Er sich an. Er, der grandseigneurale Hermann von Helmholtz – Großmeister zahlreicher experimentalwissenschaftlicher Gebiete von der Physik über die Mathematik bis hin zur Physiologie und Imperator der Institutionen – versah sich, anders als Freud zwi355 356 357 358

Didi-Huberman 1997: 222. Rothschuh 1969: 121. Vgl. Lenoir 1986/87: 9-12. Vgl. Changeux 1984: 45-48.

286 ſ DISKRETE GESPENSTER

schen Schattenreich und Geisterhaus, mit dem Format, den Metaphern einen soliden, bewussten Boden zu geben, um nicht zu sagen: Klartext zu reden. Einen Vergleich von Soemmering, der elektrische Telegrafendrähte bereits als Analogon eines Nervenstranges aufgefasst hatte, aufnehmend, sprach der Staats- und Götterliebling Helmholtz die vielzitierten Sätze: „Man hat die Nerven vielfach nicht unpassend mit Telegraphendrähten verglichen. Ein solcher Draht leitet immer nur dieselbe Art elektrischen Stromes, der bald stärker, bald schwächer oder auch entgegengesetzt gerichtet sein kann, aber sonst keine qualitativen Unterschiede zeigt. Dennoch kann man, je nachdem man seine Enden mit verschiedenen Apparaten in Verbindung setzt, telegraphische Depeschen geben, Glocken läuten, Minen entzünden, Wasser zersetzen, Magnete bewegen, Eisen magnetisieren, Licht entwickeln, usw. Aehnlich in den Nerven. Der Zustand der Reizung, der in ihnen hervorgerufen werden kann und von ihnen fortgeleitet wird, ist, so weit er sich an der isolierten Nervenfaser erkennen läßt, überall derselbe, aber nach verschiedenen Stellen theils des Gehirns, theils der äußeren Theile des Körpers hingeleitet, bringt er Bewegungen hervor, Aussonderungen von Drüsen, Ab- und Zunahme der Blutmenge, der Röthe und der Wärme einzelner Organe, dann wieder Lichtempfindungen, Gehörempfindungen usw.“359

Auf zeitliche Präzisionsmessung war Helmholtz schon beim Militär hin programmiert worden. Dort hatte Siemens bereits die Vorarbeit geleistet durch Perfektionierung tradierter Aufzeichnungsmechanismen, indem „er die glückliche Idee hatte, sämmtliche mechanischen Vermittlungsstücke ganz zu beseitigen und die Electricität selber zeichnen zu lassen“360. Über diesem an eine Gleichsetzung reichenden Vergleich darf dennoch die Kardinalfrage nicht vergessen werden, die Helmholtz motivierte: die Frage nach dem Ob und dem Wielange der Laufzeit von Impulsen in Nervenfasern. Hatte Wheatstone diese Frage, die Frage nach dem Instantanen oder der Geschwindigkeit des elektrischen Funkens, nach den Längen und Intervallierungen der Funkenstrecke, bereits bezüglich der telegrafischen Funkenübertragung untersucht361, so transloziert Helmholtz sie ins Sein selbst, in ein nach seiner Auffassung neurophysiologisch-materialistisch fundiertes Sein. „Vergeht eine angebbare Zeit bei der Beförderung einer solchen Nachricht, welche von den entfernten Enden der empfindenden Hautnerven oder den Nervenausbreitungen in den Sinnesorganen nach dem Gehirn hineilt, oder einer solchen, welche

359

360 361

Helmholtz 1870: 233. Eindringlich zeigt Christina von Braun, welche Effekte diese Helmholtz’sche Gleichsetzung des Nervensystems mit einem Telegrafensystems zeitigen sollte. Neben vielen anderen Analogien in vielen anderen Diskursen bildet Helmholtz’ Metapher zumindest einen Faktor, der jenes völlig „neue Konzept vom Gemeinschaftskörper“, nämlich den „medialen Kollektivleib“ triggert, den von Braun untersucht. Vgl. Braun 1997: 15. Vgl. zu diesem Kontext auch Braun 2001: 413-419. Helmholtz 1883: II 867. Vgl. Siegert 2003: 363: „1850 wurde der Mensch selber von dieser Intervallierung des Instantanen oder der Geschwindigkeit der Elektrizität angegangen. Man mußte nur die Konsequenzen ziehen aus der langen Tradition des Gemeinplatzes, daß elektrische Telegraphendrähte „ein grob sinnliches Analogon eines Nervenstranges“ [...] sind oder vice versa.“

KORPSIFIZIERUNG ſ 287 der Wille vom Gehirn durch die motorischen Nervenfäden zu den Muskeln hinsendet?“362

Diese Frage führt Helmholtz in eine Aporie, aus der keine cartesische Schlussfolgerung mehr retten kann. Das Dispositiv der Oszillation ist dadurch charakterisiert, dass etwas sich der Wahrnehmung, dem Bewusstsein, uneinholbar entzieht, und dieser Entzug ist auf konstitutive Weise mit der Zeit, mit der Verzeitlichung des Seins, der Geschwindigkeit der Laufzeit des Signals im Nerven verkoppelt. Sobald die cartesische Frage nach dem Sein in eine Zeitfrage physiologischer Art konvertiert wird, fallen Seinsgewissheit und Seinstransparenz in die Unmöglichkeit – etwas, es, das bei Helmholtz neurophysiologisch bestimmt ist, unterläuft unwiderruflich die bewusste Wahrnehmung und damit die Möglichkeit jedes selbstreferentiellen Denkaktes. Wenn Helmholtz schreibt, dass „wir natürlich nicht schneller wahrnehmen können, als unsere Empfindungsnerven, die nothwendigen Vermittler aller unserer Wahrnehmungen, diese uns zukommen lassen“363, dann bezeichnet er mit dieser Dissonanz zwischen der Selbstbeobachtung und der diese Beobachtung unterlaufenden oszillatorischen Aktivität einen Aspekt des Unbewussten: die irreduzible Gespaltenheit zwischen einem bewussten und einem unbewussten Bereich. Aber Helmholtz war kein schattensüchtiger Psychoanalytiker im Aufbruch. Helmholtz war ein militärtechnisch konditionierter Lehrstuhlinhaber. Und die Losung wurde oben bereits genannt: Wenn Selbstbeobachtung und Introspektion unmöglich werden, so erfolgt ihre Ersetzung nicht durch analytische Entzifferungen, sondern durch technische Aufzeichnungsmechanismen. Selbstbeobachtung wird ersetzt durch eine Selbstaufzeichnung, die nur auf der Basis von technischen Apparaten funktioniert, die das Aufzuzeichnende selbst bereits determiniert. So importiert Helmholtz das Messdispositiv der physikalischen Wissenschaften in die Physiologie. Wie sein Vorläufer Du Bois-Reymond bestimmt er, allerdings mittels eines optimierten Gerätes, des Galvanometers, Nervenlaufzeiten in animalischen Muskelfasern. Der „zeitmessende Strom“ setzt in dem Moment ein, in dem der Nerv des Nerv-Muskel-Präparates durch einen weiteren Strom „von verschwindend kleiner Dauer“ innerviert wird, und endet in dem Moment, in dem der Muskel durch seine Kontraktion den Stromkreis selbst unterbricht. Der Muskel zeichnet also selbst die Laufzeit des Impulses – Helmholtz errechnete einen Wert von 26,4 Metern pro Sekunde im Nerven – auf.364 Das Sein wird, auf Kosten von Bewusstsein und Selbstgewissheit, verzeitlicht, und das ist für die Haltung, die Helmholtz im Gegensatz zu Freud verwaltet, nicht mit der Rechnung des Schicksals auf einem Anderen Schauplatz verbunden, sondern vielmehr ein positivistisches Halali zur Akzeleration – nicht zuletzt der Messgeräte. Siemens rotierender Zylinder ist die technische Grundlage von Helmholtz’ innovativem Myographion365, das mit einer für heutige Zeiten belanglosen, für seine Gegenwart dagegen revolutionären Rasanz läuft, die ihn deklarieren lässt: „Sie sehen, daß die

362 363 364 365

Helmholtz 1883: II 873. Helmholtz 1883: II 873. Helmholtz 1883: II 873. Vgl. auch Siegert 2003: 365. Vgl. Holl 2002: 181.

288 ſ DISKRETE GESPENSTER

Mikroskopie der Zeit die des Raums bei weitem überflügelt hat.“366 Nichtsdestoweniger geht es im experimentalwissenschaftlichen Dispositiv, an dem Freud und Helmholtz wenngleich auf unterschiedliche Weise und auf unterschiedlichen Positionen partizipieren, um den Körper, um einen in eine diskrete Wiederholung versetzten, faradaysierten, von der cartesischen Ichfunktion divergierenden Körper. In beiden Diskursen geht es um die Zeit, die Nerven und die Körper, beide, Helmholtz und Freud, befragen die Körper, aber während Freud, von Beginn an zwischen Materialismus und Symbolismus verfangen, mehr und mehr dahin driftet, die Frage des Körpers im subjektiven wie objektiven Genitiv zu beschwören, besteht Helmholtz’ Movens eher darin, Fragen zu beantworten und so ein positives Wissen über die Körper und deren Wahrnehmungsfunktionieren zu requirieren. Helmholtz’ Intentionen waren weniger beklemmend, gotisch, barmherzig, begehrend, sie waren ambitioniert, aufgeklärt, imperial. Es waren die Intentionen eines weltmännischen Wissenschaftlers, der eine objektive Wissenschaft von unbewussten Nerventätigkeiten in den alten Seelenfunktionen Denken, Fühlen, Wollen postulierte. Die Voraussetzung zu einer solchen Wissenschaft liegt für Helmholtz nicht in der Vertiefung klassischer Methoden der Psychologie, welche er ablehnt, sondern in einer naturwissenschaftlich orientierten und mit den neuesten technischen zeitbasierten Apparaten und Medien ausgestatteten Forschung.367 Zeitbasiert ist der Schlüsselbegriff, das Zauberwort der Epoche, und die Geschwindigkeitsoptimierung der Messgeräte ist die Voraussetzung für Helmholtz’ Physiologie und für seine Aussagen über die Wahrnehmungszeiten des menschlichen Selbstbewusstseins. Nur aufgrund der Kürze der Strecken, die Nervenimpulse beim Menschen durchlaufen müssen, so argumentiert er, ist eine integrierte Gegenwartserfahrung für das Bewusstsein überhaupt gewährleistet. Eine harmonische Wahrnehmung von Zeit und Raum ist keinesfalls Leistung eines menschlichen Selbstbewusstseins, sei es im cartesischen, sei es im kantschen Sinne, sondern umgekehrt ist das menschliche Bewusstsein ein solches nur aufgrund der Tatsache, dass das ZNS beim Menschen einen Schaltkreis mit kurzen Streckenverbindungen darstellt. „Glücklicher Weise sind die Strecken kurz, welche unsere Sinneswahrnehmung zu durchlaufen haben, ehe sie zum Gehirn kommen, sonst würden wir mit unserem Selbstbewußtsein weit hinter der Gegenwart und selbst hinter den Schallwahrnehmungen herhinken; glücklicher Weise also sind sie so kurz, daß wir es nicht bemerken, und in unserem praktischen Interesse nicht berührt werden. Für einen ordentlichen Wallfisch ist es vielleicht schlimmer; denn aller Wahrscheinlichkeit nach erfährt er vielleicht erst nach einer Secunde die Verletzung seines Schwanzes, und braucht eine zweite Secunde, um dem Schwanz zu befehlen, er solle sich wehren.“368

Was das menschliche Bewusstsein vor dem des Walfischs privilegiert, ist nicht sein dianoetisches Vermögen, sondern seine spezifische zentralnervöse Konstitution. Es muss nicht erwähnt werden, dass Helmholtz’ Motive nicht pueril sind. Natürlich geht es ihm nicht darum, eine ganze Tradition abendländischer Philosophie über die Seele, das Bewusstsein, das Sein des Menschen auszuradieren, es geht ihm nicht darum, die Philosophie zu eliminieren 366 367 368

Helmholtz 1883: II 870. Vgl. hierzu auch Holl 2002: 190-192. Helmholtz 1883: II 880.

KORPSIFIZIERUNG ſ 289

oder auch nur darum, philosophische Reflexionen zum Begriff der Seele zu annullieren oder zu unterbinden. Es ist für ihn nur an der Zeit, an der von den Medien gestellten Zeit, die philosophischen Studien zur Seele durch einen neurophysiologisch fundierten Seelenbegriff zu supplementieren, der Seelen und Bewusstseinsfragen strikt als eine Angelegenheit der Nerven und ihrer Organisation definiert. Helmholtz will also in Sachen Seelenfragen nicht mit der Philosophie konkurrieren, die er im Gegenteil als eine klar abgegrenzte Disziplin der Geisteswissenschaft respektiert, wohl aber mit der Psychologie. Denn die Psychologie ist, so die Quintessenz von Helmholtz’ am 27. Februar 1855 in Königsberg gehaltenen Vortrag Über das Sehen des Menschen in memoriam Kants, in der Erforschung der Wahrnehmung, des Bewusstseins und des Unbewussten, die doch eigentlich in ihren Zugangsbereich fällt, auf bittere Weise gescheitert, indem sie über die Methode der Introspektion nicht hinausgekommen ist. Nichtsdestoweniger verhält sich Helmholtz auch der Philosophie gegenüber – und hierin manifestiert sich eine klare Parallele zu Freuds Diskurs369 – reserviert, seine Haltung ist gespalten, wenn nicht stellenweise ambivalent. Einerseits war Helmholtz ein unentwegter und eingeweihter Kant-Leser, zumindest in naturwissenschaftlichen Kreisen galt er als einer der ersten und führenden Neukantianisten. Seine anlässlich der Stiftungsfeier der Berliner Universität gehaltene Rektoratsrede Die Tatsachen in der Wahrnehmung, von Moritz Schlick „als die gehaltvollste von Helmholtz’ erkenntnistheoretischen Arbeiten“ gelobt370, verstärkte zugleich das Ressentiment derjenigen Wissenschaftler und Philosophen, die den Neukantianismus peremptorisch ablehnten, so zum Beispiel Brentano und Husserl, Helmholtz’ großer Antipode. Um Helmholtz’ neukantianische Position sowie die gegenläufige Ausrichtung auch der Freud-Lacan’schen Psychoanalyse noch für einen Moment zurückzustellen, Helmholtz distanzierte und zum Teil gespaltene Einstellung der Philosophie gegenüber hatte nicht zuletzt ihren Grund in seiner diskursiven Position des Naturwissenschaftlers zur Zeit der auf Apparaturen basierenden experimentalwissenschaftlichen Epoche. Helmholtz sagt: „Wir müssen doch das Instrument untersuchen, mit dem wir arbeiten!“ Wenn auch nicht auf der Höhe (oder in den Tiefen) einer Theorie des medialen Realen oder des Ge-stells, des mediatisierten Seins, so stellt Helmholtz die Beteiligung des messenden Instuments an der jeweiligen Beobachtung doch in Rechnung. An genau diesem Punkt, an diesem Punkt des Wissens um die Eigendynamik der Apparatur, kann die philosophische Reflexion nicht mehr mitgehen, muss sie dispensiert werden.

369

370

Vgl. z.B. Freud 1999: XIII 239: „Den meisten philosophisch Gebildeten ist die Idee eines Psychischen, das nicht auch bewußt ist, so unfaßbar, daß sie ihnen absurd und durch bloße Logik abweisbar erscheint. Ich glaube, dies kommt nur daher, daß sie die betreffenden Phänomene der Hypnose und des Traumes, welche – vom Pathologischen ganz abgesehen – zu solcher Auffassung zwingen, nie studiert haben. Ihre Bewußtseinspsychologie ist aber auch unfähig, die Probleme des Traumes und der Hypnose zu lösen.“ Schlick 1921: 197.

290 ſ DISKRETE GESPENSTER „Helmholtz weiß um die Eigengesetzlichkeit der Messgeräte: Denn die Erscheinung wird sich in ihrer Existenz den Aprioris der Instrumente, seien es die Messapparaturen oder die die Daten formalisierenden mathematischen Funktionsgleichungen, zu fügen haben. [...] wird sich Helmholtz mehr und mehr der Medienabhängigkeit und damit Hypothetizität bewusst, die jeder Form der Erkenntnis eignet. Die Philosophie könne hier, so Helmholtz, keine Hilfe mehr sein, da sie sich stets im Medium der Worte bewege, wohingegen die empirische Forschung einer anderen Sphäre angehöre.“371

Helmholtz’ neukantianisch modellierte Erkenntnistheorie – in die sich zugleich evolutionistische und Poincaré’sche Gedanken vorwegnehmende Aspekte einmengen – schlägt sich sowohl in seinen physiologischen wie auch in seinen mathematischen Untersuchungen nieder. So entwickelt er in dem Königsberger Vortrag Über das Sehen des Menschen die Theorie der sogenannten unbewussten Schlüsse. Er exemplifiziert anhand des Phänomens von Scheinfarben und Scheinbewegungen, dass eine Modifikation in der Deutung der Sinneswahrnehmungen eintreten kann, die sich dem Bewusstsein nicht mitteilt. Er konfrontiert sich also einer Frage, die weder mithilfe der Bewusstseinsphilosophie noch der auf Introspektion reduzierten Psychologie gelöst werden kann, der Frage nach der Konvergenz von

371

Tyradellis 2006: 36.

KORPSIFIZIERUNG ſ 291

Welt und Wahrnehmung – eine Frage, die Kant in den Grenzen der Philosophie durch die Funktion der apriorischen Synthesis, die jeder Erfahrungswelt a posteriori begründend vorweg geht, gelöst hat.372 Als experi372

Dieser sich so kurz und leichtfertig präsentierende Verweis auf die Kant’sche Lösung betrifft dennoch eine große und schwerwiegende Frage, die an dieser Stelle rekapituliert werden soll. Es handelt sich nicht zuletzt um die Frage, um die die gesamte Kritik der reinen Vernunft gravitiert, eine große und schwerwiegende Frage, die Kant selbst jedoch mit göttlich-vernunftgewirkter Leichtfertigkeit löst. Wissenschaft ist nach Kant ein Bereich empirischer Erfahrung, dessen Erkenntnis- und Erfahrungsmechanismen durch die Verstandestätigkeiten apriori (die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit sowie die in den Kategorien enthaltenen Urteils- und Synthesepraktiken) formatiert wird. Das Apriori des Verstandes formatiert das, was die Naturwissenschaft als Natur erkennt und exploriert. Dieses Destillat der in der Kritik formulierten Theorie impliziert jedoch – und darum, nicht um bereits fixierte Wahrheiten, geht es Kant – eine Frage, nämlich die Frage nach der Konvergenz von Apriori und Aposteriori, Wahrnehmungs- bzw. Verstandesleistung und Welt. Kant dekliniert diese Frage – und ihre stets gleich mitgelieferte Antwort – im Verlauf der gesamten Kritik, von der mathematischen Logik, über die Naturwissenschaft bis hin zur Philosophie, wo jene kulminiert in der Frage, ob eine Metaphysik als Wissenschaft möglich sei, ob also die Korrelation von Apriori und Aposteriori wissenschaftlich beweisbar ist. Dieser Punkt wird bei dem Philosophen Kant – im Unterschied zu dem Naturwissenschaftler Helmholtz – negativ beantwortet. Die Zentralfrage der Kritik – die nach der Verbindung der raumzeitlichen Anschauungsformen mit den Kategorien oder Urteilsformen zu den reinen Begriffen (aus der dann die Verbindung der durch die raumzeitlichen Aprioris arrangierten Anschauungen mit den Kategorien zu den empirischen Begriffen folgt) – wird zum ersten Mal in der transzendentale Logik artikuliert: Wie kommt es zur Bildung von Begriffen und, mehr noch, zur allgemeinen Konvergenz von Begriff und Gegenstand? Wie ist es möglich, dass die Kategorien, die Urteilsformen, die im Bereich des Apriori, also vor aller Erfahrung im Verstand verortet werden müssen, sich auf Gegenstände der Erfahrung beziehen können? Allgemeiner: wie ist es möglich, mit apriorischen Formen (reine Anschauung und reiner Begriff), Gegenstände zu erkennen? Wie ist es möglich, dass das Kausalitätsprinzip ein reines Verstandesprinzip ist und dennoch in der Welt a posteriori allgemeine Gültigkeit reklamieren kann? Die Antwort wird von Kant in der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe gegeben, wie gesagt höchst leichtfertig und unbefangen. Es kann überhaupt nicht anders funktionieren, wenn man davon ausgeht, dass es einen radikalen Unterschied gibt zwischen der noumenalen und der vermeintlich objektiven Welt, die eher als objektiv eine durch den Verstand für die Wahrnehmung allererst akkommodierte, zugerichtete Welt ist. Wahrnehmung oder Erfahrung existieren nicht an sich, sondern vielmehr gehen ihnen bestimmte apriorische, im Verstand ablaufende Prozeduren voraus, in denen das Wahrnehmungsmaterial so moduliert wird, dass es wahrgenommen werden kann. Alle Erfahrung kommt dadurch überhaupt erst zustande, dass der Verstand in die von der Sinnlichkeit gelieferten Daten seine Denkformen (Raum, Zeit, Kategorien) eingraviert. Wenn das so ist, wenn der Verstand die Dinge der Wahrnehmungswelt präfiguriert, dann müssen konsequenterweise die Spuren dieser Präfiguration, die Eingravierungen, auch in der empirischen Erfahrung wieder auftauchen; die Entsprechung der Verstandesbegriffe a priori und der Wahrnehmungsgegenstände a posteriori ist also ganz evident. Schließlich kommt es zur modifizierten Wiederholung der Frage der kritischen Vernunft im Übergang des Verstandes zum Zuständigkeitsbereich der Vernunft, und hier lässt sich die Frage nach der Korrelation von Apriori und Aposteriori, Wahrnehmung und Welt – dem Befund der Kritik,

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menteller Physiologe in Kant’schem Fahrwasser verneint Helmholtz diese Lösung nicht, aber er löst sie aus ihren metaphysischen Verankerungen, er transferiert sie in einen neurobiologischen Bereich. Er beantwortet die Frage nach der Konvergenz von Welt und Wahrnehmung, indem er die Funktion der Sinnesorgane dahingehend relativiert, dass jene kein exaktes Abbild der Wirklichkeit produzieren, sondern nur Veränderungen zwischen dem Bewusstsein und der Außenwelt signalisieren. Die für die Genealogie des Freud’schen-und-des-sprachstrukturierten-Unbewussten so folgenreiche Emergenz einer relational fundierten Zeichentheorie wird bereits von Helmholtz in einem physiologischen Register präformiert. Das für das klassische Welt- und Zeichenmodell konstitutive Urbild-Abbild-Modell wird dahingehend revidiert, dass die Bedeutung nicht mehr auf eine stabile und qualitativ fundierte Weise mit einem bestimmten Referenten verkettet ist, sondern sich aus der Registratur relationaler oder, in Helmholtz’ sinnesphysiologischer Notation, quantitativer Veränderungen innerhalb der Signifikanten- bzw. Reizstruktur ergibt.373 Sensorische Reize stehen in einem relativen,

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dass eine wissenschaftliche Begründung der Metaphysik unmöglich ist, entsprechend – nicht mehr logisch abhandeln, was nicht heißt, dass die Antwort weniger leichtfertig ausfällt, im Stil jener Leichtfertigkeit, mit der die Metaphysik ihre wohlwollende, gebieterische Geste ergehen lässt. Die Vernunft, die den Verstand instruiert, auf welche Weise er bei der Inventarisierung der Anschauungen in Begriffe verfahren soll, wird selbst von drei Ideen oder regulativen Prinzipien angeleitet. Die drei Ideen (Seele, Welt, Gott) geben die drei entsprechenden Bahnen vor, auf denen die Erkenntnisse auf ihre ideale Einheit hin systematisiert werden sollen, wobei der Akzent hier auf dem sollen liegt. Die Ideen konstituieren als regulative Prinzipien die Sollwerte, nicht die Istwerte des Systems. Die Kritik beschreibt nicht ein bereits realisiertes System, sondern das Projekt eines solchen Systems, wobei die Ideen als Wegweiser, als Leitsterne fungieren (ein in der praktischen Vernunft in transformierter Form wiederkehrendes Motiv: das du sollst) – die Direktion geht von der unvollkommenen Wirklichkeit zu einer Vollkommenheit, die allerdings Idee (eine in Form von Anweisungen operationale Idee) ist. In der transzendentalen Dialektik zeigt Kant, dass die Ideen denkmöglich sind, und das ist mehr als Behauptung, es wird fortifiziert dadurch, dass sie keine Widersprüche enthalten, dass sie nicht antinomisch sind. Damit aber stellt sich die besagte Frage. Wie lässt sich die Antinomiefreiheit der regulativen Prinzipien beweisen, handelt es sich doch um Bereiche a priori, die vor jeder empirischen Erfahrung liegen, jene erst begründend? Wie lässt sich zeigen, dass innerhalb der Ideen keine Antinomien zu finden sind – erfahrungstechnisch ist es nicht überprüfbar. Kant antwortet ganz leichtfertig und doch mit gottgläubiger Strenge: Es können keine Antinomien innerhalb der Ideen oder vernunftleitenden Prinzipien vorliegen, einfach weil sie sich bei der Aktivierung der Vernunft quasi von selbst ergeben, weil die Aktivitäten der Vernunft sich gemäß den regulativen Ideen realisieren – gemäß und zugleich im Hinblick auf, sofern das System linientreu metaphysisch von seinem Ende, seinem gottgesicherten Ende her gedacht wird. Ein Ende, eine Metaphysik, eine gottesgläubige Ataraxie, die sich zu Zeiten von tetanisierten Froschmuskeln und 26,4 Metern Nervenlaufzeit pro Sekunde in eine experimentiersüchtige Nervösität verwandelt hatte. Vgl. Kant 1787; Störig 1988: 391405 und Deuber-Mankowsky 2007. Helmholtz’ Vorbereitung der für den Diskurs des modernen Strukturalismus bestimmenden Relationalität manifestiert sich auch in seiner Theorie der Zahlen bzw. des Zählens. Auch hier von Kant ausgehend räumt er dem Prozess des Zählens, also der Serialisierung der Zahlen, ein Primat vor den Zahlen als solchen, den Zahlen als fürsichseienden Entitäten ein. „Das Zählen ist ein

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quantitativen Bezug zur Außenwelt, sie verweisen nicht mehr direkt auf den Referenten, vielmehr erfolgen Sinnbildungsprozesse aufgrund von Wahrnehmung von quantitativen Differenzen der aus dem Außenmedium eintreffenden Signale. Dabei räumt Helmholtz ein, dass zwar unterschiedliche Sinnesorgane und Nervenfasern für optische und akustische Signale existieren, dennoch können die einzelnen Nervenfasern keine qualitativen, sondern nur quantitative (unterschiedliche Erregungsstärken) Reizunterschiede registrieren. Darin resoniert das 5 Jahre vor Helmholtz’ Königsberger Vortrag von dem Neurophysiologen Johannes Müller formulierte Prinzip der undifferenzierten Codierung: Erregungszustände einer Nervenzelle codieren nur die Erregungsintensität, nicht aber die natürliche Qualität der Erregungsursache. Bei Kant wird der Hiatus zwischen dem Ding an sich und dem Erfahrungsgegenstand gezähmt und absolviert durch die dazwischen liegenden apriorischen Syntheseleistungen der Vernunft. Diese wird bei Helmholtz säkularisiert zu einer messbaren und das heißt positiv objektivierbaren Wahrnehmung von Bewegung und Transformation von Bewegungsvorgängen. Das Ding an sich, bei Helmholtz ungeachtet des Ab-ortes der reinen Vernunft (wie Heidegger es darlegen würde) vereinfacht zur Außenwelt, ist dem Bewusstsein nur zugänglich, sofern es die aus dieser Außenwelt kommenden Signale, die keine substantiellen, sondern lediglich quantitative Repräsentationen der Welt darstellen, notiert und umsetzt – so sieht die Konversion des noumenalen Dings an sich durch raumzeitliche Strukturierung und Urteilssynthese im Helmholtz’schen Zeitalter aus. Allein die apriorische und bei Helmholtz unaufhörliche Tätigkeit der Erfahrung von Bewegung bzw. Reiz und Veränderung der Reizintensität ist die Bedingung der Möglichkeit einer Erkenntnis a posteriori, also einer solchen, die auf Gegenstände des Bewusstseins bezogen ist. Das System der Sinnesverarbeitung steht in keinem direkten mimetischen Bezug zur Welt, es ist nicht länger formatiert durch das klassische Modell der Repräsentation, sondern versteht nur seine eigene, durch relationale und quantitative Erregungsgrößen gebildete Sprache. „Mein wesentlichstes Ergebnis war, daß die Sinnesempfindungen nur Zeichen für die Beschaffenheit der Außenwelt sind, deren Deutung nur durch Erfahrung gelernt werden muß.“374 Das Kant’sche Begriffspaar a priori und a posteriori muss hinsichtlich der Helmholtz’schen Theorie natürlich kursiviert werden. Bei allem Einfluss, den Kant’sche Formkreise auf Helmholtz’ Theorie ausüben, so ist das Apriori bei ihm, wie bereits ausgeführt, nicht mehr in einer transzendentalen Sphäre lokalisiert, sondern operiert als eine fortlaufende Erfahrung und Restitution von Erfahrung in einem sinnesphysiologischen oder

374

Verfahren, welches darauf beruht, daß wir uns imstande finden, die Reihenfolge, in der Bewußtseinsakte zeitlich nacheinander eingetreten sind, im Gedächtnis zu behalten.“ Die Zahlbegriffe, die beim Zählen Verwendung finden (eins, zwei, drei usf.), sind arbiträr, ihre jeweilige Bedeutung konstituiert sich allein aufgrund ihrer Stellung in der Zahlenreihe, das heißt in ihrem relationalen Bezug zu den voraufgehenden und folgenden Elementen (Saussures Definition des Syntagmas entsprechend). Anders und im Kant’schen Duktus formuliert: die Bedeutung einer Zahl ergibt sich aus ihrer Einordnung in die Zeifolge – „die unausweichliche Form unserer inneren Anschauung“ –, und dies erstreckt sich bis hin in die höchsten Zahlbegriffe. Kurz: Helmholtz assertiert eine relational fundierte Ordinalzahlentheorie. Vgl. Helmholtz 1887: 99-129. Helmholtz 1891: 29.

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motorischen Bereich, der jedoch insofern „apriorisch“ und nicht länger „aposteriorisch“ ist, als er sich der bewussten Wahrnehmung entzieht. Hierin zeigt sich, wenn auch die fundamentaleren Unterschiede nicht übersehen werden dürfen, dennoch eine Analogie zu Freuds Unbewusstem, zum unbewussten Gedächtnis als einer in der Wiederholung seienden und sich in der Wiederholung fortlaufend transformierenden Signifikantenkette.375 Im Kontrast zu Freud sucht Helmholtz in dieser unbewussten Operation jedoch keine Botschaft, keine Frage nach der unmöglich erinnerbaren UrSache, sondern vielmehr affirmiert er in ihr einen andauernden Prozess der Entwicklung, des Lernens, oder besser und pointierter noch: des Experiments. Von einer forschen Wissbegierde angetrieben, die Kants der Vollendung entgegenstrebende Vernunft in einen experimentalwissenschaftlichpositivistischen Raum verlegt, scheint Helmholtz so die Frage nach dem eigentümlichen Wissen, das das Unbewusste ist, zu verdecken, statt sie zu beantworten, das heißt: statt eine Wiederholung, eine gute Wiederholung der Frage zu machen. Im Gegensatz zu Freud läuft das unwidersprüchlich physiologisch definierte Subjekt bei Helmholtz nicht Gefahr, sich in infiniten Umschlüsselungen und Entstellungen in der Frage nach seinem Sein zu verlieren, sondern ist, gesund, athletisch, eudämonisch, auf eine Erweiterung seines Erfahrungsbestands und eine Aktivierung seines Lernvermögens hin motiviert. Helmholtz, der anders als Freud fortschrittsgläubig und nicht pyrrhonisch, der preussisch und nicht acherontisch war, projektiert eine experimentelle Physiologie, die keine Seinsfragen stellt, sondern umgekehrt das Sein, das ganze Leben, als ein Experiment betrachtet: „Erfahrung wird mit jeder Bewegung provoziert und gemacht“376. Die Einsätze, die Helmholtz’ neukantianisch-evolutionistisch basierte Experimentalwissenschaft ausmachen, beherrschen in entsprechend modulierter Form auch seine mathematischen Schriften.377 Der Aufsatz Über die Tatsachen, die der Geometrie zugrunde liegen erweist sich einerseits als eine Reverenz an Riemann, der den Beweis der Widerspruchsfreiheit der Geometrie ohne Rekurs auf das fünfte Axiom und damit den rein mathematischen (und nicht ontologischen) Beweis eines nicht-euklidischen Raumes geführt hat.378 Andererseits folgt Helmholtz dem damit von Riemann vollzogenen Bruch zwischen einer auf Anschaulichkeit und klassischer Metaphysik379 beruhenden und einer rein formalen, entontologisierten Mathematik nicht konsequent und widerspruchslos.380 Er konstatiert nämlich, dass durch die nichteuklidischen Geometrien „Kants Ansicht vom Raume, als transzendentale Anschauungsform, nicht aufgehoben wird“381. Damit will Helmholtz die Riemann’sche Herleitung nicht-euklidischer Räume keineswegs dementieren, im Gegenteil betont er Riemanns Verdienste für die Geometrie, aber er will diese Räume auf eine bestimmte Existenz, auf eine noch immer indirekt durch die Anschaulichkeit begründete Referenz behaften. Die Unanschaulichkeit der nicht-euklidischen Geometrie lässt sich nach Helmholtz im 375 376 377 378 379 380 381

Vgl. Kap. 9.2 und 9.3. Holl 2002: 183. Zu Helmholtz’ im philosophischen Kontext situierten Überlegungen zur Mathematik vgl. Tyradellis 2006: 31-70. Vgl. Helmholtz 1886: 59-78. Vgl. Meschkowski 1983: 58ff. Vgl. hierzu auch Volkert 1986 und Mehrtens 1990: 26-105. Helmholtz 1886: 66.

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Unterschied zu Riemann nicht auf den rein formalen, axiomatischen Charakter dieser Räume rekurrieren, sondern geht ursächlich auf ein noch defizientes Erkenntnisvermögen zurück, auf eine Wahrnehmungs- oder Bewusstseinsleistung, die sich den nicht-euklidischen Räumen noch nicht akkommodiert hat. Aus der Existenz der Subjekte in den in der bisher bekannten Natur oder Welt gegebenen Räumen hat sich noch nicht die Notwendigkeit ergeben, sich in nicht-euklidischen Dimensionen zu akklimatisieren. „Wenn die nicht-euklidische Geometrie unanschaulich ist, dann liegt das nach Helmholtz lediglich daran, dass die Menschen auf der Erde nicht mit einer solchen divergierenden geometrischen Räumlichkeit konfrontiert werden und ihr Anschauungsvermögen nur aufgrund der spezifischen Erfahrungswerte der euklidischen Geometrie entspricht.“382 Helmholtz relativiert eine ontologische Frage zu einem erkenntnistheoretisch-evolutionistischen Problem, um so zu dem Resultat zu kommen, dass das menschliche Bewusstsein durch Lernexperimente in anderen Welten durchaus auf eine Wahrnehmung nicht-euklidischer Räume hin trainiert werden könne. Nicht-euklidische Räume sind also nicht, wie Heidegger sich ausdrücken würde, wesenhaft unanschaulich, ihre von Riemann konstatierte Unanschaulichkeit ist nach Helmholtz kein Zug ihres Seins, ihrer Dassheit, sondern ein Aspekt ihrer Washeit, also ihrer terrestrischen Fremdheit, ihrer quasi-außerirdischen Verfasstheit. Und Helmholtz hält diesen Diskurs des Außerirdischen durch, wenn er über Wesen spekuliert, die sich tatsächlich in nicht-euklidischen Räumen aufhalten, und die sich so – konsequent erkenntnistheoretisch-evolutionär gedacht – in diesen Räumen emanzipieren, dass ihre Wahrnehmung diese in aller Anschaulichkeit aufzunehmen vermag. Er illustriert dies indirekt über die Konstruktion mit Bewusstsein ausgestatteter Flächenwesen, die, reduziert auf eine zweidimensionale Wahrnehmung, unfähig sind, sich die für dreidimensionale Körper bestimmende Höhe und Tiefe anschaulich vorzustellen. So wie die Wahrnehmungsleistungen dieser Flächenwesen durch experimentelle Erfahrungsprozesse auf Anschauungen in der Dreidimensionalität hin exandierbar ist, so sei prinzipiell eine Entwicklung und Amplifizierung des Anschauungsvermögens hinsichtlich nichteuklidischer Räume für menschliche Wesen denkbar.383 Schon in seinem Text Die Tatsachen in der Wahrnehmung hatte Helmholtz darauf verwiesen, dass er seine Forschungen auf die Kant’sche Philosophie gründe, dass er jedoch andererseits in den technischen und naturwissenschaftlichen Stand versetzt sei, die Begrenztheiten der Kant’schen Philosophie, die vor einer wissenschaftlichen Letztbegründung der Vernunfttätigkeit zurückgewichen ist, zu überwinden.384 Kant sei in seinem Denken durch den damaligen Entwicklungsstand der Mathematik und Sinnesphysiologie beschränkt gewesen, nun aber sei er, Helmholtz, in der Lage, die Kant’sche Erkenntnistheorie zu renovieren und sie dem neuesten mathematischen wie sinnesphysiologischen Wissen anzupassen. Die Zeit sei gekommen, in der Räume jenseits der euklidischen Geometrie und Reiche, die bisher jenseits der Grenze des Apriori verborgen waren, durch Übung und Experiment (wodurch sich die innere durch die äußere Wahrnehmung verändern lässt) in die Anschaulichkeit überführt werden könnten. Er fasst seine modifizierte, Kant er382 383 384

Tyradellis 2006: 42. Vgl. Helmholtz 1886. Vgl. Helmholtz 1878: 147-195.

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neuernde Theorie der Anschauung der oben erläuterten Zeichentheorie zufolge zusammen: „Ich verlange für den Beweis der Anschaubarkeit nur, daß für jede Beobachtungsweise [des Raumes, Anm. d. Verf.] bestimmt und unzweideutig die entstehenden Sinneseindrücke anzugeben seien, nötigenfalls unter Benutzung der wissenschaftlichen Kenntnisse ihrer Gesetze, aus denen, wenigstens für den Kenner dieser Gesetze, hervorgehen würde, daß das betreffende Ding oder anzuschauende Verhältnis tatsächlich vorhanden sei. Die Aufgabe, sich die Raumverhältnisse in metamathematischen Räumen vorzustellen, erfordert in der Tat einige Übung im Verständnis analytischer Methoden, perspektivischer Konstruktionen und optischer Erscheinungen. Dies aber widerspricht dem älteren Begriff der Anschauung, welcher nur das als durch Anschauung gegeben anerkennt, dessen Vorstellung ohne Besinnen und Mühe sogleich mit dem sinnlichen Eindruck zum Bewußtsein kommt. [...] Wenn diese Art von Evidenz also eine ursprünglich gegebene, notwendige Eigentümlichkeit aller Anschauung wäre, so könnten wir bis jetzt die Anschaubarkeit solcher Räume nicht behaupten.“385

Dagegen hat Freud den Abschied von der Anschaulichkeit und Referenz radikaler genommen, und dies betrifft nicht nur die symbolisierende und formalisierende Achse des Freud’schen, im Widerstreit zwischen Materialismus und Symbolismus verfangenen Denkens. Freud hat das materialistische Dekret sehr wohl vernommen, und er hat es angenommen, er hat sich, wie gezeigt, an seinem Anderen Arbeitsplatz, dem Laboratorium, sehr ernsthaft auf eine neurophysiologische Spurensuche begeben. Und ist dennoch und sehr zu seiner fragenden Beunruhigung – keine evolutionäre Zuversicht, nur anwachsende Gefühle von Unbehagen – nicht zum Sieg einer Versicherung, einer klaren und endgültigen Antwort vorgestoßen. Freud ist stets, sei es im Laboratorium, sei es im Sprechzimmer, immer wieder nur auf den Anderen Schauplatz zurückgeworfen, immer nur wieder einer Ur-Sache konfrontiert worden. Der lichtvolle Moment einer abschlussreichen Erkenntnis, den Helmholtz schon aufgrund der Methode, nach der er verfuhr, für sich reserviert hatte, hat sich ihm am Ende stets entzogen. So geriet er nie in die positivistische Versuchung, „das Gerüste [...] für den Bau zu halten“, so blieb die „psychische Lokalität“ für ihn stets nur eine „Idee“, ein „Modell“, ein funktionales Instrument, so formal wie die nicht-euklidischen Konstrukte Riemanns, das allein einer dialektischen Näherung des Unanschaulichen diente, einer Unanschaulichkeit, die durch keine noch so hochentwickelte Gymnastik der Wahrnehmung jemals die Grenze zu Anschaulichkeit und Referenz überwinden würde.386 Dieses Delta, diese Gabelung, die damit verbundenen unterschiedlichen Befindlichkeiten Freuds und Helmholtz’, lassen sich, es sei noch einmal wiederholt, nicht einsinnig durch eine Teilung der Arbeitsplätze erklären. Beide arbeiteten im Labor, beide waren integriert in ein materialistischexperimentalwissenschaftliches Dispositiv. Der Grund für die Diskordanz zwischen Helmholtz’ akademisch gefestigten und Freuds die Wege eröffnenden Antworten liegt vielmehr in der gegensätzlichen Fragestellung, in den antagonistischen Motiven, die ihr Denken jeweils anleiteten. Helmholtz’ er385 386

Helmholtz 1878: 181f. Freud 1999: II/III 541.

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kenntnistheoretisch-entwicklungsgeschichtliches Fundament ermöglichte es ihm, die ontologische Frage, die Freud verfolgte, die Frage nach der Dassheit des Unbewussten, nach dem medialen Realen, zu evadieren, sie abzulenken in einen epistemologischen Bereich, der die Anschaulichkeit und Referenzierbarkeit Anderer Welten zumindest als Möglichkeit wieder rehabilitierte. Aus demselben Grund, aus dem er die Bilanz der Riemann’schen Trennung verkennt, verfehlt er auch die Konstitution der spezifisch Freud’schen „psychischen Lokalität“387, die sich als reine Dassheit auch nach einer langen Serie von Anläufen zur experimentellen Verifizierung (die Freud immerhin unternommen hat) unmöglich auf eine Washeit, ein imaginäres wissenschaftliches Erfahrungsobjekt reduzieren lässt. Diese Gegensätzlichkeit zwischen Freuds und Helmholtz’ Ansätzen sowie Ergebnissen im Blick auf eine Wissenschaft vom Unbewussten lässt sich auch mit einem Exkurs in Helmholtz’ Handbuch der physiologischen Optik388, in dem er das Phänomen der Farbenkonstanz beschreibt, exemplifizieren.389 Dieses Phänomen besagt, dass eine Farbe, auch wenn sie physikalisch betrachtet unterschiedliche Abschattungen aufweist, stets als gleichmäßig wahrgenommen wird. Helmholtz folgert daraus, dass diese Leistung des Bewusstseins auf die unbewusste Wahrnehmung einer Unterscheidung zwischen der Oberfläche des Farbkörpers und dessen jeweiliger Beleuchtung zurückgeht. Dieses im Phänomen der Farbenkonstanz beschriebene Vermögen ist jedoch das Resultat eines sich anhand von konkreten Situationen oder Experimenten des Lebens vollziehenden Lernprozesses. Im Laufe der Zeit lernt die Wahrnehmung, dass gleiche Gegenstände je nach Beleuchtung farblich verschieden aussehen. In diesem Prozess bildet das Bewusstsein eine Vorstellung aus, in der die Beleuchtung eines Gegenstandes durch weißes (Sonnen-) Licht als Normalfall angesehen wird: die Körperfarbe. Nur wenn ein Gegenstand von diesem Normalfall abweicht, beginnt das Bewusstsein, nach Gründen dieser Devianz zu suchen, die entweder auf der Oberflächenbeschaffenheit eines Gegenstandes (zum Beispiel der Krümmung im Falle einer Kugel) oder der Beleuchtung beruhen können.390 Gerade in diesem letzteren Beispiel der Farbenkonstanz verschlüsselt sich jedoch in symptomatischer Form, dass Helmholtz das klassische Zeichenmodell der Repräsentation nicht vollständig und endgültig zugunsten eines rein differentiellen Prozesses, so wie das Freud’sche-und-das-sprachstrukturierte-Unbewusste ihn korpsifiziert, suspendiert hat. Damit, das heißt als Symptom einer Unzeitgemäßheit steht Helmholtz in Analogie zu Saussure, dessen Fall im Kapitel 8 einer ausführlichen Untersuchung unterzogen wird. Einerseits prononciert Helmholtz, was das Verhältnis von Wahrnehmung und Welt betrifft, zwar die Disparität von äußerem Referenten und dessen „Repräsentation“ durch differenzierende Bewusstseinsleistungen und überwindet damit das für die klassische Repräsentation gültige Zeichenmodell, andererseits jedoch arbeitet er mit einer „Konstanzannahme“: Er geht davon aus, dass gleiche Zeichen stets mit gleichen Empfindungen korrelieren. Auch wenn die den jeweiligen Zeichen entsprechenden Sinnes- oder Bewegungswahrnehmungen quantitativ und relational funktionieren, auch 387 388 389 390

Freud 1999: II/III 541. Helmholtz 1867. Ausführlich vgl. Tyradellis 2006: 31-70. Vgl. Helmholtz 1867: §§ 9, 20 u. 30.

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wenn das Junktim auf einen „Isomorphismus zwischen den gesetzlichen Ordnungen beider Welten“391 beschränkt wird, so radikalisiert er das Prinzip der Differentialität, der diskreten Relationalität, doch nicht in dem Maße, wie das Freud’sche-und-das-sprachstrukturierte-Unbewusste es impliziert.392 Man könnte hier entgegenhalten, dass Freuds Verschiebungen von Triebrepräsentanzen, sofern letztere einem quantitativen Prinzip der Verschiebung neuronaler Besetzungen folgen, hier herausfallen. Jedoch funktioniert Freuds psychischer Apparat, vom frühen neurophysiologisch determinierten Entwurf einer Psychologie an, im Gegensatz zu Helmholtz’ Konstanzannahme konsequent a-repräsentativ. Das Reale, oder, mit Freud: die psychische Realität divergiert als das Unverfügbare und Undarstellbare schlechthin von allen Anschauungen und Welten, die Helmholtz noch immer supponiert. Wie oben bereits erwähnt, konjugiert Helmholtz seine neukantianische Erkenntnistheorie mit einem von Poincaré geprägten, evolutionär-empirischen Gedankenkreis – damit radikalkonstruktivistische Ansätze wie die des Neurophysiologen Gerhard Roth393 antizipierend –, und gerade hierin liegt auch die entscheidende Voraussetzung für eine Verlagerung der Kant’schen Transzendentalphilosophie in den Horizont einer positivistisch verfahrenden Experimentalphysiolgie. Dies dokumentiert sich im genannten Vortrag Über das Sehen des Menschen, wenn Helmholtz eine Korrelation von Sinneswahrnehmung und Körperbewegung fordert, damit die von den Sinnesorganen rezipierten Reize überhaupt als sinnliche datisiert werden können. Appliziert auf das Sehen lautet die Erklärung:

391 392

393

Helmholtz 1867: § 30. Vgl. hierzu Tyradellis 2006: 48: „Die Widersprüche Helmholtz’ lassen sich nicht darauf zurückführen, dass er fälschlich den emphatischen Wahrheitsbegriff der Philosophie zugunsten der immer nur hypothetischen naturwissenschaftlichen Wahrheit aufgibt oder die Anschauung zu einer veränderlichen Größe erklärt. Sie resultieren vielmehr daraus, dass er die Hypothetizität nicht konsequent genug vertritt und die Anschaulichkeit nicht völlig verabschiedet.“ Der im Diskurs des radikalen Konstruktivismus situierte Neurophysiologe und Philosoph Gerhard Roth verweist auf die Selbstreferenzialität des Gehirns. Das Gehirn stellt nach Roth ein funktional geschlossenes System dar, das in keinem direkten kommunikativen Austausch mit der äußeren Umwelt steht. Es versteht nur seine eigene Sprache, operiert nur mit seinen eigenen Zuständen und ist nur indirekt vermittels bereichsspezifizierter Sinnesrezeptoren mit dem Außenmedium vernetzt. Diese Rezeptoren erfahren, sobald sie durch Umwelteinflüsse innerviert werden, eine elektrische Veränderung und transkribieren so Ereignisse, die dem Gehirn als einem geschlossenen System nicht zugänglich sind, in dessen Sprache. Im Zuge dieser Übersetzung wird jedoch das „Original“, das heißt der auslösende Reiz vergessen. Aus diesem Blickwinkel kann Roth die Sprache des Gehirns als bedeutungsneutral profilieren bzw. auf eine Koinzidenz von signalverarbeitenden und bedeutungserzeugenden Prozessen verweisen. Es gibt keine direkte, isomorphe, wohl aber eine gehirnimmanente Repräsentation von Welt. Desweiteren postuliert Roth in bezug auf das Nervensystem, dass es sich, sofern es komplexe Wahrnehmungen und Verhaltenssteuerungen leistet, um ein zirkulär organisiertes und selbst-evaluierendes System handeln muss. Es ist in der Lage, Zustände rekursiv abzubilden, zu multiplizieren und Hierarchien kognitiver Welt zu produzieren. Vgl. Schmidt 1992a: 14-17; Roth 1985; Roth 1986 und Roth 1992.

KORPSIFIZIERUNG ſ 299 „Die Uebereinstimmung zwischen den Gesichtswahrnehmungen und der Außenwelt beruht also ganz oder wenigstens der Hauptsache nach auf demselben Grunde, auf dem alle unsere Kenntnisse der wirklichen Welt beruht, nämlich auf der Erfahrung und der fortdauernden Prüfung ihrer Richtigkeit mittels des Experiments, wie wir es bei jeder Bewegung unseres Körpers vollziehen.“394

Einerseits nimmt Helmholtz Bezug auf den Diskurs einer empiristischen Entwicklungstheorie, um die Kant’sche Transzendentalphilosophie mit seiner sinnesphysiolgischen Wahrnehmungstheorie zu verkoppeln, mehr noch, um Kant sinnesphysiologisch zu modernisieren und das heißt zu ent-transzendentalisieren. Auf der anderen Seite schützt er sich vor den letzten Konsequenzen einer solchen evolutionären Erkenntnistheorie, nämlich einem Relativismus, der die von ihm sinnesphysiologisch geltend gemachte Konvergenz von Wahrnehmung und Welt empfindlich bedrohen würde, indem er das Kant’sche Gesetz der Kausalität dagegen geltend macht. „Im Nachweis der uneingeschränkten Gültigkeit des Kausalitäts-Gesetzes sieht Helmholtz eine Möglichkeit, dem Relativismus einer, wie man heute sagen würde, Evolutionären Erkenntnistheorie zu entgehen.“395 So wie Helmholtz den Übergang zur rein diskreten Differentialität der Signifikanten, in denen das Freud’sche-und-das-sprachstrukturierte Unbewusste prozessiert, nicht radikal zuende denkt und stattdessen der Unterstellung eines Signifikats bzw. der Anschauung verhaftet bleibt, so sichert er auch die Akkordanz von Wahrnehmung und Welt, indem er sich des Kant’schen Kausalitätsbegriffs als eines Junktims bedient. Anders und konzise formuliert: Helmholtz’ Theorie verweigert sich im Unterschied zur Freud’schen Psychoanalyse der Anerkennung der Ur-Sache und kontinuiert stattdessen das alte metaphysische Schwindelgeschäft der Ursache in einem entmetaphysizierten, sinnesphysiologisch ausgerichteten Gedankenkreis. Operierte für Kant die Kausalität wie die Anschauungsformen von Raum und Zeit in einem unhintergehbar apriorischen Bereich, so reklamiert Helmholtz dagegen eine Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes sowohl für die Ereignisse in der Welt, als auch für die diesen korrespondierenden inneren sinnesphysiologischen Wahrnehmungsvorgänge. Die Kausalität garantiert eine Übereinstimmung von Welt und Wahrnehmung, auch wenn diese kein unmittelbares Abbildungsverhältnis mehr darstellt, sondern aufgrund von quantitativer Registratur von Sinnesdatenveränderungen funktioniert und als solche entwicklungsfähig ist. Sofern dieses Registrieren, dieses dauernde und zu immer höher entwickelteren Anschauungen führende Experiment, das für Helmholtz mit dem Leben selbst zusammenfällt, das Bewusstsein unterläuft, ist es apriorisch, sofern es jedoch positiv messbar und inspizierbar ist und sich als unmittelbares Weltgeschehen niederschlägt, handelt es sich um einen empirischen Vorgang. Helmholtz’ Ursache ist eine sich im transzendentalen und im empirischen Bereich simultan aufhaltende Amphibie.396 Und so wie diese

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Helmholtz 1868: 365. Tyradellis 2006: 45. Tyradellis hat darauf verwiesen, dass Helmholtz sich mit dieser Fassung des Kausalitätsprinzips philosophiehistorisch exakt zwischen Kant und Hume lokalisieren lässt. Vgl. Tyradellis 2006: 45: „Während für David Hume der Glaube an das Kausalitätsgesetz auf Assoziation, Erwartung und Gewohnheit beruht, also empirisch erworben ist, hält Immanuel Kant die Kausalität für

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Helmholtz’sche Ursache klar von der Freud’schen Ur-Sache differenziert werden muss, so hat auch Freuds Konzept der Kausalität des Unbewussten mit derjenigen Helmholtz’, von Kant ganz zu schweigen, nichts mehr gemein. Doch zunächst zur Entwicklung der Ursache im Denken Hermann von Helmholtz. Was diese Ursache angeht, so ist es evident, dass – neben der Kausalität Kants – hier die Denkformen und Begriffe einer früheren Helmholtz’schen Konzeption eingehen: die Formulierungen und Prinzipien des Ersten Thermodynamischen Hauptsatzes, den er 1847 in seiner legendären Schrift Über die Erhaltung der Kraft niedergelegt hat. Eine wahrhaft legendäre und präsidiale Abfassung, mit der sich Helmholtz, Robert Julius Mayers Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur in den Schatten verweisend, als Begründer des Satzes von der Erhaltung der Energie nobilitiert. Die Bilanz des Satzes: was auch immer geschieht, wie auch immer die Erscheinungen der Welt sich stofflich umwandeln, unterm Strich bleibt die Kraft oder die Energie dieser Welt erhalten. Denn, und hier waltet die von Helmholtz von der Thermodynamik bis hin zur Sinnesphysiologie gepflegte Ursache, „Kräfte sind Ursachen; mithin findet auf dieselben volle Anwendung der Grundsatz: causa aequat effectum. Ursachen sind (quantitativ) unzerstörliche und (qualitativ) wandelbare Objekte.“397 Neben der Beeinflussung durch die philosophische Lehre Kants hat Helmholtz’ quantitativ-relationale Zeichentheorie hier ihre erste Ursache: Der Erste Thermodynamische Hauptsatzes relativiert alle Gegenstände oder Erscheinungen innerhalb der äußeren Wirklichkeit dahingehend, dass er sie nur als unterschiedliche Materialisationsformen und Transformationsstufen einer universalen Energie betrachtet.398 Die Thermodynamik, das energetische Denken, formiert die letzte naturwissenschaftliche Theorie, die noch ein verifizierbares substantielles Substrat der Dinge, eine universale Substanz, ein sogenanntes Objektives voraussetzt – in den Konfinien, im Finale, vor der Böschung, vor dem endgültigen Verklingen des klassischen Erfahrungsobjekts hat der substanzialistische Gedankenkreis seinen letzten Auftritt. Über diesem letzten Auftritt liegt jedoch bereits eine Atmosphäre von Transformation, ein Aroma von Auflösung, das Aroma, der Duft von Kerosin und Dieselöl, kurzum: Verbrennungsenergie. Im Unterschied zu den klassischen Theorien ist dieses Objektive nicht mehr durch Dinglichkeit, Gegenständlichkeit und Qualität gekennzeichnet, es gibt vielmehr nur noch eine einzige und anti-gegenständliche Substanz: die Energie, den Dampf der Dampfmaschine. Alle vermeintlich qualitativ unterschiedenen Objekte lassen sich liquidieren in die Grundsubstanz der Energie, die keine unterschiedlichen Entitäten, sondern nur quantitative Differenzen – auch wenn diese der bewussten Wahrnehmung als qualitative Unterschiedenheiten erscheinen – ausbildet: Das Grundaxiom der Helmholtz’schen Wahrnehmungs- und Zeichentheorie ist im Energieerhaltungssatz präformiert.

397 398

apriorisch, denn die Erkenntnisse der (mathematischen) Naturwissenschaften setzen eine solche Gesetzmäßigkeit voraus.“ Helmholtz 1882: 12f. Vgl. Serres 1995: 44f.

KORPSIFIZIERUNG ſ 301 „Alles ist von allem eine analoge Repräsentation: nickt nur kinetische und potentielle Energie, nicht nur Arbeit und Wärme, sondern auch kinetische Energie und statische Elektrizität und Wärme, galvanische Ströme und elektrische und chemische Wärme sowie elektromotorische Kraft, thermoelektrische Ströme und Wärme sowie elektromotorische Kraft, Kraftäquivalent von Magnetismus und Elektromagnetismus, elektromotorische Induktionskraft und elektrodynamische Kraft, schließlich noch chemische Vorgänge und Wärmeentwicklung in organischen Wesen. Die Natur ist ein Nullsummenspiel, Gott ein Buchhalter. Alles was irgendwo gewonnen wird, geht anderswo verloren, alles was irgendwo verloren geht, wird anderswo gewonnen. Im Gesamtsystem aller Irgend- und Anderswos geht nichts verloren und wird auch nichts gewonnen.”399

Das Leben, dieses von Helmholtz gegen alle unbewussten Schicksalsmächte, gegen den Freud’schen Fluch des Weder-Erinnern-Noch-Vergessen-Könnens400 zum Experiment erklärte Leben, dieses Leben kennt keine Verluste, keine Unwiederbringlichkeiten, keine Depressionen und Erschöpfungssyndrome. Der Mensch wird gedacht als die organische Entsprechung einer Dampfmaschine, und hierin eben liegt die für die Moral dieses Zeitalters bestimmende Glücksformel: Ein energetisch gut justiertes System – Homöostase, Eutrophie, Stoffwechselgleichgewicht, Traumverwirklichung jeder Innungskrankenkasse – macht den glücklichen Menschen aus. Dampfmaschinen und diätetisch gut versorgte Menschen leben ewig. Der erste Abschnitt des energetischen Denkens war guter Dinge, eine arkadische Geschäftigkeit und große Zuversicht hinsichtlich der Unsterblichlichkeit der Welt. Es war eine Blütezeit, eine große und dennoch abgemessene Heiterkeit zwischen Dynamo und Verbrennungsmotor: „Die Erhaltung und die Abnahme der Energie sind die herrschenden Grundsätze des Tages, und das Objekt der Begierde ist eine glorifizierte Wärmemaschine, die irgendeinen brennbaren Stoff verbraucht anstatt des Glykogens der menschlichen Muskeln.“401 Helmholtz sagt also: Hat Ursache c die Wirkung e, so ist c = e, und ist e wiederum die Ursache einer anderen Wirkung, so ergibt sich der Kreislauf einer niemals versiegenden Energie. C = e = f ... = c – das ist die Garantie der ewigen Zirkulation, das ist die Dampfmaschine, der niemals der Atem ausgeht, das ist der geländegängige Organismus des energetischen Zeitalters, die fröhliche

399 400

401

Siegert 2003: 370f. Vgl. Freud 1999: II/III 583: „Es ist sogar eine hervorragende Besonderheit unbewußter Vorgänge, daß sie unzerstörbar bleiben. Im Unbewußten ist nichts zu Ende zu bringen, ist nichts vergangen oder vergessen. Man bekommt hievon den stärksten Eindruck beim Studium der Neurosen, speziell der Hysterie.“ Vgl. Wiener 1963: 74.

302 ſ DISKRETE GESPENSTER

Kombustion, das ist die Glücksformel eines Säkulums, in dem fleißige Arbeiter durch ihr Tagewerk rotieren, um dann nachts in einen revitalisierenden, traumlosen Schlaf zu fallen.402 C = e = f ... = c ist universal – es beherrscht 402

Die Ethik von Thermodynamik I war die letzte und wirklich die allerletzte Etappe der Metaphysik. Denn das und nichts anderes ist c = e = f ... = c – eine metaphysische Verwendung des Gleichheitszeichens. Unter Berufung auf den Ersten Thermodynamischen Hauptsatz als metaphysische Gleichung Ursache = Kraft = Gesetz ließ sich die Energie als ein ontologisches Prinzip universalisieren, ein ontologisches Prinzip, das, weit über die physikalischen Diskurse hinaus, auch Staat, Wirtschaft, Gesellschaft motorisierte. Vgl. hierzu Siegert 2003: 371f. Eine Motorisierung im wahrsten Sinne des Wortes, denn es war das Ereignis jenes ad infinitum rotierenden Motors, es war die Emergenz der Dampfmaschine, die eine Neuauflage eines alten immer schon machtpolitischen Herrndiskurses, der Repressionspolitik der abendländischen Ontologie, der Beziehung von Herren und Sklaven hervorbrachte. Lacan schreibt: „Die Energie, ich habe Sie das letzte Mal darauf aufmerksam gemacht, ist ein Begriff, der erst von dem Moment an erscheinen kann, wo es Maschinen gibt. Nicht daß die Energie nicht immer schon dagewesen wäre. Bloß, die Leute, die Sklaven hatten, haben niemals bemerkt, daß man Gleichungen aufstellen konnte zwischen dem Preis ihrer Nahrung und dem, was sie in den latifundia taten. Man findet kein Beispiel vom energetischen Kalkül in der Verwendung von Sklaven. Man hat niemals die geringste Gleichung hinsichtlich ihrer Leistung aufgestellt. Cato hat das niemals getan. Man mußte Maschinen haben, um zu bemerken, daß man sie ernähren mußte. Und mehr noch – daß man sie unterhalten mußte.“ (Lacan 1991b: 100) Worin besteht jedoch der eigentlich neue, revolutionäre Aspekt dieser alten Ontologie, inwiefern novelliert die Energetik die Metaphysik? Herren und Sklaven zur Zeit der klassischen Philosophie bzw. der aristotelischen Physik stellten, so sehr sie unterschiedliche Welten bewohnten, vor allem klar unterschiedene Wesen oder Personen dar. Wenn auch die Herren des Altertums sicher nicht in erster Linie an den jeweiligen Persönlichkeiten ihrer Sklaven, an deren individuellen Zügen, interessiert waren, so stand es doch – einfach weil die zugrundeliegende Physik und Wissenschaft jede andere Perspektive ausschloss – außer Frage, dass es sich um eine Reihe als solcher abzählbarer und qualitativ unterscheidbarer Personen handelte. Das zugrundeliegende physikalische Weltbild war der Atomismus, und so sehr sich die jeweiligen Konzepte des Atomismus auch unterschieden, die materielle oder objektive Basis waren Teilchen, Atome oder auch Leibniz’sche Monaden, zwischen denen unterschiedliche Anziehungs- und Abstoßungskräfte herrschten. So wie die klassische Physik eine qualitative Unterscheidung zwischen den einzelnen Atomen machte, so ließen sich die Sklaven, selbst wenn sie eine Vielzahl bildeten, dennoch singularisieren, sie ließen sich in ganzen Zahlen abzählen. Die physikalischen Weltkonstrukte der Thermodynamik sind radikal anders formatiert: Die Korpuskulartheorie wird abgelöst durch eine Materie, die nicht länger aus einzelnen, zumindest theoretisch substantalisierbaren Teilchen besteht, sondern eine gigantische Wolke von Fluida, Strömen und Wellen formiert. Die einzelnen Teilchen sind liquidiert worden in eine universale Kraft oder Wärmeenergie, die nur noch statistisch, aus einer quantifizierbaren Perspektive verifiziert werden können. Die Thermodynamik ist die letzte Etappe des physikalischen Denkens, in der sich das Phantasma einer Materie im Sinne eines objektiv Gegebenen überhaupt hält. Die Welt der Energetik ist nicht länger komponiert nach einer res extensa mit unterschiedlichen Objekten wie z.B. eine Obst- und eine Baumwollplantage und insgesamt 50 pflaumen- und baumwolleerntende Sklaven. Das ändert aber nichts daran, dass sie weiterarbeiten, die Sklaven, und wie, sie fangen erst richtig an zu arbeiten, sie leisten jetzt erst Arbeit im physikalisch-dampfmaschinellen Sinne. Zugleich aber sind sie keine klassischen Sklaven mehr, sondern

KORPSIFIZIERUNG ſ 303

die gesamte Politik und Gesellschaftstheorie des Utilitarismus und der Industrialisierung, es ist das „bürgerliche Grundgefühl vom Recht auf Glück, das kaufmännische, daß Einsatz und Erfolg aufgehen müssen; das menschliche, daß überall Sinn u. Substanz herumliegen muß wie Butter auf einer Semmel“.403 Irgendetwas in dieser Weise – nur dass es nicht wirklich Glück ist, sondern die Unterseite oder die Wahrheit eines solchen Glücks – spiegelt sich in Freuds Lustprinzip vor der Einführung des Todestriebs wider. Ohne den entscheidenden Unterschied zu vergessen, der das-Freud’sche-und-das-sprachstrukturierte-Unbewusste von Helmholtz’ Physik und Physiologie abgrenzt, die sowohl in der Zeichentheorie wie auch in der (diskretisierten) Ontologie zugunsten der Ur-sache eliminierte Ursache, kann doch der Einfluss des energetischen Diskurses auf Freuds Modelle des psychischen Apparats nicht übergangen werden. Dies um so mehr, als jener eine Station in der Genese der Korpsifizierung darstellt, so wie die Thermodynamik selbst im historischen Kontext nicht von der Emergenz der Informationstheorie getrennt werden kann. Freuds frühe Libidotheorie folgt dem Ersten Thermodynamischen Hauptsatz. Er will der energetischen Unifizierung der Welt eine libidinöse Unifizierung des Subjekts zur Seite stellen. Das frühe Lustprinzip erweist sich als das Resultat einer psychoanalytischen Adaption der Physik der Thermodynamik (was dennoch Freuds in völlig andere Gegenden steuernde Ahnungen, die sich im Zuge der Traumtheorie und der Konzeption von Jenseits des Lustprinzips verstärken sollten, nicht unterbunden hat). „Dieses Prinzip ist nicht aus seiner Theorie abgeleitet, es liegt seinem Denken zugrunde, insofern man zu seiner Zeit in diesem Register da denkt. [...] Es ist das Prinzip der Homöostase, das Freud zwingt, alles, was er ableitet, in Termini der Besetzung, der Ladung, der Entladung, der energetischen Relation zwischen den beiden Systemen zu verbuchen. “404 Der Diskurs der Energetik spiegelt sich an zahlreichen Stellen des Freud’schen Werkes wider. So heißt es in der Traumdeutung: „Mittels der Lust- und Unlustwahrnehmung beeinflußt es den Verlauf der Besetzungen innerhalb des sonst unbewußt und durch Quantitätsverschiebungen arbeitenden psychischen Apparats. Es ist wahrscheinlich, daß das Unlustprinzip die Verschiebung der Besetzung zunächst automatisch regelt; aber eine zweite und feinere Regu-

403 404

Arbeiter. Nun werden die Arbeitskräfte der auf Feldern und neuerdings in Fabriken rotierenden Maschinen und Menschen – man machte da keinen Unterschied mehr – nach Gesichtspunkten von Rentabilität kalkuliert. Man begann – dank des Gleichheitszeichens der Energieerhaltungsformel –, Gleichungen aufzustellen zwischen den Lohn-, Betriebs-, Produktionskosten usf. und dem Resultat der Produktion, der erbrachten Leistung der Arbeiter und Maschinen. Die Physik der Thermodynamik wird zum Denkprinzip der Ökonomie. Die Diskursanalyse des Begriffs der Arbeitskraft macht es evident, Arbeitskraft ist sowohl ein physikalischer als auch ein ökonomischer Begriff. Vgl. hierzu auch Vogl 2002: 47ff. Die Sklaven werden entpersonalisiert zu Arbeitskräften über einen überabzählbaren, nicht-differenzierbaren, nur nach statistischen Ergebnissen berechneten Bereichs. Ob Menschen oder Dinge, ob Arbeitskräfte, Dampflokomotiven oder organische Stoffwechsel, ist dabei eine marginale Frage: Alles untersteht der Ontologie des Energieerhaltungssatzes, es sind alles Homöostaten, nicht zuletzt ist das Universum selbst ein großer Homöostat. Benn 1996: 149. Lacan 1991b: 82.

304 ſ DISKRETE GESPENSTER lierung hinzutut, die sich sogar der ersteren widersetzen kann und die Leistungsfähigkeit des Apparats vervollkommnet, indem sie ihn gegen seine ursprüngliche Anlage in den Stand setzt, auch was mit Unlustentbindung verknüpft ist, der Besetzung und Bearbeitung zu unterziehen.“405

In Das Ich und das Es: „Die Empfindungen mit Lustcharakter haben nichts Drängendes an sich, dagegen im höchsten Grad die Unlustempfindungen. Diese drängen auf Veränderung, auf Abfuhr und darum deuten wir die Unlust auf eine Erhöhung, die Lust auf eine Erniedrigung der Energiebesetzung. Nennen wir das, was als Lust und Unlust bewußt wird, ein quantitativ-qualitativ Anderes im seelischen Ablauf.“406

Und in Jenseits des Lustprinzips von 1920 rekapituliert Freud selbst seine frühe, vom Energieerhaltungssatz formatierte Libidotheorie: „Wir haben es als eine der frühesten und wichtigsten Funktionen des seelischen Apparats erkannt, die anlangenden Triebregungen zu binden, den in ihnen herrschenden Primärvorgang durch den Sekundärvorgang zu ersetzen, ihre frei bewegliche Besetzungsenergie in vorwiegend ruhige (tonische) Besetzung umzuwandeln. “407

Um die diskursive Formatierung des psychischen Apparats durch das Register der Energetik noch kontrahierter aufzuzeigen, schon ein Blick auf Freuds Terminologie setzt in dieser Hinsicht Fontänen von Assoziationen frei: Trägheitsprinzip, Erregungssumme, Besetzungsenergie, Selbsterhaltungstriebe, Konstanzprinzip, Abstinenzregel, Libidostauung, freie und gebundene Triebenergien, psychische Verarbeitung, Triebmischung und -entmischung, Tages405 406 407

Freud 1999: II/III 621. Freud 1999: XIII 249. Freud 1999: XIII 67. Vgl. I 74: „Es handelt sich um die Vorstellung, daß an den psychischen Funktionen etwas zu unterscheiden ist (Affektbetrag, Erregungssumme), das alle Eigenschaften einer Quantität hat – wenngleich wir kein Mittel besitzen, dieselbe zu messen – etwas, das der Vergrößerung, der Verminderung, der Verschiebung und der Abfuhr fähig ist und sich über die Gedächtnisspuren der Vorstellungen verbreitet.“; XIII 31: „Es handelt sich um zweierlei Formen der Energieerfüllung, so daß eine freiströmende, nach Abfuhr drängende, und eine ruhende Besetzung der psychischen Systeme (oder ihrer Elemente) zu unterscheiden ist. Vielleicht geben wir der Vermutung Raum, daß die Bindung der in den seelischen Apparat einströmenden Energie in einer Überführung aus dem frei strömenden in den ruhenden Zustand besteht.”; XIII 30: „Wir ziehen den Schluß, daß ein selbst hochbesetztes System imstande ist, neu hinzukommende strömende Energie aufzunehmen, sie in ruhende Besetzung umzuwandeln, also sie psychisch zu binden. Je höher die eigene ruhende Besetzung ist, desto größer wäre auch ihre bindende Kraft; umgekehrt also, je niedriger seine Besetzung ist, desto weniger wird das System für die Aufnahme zuströmender Energie befähigt sein.”; II/III 599: „Ein im Vorbewußten angeregter Gedankengang kann spontan erlöschen oder sich erhalten. Den ersteren Ausgang stellen wir uns so vor, daß seine Energie nach allen von ihm ausgehenden Assoziationsrichtungen diffundiert, die ganze Gedankenkette in einen erregten Zustand versetzt, der für eine Weile anhält, dann aber abklngt, indem die abfuhrbedürftige Erregung sich in ruhende Besetzung umwandelt. “

KORPSIFIZIERUNG ſ 305

rest usf. Diskurs und Prinzip des Ersten Thermodynamischen Hauptsatzes schlagen sich – ohne dass Freud die Libido mit der wenngleich quantifizierten, so doch unfragwürdigen Washeit einer Helmholtz’schen Kraft gleichgesetzt hätte, ohne dass er die causa gedankenlos affirmiert hätte – in der frühen Theorie des Lustprinzips nieder. Das später von Freud im Anschluss an Fechner auch als Konstanzprinzip profilierte Konzept beschreibt das Postulat von der Erhaltung und dem Ausgleich der libidinösen Energie: Die innere Tendenz des Nervensystems strebt dahin, die Erregungsmenge möglichst gering oder zumindest auf einem konstanten Level zu halten. Das Lustprinzip und das Realitätsprinzip konstituieren jene zwei fundamentalen Gesetzmäßigkeiten, die nach Freud in Form einer reziproken Beziehung das Gesamt des psychischen Geschehens determinieren, keines der Prinzipien lässt sich vom anderen isolieren, sie stehen in einem Verhältnis der Interdependenz.408 Lässt sich das Lustprinzip definieren als Gesamtheit der psychischen Aktivität mit dem Ziel der Vermeidung von Unlust und Verschaffung von Lust, so erweist sich das Realitätsprinzip als eine Modifikation des Lustprinzips: Es fungiert als ein Regulationsprinzip zwecks Vermeidung zu großer Spannungszustände durch Aufschub und Transformation libidinöser Energie. Das Streben des Lustprinzips geht, wie der Name es vorgibt, ganz auf eine Gewinnung von Lust, diese aber besteht, und das ist der entscheidende Punkt, in erster Linie aus einer Verhinderung von Unlust. „Die Empfindungen mit Lustcharakter haben nichts Drängendes an sich, dagegen im höchsten Grad die Unlustempfindungen. Diese drängen auf Veränderung, auf Abfuhr und darum deuten wir die Unlust auf eine Erhöhung, die Lust auf eine Erniedrigung der Energiebesetzung.”409 Soweit Unlust stets die Erhöhung von Erregungsquantitäten und Lust deren Verminderung impliziert, handelt es sich bei diesen beiden für die Libido konstitutiven Gesetzen um ökonomische Prinzi-

408

409

Vgl. hierzu Freuds 1911 veröffentlichter Text Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, Freud 1999: VIII 231-238. Freud konzipiert das Lustprinzip erstmalig im frühen Entwurf einer Psychologie von 1895 als Prinzip der Neuronen-Trägheit, welches besagt, dass Neuronen sich der Quantität [d.h. Erregungsmengen] zu entledigen trachten. Neuronenerregungen sind fließende Quantitäten, die einen Zustand der Trägheit anstreben, d.h. sich gegen Steigerung wehren und versuchen, den Spannungsgrad zu reduzieren. Von da an beherrscht das Lustprinzip die Schriften Freuds in großem Ausmaß, bis er es schließlich resumiert in jener berühmten Schrift von 1920 über den Todestrieb, Jenseits des Lustprinzips. Das Konstanzprinzip zielt auf Vermeidung von Unlust, das heißt zu starker Energieintensität. Movens dieses Prinzips ist kein Bataille’scher Furor zu Rausch und Ekstase, sondern ein Äquilibrium, ein Zustand energetischen Spannungsausgleichs. Freud 1999: XIII 249. Vgl. auch XI 369: „Wir stellen uns die Frage, ob an der Arbeit unseres seelischen Apparates eine Hauptabsicht zu erkennen sei, und beantworten sie in erster Annäherung, daß diese Absicht auf Lustgewinnung gerichtet ist. Es scheint, daß unsere gesamte Seelentätigkeit darauf gerichtet ist, Lust, zu erwerben und Unlust zu vermeiden, daß sie automatisch durch das Lustprinzip reguliert wird. Nun wüßten wir um alles in der Welt gerne, welches die Bedingungen der Entstehung von Lust und Unlust sind, aber daran fehlt es uns eben. Nur soviel darf man sich getrauen zu behaupten, daß die Lust irgendwie an die Verringerung, Herabsetzung oder das Erlöschen der im Seelenapparat waltenden Reizmenge gebunden ist, die Unlust aber an eine Erhöhung derselben.“

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KORPSIFIZIERUNG ſ 307

auf der Fährte der operationalisierten Ontologie. Er hat die für die postrepräsentativische Epoche konstitutive Aufhebung der Zweiheit von Subjekt und Objekt, von res cogitans und res extensa, gnadenloser vollzogen als Helmholtz, der, die eigentliche Seinsfrage auf neukantianische Pfade ablenkend, ein Residuum dieses zweiseitigen Verhältnisses überleben lassen will. Radikaler, tiefgehender und auch fatalistischer als Helmholtz lässt Freud „die Vorstellung einer objektiven, realen Welt schwinden.“412 Radikaler entlässt er die Ursache zugunsten der Ur-Sache, radikaler setzt er sich agonaler Schlaflosigkeit aus. Wo Helmholtz Theorien über die Korrelation von Welt und Wahrnehmung errichtet, wo er von der Physik bis zur Physiologie die Ursache geltend macht, da geht Freud von einem besonderen Verhältnis des Primären und des Sekundären aus, das, indem es sekundäre Vorgänge als Möglichkeitsbedingung des Primären setzt (in einem logischen, nicht kausalchronologischen Sinne) und indem es, mehr noch, das Primäre zu einer Fiktion relativiert413, den Kant-Helmholtz’schen Welt- und Wahrnehmungskonstrukten unversöhnlich widerspricht. Nicht nur dass Freud zwischen dem traditionell erkenntnistheoretischen Objekt und dem psychoanalytischen Objekt des Triebs unterscheidet – und damit die Welt-Wahrnehmung- bzw. ObjektSubjekt-Unterscheidung terminologisch wie gedanklich weiter ausdifferenziert –, seine Theorie gestattet auch an keiner Stelle eine Überbrückung oder Inbezugsetzung beider Bereiche (wie Helmholtz’ Sinnesphysiologie sie anbietet). Freud ersetzt die Trennung von Innen und Außen durch eine Trennung von Sekundärprozess und Primärprozess, die der ersten im Prinzip noch vorgängig ist. Eine äußere Welt konstituiert sich nach Freud erst nachträglich, sie entfaltet sich erst aus dem Gefälle, das zwischen dem Unmöglichen eines vollen Lusterlebens, der Wahrnehmungsidentität, und dem Möglichen einer nur approximativen und letztendlich scheiternden Befriedigung (Denkidentität, Kompromisstendenz) existiert. „Den psychischen Vorgang, welchen das erste System allein zuläßt, werde ich jetzt Primärvorgang nennen; den, der sich unter der Hemmung des zweiten ergibt, Sekundärvorgang. Ich kann noch an einem anderen Punkte zeigen, zu welchem Zwecke das zweite System den Primärvorgang korrigieren muß. Der Primärvorgang strebt nach Abfuhr der Erregung, um mit der so gesammelten Erregungsgröße eine „Wahrnehmungsidentität“ herzustellen; der Sekundärvorgang hat diese Absicht verlassen und an ihrer Statt die andere aufgenommen, eine Denkidentität zu erzielen. Das ganze Denken ist nur ein Umweg von der als Zielvorstellung genommenen Befriedigungserinnerung bis zur identischen Besetzung derselben Erinnerung, die auf dem Wege über die motorischen Erfahrungen wieder erreicht werden soll.“414

Abermals offenbart sich die von Helmholtz’ positivistischem Jambus so sehr abweichende Grundhaltung Freuds: Das Leben ist kein im evolutionären Mitteltrab fortlaufendes Experiment, sondern ein zur Trauerarbeit415, zur Ausbil412 413 414 415

Wittenbecher 1991: 64. Vgl. Freud 1999: II/III 609. Freud 1999: II/III 607. Vgl. auch II/III 570-72; Kap. 1.3. Vgl. Freud 1999: X 430: „Worin besteht nun die Arbeit, welche die Trauer leistet? Ich glaube, daß es nichts Gezwungenes enthalten wird, sie in folgender Art darzustellen: Die Realitätsprüfung hat gezeigt, daß das geliebte Objekt nicht mehr besteht, und erläßt nun die Aufforderung, alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen. Dagegen erhebt sich ein be-

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dung von alternativen Bahnungen verurteilter Prozess des Seins, wobei das Glück, nach dem es strebt, noch nicht einmal existiert, sondern vielmehr nachträglich zur Halluzination degradiert werden muss. Die primäre Erinnerung einer Wahrnehmung ist stets Halluzination416, sie betrifft nicht die Problematik der äußeren Realität, sondern vielmehr die Vorgänge innerhalb der psychischen Realität. Aus Freuds ontologischer Perspektive konstituieren sich Welt und Wahrnehmung erst sekundär durch den Ersatz der Erinnerung an eine noch-nicht-existente, halluzinatorische Identität durch eine andere, sekundäre, alternative Wahrnehmung. Er geht also einen entscheidenden Schritt vor Helmholtz’ erkenntnistheoretische Frage nach der Liaision von Welt und Wahrnehmung zurück – ein Schritt, mit dem nicht zuletzt die Ursache storniert wird – und fragt stattdessen, in einem energetischen Diskurs, nach der Funktionsweise und Beschaffenheit dessen, was Welt erst überträgt. Er befragt und beschreibt den psychischen Apparat, die „gedankliche Entfaltung eines Netzes von Verzweigungen mit Haupt- und Nebenwegen, einer Ausdehnung, die über die Wahrnehmungsorgane eine Grenzziehung zwischen Innen und Außen nicht zuläßt“417. Das Ding, von dem Freud im Entwurf einer Psychologie spricht, ist also mit Kants Ding an sich inkompossibel. Ist das kantische Ding an sich ein noumenales, das erst durch die Syntheseleistungen der Vernunft in die Erfahrbarkeit rückt (so wie die Welt bei Helmholtz nur durch vorgängige sinnesphysiologische Aktivitäten wahrnehmbar wird), so ist Freuds Unterscheidung hinsichtlich des Dings gänzlich anders akzentuiert. Ein sich der Erkenntnis entziehender Teil des Dings stellt sich als gleichbleibendes Gefüge des psychischen Apparates dar, während der andere Teil sich durch Ausdifferenzierung und Erinnerungsarbeit in den sogenannten Nebenmenschen (verstanden als Objekt des Triebs) ausformt. Der Nebenmensch lässt sich auf eine Nachricht rekurrieren – allerdings kommt diese Nachricht, und hier liegt der Abgrund zwischen Helmholtz’ erkenntnistheoretischer und Freuds ontologischer Prädisponiertheit, bei Freud nicht aus der Welt, sondern aus dem eigenen Körper. 418 Das Habitat von Kants Ding an sich ist die klassische Metaphysik oder (nach Heideggers, gegen die neukantianische Kant-Rezpetion ge-

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greifliches Sträuben, – es ist allgemein zu beobachten, daß der Mensch eine Libidoposition nicht gern verläßt, selbst dann nicht, wenn ihm Ersatz bereits winkt. Dies Sträuben kann so intensiv sein, daß eine Abwendung von der Realität und ein Festhalten des Objekts durch eine halluzinatorische Wunschpsychose (siehe die vorige Abhandlung) zu stande kommt. Das Normale ist, daß der Respekt vor der Realität den Sieg behält. Doch kann ihr Auftrag nicht sofort erfüllt werden. Er wird nun im einzelnen unter großem Aufwand von Zeit und Besetzungsenergie durchgeführt und unterdes die Existenz des verlorenen Objekts psychisch fortgesetzt. Jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war, wird eingestellt, überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen. Warum diese Kompromißleistung der Einzeldurchführung des Realitätsgebotes so außerordentlich schmerzhaft ist, läßt sich in ökonomischer Begründung gar nicht leicht angeben.“ Vgl. Freud 1999: XIII 248. Wittenbecher 1991: 66. Vgl. Widmer 2001: 18f.

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richtete Lesart: die klassische Ontologie419), wohingegen Freuds Ding gerade in seiner materialistisch nicht auflösbaren, sondern vielmehr medialen Körperlichkeit in der neuen Zeit, der operationalisierten Ontologie, verortet werden kann. Bei dieser totalen Restitution des Dings und der Kausalität ist es nur konsequent, wenn Freud auch die Kant’schen apriorischen Anschauungsformen von Raum und Zeit zurückweist. „Räumlichkeit mag die Projektion der Ausdehnung des psychischen Apparats sein. Keine andere Ableitung wahrscheinlich. Anstatt Kants a priori Bedingungen unseres psychischen Apparats. Psyche ist ausgedehnt, weiß nichts davon.“420 Und in respektiver Weise setzt er an die Stelle der Zeit als einer apriorischen Anschauungsform die a-lineare Zeit des Unbewussten, im Entwurf präfiguriert in der Periode.421 Noch einige weitere Bemerkungen zur Energetik. Über der apparenten Determinierung von Freuds Modell des psychischen Apparats durch die Energetik also dürfen – Mai Wegener hat dies auf den Spuren von Lacan in anderen Kontexten eindringlich gemacht422 – die bei Freud vorliegenden Motivierungen, die diese diskursive Osmose erst ermöglich haben, nicht übergangen werden. Freuds Deklination von Libido und Lustprinzip mit Helmholtz’ Erstem Thermodynamischen Hauptsatz besitzt für den Entdecker des Unbewussten den Rang einer Möglichkeit, das libidinöse Kräftespiel zu denken. Freuds Diskurs profitiert von der Thermodynamik, von deren Kalkülen und Vorstellungsreservoirs, um einem unter anderen möglichen Modellen des Unbewussten zur Umsetzung zu verhelfen. Im berühmten 7. Kapitel der Traumdeutung, in dem Freud das im Entwurf einer Psychologie präfigurierte Modell des psychischen Apparats vervollständigt, spricht er es selbst aus: „Wir ersetzen hier wiederum eine topische Vorstellungsweise durch eine dynamische; nicht das psychische Gebilde erscheint uns als das Bewegliche, sondern dessen Innervation.“423 Er prononciert, dass keines der Modelle hin419

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Heidegger interpretiert im Zuge seines Kampfes gegen den erkenntnistheoretischen Neukantianismus und insbesondere Cassirer Kants Transzendentalphilosophie als eine ontologische Theorie. Vgl. Heidegger 1929. Freud 1999: XVII 152. Vgl. auch XIII 27f: „Ich gestatte mir an dieser Stelle ein Thema flüchtig zu berühren, welches die gründlichste Behandlung verdienen würde. Der Kantsche Satz, daß Zeit und Raum notwendige Formen unseres Denkens sind, kann heute infolge gewisser psychoanalytischer Erkenntnisse einer Diskussion unterzogen werden.“ Zu Freuds Konzeption der Zeit des Unbewussten vgl. Freud 1999: II/III 542, IV 52, X 286-288. Vgl. auch Kap. 10. Vgl. Wegener 2004. Freud 1999: II/III 614f. Zum besseren Verständnis sei hier der Kontext der Stelle zitiert: „[...] Versuchen wir es jetzt, einige Anschauungen richtigzustellen, die sich mißverständlich bilden konnten, so lange wir die beiden Systeme im nächsten und rohesten Sinne als zwei Lokalitäten innerhalb des seelischen Apparats im Auge hatten, Anschauungen, die ihren Niederschlag in den Ausdrücken „verdrängen“ und „durchdringen“ zurückgelassen haben. Wenn wir also sagen, ein unbewußter Gedanke strebe nach Übersetzung ins Vorbewußte, um dann zum Bewußtsein durchzudringen, so meinen wir nicht, daß ein zweiter, an neuer Stelle gelegener Gedanke gebildet werden soll, eine Umschrift gleichsam, neben welcher das Original fortbesteht; und auch vom Durchdringen zum Bewußtsein wollen wir jede Idee einer Ortsveränderung sorgfältig ablösen. Wenn wir sagen, ein vorbewußter Gedanke wird verdrängt und dann vom Unbewußten aufgenommen, so könnten uns diese dem Vorstellungskreis des Kampfes um ein Terrain entlehnten Bilder zur Annahme verlo-

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sichtlich eines Wahrheitsanspruchs Priorität beanspruchen könne, sondern er es vielmehr „für zweckmäßig und berechtigt [halte], die anschauliche Vorstellung der beiden Systeme weiter zu pflegen.“ Nur unter dieser Bedingung, die das von der Energetik formatierte dynamische Modell eben zur Möglichkeit relativiert, „weichen [wir] jedem Missbrauch dieser Darstellungsweise aus“424. Aus diesem Blickwinkel ist, radikal formuliert, das Gesamt der unter dem Namen Helmholtz versammelten und hochdekorierten Theorien – von der neuronalen Chronometrie des Unbewussten über die physiologische Wahrnehmungslehre bis hin zum Satz von der Erhaltung der Energie – ein einziger Missbrauch, sofern nämlich Helmholtz an die Washeit und Wirklichkeitsmächtigkeit seiner Forschungsresultate glaubt. Wie aber sieht dieser Missbrauch aus, in welchen Wirkungen zeigt er sich? So wie Helmholtz die gesamte Welt im Energieerhaltungssatz ein letztes Mal ontologisch imperialisiert, so erhebt er den Anspruch, die Probleme des Unbewussten und der Wahrnehmungsakte durch eine mit neukantianisch-evolutionistischen Denkimpulsen angereicherte physiologische Theorie erhellt zu haben. Nur anekdotenhaft, nur in Parenthesen sei darauf verwiesen, wie Freud auf solchen szientifischen Cäsarenwahn, solche Gestikulation von welteroberndem Format reagiert: mit Humor und traumdeuterischem Detachement. „Wir neigen wahrscheinlich in viel zu hohem Maße zur Überschätzung des bewußten Charakters auch der intellektuellen und künstlerischen Produktion. Aus den Mitteilungen einiger höchstproduktiven Menschen, wie Goethe und Helmholtz, erfahren wir doch eher, daß das Wesentliche und Neue ihrer Schöpfungen ihnen einfallsartig gegeben wurde und fast fertig zu ihrer Wahrnehmung kam.“425

Um zur Frage nach dem Missbrauch zurückzukehren, der darin besteht, dass ein Modell in seinem Möglichkeitscharakter verkannt und in den Status der Notwendigkeit, einer einzigen und wahren Aussage über den objektiven Tatsachenbestand erhoben wird. Die Frage führt über die oben mit Freud exponierte Assimilation der dynamischen Seite des psychischen Apparates und der Hypothesen über die Libido und den Energieerhaltungssatz zurück zum Grundkonflikt, der zwischen Helmholtz und Freud, zwischen der materialistischen Physiologie und der Erforschung des „Unbewussten als solchen“ besteht. Freud betont, „daß Vorstellungen, Gedanken, psychische Gebilde im allgemeinen überhaupt nicht in organischen Elementen des Nervensystems lokalisiert werden dürfen, sondern sozusagen zwischen ihnen, wo Widerstände und Bahnungen das ihnen entsprechende Korrelat bilden.“ Das sagt keineswegs – und an dieser Stelle wird abermals deutlich, welche Wachsamkeit die Lektüre dieser Texte erfordert –, dass Freud ein physisch-organisches Gepräge des Unbewussten generell zurückweist, sondern bezeichnet lediglich

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cken, daß wirklich in der einen psychischen Lokalität eine Anordnung aufgelöst und durch eine neue in der anderen Lokalität ersetzt wird. Für diese Gleichnisse setzen wir ein, was dem realen Sachverhalt besser zu entsprechen scheint, daß eine Energiebesetzung auf eine bestimmte Anordnung verlegt oder von ihr zurückgezogen wird, so daß das psychische Gebilde unter die Herrschaft einer Instanz gerät oder ihr entzogen ist.“ Freud 1999: II/III 616. Freud 1999: II/III 618.

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den unleugbaren Sachverhalt, dass „die Systeme [...] selbst nichts Psychisches sind und nie unserer psychischen Wahrnehmung zugänglich werden.“426 Der impact der Energetik auf Freuds Diskurs, insbesondere sofern er sich im Zusammenhang von Überlegungen zur libidinösen Ökonomie und zu unbewussten Strebungen und Zwängen bewegt, ist unbestreitbar; mehr noch, Freud markiert – ebenso wie Helmholtz, Bleuler und Faraday – einen Kreuzungspunkt unterschiedlicher, zum Teil heterogener Diskurse. Hierzu trifft jedoch im Falle des wissenschaftlichen Subjektes Freud eine besondere Initiation, eine Ahnung von diskreten Gespenstern, eine mit der Entdeckung des Unbewussten unauflöslich verkettete Empfangsbereitschaft für die Botschaft des realen Medialen, des menschlichen Seins. Damit sollen keine okkultistischen Empfindungen evoziert werden, es soll lediglich auf den höchst weltlichen wissenschaftlichen Sachverhalt verwiesen werden, dass Freud in seinem Sprechen den bevorstehenden Paradigmenwechsel von der Prä-Kybernetik (unter die hier neben den Experimentalwissenschaften auch die Thermodynamik gefasst wird) zur modernen Medien- und Signaltheorie antizipiert hat.427 Zweifelsohne finden sich zahlreiche Indizien dieser Antizipation auch bei Helmholtz, Wundt, Bleuler und anderen Psychophysikern, und doch war Freud durch die Begegnung mit der Kaponniere des Unbewussten in besonderer Weise prädestiniert und sensibilisiert für die reale mediale Konstitution dieses Phänomens, von der Tatsache ganz zu schweigen, dass die von ihm angewendeten Techniken (post)strukturalistische Vorgehensweisen und natürlich das von Lacan erfasste wissenschaftstheoretische Potential der Analyse vorbereiten. Dies bedeutet keine Erfassung des Weltprozesses, so wie Helmholtz sie mit der Einsetzung des Energieerhaltungssatzes für sich prätendiert, sondern die Notwendigkeit der Konjugierung des Uneinholbaren mit Hilfe der zur Verfügung stehenden kontemporären Diskurse und Signaturen. Freud selbst kommentiert sein Vorgehen: „Ich bediene mich hier einer Reihe von Gleichnissen, die alle nur eine recht begrenzte Ähnlichkeit mit meinem Thema haben und die sich auch untereinander nicht vertragen. Ich weiß dies, und bin nicht in Gefahr, deren Wert zu überschätzen, aber mich leitet die Absicht, ein höchst kompliziertes und noch niemals dargestelltes Denkobjekt von verschiedenen Seiten her zu veranschaulichen, und darum erbitte ich mir die Freiheit, auch noch auf den folgenden Seiten in solcher nicht einwandfreien Weise mit Vergleichen zu schalten.“428

Unter dieser Vorgabe muss auch das Interesse betrachtet werden, das Freud an den von der Energetik bereitgestellten Modellen und Termini nimmt. So evident die Determinierung des libidinösen Haushalts – der sich, psychophysisch konsequent, vor allem in seinen Störungen und Destabilisierungen wie 426

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Freud 1999: II/III 616. Freud überwindet vielmehr – so eine der zentralen und ständig fugierten Thesen dieses Buches – die Polarität des Psychischen und des Organischen in Richtung auf ein medial konzeptualisiertes Unbewusstes. So ist es nur konsequent, wenn das Ende der zitierten Passage zu den wenigen Stellen gehört, an denen Freud explizit vom Medium spricht, und zwar im Kontext optischer Medien, womit Hagens Theorie der Emergenz des Unbewussten aus der Fotografie eine weitere Bekräftigung findet. Vgl. Freud 1999: II/III 541 und XI 175 und 305. Vgl. auch Kap. 7 dieses Buches. Freud 1999: I 295.

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unlusterzeugenden Stauungen von Libido manifestiert429 – auf der einen Seite ist, so verschränken sich andererseits bei Freud doch die Vorstellungen von somatischer und psychischer Energie430 auf eine Weise, aus der klar hervorgeht, dass die Helmholtz’sche Kraft nicht mit der Libido identifiziert werden kann und dass generell die Komplexität und konstitutive Unfassbarkeit der psychischen Realität weder mit den energetischen noch mit den physiologischen Theorieangeboten von Helmholtz’ exhauriert werden kann. Gibt Helmholtz, subventioniert durch die Siemens AG und die Würden der akademischen Institution, seine Forschungsresultate in kapitänshafter Haltung zur Gegebenheit, so übt Freud sich in einer sherlock-holmeshaften, aber nicht weniger souveränen Zurückhaltung: „Fassen Sie aber meine Ankündigung nicht in der Weise auf, als ob ich dogmatische Vorträge halten und Ihren unbedingten Glauben heischen würde. Das Missverständnis täte mir grob Unrecht. Ich will keine Überzeugungen erwecken – ich will Anregungen geben und Vorurteile erschüttern. Wenn Sie infolge materieller Unkenntnis nicht in der Lage sind zu urteilen, so sollen Sie weder glauben noch verwerfen. Sie sollen anhören und auf sich wirken lassen, was ich Ihnen erzähle. Überzeugungen erwirbt man sich nicht so leicht, oder wenn man so mühelos zu ihnen gekommen ist, erweisen sie sich bald als wertlos und widerstandsunfähig.“431

In keinem Punkt scheinen sich die Theorien Freuds und Helmholtz’ harscher zu unterscheiden als im Hinblick auf die Kausalität. Das Konzept der psychischen Kausalität hat mit der Kausalität, so wie sie ihren Denkeinsatz in Kants Transzendentalphilosophie und in Helmholtz’ neukantianisch-evolutionistischer Wahrnehmungstheorie findet, nicht das geringste zu tun.432 Es erforder429

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Vgl. hierzu beispielsweise Freuds Beschreibung des Traumas in ökonomischdynamischen Begriffen: Freud 1999 XI 284: „Es ist so, als ob diese Kranken mit der traumatischen Situation nicht fertig geworden wären, als ob diese noch als unbezwungene aktuelle Aufgabe vor ihnen stände, und wir nehmen diese Auffassung in allem Ernst an; sie zeigt uns den Weg zu einer, heißen wir es ökonomischen Betrachtung der seelischen Vorgänge. Ja, der Ausdruck traumatisch hat keinen anderen als einen solchen ökonomischen Sinn. Wir nennen so ein Erlebnis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, daß die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normal-gewohnter Weise mißglückt, woraus dauernde Störungen im Energiebetrieb resultieren müssen.“ Gerade in dieser unauflöslichen Verschränkung liegt ja der spezifische Charakter des Freud’schen Unbewussten. Vgl. Freud 1999: I 391f. „Der „Zwang“ der hier beschriebenen psychischen Bildungen hat ganz allgemein mit der Anerkennung durch den Glauben nichts zu tun, und ist auch mit jenem Moment, das man als „Stärke“ oder „Intensität“ einer Vorstellung bezeichnet, nicht zu verwechseln. Sein wesentlicher Charakter ist vielmehr die Unauflösbarkeit durch die bewußtseinsfähige psychische Tätigkeit, und dieser Charakter erfährt keine Änderung, ob nun die Vorstellung, an der der Zwang haftet, stärker oder schwächer, intensiver oder geringer „beleuchtet“, „mit Energie besetzt“ wird u. dgl.“ Freud 1999: XI 249f. Woraus keineswegs folgt, dass Freud Kant den gehörigen Respekt schuldig geblieben wäre. Im Gegenteil zeigt er, ähnlich wie Heidegger, dass Kant sich auch grundsätzlich verschieden von erkenntnistheoretischen Ansätzen lesen lässt. Vgl. Freud 1999: X 270: „Es bleibt uns in der Psychoanalyse gar nichts anderes übrig, als die seelischen Vorgänge für an sich unbewußt zu erklären

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te eine eigene Untersuchung, um dem Phänomen der psychischen Kausalität in all ihren modifikablen Anwendungen bei Freud und insbesondere ihrer Weiterführung seitens Lacan gerecht zu werden. Daher soll hier nur beispielhaft auf Freuds Profilierung der Kausalität des Traumes eingegangen werden. Allein eine solche Überlegung hätte Helmholtz, für den das Unbewusste in einer Unterlaufung der Wahrnehmungsschwelle aufging, sicher nicht bewegt. Der berühmte Freud’sche Satz: „Die Traumdeutung aber ist die Via regia zur Kenntnis des Unbewußten im Seelenleben.“433 wäre von Helmholtz nie ausgesprochen und auch nicht signiert worden. Helmholtz hatte sich dem Laboratorium und den chronometrischen Medien unwidersprüchlicher verschrieben, seine Exploration der „Zusammensetzung dieses allerwunderbarsten und allergeheimnisvollsten Instruments“434, des Unbewussten, verlief positivistischer, unangestrengter, reibungsloser. Sofern Helmholtz keine Träume, die ja nichts anderes sind als Manifestationen des Freud’schen-unddes-sprachstrukturierten-Unbewussten, analysierte, befand er sich auch jenseits der Gefahr einer Resignation, die Freud sagen machte: „von dem Moment an, da wir in die seelischen Vorgänge beim Träumen tiefer eindringen wollen, werden alle Pfade ins Dunkel münden. Wir können es unmöglich dahin bringen, den Traum als psychischen Vorgang aufzuklären, denn erklären heißt auf Bekanntes zurückführen, und es gibt derzeit keine psychologische Kenntnis, der wir unterordnen könnten, was sich aus der psychologischen Prüfung der Träume als Erklärungsgrund erschließen läßt.“435

Was Freud andererseits die Souveränität verliehen hätte, auch Helmholtz nicht aus dem Urteil über die Wissenschaft im Blick auf die Psychoanalyse auszuschließen: „Der psychoanalytische Sachverhalt pflegt gern etwas komplizierter zu sein, als uns lieb ist. Wenn er so einfach wäre, hätte es vielleicht

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und ihre Wahrnehmung durch das Bewußtsein mit der Wahrnehmung der Außenwelt durch die Sinnesorgane zu vergleichen. Wir hoffen sogar aus diesem Vergleich einen Gewinn für unsere Erkenntnis zu ziehen. Die psychoanalytische Annahme der unbewußten Seelentätigkeit erscheint uns einerseits als eine weitere Fortbildung des primitiven Animismus, der uns überall Ebenbilder unseres Bewußtseins vorspiegelte, und anderseits als die Fortsetzung der Korrektur, die Kant an unserer Auffassung der äußeren Wahrnehmung vorgenommen hat. Wie Kant uns gewarnt hat, die subjektive Bedingtheit unserer Wahrnehmung nicht zu übersehen und unsere Wahrnehmung nicht für identisch mit dem unerkennbaren Wahrgenommenen zu halten, so mahnt die Psychoanalyse, die Bewußtseinswahrnehmung nicht an die Stelle des unbewußten psychischen Vorganges zu setzen, welcher ihr Objekt ist. Wie das Physische, so braucht auch das Psychische nicht in Wirklichkeit so zu sein, wie es uns erscheint.“ Freud 1999: II/III 613. Freud 1999: II/III 614. Freud 1999: II/III: 515f. Vgl. hierzu auch Freuds berühmte Passage zum Nabel des Traumes, II/III 529f: „Die Frage, ob jeder Traum zur Deutung gebracht werden kann, ist mit Nein zu beantworten. [...] In den bestgedeuteten Träumen muß man oft eine Stelle im Dunkel lassen, weil man bei der Deutung merkt, daß dort ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will, aber auch zum Trauminhalt keine weiteren Beiträge geliefert hat. Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt.“

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nicht der Psychoanalyse bedurft, um ihn ans Licht zu bringen.“436 Es hätte in diesem Fall der Supplementierung des Kausalitätsbegriffs durch eine von jeder Kant’schen, idealistischen oder allgemein bewusstseinsphilosophischen unterschiedenen Gedankenarbeit des Traumes nicht bedurft. Für den Psychoanalytiker Freud hingegen steht fest, dass die „Traumarbeit sich nun von dem Vorbild des wachen Denkens viel weiter [entfernt], als selbst die entschiedensten Verkleinerer der psychischen Leistung bei der Traumbildung gemeint haben.“ Es geht also nicht an, ihr den Respekt schuldig zu bleiben, der Kants Kausalität (nicht nur von Helmholtz) eingeräumt wird, denn „sie ist nicht etwa nachlässiger, inkorrekter, vergeßlicher, unvollständiger als das wache Denken“, sondern lediglich „etwas davon völlig Verschiedenes und darum zunächst nicht mit ihm vergleichbar“437. Nichtsdestoweniger verfügt der Traum über Logik und Kausalität438, über eine ihm eigentümliche und von der bewussten Kausalität durch seine Motivierung – die Umgehung der Zensur und die unbewusste Wunscherfüllung auf dem Wege der Entstellung439 – unterschiedene Kausalität. Der flagranteste Widerspruch, der mit der unbewussten im Vergleich zur bewussten Kausalität verbunden ist, zeigt sich

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Freud 1999: XI 310. Freud 1999: II/III 511f. Im Gegenteil ist das unbewusste Denken, das Freud an vielen Stellen mit der Kunst der Dichter und Literaten vergleicht, sogar reicher, virtuoser und gelenkiger als das bewusste Denken. Vgl. hierzu Freud 1999: II/III 528: „Es ist wirklich nicht leicht, sich von dem Reichtum an unbewußten, nach Ausdruck ringenden Gedankengängen in unserem Denken eine Vorstellung zu machen und an die Geschicklichkeit der Traumarbeit zu glauben, durch mehrdeutige Ausdrucksweise jedesmal gleichsam sieben Fliegen mit einem Schlage zu treffen, wie der Schneidergeselle im Märchen.“ Freud vergleicht die Traumgedanken mit einem „Komplex von Gedanken und Erinnerungen vom allerverwickeltsten Aufbau mit allen Eigenschaften der uns aus dem Wachen bekannten Gedankengänge“. Weiter heißt es: „Die einzelnen Stücke dieses komplizierten Gebildes stehen natürlich in den mannigfaltigsten logischen Relationen zueinander. Sie bilden Vorder- und Hintergrund, Abschweifungen und Erläuterungen, Bedingungen, Beweisgänge und Einsprüche.“ Jedoch erliegt, und hier liegt die Gabelung zwischen bewusster und unbewusster Logik, „die ganze Masse dieser Traumgedanken der Pressung der Traumarbeit [...], wobei die Stücke gedreht, zerbröckelt und zusammengeschoben werden, etwa wie treibendes Eis.“ Die „logischen Banden“, die das wache Denken auszeichnen, die Relationen des „Wenn, weil, gleichwie, obgleich, entweder – oder“, werden dann gemäß der Traummechanismen der Verdrängung und Verschiebung transformiert (Freud untersucht diesen Prozess in Folge ausführlich und mit Angabe vieler Beispiele), ohne dabei jedoch in einen Zustand von A-Logik oder A-Kausalität zu verfallen. Vgl. Freud 1999: II/III 316ff. Vgl. hierzu Freuds eigene Zusammenfassung der in der Traumdeutung gewonnenen Ergebnisse, Freud 1999: II/III 538: „Wir stellen die Hauptergebnisse unserer bisherigen Untersuchung zusammen. Der Traum ist ein vollwichtiger psychischer Akt; seine Triebkraft ist alle Male ein zu erfüllender Wunsch; seine Unkenntlichkeit als Wunsch und seine vielen Sonderbarkeiten und Absurditäten rühren von dem Einfluß der psychischen Zensur her, den er bei der Bildung erfahren hat; außer der Nötigung, sich dieser Zensur zu entziehen, haben bei seiner Bildung mitgewirkt eine Nötigung zur Verdichtung des psychischen Materials, eine Rücksicht auf Darstellbarkeit in Sinnesbildern und – wenn auch nicht regelmäßig – eine Rücksicht auf ein rationelles und intelligibles Äußere des Traumgebildes.“

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zweifelsohne in der Artikulation – des Widerspruchs: „fast regelmäßig steht neben einem Gedankengang sein kontradiktorisches Widerspiel, durch Kontrastassoziation mit ihm verbunden“440. Hieraus erschließt sich bereits, dass die dem Widerspruch diametral entgegengesetzte logische Relation der Äquivalente dem Traum ein Minimum an Transformationsarbeit einräumt.441 Dann präzisiert Freud die beiden Mechanismen, durch die der Traum bewusste und das heißt auch Kant’sche Kausalitäten verschlüsselt: „Die Kausalbeziehungen darzustellen hat der Traum zwei Verfahren die im Wesen auf dasselbe hinauslaufen. Die häufigere Darstellungsweise, wenn die Traumgedanken etwa lauten: Weil dies so und so war, mußte dies und jenes geschehen, besteht darin, den Nebensatz als Vortraum zu bringen und dann den Hauptsatz als Haupttraum anzufügen. Wenn ich recht gedeutet habe, kann die Zeitfolge auch die umgekehrte sein. Stets entspricht dem Hauptsatz der breiter ausgeführte Teil des Traumes.“442 „Die andere Darstellungsweise des Kausalverhältnisses findet Anwendung bei minder umfangreichem Material und besteht darin, daß ein Bild im Traume, sei es einer Person oder einer Sache, sich in ein anderes verwandelt. Nur wo wir diese Verwandlung im Traume vor sich gehen sehen, wird der kausale Zusammenhang ernstlich behauptet; nicht wo wir bloß merken, es sei an Stelle des einen jetzt das andere gekommen.“

Und schließlich bemerkt er, dass „in den allermeisten Fällen [...] Kausalrelation überhaupt nicht dargestellt [wird], sondern unter das auch im Traumvorgang unvermeidliche Nacheinander der Elemente [fällt]“443. Es ist unverkennbar: Auf einer ganz anderen Loipe, von einem ganz anderen Ausgangspunkt her, nämlich der Kontrastierung des Helmholtz’schen und Freud’schen Kausalitätsprinzips, erreicht die vorliegende Untersuchung wiederholt die Relaissation dieses Buches, das-Freud’sche-und-das-sprachstrukturierte-Unbewusste. Das Faktum, dass Freud sich nicht mit einem Mitglied der rein physiologisch prozedierenden Familienmacht zu identifizieren vermochte, und seine nur vordergründig leichtfertige Inauguration eines ganz anderen, nämlich auf sprachlichen Reflexionen beruhenden Kausalitätsbegriffs erweisen sich als ein und derselbe Sachverhalt, der nur auf unterschiedlichen Zugängen erreicht wurde. Hier ließe sich der Einwand vorrücken, dass auch der Physiologie Helmholtz im Zusammenhang mit der Repräsentation der Außenwelt in der Wahrnehmung zeichentheoretische Reflexionen anstellt, die 440 441

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Freud 1999: II/III 316. Vgl. Freud 1999: II/III 324 f.: „Einer einzigen unter den logischen Relationen kommt der Mechanismus der Traumbildung im höchsten Ausmaße zugute. Es ist dies die Relation der Ähnlichkeit, Übereinstimmung, Berührung, das „Gleichwie“, die im Traume wie keine andere mit mannigfachen Mitteln dargestellt werden kann. Die im Traummaterial vorhandenen Deckungen oder Fälle von „Gleichwie“ sind ja die ersten Stützpunkte der Traumbildung, und ein nicht unbeträchtliches Stück der Traumarbeit besteht darin, neue solche Deckungen zu schaffen, wenn die vorhandenen der Widerstandszensur wegen nicht in den Traum gelangen können. Das Verdichtungsbestreben der Traumarbeit kommt der Darstellung der Ähnlichkeitsrelation zu Hilfe.“ Freud 1999: II/III 319f. Freud 1999: II/III 321.

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wie die Freud-Lacan’sche Konzeption des Zeichens die klassische Repräsentationslogik wie auch die Saussure’sche Dualität des Zeichens (das 9. Kapitel wird dies ausführlich darlegen) übersteigen. Dennoch verhalten sich die zugrundeliegenden Grundannahmen wie auch Motive von Freud und Helmholtz gegensätzlich. Nicht nur, dass Helmholtz die in der psychoanalytischen Perspektive verlassene Zweiheit von Innen und Außen, Ich und Welt, auf eine, wenn auch modernisierte Weise beibehält, in erster Linie geht es Helmholtz um eine theoretische Absicherung seiner positivistisch orientierten physiologisch-psychotechnischen Wissenschaft vom Unbewussten. Damit jedoch sind seiner Erkenntnisfähigkeit Grenzen gesetzt, was die Operation des Signifikanten im Realen (das Thema des 8. Kapitels), was das Unbewusste und nicht zuletzt was die wissenschaftliche Wahrheit in ihrer radikalen psychoanalytischen Auffassung betrifft.444 Um die Unterschiede zwischen Helmholtz’ und Freuds Konzepten des Unbewussten zusammenzufassen. Helmholtz schematisiert, sich nach seiner physikalisch-energetischen Phase mehr und mehr dem Diskurs der Siemens’schen Nachrichtentechnik unterordnend, wie Selbstbewusstsein unter normalen Bedingungen funktioniert: Quantitativ-relationale Unterscheidungen, die von der Wahrnehmung bzw. sinnesphysiologischen Tätigkeit registriert werden, geben indirekt, aber auf eine durch die Kausalitätsbeziehung fundierte Weise Auskünfte über den Stand der Dinge, den Lauf der Welt. Auch Freuds Modell des psychischen Apparats ist mit einer diskursiven Folie unterlegt, die aus der Energetik und Physiologie kommt, jedoch geht es ihm nicht um die wissenschaftliche Objektivierung der Welt-WahrnehmungsBeziehung, sondern um die letztendlich nicht eindeutig materialisierbaren psycho-physischen Leistungen eines unbewussten Subjekts, das „seine“ Welt erst durch sekundäre reizverarbeitende und wunschregulierte Aktivitäten überträgt. So ließe sich folgern, dass Helmholtz’ epistemologische Frage nach Subjekt und Objekt bei Freud in dem Sinne eine ontologische Ausrichtung erfährt, als er die körperliche und psychische Konstitution des Subjekts als ein Medium zur Verschlüsselung von unbewussten Nachrichten und zur Übertragung von Wunschobjekten betrachtet und untersucht. Freud stellt eine Frage – wer spricht? –, wo Helmholtz mit Antworten exzelliert, die, so seine sichere Prophezeiung, mit der Weiterentwicklung und Verfeinerung der technischen Messgeräte noch vervollkommnet werden. Und schließlich ist Hardware, wie Wolfgang Hagen klargestellt hat, „eine Frage der Epistemologie“, wohingegen „die kontingenten und völlig unvorhersehbaren Ereignisse, die das Ganze erst wirklich in Gang bringen“ eher auf der Seite des unbewussten Subjekts, seiner Sprunghaftigkeit, seiner Akausalität, seiner „Camouflagen“ und Unverfügbarkeiten situiert werden müssen.445 Hagens Analyse (im Freud’schen Sinne), seine Entzifferung des wissenschaftlichen Subjekts der Kybernetik stellt ein exemplarisches Fallbeispiel für eine Dialektisierung von Wissenschaft und Psychoanalyse im Sinne Lacans dar446, im Rückbezug auf Helmholtz’ Verkündigung des evolutionär444 445 446

Hierzu und zu Freuds Auffassung von Psychoanalyse und Wissenschaft im allgemeinen vgl. Freud 1999: XI 20 und 239, X 289 und XIII 64f und 227. Hagen 2004a: 193f und 196. Vgl. Hagen 2004a: 191: „Was die Genealogie des Computers betrifft – der „von-Neumann-Maschine“, wie sie uns heute hundertmillionenfach umgibt – so liegt dieses Setting gleichsam lehrbuchhaft vor uns. Sie kommt mit zwei Planungs-Papieren in Gang, das eine die Atombombenforschung, das andere

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erkenntnistheoretisch prozedierenden Wahrnehmungssubjekts: Sie zeigt, dass das fortschrittstüchtig und in kausalen, nachvollziehbaren Stadien seine Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit ausweitende Subjekt mit dem als Vollzug einer permanenten Ent- und Verstellung begriffenen Freud’schenund-sprachstrukturierten-Unbewussten in entscheidenden Punkten disharmoniert. Damit ist ein weiteres abschließendes Stichwort gegeben, inwiefern sich das „Unbewusste als solches“ von Helmholtz’ neukantianischen Konstruktionen hinsichtlich der Übereinstimmung von Welt und Wahrnehmung unterscheidet. Setzt Helmholtz bei dieser fortschreitenden Akkommodierung von Welt und Wahrnehmung, medientheoretisch formuliert: von Gerät und Sinnesphysiologie447 ganz auf die Kausalität, so kalkuliert Freud gerade auch die in den epistemologischen Prozess der Helmholtz-Hardware einbrechenden Effekte von Kontingenz, die uneinholbar jenseits der Kausalität liegen bzw. in der charakteristischen a-kausalen Kausalität des Unbewussten begründet sind. Freud kalkuliert und untersucht die Wirkungen eines Subjekts, das Verhältnisse zur Welt ausbildet, die nicht mehr auf Adjustierung und somit auf eine erkenntnistheoretische Fragestellung reduziert werden können, sondern denen, mit Lacan, vielmehr stets ein Begehren unterstellt werden muss. Freuds psychische Realität, die nicht allein aus Gründen von Nervenlaufzeitgeschwindigkeit als unbewusst gelten muss, folgt ihrer eigenen Logik, Dynamik, Aufzeichnung; sie ist nicht lern- und erfahrungsbereit orientiert an der äußeren Realität, sondern erkennt und formiert letztere umgekehrt nach dem Maße ihrer eigenen Wünsche, Traumata, Verdrängungen. Die Welt, der Nebenmensch, geht aus der psychischen Realität erst hervor, so dass vor allen nach Freud bestenfalls ergebnislosen erkenntnistheoretischen Bemühungen die ontologischen Änigmata verfolgt werden müssen. Und er geht dieses Unternehmen in keineswegs änigmatischer oder okkultistischer Weise an, sondern verfährt konsequent und bestimmt mit dem Einsatz der Sprache, und zwar sowohl seiner eigenen Sprache – wie gezeigt, verschlüsselt er seine Er-

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die militärische Rechnerplanung betreffend. Kontingenz bleibt, daß beide Papiere zeitgleich, nämlich im August 1942, und unabhängig voneinander an der hochgeheimen Front der Militärforschung der USA erscheinen. [...] Die kontingente Verknüpfung beider Diskurssphären, die militärisch und epistemologisch keinen Zusammenhang hatten, kam im Herbst 1944 durch John von Neumann zustande. Aus der Mathematik der Wasserstoffbombe hatten sich Berechnungsaufgaben ergeben, die sich am Ende nur mit verbesserten Rechenmaschinen für Geschütz-Tabellen bewältigen ließen. Der hochrangige Geheimnisträger, wissenschaftlicher Berater fast aller geheimen Militärprojekte der USA im 2. Weltkrieg, durfte aber diesen Zusammenhang auf keinen Fall preisgeben. Schon deshalb mußte er die gefundene Maschine tarnen. Dazu verhalf ihm die Metaphorik eines Diskurses, der später als „Kybernetik“ bekannt wurde. John von Neumann initiiert und fördert diese Camouflage umso mehr, als die wissenschaftsübergreifende Interdisziplinarität der Kybernetik dem Computer (und den gewaltigen Investitionen zu seinem Bau) eine ideale Friedenslegitimation bietet.“ Vgl. Holl 2002: 184: „Die Analyse und die Induktion wurden zur gleichen Verschaltung der Sinnesorgane mit den Geräten. Innen und außen der gleiche Fourier-Analysator. In seinen Forschungen der Sinnesphysiologie stellte Helmholtz die inneren Funktionen als Pendants der Geräte vor, mit denen er die Experimente durchgeführt hatte, oder modifizierte die Geräte nach seinen Erkenntnissen über Nervenfunktionen.”

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fahrungen mehr oder weniger unbewusst im Diskurs der Energetik und Neurologie –, als auch der Sprache des Unbewussten. Was die letztere Aussage betrifft, so hat diese ihre Berechtigung nicht nur vor dem Hintergrund der symbolistisch geprägten, späteren Ausarbeitungen Freuds, sondern trifft bereits auf den neurologisch-energetisch dominierten Entwurf zu. Hier schreibt Freud: „Nun kann es geschehen, daß während des Q-Ablaufes auch ein motorisches Neuron besetzt wird, das dann Qrl abführt und ein Qualitätszeichen liefert. Allein, es handelt sich darum, von allen Besetzungen solche Abfuhren zu erhalten. Sie sind nicht alle motorisch, müssen also zu diesem Zweck mit motorischen Neuronen in eine sichere Bahnung gebracht werden. Diesen Zweck erfüllt die Sprachassoziation.“448

In Folge beschreibt er in metikuloser Form seine Konzeption über die Besetzungen (Teilströme) der Klang- und Wortbilder, der Vorbesetzung der Wortbilder wie der Abfuhrbilder, also die Leistungen der Sprachassoziation: „Die Sprachabfuhrzeichen [...] stellen die Denkvorgänge den Wahrnehmungsvorgängen gleich, verleihen ihnen eine Realität, und ermöglichen deren Gedächtnis.“449 Dieser Auszug aus dem Entwurf einer Psychologie demonstriert unmissverständlich, dass das „Unbewusste als solches“, das Freud’sche-unddas-sprachstrukturierte-Unbewusste nicht nur immer schon mit den neurologischen Modellen koexistierte, sondern mehr noch, dass beide Aspekte sowie die diese formierende Aporie und Zweideutigkeit ein nicht substrahierbares, integriertes Konstituens des Unbewussten darstellen. Prägnant formuliert: das Unbewusste ex-sistiert nur zwischen den Schauplätzen, den Arbeitsplätzen, zwischen Laboratorium und Sprechzimmer. Es ist zuinnerst dadurch gezeichnet, dass es weder-an-dem-einen-noch-an-dem-anderen Ort eindeutig positioniert und klassifiziert werden kann, dass es sich vielmehr um die operationalisierte, korpsifizierte, die seiende Diskordanz des Realen und des Symbolischen handelt. Die Operationen, die in diesem Unbewussten, Freuds psychischer Realität, ablaufen, schließen sich Freud – bereits im Entwurf – über einen sprachlichen Zugang auf. „Freud verfolgt im Entwurf die verschlungenen Pfade der menschgewordenen Natur über die Berührungspunkte von Organismus und Sprache.“450 In Jenseits des Lustprinzips schreibt Freud: „So operieren wir also stets mit einem grossen X, welches wir in jede neue Formel mit hinübernehmen.“451 Waren für Helmholtz Gegenstand wie Vorwärtsdynamik seiner Forschungen so luzide wie ein Lichtstrahl vom Olymp, beanspruchte er für sich, eine materialistisch-sinnesphysiologische Bestimmung des Unbewussten requiriert zu haben, so war Freud im Gegensatz dazu besessen vom großen und unergründbaren X der Korpsifizierung, der Lokalisierung des Unbewussten zwischen Soma und Psyche, zwischen Blut und Buchstaben. Dass es jedoch mit Buchstaben und Botschaften arbeitete, die, klandestin, orphisch und dennoch logisch strukturiert, in der Natur nicht vorkommen, um auf die oft zi448 449 450

451

Freud 1975: 455. Ebd. 456. Wittenbecher 1991: 68. Vgl. auch ders. 71: „Im Entwurf erschöpft sich die Rolle der Sprache nicht im psychischen Geschehen, sondern deren Bedeutung ist grundlegend für die Entstehung des Psychischen.“ Zu einer umfassenden Darlegung dieses Sachverhalts vgl. Wegener 2004. Freud 1999: XIII 31.

KORPSIFIZIERUNG ſ 319

tierte Sentenz aus der Traumdeutung anzuspielen452, war von Anfang an, vom frühen Entwurf bis zum späten Jenseits, alle Raserei zwischen den Abgründen des Materialismus und des Symbolismus inklusive, für ihn, für die Inauguration des Freud’schen-und-des-sprachstrukturierten Unbewussten ein unverrückbares Faktum. Darin präludiert und praktiziert Freud bereits die von Lacan geforderte Dialektik von Wissenschaft (in Freuds Fall das Dispositiv der Experimentalwissenschaften und der materialistischen Psychiatrie) und Psychoanalyse als einer Disziplin, deren Objekt nicht auf eine empirische oder experimentell verifizierbare Realität reduziert werden kann, sondern vielmehr stets auch ein Subjekt impliziert. Helmholtz’ Forschungen dagegen, so sehr sie, was die Thermodynamik wie auch die auf Zeitmessung und Diskretisierung basierende Sinnesphysiologie betrifft, den im im Laboratorium tätigen Freud beeinflussen und forttragen, transzendiert die Naturwissenschaft nicht auf jenes grosse X der operationalen Ontologie hin. Beide, Helmholtz wie Freud, bewegen sich auf demselben wissenschaftsgeschichtlichen Vektor von der Energetik zur beginnenden Informationstheorie. Beide sind absorbiert in Überlegungen über das Objekt, das dem für die postrepräsentativische Epoche bezeichnenden Auflösungsprozess anheimgefallen ist. Beide beziehen in zunehmendem Maße die Zeit, die zeitbasierten Medien und die Diskretisierung, in ihre Forschungen ein. Aber während Helmholtz Kant’schen Grundannahmen verpflichtet bleibt, konzeptualisiert Freud einen Bezug von Zeit und Sein sowie eine Kausalität, gegen die Kants und Helmholtz’ erkenntnistheoretische Absicherungen wie eine allzu unanime Gespensterabwehr aussehen. In Kürze: so sehr Helmholtz’ zeitlich definiertes „Unbewusstes“ auch seinen Anteil am „Unbewussten als solchen“ hat, so überrundet Freud die positivistisch-evolutionäre Wissenschaft des Berliner Physiologieprofessors in senem Vorstoß zum Anderen Schauplatz, zum Land der Schlaflosigkeit zumindest an Kühnheit. Seine von Beginn an gestellte Frage nach der Intrikation von Organismus und Sprache, diese allererersten Rhythmen des Freud’schen-und-sprachstrukturierten-Unbewussten, halten ihn davon ab, die Libido im Zuge der Aufnahme des Energieerhaltungssatzes mit der Helmholtz’schen Kraft zu identifizieren, und er läuft bei der Verwendung neurologisch-materialistischer Modelle für den psychischen Apparat nicht Gefahr, darüber das eigentliche X, nämlich die Botschaft zu vergessen, die das Subjekt mit seinem Körper stellt, sei es in den Entstellungen der verbalen Sprache, sei es im Code körperlicher Symptome. Helmholtz hingegen, um mit dem eingangs zitierten berühmten Vergleich von Nerven- und Telegrafensystem nun auch wieder zu schließen, bleibt in seinen Bereichen zwar exzellent, aber beschränkt. Die beiden Grundpfeiler seiner (Un-)Bewusstseinstheorie sind einerseits in einer (zu der Zeit beinahe schon kanonischen) Sinnesphysiologie zu situieren, derzufolge spezifische Sinnes- und Nervenenergien die Wahrnehmungsleistungen bestimmen. Auf der anderen Seite ist die Helmholtz’sche Wahrnehmungstheorie eindeutig formatiert durch das Telegrafensystem. Wie das Telegrafensystem, so muss auch die Wahrnehmung keineswegs notwendig über Bewusstsein von sich disponieren: Beide müssen von ihren Funktionen nichts wissen, um übertragen zu können, mehr noch, sie dürfen von ihren Funktionen nichts wissen, um rechtzeitig übertragen zu können. Was jedoch den Nachrichtentechniker bzw. den experimentalphysiologischen Wissenschaftler angeht, so ist dieser 452

Vgl. Freud 1999: II/III 284.

320 ſ DISKRETE GESPENSTER

aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Medien der Messung und Aufzeichnung über die das Bewusstsein aufgrund ihrer Geschwindigkeit unterlaufende Serie von Frequenzereignissen informiert. Der Sinnesphysiologe hat den Zugangscode zum Apriori, der für Kant in Ermangelung moderner Messtechniken und Apparaturen noch unverfügbar war, erobert. Im Begriff, das Nervensystem und das Telegrafensystem mehr und mehr zu indifferenzieren, liefert Helmholtz eine Art Reprise der Bernard’schen Konzeption des milieu intérieur453 unter Bedingungen der Nachrichtentechnik. Bernards milieu intérieur wird, wie Ute Holl pointiert, universalisiert als „milieu général“ – nicht nur die Verhältnisse im Körperinneren werden stabilisierend geregelt, sondern Innen und Außen stehen in mittlerweile signaltechnischen Wechselbeziehungen bzw. einem Kommunikationsaustausch, womit Helmholtz Facetten des kybernetischen, medien- und systemtheoretischen Gedankenkreises antizipiert.454 Die oben erläuterte Wahrnehmungs- und Zeittheorie, die Helmholtz entwirft, wird im Bezug auf Siemens’ Nachrichtentechnik modernisiert, dabei wird jedoch, und das ist und bleibt das Unterscheidungskriterium zwischen Helmholtz und Freud, die Zweiheit von Innen und Außen aufrecht erhalten. Wenn Freud Vergleiche aus einem physiologisch-elektrizitätsphysikalischen Bereich heranzieht, so werden dabei nie und zu keinem Zeitpunkt Bahnungen zu Raubkopien von Telegrafendrähten, nie und zu keinem Zeitpunkt hätte er in dem Laboratorium, das doch so sehr in ihm gearbeitet hat, eine Begegnung mit dem Apriori der psychischen Realität machen können. Durch all seine Arbeitsplätze, durch all die Zeiten hat Freud immer nur die Frage nach X berührt und getrieben und ineins damit die Frage nach einer ins Sein eingeschriebenen Nachricht, die den flotten und doch so profanen Nachrichtenaustausch zwischen Innen und Außen übersteigt. Denn diese Frage geht im doppelten Wortsinn aus von der „fleischgewordenen Aporie, von der man bildlich sagen kann, daß sie ihre schwere Seele den lebensfähigen Abkömmlingen des verwundeten Triebs verdankt und ihren subtilen Körper dem in der signifikanten Form aktualisierten Tod“455. Und sie geleitet Freud nicht in ein sicheres wissenschaftliches Gelände, sei es die materialistische Physiologie, sei es die Nachrichtentechnik im Aufbruch, sondern in ein Geisterhaus, in ein Zwischenreich, horoskopisch, abgedunkelt, aber von begrifflicher und gedanklicher Schärfe, ein Reich, in dem nicht sichere Resultate, sondern Hypothesen operierten, Hypothesen über das Freud’sche-und-das-sprachstrukturierte-Unbewusste. „Das Sprechen ist in der Tat eine Gabe aus Sprache, und die Sprache ist nichts Immaterielles. Sie ist ein subtiler Körper, aber ein Körper ist sie. Wörter stecken in allen Vorstellungsbildern, die das Subjekt fesseln; sie können eine Hysterikerin schwanger werden lassen, sie können sich mit dem Objekt des Penisneids identifizieren, das Harnfließen des urethralen Ehrgeizes repräsentieren oder das verhaltene Exkrement der Lust des Geizes.“456

Freud ahnte es seit dem Entwurf.

453 454 455 456

Vgl. Kap. 6.4 dieses Buches. Vgl. Holl 2002: 192f. Lacan 1991: 221. Ebd. 144.

7. A P O R I E N

UND

ÄNGSTE

7.1 Physis, Antiphysis – und der Beginn der großen Angst Trauma, Tremolo, Phobie, Paranoia und Diskontinuität – das Sein wird verzeitlicht, diskretisiert, operationalisiert. Das große Abenteuer des Unbewussten, die Expedition ins Unvordenkliche, die Wanderung zum Anderen Schauplatz hat nicht begonnen im feingeistigen Chiaroscuro von Sprech- oder Arbeitszimmern, ausgestattet mit dem charmanten Beistellsessel Kleine Chauffeuse aus gebeizter Eiche, einem Spiralteppich von Belkis-Balpinar und Organzakissen im Farbspektrum von Aubergine bis Tabakbraun. Sie hat nicht begonnen auf Polstersesseln, bezogen im Nerzlook, und mit Blick auf jene zarten Brüche, mit denen Falter eine Uhr aus Biskuitporzellan formen, die den exakten Zeitpunkt einer traditionell linear ablaufenden Zeit ansagt. Das große Abenteuer des Unbewussten, an dem die Physiker, die Psychiater, die Physiologen, die Linguisten und die Informatiker beteiligt waren, hat in einer anderen Zeit begonnen, als gazellenhaft zierliche Standührchen aus lackiertem Eschenholz sie hätten aussagen können. Die Tranquilität und Einheitlichkeit des Selbst, die jene klassischen, sei es aus afghanischem Lapislazuli, sei es aus Kirschholz manufakturierten Uhren, mit denen sich die Zeit objektivieren und von subjektimmanenten Prozessen isolieren ließ, sicher stellten, ist vorüber, verklungen – untergegangen in der Perkussion der Wechselstromgeneratoren und im Bruitismus all der Ruhmkorffs der Psycho-Laboratorien. Es, etwas beginnt im Getrampel, Getorkel und Getriebe von Metronomen, Komplikations-Uhren und Tachistoskopen, von Kymographien und unbewusst schaltenden Gelegenheitsapparaten. Es wird erfasst von nervösdiskretem Flimmern inmitten frequenzbasierter Test-Apparate, Induktionsmaschinen, Du Bois-Reymond’schen Tetanisierungen und Nervenaktionsströmen. Es wird psychotisiert durch die kaum verhohlenen vivisektorischen Triebe Bernards und Flechsigs, durch eine Kartographierung von Associativgebieten und Körperfühlsphären, die sich wie ein cerebraler Zyklop über Welt und Krankenzimmer aufbaut. Es fluktuiert zwischen Galvanometern, Myographien und neuralgischen Telegrafendrähten, und es wird angegiftet von Kurare, Botox und maliziösen Lähmungsgasen, die sein Sein zur Offenbarung zwingen wollen. Hier bricht die fürsichseiende Unität des einen Arbeitsplatzes, des Laboratoriums, ab. War das Sein in diesem ganzen Spektakel der Diskretisierung, das es in den Laboratorien zu durchlaufen hatte, auch vom schwerelosen Logos auf seine Körperlichkeit zwischen synaptischen Spaltungen und profusen Blutungen gebracht worden, so konnte es sich in dieser seiner Zerklüftung doch niemals innerhalb der Grenzen des Laboratoriums, innerhalb der Grenzen eines materialistisch-psychiatrischen Diskurses, der das Sein zum Objekt

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macht, zur Kundgabe, zur Meldung, zum Verrat bringen. Mit Lacan gesprochen, die materialistischen Psychiater konnten „sich ihre Welt nur vorstellen, indem sie annahmen, daß sie verbiestert sei, etwa aus der Vorstellung heraus, die sie noch nicht allzulange haben von dem Tier, das nicht spricht“1. Das Physische, das Organische, jenes zwischen Peau d’ange und Ödem, zwischen Anbetungswürdigkeit und Ekel schillernde Phänomen war aus logozentrischen Himmeln in eine seit Erfindung der Induktionsspule in der neuen Zeit laufende Wirklichkeit gestürzt. Ein Ereignis hat sich vollzogen, ein Ereignis, das als ein per definitionem kontingentes das bis dato kondensierte und in Wechselstrom-Maschinen funktionierende Wissen frakturiert. Das impliziert jedoch, dass es dabei „weder um positives Wissen noch um wissenschaftliche Wahrheit“ geht. Mit Wolfgang Hagen wurde bereits ausgeführt, dass die Rede über kontingente Zäsuren im Wissen immer auch Zäsuren des Unwissens und Ungewissen umfasst. Denn Kontingenzen sprengen ganze Kontexte, „in welchen ohne weiteren Grund und oft sehr plötzlich „Etwas“ auf der Ebene der Wahrnehmung und der Welt erscheint, existiert und beschrieben werden kann, gebaut wird und gebraucht, das gleichwohl wissenschaftlich „unwahr“ bleibt, inkonsistent, ungewiß und ungefähr“2. Und daraus folgt für den jeweils herrschenden Diskurs, dass die Unwahrheit und Unwissenschaftlichkeit dieses Etwas, sei es ein technisches, sei es ein körperliches Reales, zumindest für eine gewisse Totzeit, eine Zeit zum Begreifen3, verkannt werden muss. Die materialistische Psychiatrie muss, um sich als Wissenschaft etablieren und fortschreiten zu können, genau jenen Punkt, an dem das Sein von der neuen Zeit und durch die Medien tödlich getroffen wird, elidieren und – anstatt es in eine dialektische Relation zur Funktion des cartesischen Cogito, des Erkenntnissubjekts zu setzen und sich selbst, denn das wäre der Preis, dabei aufs Spiel zu setzen – als ein Erkenntnisobjekt rehabilitieren: die Wundt’sche Seele, die Bleuler’schen Affekte, die Helmholtz’schen Nervenströme und nicht zuletzt Flechsigs frisch viviseziertes Hirn. Diese Eskamotage des es blickt4 ist, und die Tatsache, dass es gerade erst begonnen hat, zu blicken, zu blinzeln, ändert nichts daran, jedoch keine Defizienz, kein Versäumnis, sondern die Möglichkeitsbedingung, die jeden wissenschaftlichen Diskurs bedingt. Nach Heidegger wird gerade die positive Wissenschaft dadurch konstituiert, dass sie einerseits mit solcherart kanonisierten Begriffen arbeiten muss, die sie vor einer störungsvirulenten Interferenz von Fragendem und Erfragtem abschirmen, dass sie jedoch andererseits mit einer „mehr oder minder radikalen und ihr selbst nicht durchsichtigen Revision der Grundbegriffe”5 beschäftigt ist. Und die Funktionstüchtigkeit, die Homöostase, die Potenz einer Wissenschaft lässt sich Heidegger zufolge daran ermessen, wie weit sie einer Krisis ihrer Grundbegriffe ohne Dissoziation standhalten kann, wie weit und lange, mit Lacan, die Verkennung der 1 2 3

4 5

Lacan 1991a: 9. Hagen 2004. Vgl. Lacan 1987: 45: „Die logische Zeit besteht aus drei Zeiten. Zunächst der Augenblick des Sehens/ l’instant de voir – der durchaus noch rätselhaft ist, obwohl er ziemlich genau in der psychologischen Erfahrung der intellektuellen Operation des insight definiert ist. Dann die Zeit zum Begreifen/ le temps pour comprendre. Und endlich der Schließmoment/ le moment de conclure.“ Vgl. Lacan 1987: 79ff. Heidegger 1953: 9.

APORIEN UND ÄNGSTE ſ 323

Tatsache, dass Frage und Erfragtes, Subjekt und Objekt, vernetzt sind, resistiert. Das ist keine Entscheidungsfrage, sondern ein Phänomen, kein mit Voluntarismus manipulierbarer Gang von Fortschritt, sondern Schicksal des wissenschaftlichen Diskurses, jenseits von gut und böse, und dies gilt insbesondere für die Epoche der Diskretisierung des Seins, die Epoche der materialistischen Physiologen und Psychiater: „Wir wollen keine Entschuldigung für sie suchen. Ihr Sein selbst ist eine solche. Ihr Vorteil nämlich ist in dem neuen Schicksal, daß sie, um zu sein, ex-sistieren müssen.“6 Die eigentliche Krisis meldet sich erst sehr viel später, sie entlädt sich mit dem Effekt der Nachträglichkeit, mit einer beträchtlichen Nachträglichkeit, sie entlädt sich etliche Dekaden und Kontextwandel später – als diverse Gesellschaften zwischen Capuccino von Krustentieren, Thunfischtartar und geschmorten Bäckchen, als diverse Leichenschmause ad maiorem gloriam Bernards, Ludwigs, Bleulers, Flechsigs und Helmholtz’ etc. lange vorübergegangen waren. Es handelt sich um eine Krise, die an dieser Stelle spezifiziert werden muss – um ein Übergreifen realer Angst und Befürchtung, die Freud und nach und mit Freud Lacan erfasst hat: das Vergessen der Freud’schen Erfahrung. Die Krise lässt sich nicht darauf beschränken, dass die materialistische Psychiatrie das diskretisierte Sein als körperliches Objekt verkennt, ein Objekt, das durch den Parcours der Laborgeräte gejagt wird. Die Krise besteht vielmehr darin, dass die Wissenschaft auch nach Abschluss der materialistischen Blütezeit den Schritt zur Dialektisierung von Körper und Geist, von Physis und Antiphysis nicht vollzogen und stattdessen die Klüftung und Verkabelung der Körper über der Rehabilitation eines psychologischen Bewusstseins oder auch einer strukturalistischen Desinfektion verstellt und verdrängt hat. Die materialistische Epoche mit all ihren Unfällen, experimentellen Manien, Grand Mals und Zerstörungsgewalten, mit all ihren körperlichen Deformationen und cerebralen Verletzungen wurde vergessen von einer im Abstraktionismus reiner Strukturen aufgehenden Lacan-Adaption. Traumata, Tremolos, Phobien, Paranoien und Diskontinuitäten werden ignoriert von einer Psychologie, die sich die Wiederbelebung und suggestive Gestaltung eines einheitlichen Subjektbegriffs zum Ziel gesetzt hat. Und „nichts kann ihnen zur Lehre dienen, nicht einmal, daß Freud Arzt war, und daß der Arzt wie die Verliebte nicht sehr weitblickend sind, und sie sich also anderswohin begeben müssen, um sein Genie zu haben: insbesondere indem sie sich zum Subjekt und Sujet zwar nicht eines bis zum Überdruß wiederholten Themas, aber eines Diskurses machen, der ohne Vorbild ist und bei dem es geschehen kann, daß die Verliebten genialische Fähigkeiten entwickeln, sich in ihm wiederzufinden, was sage ich! den sie sogar erfunden haben, lange bevor Freud ihn etablierte, ohne daß er ihnen im übrigen für die Liebe das Geringste nützen könnte, was auf der Hand liegt.“7

Die Klüftung des Seins, das Mantraina der Diskretisierung, die Kopfscheue des Begehrens wird in diesem Buch unentwegt wiederholt. Und dies nicht, um die Küftung mit logozentrischen Mitteln zu heilen und so das alte einheitliche Subjekt einer alten einheitlichen Zeit wieder zu beleben (womit gleichzeitig die moderne psychologische Vision von der vollendeten genital love Erfüllung fände), sondern im ganzen Gegenteil um die subjektimmanente 6 7

Lacan 1991a: 9f. Lacan 1991a: 10.

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Spaltung im Prozess einer Wiederholung und Übertragung – und „die Übertragung, das ist Liebe. [...] zwischen Übertragung und dem, was wir im Leben Liebe nennen, gibt es keinen wesentlichen Unterschied“8 – zur Anerkennung zu bringen. Einerseits hat sich ein knappes Jahrhundert nach der Experimentalpsychologie eine Theorie des Unbewussten als Struktur mit massiven Wirkungsspektren behauptet, eine „Theorie von der Abstraktion, deren es bedarf, um von der Erkenntnis Zeugnis zu geben, [hat sich] zu einer abstrakten Theorie von dem Vermögen des Subjekts verfestigt“9. Andererseits hatte eben dieses eine Jahrhundert früher ein Materialismus seinen Eskalationspunkt erreicht, der jeder Bestimmung des Subjekts, die sich nicht auf positive Messergebnisse oder physiologisch-organische Befunde stützte, einen unumstößlichen inneren Widerstand entgegensetzte. Was verbindet diese scheinbar antagonistischen Näherungen und Konzipierungen des menschlichen Subjekts? Auf welche Weise werden diese beiden Subjektfassungen, so polar sie sich auf den ersten Blick darstellen, dennoch von demselben Modus des Denkens, von ein und demselben Symptom motiviert? Beide machen das unbewusste Subjekt zu einem Objekt, sei es, wie im Fall der Abstraktionstheorie, zu einem durch einen imaginären Mangel integriertes Strukturgebäude, sei es, wie im Materialismus, zu einem neurologischen Substrat oder einer medizinisierbaren neurologischen Dysfunktion. Das Objekt des Materialismus, die physis, schlägt vom 19. ins 20. Jahrhundert radikal und dennoch nur vordergründig bruchlos um in das Objekt einer symbolischen Struktur, aber dieses Umschlagen versäumt den dritten Hegel’schen Moment, die dialektische Aufhebung, die das Freud’sche-und-das-sprachstrukturierte unbewusste Subjekt als irreduzibel ambivalentes „und“ zwischen Physis und Antiphysis gerade konstituiert.10 Der Fettgeruch vom passierten Hirnsüppchen mit Dendriteneinlage, der aus allen Ritzen von Flechsigs Küche dringt, muss, um ein Unbewusstes der reinen Struktur zu machen, neutralisiert und hygienisiert werden. „Wenn nun unsere Wissenschaft im Hinblick auf die physis in ihrer immer reineren Mathematisierung von dieser Küche nur einen so unauffälligen Beigeruch behält, daß man sich legitimerweise fragen kann, ob es sich hier nicht um einen Wechselbalg handelt, so verhält es sich anders mit der antiphysis – d. h. mit dem lebendigen Apparat, den man für fähig hält, das Maß der eben genannten Physis zu nehmen – deren Fettgeruch ohne Zweifel die lange Erfahrung verrät, die die ebengenannte Küche in der Zubereitung von Hirn hat.“11

Eine lange Erfahrung, die sich auch durch die Säuberung der Küche zur Klinik der mathematischen Kalküle, auch durch den Umbau des zwischen Tetanus und Nervengift köchelnden Laboratoriums in ein mit Bits rechnendes Bell Lab nur mit unterschiedlichen Erfolgsgraden und unauffälligen BeigerüLacan 1990: 118. Vgl. auch Lacan 1991a: 13: „Darum auch ist Übertragung Liebe, ein Gefühl, das hier eine so neue Form annimmt, daß sie die Subversion einführt, nicht daß sie dadurch weniger illusorisch ist, aber sie gibt sich einen Partner, der mit großer Wahrscheinlichkeit antworten wird, was bei anderen Formen nicht der Fall ist. Ich bringe wieder den Glücksfall (bon heur) ins Spiel, nur daß die Chance diesmal von mir kommt und ich es bin, der sie bringt.“ 9 Lacan 1991a: 64. 10 Vgl. Kap. 4.9. 11 Lacan 1991a: 64. 8

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chen verkennen und pazifizieren lässt, um sich jedoch, unsterblich und unentrinnbar wie die Kette des Begehrens, aus der Unterdrückung in Erinnerung zu rufen. Ein Formalist im schneidigen Ziegenledermantel ist zu einem Patienten geworden, der von Alpträumen gejagt wird, in denen er, bis zur Erstickung rettlos ausgeliefert, nicht mehr schreien, nicht mehr i = ¥, nicht mehr Ich sagen kann.12 Unter Weinkrämpfen ist eine Antieuklidianerin in ViscontiDekadenz um den Raum gebracht worden, in dem sie Ich sagen kann. Medizingutachtlich anerkannte Normalpersonen, Assembler-Code-Programmierer, Strukturlinguisten, Atomuhrmacher, bis in höchste Sphären studiert und ausdifferenziert, Typen der höheren akademischen Mittelschicht, aber unsichtbar leidend an Wiederholungszwängen, die sich einfach exekutieren, ohne dass Ich denke da erden und kontrollieren könnte. Ein hochneurotischer Analysisprofessor, der mit unerhörter, unerlöster Atemlosigkeit den Vorlesungssaal betritt, da sein Ich zwar richtig dachte, dass die Haustür verschlossen ist, was die Zwangskontrollhandlung jedoch nicht zu unterbinden vermochte. Eine Cauchy-Pilotin in alerter Schwalbenschwanzjacke, die sich in den Falten des mathematischen Alltags, dann in Zahnarztwartezimmern und Lebensmittelläden Vorstellungen zumutet, die mit ihrer antiphysisch dominierten Denkexistenz völlig unvereinbar sind. Axiomatiker, Logarithmenspezialisten, Peanoforscher und ein personales Kakutani-Gomory-Problem, das in jedem Aufzug und jeder Untergrundbahn von den Dämonen der Klaustrophobie eingeholt wird. 26 Semester höhere Mathematik, aber der Anfangssatz über die EulerHausarbeit will sich zum wiederholten Male nicht schreiben, obwohl Ich die ganze Sekundärliteratur resorbiert hat. Fälle von Phantomschmerz und Konversion, Fälle, die den Non-Standard-Analytiker und den Profi-Debugger nach Einbruch der Nacht in finstere Labyrinthe führen, in denen sich die Antiphysis, in der Ich tagsüber doch völlig normal rechnete und programmierte, verliert. Das Salz der Hirne, das bei Räucherlachsmousse auf Gurkentörtchen, Spanferkel und Kalbsherz auf Gurkensalat über x = cos g + ¥-1 x sin g und 01000111-01001111-01010100-01010100 diskutiert und dann am Nullpunkt der Nacht von der Physis, Fettleber, Herzrhythmusstörungen und Gurken, die schwer im Magen liegen, eingeholt wird. Ein Polynomfachmann, der erfolgreich mit seinen vermeintlich objektiven Zahlen, auf Papier, auf Monitoren, arbeitete, wird plötzlich im Sinn dieser Berechnungen unterbrochen durch den Infarkt eines Symptoms, das nur die Wiederholung eines körperlichen Tics, eines geisterhaften Rundgangs, einer motorisch sinnlosen Traversale will. „Wo es nicht zu manifester Existenzunfähigkeit infolge von Krankheit kommt, da fehlt doch fast nie die Einbuße an aller freien Entfaltung der Seelenkräfte. Zwangsvorstellungen kehren das ganze Leben hindurch wieder; Phobien und andere Willenseinschränkungen sind für jede Therapie bisher unbeeinflußbar gewesen.“13 Ein Differentialkalkulierer nimmt plötzlich wiederkehrende Omen, Hieroglyphen, sprechende Kürzel auf der Haut seiner Hände und Unterarme wahr, und am Ende, nachdem auch der Dermatologe keine Hilfe gebracht hat, wendet er sich an Freud, aber Freud, der kein Psychologe, kein Gläubiger der reinen Antiphysis war, kann ihn nicht als geheilt ins Reich der Zahlenlogo12 So Lacans Notation für das Ich des Bewusstseins, das Moi (im Gegensatz zum

je des Unbewussten). Zur Herleitung und Erläuterung dieser Notation vgl. Bitsch 2001: 299-324. 13 Freud 1999: I 515.

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kratie entlassen. Freud konnte die Omen, Hieroglyphen, sprechenden Kürzel nur entziffern. All diese Formalisten, Kompositionsalgebraiker und NichtDifferenzierbarkeitsexperten sind nicht wahnsinnig, sie gehen in die Universität, in die Ingenieurslabore, in die Gebäude der Telekom, und selbst wenn sie bereits remittierend von einer Physiognomie aus ASCI-Zeichen behelligt werden, so begeben sie sich doch noch an die Schreibtische, die Rechenmaschinen, ins Gehege der Variablen. Sie sind nicht wahnsinnig, sie unterbrechen ihr Haupt- und Lebenswerk der Logisierung sogar wie jede Normalperson durch Arien von Purcell, Hochämter und Ferien am Wörthersee, aber dennoch, die Fragen insistieren. Sie insistieren mit zunehmender Heftigkeit und Häufigkeit: Wo ist mein Schlüssel? Wieviel Schritte brauche ich zum Haus, das Omen? Ist das Gerät aus? Was denkt die schwarze Katze? Is there anybody out there? Wie die Geschichte einer Theorie und Praxis der Wiederholung wiederholen? Wie anfangen und wo aufhören mit der Sekundärliteratur? Wie, wo, wann den Einstieg finden in diese Zirkulation von Wiederholungen, in die Spirale, die Schwindel erzeugt und das Bewusstsein verlieren macht? Erst wenn das Frühwarnsystem dieser besonders widerständigen Sorte von Patienten, jenen Machthabern der rein symbolischen Antiphysis, völlig versagt und kollabiert, erst dann werden sie sich an Lacan wenden, der die Ambiguität des logischen „und“, das die Sprache und den Körper, die Antiphysis und die Physis vernetzt, erblickt und anerkannt hatte, der die analytisch treffende Bilanz aus einer langen Erfahrung gezogen hatte. „Wir wagen es tatsächlich, sämtliche Positionen – egal, ob sie mechanistisch oder dynamistisch sind in dieser Sache, oder ob die Genese bei ihnen sich auf den Organismus oder den Psychismus erstreckt und die Struktur auf Zerfall oder Konflikt – sozusagen auf einen Haufen zu werfen, ja, alle, so ingeniös sie sich auch geben.“14

Was hat ihn dazu geführt, wie ist er zu dieser sich selbst durchschnürenden Bilanz, zu diesem manichäisch unentrinnbaren „und“ zwischen dem Organismus und dem Psychismus gekommen? Wie lauteten die Worte, die er zu jenem Patienten, ein Data Base Opfer im dämmerlichtfarbenen Ulster, sprach? Wie reagierte er auf das spezifische Symptom dieses Patienten aus dem Kreise der Mathematiker und Syntaxexperten, was sagte er zu dieser Angst, zu all diesen wahnhaften und übermächtigen Angstanfällen? Freud fragen. Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. Und über die Angst soll diese Rekonstruktion der Genealogie des Unbewussten ihren Fortgang nehmen.

7.2 Labor-Ängste Trauma, Tremolo, Phobie, Paranoia und Diskontinuität – und Angst. In seinem Text Über die Berechtigung von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomkomplex als „Angstneurose“ abzutrennen von 1895 legt Freud seine erste Angsttheorie dar.15 In diesem Text dokumentiert sich auf vielfältige und klare Weise, dass der Beginn von Freuds Studien im Laboratorium stattfand. Ganz unmissverständlich zeigt sich, dass seine frühe Psychoanalyse im be14 Lacan 1991a: 64. 15 Vgl. Freud 1999: I 315-342.

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reits ausführlich besprochenen Dispositiv der materialistischen Wissenschaften der Jahrhundertwende situiert werden muss. Die zentralen Wissenschaften, die an diesem Dispositiv teilhatten, sind die Thermodynamik, die Elektrizitätsphysik, die Neurologie, die experimentelle Psychologie und Physiologie und die materialistische Psychiatrie. Wurden die Spuren des energetisch-thermodynamischen Diskurses in Freuds Denken bereits im Kapitel 6.10 über Helmholtz herausgestellt, wurden sie im gesamten Kapitel 6 über die experimentelle Psychologie und die materialistische Psychiatrie – kulminierend in Flechsigs kulinarisch-objektivem Präparat Frisches Hirn – verfolgt, so soll nun Freuds in genau diesem Kontext sprechende frühe Angsttheorie in den Brennpunkt gerückt werden. Aber auch danach wird sich, wie es die Ananké einer Psychoanalyse, die sich von den gut gemeinten Lügen der Psychologie auf der Abstand hält, sagt16, vermutlich nichts Abschlussreiches ausgesprochen haben und von x zu y, oder was man so nennt, übergehen. Es wird sich verfangen in Wiederholungen, Fragen, Überreiztheiten, eine embarrass de richesse der Aporien, aber diesmal werden sie mit einer Parade konkreter Stellen aus Freuds Werk illustriert und so immerhin dem Anspruch wissenschaftlicher Nachprüfbarkeit standhalten. Abschließen wird dies Kapitel mit einem summarischen Überblick über das Gesamt der Freud’schen Angsttheorie. Auf welche Weise, in welchem Diskurs, aus welcher Perspektive beschreibt Freud das Phänomen und die Symptome der Angst in der frühen Abhandlung Über die Berechtigung von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomkomplex als „Angstneurose“ abzutrennen? Er nähert sich ihnen aus dem Blickwinkel des Arztes, des im Psycho-Laboratorium versierten Neurologen, er sucht eine physiologische und medizinisch-körperliche Beschreibung und Fundierung der Angst. Er situiert die Angstneurose nicht vorschnell in einem psychologischen Register, sondern beschreibt sie in phänomenaler Rückbindung an physische Störungen: Die Angstneurose manifestiert sich zum Beispiel als eine „Gehörshyperästhesie, eine Überempfindlichkeit gegen Geräusche“, zugleich häufig „Ursache der Schlaflosigkeit“17. Ähnlich erläutert er die für die Angstneurose typische „ängstliche Erwartung“ anhand eines Beispiels, das durch eine organische Krankheit, eine Lungenkrankheit orientiert wird: „Eine Frau z.B., die an ängstlicher Erwartung leidet, denkt bei jedem Hustenstoße ihres katharrhisch infizierten Mannes an Influenzapneumonie und sieht im Geiste einen Leichenzug vorüberziehen.“18 In nuce, was die von Freud beobachteten Angstneurotiker ängstlich erwarten, fällt nicht ins Problemspektrum der modernen Psychologie – Formatund Firmenbankrott, Mobbing, Affärenmanagements oder Verlust von Lebensabschnittspartnern –, vielmehr geht es um physiologisch formulierbare 16 Vgl. Gondek 2001: 154 zur Psychoanalyse: „In ihr geht es nicht etwa darum,

verlorengegangenen Sinn wiederzugewinnen und die auftauchenden Signifikanten mit Bedeutungen auszustatten. Der Weg der Analyse führt vielmehr von Signifikant zu Signifikant, und diese neu gewonnenen Signifikanten werden, sofern es überhaupt Sinn hat, hier von einer Steigerung zu sprechen, immer „bedeutungsleerer“. Denn am Ende der Analyse – unterstellt, man käme soweit – steht nicht die Fülle einer vergessenen oder verdrängten Bedeutung, sondern die Konfrontation mit dem „Trauma“ als einer „verfehlten Begegnung“, die von da an zu einem ständigen Ausweichen führt.“ 17 Freud 1999: I 317. 18 Freud 1999: I 318.

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Katastrophen. Ein Freud’scher Angstpatient macht nicht die banale Suspension von „Ich ruf dich an ...“ zum Thema, sondern „klagt über „Herzkrampf“, „Atemnot“, „Schweißausbrüche“, „Heißhunger“ u dgl.“19. Beim Patienten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, zur Epoche der materialistischen Psychiatrie, überträgt sich Angst in Form von körperlichen oder physiologischen Zuständen. Die Angst ist für den im Labor praktizierenden Mediziner Freud zunächst kein psychologisches, geschweige denn ein soziales Phänomen, sondern ein Affekt, der sich auf endokrinologische, kardiologische, gastrologische oder allgemein neurologische Termini bringen lässt. An dieser Stelle können die Epochen und Zäsuren im medizinischen und institutionellen Diskurs über den Körper und insbesondere den anomalischen, kranken Körper nicht genauer fokussiert werden20; auch die unterschiedlichen – substantiellen oder funktionalen – Betrachtungsweisen, denen Schwächezustände von Drüsen, Herzen, Mägen und Nerven im Verlauf der Geschichte unterzogen worden sind, müssen hier ausgeklammert werden. Was jedoch im Hinblick auf die im Psycholabor inspizierten physiologischen Funktionen noch einmal betont werden muss, ist, dass im Dispositiv der Experimentalphysiologie eine Heidegger’sche Phänomenologie der Dysfunktion21 operiert, die sich, wie im 6. Kapitel dargelegt, in Freuds Konzeption des psychischen Apparates niederschlägt. Und ebenso – und damit zusammenhängend – soll an diesem Punkt der Riss ins Licht gestellt werden, der das klassische Sein, die traditionelle Ontologie, lazeriert: Das ewig und unveränderlich in sich ruhende und mit sich identische Sein ist durch eine Spaltung in eine Unruhe versetzt worden, die daher rührt, dass es als in dieser Weise gespaltenes Sein zwei Zu19 Freud 1999: I 319. 20 Vgl. zu diesem Punkt Vogl 2002: 237ff; vgl. auch Macho 2003 und Macho

1987a; Foucault 2004. 21 Damit ein Ding als ein vorhandenes in den Erfahrungsbereich vorstößt, muss es

seinem Zeugzusammenhang, seiner Zuhandenheit in der Welt (diese Zuhandenheit ist der Vorhandenheit ontologisch vorgängig) entrissen werden. Wenn „die Weltlichkeit des Innerweltlichen zum Vorschein kommen” soll, muss die Welt zunächst dysfunktionalisiert werden. „Das nächstzuhandene Seiende kann im Besorgen als unverwendbar, als nicht zugerichtet für seine bestimmte Verwendung angetroffen werden. Werkzeug stellt sich als beschädigt heraus, das Material als ungeeignet.” Meldet sich die Welt, dann grundsätzlich nur in Form einer Fehlermeldung, sie wird aufdringlich, die Dinge werden erst unzuhanden, um dann die Deformation bzw. die Verhüllung zu monströsen Vorhandenheiten zu durchlaufen. So kommt Heidegger zu folgender Abstufung: Zuhandenheit – Vorhandenheit (noch immer gebunden in der Zuhandenheit, emergierend als Stockung der Zuhandenheit) – isoliertes Ding, korrelativ zu den drei Modi der Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit. „Die Modi der Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit haben die Funktion, am Zuhandenen den Charakter der Vorhandenheit zum Vorschein zu bringen. Dabei wird aber das Zuhandene noch nicht lediglich als Vorhandenes betrachtet und begafft, die sich kundgebende Vorhandenheit ist noch gebunden in der Zuhandenheit des Zeugs. Dieses verhüllt sich noch nicht zu bloßen Dingen. Das Zeug wird zu „Zeug“ im Sinne dessen, was man abstoßen möchte; in solcher Abstoßtendenz aber zeigt sich das Zuhandene als immer noch Zuhandenes in seiner unentwegten Vorhandenheit.” Um den Tatbestand der Welt phänomenologisch zu ermitteln, braucht es gerade keine Vorhandenheit, sondern im ganzen Gegenteil ein Fehlen oder einen Defekt an einer bestimmten Stelle des Verweisungszusammenhangs, denn: Vorhandenheit resultiert aus dem Nicht-Vorhandensein der Zuhandenheit. Vgl. Heidegger 1953: 73f.

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stände annehmen kann. Es ist diskretisiert und operationalisiert worden. Die Symptome, die Freud als typische Äußerungen der Angstneurose beschreibt, zeichnen sich zu großen Teilen durch ihren operativen, ihren temporalen, ihren rhythmischen bzw. arhythmischen Aspekt aus. Es sind die Symptome der neuen Zeit, es geht in den meisten Fällen weniger um essentialisierbare und vorstellbare Krankheitsbilder, sondern um Takt- und Frequenzereignisse – Tachykardien, Spasmen, Konvulsionen, Paralysen, Atemstörungen, Schwindelzustände. Eine kurze Zwischenbilanz – Repetition der Ergebnisse des 5. Kapitels –, die die Konnexion zwischen der neuen Zeit, den wechselstrombasierten Laboratoriumsapparaten und den menschlichen Körpern betrifft und die für die Genealogie des Unbewussten als ein mediales Reales konstitutiv ist. Wie diese Repetition angehen, wie sie flankieren, sie in festgefügten Schranken halten? Wie, wo, wann anfangen und aufhören mit der Wiederholung? Wie, wo, wann den Einstieg finden in diese Zirkulation von Wiederholungen, in die Spirale, die Schwindel erzeugt und das Bewusstsein verlieren macht? Was erzeugt den Schwindel, was unterminiert das Bewusstsein? Die Antwort muss, nach all dem, nach Faraday, Ruhmkorff, Wundt und Helmholtz, lauten: Es ist die neue Zeit. Diese neue diskrete Zeit unterscheidet sich, um in der Wiederholung eine kleine neue Facette in den Brennpunkt zu rücken, die im Zuge der Abgrenzung der alten von der neuen Zeit22 noch nicht mit der ihr gebührenden Intensität berücksichtigt wurde, in folgender Weise. Die alte Zeit ließ sich im philosophischen Diskurs durch entsprechend logozentrische Denkverfahren und im physikalischen Diskurs durch entsprechende Messpraktiken von der alten Astronomie bis hin zu Huygens Pendel objektivieren und damit sauber von der res cogitans trennen. Im Gegensatz dazu ist die neue Zeit implementiert, sie setzt, als eine conditio sine qua non, den Begriff eines technischen Mediums, einer im medialen Realen laufenden Prozedur voraus.23 Die mit dem Denken der Zeit verbundene Aporie – die Tatsache, dass die Frage nach der Zeit selbst in die Zeit fällt, dass sie, mit anderen Worten, das nach der Zeit fragende Bewusstsein unterläuft – ist ganz sicher nicht neu, sondern hat von Zenon über Aristoteles und Augustinus bis Kant die unterschiedlichsten Philosophen bewegt.24 Radikal und einbruchshaft neu aber ist, dass diese Aporie mit der Emergenz der neuen elektrischen, zeitbasierten Medien erstmalig im Realen implementiert ist: im Realen der Stromdrähte so wie im Realen der mit diesen Drähten verkabelten Körper. Und genau dies ruft zusammen mit dem irreduziblen Entzug jeder reflexiven Wiederaneignung der Aporie, die der alten Zeit-Philosophie noch gegeben war, den Schock hervor, den Schock, das Begehren, die Euphorie und die Ohnmacht, die sich auf den unterschiedlichsten, von dieser neuen Zeit formatierten und buchstäblich operationalisierten Künsten und Wissenschaften – die Wechselstromphysik, die Medizin, die Ästhetik des surrealistischen und expressionistischen Films – einstellen. Es, etwas, ein Begehren, brennendes Sein, beginnt auf dem Feld der Physik mit Ampère’schen Molekularströmen, Faradays Induktionsspule, Pixiis Funkeninduktor, Ritchies Kommutator, Saxtons und Pages Wechselstromgeneratoren, Henrys Self-acting Electromotive Engine 22 Vgl. Kap. 5.13. 23 Vgl. Hagen 1998 und Hagen 2004. 24 Vgl. Fraser 1988.

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und invadiert dann in Form des Ruhmkorffs die Medizin, eröffnet die Ära der Psycho-Laboratorien, in denen die Körper an die Medien angeschlossen wurden. Es entzünden sich Traumata, Tremolos, Phobien, Paranoien und Diskontinuitäten. Und Freud erblickt und summiert die Symptome der Angstneurose: „Ich füge hier nur die Liste der mir bekannten Formen des Angstanfalles an: a) Mit Störungen der Herztätigkeit, Herzklopfen, mit kurzer Arrythmie, mit länger anhaltender Tachykardie bis zu schweren Schwächezuständen des Herzens, deren Unterscheidung von organischer Herzaffektion nicht immer leicht ist; Pseudoangina pectoris, ein diagnostisch heikles Gebiet! b) mit Störungen der Atmung, mehrere Formen von nervöser Dyspnoe, asthmaartigem Anfalle u. dgl. Ich hebe hervor, daß selbst diese Anfälle nicht immer von kenntlicher Angst begleitet sind. c) Anfälle von Schweißausbrüchen, oft nächtlich. d) Anfälle von Zittern und Schütteln, die nur zu leicht mit hysterischen verwechselt werden. e) Anfälle von Heißhunger, oft mit Schwindel verbunden. f) Anfallsweise auftretende Diarrhöen. g) Anfälle von lokomotorischem Schwindel. h) Anfälle von sogenannten Kongestionen, so ziemlich alles, was man vasomotorische Neurasthenie genannt hat. i) Anfälle von Parästhesien [...].“25

Es stellt sich die Frage, ob ein Mediziner, der jenseits der Schwelle des um 1850 beginnenden Experimentaldispositivs praktizierte, überhaupt in der Lage gewesen wäre, diese Menagerie durchgehend physiologischer Symptome mit dem Affekt der Angst zu verkoppeln und unter dem Kranheitssyndrom der Angstneurose zu klassifizieren. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Gefühle und Affekte, seien sie positiver oder negativer Art, Ekstase oder Angst, in einem unkörperlichen Bereich des Seelischen oder Geistigen, der Innerlichkeit, des Charakters, des menschlichen Wesens verortet.26 Das ändert sich radikal mit dem Auftauchen neuer Techniken, Medien und Epistemologien in der Naturwissenschaft ab 1850. War die Seele bis dato ein zwischen Metaphysik und romantischer Poesie levitierendes Phantom, so werden ab 1850 die Tatsachen der Seele, der Psyche, der Affekte physikalisch messbar, experimentell-physiologisch nachweisbar, zeitlich rhythmisierbar, traumatisierbar, tetanisierbar. Es stellt sich, um es zu wiederholen, die Frage, ob jene physiologisch und nicht geistrein konstituierten Affekte von Angst, die die Psychiater und insbesondere Freud registrieren, ohne die psycho-physiologischen Signaturen und Medien des Wechselstromzeitalters überhaupt zur Übertragung gelangt worden wären. Wäre eine Angst, die sich als anhaltende Tachykardie, Pseudoangina pectoris, nervöse Dyspnoe, asthmaartiger Anfall, schwindelkontrapunktierter Heißhunger, Diarrhöe, lokomotorischer Schwindel und Anfall von Parästhesie signalisiert, überhaupt denkbar gewesen ohne Ludwigs Kymographion, Bernards Zerstörung und Intoxikation der Nerven zu Forschungszwecken und Bleulers Theorie der Schaltungen und Gelegenheitsapparate, ohne Wundts mentale Chronometrie, seine Komplikations25 Freud 1999: I 319f. 26 Vgl. Kochinka 2004.

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Uhren und Tachistoskope, und Flechsigs Lobotomie, nicht zuletzt ohne Du Bois-Reymonds Stromschneider und Schlitteninduktorium sowie Helmholtz’ Galvanometer und Myographien? Ist diese physiologische Angst – und diese Frage ist keine Wiederholung, sondern geht einen Schritt weiter –, die erst mit dem Equipment des Psycholaboratoriums denkbar, vorstellbar, objektivierbar wird, womöglich simultan und im selben Zug durch jene induziert worden? Die Fragen sind hier nur rhetorisch, und die These lautet, dass sich die Korpsifizierung, also die Operationalisierung, Verzeitlichung und Verängstigung menschlicher Körper, erst durch eine Verkopplung mit den entsprechenden, die neue Zeit implementierenden Medien vollziehen konnte. Das Arsenal der psychotechnischen Laboratorien lässt sich, wenngleich in einer über die Jahrhunderte sublimierten und verfeinerten Form, in jeder internistischen Arztpraxis wiederfinden – in Form all jener Instrumente zur Aufzeichnung von Hirnströmen (EEG), Herzschlagfrequenzen (EKG), Pulsmessern, Blutdruckmessern, Lungenfunktionstestgeräten, Doppler-Sonographen etc. Dennoch besteht ein maßgeblicher Unterschied hinsichtlich der Motivation des Internisten und der Triebfeder eines Physiologen oder Psychotechnikers um 1900. Der internistische oder praktische Arzt trägt Sorge um die Gesundheit seines Patienten, oder, um es weniger unanim mit Foucault zu sagen, er funktioniert als Kontrollagent innerhalb eines biopolizeilichen Machtsystems.27 Bernard, Ludwig, Wundt, Bleuler, Flechsig, Du BoisReymond und Helmholtz dagegen ging es weniger um Heilung und Sanierung, als vielmehr um Exploration und Kartographierung des menschlichen Körpers und des Zentralnervensystems. Es ging, kurz gesagt, um Experimente, und aus diesem Grund wurden die entsprechenden Geräte nicht einfach und harmlos nur zur Messung von Herzströmen und Nervenlaufzeiten eingesetzt, sondern ebenso zur Induktion von Störungen und Arrhythmisierungen derselben. Darin manifestiert sich ein höchst realer Anlass zur Angst, vergegenwärtigt man sich, dass in den Experimenten der Physiologen eben nicht nur Frösche durch pharmakologische oder elektrische Mittel in künstliche Tremolos und Spasmen versetzt wurden, sondern dass vielmehr auch menschliche Subjekte tetanisiert, intoxiniert, deformiert wurden. Standen beispielsweise Lungentätigkeit und Herzschlag auf der Liste der zu testenden Funktionen, so dienten die Tests nicht zuletzt auch dazu, die Schwelle zum Pathologischen zu überschreiten, um physiologische Kapazitäten sowie deren Grenzen experimentell zu erforschen. All jene Tachykardien, Extrasystolen, Kammerflimmern, Dyspnoen, Dystonien und Zittermelodramen, in denen Freud die Anzeichen einer Angstneurose erkannte, wurden in den Laboratorien künstlich erzeugt – eine Vorstellung, ein Ereignis, ein Anfall von Experimentiersucht, der das Subjekt wahrhaft beängstigen kann. Angesichts all dieser Experimente, dieser Ereignisse, dieses Halali zum Tetanus, nicht zuletzt angesichts der Geräte, die um 1900 noch Ausmaße à la Daniel Düsentrieb erreichten, ruhten die entsprechenden Versuchspersonen nicht mehr voller Gelassenheit und Vertrauen in und für sich, sondern reagierten in lagerechten Formen: Trauma, Tremolo, Phobie, Paranoia, Diskontinuität – und Angst. Es muss zugestanden werden, dass diese Passagen Gefahr laufen, den Interpretationsrahmen von Freuds Text über die Angstneurose zu überschreiten und die vorliegende Untersuchung zu überreizen. Dagegen soll jedoch 27 Vgl. Foucault 1976, Foucault 1979 und Foucault 1991a.

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versichert werden, dass die hier hergestellte Verknüpfung der von Freud beschriebenen Erkrankungen mit dem sich zeitgleich mit ihnen etablierenden medialen Feld Freuds Aufsatz nicht deutungsmäßig imperialisieren will. Es geht lediglich um die Möglichkeit einer Lektüre des genannten Textes auf seine medienapriorischen Bedingungen hin, also um die Eröffnung einer neuen oder anderen Perspektive, aus der sich Freuds Beschreibung der Symptomatologie der Angst medientheoretisch dechiffrieren lässt. Die von Freud enumerierten Symptome, so die medienarchäologisch orientierte Alternative einer Deutung, die diese Lektüre anbieten will, scheinen ihr reales Äquivalent in den entsprechenden Experimentiergeräten der Psychotechnik zu haben. Die Angst, die Freud in diesem frühen, noch neurophysiologisch determinierten Text beschreibt und diagnostiziert, ist nicht zuletzt eine von seinen überaktiven psychotechnischen Kollegen im Labor höchst real und konkret provozierte Angst. Um nun das von Freud unter Punkt 6 genannte Indiz zu fokussieren, das Freud zu einem der Hauptsymptome der Angst erhebt: „Eine hervorragende Stellung in der Symptomengruppe der Angstneurose nimmt der „Schwindel“ ein, der in seinen leichtesten Formen besser als „Taumel“ zu bezeichnen ist, in schwerer Ausbildung als „Schwindelanfall“ mit oder ohne Angst zu den folgenschwersten Symptomen der Neurose gehört.“28 Ein Kreis schließt sich, ein Stromkreis, der Kreis des Kernstücks aller Laborapparate und Messgeräte, der Kreis des Ruhmkorff’schen Funkeninduktors. Was war noch einmal ein Ruhmkorff’scher Funkeninduktor? Ein Gerät, das Schwindel erzeugt und operationalisiert. Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten: was ist ein Ruhmkorff’scher Funkeninduktor? Ein Ruhmkorff, allgemeiner: ein Wechselstromgenerator bildet das gemeinsame mediale Apriori der reellen Mathematik, der Elektrizitätsphysik, der Kinematographie (Prinzip Stroboskop), der experimentellen Psychologie und der materialistischen Psychiatrie.29 Ein Wechselstromgenerator ist symptomatisch geprägt durch den Wiederholungszwang, durch die operationalisierte Reproduktion von Off und On, Fort und Da, Ur und Sache. Im und mit dem Wechselstromgenerator werden die klassischen Medien der Repräsentation suspendiert durch Signalmedien, durch ein durch Diskontinuität und Repetition artikuliertes Dispositiv der Oszillation30 – eine schwindelerregende Angst und Jaktation überfällt alle Bereiche der Wirklichkeit. In den Psycholaboratorien werden diese in martialischem Vertigo eskalierenden Skansionen, wird das Ge-stell des Wechselstroms in Form des Ruhmkorffs implementiert – korpsifiziert. Freud konstatiert: Ein „Höhenschwindel, Berg- und Abgrundschwindel [findet sich] bei der Angstneurose häufig“. Er spezifiziert den „lokomotorischen oder koordinatorischen Schwindel“: Dieser „besteht in einem spezifischen Mißbehagen, begleitet von den Empfindungen, daß der Boden wogt, die Beine versinken, daß es unmöglich ist, sich weiter aufrecht zu halten, und dabei sind die Beine bleischwer, zittern oder knicken ein. Zum Hinstürzen führt dieser Schwindel nie“31. Kein Hirnstürzen, kein arrêt, kein Todesfall und kein Estinto in ein Koma, das Erlösung brächte – keine Abbruchbedin28 Freud 1999: I 321. 29 Vgl. Kap. 5. Vgl. auch Hagen 1998; Hagen 1999; Hagen 2001 und Hagen 2005:

1-41. 30 Vgl. Siegert 2003: 305-356. 31 Freud 1999: I 321.

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gung: Ein elektrisches Feld induziert durch sein Zusammenbrechen ein magnetisches Feld, und dieses ruft durch sein Zusammenbrechen ein elektrisches Feld auf, usf. Ob es nun Bernard war, der ein Nervengift injiziert, oder Du Bois-Reymond, der das Subjekt an den Stromschneider anschließt, der Schwindel hört nie mehr auf, zum Hinstürzen kommt es nie. Und die Angst, die in diesem Schwindel bis zur Erstickung schreit, lässt sich nicht mehr als Signifikat, als Präsenz in einem fürsichseienden cartesischen Bewusstsein erfahren. Schwindel, Angst, es ist nicht, sondern prozessiert ad infinitum. Ein gleichförmiger Katarakt von Schwindelmomenten, eine wie ein unsterbliches Notgerät Angstlaute fiepende Serie wird in Gang gesetzt, die jeweils als diskreter Wechsel zwischen Sein und Nicht-Sein, An und Aus, seiend ist, ohne dass dieses Sein noch zum Bewusstsein kommen könnte. Der idealistische Wille des Bewusstseins entartet zum unbewussten manischen Willen des Wechselstroms, und die Freiheit des Willens ist weder bedingt durch Gottes unerforschliche Allmacht noch durch ein cartesisches Cogito oder ein Kant’sches Ich denke, sondern durch die Frequenzbandbreite der Nerven. Der Mensch des 19. Jahrhunderts ist nicht mehr Subjekt einer repräsentativischen oder logozentrischen episteme, sondern Subjekt von Signalübertragungen. Und die experimentell hervorgerufenen Zuckungen, Synkopen, Triller und Paroxysmen sind so seriell, so diskret, so funkenschnell, dass für Selbstbeobachtung und Selbstreflexion buchstäblich keine Zeit mehr bleibt. Die Wahrnehmungen, die Gedanken, die Dinge der Welt sind nicht mehr göttlich-cartesisch verankert wie im Zeitalter der Repräsentation, sie verschwimmen vielmehr in rasender, panischer Fahrt, verlieren sich in Schwindel, Dissoziation und Bodenlosigkeit. Damit die unendliche ImpulsSerie des Wechselstroms, damit ein Unbewusstes, eine Angstneurose operationalisiert werden kann, braucht es jedoch einen ersten Stoß, einen ersten Funken, einen ersten Stromschlag – der Ruhmkorff wird angeworfen, das Subjekt wird geworfen, es wird geklüftet und traumatisiert. Pavor nocturnus, großer Angstanfall.

7.3 Angst, Aporie oder Verkennung – Reaktionen aufs Reale Abgesehen davon, dass die Akte des Unbewussten sich nicht aus einer ideengeschichtlich-psychologischen Perspektive aufschließen, dokumentiert sich in dem hier besprochenen Text zu Neurasthenie und Angstneurose, dass der Körper sich bei der Konzeption des Unbewussten nicht eliminieren, gerade beim Eintritt ins Laboratorium nicht umgehen lässt. Nicht nur in diesem, in fast allen anderen Texten Freuds sowie in der Theorie Lacans, man denke nur an die Partialtriebe, spielt die reale mediale Existenz, mit der die symbolische Botschaft unauflöslich verschweißt ist, spielt der Körper eine entscheidende Rolle. Aber es ist nicht länger jener Körper, den die Wissenschaften im 17. und 18. Jahrhundert untersucht, repräsentiert und objektiviert haben, es ist ein Körper, der sich ineins mit der Einschreibung der neuen Zeit, mit der Deformation, der Zerstückelung, der Mediatisierung der reflektierenden Aneignung entzogen hat.32 Zur selben Zeit, in dem die Seele – wie in den Kapiteln über 32 Vgl. hierzu auch die in Kap. 6.2. dargelegte Differenzierung zwischen dem rea-

len und dem imaginären Körper.

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Wundt, Bleuler und Flechsig ausgeführt – in den Nervenbahnen und Nervensträngen des ZNS lokalisiert wurde, in der die Aufdeckung und Entschlüsselung einzelner Nervenfunktionen zur Ablösung des alten und beseelten Körperbildes führen, tut sich ein Riss auf, oder, um es mit einer dem Unbewussten angemesseneren Formulierung zu sagen, es emergiert ein Riss im Realen. Es wurde bereits erwähnt, dass dieser Riss, diese aus dem Verlust der Anschaulichkeit und Repräsentierbarkeit resultierende Bodenlosigkeit, nicht allein das experimentalphysiologische Dispositiv befällt, sondern ebenso die an dieses angrenzenden und mit ihm interferierenden wissenschaftlichen Felder: Die Mathematik des Reellen (die um 1900 konsequenterweise ihre Grundlagenkrise erleidet33), die Physik vom Wechselstrom bis zur beginnenden Quantentheorie, die ersten medientheoretischen und zu großen Teilen okkultistisch unterspülten Überlegungen zur Telegrafie, zum Radio und zur Fotografie.34 Ein mediales Reales, ein Unbewusstes okkupiert den Bereich dessen, was bis dahin als Natur, bildhaft, artig, pittoresk, verkannt worden war, und fürsichseiende Subjekte und Objekte verbluten anfallsartig, zuckend, oszillatorisch im Unvorstellbaren, Unverfügbaren, Uneinholbaren. Ein Trauma wird ausgelöst, auch ein Schwanken zwischen Fanal und Weltuntergangsprophezeiung, in jedem Fall furchterregend, korybantisch, unkontrollierbar. Angst befällt die Wissenschaften und Künste der Jahrhundertwende. Und dennoch muss, ohne Einzelfälle hier durchleuchten zu wollen, zugestanden werden, dass nicht durchgehend alle Wechselstromphysiker, Radioingenieure, Formalisten, Analysisprofessoren, Peanoforscher, Atomuhrmacher, Kompositionsalgebraiker, Axiomatiker, Logarithmenspezialisten und Polynomfachmänner unter Tachykardien, Pseudoangina pectoris, nervöser Dyspnoe, asthmaartigen Anfällen, schwindelkontrapunktiertem Heißhunger, Diarrhöe, lokomotorischem Schwindel oder Parästhesien litten. Ein Subjekt vermag ein ganzes Register von Maßnahmen zu mobilisieren, die die Angst sedieren, Freud selbst hat die Mechanismen der Abwehr, der Verdrängung, nicht zuletzt der Sublimierung beschrieben.35 Solche Verdrängungen und andere angstabwehrende Leistungen kamen auch in den genannten wissenschaftlichen Diskursen – Mathematik, Physik, Biologie und materialisti33 Vgl. Mehrtens 1990: 289-298; vgl. auch Krämer 1988: 138-154. 34 Hagen hat dargelegt, dass das Radio insbesondere in Deutschland die „spiritisti-

schen und okkulten“ Modelle, aus denen es hervorgegangen war, nicht abschütteln konnte, weil es sich durch seine politische Verengung auf ein nationalsozialistisches – und damit auch okkultes – „Kulturinstrument“ eben nicht als Massenmedium etablieren konnte und durfte. Vgl. Hagen 2005: 137. Vgl. auch Hagen 2001: 57-98 und Hagen 1999; vgl. auch Macho 2004a. 35 Von den zahllosen Stellen, an denen Freud sich der für das Unbewusste konstitutiven Verdrängung widmet, sei hier nur verwiesen auf: Freud 1999: I 389 und 525, II/III 588 und 605-610, X 160-164 und 279-285, XI 304 und 355f, XIII 222. Zur Sublimierung vgl. XI 358: „Unter diesen gegen die Erkrankung durch Entbehrung schützenden Prozessen hat einer eine besondere kulturelle Bedeutung gewonnen. Er besteht darin, daß die Sexualbestrebung ihr auf Partiallust oder Fortpflanzungslust gerichtetes Ziel aufgibt und ein anderes annimmt, welches genetisch mit dem aufgegebenen zusammenhängt, aber selbst nicht mehr sexuell, sondern sozial genannt werden muß. Wir heissen den Prozeß „Sublimierung“, wobei wir uns der allgemeinen Schätzung fügen, welche soziale Ziele höher stellt als die im Grunde selbstsüchtigen sexuellen. Die Sublimierung ist übrigens nur ein Spezialfall der Anlehnung von Sexualstrebungen an andere nicht sexuelle.“ Vgl. auch Freud 1999: XIII 231ff.

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sche Psychiatrie – zum Einsatz, und es ist diesmal keine rhetorische Frage, es dahingestellt sein zu lassen, ob die Wissenschaften um 1900 das Reale andernfalls überhaupt schad- und wahnsinnslos überlebt hätten. Dies unter Berücksichtung der Konsequenzen, die nach Freud unausweichlich mit einer Kollision mit dem Realen verbunden sind: „Ein solcher Angstanfall besteht entweder einzig aus dem Angstgefühle ohne jede assoziierte Vorstellung oder mit der naheliegenden Deutung der Lebensvernichtung, des „Schlagtreffens“ [Apoplexie, Schlaganfall], des drohenden Wahnsinns, oder aber dem Angstgefühle ist irgendwelche Parästhesie beigemengt [...], oder endlich mit der Angstempfindung ist eine Störung irgend einer oder mehrerer Körperfunktionen, der Atmung, Herztätigkeit, der vasomotorischen Innervation, der Drüsentätigkeit verbunden.“36

Wie überleben, wie nicht vor Angst dissoziieren, wenn die Ontologie sich zum Sterben legt, um zu resurgieren als eine unheimlich gestaltlose, unberührbare und unvordenkliche Operation?! Wie nicht vor Angst umkommen, wenn das klassische Objekt, zuvor sicheres, solides, tatsächlich existierendes Element der Wirklichkeit, das Vertrauen missbraucht und mutiert zum AngstObjekt schlechthin, zu einem Realen, das ohne Gewissen, Gott und Ursprung ist, dessen Ursprung vielmehr eine kontingente Operation darstellt – das Sein, aber mit Heidegger nicht als ein Vorhandenes, sondern als ein Verzeitlichtes und ein Operationalisiertes?! Wie nicht zerrissen werden von dieser abgründigen Angst, wie nicht Schwächezuständen des Herzens, nächtlichen Schweißausbrüchen und Aneurie erliegen ohne respektive Verkennungen, Verdrängungen und Abwehrmaßnahmen des „pavor nocturnis“37?! Die Biologie bannt diesen pavor nocturnis, indem sie den Zusammenbruch der klassischen Repräsentation durch ein neues Ordnungsprinzip der Organisation und einen neuen Begriff des Lebens kompensiert.38 Die Mathematik wehrt die durch Eruption reeller Zahlen, Monsterfunktionen und nichteuklidische Dimensionen ausbrechende Angst durch Maßnahmen der Formalisierung und Axiomatisierung ab.39 Und die Unsichtbarkeit und Unvorstellbarkeit elektromagnetischer Resonanzen und Übertragungsvorgänge führt nicht zur Schreck-Lähmung, sondern macht eher eine spielerische, aber nicht unernste Funktion von der Angst – sie ruft in der Physik wie in der Medientheorie spiritische Strömungen40 und dann neue imaginäre Bildpraktiken hervor.41 Auf diese Weise beherrscht eine Dialektik von Angst und Angstabwehr die Wissenschaften um 1900, und, das ist signifikant, Abwehr, Verkennung und Verdrängung dieser Angst funktionieren nicht zuletzt in dem Bereich dieser Wissenschaften besonders komplikationslos, in dem Angst und andere neurophysiologische Affekte und Störungen zu Forschungsobjekten gemacht werden: in der experimentellen Psychologie und der materialistischen Psychiatrie. So wie die strukturalistisch übertrainierte (De-)Formation der Psychoanalyse über der symbolischen Form das reale Sein, das diese prozessiert, vergisst, so blendet der Materialismus die Korpsifizierung, die Aktivität einer 36 37 38 39 40 41

Freud 1999: I 319. Freud 1999: I 320. Vgl. hierzu Foucault 1974: 281ff. Vgl. hierzu Heintz 1993: 16-30 und 45-61; vgl. auch Meschkowski 1966: 153f. Vgl. Hagen 1999 und Macho 2004a. Vgl. Macho 2002a.

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Botschaft im Realen oder kurz: das unbewusste Subjekt zugunsten eines Körpers aus, der sich nicht mehr durch die Unmittelbarkeit der Vorstellung, aber doch durch zeitliche Messung, funktionale Registratur oder experimentelle Reproduktion physiologischer Mechanismen zum Objekt machen lässt. Claude Bernard, Carl Ludwig, Wilhelm Wundt, Eugen Bleuler, Paul Emil Flechsig, Emil Du Bois-Reymond und Hermann von Helmholtz – sie hatten zumindest scheinbar keine Angst vor den von ihnen explorierten Objekten, sie entwickelten nicht, zumindest nicht in einem Grad von behandlungsfordernder Intensität, die Symptome einer Angstneurose. Bernard, Ludwig, Wundt, Bleuler, Flechsig, Du Bois-Reymond und Helmholtz hielten sich, was das Reale, das Subjektive, das Unheimliche und Angstauslösende ihres Objekts anging, in einer stabilen Enklave von Verkennung. Bernard, Ludwig, Wundt, Bleuler, Flechsig, Du Bois-Reymond und Helmholtz waren, von kleineren Alltagsneurosen abgesehen, frei von Symptomen jener Art, die in die Dimension eines roten Blinkens reichen und die das Berufsleben des Subjekts unmöglich machen oder zumindest stark erschweren.42 Bernard, Ludwig, Wundt, Bleuler, Flechsig, Du Bois-Reymond und Helmholtz führten neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit – glänzende Laufbahnen, in denen ihre Namen sich auf Ewigkeit und Unvergesslichkeit in die Geschichte der Experimentalpsychologie eintrugen – ein friedvolles Alltagsleben vom Frühstücksei über Sonntagsspaziergänge bis hin zum Logenplatz bei der Lustigen Witwe in der städtischen Oper. Im Laboratorium destruiert Bernard menschliche Körper, um epistemologisch und wissenschaftlich davon zu profitieren, und abends führt er Madame Bernard ins Le Canard und delektiert ein Mosaik von Lachs und Steinbutt. Ludwig testifiziert, wie der Körper die Druckschwankungen in Arterien und Brustfellhöhlungen mittels des Kymographions selbst aufzeichnet, dann gibt er seiner Sekretärin im kleinen Grauen für den Rest des Tages frei, später nimmt er eine Verabredung mit seinem Freund mit dem forschenden Händedruck wahr, über Wachtelei-Bällchen im Wurstmantel und MilchkalbCannelloni philosophieren sie über Gott, Leben, verbotene Früchte. Der Erfinder der mentalen Chronometrie, Wilhelm Wundt, untersucht die Takte von Perzeption, Apperzeption, Aufmerksamkeit, Reminiszenz und Assoziation, um am Ende dieses langen, langgetakteten Tages mit seiner Familie über einem Freilandschwein mit Kreuzkümmel und Lorbeerjus die Villeggiatur am Wörthersee zu planen. Bleuler verwendet bei der freundlich-respektvollen Anamnese seiner Wahnpatienten die neuesten Aufzeichnungstechniken zur analogen Speicherung visueller und akustischer Daten, und erst nachdem er gemeinsam mit den Kranken eine Schaumsuppe von roten Linsen und Rippchen mit Kraut gegessen hat, zieht er sich in seine Privaträume zurück und hört Arien von Purcell. Flechsig erstellt die cerebrale Landkarte und genießt danach frisches Hirn. Du Bois-Reymond entdeckt einen Wechselstrom, der nicht in von Magnetfeldern umgebenen Spulen, sondern in körperlichen Nervenfasern läuft, zwischendurch konsultiert er einen Seelsorger und dann einen Zahnarzt; die Gattin wird abends im Domaine de Châteauvieux mit Variationen von der Auster und Entrecôte auf Stockfischcreme verwöhnt. 42 Vgl. Freud 1999: XI 472: „Der Neurotiker ist genuß- und leistungsunfähig, das

erstere, weil seine Libido auf kein reales Objekt gerichtet ist, das letztere, weil er sehr viel von seiner sonstigen Energie aufwenden muß, um die Libido in der Verdrängung zu erhalten und sich ihres Ansturmes zu erwehren.“

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Helmholtz errichtet sich seine neukantianisch-evolutionistische Gefechtsstation, von der aus er Wissen über die Körper und deren zeitliche Wahrnehmungsfunktionen verbreitet, bis er schließlich – nach einigen Basteleien am Myographion – den Raum der ihn meritierenden Wissenschaft verlässt, sich in Geldanlageangelegenheiten mit einem Bankbeamten, unauffällig und pflichtbewusst, Typ Tresorschlüsselträger, verständigt und dann endlich und genüsslich den Tag zur Neige gehen lässt: Jakobsmuscheln auf Kürbisravioli, Piccata vom Seeteufel und Erdbeer-Buchteln. Gewiss wird auch Freud seinem „Prinzesschen“, Gattin Martha, an den wenigen freien Arbeitsabenden mit Konzertkarten seine Reverenz für ihre hausfräuliche Ergebenheit erwiesen haben. Sicher werden auch Freud und Fliess ihre „Kongresse“ genussfreundlich im Burghotel Hardenberg oder in der Zirbelstube beendet haben. Freud hat die Wiener Verkehrsmittel und die Kaffeehäuser um 1900 genutzt, er hat seine Kinder in Schulen geschickt, in denen latent anankastische Oberlehrer das Einmaleins lehrten. Freud hat die von ihm sehr wohl und bereits sehr früh erahnte Untrennbarkeit und Interaktion von Subjekt und Objekt keinesfalls zu jener Art von Implosion getrieben, die ihn selbst in eine komplett und exorbitant ausgebildete Angstneurose gestürzt hätte. Auch wenn er Zeit seines Lebens und insbesondere während des Briefwechsels mit Fliess über Störungen der Herztätigkeit, insbesondere Arrhythmie und Tachykardie klagte, desweiteren über Pseudoangina pectoris, Zitteranfälle, Migräne und vasomotorische Neurasthenie, so lässt sich seine Position doch eindeutig auf der Seite der Ärzte, der Laboratoriumsphysiologen ausmachen. Freud wechselte nicht etwa auf die Seite der Patienten, er litt nicht unter einer Angstneurose, so wie sie oben definiert wurde. Aber möglicherweise erfuhr er im Verlauf eines abendlichen Treffens der Laborkollegen in der Ente im Nassauer Hof an sich selbst jenes Phänomen, das er später in verschiedenenen Texten untersuchte. „Mitten im Zusammenhange eines Gespräches sieht man sich genötigt, seinem Partner zu bekennen, daß man einen Namen nicht finden kann, dessen man sich eben bedienen wollte.“43 Es besteht ein entscheidender Unterschied zwischen der radikal materialistischen Flanke der Psychiatrie und der Weise, wie Freud sich der Angst und all den die Epoche stigmatisierenden Traumata, Tremolos, Phobien, Paranoien und Diskontinuitäten nähert. Freud wechselte nicht auf die Seite der Patienten, wurde soeben gesagt, und in einem sachlichen und vordergründigen Sinne ist dies ganz sicher zutreffend. Auf eine andere und sublimere Weise verliert diese Feststellung ihren Grund, sofern eine dichotomische Trennung zwischen Arzt und Patient, Erfahrungssubjekt und Erfahrungsobjekt das Konstitutivum der Psychoanalyse Freuds verfehlt. Obwohl in seiner Erfahrung der Angst die umfassende Temporalisierung und Stroboskopierung des Zeitalters resoniert, obwohl sein Diskurs über die Angst unverkennbar an den gängigen psychophysischen Registern und Terminologien teilhat, verfährt Freud mit den Symptomen der Angst doch anders, umsichtiger, weniger selbstbewusst, als dies bei seinen materialistischen Kollegen der Fall gewesen wäre. Wie oben dargelegt macht der Materialismus das, was sich unmittelbar anschaulich nicht überprüfen lässt, was also kein Erfahrungsobjekt im klassischen Sinne mehr ist, durch eine an experimentelle Verfahren, technische Messungen und Induktionen anschließende Theoretisierung dennoch zum Objekt. Freud hingegen versagt 43 Freud 1999: I 519.

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sich dieser Affirmation und stellt sich stattdessen den Aporien und medialen Betriebsgeheimnissen, die die kontemporären Psychologen und Physiologen verkennen. Die Frage nach den medialen Betriebsgeheimnissen des Experimentaldispositivs, die sich in Freuds frühem Text über die Angst – und nicht etwa in Freuds bewusstem Wissen, es geht hier nicht um Ideengeschichte – verschlüsselt, wurde oben bereits ausgeführt. Die von Freud als Varianten des Angstanfalls aufgelisteten Symptome entsprechen den Apparaturen des Laboratoriums, mehr noch: sie beantworten jene. Die Angstneurose wird vom Ruhmkorff induziert. Sie wird von Instrumenten zur Aufzeichnung von Hirnströmen, Herzschlagfrequenzen, Pulsmessern, Blutdruckmessern und Lungenfunktionstestgeräten induziert. Es existiert ein Feedback zwischen dem Gerät, das das jeweilige Symptom der Angstneurose registriert, und der Angst selbst – und diese Rückkopplung, diese Skansion hat keine Ursache, sondern vielmehr eine Ur-sache, die das mediale Reale selbst ist. Damit lässt sich in Freuds früher Angsttheorie eine die Immanenz der Theorie und des Textes selbst überschreitende, anders formuliert: eine Freud selbst nicht bewusste Botschaft vernehmen. Über die Berechtigung von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomkomplex als „Angstneurose“ abzutrennen lässt sich als verschlüsselte Übertragung eines unbewussten Subjekts lesen, und was wird hier übertragen? Einfach die Botschaft der experimentalpsychologischen Wissenschaft. Wie imposant die Reihe der Abhandlungen sich auch präsentiert, die Bernard, Ludwig, Wundt, Bleuler, Flechsig, Du Bois-Reymond und Helmholtz als ruhmvolle Forscher und Entdecker glorifiziert, wieviele ihrer Marmorbüsten und Statuen auch immer die Universitätsgebäude mit hieratischem Geist bewohnen, dies entbindet, es sei denn, man verfährt ideengeschichtlich, nicht von der strengen Trennung zwischen einem durch den Namen Flechsig oder Helmholtz repräsentierten bewussten Wissen und dem Fortschreiten des unbewussten Subjekts der Wissenschaft. Die Psychoanalyse Freuds und Lacans untersucht gerade dieses unbewusste Subjekt der Wissenschaft, was eine medienarchäologisch fundierte Dialektisierung von Wissenschaft und Psychoanalyse voraussetzt, die automatisch eine Suspendierung der klassischen Trennung zwischen Erfahrungssubjekt und Erfahrungsobjekt impliziert.44 Eine sich diese Freud-Lacan’sche Prägung der Analyse als Basis und Methode setztende Genealogie des Unbewussten kann sich unmöglich als eine lineare Aufzählung der für die Ausbildung des Freud’schen-und-des-sprachstrukturierten-Unbewussten formativen bewussten Wissensträger von Bernard bis zu Saussure schreiben. Die Wissenschaftler von Bernard bis zu Saussure müssen vielmehr als Stationen innerhalb eines dialektischen Prozesses verstanden werden, als Träger und Kreuzungspunkte von Diskursen und Ereignissen, in und mit denen die Geschichte diskontinuierlich fortläuft. Dieses Subjekt des Unbewussten, das sich und ineins seine Geschichte schreibt und umschreibt, ist, so ein weiteres zentrales Argument dieses Buches, von den Konzeptionen des Mediums und des realen Körpers nicht zu trennen. Es ist ein mediatisiertes Subjekt, und das für das menschliche Unbewusste konstitutive reale Mediale ist der Körper.45

44 Vgl. Kap. 4.7, 4.15 und 4.16. 45 Vgl. Kap. 6.2.

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Die beiden Sätze – das Unbewusste ist untrennbar mit den Konzeptionen des Mediums und des Körpers junktimiert und: es handelt sich um ein mediatisiertes Subjekt – widersprechen einander nicht, sie formulieren mit unterschiedlichen Schärfegraden sogar ein und denselben Sachverhalt, und dennoch liegt zwischen ihnen ein historischer Bruch. Anders gesagt: ihre Kongruenz lässt sich – wie die Evidenz der Formel das-Freud’sche-und-dassprachstrukturierte-Unbewusste – erst nachträglich, erst aus der Zeit und dem Blickwinkel der Psychoanalyse Lacans (deren Nähe zur Medienarchäologie bereits erwiesen wurde) feststellen. Zwar hätte Helmholtz der Aussage, dass das Subjekt unauflöslich mit Medien bzw. Apparaten sowie Messtechniken und Körpern verbunden ist, zugestimmt, aber die Bestimmung des Unbewussten als eine im Sein laufende Botschaft, die die traditionelle Dichotomisierung von Subjekt und Objekt unterminiert, hätte in ihm wie in seinen Kollegen, je nach Temperament, Angst, Aporie oder Verkennung provoziert. Mit Hagen: zum Zeitpunkt der Emergenz eines Mediums – und im Blick auf die hier betrachtete Szene der Vernetzung der Körper mit dem Wechselstrom ist das emergierende Medium das operationalisierte Sein – existieren die über dieses Medium vorhandenen Kenntnisse noch nicht in der Form eines positiven Wissens oder einer wissenschaftlichen Wahrheit. Die Operationalität des Mediums, die Effekte, Ereignisse und epistemologischen Zäsuren, die es im wissenschaftlichen wie kulturellen Bereich hervorgerufen hat, lassen sich erst im Modus der Nachträglichkeit untersuchen und medienarchäologisch integrieren. Ein Medium, sei es die Telegrafie, sei es das Unbewusste, kann über Jahrzehnte hinweg mit diversen unergründbaren Schwächen und Imperfektionen funktionieren, ohne dass die jeweilige Disziplin dieses Funktionieren mit einer wissenschaftlichen Wahrheitsfunktion versehen könnte. Ein Etwas, ein es, ein mediales Reales, technisch oder körperlich, prozessiert in materieller und funktioneller Weise, kann jedoch mit den kontemporären wissenschaftlichen Diskursen nicht „erklärt“ werden. Dieses jeweilige es hat einen unmöglichen Ort inne – es ist ein blinder Fleck, ein Punkt des Unabsehbaren und radikal Unverfügbaren, der nur Angst, Aporie oder Verkennung hervorruft.46 Mit Hegel: die Differenzierung der Begriffe Körper und Korpsifizierung hatte sich um 1900 noch nicht vollzogen, es war noch nicht zu jener dialektischen Aufhebung gekommen, ausgelöst durch die Skansion der diskreten, elektrischen Medien, die das korpsifizierte Sein als jenes Medium reflektierte, das das Erfahrungssubjekt und das Erfahrungsobjekt (Körper) als unterschiedliche Momente eines elektrifizierten Prozesses rückkoppelte. Angst, Aporie, sogar Hellsichtigkeit bis zur Paragnosie waren mögliche Folgen, aber ein Großteil der materialistischen Psychiater nahm den einfachen Weg. Jenen Weg, der es erlaubte, nach dem Abschluss des wissenschaftlichen Arbeitstages in der zuckenden Flosse einer an der Gräte gebratenen Seezunge nur einen harmlosen Designfehler zu sehen, die seltsam drängende Blutung einer Blutente mit Gewürzkraut als Fehlalarm abzutun und Kaninchencannelloni mit Fontinaschaum zu genießen, ohne sich von Hasenaugen irritieren zu lassen. Sie ließen sich nicht in Verlegenheit bringen, sie ließen weder Angst noch Konsternation zu, sie nahmen den einfachsten durchschnittlichsten Weg: die Verkennung. Für Bernard bis Helmholtz ging die Bedeutung des Begriffs der Korpsifizierung in der Dimension des Körpers auf. 46 Vgl. Hagen 2004; vgl. auch Hagen 2005: 26-40 und 75-77.

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Anders Freud. Der junge Mediziner Freud war zwar in demselben Ambiente wissenschaftlich tätig wie seine physiologischen und materialistischen Kollegen, in einem Laboratorium, das Kymographen, Myographen, Tachistoskope, Stromschneider, Ruhmkorffs, einen ganzen chronometrischen Uhrenpark umfasste. Er führte zwar denselben wissenschaftlichen Diskurs, wenn er beispielsweise die physiologischen Manifestationen einer Angstneurose angibt oder wenn er, ein anderes Beispiel, spekuliert, „ob gewiße, der Übertragung dienende Hirnorgane sich bei den Kranken in einem besonderen chemischen Zustand befänden, etwa wie die Spinalzentren des Strychninfrosches, oder sich dem Einfluße höherer hemmender Zentren entzogen hätten, wie im vivisektorischen Tierexperiment“47. Und dennoch: anders Freud. In der Realität wie in der Metapher adaptierte er das Laboratorium, er war vom materialistischen Diskurs bestimmt, um sich dennoch niemals jener Windung, jener Gelenkstelle, jener Abbiegung im Denken seiner Zeitgenossen zu synchronisieren, in der das korpsifizierte unbewusste Subjekt zum Objekt Körper wird. Freud erhörte bereits in der Angstneurose das Wimmern des Seins, er reagierte mit Aporie, auf eine sublime Weise selbst mit Angst oder mit Hypochondrie – aber von Anfang an, noch lange bevor er sein psychoanalytisches Sprechzimmer mit der mit Springbockfell überzogenen Couch und dem Wandspiegel Medusa mit Strahlenkranz aus südafrikanischem Okumieholz bezog, war er vor der Verkennung auf der Hut. In der ganzen Kolonne physiologischer Störungen und Symptome, die die materialistischen Psychiater auf dysfunktionale Körperfunktionen und organische Defekte, kurzum: auf Objekte reduzieren wollten, flüsterte es ihm bereits eine Botschaft zu. Schon in dieser Phase war sich Freud darüber im Klaren, dass die von den kontemporären Psychiatern eingesetzten Verfahren zur Objektkonstitution nicht mehr hinreichend waren für eine Angst, die „recht unkenntlich als ein „Schlechtwerden“ oder „Unbehagen“ bezeichnet [wird]“, ohne dass mit diesem Unbehagen die „Angst oder Abscheu vor einem bestimmten Objekt“ verkoppelt ist48. Freud versucht nicht, ein positives Objekt namens Angst herauszupräparieren, und er begnügt sich auch nicht mit den Klassifikationen der materialistischen Psychiatrie, die den Verlust des Objekts nur unbefriedigend kompensieren. Zusammengefasst: Angst ist nichts, was sich objektivieren ließe. Sie ist kein Objekt im cartesischen Sinne einer inneren Vorstellung, sondern eine Störung, eine sich in Form von Symptomen artikulierende Störung. Die Symptome der Angst bilden einen ganzen Komplex, ein strukturiertes und hochvermaschtes Netzwerk, ein operationales System. Und auch der psychische Apparat selbst ist bei Freud, in welcher Phase seiner Ausbildung und Modifikation auch immer, kein Ganzes, kein fassbares Ding, sondern stellt sich dar als ein Kompositum, ein aus bestimmten Funktionen, Bahnungen, Schaltstellen zusammengesetztes dynamisches System.49 Die Analyse dieses 47 Freud 1999: I 454. 48 Freud 1999: I 315. 49 Vgl. Freud 1999: II/II 541f: „Die Idee, die uns so zur Verfügung gestellt wird,

ist die einer psychischen Lokalität. Wir wollen ganz beiseite lassen, daß der seelische Apparat, um den es sich hier handelt, uns auch als anatomisches Präparat bekannt ist, und wollen der Versuchung sorgfältig aus dem Wege gehen, die psychische Lokalität etwa anatomisch zu bestimmen. Wir bleiben auf psychologischem Boden und gedenken nur der Aufforderung zu folgen, daß wir uns das Instrument, welches den Seelenleistungen dient, vorstellen wie etwa ein zu-

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Apparats reklamiert eine prä-kybernetische, funktionale und strukturale Perspektive.

7.4 Stoß und Schreck Die für Freuds Psychoanalyse symptomatische Aporie zwischen einer physischen und einer psychischen Verfasstheit des Unbewussten figuriert sich bereits in der hier zur Debatte stehenden frühen Angsttheorie, im Text über die Angstneurose von 1894/95. Vordergründig fügt sich der Text jener wissenschaftlichen Klassifizierung, die die frühen Werke als materialistische Phase einordnet, um dann eine zunehmende Dominanz symbolistischer und sprachlicher Gedankenkreise in Freuds Schriften wahrzunehmen. Freud ist zur Zeit der Abfassung des Textes formatiert von den Diskursen des Materialismus – seine durchweg physiologisch fundierte Beschreibung der Angstneurose wurde soeben in zahlreichen Beispiele gezeigt – sowie der Thermodynamik. Im Kapitel 6.10 wurde bereits dargelegt, dass Freuds psychischer Apparat in vielen Beispielen nach dem Prinzip eines analogen Regelsystems, eines Homöostaten, Prinzip eines Transformators operiert: ein Gerät, in dem unabgeführte Libido in Angst transformiert und entladen wird. Freuds Konstanzprinzip – diesen Terminus übernimmt er, wie den Topos des Anderen Schauplatzes, von Fechner – beschreibt im Grunde nichts anderes als das Postulat von der Erhaltung und dem Ausgleich der Energie: Die innere Tendenz des Nervensystems strebt dahin, die Erregungsmenge möglichst gering oder zumindest auf einem konstanten Level zu halten. Ganz in diesem Sinne evolviert Freud im genannten Text eine Transformationstheorie der Angstneurose. Er beginnt seine Darlegung, indem er ein erstes Hauptsymptom einführt, die „allgemeine Reizbarkeit“, „ein häufiges nervöses Symptom“, das viele unterschiedliche Formen von Nervösität prägt, für die Angstneurose jedoch von besonderer theoretischer Indizienkraft ist. Denn diese „gesteigerte Reizbarkeit“ verweist stets auf eine „Anhäufung von Erregung oder auf Unfähigkeit, Erregung zu ertragen, also auf absolute oder relative Reizanhäufung“50. sammengesetztes Mikroskop, einen photographischen Apparat u. dgl. Wir stellen uns also den seelischen Apparat vor als ein zusammengesetztes Instrument, dessen Bestandteile wir Instanzen oder der Anschaulichkeit zuliebe Systeme heißen wollen. Streng genommen brauchen wir die Annahme einer wirklich räumlichen Anordnung der psychischen Systeme nicht zu machen. Es genügt uns, wenn eine feste Reihenfolge dadurch hergestellt wird, daß bei gewissen psychischen Vorgängen die Systeme in einer bestimmten zeitlichen Folge von der Erregung durchlaufen werden.“ Vgl. auch X 271: „Es würde allen Mißverständnissen ein Ende machen, wenn wir von nun an bei der Beschreibung der verschiedenartigen psychischen Akte ganz davon absehen würden, ob sie bewußt oder unbewußt sind, und sie bloß nach ihrer Beziehung zu den Trieben und Zielen, nach ihrer Zusammensetzung und Angehörigkeit zu den einander übergeordneten psychischen Systemen klassifizieren und in Zusammenhang bringen würden. Dies ist aber aus verschiedenen Gründen undurchführbar, und somit können wir der Zweideutigkeit nicht entgehen, daß wir die Worte bewußt und unbewußt bald im deskriptiven Sinne gebrauchen, bald im systematischen, wo sie dann Zugehörigkeit zu bestimmten Systemen und Begabung mit gewissen Eigenschaften bedeuten.“ Zum System des psychischen Apparats vgl. auch I 433, X 289-292, XII 9 und XIII 247-252. 50 Freud 1999: I 317.

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In dieser einführenden Wendung sind bereits alle Schlüsselworte enthalten, die die von Freud später ausführlich beschriebene Transformationstheorie der Angst profilieren: „Die Psyche gerät in den Affekt der Angst, wenn sie sich unfähig fühlt, eine von außen nahende Aufgabe (Gefahr) durch entsprechende Reaktion zu erledigen; sie gerät in die Neurose der Angst, wenn sie sich unfähig merkt, die endogen entstandene (Sexual-) Erregung auszugleichen. Sie benimmt sich also, als projizierte sie diese Erregung nach außen. Der Affekt und die ihm entsprechende Neurose stehen in fester Beziehung zueinander, der erstere ist die Reaktion auf eine exogene, die letztere die Reaktion auf die analoge endogene Erregung. Der Affekt ist ein rasch vorübergehender Zustand, die Neurose ein chronischer, weil die exogene Erregung wie ein einmaliger Stoß, die endogene wie eine konstante Kraft wirkt. Das Nervensystem reagiert in der Neurose gegen eine innere Erregungsquelle wie in dem entsprechenden Affekt gegen eine analoge äußere.“51

In der Transformationstheorie verbinden sich physiologische mit energetischen Diskurselementen (z.B. die Differenzierung von exogener und endogener Erregung). Der hier als ein – analog zu Bleuler – noch nicht sprachlich vorgestellte Affekt ist Resultat und Manifestation der Tatsache, dass eine Energiequantität vom psychischen Organismus nicht bewältigt worden ist. Der Angst-Affekt ist eine Reaktion auf eine massive, die Verarbeitungsmechanismen des Subjekts überfordernde exogene Erregung, auf eine „von außen nahende Aufgabe (Gefahr)“, die die Kapazitäten des Subjekts übersteigt. Was aber sind das für Kapazitäten, worin bestehen sie? - es sind Kapazitäten der Distribution und Kanalisierung von Erregung bzw. Energie. Der psychische Apparat ist im Zustand der Angst nicht mehr in der Lage, die Erregungsquantitäten oder Primärprozesse in solche mindere Quantitäten oder Sekundärprozesse zu konvertieren, die das Gleichgewicht des Organismus bewahren. Am Anfang steht eine „exogene Erregung wie ein einmaliger Stoß“, eine zu große Erregungsquantität, die vom psychischen Apparat nicht adäquat verarbeitet, verteilt oder einfach: entladen werden kann, und die sich daher physiologisch in den Affekt der Angst transformiert. Anders formuliert: Angst aus dieser energetisch-physiologischen Perspektive ist das Resultat einer zu großen Erregung. Der exogene Stoß, die zu große energetische Aufladung des psychischen Apparats, wird innerhalb des Apparats in Angst transformiert, um auf diese Weise zu einer Entladung zu führen – eine Entladung, die jedoch in keiner Weise eine Entlastung, Relevation, Läuterung konnotiert. Angst ist eine der vehementesten Formen von Unlust für einen psychischen Apparat, dessen Glücke im Ausgleich und der Konstanthaltung des Energielevels liegen. Die Angst, so sehr sie physiologisch-energetisch explizierbar ist, stellt keine optimale Lösung dar, im Gegenteil, sie dereguliert das Konstanz- oder Lustprinzip, demzufolge das Nervensystem, wie im Kapitel 6.10 erläutert, in sich die Tendenz hat, den jeweils vorhandenen Erregungsbetrag zu reduzieren oder zumindest konstant zu halten. Die Lüste und Glücke von Freuds psychischem Apparat stehen Dionysien à la Nietzsche und Ekstasen à la Bataille sehr fern. Freuds Apparat ist glücklich, wenn er ausgeglichen ist, und dies im ambiguen Wortsinne: Er ist glücklich, wenn die Erregungsquantitäten minimal sind, und minimal sind sie 51 Freud 1999: I 338f.

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dann, wenn sie optimal verteilt sind. Die Angst als anfallsartige Entladung von Erregung kann aus der Perspektive dieses stoischen Apparats keine glückliche Fügung sein, der erste große Angstanfall ist im Gegenteil eine Pathogenie, und die aus dieser pathogenen Abfuhr von Erregung durch das Medium eines Angstanfalls resultierende Pathologie ist die Angstneurose. Ein exogener Stoß, eine überwältigende Erregung erfasst den psychischen Apparat, um in Folge dort dauerhaft zu vibrieren in Form des Angstaffektes, begriffen als eine ungelungene oder zumindest insuffiziente Abfuhrmöglichkeit von Erregung. Die exogene wird in eine endogene konstante Kraft transformiert, die den Apparat destabilisiert und die physiologischen Kadenzen der Angstneurose (Herzklopfen, Atmungsstörungen, Zittern und Schütteln, Kongestionen, Parästhesien) hervorruft. Genau betrachtet handelt es sich um eine zweifache Transformation: Eine auf einen chokhaften Moment begrenzte übergroße exogene Erregung transformiert sich in eine endogene Erregung, in die Angst, und diese Angst transformiert sich wiederum in eine konstant wirkende endogene Erregung – in jene Angstneurose, die das Subjekt nun in intermittierender Form verfolgt und verstört. „Der Affekt ist ein rasch vorübergehender Zustand, die Neurose ein chronischer, weil die exogene Erregung wie ein einmaliger Stoß, die endogene wie eine konstante Kraft wirkt. Das Nervensystem reagiert in der Neurose gegen eine innere Erregungsquelle wie in dem entsprechenden Affekt gegen eine analoge äußere.“52 Ein signifikanter Faktor bei der in dieser Weise angstneurotisch transformierten Erregung muss noch betont werden, Freud selbst pointiert es wiederholt im genannten Text: Die Erregung bei der Angstneurose ist ausschließlich somatischer oder sexueller Natur. Das heißt: sie ist physikalisch oder physiologisch nachweisbar, sie ist vergleichbar mit der quantifizierbaren Energie im thermodynamischen Diskurs, in keinem Falle aber ist sie psychischer Natur.53 Es ist nun apparent, dass und warum Freuds frühe Angsttheorie allgemein unter einer Transformationstheorie subsumiert wird. Der psychische Apparat fungiert in dieser Theorie als ein vom Energieerhaltungssatz instruierter Transformator von Libido.54 Die Transformation nicht abführbarer Libido oder Unlust bestimmt darüber hinaus den Mechanismus der Neurose in Freuds frühen Schriften im allgemeinen. Unter Berufung auf die Konstanz- und Transformationsgesetze zur Vermeidung von Unlust ließ sich die Angst als Neurose deklinieren, Angst und Neurose konnten kompatibilisiert werden. Die Ätiologie der Neurosen, die für Freud zu diesem Zeitpunkt somatisch-physiologisch und nicht psychisch konstituiert sind, entspricht der Ätiologie der Angst: Unabgeführte Libido, gehemmte Triebenergie, ruft neurotische Symptome oder Angst hervor. Es wird jedoch nur eine kurze Zeit vergehen, bis Freud diese rein materialistisch-physiologisch basierte Ätiologie der Neurosen restituieren und die Ursache der Neurosen in eine Ur-Sache, eine korpsifizierte Störung verlegen wird. Das ändert aber nichts an dem hier ausgebreiteten Argument, welches davon ausgeht, dass sich die Angst angesichts der für das Unbewusste be52 Freud 1999: I 338f. 53 Vgl. Freud 1999: I 334f. 54 Im Kapitel 6.10 wird ausführlich nachgewiesen, dass Freuds frühe Libidotheo-

rie den Ersten Thermodynamischen Hauptsatz appliziert. Freud postuliert für seinen Apparat den Ausgleich und die optimale Verteilung von Energie. Unabgeführte Libido wird in dem so beschriebenen Homöostaten in Angst transformiert und entladen.

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stimmenden Unentscheidbarkeit zwischen biologischer und symbolischer Realität, dass sich, mit anderen Worten, die Aporie und Verstörung Freuds zwischen den unvereinbaren Konzepten des Materialismus und des Strukturalismus in ihren Konturen bereits in diesem Aufsatz abzeichnet. Denn es ging, um es zu wiederholen, um eine Befragung der frühen Angsttheorie, niedergelegt in dem Text Über die Berechtigung von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomkomplex als „Angstneurose“ abzutrennen hinsichtlich des logischen „und“ zwischen Physis und Psyche. Hätte Freud sich in dieser ersten Diskussion des Syndroms der Angst auf die Angstneurose beschränkt, hätte er allein den Schreck einer mit infarktartiger Plötzlichkeit hereinbrechenden exogenen Erregung als Grund der Angst exponiert, hätte er sich allein der um 1895 tatsächlich noch somatisch explizierten Neurose gewidmet, dann müsste die oben aufgestellte These, dass Freud sich bereits in der frühen, materialistisch dominierten Angsttheorie in die Nebel des Unbewussten vortastet, zurückgenommen werden. Aber dem ist nicht so, denn: Der Schreck ist bereits widerfahren. Die beiden Losungen sind bereits gegeben, und an diesen soll der Fortgang der Darlegung befestigt, mit ihnen versäumt werden: Stoß und Schreck, Stoß versus Schreck. Der zunächst exogene und dann in eine endogene Erregungsstampede transformierte Stoß wurde als auslösendes Moment einer Angstneurose bereits erläutert. Dabei wurde die Antwort auf eine sehr einfache Frage einfach vorausgesetzt, eine Frage, die jedoch gerade für eine metikulose Abgrenzung von Stoß und Schreck, fundamental ist: Was ist überhaupt ein Stoß? Ein Stoß ist ein von außen zuschlagendes, ein materielles Geschehnis, sei es im Sinne des traditionellen mechanistischen Weltbildes, also eine ballistische Größe (z.B. ein Stoß mit dem Hammer), sei es im Sinne magnetischer Anziehungsund Abstoßungskräfte, sei es im Sinne hydraulischer Drücke, Unterdrücke, Überdrücke, sei es im Sinne der Elektrizitätsphysik, ein elektrischer Schlag, eine Funkenentladung, ein Blitzeinschlag. In jedem Fall, mit welcher Skala und in welchen Denkformaten auch immer, ein Stoß ist eine messbare Kraft oder Energie.55 Von einem solchen Stoß, der in Form eines somatischen Energieagglomerats die Angstneurose auslöst, muss der Schreck als Ursache der Hysterie demarkiert werden. Ein Schreck, ein Moment von Kataplexie, ein ur-sächlicher Grand Mal, ein Trauma – inkommensurabel, unübertragbar und unmöglich physisch deduzierbar. Freud sieht sich angehalten, den Schreck zunächst als eine rein pyschische Tatsache hinzunehmen. Die Kontingenz des Schrecks, der Verursachung einer Hysterie, lässt sich mit den materialistischen Vorgaben allein nicht rekonstruieren, ein Fragezeichen, ein aufklärungsbedürftiger Rest, ein Rätsel bleiben zurück. An dieser Stelle soll nicht nur all den hysterischen Kurvenstars in ihrer lebenslangen Nachsaison eines Riesenschrecks Reverenz erwiesen werden, auch der für Freuds Leben und Denken bezeichnende Schreck muss Erwähnung finden. Freuds in Intervallen auftretender Schreck, seine Verstörung, seine manisch-depressiven Wechselgefühle von Impasse und Erleuchtung, seine Aporie rühren genau daher, dass er einerseits stets versucht hat, Schrecke oder psychische Tatsachen auf physiologische oder physikalische Tatsachenbestände zu bringen und andererseits wieder und wieder vor der Unmöglichkeit einer solchen physikalisch-physiologischen Repräsentation des Psychischen resignieren musste. Wiederholt hat er die Verbindung zwischen dem 55 Vgl. Serres 1995: 44-46.

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Physischen und dem Psychischen erblickt, die zugleich Abgrund und Fusion war. Freud näherte sich der dialektischen Aufhebung zwischen Physis und Psyche im Laufe seines Werkes immer mehr, er näherte sich der Korpsifizierung, mit Lacan verstanden als eine im realen Sein transportierte Botschaft, die das Dass ihrer eigenen Implementierung verkündet, immer akuter – und dennoch verharrte diese dialektische Aufhebung, die Erkenntnis der Identität von Physis und Psyche in der Differenz, bei Freud auf einem unbewussten Niveau, sie verharrte, sie insistierte, sie verschlüsselte sich. Aber eine Übertragung konnte erst bei Lacan eintreffen, der über das für eine Dialektisierung von Physis und Psyche notwendige strukturalistische und informationstheoretische Wissen informiert und so in eine epistemische Konstellation versetzt war, die es möglich machte, die Formel das-Freud’sche-und-das-sprachstrukturierte-Unbewusste im Hegel’schen Sinne auszusprechen. Um auf Freuds frühen Text zurückzukommen, so ist gezeigt worden, dass der zu diesem Zeitpunkt noch im Laboratorium wirkende Mediziner, obwohl in Denken und Diskurs der Energetik, der Physiologie und der Elektrizitätsphysik verhaftet, dennoch einen Unterschied zwischen dem materialistisch deduzierbaren Phänomen des Stoßes und einem ganz anderen Phänomen fixierte, einem Phänomen, das jenseits des Wirkungskreises, der Kapazitäten und Gesetze des Materialismus lag: dem Schreck. In einer der frühesten Phasen seines Wirkens dokumentiert sich bereits das Schwanken zwischen Physis und Psyche, in dem sich seinerseits die Verfasstheit des Unbewussten als zwischen Physis-und-Psyche auguriert, als eine Trennung zwischen dem Stoß als Auslöser einer Angstneurose und dem Schreck als Auslöser der Hysterie, eine Trennung, auf die Freud nicht mehr zurückkommen, die er schon bald nicht mehr aufrechterhalten wird. Aber dies ist im Kontext dieser Argumentation auch nicht wesentlich. Es geht weniger um Stoß und Schreck als solche, als vielmehr um die Indizienkraft, die die beiden Begriffe im Hinblick auf Freuds Erfassung des Unbewussten enthalten. Es geht um das Dass dieser Unterscheidung und ihrer Implikationen: Bereits der frühe, vordergründig materialistisch präokkuppierte Freud thematisiert eine Diskordanz zwischen Stoß und Schreck, zwischen einer physisch begründeten und in physiologischen Symptomen agierenden Angstneurose und der Hysterie, bei der ein psychischer Unfall physiologische Abirrungen hervorruft. Für die Beschreibung einer Angstneurose als Folge einer misslungenen Verarbeitung eines Stoßes sind die physiologischen und energetischen Begriffe des materialistischen Zeitalters hinreichend. Die Aktivität der Angstneurose bleibt auf die somatische Ebene beschränkt, der psychische Bereich lässt sich bei ihrer Konzeptualisierung weitgehend ausklammern. Der libidinöse Stoß kann nicht abgeführt werden, die Erregung augmentiert in pathogene Ausmaße und setzt so physiologische Symptome in Gang, die jedoch in keiner Beziehung zur Psyche stehen, weder ätiologisch-rückläufig noch symptomatisch-nachträglich. Der Stoß der Angst, heißt das, kann unmöglich alternativ in einen psychischen Schreck umgesetzt werden: „ [...] es dürfte sich um eine Anhäufung von Erregung handeln, sodann die überaus wichtige Tatsache, daß die Angst, die den Erscheinungen der Neurose zugrundeliegt, keine psychische Ableitung zuläßt. Eine solche wäre z.B. vorhanden, wenn sich als Grundlage der Angstneurose ein einmaliger oder wiederholter, berechtigter Schreck fände, der seither die Quelle der Bereitschaft zur Angst abgäbe.“

346 ſ DISKRETE GESPENSTER

Ein Schreck kann eine traumatische Neurose oder eine Hysterie bedingen, aber keine Angstneurose: „[...] durch einen einmaligen Schreck kann zwar eine Hysterie oder eine traumatische Neurose erworben werden, nie aber eine Angstneurose“ 56. Ineins damit endet das Wirkungsspektrum der rein materialistischen Beobachtung und Beschreibung. Die Untersuchung einer Hysterie muss mit psychischen Faktoren kalkulieren, die das materialistische Register verlassen; eine materialistisch-physiologische Betrachtungsweise allein kann die Zugangsbedingung zu traumatischen Neurosen und zur Hysterie nicht erfüllen. Zwar weisen beide Erkrankungen, die Angstneurose wie die Hysterie, bezüglich ihrer Symptome eine affine Phänomenologie auf, es lassen sich ähnliche Symptome beobachten, hinsichtlich Ätiologie und Mechanismus jedoch besteht ein ganz und gar gegensätzliches Verhältnis. „Mit der Hysterie zeigt die Angstneurose zunächst eine Reihe von Übereinstimmungen in der Symptomatologie, deren genauere Würdigung noch aussteht. Das Auftreten der Erscheinungen als Dauersymptome oder in Anfällen, die auraartig gruppierten Parästhesien, die Hyperästhesien und Druckpunkte, die sich bei gewissen Surrogaten des Angstanfalls, bei der Dyspnoe und dem Herzanfalle finden, die Steigerung der etwa organisch berechtigten Schmerzen (durch Konversion): – diese und andere gemeinschaftliche Züge lassen sogar vermuten, daß manches, was man der Hysterie zurechnet, mit mehr Fug und Recht zur Angstneurose gerechnet werden dürfte.“57

All diese Konvergenzen, die Gemeinsamkeiten der Angstneurose und der Hysterie, die hinsichtlich ihrer Symptome nicht weniger in physiologischen Störfrequenzen eskaliert, machen die Differenzierung beider Syndrome so kompliziert, was Freud nicht dazu verleitet, den sublimen, aber entscheidenden Unterschied in der Ätiologie zu übersehen: Die Angstneurose wird durch einen materiellen Stoß ausgelöst und äußert sich in vorwiegend physiologischen Dysfunktionen, Ursache der Hysterie hingegen ist ein psychischer Schreck, der psychische und physiologische Symptome gleichermaßen auslöst. Und was die letzteren, die physiologischen Symptome betrifft, so entzündet der Schreck diese sogar in exorbitanter Weise. Freud darf also nicht dahingehend missverstanden werden, dass nicht auch an der Hysterie massive somatische Vorgänge und Erregungsanhäufungen beteiligt sind, die Hysterie ist alles andere als ein rein psychischer Vorgang. Dies macht Freud ganz unmissverständlich klar, er gibt einen schonungslos plastischen und spannungsreichen Einblick in „die Pathologie der Hysterie“: „Wir haben Neuralgien wie Anästhesien der verschiedensten Art und von oft jahrelanger Dauer, Kontrakturen und Lähmungen, hysterische Anfälle und epileptoide Konvulsionen, die alle Beobachter für echte Epilepsie gehalten hatten, Petit mal und ticartige Affektionen, dauerndes Erbrechen und Anorexie bis zur Nahrungsverweigerung, die verschiedensten Sehstörungen, immer wiederkehrende Gesichtshalluzinationen u. dgl. m. auf solche veranlassende Momente zurückführen können.“58

56 Freud 1999: I 334. 57 Freud 1999: I 341. 58 Freud 1999: I 82.

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Er illustriert das hysterische Symptom durch Beispiele, so präsentiert er das Phänomen, dass, „wenn ein schmerzlicher Affekt, der während des Essens entsteht, aber unterdrückt wird, dann Übelkeit und Erbrechen erzeugt und [...] als hysterisches Erbrechen monatelang andauert“59. Ein weiterer Fall: „Ein hochintelligenter Mann assistiert, während seinem Bruder das ankylosierte Hüftgelenk in der Narkose gestreckt wird. Im Augenblicke, wo das Gelenk krachend nachgibt, empfindet er heftigen Schmerz im eigenen Hüftgelenke, der fast ein Jahr andauert u. dgl. m.“60 Die Hysterie ist konstituiert durch die psychische Unzulänglichkeit, einen ursprünglichen Schreck, ein Trauma, einen Konflikt, also: eine psychische Ursache psychisch zu verarbeiten, und aus diesem Grund kommt es auch hier zur Anhäufung von Erregung und zu körperlichen, physiologischen und somatischen Reaktionen, u. a. zu den „typischen hysterischen Symptomen, wie Hemianästhesie und Gesichtsfeldeinengung, epileptiforme Konvulsionen“61. Bei der Hysterie stellen diese körperlichen und somatischen Symptome jedoch Konversionen62 eines ursprünglichen Schrecks – und nicht Stoßes – dar, in ihnen artikuliert sich die Unfähigkeit, ein ursprünglich psychisches Trauma psychisch zu verarbeiten – und genau hier liegt ja das Motiv, warum dieses in psychische, aber auch in somatische und physiologische Störungen konvertiert werden muss. Die Hysterie wird, um es wiederholt zu unterstreichen, von Freud also keineswegs als eine rein psychische Seelenerkrankung behandelt. Mit dem Nachweis des psychischen Schrecks am Fundament der Hysterie versucht er nicht etwa, der Aporie Physis-Psyche zu entgehen. Er liefert sich ihr im Gegenteil schutzlos und verstörungsbereit aus, wenn er „das für die Hysterie charakteristische Moment“, die „Fähigkeit zur Konversion“, mit einer „psychophysischen Eignung zur Verlegung so großer Erregungssummen in die Körperinnervation“ vernetzt. Eine „psychische Unverträglichkeit oder eine Aufspeicherung der Erregung“63 charakterisieren also Hysterie und Angstneurose, an dieser Stelle liegt kein Kriterium für ihre Differenzierung vor, Freud 1999: I 83. Ebd. Freud 1999: I 84. Vgl. hierzu Freuds in den Studien über Hysterie eingeführtes Konzept der Konversionshysterie (I 64). Hier profiliert er das hysterische Konstitutivum der Konversion, der „Unschädlichmachung der unverträglichen Vorstellung dadurch, daß deren Erregungssumme ins Körperliche umgesetzt wird: Ich will diese Anschauung von den psycho-physischen Vorgängen bei der Hysterie nur noch mit wenigen Worten ausführen: Wenn einmal ein solcher Kern für eine hysterische Abspaltung in einem „traumatischen Moment“ gebildet worden ist, so erfolgt dessen Vergrößerung in anderen Momenten, die man „auxiliär traumatische“ nennen könnte, sobald es einem neu anlangenden Eindruck gleicher Art gelingt, die vom Willen hergestellte Schranke zu durchbrechen, der geschwächten Vorstellung neuen Affekt zuzuführen und für eine Weile die assoziative Verknüpfung beider psychischer Gruppen zu erzwingen, bis eine neuerliche Konversion Abwehr schafft. – Der so bei der Hysterie erzielte Zustand in der Verteilung der Erregung stellt sich darin zumeist als ein labiler heraus; die auf einen falschen Weg (in die Körperinnervation) gedrängte Erregung gelangt mitunter zur Vorstellung zurück, von der sie abgelöst wurde, und nötigt dann die Person zur assoziativen Verarbeitung oder zur Erledigung in hysterischen Anfällen, wie der bekannte Gegensatz der Anfälle und der Dauersymptome beweist.“ 63 Freud 1999: I 65. 59 60 61 62

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gleichermaßen. Ein solches findet Freud vielmehr in der Tatsache vor, dass der psychische Bereich bei der Angstneurose ausgeschlossen bleibt: Ein Schreck kann keine Angstneurose verursachen und in Folge auch nicht psychisch verarbeitet werden. Ein Schreck löst Hysterie aus, ein Stoß Angstneurose, und abgesehen von diesem antithetischen Verhältnis, das Freud bald dialektisch aufheben wird, zeigen sich „Gesichtspunkte, welche die Angstneurose geradezu als das Seitenstück zur Hysterie erscheinen lassen“64. Jener vom Schreck unterschiedene Stoß, der, wenn auch innerhalb des begrenzten Radius der Krankheit Angstneurose, eine unwidersprüchliche Assimilation von Freuds Theorie in die herrschenden materialistischen Diskurse der Energetik und der Physiologie darstellt, taucht nach dem Abschluss der ersten Angsttheorie nicht wieder auf. Das heißt jedoch nicht, dass der Stoß einfach untergeht, dass er, brachialer noch, eliminiert oder verworfen würde. Der Stoß wird im Gegenteil dialektisch aufgehoben in einem Eisenbahnunfall. „Es handle sich um das Symptom des hysterischen Erbrechens; dann glauben wir dessen Verursachung (bis auf einen gewissen Rest) durchschauen zu können, wenn die Analyse das Symptom auf ein Erlebnis zurückführt, welches berechtigterweise ein hohes Maß von Ekel erzeugt hat, wie etwa der Anblick eines verwesenden menschlichen Leichnams. Ergibt die Analyse anstatt dessen, daß das Erbrechen von einem großen Schreck, z. B. bei einem Eisenbahnunfall, herrührt, so wird man sich unbefriedigt fragen müssen, wieso denn der Schreck gerade zum Erbrechen geführt hat.“65

Das signifikante Indiz sei beachtet, dass hier die Rede von einem Schreck ist, dabei ließe sich doch zunächst ganz neutral konstatieren, dass ein Eisenbahnunfall einen Stoß darstellt, der ebenso wie ein angstneurosenauslösender Überfall an libidinöser Energie materialistisch messbar und bestimmbar ist. Aber, wie schon vorhergesagt, die Unterscheidung von Stoß und Schreck stellt in Freuds Denken nur eine saisonale Lösung für die Problematik von Physis versus Psyche dar. Bereits hier, in einer nur einige Jahre später erschienen Schrift Zur Ätiologie der Hysterie ist die Distinktion Stoß/Schreck für Freud von keinerlei Relevanz mehr – ein Indiz dafür, dass Freud sich mittlerweile so sehr von den harten materialistischen Prämissen distanziert hat, dass diese Dichotomisierung nicht mehr funktioniert. Damit ist zugleich eine Modifikation des Schrecks als Auslöser einer psychischen Erkrankung und eine generelle Ausdifferenzierung hinsichtlich ätiologischer Fragestellungen verbunden, wie eine genauere Betrachtung des zitierten Beispiels zeigt. Das Beispiel arbeitet mit der Annahme eines physiologischen – und nicht psychischen! – Symptoms von Erbrechen. Ein solches Symptom, also ein Unbewusstes in operando, kann unmöglich durch ein Ereignis hervorgerufen 64 Freud 1999: I 341. 65 Freud 1999: I 429. Vgl auch XI 283: „Die nächste Analogie zu diesem Verhal-

ten unserer Nervösen bieten Erkrankungen, wie sie gerade jetzt der Krieg in besonderer Häufigkeit entstehen läßt, die sogenannten traumatischen Neurosen. Es hat solche Fälle nach Eisenbahnzusammenstößen und anderen schreckhaften Lebensgefahren natürlich auch vor dem Kriege gegeben. Die traumatischen Neurosen sind im Grunde nicht dasselbe wie die spontanen Neurosen, die wir analytisch zu untersuchen und zu behandeln pflegen.“

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werden, das in der Realität stattfindet, es lässt sich nicht plausibilisieren durch ein faktisches Geschehnis, wie naturmächtig, apokalyptisch oder katastrophal dieses auch immer sei – Fehlzündungen, Tornados oder Eisenbahnunfälle.66 Der Grund ist evident und wurde gleich zu Anfang dieses Buches expliziert67: Die Realität emergiert erst nach Vollzug des Attributionsurteils und des Existenzurteils, sie stellt ein von unbewussten bzw. medialen Prozeduren übertragenes Konstrukt dar, sie konstituiert sich mit dem Effekt der Nachträglichkeit68, und Lacan wird die Erweiterung dieses Zusammenhangs bis zur Annellierung von RSI befördern und so die Realität als imaginär klassifizieren können.69 Die Ur-Sache dieser Realität, die eine ganze Galerie aktiver Psychoneurosen mit periodischem Erbrechen, Zwangshandlungen und Pferdephobien, von den in diesem Buch intermittierenden Patienten ganz zu schweigen, umfasst, muss in einem jenseitigen Bereich situiert werden, in dem sich eine duale Trennung von Physis und Psyche nicht mehr aufrechterhalten lässt – es ist der Bereich der psychischen Realität. Die Operationalisierung des Symptoms und das heißt nicht zuletzt einfach: des Unbewussten, des in der Wiederholung seienden Seins, erfolgt in einem Moment, der, sofern er sich jeder Messbarkeit und generell jeder materialistischen Herleitung widersetzt, kein Stoß, kein Energieausfluss von vesuvischen Ausmaßen, kein Hochamt der Ballistik sein kann. Soviel steht also fest: Ein simpler Stoß ist es nicht, es ist ein Schreck, aber auch dieser Schreck muss noch spezifiziert werden. Mit einer dem Stoß der frühen Angstneurose vergleichbaren Unaufhörlichkeit entzieht sich der Schreck jeder Vorstellbarkeit und Rekonstruierbarkeit, es handelt sich um ein paradoxalerweise vor jedem Körper, begriffen als ein Objekt der Medizin im besonderen und der Wirklichkeit im allgemeinen, liegendes körperliches Ereignis der Klüftung – ein psychisches Trauma, das ineins physische Exekution ist. Das Trauma der Exekution liegt zwischen den beiden mit einem logischen „und“ verbundenen Reichen Psyche und Physis. Es ist jene primordiale Begegnung mit dem Realen im Sinne des Kontingenten und Medialen, mit der Dissonanz des Symbolischen und des Realen, und diese initiiert den im Sein prozessierenden Signifikanten, das Freud’sche-und-das-sprachstrukturierte-Unbewusste.

66 Diese parataktische Garnitur von Signifikanten mag vielleicht ein hübsches Ka-

tastrophengefühl evozieren, wird der Tatsache jedoch nicht gerecht, dass Freud in seinem Leben, phantasmatisch wie höchst real, von der Eisenbahn persekutiert wurde. Schon in der Zeit, als er Fliess in brieflicher Freundschaft noch eng verbunden war, machte er sich Sorgen, wenn dieser oder andere seiner Freunde und Verwandten mit der Eisenbahn reisten. Später, im November 1914, erhielt er die Mitteilung, dass sein ihm nahestehender Halbbruder Emanuel bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen war. Noch später, schon während seiner akuten Krebserkrankung, begann er auf einer Eisenbahnfahrt von Verona nach Rom plötzlich, heftig aus dem Mund zu bluten. Vgl. Schur 1972: 219, 288, 347 und 430. 67 Vgl. Kap. 1.3 dieses Buches. Vgl. hierzu auch Gondeks Verweis auf Lacans Restitution der Kastration als eine symbolische Kastration, die in der Realität niemals stattgefunden hat, die ein unmögliches „Ding“ und kein „Objekt“ repräsentiert. Vgl. Gondek/Widmer 1994: 14f. 68 Vgl. Lacan 1991a: 236. 69 Vgl. Kap. 4.16.

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7.5 Aporienmanie Wieder und wieder, zwischen Physis und Psyche, Sein und Sprache, Haut und Fleisch, zwischen Blut und Buchstaben, die Obsession vom großen und unergründbaren X der Korpsifizierung, Freuds Obsession, resonierend in diesem Buch, wieder und wieder. Wo ist mein Schlüssel? Wieviel Schritte brauche ich zum Haus, das Omen? Ist das Gerät aus? Was denkt die schwarze Katze? Is there anybody out there? Wie eine Theorie und Praxis der Wiederholung wiederholen? Oder sind es die Leoniden, die diese Tage verhexen? Wie es dazu bringen, sich nicht mehr zu schreiben? Soll man es dazu bringen, sich nicht mehr zu schreiben? Soll man hinzutreten, wenn Neurophysiologie und moderner Voluntarismus sich beim Prinzip des freien Willens zum Hochzeitsmahl treffen? Oder soll man sich, wo dieser „Wille“ bei der Unterhaltung über Dschungels-Curry mit Mönchsfisch noch nicht einmal die Spurlosigkeit eines Verdachts erregt, doch besser jener unbehaglichen Worte erinnern – „dies soll dein Festmahl sein bis zur Wiederkehr des Steinernen Gasts, der ich sein werde für dich, wenn du mich rufst“70 – und sich von Freud sensibilisieren lassen für die Spuren des geklüfteten Seins? Soll man nicht doch besser der Mahnung Freuds die Ehre erweisen: „Dass dieses Ich keine verläßliche und unparteiische Instanz ist, liegt auf der Hand. Das Ich ist ja die Macht, welche das Unbewußte verleugnet und es zum Verdrängten herabgesetzt hat, wie sollte man ihm zutrauen, diesem Unbewußten gerecht zu werden?“71 Also dem Symptom folgen, der Obsession, der Aporienmanie zwischen Physis und Psyche, Sein und Sprache, Haut und Fleisch, zwischen Blut und Buchstaben? Dem Symptom, den Leoniden, dann dem Christkind und über und bei alledem Freud? Den Aporien folgen, sie in ungeordneter Reihenfolge einfach Revue passieren lassen, sie nachbuchstabieren mit Freud? Denn dass es mit Buchstaben und Botschaften arbeitete, die, klandestin, orphisch und dennoch logisch strukturiert, in der Natur nicht vorkommen, um abermals auf die Sentenz aus der Traumdeutung anzuspielen, war von Anfang an, vom frühen Entwurf bis zum späten Jenseits, alle Raserei zwischen den Abgründen des Materialismus und des Symbolismus inklusive, für ihn, für die Inauguration des Freud’schen-und-des-sprachstrukturiertenUnbewussten ein unverrückbares Faktum. * Freuds Anwendung der beiden heterogenen Diskurse des Materialismus einerseits und des Symbolismus andererseits, mit Hegel: seine Arbeit mit den jeweiligen Begriffen konstituiert sein Schreiben und Denken nicht nur als ein sukzessives Alternieren – falls dieser Eindruck im Ablauf der bis jetzt angeführten beispielhaften Illustrationen entstanden sein sollte, so sei er hiermit nachdrücklich revidiert –, sondern es finden sich ebenso zahlreiche Passagen, in denen sich die beiden unterschiedlichen Register bis zur Kontamination ineinander schieben und überlagern, in denen das jeweils materialistische oder symbolistische Gepräge nicht mehr auseinanderdividiert werden können. Auf herausragende Weise dokumentiert sich dieser Sachverhalt, in dem 70 Lacan 1991: 144. 71 Freud 1999: XI 394.

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sich ja doch nichts anderes als das Freud’sche-und-das-sprachstrukturierteUnbewusste schreibt, bei den Konzepten der Verdichtung und Verschiebung. Oft werden diese als rein symbolisch-strukturale Prozesse der unbewussten Entstellung präsentiert72, dann aber zieht Freud sie massiv in den energetischlibidinösen Diskurs ein, wenn es beispielsweise heißt: „Die Vorstellungen, denen jetzt [im Fall der Neurose, Anm. d. Verf.] die Libido ihre Energie als Besetzung überträgt, gehören dem System des Unbewußten an und unterliegen den Vorgängen, die daselbst möglich sind, insbesondere der Verdichtung und Verschiebung. Hiermit sind nun Verhältnisse hergestellt, die vollkommen denen bei der Traumbildung gleichen.“73

Entscheidend im Blick auf die Lektüre, die Entzifferung des Freud’schen Sprechens im genannten Fall der Erläuterungen von Verschiebung und Verdichtung ist es, es gerade bei dieser Unentschiedenheit, bei dem sich derart ergebenden und manifestierenden zwischen-zwei-Diskursen zu belassen und nicht zwei unterschiedliche Bedeutungszuweisungen von „Verschiebung“ und „Verdichtung“ zu konstruieren. Die Provenienz der jeweils verwendeten Signifikanten aus unterschiedlichen Diskursen steht außer Zweifel, aber man läse Freud in dem Augenblick missbräuchlich, wo aus dieser unterschiedlichen Herkunft und Konnotation zwei miteinander unvereinbare Signifikate herausgewaschen würden. Die Einleitung zweier verschiedener Sinnbildungsprozesse, „Verschiebung und Verdichtung“, muss, und das gilt ebenso für andere zentrale Begriffe wie „Vorstellung“, „Affekt“, „Gedächtnis“, „Objekt“, „Übertragung“ usf., mit dem Argument verboten werden, dass es darum geht, Freud zu folgen und also zu ihm zurückzukehren – die einzige Weise, die in Freuds Schreiben und in seiner Zeit angelegte mediale Fassung des Unbewussten zu raffinieren. Die Anerkennung einer Unaufhebbarkeit, die zugleich eine Aufhebung im Sinne des Medienpsychoanalytikers Lacan und nicht des Weltgeistphilosophen Hegel verspricht, ist der einzige zum Anderen Schauplatz geleitende Pfad. „So entsteht denn das Symptom als vielfach entstellter Abkömmling der unbewußten libidinösen Wunscherfüllung, eine kunstvoll ausgewählte Zweideutigkeit mit zwei einander voll widersprechenden Bedeutungen.“74 * Einerseits deuten zahlreiche Aussagen Freuds auf eine Dominanz der psychologischen Optik hin, wenn er zum Beispiel auf seine Laufbahn mit den Worten zurückblickt: „Ich bin dann Arzt geworden, aber eigentlich doch eher Psychologe“75. Entschlossen bemerkt er, dass „ich [...] bemüht bin, alles an72 Vgl. z.B. Freud 1999: II/III 346: „Das Wort, als der Knotenpunkt mehrfacher

Vorstellungen, ist sozusagen eine prädestinierte Vieldeutigkeit, und die Neurosen (Zwangsvorstellungen, Phobien) benützen die Vorteile, die das Wort so zur Verdichtung und Verkleidung bietet, nicht minder ungescheut wie der Traum. Daß die Traumentstellung bei der Verschiebung des Ausdrucks mitprofitiert, ist leicht zu zeigen. Es ist ja irreführend, wenn ein zweideutiges Wort anstatt zweier eindeutiger gesetzt wird.“ Vgl. auch IV 308 und XI 177. 73 Freud 1999: XI 374. 74 Freud 1999: XI 374. 75 Freud 1999: X 205.

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dersartige, auch das biologische Denken, von der Psychologie ferne zu halten“, und er qualifiziert die biologische Denkanstrengung als nicht „belangreich“: „Sie bezieht sich auf Dinge, die bereits so weit weg sind von den Problemen unserer Beobachtung und so wenig Kenntnisinhalt haben, daß es ebenso müßig ist, sie zu bestreiten, wie sie zu verwerten“76. Daher muss die Psychoanalyse sich, zumindest auf dem derzeitigen Wissensstand, vor der Evidenz der physiologischen Nicht-Ableitbarkeit unbewusster Zustände beugen und anerkennen, dass es stattdessen „ratsam [ist], das in den Vordergrund zu rücken, was uns von der Natur dieser fraglichen Zustände mit Sicherheit bekannt ist. Nun sind sie uns nach ihren physischen Charakteren vollkommen unzugänglich; keine physiologische Vorstellung, kein chemischer Prozeß kann uns eine Ahnung von ihrem Wesen vermitteln.“77 Aber – die Silhouette, der Schatten des Arztes sollten von Freud nie weichen. Wie sehr er nämlich auf der anderen Seite im Experimentaldispositiv mit seinem amusischen Fluidum zwischen Frequenzmessgerät und Chloroform installiert ist, schlägt sich etwa in seiner Definition der Liebe nieder. Das Ideal der Romantik, die höchste Elevation der Seele, wird von Freud mit kühlem Medizinerblick gefasst: „Von Liebe sprechen wir nämlich, wenn wir die seelische Seite der Sexualstrebungen in den Vordergrund rücken und die zu Grunde liegenden körperlichen oder „sinnlichen“ Triebanforderungen zurückdrängen oder für einen Moment vergessen wollen.“78 Ein weiteres relevantes Beispiel für die produktive Funktion, die Freud von der Aporie macht, ist in diesem Zusammenhang die von ihm begründete und von Lacan tiefgreifend und systematisch zum Konzept der Korpsifizierung weiterentwickelte Theorie der Partialtriebe79 – eine dialektische Aufhebung der sexuellen und der signifikanten Ebene, die das Unbewusste zum Medium erhebt.80 76 77 78 79

Freud 1999: X 144. Freud 1999: X 266. Freud 1999: XI 341. Zu den Partialtrieben bei Freud vgl. Freud 1999: XI 324-330 und 339-341, XIII 220f, 231 und 270-273. Aufschlussreich in diesem Gedankenkreis sind auch die Bemerkungen zur Hypochondrie, vgl. X 149f: „Die Hypochondrie äußert sich wie das organische Kranksein in peinlichen und schmerzhaften Körperempfindungen und trifft auch in der Wirkung auf die Libidoverteilung mit ihm zusammen. Der Hypochondrische zieht Interesse wie Libido – die letztere besonders deutlich – von den Objekten der Außenwelt zurück und konzentriert beides auf das ihn beschäftigende Organ. Ein Unterschied zwischen Hypochondrie und organischer Krankheit drängt sich nun vor: im letzteren Falle sind die peinlichen Sensationen durch nachweisbare Veränderungen begründet, im ersteren Falle nicht. Es würde aber ganz in den Rahmen unserer sonstigen Auffassung der Neurosenvorgänge passen, wenn wir uns entschließen würden zu sagen: Die Hypochondrie muß recht haben, die Organveränderungen dürfen auch bei ihr nicht fehlen. Worin bestünden sie nun? [...] Nun ist das uns bekannte Vorbild des schmerzhaft empfindlichen, irgendwie veränderten und doch nicht im gewöhnlichen Sinne kranken Organs das Genitale in seinen Erregungszuständen. Es wird dann blutdurchströmt, geschwellt, durchfeuchtet und der Sitz mannigfaltiger Sensationen. Nennen wir die Tätigkeit einer Körperstelle, sexuell erregende Reize ins Seelenleben zu schicken, ihre Erogeneität und denken daran, daß wir durch die Erwägungen der Sexualtheorie längst an die Auffassung gewöhnt sind, gewisse andere Körperstellen – die erogenen Zonen – könnten die Genitalien vertreten und sich ihnen analog verhalten, so haben wir hier nur einen Schritt weiter zu wagen. Wir können uns entschließen, die Erogeneität als allgemeine Eigenschaft aller Organe anzusehen, und dürfen dann von der Stei-

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* Einmal spekuliert Freud in einer ungewohnt radikalen, der psychischen Kälte der materialistischen Psychiatrie in nichts nachstehenden Weise, dass „die Aktualneurosen in den Einzelheiten ihrer Symptomatik, aber auch in der Eigentümlichkeit, alle Organsysteme und alle Funktionen zu beeinflussen, eine unverkennbare Ähnlichkeit mit den Krankheitszuständen [bekunden], die durch den chronischen Einfluß von fremden Giftstoffen und durch die akute Entziehung derselben entstehen, mit den Intoxikationen und Abstinenzzuständen.“81

Das Klima erfährt keine Erwärmung, wenn er diese Vermutung durch eine Referenz auf Basedow erhärtet, der sich „gleichfalls auf die Wirkung von Giftstoffen“ beruft, und zwar von solchen „Giften, die nicht als fremd in den Körper eingeführt werden, sondern in seinem eigenen Stoffwechsel entstehen“82. Freud nähert sich dem Schicksal der Neurose – die er immerhin an zahlreichen Stellen mit der Traumarbeit als Äußerung des Unbewussten korrespondiert – an dieser Stelle bar jeder psychoanalytischen Demut vor dem Geschick eines geworfenen Subjekts, geschweige denn, dass er in den Sog verspielter, rebellischer Verführungsversuche à la Lacan verfällt: „Das Spiel ist bereits gespielt, die Würfel sind schon gefallen. Sie sind schon gefallen, abgesehen davon, daß wir sie wieder in die Hand nehmen und noch einmal werfen können. Die Partie hat lang schon begonnen. All das, was ich Ihnen hervorhebe, hat bereits teil an einer Geschichte, über die man alle möglichen und vorstellbaren

gerung oder Herabsetzung derselben an einem bestimmten Körperteile sprechen. Jeder solchen Veränderung der Erogeneität in den Organen könnte eine Veränderung der Libidobesetzung im Ich parallel gehen. In solchen Momenten hätten wir das zu suchen, was wir der Hypochondrie zugrunde legen und was die nämliche Einwirkung auf die Libidoverteilung haben kann wie die materielle Erkrankung der Organe.“ 80 Vgl. Lacan 1991a: 229: „Soweit wollen wir mit diesem Diskurs gelangen: daß die Sexualität sich umverteilt von der einen auf die andere Seite unseres Rands als Schwelle des Unbewußten, und zwar wie folgt: Auf der Seite des Lebendigen, sofern es ein im Sprechen gefangenes Sein ist, sofern es schließlich nie ganz in diesem anzukommen vermag, in diesem Diesseits der Schwelle, das gleichwohl weder ein Drinnen noch ein Draußen ist, gibt es keinen anderen Zugang zum Andern des entgegengesetzten Geschlechts als den Weg über die sogenannten Partialtriebe, auf dem das Subjekt ein Objekt sucht, das ihm diesen Lebensverlust ersetzte, der ihm widerfährt, weil es ein Geschlechtswesen ist. Auf der Seite des Andern, an jenem Ort, wo das Sprechen sich verifiziert, indem es auf den Austausch der Signifikanten trifft, auf die Ideale, die von ihnen gestützt werden, die Elementarstrukturen der Verwandtschaft, die Metapher des Vaters als Prinzip der Trennung, die im Subjekt in seiner ersten Entfremdung immer offene Spaltung auf dieser Seite und auf diesen eben genannten Wegen müssen Ordnung und Norm sich herstellen, die dem Subjekt sagen, was es als Mann oder Frau zu tun hat.“ 81 Freud 1999: XI 403. Freud unterscheidet „drei reine Formen der Aktualneurosen [...]: die Neurasthenie, die Angstneurose und die Hypochondrie.“ Freud 1999: XI 404. 82 Freud 1999: XI 403.

354 ſ DISKRETE GESPENSTER Orakel geben kann. Deshalb können die Auguren sich nicht ansehen, ohne zu lachen. [...] Spüren Sie nicht, daß etwas Lächerliches und Ulkiges in der Tatsache liegt, daß die Würfel bereits gefallen sind ?“83

Im Gegensatz zu dieser rabulistischen Bonbonnière des Denkens hat Freuds Fatalismus, die unheilbar toxische Stelle des Unbewussten soll fortgesetzt werden, hier einen Nullpunkt erreicht, an dem er der materialistischen Psychiatrie nur noch ein unconditional surrender zu signalisieren vermag. „Ich meine, wir können nach diesen Analogien nicht umhin, die Neurosen als Folgen von Störungen in einem Sexualstoffwechsel anzusehen, sei es, daß von diesen Sexualtoxinen mehr produziert wird, als die Person bewältigen kann, sei es, daß innere und selbst psychische Verhältnisse die richtige Verwendung dieser Stoffe beeinträchtigen.“84

Und dennoch, jene hyperboreischen Momente, in denen er scheinbar gegen den Empfang der Botschaft eines Subjekts resistent wird und stattdessen im Stil eines Materialisten die Entscheidung über ein stummes, kontaminiertes Objekt fällt85, sind und bleiben nur – Momente. Momente im Wiederholungsprozess der Frage, die Freud lebenslänglich verfolgt: Muss das Unbewusste primär auf auf physische oder auf psychische Ursachen gegründet werden? Und die Antwort, die sich gerade in der Insistenz der Frage gibt, wird und wurde, hier wie bei Freud, wiederholt. Die Theorie der Psychoanalyse (aber 83 Lacan 1991b: 279. 84 Freud 1999: XI 403. Mag sein, dass Freuds Unterwerfung unter das materialisti-

sche Kommando zu dem Zeitpunkt, als er diese Vorlesung hielt, durch eine Schwächung des psychischen Immunsystems wie zum Beispiel allzumenschliche Liebesprobleme katalysiert worden ist. Jedenfalls heißt es im unmittelbaren Anschluss: „Die Volksseele hat von jeher solchen Annahmen für die Natur des sexuellen Verlangens gehuldigt, sie nennt die Liebe einen „Rausch“ und läßt die Verliebtheit durch Liebestränke entstehen, wobei sie das wirkende Agens gewissermaßen nach außen verlegt.“ 85 An dieser Stelle darf der entscheidende Hinweis nicht unterbleiben, dass es sich bei diesem kontaminierten Objekt um eine Aktualneurose handelt, die Freud von den Psychoneurosen differenziert. Hat die Psychoanalyse im Falle der letzteren ihre therapeutische Wirksamkeit erwiesen, so stellen, Freud betont dies oft, die Aktual- sowie die narzisstischen Neurosen bis auf weiteres ein von der Psychoanalyse um 1900 noch nicht bewältigtes Änigma dar. Vgl. Freud 1999: X 294: „Soviel, als wir in den vorstehenden Erörterungen zusammengetragen haben, läßt sich etwa über das Ubw aussagen, solange man nur aus der Kenntnis des Traumlebens und der Übertragungsneurosen schöpft. Es ist gewiß nicht viel, macht stellenweise den Eindruck des Ungeklärten und Verwirrenden und läßt vor allem die Möglichkeit vermissen, das Ubw in einen bereits bekannten Zusammenhang anzuordnen oder es in ihn einzureihen. Erst die Analyse einer der Affektionen, die wir narzisstische Psychoneurosen heißen, verspricht uns Auffassungen zu liefern, durch welche uns das rätselvolle Ubw näher gerückt und gleichsam greifbar gemacht wird.“. Andererseits warnt Freud davor, eine rigide Demarkationslinie zwischen Aktualneurosen und Psychoneurosen zu erreichten. Denn diese entspricht nicht der psychiatrischen bzw. psychoanalytischen Realität. Vgl. hierzu Freud 1999: XI 405: „Die genannten Formen von Neurose kommen gelegentlich rein vor; häufiger vermengen sie sich allerdings miteinander und mit einer psychoneurotischen Affektion.“ Zur Unterscheidung von Aktual- und Psychoneurosen vgl. auch Kap. 6.9.

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weder Freud noch Lacan deklarieren je eine geschlossene Theorie86) ist also nicht gerichtet durch die ätiologische Inbezugsetzung von Selbstintoxikation, Autolyse und Aktualneurose, sondern lebt gerade davon, dass Freud mit arktisch-materialistischen Annahmen und dann wieder mit ganz anderen, gegensätzlichen, Darstellungen voltigiert, Darstellungen, in denen er die nachtaktive Arbeit des Unbewussten mit den Tätigkeiten der Künstler und „mit unserem Schriftsystem“ vergleicht.87 Derselbe Freud, der im obigen Zitat maliziös autogene septische Vorgänge in den Katakomben eines neurotischen Unbewussten mutmaßt, hebt nun dessen symbolische Produktivität in Form von „sprachlicher Umformung der einzelnen [unbewußten, Anm. v. Verf.] Gedanken“ hervor. Vom mazerierenden Organismus zu dichterischer Erhebung: „Der eine Gedanke, dessen Ausdruck etwa aus anderen Gründen feststeht, wird dabei verteilend und auswählend auf die Ausdrucksmöglichkeiten des anderen einwirken, und dies vielleicht von vorneherein, ähnlich wie bei der Arbeit des Dichters. Wenn ein Gedicht in Reimen entstehen soll, so ist die zweite Reimzeile an zwei Bedingungen gebunden: sie muß den ihr zukommenden Sinn ausdrücken, und ihr Ausdruck muß den Gleichklang mit der ersten Reimzeile finden. Die besten Gedichte sind wohl die, wo man die Absicht, den Reim zu finden nicht merkt, sondern wo beide Gedanken von vornherein durch gegenseitige Induzierung den sprachlichen Ausdruck gewählt haben, der mit leichter Nachbearbeitung den Gleichklang entstehen läßt.“88

* Um noch für einige Passagen bei dieser speziellen, von zwei diskursiven Flanken her determinierten Konzipierung des Sprechens im Kontext eines vordergründigen Gegensatzes zwischen klassischen Pneumata und dem mate86 Vgl. Freud 1999: XIII 229: „CHARAKTER DER PSYCHOANALYSE ALS

EMPIRISCHE WISSENSCHAFT. Die Psychoanalyse ist kein System wie die philosophischen, das von einigen scharf definierten Grundbegriffen ausgeht, mit diesen das Weltganze zu erfassen sucht, und dann, einmal fertig gemacht, keinen Raum mehr hat für neue Funde und bessere Einsichten. Sie haftet vielmehr an den Tatsachen ihres Arbeitsgebietes, sticht die nächsten Probleme der Beobachtung zu lösen, tastet sich an der Erfahrung weiter, ist immer unfertig, immer bereit, ihre Lehren zurechtzurücken oder abzuändern. Sie verträgt es so gut wie die Physik oder die Chemie, daß ihre obersten Begriffe unklar, ihre Voraussetzungen vorläufige sind, und erwartet eine schärfere Bestimmung derselben von zukünftiger Arbeit.“ 87 Freud 1999: II/III 319. An dieser Stelle muss jedoch auf die Differenzierung hingewiesen werden, die Freud, vergleichbar mit Lessings Laokoon oder die Grenzen der Malerei, hinsichtlich der zur Traumarbeit zählenden Rücksicht auf Darstellbarkeit macht. Der Traum unterliegt „einer ähnlichen Beschränkung“ wie „die darstellenden Künste, Malerei und Plastik im Vergleich zur Poesie, die sich der Rede bedienen kann, und auch hier liegt der Grund des Unvermögens in dem Material, durch dessen Bearbeitung die beiden Künste etwas zum Ausdruck zu bringen streben. Ehe die Malerei zur Kenntnis der für sie gültigen Gesetze des Ausdrucks gekommen war, bemühte sie sich noch, diesen Nachteil auszugleichen. Aus dem Munde der gemalten Personen ließ man auf alten Bildern Zettelchen heraushängen, welche als Schrift die Rede brachten, die im Bilde darzustellen der Maler verzweifelte.“ (Freud 1999: II/III 317) 88 Freud 1999: II/III 345f.

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rialistischen Katechismus physiologischer Funktionsstörungen (der sich auf ein mediales Unbewusstes hin transzendieren lässt) zu bleiben. Eine weitere bezeichnende Stelle dazu findet sich in Freuds Beschreibung der Konversionshysterie, wenn er sich Symptomen zuwendet, die „der Intensitätssteigerung oder der Wiederkehr fähig“ sind wie die klassischen hysterischen Stigmata der „Schmerzen, Reizsymptome wie Erbrechen, Sensationen, Kontrakturen“. Im Unterschied zur einfachen Intabulation dieser Symptome seitens einer Psychiatrie, die diese auf ihre physiologische Verfasstheit reduziert, geht Freud weiter und „beobachtet [...] während der Arbeit von seiten dieses Symptoms das interessante und nicht unerwünschte Phänomen des „Mitsprechens““. Diese auf den ersten Blick rätselhafte Beobachtung schließt sich auf, sobald man sich Freuds besonderen Duktus, sein spezifisch „unbewusstes“ Denken, sein Sprechen vergegenwärtigt: Freud zieht ein ganz bestimmtes aus der Reihe der hysterischen Symptome – deren physiologische Konstitution er wohlgemerkt nicht einfach negiert – heran und integriert dieses selbst in ein Wortspiel. Er wählt das Symptom des Erbrechens aus und nimmt dies im doppelten Wortsinn, man könnte sagen: in seinem signifikanten Sinn, und so wird aus dem Wortsinn ein Wortspiel, das die psychischen Konnotationen und Überdeterminiertheiten des physiologischen Vorgangs freilegt.89 Freud stellt das vordergründig somatische Symptom in ein begriffsanalytisches Licht und kristallisiert die in ihm enthaltenen metonymischen und metaphorischen Potentiale heraus – aus dem physischen Erbrechen wird eine doppelsinnige Brechneigung (ein drohendes Vomieren oder aber eine geometrische Brechung). So transformiert er das Erbrechen in den Begriff des Erbrechens und zwar einen Begriff im Hegel’schen Sinne, also einen operativen Begriff, in die Performanz eines Sprechens, die, wie die Fortsetzung des Zitats zeigt, Freuds therapeutische Praxis und seinen theoretischen Diskurs gleichermaßen charakterisiert. „Die Intensität desselben [Symptoms, Hinzuf. d. Verf.] (sagen wir: einer Brechneigung) steigt, je tiefer man in eine der hiefür pathogenen Erinnerungen eindringt, erreicht die größte Höhe kurz vor dem Aussprechen der letzteren und sinkt mit vollendeter Aussprache plötzlich ab oder verschwindet auch völlig für eine Weile. Wenn der Kranke aus Widerstand das Aussprechen lange verzögert, wird die Spannung der Sensation, der Brechneigung, unerträglich, und kann man das Aussprechen nicht erzwingen, so tritt wirklich Erbrechen ein. Man gewinnt so einen plastischen Eindruck

89 Freud geht auch in der Traumdeutung auf das klinische Bild des hysterischen

Erbrechens ein. Hier unterbleibt zwar der explizite Verweis auf das „Mitsprechen“ bzw. die sprachliche Struktur der Symptome. Implizit ist diese jedoch konnotiert, indem Freud unmissverständlich klarmacht, dass psychische Konflikte sich in physiologische Störungen konvertieren. Vgl. Freud 1999: II/III 575f: „Das hysterische Erbrechen also bei einer Patientin erwies sich einerseits als die Erfüllung einer unbewußten Phantasie aus den Pubertätsjahren, nämlich des Wunsches, fortwährend gravid zu sein, ungezählt viele Kinder zu haben, wozu später die Erweiterung trat: von möglichst vielen Männern. Gegen diesen unbändigen Wunsch hatte sich eine mächtige Abwehrregung erhoben. Da die Patientin aber durch das Erbrechen ihre Körperfülle und ihre Schönheit verlieren konnte, so daß kein Mann mehr an ihr Gefallen fand, so war das Symptom auch dem strafenden Gedankengang recht und durfte, von beiden Seiten zugelassen, zur Realität werden.“

APORIEN UND ÄNGSTE ſ 357 davon, daß das „Erbrechen“ an Stelle einer psychischen Aktion (hier des Aussprechens) steht, wie es die Konversionstheorie der Hysterie behauptet.“90

Und so wie Freud die Hysterie durch Re-konversion eines physischen Symptoms in die psychische Aktion des Aussprechens behandelt, so verwandelt er in seinen Werken psychische und physische Symptome in der Sprache, und dies nicht um die Kontagion des Seins durch seine eigene Physis einfach und undialektisch zu negieren, nicht um das Sein auf eine sanitäre, immaterielle Struktur einzuschränken, sondern um die unentwegte und endlose Konversion des Begriffs im Seins, im Medium, zu praktizieren, zu verschlüsseln. Als eine im Körper implementierte Prozedur der Entstellung und Übertragung lässt sich das Unbewusste, und das weiß er, das schreibt sich bei Freud durchgängig, den Ansprüchen des Materialismus nicht völlig entziehen. Nur gibt sich Freud mit den Objekten, die der kontemporäre wissenschaftliche Materialismus produziert, nicht zufrieden, weil er die Diskrepanz, die zwischen dem Medium und der Materialität, zwischen dem Objekt und dem Ding91, besteht, ahnt, und zugleich damit, dass die unbewusste Medialität sich nur durch immanente Überschreitung psychiatrischer Unterstellungen zur Gegebenheit bringen lassen wird. Daher lautet das Gesetz der Stunde für Freud: „Um die Vorgänge der Verdrängung, der Wiederkehr des Verdrängten und der Bildung der pathologischen Kompromißvorstellungen anschaulich und wahrscheinlich zutreffend zu beschreiben, müßte man sich zu ganz bestimmten Annahmen über das Substrat des psychischen Geschehens und des Bewußtseins entschließen. So lange man dies vermeiden will, muß man sich mit [...] eher bildlich verstandenen Bemerkungen bescheiden.“92

Freud negiert ein solches Substrat nicht per se, setzt im Gegenteil gerade hier auf das Fortschreiten der Wissenschaft, aber die wilden Angebote, die die materialistischen Psychiater bis dato gemacht haben, seien es Flechsigs Hirnrindenphantasmagorie oder Helmholtz’ Import von Telegrafenkabeln ins Nervensystem, kann er, seiner Abgemessenheit, seiner Seriösität, seiner Demut vor der Arbeit des Unbewussten gemäß nur refüsieren, eine Zurückweisung, die übrigens auch die moderne endokrinologisch-neurophysiologische Auktion von Frontallappensyndromen bis zu Serotoninhaushalten von seiner Seite erfahren hätte. * Eine unmittelbare Verschränkung der vom konventionellen Standpunkt her heterogenen Elemente des jeweils auf den psychischen und den physischen Bereich bezogenen Begrifflichkeiten zeichnet auch Freuds Bestimmung der Ichfunktion aus. Konszientalismus und Cerebrospinalflüssigkeit, Philosophia perennis und Großtadtsmog, Theodizee und geschmorte Milchferkelbacken, und dann das „Ich, das nicht nur über das Bewußtsein, sondern auch über die

90 Freud 1999: I 301. 91 Vgl. Gondek/Widmer 1994: 11-19. 92 Freud 1999: I 387.

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Zugänge zur motorischen Innervation [...] verfügt“93. Vom Ich und all den von ihm ohne Revanchefurcht und bis zur voluminösen Selbstgewissheit verzehrten Abartigkeiten94 bietet sich der Übergang zu dem in demselben Aktionsradius liegenden Phänomen der Neurose an. Freud stellt, seinem Stil entsprechend, eine Frage: „Sind die Neurosen exogene oder endogene Krankheiten, die unausbleibliche Folge einer gewissen Konstitution oder das Produkt gewisser schädigender (traumatischer) Lebenseindrücke, im besonderen: werden sie durch die Libidofixierung (und die sonstige Sexualkonstitution) oder durch den Druck der Versagung hervorgerufen? Dies Dilemma scheint mir im ganzen nicht weiser als ein anderes, das ich Ihnen vorlegen könnte: Entsteht das Kind durch die Zeugung des Vaters oder durch die Empfängnis von seiten der Mutter?“95

Das Dilemma ist nicht nur unauflöslich, sondern vielmehr ist auch jeder Versuch, das Dilemma zu lösen, aus Gründen, die für das Unbewusste, „unseren seelischen und somatischen Organismus“ [Hervorheb. v. Verf.], konstitutiv sind, zum Scheitern verurteilt. Im Dunklen fortschreitend, von lethischen Flüssen her sprechend – unbewusst weiß Freud das sicher, und er weiß, von diesem Scheitern Funktion zu machen, was jedoch an sein Schwanken zwischen Physis und Psyche, an seine Wiederholung, sein Durcharbeiten der Frage nicht rührt. Einmal adressiert er sie an die Psychiater, um dort „im Stich gelassen“ zu werden96 und in die Kontemplation zu geraten, dass sich dem alten Römer die heimliche Operationalität des Unbewussten eher verraten hat als dem weltläufigen Chefneurologen.97 Dann wieder wendet er sich an jene, die ihm die Frage stellen, an den zwangsneurotischen Bankbeamten im braven Dufflecoat und den Philosophiestudenten im Robin-Hood-Stil, an die hysterische Telefonistin im rosa Häkel-Cardigan und an den neurasthenischen Atomuhrmacher in der schneckengrünen Husarenjacke, und er sagt: „Der Sinn eines Symptoms liegt, wie wir erfahren haben, in einer Beziehung zum Erleben des Kranken. Je individueller das Symptom ausgebildet ist, des93 Freud 1999: XI 373. Das Konzept des Ichs, genauer: die Funktionen Bw und

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Vbw, die hier von Freud resumiert werden, entspricht dem u.a. im 7. Kapitel der Traumdeutung entwickelten Modell, demzufolge das Bw einerseits physiologische Funktionen innehat – es empfängt Reize sowohl aus dem Außenmedium (Wahrnehmung), als auch vom Inneren des Systems aus (unbewusste Innervationen und Wunschregungen) –, andererseits auch die psychische Macht der Zensur, der „kritisierenden Instanz“ realisiert. Vgl. Freud 1999: II/III 545-547 und 579f. Zur Analyse und Dekonstruktion dieser Problematik vgl. Macho 1985c. Freud 1999: XI 359. Freud 1999: XI 257. Vgl. Freud 1999: IV 288f: „Der Römer, der eine wichtige Unternehmung aufgab, wenn ihm ein widriger Vogelflug begegnete, war also relativ im Recht; er handelte konsequent nach seinen Voraussetzungen. Wenn er aber von der Unternehmung abstand, weil er an der Schwelle seiner Tür gestolpert war („un Romain retournerait“), so war er uns Ungläubigen auch absolut überlegen, ein besserer Seelenkundiger, als wir uns zu sein bemühen. Denn dieses Stolpern mußte ihm die Existenz eines Zweifels, einer Gegenströmung in seinem Innern beweisen, deren Kraft sich im Moment der Ausführung von der Kraft seiner Intention abziehen konnte. Des vollen Erfolges ist man nämlich nur dann sicher, wenn alle Seelenkräfte einig dem gewünschten Ziel entgegenstreben.“

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to eher dürfen wir erwarten, diesen Zusammenhang herzustellen.“98 Aber auch von diesen erfährt er, die Geschichte mit ihnen jeweilig und unter „Befolgung der Grundregel“99 wiederholend, dass das Dilemma unauflöslich und der Seinsmangel unheilbar und unteilbar100 ist. Die Worte aus Freuds Untersuchung der Melancholie lassen sich auf den seelisch-somatischen Medienorganismus des Unbewussten im allgemeinen anwenden: „Die Ambivalenz ist entweder konstitutionell [...], oder sie geht gerade aus den Erlebnissen hervor, welche die Drohung des Objektverlustes mit sich bringen.“101 Eine Frage, eine Unentschiedenheit, ein ungewisser Schwebezustand, die bis auf den heutigen Tag die Wiederholung postulieren. * Freuds Schwanken zwischen symbolischer Traum- und Coucharbeit und dem vom Labor geprägten materialistischen Diskurs zeigt sich, der sukzessiven Aufeinanderfolge seiner Hauptforschungsgebiete entsprechend (von der Hysterie über die Traumtheorie bis hin zu den Zwangsneurosen), zunächst in seinen frühen Schriften zur Hysterie. Hier sei nur exemplarisch eine Stelle zitiert, die die Konzepte der hysterischen Reaktion und des Affekts im Kontext der karthatischen Methode behandelt. „Wir verstehen hier unter Reaktion die ganze Reihe willkürlicher und unwillkürlicher Reflexe, in denen sich erfahrungsgemäß die Affekte entladen: vom Weinen bis zum Racheakt.“ Hier resoniert einerseits die neurophysiologische Bestimmung von Affekten und Reflexen, so wie sie in den Diskursen von Helmholtz, Du Bois-Reymond und Brücke funktioniert, andererseits werden diese überschritten, wenn Freud psychische Reaktionen wie das Weinen und den Racheakt anspricht. Das setzt sich instantan dem Gegenargument aus, dass sich die Psychophysik und die vom Regime Charcot beherrschte materialistische Hysterietheorie ja gerade dadurch auszeichnen, den gesamten Bereich des Psychischen physiologisch zu restituieren. Doch gerade dies läuft bei Freud nicht unwidersprüchlich so. Freud kontaktiert vielmehr das Jenseits der Physiologie, er dialektisiert Physiologie und Psychologie, er sondiert das Freud’sche-und-dassprachstrukturierte-Unbewusste. Der unmittelbar im Anschluss folgende Satz unterstützt diese Argumentation, die Freud von seiner frühen Phase an von 98 99

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Freud 1999: XI 278. Freud 1999: X 127. Die erste analytische Grundregel lautet: Diskretion. Vgl. hierzu auch XI 10: „Das Gespräch, in dem die psychoanalytische Behandlung besteht, verträgt keinen Zuhörer; es läßt sich nicht demonstrieren. [...] Die Mitteilungen, deren die Analyse bedarf, macht er nur unter der Bedingung einer besonderen Gefühls der Anbindung an den Arzt; er würde verstummen, sobald er einen einzigen, ihm indifferenten Zeugen bemerkte. Sie können also eine psychoanalytische Behandlung nicht mitanhören. Sie können nur von ihr hören und werden die Psychoanalyse im strengsten Sinne des Wortes nur vom Hörensagen kennen lernen.“ Vgl. Gondek/Widmer 1994: 21: „Letztlich entzieht sich das Singuläre des Subjekts der Analyse, weil sich das Subjekt innerhalb einer Sprache mit-teilt, mit der auch der Analytiker und mit ihm eine ganze Sprachgemeinschaft vertraut ist. Im „Teilen“ zwischen Analysand und Analytiker liegt das Besondere des analytischen Prozesses. Aber das Singuläre teilt sich nicht ganz mit, geht nicht ganz in den Repräsentationen auf. Daher der Schmerz des Subjekts, sich nicht ganz objektivieren zu können; ein jedes differiert von den andern;“ Freud 1999: X 444.

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einer materialistischen Reduktion distanzieren will: „Erfolgt diese Reaktion in genügendem Ausmaße, so schwindet dadurch ein großer Teil des Affektes; unsere Sprache bezeugt diese Tatsache der täglichen Beobachtung durch die Ausdrücke „sich austoben, ausweinen“ u. dgl.“ Ohne hier einen inhaltlichen Bezug auf den Kontext – die kathartische Methode, die Läuterung des Symptoms durch wiederholtes Abreagieren und Aussprechen – einzugehen, allein um ein weiteres Beispiel für das Freud’sche Unbewusste als ein zwischen Physis und Psyche situiertes Medium anzuführen, muss der Absatz noch weiter zitiert werden: „Wird die Reaktion unterdrückt, so bleibt der Affekt mit der Erinnerung verbunden. Eine Beleidigung, die vergolten ist, wenn auch nur durch Worte, wird anders erinnert, als eine, die hingenommen werden mußte. Die Sprache anerkennt auch diesen Unterschied in den psychischen und körperlichen Folgen und bezeichnet höchst charakteristischerweise eben das schweigend erduldete Leiden als „Kränkung“. – Die Reaktion des Geschädigten auf das Trauma hat eigentlich nur dann eine völlig „kathartische“ Wirkung, wenn sie eine adäquate Reaktion ist, wie die Rache. Aber in der Sprache findet der Mensch ein Surrogat für die Tat, mit dessen Hilfe der Affekt nahezu ebenso „abreagiert“ werden kann. In anderen Fällen ist das Reden eben selbst der adäquate Reflex, als Klage und als Aussprache für die Pein eines Geheimnisses (Beichte!).“102

Die Aufhebung des Gegensatzes zwischen einer materialistischen und einer rein geistigen Konzeption schreibt sich in diesen Zeilen, womöglich ohne dass Freud sich der ganzen Reichweite seiner bis hin zu Lacan gehenden Botschaft – Lacan wird die Anerkennung des Unterschieds von psychischen und körperlichen Folgen als Anerkennung der Seinsklüftung mit Hegel reformulieren103 – bewusst gewesen wäre. Im Gegenteil, gerade diese Frage, die von der Psychoanalyse zur Zeit von Poststrukturalismus und Medienarchäologie wiederaufgegriffen und partiell beantwortet wird, hat sich bei Freud geschrieben, lange bevor Foucault und Lacan es methodisch explizit gemacht haben. In Freuds Diskurs dünt und webt das Zwischen-den-Schauplätzen: In einem Satz tauchen die auf der Couch produzierten „Vorstellungsinhalte“ und die labortechnisch induzierten „Körperinnervationen“, „psychischen Gruppen“ und „Dauersymptome und Anfälle“ auf. In seiner Bemerkung, dass „der Anfall [auch], seiner ursprünglichen Bedeutung entkleidet, als inhaltslose motorische Reaktion wiederkehren mag“, transportiert der experimentalphysiologische Diskurs Freuds indirekte Unterstellung einer symbolischen Bedeutung, und am Ende der Passage kommt Freuds Wechsel zwischen Labor und Sprechzimmer für einen Moment im Sprechen zu einer sich aufhebenden Beruhigung, wenn nämlich „dem eingeklemmten Affekte [...] der Ablauf durch die Rede gestattet wird“104. Und dennoch lässt ihn der vom Experimentaldispositiv verordnete Abstieg von einer medialen zu einer materialistischen Problemstellung nicht frei. Dazu zählt nicht zuletzt auch der von der Thermodynamik vermittelte Ontologismus einer libidinösen Kraft, der nicht nur, wie dargelegt, die Theo-

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Freud 1999: I 87. Vgl. Kap. 3. Freud 1999: I 96f.

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rien des Lustprinzips zumindest partiell formatiert105, sondern sich in Form der oxymoralen Formulierung einer „psychischen Kraft“ in fast allen Schriften Freuds reflektiert. So schreibt er beispielsweise, „daß ich durch meine psychische Arbeit eine psychische Kraft bei dem Patienten zu überwinden habe, die sich dem Bewußtwerden (Erinnern) der pathogenen Vorstellungen widersetze.“ Eine psychische Kraft, die den schmalen Grat zwischen Psyche und Materie, auf dem Freud unterwegs ist, in sich kontrahiert, steht in dieser ihrer Doppeldeutigkeit in einem klaren Zusammenhang mit den pathogenen Vorstellungen, die er im weiteren Verlauf des Zitates und zwar signifikanterweise im direkten Anschluss an die Kraft beschreibt. „Was für Kraft war da wohl als wirksam anzunehmen und welches Motiv konnte sie zur Wirkung gebracht haben?“ Die Kraft wird motiviert durch solche „pathogenen, vergessenen und außer Bewußtsein gebrachten Vorstellungen“, die, wie die Kraft selbst, eine dichotomische Ausdifferenzierung zwischen Subjekt und Objekt nicht mehr zulassen. So wie der im Kontext der Angsttheorie entwickelte Schreck, der als unbewusste Ur-sache die Grenze zwischen einem seelischen und einem körperlichen Ereignis überschreitet, so sind solche Vorstellungen „sämtlich peinlicher Natur, geeignet, die Affekte der Scham, des Vorwurfes, des psychischen Schmerzes, die Empfindung der Beeinträchtigung hervorzurufen“106. Freud legt sich nicht fest – Scham, Ekel und psychischer Schmerz werden einerseits nicht unter rein subjektiv-geistigen Phänomenen gefasst, andererseits widersetzen sie sich einer physiologischmaterialistischen Vereindeutigung, so wie die Ansätze von Helmholtz, Charcot und Flechsig es auf jeweils unterschiedliche Weise anstreben. Nicht zuletzt sei daran erinnert, dass Scham, Ekel und Angst in der Lacan’schen Theorie zu genau denjenigen Indizien avancieren, die den direkten Zugang zum Objekt klein a, mit anderen Worten: zur Triebebene des Subjekts eröffnen, das heißt zu einem es, einem etwas, das kein einfacher Fall für die Psychologie, aber auch kein objektivierbarer Körper mehr ist, sondern ein Korpsifiziertes, das die Botschaft von der Operationalität seines eigenen Seins überträgt. * Disparat wie diese Flotte von Beispielen ist, so wird nun erneut Freuds Aufnahme des energetischen Diskurses kurz belichtet. Es wundert nicht, dass gerade die Überlegungen zur unterschiedlichen Intensität und zur Verschiebbarkeit der Besetzungsquantitäten, aus denen er im 7. Kapitel der Traumdeutung die Unterscheidung des Primär- und des Sekundärprozesses entwickelt107, in intensive Berührung mit einer nur scheinbar verwunderlichen Abwehr der materialistischen Posten geraten. So sehr Freud nicht nur in diesem Kapitel, sondern an vielen verschiedenen Stellen des Gesamtwerks energetisch-materialistische Elemente in die Komposition des Unbewussten eintreten lässt, so dürfen doch auch Stellen wie die folgende nicht überlesen werden:

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Vgl. Kap. 6.10. Freud 1999: I 268. Vgl. Freud 1999: II/III 602-610.

362 ſ DISKRETE GESPENSTER „Der Zweckmäßigkeit zu Liebe postuliere ich also, daß es dem zweiten System gelingt, die Energiebesetzungen zum größeren Anteil in Ruhe zu erhalten, und nur einen kleineren Teil zur Verschiebung zu verwenden. Die Mechanik dieser Vorgänge ist mir ganz unbekannt; wer mit diesen Vorstellungen Ernst machen wollte, müßte die physikalischen Analogien heraussuchen und sich einen Weg zur Veranschaulichung des Bewegungsvorgangs bei der Neuronerregung bahnen.“108

* Er praktiziert einen Spagat zwischen zwei Auffassungen, wenn er sich mit einer an vornehme Verweigerung rührende Attitude von der Medizin distanziert, wenn er schreibt, es werde „bald darauf ankommen, ob die einzelne seelische Äußerung direkt aus körperlichen, organischen, materiellen Einwirkungen hervorgegangen ist, in welchem Falle ihre Untersuchung nicht der Psychologie zufällt“109, um dann an anderer Stelle, als wäre es selbstverständlich, medizinisch-physiologische Elemente in seine Argumentation zu integrieren. So macht er die Aktivierung der Gegenbesetzung seitens des Vorbewussten, die in der Traumdeutung als eine der Grundvoraussetzungen zur Inkraftsetzung des unbewussten Verdrängungsvorgangs hervorgehoben wird110, unter anderem davon abhängig, dass „der verdrängte unbewußte Wunsch eine organische Verstärkung erfährt“111. *

Einerseits setzt er die Masturbation – für ihn, hierin der moralischen Stimme seiner Zeit hörig, noch immer eine Form von Unart und Paraphilie – mit einer körperlichen Suchtkrankheit gleich, und entsprechend passt er ihre unter entsprechenden therapeutischen Maßnahmen stattfindenen Entwöhnungsprozesse dem Vokabular der Medizin an: Er spricht von „Abstinenzkuren“112, die, so deprimierend dieses Schicksal ist, einen Krankenhausaufenthalt notwendig machen. „Die Abgewöhnung der Masturbation ist nur eine der neuen therapeutischen Aufgaben, [...] und diese Aufgabe gerade scheint wie jede andere Abgewöhnung nur in einer Krankenanstalt und unter beständiger Aufsicht des Arztes lösbar. Sich selbst

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Freud 1999: II/III 605. Freud 1999: XI 55. Vgl. auch Freud 1999: I 439: „Wer der psychologischen Auffassung der Hysterie überhaupt feindlich entgegensteht, die Hoffnung nicht aufgeben möchte, daß es einst gelingen wird, ihre Symptome auf „feinere anatomische Veränderungen“ zurückzuführen, und die Einsicht abgewiesen hat, daß die materiellen Grundlagen der hysterischen Veränderungen nicht anders als gleichartig sein können mit jenen unserer normalen Seelenvorgänge, der wird selbstverständlich für die Ergebnisse unserer Analysen kein Vertrauen übrig haben;“ Freud 1999: II/III 575ff und 588f. Freud 1999: II/III 610. Freud 1999: X 506.

APORIEN UND ÄNGSTE ſ 363 überlassen, pflegt der Masturbant bei jeder verstimmenden Einwirkung auf die ihm bequeme Befriedigung zurückzugreifen.“113

Dann aber geht er, im Stil einer chiastischen Überkreuzung, so weit, als Psychoanalytiker – und nicht als Vertreter der Medizin – in eine bis heute in der Theorie der Suchterkrankungen dominante Auffassung zu interpolieren. Eine durch entsprechende Drogen auf physiologische Weise bewirkte Veränderung bzw. Destabilisierung des Stoffwechsels, die nur durch entsprechende medizinische und pharmakologische Detoxikationskuren zu beheben ist, zählt als Teil zu dem erwiesenen und anerkannten Wissensbestand der Medizin, damals wie heute. Um 1900 versucht sich Freud an einer Erweiterung und Ergänzung dieser Theorie und der damit verbundenen Praxis – und betritt damit einen Bereich, der auch für die Gegenwart neue, vielmehr reaktualisierbare Fragen aufwerfen könnte. Ohne die Frage hier zu diskutieren, soll es lediglich als ein interessantes Faktum berührt werden, dass Süchte für Freud, die Indifferenzierung mit der Masturbation hat es bereits gezeigt, keine rein physiologischen Deregulationen darstellen, sondern ätiologisch und therapeutisch stets mit einer bestimmten psychischen Disposition verbunden werden müssen. Die Abhängigkeit von einer Droge ist nach Freud kein Prozess, der sich als ein ausschließlich physiologischer Automatismus und in Absehung von dem jeweiligen Triebschicksal des Subjekts vollzieht, sondern wird durch die unbewusste Sexualität bestimmt, wobei Sexualität nicht mehr als biologische Fortpflanzungsfunktion verstanden, sondern vielmehr zur Chiffre für den Trieb, für das Begehren im Unbewussten erhoben wird.114 113

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Freud 1999: I 505. Vgl. auch Freud 1999: I 492: „Bei anderen Fällen kann unsere ätiologische Lehre dem Anstaltsarzte Aufklärung über die Quelle von Mißerfolgen geben, die sich noch in der Anstalt selbst ereignen, und ihm nahelegen, wie solche zu vermeiden sind. Die Masturbation ist bei erwachsenen Mädchen und reifen Männern weit häufiger, als man anzunehmen pflegt, und wirkt als Schädlichkeit nicht nur durch die Erzeugung der neurasthenischen Symptome, sondern auch, indem sie die Kranken unter dem Drucke eines als schändlich empfundenen Geheimnisses erhält. Der Arzt, der nicht gewohnt ist, Neurasthenie in Masturbation zu übersetzen, gibt sich für den Krankheitszustand Rechenschaft, indem er sich auf ein Schlagwort wie Anämie, Unterernährung, Überarbeitung usw. bezieht, und erwartet nun bei Anwendung der dagegen ausgearbeiteten Therapie die Heilung seines Kranken.“ Vgl. z.B. Freud 1999: XI 331: „Vergessen Sie nicht, wir sind derzeit nicht im Besitze eines allgemein anerkannten Kennzeichens für die sexuelle Natur eines Vorganges, es sei denn wiederum die Zugehörigkeit zur Fortpflanzungsfunktion, die wir als zu engherzig ablehnen müssen.“ Vgl. auch Freud 1999: XI 332: „Während für die meisten „bewußt“ und „psychisch“ dasselbe ist, waren wir genötigt, eine Erweiterung des Begriffes „psychisch“ vorzunehmen und ein Psychisches anzuerkennen, das nicht bewußt ist. Und ganz ähnlich ist es, wenn die anderen „sexuell“ und „zur Fortpflanzung gehörig“ – oder wenn Sie es kürzer sagen wollen: „genital“ – für identisch erklären, während wir nicht umhin können, ein „sexuell“ gelten zu lassen, das nicht „genital“ ist, nichts mit der Fortpflanzung zu tun hat. Es ist nur eine formale Ähnlichkeit, aber nicht ohne tiefere Begründung.“ Eine tiefgehende Analyse von Freuds Begriff der Sexualität, dessen dechiffrierende Lektüre auf seine metonymischen Beziehungen und Konvergenzen hinsichtlich des Unbewussten steht noch aus und würde, durchzieht diese Thematik doch das gesamte Werk Freuds, einen kardinalen Schlüssel zum Verständnis des Freud’schen Unbewussten anbieten. Fest steht, dass in der Sexualität, jenseits aller signifikats-

364 ſ DISKRETE GESPENSTER „Eine ganz analoge Bemerkung gilt übrigens auch für alle anderen Abstinenzkuren, die so lange nur scheinbar gelingen werden, so lange sich der Arzt damit begnügt, dem Kranken das narkotische Mittel zu entziehen, ohne sich um die Quelle zu kümmern, aus welcher das imperative Bedürfnis nach einem solchen entspringt. „Gewöhnung“ ist eine bloße Redensart ohne aufklärenden Wert; nicht jedermann, der eine Zeitlang Morphium, Kokain, Chloralhydrat u. dgl. zu nehmen Gelegenheit hat, erwirbt hiedurch die „Sucht“ nach diesen Dingen. Genauere Untersuchung weist in der Regel nach, daß diese Narkotika zum Ersatze – direkt oder auf Umwegen – des mangelnden Sexualgenusses bestimmt sind, und wo sich normales Sexualleben nicht mehr herstellen läßt, da darf man den Rückfall des Entwöhnten mit Sicherheit erwarten.“115

Das von Freud divinierte mediale Unbewusste, jene in der Wiederholung seiende psychische Botschaft, die sich vermittels des Physischen überträgt, geht in seiner Insistenz und Unentwegtheit, in seiner Unaufhörlichkeit und Schicksalhaftigkeit so weit, dass Essenzen wie Morphium, Kokain, Chloralhydrat u. dgl. dagegen wie homöopathische Dosen anmuten. * Einerseits etabliert er eine Gleichung zwischen den durch frühkindliche Traumata angerichteten psychischen Deformationen und den nachträglichen „Schädigungen, die das unausgebildete Organ [...] treffen“ und die „ja so häufig schwerere und nachhaltigere Wirkungen, als sie im reiferen Alter entfalten könnten, [verursachen]“116. Dann wieder beharrt er im Zuge der Präsentation des psychischen Apparates, dass „wir auf psychologischem Boden [bleiben]“ wollen: „Wir wollen ganz beiseite lassen, daß der seelische Apparat, um den es sich hier handelt, uns auch als anatomisches Präparat bekannt ist, und wollen der Versuchung sorgfältig aus dem Wege gehen, die psychische Lokalität etwa anatomisch zu bestimmen.“117 * Den angeführten Stationen von Freuds zentralen Forschungen entsprechend – Hysterie, Traumdeutung, Neurose – findet die Interferenz psychischer und physiologischer Denk- und Erklärungsansätze erstmalig in den Überlegungen zur Hysterie eine direkte Manifestation. Die unverkennbar physiologischen Anzeichen von „Körperinnervation [...], Dauersymptomen und Anfällen“, die das Krankheitsbild „akuter Hysterie“ prägen – hier bleibt Freud eindeutig im Fahrwasser der Hysterietheorie Charcots118 –, erweisen sich dennoch nicht als hinreichend zur ätiologischen Erfassung. Freud weicht ab von Charcots Materialismus, wenn er die oben aufgezählten Anzeichen auf einen psychischen „Vorstellungsinhalt“ bezieht, der, wiederum keineswegs eindeutig, von dem Moment an, wo er „genügend angewachsen“ ist, als Auslöser der hysterischen Attacke fungiert. Ohne hier dem Anspruch genügen zu wollen, eine

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dominierten Bestimmungen des Begriffs, für Freud ein direkter Verweis auf die Mächte des Unbewussten verborgen ist. Freud 1999: I 506. Freud 1999: I 437f. Freud 1999: II/III 541. Vgl. Didi-Huberman 1997; Roudinesco 1986: 47-66.; Ellenberger 1973: 187.

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Einsicht in den genauen Ablauf und Zusammenhang einer hysterischen Erkrankung nach Freud zu geben – denn es geht hier ausschließlich um die sich in seinem Denken reflektierende Aporie zwischen Physis und Psyche im allgemeinen, nicht um die Durchleuchtung der Hysterie im besonderen –, reflektiert sich hier eine Verschränkung zweier grundsätzlich verschiedener Gedankenkreise: Eine psychisch konstituierte Erinnerung wird auf der Basis physiologischer und psychotechnischer Mechanismen und Abläufe beschrieben: „Der Anfall kommt dann spontan, wie auch bei uns die Erinnerungen zu kommen pflegen, er kann aber auch provoziert werden, wie jede Erinnerung nach den Gesetzen der Assoziation zu erwecken ist. Die Provokation des Anfalles erfolgt entweder durch die Reizung einer hysterogenen Zone oder durch ein neues Erlebnis, welches durch Ähnlichkeit an das pathogene Erlebnis anklingt.“

Weiter und die Unauflösbarkeit der Verschränkung beider genannter Bereiche unterstreichend assertiert er, „daß zwischen beiden anscheinend so verschiedenen Bedingungen ein wesentlicher Unterschied nicht besteht“, da beide Fälle jeweils auf eine „hyperästhetische Erinnerung“ zurückgeführt werden können.119 Ist dieser Ausdruck, „hyperästhetische Erinnerung“, – ähnlich wie die so häufig vorkommende psychische oder seelische Energie120 –nicht paradigmatisch für das Spannungsfeld zwischen einer psychischen und einer physiologischen Konzeption des Unbewussten, das sich in Freud aufbaut und eskaliert? Spitzt sich hier nicht die ambivalente und unvereinbare Nähe zwischen einem letzten Orientierungsversuch in einer im Niedergang begriffenen Denkepoche und einer providentiellen Ratlosigkeit zu, die sich mit Lacan als erste Ortung eines mediatisierten Unbewussten entziffern lässt? * Die Aporie manifestiert sich auch positiv in Form ihrer Inversion, nämlich der Überzeugung von der unauflöslichen Verbundenheit und Wechselwirkung physischer und psychischer Funktionen. Ein vielsagendes Beispiel ist die Erkenntnis, die Freud bezüglich des Kopfschmerzes kundgibt. „Der Kopfschmerz bedeutet die Abneigung, sich beeinflussen zu lassen.“121 Beneidenswert der personifizierte Wuchs eines Denkens, das, vom Standpunkt der Korpsifizierung aus, auf unerschütterlichen eubiotischen Säulen ruht. Freud erging es anders. Insbesondere die in den neunziger Jahren verfassten Briefe an Fliess legen Zeugnis davon ab, dass Freuds Arbeit in periodischen Abständen durch heftige, schmerzvolle Migräneattacken beeinträchtigt oder gar unterbrochen wurde.122 Freud erging es anders als jenen geländegängigen Herren der Akademie, die bei bester Gesundheit und ohne Symptome, bis auf das eine, große, unvernehmbare, das Ich, zwischen der Fichte-Vorlesung und dem Wörthersee rotieren. Ihm erging es anders, aber zugleich sah er die Dinge anders, er sah, dass das Subjekt, ob nun verstopft durch ein hypermorphes Ich oder versehrt durch Migräne und andere Gebrechlichkeiten, sich in den 119 120 121 122

Freud 1999: I 96. Vgl. z.B. Freud 1999: II/III 106f und XI 370. Freud 1999: I 308. Vgl. Schur 1972: 57 und 126.

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Schriften niederschlug, selbst bei Fichte noch in irgendeiner verräterischen Weise zu beharren vermochte. Dass die Migräne selbst, Leben und Denken hier so unerreichbar benachbart wie Psyche und Physis, sich in Freuds Theorie geschrieben hat, zeigt allein schon ein Blick in das Gesamtregister der Werkausgabe: Die Stellen I 124,139, 185, 369; IV 27; V 179, 181; XI 21f 3739; XIV 12 bearbeiten genau dieses Gebiet. Freuds Erfahrung des Unbewussten, die oben genannte mediale Verbundenheit physischer und psychischer Funktionen, potenziert sich gewissermaßen in seinen eigenen Schriften, in der Geschichte seines eigenen Lebens und Leidens. * Der zielorientiert zwischen Physis und Psyche oszillierende Diskurs Freuds zeigt sich in besonderer Weise in einem Teilaspekt, der unter die Theorie des Traumes fallenden Untersuchungen: nämlich in der Besprechung der Frage, ob der Traum durch somatische Reize oder durch psychische Vorgänge verursacht werde. Nicht nur dass der Traum, der die Negation nicht kennt, das besondere Feld darstellt, auf dem die Aufhebung von Widersprüchen aller Art und Tönung möglich wird. Auf dem Feld des Traums ist Freud seit der zu großen Teilen auf Selbstanalysen basierenden Traumdeutung von 1900 auch zuhause, in Bezug auf den Traum vermag er seine Theorie des Unbewussten mit aller Souveränität zu verteidigen und zu behaupten. Auf dem Boden der Traumdeutung kann Freud der „allgemeinen Auflehnung gegen unsere Wissenschaft“ und der „Entfesselung der Opposition von allen Zügeln unparteiischer Logik“ die Stirn bieten.123 Das erste Kapitel hat herausgestellt, dass Freuds spezifischer wissenschaftlicher Gegenstand hinsichtlich dieses zentralen Gebiets kein Gegenstand im konventionellen Sinne mehr ist, sondern ein Vorgang: Mit dem Traum analysiert Freud die Traumarbeit, er analysiert kein fertiges und objektivierbares Gebilde, sondern eine Operation. Im Brennpunkt von Freuds Interesse stehen weder der latente noch der manifeste Inhalt als solche, sondern vielmehr das transformatorische Dazwischen. So distanziert er sich von der traditionellen Annahme, „der Traum habe einen Sinn, wiewohl einen verborgenen, er sei zum Ersatze eines anderen Denkvorganges bestimmt, und es handle sich nur darum, diesen Ersatz in richtiger Weise aufzudecken, um zur verborgenen Bedeutung des Traumes zu gelangen“124, und konzentriert sich stattdessen auf eine Arbeit der (De-)Chiffrierung, die potentiell unendlich und ohne Urbild ist. Das muss als Retrospektive genügen, denn die laufende Argumentation kreist um ein anderes Thema (das die Operationalität des Traumes nichtsdestoweniger kontextualisiert): um das Verhältnis von Physis und Psyche. Und mit diesem wird Freud auch bei der Errichtung seiner Traumtheorie konfrontiert in Form der in der materialistischen Psychiatrie herrschenden Auffassung, die im Grunde dem „Problem der Traumdeutung keinen Raum [läßt], denn der Traum ist für sie überhaupt kein seelischer Akt, sondern ein somatischer Vorgang, der sich durch Zeichen am seelischen Apparat kundgibt“125.

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Freud 1999: XI 295. Freud 1999: II/III 100f. Freud 1999: II/III 101. Vgl. auch Freud 1999: XI 83: „Dagegen hat die exakte Wissenschaft der Jetztzeit sich wiederholt mit dem Traume beschäftigt, aber immer nur in der Absicht, ihre physiologischen Theorien auf ihn anzu-

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Auch hier sagt Freud sich, in seinem Denken der herrschenden episteme unterworfen und im Laboratorium geschult, nicht einfach los, er maßt sich nicht an, die Theorie von der somatischen Ätiologie des Traums einfach als einen Irrtum zu berichtigen, er streift die Probleme, die die Psychiatrie beschäftigen müssten, wäre sie nicht durch die für ihren Herrndiskurs typische Verkennung geschützt, nicht einfach ab. Professionell, gelassen und ohne jede Polemik referiert Freud, „daß dreierlei somatische Reizquellen unterschieden werden, die von äußeren Objekten ausgehenden objektiven Sinnesreize, die nur subjektiv begründeten inneren Erregungszustände der Sinnesorgane und die aus dem Körperinnern stammenden Leibreize“126. In aller Ruhe gesteht er der „allbekannten Beeinflussung [...], welche der Erregungszustand der Digestions-, Harn- und Sexualorgane auf den Inhalt unserer Träume ausübt“127, Platz und Gültigkeit zu. Er hält auch in der Traumtheorie an seinen physiologisch-energetischen Konzepten fest, was sich insbesondere in seinen Überlegungen zur Relation von Schlaf- und Wachzustand dokumentiert, die ihn zu dem Befund führen, dass eine quantitative Änderung der Besetzungsenergien die Möglichkeitsbedingung des Traumes darstellt.128 Es geht also nicht darum, die somatische Traumtheorie einfach zu disqualifizieren, es geht jedoch darum, zu erkennen, dass „der psychoanalytische Sachverhalt [...] gern etwas komplizierter zu sein [pflegt], als uns lieb ist. Wenn er so einfach wäre, hätte es vielleicht nicht der Psychoanalyse bedurft, um ihn ans Licht zu bringen“129. Ein sich so sehr in physisch-psychischer Tiefe vernervendes Gewirke wie der Traum, ein Gewirke, das „in eine Pollution [...] auslaufen [kann], in welcher das somatische Bedürfnis sich einen fortschreitend deutlicheren Ausdruck erzwingt“, und das zugleich durch Assoziation verbundene „gesonderte Zentren“ umgreift, die sich derart in zwei Träume aufteilen, „daß in dem einen Traum Zentrum ist, was im anderen als Andeutung mitwirkt und umgekehrt“130, invoziert in der Tat die Psychoanalyse. Für sich allein genommen ist der somatische Ansatz so wenig hinreichend wie die idealistisch-repräsentationslogische Bohrung nach dem verborgenen Transzendentalsignifikat – der Traum ist widerspenstiger, komplexer, verschneiter, als dass er einseitig und eindeutig den in die Physiologie bzw. Psychologie fallenden Erklärungsversuchen nachgeben würde. Er sabotiert in seiner unaufhörlichen Arbeit der Entstellung jede Fahndung nach der profunden Bedeutung, und er macht es erforderlich, dass man auch „jener

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wenden. Den Ärzten galt der Traum natürlich als ein nicht psychischer Akt, als die Äußerung somatischer Reize im Seelenleben.“ Freud 1999: II/III 225. Freud 1999: II/III 116. Vgl. Freud 1999: II/III 582: „Das größere theoretische Interesse wendet sich aber den Träumen zu, die mitten im Schlafe zu wecken vermögen. Man darf der sonst überall nachweisbaren Zweckmäßigkeit gedenken und sich fragen, warum dem Traum, also dem unbewußten Wunsch, die Macht gelassen wird, den Schlaf, also die Erfüllung des vorbewußten Wunsches, zu stören. Es muß das wohl an Energierelationen liegen, in welche uns die Einsicht fehlt. Besässen wir diese, so würden wir wahrscheinlich finden, daß das Gewährenlassen des Traums und der Aufwand einer gewissen detachierten Aufmerksamkeit für ihn eine Ersparnis an Energie darstellt gegen den Fall, daß das Unbewußte nachts ebenso in Schranken gehalten werden sollte wie tagsüber.“ Freud 1999: XI 30. Freud 1999: II/III 320f.

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Reihe von Zweifeln Gehör schenke, welche nicht sowohl die Richtigkeit als vielmehr die Zulänglichkeit der somatischen Reiztheorie anzugreifen“ scheinen131. Die um 1900 erscheinende Traumdeutung, eine Kaskade von positiven wie negativen Reaktionen, Ovationen und Schlachtrufen rief sie hervor und markierte den Durchbruch der Freud’schen Psychoanalyse in der wissenschaftlichen und populären Welt, macht unter zahlreichen Beispielen und scharfsichtigen Analysen deutlich, „daß der reiche Vorstellungsinhalt der Träume eine Ableitung aus den äußeren Nervenreizen allein nicht wohl zulässt“132. Unter den zahlreichen Autoren, die Freud für die Abfassung des Buches recherchiert hat, verweist er auch auf Spitta und dessen Anlauf zur Orientierung durch eine Scheidung von Nervenreiztraum und Assoziationstraum. Freud weist diese Trennung von somatischen und psychischen Traumimpulsen zurück, und dies nicht nur, weil „es klar [war], daß die Lösung unbefriedigend blieb“, sondern weil sein eigener Versuch einer Dialektisierung des Somatischen und des Psychischen, der Versuch, „das Band zwischen den somatischen Traumquellen und dem Vorstellungsinhalt des Traumes nachzuweisen“, mit Spittas einfacher Entgegensetzung konfligiert133. Wenn Freud den Traum eigentlich mit der Traumarbeit, das heißt einer mit Verschiebungen und Verdichtungen operierenden Transformation gleichsetzt, dann wird die Frage nach dem signifikanten Material, in und mit dem diese Transformation sich vollzieht, sekundär.134 Der Traum ist weder psychisch noch soma131 132

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Freud 1999: II/III 226. Zitat leicht modifiziert. Freud 1999: II/III 226. Freud überführt die in der Psychiatrie vorherrschende somatische Ätiologie des Traumes mit einem unumstößlichen Argument ihres unzureichenden Charakters, vgl. hierzu Freud 1999: II/III 229f: „Die Unzulänglichkeit der Lehre von den somatischen Traumreizen läßt sich auch auf andere Weise dartun. Die Beobachtung zeigt, daß ich durch äußere Reize nicht zum Träumen genötigt werde, wenngleich diese Reize im Trauminhalt erscheinen, sobald und für den Fall, daß ich träume. Gegen einen Haut- oder Druckreiz etwa, der mich im Schlafe befällt, stehen mir verschiedene Reaktionen zu Gebote. Ich kann ihn überhören und dann beim Erwachen finden, daß z. B. ein Bein unbedeckt oder ein Arm gedrückt war; die Pathologie zeigt mir ja die zahlreichsten Beispiele, daß verschiedenartige und kräftig erregende Empfindungs- und Bewegungsreize während des Schlafes wirkungslos bleiben. Ich kann die Sensation während des Schlafes verspüren, gleichsam durch den Schlaf hindurch, wie es in der Regel mit schmerzhaften Reizen geschieht, aber ohne den Schmerz in einen Traum zu verweben; und ich kann drittens auf den Reiz erwachen, um ihn zu beseitigen. Erst eine vierte mögliche Reaktion ist, daß ich durch den Nervenreiz zum Traum veranlaßt werde; die anderen Möglichkeiten werden aber mindestens ebenso häufig vollzogen wie die der Traumbildung. Diese könnte nicht geschehen, wenn nicht das Motiv des Träumens außerhalb der somatischen Reizquellen läge.“ Freud 1999: II/III 226. Freud prozediert auf eine sehr weitsichtige, nämlich die für die psychoanalytische Arbeit konstitutive Intersubjektivität in den Blick nehmende Weise, wenn er die Tatsache der experimentellen Induzierbarkeit nicht nur widerlegt, sondern im Gegenteil als ein seine These unterstützendes Element in seine Argumentation aufnimmt. Vgl. hierzu Freud 1999: XI 245: „Wenn die Reden des Arztes und die Anregungen, die er gibt, für den Analysierten bedeutungsvoll geworden sind, so treten sie in den Kreis der Tagesreste ein, können die psychischen Reize für die Traumbildung abgeben wie die anderen affektbetonten unerledigten Interessen des Tages und wirken ähnlich wie die somati-

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tisch, sondern er verarbeitet und prozessiert somatische und psychische Reize auf der Basis sprachlicher Strukturen. Er ist das Sein, aber er ist dies im Sinne von „seiend“, operativ, arbeitend, und die von ihm geleistete Arbeit besteht in der verschlüsselten Übertragung eines unbewussten Wunsches, eine Verschlüsselung, die sich Leibreizen, Tagesresten und Erinnerungen in gleicher Weise bedient. „Das Wesen des Traumes wird nicht verändert, wenn zu den psychischen Traumquellen somatisches Material hinzutritt; er bleibt eine Wunscherfüllung, gleichgültig wie deren Ausdruck durch das aktuelle Material bestimmt wird.“135 Die Frage nach der somatischen oder psychologischen Konstitution der Träume – die sich, wie gezeigt, nicht auf der Basis der Figur des entweder-oder, sondern nur auf der eines logischen „und“ beantworten lässt – steht für Freud also zurück hinter seiner ahnenden Gewissheit vom Sinn der Träume: das-Freud’sche-ist-das-sprachstrukturierte-Unbewusste. Nur so lässt sich die vordergründige Opposition zwischen „der medizinischen und der psychoanalytischen Auffassung des Traumes“ aufheben. „Die Form der Träume ist also an sich keineswegs bedeutungslos und fordert selbst zur Deutung heraus, daß auch der Unsinn und die Absurdität der Träume ihre Bedeutung haben. Ja, in diesem Punkte spitzt sich der Gegensatz der medizinischen und der psychoanalytischen Auffassung des Traumes zu einer sonst nicht erreichten Schärfe zu. Nach ersterer ist der Traum unsinnig, weil die träumende Seelentätigkeit jede Kritik eingebüßt hat; nach unserer dagegen wird der Traum dann unsinnig, wenn eine in den Traumgedanken enthaltene Kritik, das Urteil „es ist unsinnig“, zur Darstellung gebracht werden soll.“136

Auf dem Feld des Traums ist Freud zuhause, in keinem anderen Bezirk vermag er den Gegensatz zwischen Physis und Psyche so dezidiert, zielsicher und angenehm undiplomatisch in Richtung auf ein mediatisiertes Unbewusstes hin aufzuheben. Sofern Freuds Aporie zwischen einer physiologischen oder psychischen Konstitution des Unbewussten als eine selbst unbewusste Ahnung, als eine sich seiner bewussten Wahrnehmung zumindest partiell entziehende Chiffrierung des Mediums sprechendes Sein gelesen wird, lässt sich sagen, dass diese in der Traumdeutung kulminiert. Auf so vermeintlich diskontinuierliche Weise komponiert wie der von Lacan zu einem im positiven Sinne als alarmierend erklärte Text über Die Verneinung137, legt Freud in der Traumdeutung zunächst ausführlich die symbolischen Mechanismen der Traumarbeit dar, um dann im berühmten 7. Kapitel das Modell eines psychi-

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schen Reize, die während des Schlafes auf den Schläfer einwirken. Wie diese anderen Anreger des Traumes können auch die vom Arzt angeregten Gedankengänge im manifesten Trauminhalt erscheinen oder im latenten nachgewiesen werden. Wir wissen ja, daß man Träume experimentell erzeugen, richtiger gesagt, einen Teil des Traummaterials in den Traum einführen kann. Der Analytiker spielt also bei diesen Beeinflussungen seiner Patienten keine andere Rolle als der Experimentator, der wie Mourly Vold den Gliedern seiner Versuchspersonen gewisse Stellungen erteilt. [...] Man kann oftmals den Träumer beeinflussen, worüber er träumen soll, nie aber darauf einwirken, was er träumen wird. Der Mechanismus der Traumarbeit und der unbewußte Traumwunsch sind jedem fremden Einfluß entzogen.“ Freud 1999: II/III 234. Freud 1999: XI 180f. Zu Lacans Analyse dieses Textes vgl. Lacan 1986: 173-220.

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schen Apparates zu entfalten138, das neurophysiologische, energetische und elektrizitätsphysikalische Denkfiguren umgreift. Das Modell arbeitet mit Begriffen wie Erregungsfortpflanzung, Leitungswiderstand und Energiebesetzungen139 und mit der Annahme, dass „er [der Traum, Anm. d. Verf.] die Erregung des Ubw [abführt], ihm als Ventil [dient] und gleichzeitig gegen einen geringen Aufwand an Wachtätigkeit den Schlaf des Vorbewußten [sichert]“140. Freud unterstellt eine „Natur der Affektentwicklung“, die „als eine motorische oder sekretorische Leistung angesehen [werden kann], zu welcher der Innervationsschlüssel in den Vorstellungen des Ubw gelegen ist“141. Er profiliert den Traum – in Entsprechung zum Symptom – als einen solchen „Fall im Organismus, daß eine sonst zweckmäßige Einrichtung unzweckmäßig und störend wird, sobald an den Bedingungen ihres Entstehens etwas geändert ist, und dann dient die Störung wenigstens dem neuen Zweck, die Veränderung anzuzeigen, und die Regulierungsmittel des Organismus wider sie wachzurufen“142. Er liefert eine psychophysische Formulierung von der Insistenz und Unzerstörbarkeit des unbewussten Begehrens, wenn er schreibt, „daß die unbewußten Wünsche [...] Wege dar[stellen], die immer gangbar sind, so oft ein Erregungsquantum sich ihrer bedient“. Die zwangsneurotischen Wiederholungstaten sowie die Bogensprünge der Hysterie präsentieren „den stärksten Eindruck“ von dieser Tatsache; „der unbewußte Gedankenweg, der zur Entladung im Anfall führt, ist sofort wieder gangbar, wenn sich genug Erregung angesammelt hat. [...] So oft ihre Erinnerung [die einer primordialen Kränkung, Anm. d. Verf.] angerührt wird, lebt sie wieder auf und zeigt sich mit Erregung besetzt, die sich in einem Anfall motorische Abfuhr verschafft“143.

Der eklektische Zugriff auf die im 7. Kapitel der Traumdeutung auf der Basis des psychischen Apparats dargelegten tiefen Einsichten Freuds in die Mysterien des Unbewussten legitimiert sich durch den vorgegebenen Argumentationsrahmen, der die strukturierte und dialektisierende Verwebung von psychischen und physischen Elementen in Freuds Buch über den Traum aufzeigen und zugleich seine Konzipierung des Unbewussten erschließen will. Eine umfassende Darstellung, die diesem großen, legendenhaften Kapitel über den psychischen Apparat voll gerecht würde – es umfasst in sich eine Theorie des Gedächtnisses, der Relationen zwischen dem Bewusstsein, dem Vorbewussten und des Unbewussten und nicht zuletzt eine Integration des Lust- und Realitätsprinzips – könnte nur in einer eigenen Studie erbracht werden.144 138

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Strenggenommen handelt es sich um eine Reprise und Amplifizierung des erstmals im Entwurf einer Psychologie formulierten Modells. Freud selbst verweist in unangemessener Bescheidenheit nur auf Breuers „Studien über Hysterie“. Vgl. Freud 1999: X 286, FN 1. Freud 1999: II/III 544 und 549. Freud 1999: II/III 584f. Freud 1999: II/III 588. Freud 1999: II/III 586. Freud 1999: II/III 583f. Um dennoch einen summarischen Überblick über das im 7. Kapitel verhandelte Modell des psychischen Apparats zu gewährleisten, sollen einige aussagekräftigen Passagen zitiert werden: „All unsere psychische Tätigkeit geht von (inneren oder äußeren) Reizen aus und endigt in Innervationen. Somit

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Abschließend soll die Konzeption des Unbewussten, begriffen als ein mediales Reales, sofern sie in der Traumtheorie chiffriert ist, zusammengefasst werden. Die angeführten Stellen aus dem 7. Kapitel der Traumdeutung stehen nur scheinbar im Widerspruch zu Freuds Deklaration: „Wenn der Traum ein somatisches Phänomen ist, geht er uns nichts an; er kann uns nur unter der Voraussetzung, daß er ein seelisches Phänomen ist, interessieren.“145 Freud schließt mit dieser Aussage die Beteiligung somatischer Faktoren an der Traumentstehung keineswegs aus, aber er denkt diese Beteiligung auf eine Weise, die von der herrschenden Physiologie und materialistischen Psychiatrie divergiert. Nicht allein dass sich ein somatisches Phänomen unter kein unmittelbares Augenlicht mehr bringen lässt – die für die klassische episteme konstitutive Sichtbarkeit hat auch die zeitgenössische Psychiatrie verlassen –, aber selbst als ein funktionaler Mechanismus oder eine Störung lässt es sich nicht mehr experimentell absichern. Betrachtet man das somatische Phänomen jedoch nicht länger als ein wissenschaftliches Objekt, das als solches existiert, das physiologisch deduzierbar ist und das derart, nämlich als ein genau in diesem Punkt noch immer „objekthaft“ verfasstes Unbewusstes, eine Störung oder einen Traum hervorruft, sondern stellt man es vielmehr unter einen medialen Blickwinkel, so verschwindet die vermeintliche Antithese zwischen der Traumarbeit als einer symbolischen Aktivität und der (im 7. Kapitel vorgestellten) Traumarbeit als einem Vorgang, bei dem „aller Wert darauf gelegt wird, die besetzende Energie beweglich und abfuhrfähig zu machen“146. Die Fortsetzung dieses Zitats indiziert, wie sehr Freud die Gesetze der materialistischen Psychiatrie und deren vereinfachende Inbezugsetzung von psychischen und somatischen Komponenten auf die Präfiguration einer medialen Konstitution des Unbewussten hin verlassen hat, wie sehr, mit anderen Worten, der erste, symbolisch beherrschte, und der zweite psychophysische Teil der Traumdeutung einander ergänzen und nicht etwa in widersprüchlicher Blockierung nebeneinanderstehen. Als den „Hauptcharakter“ der „Traumarbeit“ hebt Freud hervor, „daß der Inhalt und die eigene Bedeutung der psychischen Elemente, an denen diese Besetzungen haften, [...] zur Nebensache“ werden147. Damit präfiguriert er einen der Hauptsätze der Medientheorie und der mathematischen Theorie der Kommunikation, der besagt, dass die jeweilige physikalische Realisierung

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schreiben wir dem Apparat ein sensibles und ein motorisches Ende zu; an dem sensiblen Ende befindet sich ein System, welches die Wahrnehmungen empfängt, am motorischen Ende ein anderes, welches die Schleusen der Motilität eröffnet. Der psychische Vorgang verläuft im allgemeinen vom Wahrnehmungsende zum Motilitätsende.“ (Freud 1999: II/III 542) Speziell im Blick auf den Traum vgl. II/III 584: „Für den einzelnen unbewußten Erregungsvorgang gibt es also zwei Ausgänge. Entweder er bleibt sich selbst überlassen, dann bricht er endlich irgendwo durch und schafft seiner Erregung für dies eine Mal einen Abfluß in die Motilität, oder er unterliegt der Beeinflussung des Vorbewußten, und seine Erregung wird durch dasselbe gebunden anstatt abgeführt. Letzteres aber geschieht beim Traumvorgang. Die Besetzung, die dem zur Wahrnehmung gewordenen Traum von seiten des Vbw entgegenkommt, weil sie durch die Bewußtseinserregung hingelenkt worden ist, bindet die unbewußte Erregung des Traumes und macht sie als Störung unschädlich.“ Freud 1999: XI 97. Freud 1999: II/III 602. Freud 1999: II/III 602.

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der übertragenen Botschaft gegenüber akzidentiell ist148 – worin das, was oben bezüglich der Traumarbeit aufgeschlossen wurde und damit das eigentliche „Wesen“ des Freud’schen Unbewussten, nämlich die Dassheit einer Botschaft, impliziert ist. Der Abstand, der sich so zwischen der materialistischen und der psychoanalytischen Konzeption eines „somatischen Phänomens“ auftut, wird evident. Freuds Bemerkung, dass die Psychoanalyse den Traum als seelisches und nicht somatisches Phänomen untersucht, darf nicht als eine völlige Ausklammerung der an der unbewussten Traumarbeit beteiligten somatischen Faktoren einseitig fehlinterpretiert werden. Nur erlangen diese somatischen Faktoren bei ihm einen Status, der ihre materialistische zugunsten einer medialen Grundlegung überwindet. Die Freud verfolgende Aporie zwischen Physis und Psyche erreicht in der Traumdeutung eine Aufhebung, das Freud’sche-und-das-sprachstrukturierte-Unbewusste wird in seiner Medialität verschlüsselt. Die Tatsache, dass sich diese sprachlichen Strukturen, die Meldungen eines Subjekts und nicht einfach ein per se levitierendes abstraktes Gefüge darstellen, mittels einer physischen Materialität transportieren müssen, steht für Freud also außer Frage, aber im Unterschied zur materialistischen Psychiatrie übergeht er die Medialität des Unbewussten nicht, indem er dieses als ein bestimmtes physiologisch konkretisierbares Was ausweist. Anders als die übrigen Teilhaber seines Dispositivs verhält Freud sich respektvoller gegenüber der Weisheit, „daß [...] nichts so einfach vor sich geht, wie man es sich gerne konstruieren möchte“149. Für den im 7. Kapitel auf der Basis des kontemporären physiologischen und physikalischen Wissens modellierten psychischen Apparat gilt, dass „wir es bei Vermutungen bewenden lassen [wollen]“, und in der Formulierung, dass es „sich wohl um Veränderungen in den Energiebesetzungen der einzelnen Systeme handeln [muß], durch welche sie wegsamer oder unwegsamer für den Ablauf der Erregung werden“150, echot all die Vorsicht und Zurücknahme des historisch zwischen der materialistischen und der strukturalistischen Ära situierten Entdeckers des Unbewussten. So können jene „Vorstellungen“, „Vorstellungsinhalte“ und „Vorstellungsabläufe“, in denen Lacan die Signifikanten in Freud’scher Formulierung vorfindet151, und die „Besetzungen“, Erregungen“ sowie die die „Aussendung der Affekt entwickelnden Impulse“152 in unmittelbaren Sukzessionen in einer einzigen Passage des 7. Kapitels vorkommen, ohne dass ein Widerspruch zwischen einer psychologischen und einer physischen Perspektive entstünde oder präziser: ohne dass dieser Widerspruch nicht durch die stets kontextualisierte Dassheit (und eben nicht Washeit) des Unbewussten aufgelöst würde. Denn bei aller Gewissheit der Existenz eines realen Seins gilt dennoch, dass „wir uns in die Fiktion eines [...] psychischen Apparats vertieft“153 haben, anders gesagt, dass es sich lediglich um eine Näherung des medialen Realen handelt.154 148 149 150 151 152 153 154

Vgl. Shannon 1976: 7-10. Freud 1999: XI 357. Freud 1999: II/III 549. Vgl. Lacan 1996: 57f, 63, 66 und 73-75. Freud 1999: II/III 588. Freud 1999: II/III 604. Von hohem Aufschlusswert wäre an dieser Stelle eine Untersuchung zu Freuds Konzeption des Schlafes bzw. der Relation von Traum und Schlaf. An dieser Stelle kann nur angedeutet werden, dass der Schlaf ein physiologisches Phänomen ist, das – in Erinnerung an den Fluch zur Unaufhörlichkeit der un-

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7.6 Freuds Angsttheorie im Überblick: von der Energie zur Signalangst Ausgehend von der frühen Angsttheorie und der in dieser enthaltenen Unterscheidung von Stoß und Schreck – eine transiente Station im unendlichen Freud’schen Vorlauf zur Wahrheit – wurde im Anschluss eine Reihe von Stellen und Situationen angeführt, die zur Exemplifierung einer Aporie dienten: jene Aporie, die Freuds gesamtes Leben und Denken bestimmte und in der sich eine Ahnung, eine Prophezeiung, eine Erfahrung des Unbewussten aussprach. Zusammengefasst lauten die Ergebnisse der Rekonstruktion dieser Erfahrung bis hierhin wie folgt. Die Arbeitsplätze, an denen der junge Freud seine Laufbahn antrat, waren Krankenhäuser, Arztpraxen und PsychoLaboratorien. Der herrschende Diskurs erwies sich als ein für das Denken des 19. Jahrhunderts typischer naturwissenschaftlich-biologistischer Formkreis, die Medizin war determiniert durch ein radikal materialistisches Denken auf der Basis der experimentellen Physik und Chemie. Jedes psychische Symptom, so die Direktive des Materialismus, muss mit einem physiologischen Zertifikat versehen werden. Erklärt sich der 1895 geschriebene Entwurf einer Psychologie scheinbar mit dieser Direktive solidarisch, so manifestieren sich in den im selben Jahr publizierten Studien über Hysterie eindeutig antimaterialistische Orientierungen: Psychische Störungen bilden die Ätiologie von physischen Störungen und nicht umgekehrt. Das Schwanken zwischen beiden oppositionellen Grundannahmen, die wechselseitige Beschattung durch einen materialistischen Ansatz einerseits und eine symbolisch-sprachliche Konzipierung des Unbewussten andererseits, diese bis zum Schwindel führende Aporie wird Freud bis an sein Lebensende begleiten. Er versagte sich eine endgültige Antwort, er konnte und wollte keinen Schlusstrich unter die alles entscheidende Frage ziehen, er sagte stattdessen, „daß die eigentliche Ätiologie der Psychoneurosen [...] der gewöhnlichen Weise anamnestischer Erhebung unfassbar bleibt“155. Die Formel das-Freud’sche-und-das-sprachstrukturierte-Unbewusste lässt sich nicht via Linearisierung plausibilisieren, sie lässt sich nur aufheben in den drei Sinnen, die eine Hegel’sche Aufhebung impliziert: aufheben als beseitigen, aufheben als bewahren (etwas wird nicht vernichtet, sondern in einer höheren Einheit lebendig gehalten) und aufheben als emporheben (etwas wird auf eine höhere Ebene transzendiert, auf der These und Antithese nicht mehr als zwei einander ausschließende Gegensätze erscheinen). Das Ende dieses Kapitels wird einen sehr kontrahierten Überblick über den Fortgang der Freud’schen Angsttheorie anbieten. Dabei muss aus Gründen des Umfangs von jedem Anspruch auf eine vollständige Darlegung dieser Theorie und ihrer folgenschweren Fortsetzung von seiten Lacans abge-

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bewussten Arbeit – nicht primär im Dienst der Rekuperation des Wesens steht, sondern vielmehr eine Aufhebung der Zensurschranke auslöst und damit eine Artikulation verdrängter unbewusster Wünsche möglich macht. Vgl. hierzu Freud 1999: II/III 549, 560, 573, 576, 580f, 584f. Vgl. auch XI 374. Von großer Aussagekraft ist hier auch, dass Freud über den unzweideutig physiologischen Schlaf sagt: „Was für Veränderung der Schlafzustand im System Vbw hervorruft, weiß ich nicht anzugeben“ (II/III 560) Freud 1999: I 510.

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rückt werden.156 In der Forschungsliteratur ist es üblich, Freuds Auffassungen und Konzepte über die Angst historisch in drei Hauptphasen zu gliedern: Die erste datiert von 1895 bis 1923 und wird repräsentiert durch den bereits interpretierten Text Über die Berechtigung von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomkomplex als „Angstneurose“ abzutrennen von 1894/95 (Freud rekapituliert Teile dieses Textes in seinen Vorlesungen aus den Jahren 1916/17), die zweite von 1923 bis 1932 angesetzte Phase schreibt sich in dem 1926 verfassten Buch Hemmung, Symptom und Angst, und schließlich wird eine dritte Phase um 1932/33 unterschieden, dies ist das Jahr der Neuen Folge der Einführungen in die Psychoanalyse (die Freud aufgrund seiner Krankheit nicht mehr gehalten, sondern nur noch verschriftlicht hat), und so beschränkt sich Phase 3 auch auf eine einzige Vorlesung über Angst und Triebleben. Die erste Angsttheorie, im Zeichen von Ökonomie und Transformation stehend, um hier nur zwei retrospektive Stichworte zu nennen, wurde in den vorangehenden Kapiteln bereits einer tiefgehenden Analyse unterzogen. Diese endete damit, dass Freud in der auch und gerade für die Angst relevanten Aporie zwischen Soma und Psyche eine vorübergehende Lösung mittels der Differenzierung eines physischen Stoßes und eines psychischen Schrecks gefunden hatte, eine Lösung jedoch, die – das hat nicht zuletzt die in 7.5 bemühte dichte Beschreibung der Aporien ergeben – nicht von Haltbarkeit war. Mit der ersten Angsttheorie waren also noch lange nicht alle Probleme gelöst. Es konfrontierten sich weitere, neue: Freud hatte zwar mit der Angstneurose eine ökonomische Formulierung der Angst erbracht, aber dadurch ließen sich nur bestimmte, bei weitem nicht alle Formen und Vorkommen von Angst erklären. So konnte beispielsweise die Angst in den Psychoneurosen (Phobien, Hysterien, Zwangsneurosen)157 nicht einfach auf die Transformationstheorie reduziert werden. Im Unterschied zu deren einfachem Mechanismus, bei dem die Angst sich als Resultat eines energetischen Überdrucks einfach nur entlädt, erwiesen sich letztere Komplexe als diffiziler. Diffizil insofern, als sich die Angst hier nicht auf ein energetisches Stabilisations- bzw. Destabilisierungsproblem beschränken ließ, sondern dass vielmehr der Einfluss psychischer Störungen, das heißt: in energetischen oder materialistischen Denksystemen nicht auflösbare Störungen nicht ausgeschlossen werden konnten. Freud löste dieses Problem vorübergehend durch Einführung des Konzepts der Verdrängung. Sind, so setzt er fest, bei den Angstneurosen die Ursachen für die Spannungsanhäufung rein physische oder energetische Probleme, so müssen die Psychoneurosen ursächlich auf eine Verdrängung rekurriert werden. Freud selbst bezeichnet den Begriff der Verdrängung (erstmalig 1824 von dem Analytiker Herbart verwendet) als einen der Grundpfeiler, auf denen das Gebäude der Psychoanalyse ruht. Er beschäftigt sich erstmalig 1895 in den zusammen mit Breuer herausgegebenen Studien zur Hysterie mit der Verdrängung. Dort begegnet er dem Phänomen, dass die Patienten zunächst nicht über bewusste Erinnerungen an bestimmte Ereignisse verfügen, dass sich jedoch, sobald diese Ereignisse mit psychoanalytischer Hilfe repristiniert werden, plötzlich eine sehr heftige und lebhafte Erinnerung einstellt – die 156 157

Dazu sei verwiesen auf: Lacan 2003; Gondek 1990; Widmer 2004; Geyer 1998 und Sturm 1996. Vgl. hierzu auch Kap. 6.8.

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Wiederkehr des Verdrängten mit Horrido: „Es [handelte] sich um Dinge [...], die der Kranke vergessen wollte, die er darum absichtlich aus seinem bewußten Denken verdrängte, hemmte und unterdrückte“158. Der Begriff der Verdrängung setzt den Begriff des Unbewussten voraus, mehr noch: In seinen ersten Schriften fallen beide Konzepte für Freud zusammen. In den Studien über Hysterie legt Freud die notwendige Annahme eines Unbewussten als Voraussetzung für den Sinn der Verdrängung dar. Der Begriff der Verdrängung macht nur dann Sinn, wenn eine klare Grenzlinie zwischen einem bewussten, dem Subjekt zugänglichen Bereich und einem unbewussten, durch eigene Gesetze strukturierten psychischen Bereich (Primärvorgang) gezogen wird. Die systematische und bis heute kanonische Theorie der Verdrängung legt Freud 1915 in seiner Abhandlung Die Verdrängung vor.159 Der Text stellt die mykotische Struktur der Verdrängung in den Brennpunkt: Eine verdrängte Vorstellung bildet einen ersten Kristallisationskern, der andere Vorstellungen anziehen kann, ohne dass eine bewusste Operation interveniert. Die von Freud in der genannten Abhandlung formulierte Verdrängungstheorie funktioniert auf der Basis einer Unterscheidung von drei zeitlichen Phasen, nach deren Durchlauf die Verdrängung installiert ist und operational wird. In der ersten Phase, der sogenannten Urverdrängung, formiert sich im Unbewussten ein erster Kern, der als Attraktionszentrum für weitere zu verdrängende Elemente dient. Die zweite Phase – eigentliche Verdrängung oder Nachdrängen – bildet einen doppelten Vorgang, insofern die Anziehung der Verdrängungselemente im Unbewussten mit einer Abstoßung seitens einer höheren Instanz parallel geht. In der dritten Phase kommt es, wie ihr Name sagt, zur Wiederkehr des Verdrängten in Form von Symptomen, Träumen, Fehlleistungen etc. – Verdrängung in operando.160 Bis zur Abfassung von Hemmung, Symptom und Angst – wir treten in die zweite Angsttheorie ein – wird Freud alle Ängste, die sich nicht mittels des ökonomischen Transformationskonzepts als Angstneurose exegetisieren lassen, mit Hilfe der Verdrängung erklären. Das trifft insbesondere auf das Auftauchen der Angst in Träumen, auf die in der Traumdeutung analysierten Angstträume, zu. In der Abhandlung Der Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva“ schreibt er: „Die Angst des Angsttraumes [...] wie überhaupt jede nervöse Angst ist durch den Prozeß der Verdrängung aus der Libido hervorgegangen.“161 Dieses Zitat, die in diesem Zitat genannte Libido, macht deutlich, dass Freuds Kopplung von Angst und Verdrängung keine Alternative zum ökonomisch-energetischen Konzept der Angstneurose darstellt, son158 159 160

161

Freud 1999: I 89. Vgl. Freud 1999: X 247-362. Vgl. auch Freud 1999: I 263: „[...] die Existenz eines hysterischen Symptoms bedeute für dieses Nervensystem eine Schwächung seiner Resistenz und stelle ein zur Hysterie disponierendes Moment dar. Wie aus dem Mechanismus der monosymptomatischen Hysterie hervorgeht, bildet sich ein neues hysterisches Symptom am leichtesten im Anschlusse und nach Analogie eines bereits vorhandenen; die Stelle, wo es bereits einmal „durchgeschlagen“ hat, stellt einen schwachen Punkt dar, an welchem es auch das nächste Mal durchschlagen wird; die einmal abgespaltene psychische Gruppe spielt die Rolle des provozierenden Kristalls, von dem mit großer Leichtigkeit eine sonst unterbliebene Kristallisation ausgeht.“ Freud 1999: VII 87.

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dern vielmehr nur eine Erweiterung desselben. Freud verlässt mit der Integration der Verdrängung in die Angsttheorie noch nicht das ökonomischthermodynamische Denkmodell des psychischen Apparats, denn die Verdrängung selbst wird noch in ökonomisch-libidinösen Begriffen gefasst. Bis zum Beginn seiner eigentlichen Strukturtheorie (die, wie betont, das materialistische Denken nicht ablöst, sondern nur skandiert) unterstehen die Konzepte von Angst, sei es in Form der Angstneurose, sei es als Begleitsymptome in den auf Verdrängung basierenden Psychoneurosen, den am Energieerhaltungssatz orientierten libidinös-energetischen Konzepten. Die Verdrängung selbst gründet noch im Begriff des Triebs als Äquivalent des quantifizierenden Denkens, sie gründet in den materialistischen Diskursen der Energetik: „Das Schicksal des quantitativen Faktors der Triebrepräsentanz kann [bei der Verdrängung, Anm. d. Verf.] ein dreifaches sein. [...] Der Trieb wird entweder ganz unterdrückt, so daß man nichts von ihm auffindet, oder er kommt als irgendwie qualitativ gefärbter Affekt zum Vorschein, oder er wird in Angst verwandelt.“162 Bereits gen Ende der ersten Angsttheorie bereitet sich in Freud eine Vorstellung vor, die er in den folgenden Phasen systematisieren und zu einem zentralen Punkt seiner zweiten Angsttheorie machen wird. In der Traumdeutung und in Das Unbewusste spekuliert er über folgenden Mechanismus: Angst wurde in der ökonomischen Theorie bestimmt als eine spezifische Form von Unlust. Eine der elementaren Funktionen der Äquilibration bzw. Vermeidung von Unlust besteht darin, dass ein geringes Maß von Unlust die Funktion eines Signals erhält: Dieses Signal warnt vor drohender Unlust und bewirkt zugleich entsprechende Gegensteuerungen oder Abwehrmaßnahmen, damit die große Unlust vermieden werden kann. Wenn Angst eine Form von Unlust ist, lässt sich dieses Prinzip, so Freuds Arbeitshypothese, auf die Angsttheorie applizieren: Ein geringes Maß an Angst wirkt als Frühwarnsystem zur Vermeidung der großen Angst. Noch immer den ökonomischenergetischen Modellen verpflichtet, antizipiert Freud bereits ein Konzept, das er innerhalb seiner strukturalen Phase ausarbeiten und mit einem fachlichen Begriff bezeichnen wird, der in die Lexika und Terminologien der Psychoanalyse eingehen wird: das sogenannte Angstsignal. So heißt es beispielsweise in Das Unbewusste: „Eine Erregung muß den Anstoß zu einer geringen Angstentwicklung geben, welche nun als Signal benützt wird, um durch neuerliche Flucht der Besetzung den weiteren Fortgang der Angstentwicklung zu hemmen.“163 Das Ende der ersten Angsttheorie, zugleich Übergang zur zweiten, wird von der Erwartung geleitet, dass eine genaue Differenzierung der Angst und ihrer möglichen Modi, deren spezifizierende Zuordnung zu unterschiedlichen psychischen Krankheitsbildern möglich sei. Angeregt durch die berühmte Analyse des kleinen Hans von 1905, die Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben, separiert Freud die Angst oder Phobie als eine generelle Erscheinung einerseits von den für bestimmte psychische Erkrankungen typischen Ängsten auf der anderen Seite. Was die Allgemeinheit der Phobie betrifft, so konstatiert Freud, dass phobische Symptome Teile zahlreicher unterschiedlicher Krankheitsbilder bilden. Sie tauchen bei neurotischen und psychotischen Defekten gleichermaßen auf, ebenso operieren Phobien bei der 162 163

Freud 1999: X 255f. Freud 1999: X 282.

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Zwangsneurose und Schizophrenie, und natürlich ist die Angstneurose bestimmt durch phobische Momente. Aus diesem Blickwinkel argumentiert Freud im Kleinen Hans, dass man der Phobie nicht „die Bedeutung besonderer Krankheitsprozesse“ einräumen müsse164. Die Analyse des kleinen Hans ist zeitlich später datiert als die zusammen mit Breuer veröffentlichten Studien über Hysterie, aber es waren für Freud viele Rätsel und Fragen offen geblieben, und noch immer verfolgte er gerade die Hysterie mit besonderem Interesse. In der Studie über den kleinen Hans laufen die Fäden plötzlich zusammen und veranlassen Freud zu einer Revision seiner früheren Konzepte, in denen er Angst und Phobie als sekundäre Begleiterscheinungen von Neurosen interpretiert hatte. Der kleine Hans macht ihn mit einer besonderen, einer für ihn neuen Form der Neurose bekannt, bei der die Phobie nicht nur ein Symptom unter anderen, sondern das dominante Symptom überhaupt darstellt. Das erweist sich zunächst als vereinbar mit der Unterscheidung von Angst und Neurose – beide sind nicht notwendigerweise vernetzt, die Angst oder Phobie ist ein isolierbares Phänomen –, und führt dann weiter zu der Mutmaßung, dass das Leiden des kleinen Hans gerade aufgrund der Prädominanz der Phobie womöglich gar nicht mehr unter der Form einer Neurose subsumiert werden könne. Freud löst sich nicht sofort von der Diagnose der Neurose, aber er führt im Bezug auf die Störung des kleinen Hans einen neuen Terminus ein: die phobische Neurose. Gleichzeitig bemerkt er die frappanten Parallelen, die dieses neue Krankheitsbild, die phobische Neurose, mit der Konversionshysterie aufweist. Er skrutiniert die beiden Syndrome und stellt Gemeinsamkeiten fest: Bei beiden Formen, phobische Neurose wie Konversionshysterie, geht die Verdrängungsleistung auf eine Trennung des Affekts von der Vorstellung. Die phobische Neurose konstituiert, kurzum, die Vorform dessen, was Freud kurz darauf dann als Angsthysterie bestimmen wird. Die Angsthysterie wird in Folge klar definiert und als spezielle Form der Hysterie isoliert. Im Gegensatz zur klassischen Konversionshysterie wird bei der Angsthysterie die „durch die Verdrängung entbundene Libido nämlich nicht konvertiert [...], sondern als Angst frei“165. Der Formation der Angsthysterie liegt eine „von Anfang an fortgesetzte psychische Arbeit zugrunde, um die frei gewordene Angst wieder psychisch zu binden“, und „so entwickelt sich die Angsthysterie immer mehr zur `Phobie’“166. Die Angsthysterie ist bestimmt dadurch, dass die Verschiebung auf ein phobisches Objekt gegenüber dem Auftauchen einer freien objektungebundenen Angst sekundär ist. Damit sind alle theoretischen Vorarbeiten für die zweite Angsttheorie abgeschlossen. Der Beginn dieser zweiten Phase lässt sich, wie bemerkt, im Jahre 1923 situieren: das Jahr der Veröffentlichung der Strukturtheorie, die einen Umbruch in Freuds Denken markiert. Freud ist jetzt nicht mehr ausschließlich am materialistischen, biologischen und ökonomisch-energetischen Diskurs orientiert, sondern adaptiert strukturelle und symbolische Modelle. Und Lacan geht so weit, das 4. Kapitel hat es ausführlich dargestellt, in Freud den ersten Vertreter des modernen strukturalistischen Denkens zu begrüßen.167

164 165 166 167

Freud 1999: VII 349. Freud 1999: VII 349. Freud 1999: VII 350. Vgl. Lacan 1990a: 13 und Lacan 1991a: 34.

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Freud restituiert also seine Überlegungen zur Angst nach strukturalen Gesichtspunkten, und nun führt er das Angstsignal (das in der ersten Phase bereits als Mechanismus präformativ beschrieben wurde) als zentrale Funktion einer psychoanalytischen Angsttheorie ein. Die endgültige und explizite Formulierung des Angstsignals erfolgt in Hemmung, Symptom und Angst von 1926.168 Die eigentliche Neuerung der Angsttheorie besteht aber nicht nur darin, dass das zuvor als Mechanismus beschriebene Angstsignal jetzt präzise bestimmt und als solches benannt wird. Vielmehr vollzieht sich diese Bestimmung durch Einführung eines weiteren Begriffs, auf den das Angstsignal komplementär bezogen ist, ohne den es innerhalb der zweiten Angsttheorie unvollständig und sinnlos wäre. Dieser zweite (in Hemmung, Symptom und Angst eingeführte) Komplementärbegriff ist die automatische Angst. Freud definiert die automatische Angst als Spontanreaktion des Subjekts auf ein traumatisches Erlebnis, in dem das Subjekt einer Reizanflutung aus äußeren oder inneren Quellen exponiert war, die es nicht verarbeiten konnte. Das erste und fundamentale traumatische Erlebnis ist nach Heidegger die Geworfenheit, mit Freud: die Geburt, die Erfahrung des Säuglings: psychische Ohnmacht, Tageslichtblendung, Dissoziation, Hilflosigkeit. Dieses erste Trauma, und das heißt: das erste Aufbäumen der automatischen Angst, kann und wird sich jedoch in unterschiedlichen Lebenssituationen reproduzieren. Freud zählt eine Anzahl solcher Lebenssituationen auf, die die Gefahr einer Traumatisierung in sich bergen: nach der erwähnten Geburt die Trennungsangst, die Kastrationsangst, die Angst vor dem Verlust der Liebe des Objekts, die Angst vor dem Verlust der Liebe des Über-Ichs, usf.169 In derartigen Situationen bricht mit paroxysmaler und unkontrollierbarer Wucht die automatische Angst ein, deren Wesen darin liegt, dass das Subjekt ihr in dem jeweiligen Augenblick rettlos ausgeliefert ist. Eine Schutzfunktion vor dieser automatischen Angst – eine Schutzfunktion, die nicht immer und keinesfalls zuverlässig funktioniert – ist das Angstsignal als eine subjektintegrierte Alarmfunktion.170 Hieraus wird Freuds Argumentation, dass automatische Angst 168 169 170

Die nachfolgenden Erläuterungen beziehen sich auf diesen Text, vgl. Freud 1999: XIV 111-205. Vgl. Freud 1999: XIV 167ff und 174. Vgl. Freud 1999: X 282f: „Der Verdrängungsvorgang ist, wie wir wissen, noch nicht abgeschlossen und findet ein weiteres Ziel in der Aufgabe, die vom Ersatz ausgehende Angstentwicklung zu hemmen. Dies geschieht in der Weise, daß die gesamte assoziierte Umgebung der Ersatzvorstellung mit besonderer Intensität besetzt wird, so daß sie eine hohe Empfindlichkeit gegen Erregung bezeigen kann. Eine Erregung irgend einer Stelle dieses Vorbaues muß zufolge der Verknüpfung mit der Ersatzvorstellung den Anstoß zu einer geringen Angstentwicklung geben, welche nun als Signal benützt wird, um durch neuerliche Flucht der Besetzung den weiteren Fortgang der Angstentwicklung zu hemmen. Je weiter weg vom gefürchteten Ersatz die empfindlichen und wachsamen Gegenbesetzungen angebracht sind, desto präziser kann der Mechanismus funktionieren, der die Ersatzvorstellung isolieren und neue Erregungen von ihr abhalten soll. Diese Vorsichten schützen natürlich nur gegen Erregungen, die von außen, durch die Wahrnehmung an die Ersatzvorstellung herantreten, aber niemals gegen die Trieberregung, die von der Verbindung mit der verdrängten Vorstellung her die Ersatzvorstellung trifft.“ Vgl. auch XI 409f: „Man fühlt sich also versucht zu behaupten, daß die Angstentwicklung niemals etwas Zweckmässiges ist. Vielleicht verhilft es zu besserer Einsicht, wenn man sich die Angstsituation sorgfältiger zerlegt. Das erste an

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und Angstsignal nur in ihrer reziproken Beziehung begriffen werden und nicht isoliert werden können, evident. Im Zuge der Einführung der komplementär aufeinander bezogenen Konzepte von Angstsignal und automatischer Angst prägt Freud einen zweiten psychoanalytischen Terminus, den Terminus der sogenannten Angstentwicklung. Die Angstentwicklung wird von Freud als deskriptive Funktion eingesetzt, um die Angst in ihrem zeitlichen Ablauf, ihrer Entwicklungskurve im Subjekt zu kennzeichnen. Der Begriff der Angstentwicklung suggeriert zwar psychogenetische und ontogenetische Aspekte, hat aber in der Tat mit diesen Betrachtungsweisen nichts zu tun, sondern dient der Kennzeichnung des Übergangs von der Signalangst in die automatische Angst, also des Überschreitens der Grenze, jenseits deren das Angstsignal keine Wirkung mehr zeigt und die Angst zum Ausbruch kommt. Freud hatte das Angstsignal zwar bereits, wie oben dargelegt, in der ersten Angsttheorie präfiguriert. Die entscheidende Modifikation im Vergleich zur ersten Angsttheorie liegt jedoch darin, dass er das Angstsignal nun nicht mehr einfach unter den zahlreichen Transformationen und Energieverteilungen eines Homöostat-Subjekt-Apparats einordnet, sondern als AbwehrFunktion präzise im Ich lokalisiert: „Das Ich ist die eigentliche Angststätte. [...] Die Angst ist ein Affektzustand, der natürlich nur vom Ich verspürt werden kann. Das Es kann nicht Angst haben wie das Ich, es ist keine Organisation, kann Gefahrsituationen nicht beurteilen. Dagegen ist es ein überaus häufiges Vorkommnis, daß sich im Es Vorgänge vorbereiten oder vollziehen, die dem Ich Anlaß zur Angstentwicklung geben.“171

Die Funktion der Angst wird vom Resultat einer energetischen Transformation bzw. eines in energetischen Termini anschreibbaren Verdrängungsmechanismus auf einen besonderen Abwehrmechanismus des Ich hin verlagert. Dabei ist die Auslösung des Angstsignals nicht mehr notwendig ökonomischen Tatsachen unterworfen; ebenso gut fungiert das Angstsignal als Erinnerungssymbol oder affektives Symbol innerhalb einer noch nicht eingetretenen, aber imminenten Situation, die es daher zu vermeiden gilt. Das Angstsignal kann vorgestellt werden als ein im Ich installiertes Programm, das in

171

ihr ist die Bereitschaft auf die Gefahr, die sich in gesteigerter sensorischer Aufmerksamkeit und motorischer Spannung äußert. Diese Erwartungsbereitschaft ist unbedenklich als vorteilhaft anzuerkennen, ja ihr Wegfall mag für ernste Folgen verantwortlich gemacht werden. Aus ihr geht nun einerseits die motorische Aktion hervor, zunächst Flucht, auf einer höheren Stufe tätige Abwehr, anderseits das, was wir als den Angstzustand empfinden. Je mehr ich die Angstentwicklung auf einen bloßen Ansatz, auf ein Signal einschränkt, desto ungestörter vollzieht sich die Umsetzung der Angstbereitschaft in Aktion, desto zweckmäßiger gestaltet sich der ganze Ablauf. Die Angstbereitschaft scheint mir also das Zweckmäßige, die Angstentwicklung das Zweckwidrige an dem, was wir Angst heißen, zu sein.“ Und XI 420: „Die gesuchte Verbindung stellt sich endlich her, wenn wir den oft behaupteten Gegensatz zwischen Ich und Libido zur Voraussetzung nehmen. Wie wir wissen, ist die Angstentwicklung die Reaktion des Ichs auf die Gefahr und das Signal für die Einleitung der Flucht; da liegt uns denn die Auffassung nahe, daß bei der neurotischen Angst das Ich einen ebensolchen Fluchtversuch vor dem Anspruch seiner Libido unternimmt, diese innere Gefahr so behandelt, als ob sie eine äußere wäre.“ Freud 1999: XIV 171.

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vermeintlichen Gefahrsituationen aktiviert wird, um auf diese Weise eine Überwältigung durch Reizüberflutung, das heisst: einen großen Angstanfall zu umgehen. Es reproduziert in einer abgeschwächten Form die ursprünglich in einer traumatischen Situation erlebte Angst bzw. die automatische Angst, und es löst auf diese Weise entsprechende Abwehrreaktionen aus. Die Volte in Freuds Denken, das Auftauchen eines neuen Diskurses – eines strukturalistisch-informationstheoretischen Diskurses –, ist unübersehbar, aber dennoch ist es keine radikale Kehrtvolte. Das charakteristische Merkmal, mehr noch: das Symptom der Freud’schen psychoanalytischen Theorie, nämlich die Unentschiedenheit und das Schwanken zwischen zwei unterschiedlichen Denkmodellen, dem energetisch-materialistischen und dem strukturalistisch-symbolischen Modell, lässt sich auch an der zweiten Angsttheorie nachvollziehen. Die strukturalistisch dominierte Definition des Angstsignals bedeutet keinen Ausschluss ökonomischer Gesichtspunkte, eher kommt es zur Überlagerung zweier Diskurse. Beide Ansätze, der ökonomische und der strukturalistische, sind in der zweiten Angsttheorie kompatibilisiert. Die Theorie des Angstsignals lässt sich sowohl aus einer informationsbzw. signaltechnischen, als auch aus einer ökonomisch-thermodynamischen Perspektive lesen. Freuds zweite Angsttheorie, gravitierend um das Angstsignal, erlaubt einerseits eine informationstheoretische Rezeption, die die genaue Reproduktion eines Signals bzw. Affekts fokussiert, der Information aus der Vergangenheit überträgt. Die traumatische Situation, die automatische Angst, kann als ursprüngliche Botschaft interpretiert werden, die in Form von Informationen bzw. Angstsignalen transportiert wird. Auf der anderen Seite lässt sich die zweite Angsttheorie noch immer nach energetischen Begriffen auflösen, mehr noch: Sie provoziert dies sogar. So präsentiert Freud die in der traumatischen Situation auftretende automatische Angst weiterhin als ein massives, die Bewältigungspotentiale des Organismus übersteigendes Anfluten zahlreicher und vielfältiger Reize. Damit bleibt er im Diskurs der ersten – energetischen – Angsttheorie, die Angst zum Resultat akkumulierter, nicht abgeführter libidinöser Spannung erklärt. Desweiteren betont Freud noch immer den quantitativen und quantifizierbaren Aspekt, er betont, dass die Signalauslösung die Mobilisierung einer bestimmten Energiemenge voraussetzt. Insbesondere hinsichtlich der Funktion der Angst in der Angstneurose verweist er auf den ätiologischen Aspekt einer Abundanz von ungenutzter Libido. Das Angstsignal, das einerseits als Ichfunktion struktural bestimmt wird, lässt sich andererseits energetisch beschreiben in Form von Sekundärprozessen, die die Energie eines Primärprozesses kanalisieren und transformieren.172 Beide Lesarten, die strukturalistisch-signaltechnische wie die thermodynamische, lassen sich zwei unterschiedlichen wissenschafts- und medienhistorischen Epochen oder Aprioris korrelieren. Eine Lektüre, die den Akzent auf den informations- bzw. signaltechnischen Aspekt der zweiten Angsttheorie setzt, wäre eine historisch nach der Erfindung des Telegrafenrelais einsetzende Lektüre, während eine ökonomische Lesart vor der Erfindung des Telegrafenrelais, vor der Ausdifferenzierung von Signal und Energie, also historisch in der Epoche der Thermodynamik situiert wäre.

172

Zu Freuds Konzepten des Primär- und des Sekundärprozesses vgl. Freud 1999: II/III 604-610, X 285-287 und XIII 35-37.

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Waren Dampfmaschinen, Homöostaten und Transformatoren die paradigmatischen Gestelle der Thermodynamik, so ist das Telegrafenrelais das typische Modul der Nachrichtentechnik. Das Telegrafenrelais markiert einen Paradigmenwechsel, den Umbruch vom Schlusskapitel der Ontologie zum Anfangskapitel der Operationalität. Die Thermodynamik bildete das letzte wissenschaftlich-ontologische Konzept aus, das ein substantielles Substrat der Dinge, eine universale Substanz, eine Materie supponierte. Dabei lag diese Materie schon nicht mehr in gegenständlicher oder qualitativer, sondern nur noch in quantitativer Form vor: Der Energieerhaltungssatz besagt ja nichts anderes, sofern er qualitativ unterschiedene Objekte relativiert und definiert als unterschiedliche Transformationsstufen ein und derselben Kraft oder Energie – der Dampf der Dampfmaschine, die Libido des psychischen Apparats.173 Dann aber führte die beginnende Nachrichten- und Kommunikationstechnik, in erster Linie die Telegrafie, das Telegrafenrelais ein, das auf einer bisher ungekannten Differenzierung zwischen Signal und Energie basiert.174 Das Relais brachte einen, es brachte den bahnbrechenden Schritt in die Epoche der Information, sofern sich mit ihm das ursprüngliche Signal übertragen ließ, aber nicht in Form derselben ursprünglichen Energie. Technisch basiert das Telegrafenrelais auf dem Prinzip der Induktionsspule, so wie sie im Kapitel 5 bereits beschrieben wurde. Eine Induktionsspule besteht aus einem Eisenkern, der mit zwei isolierten Windungen umspult ist: ein paar Windungen eines schweren Drahtes, der den primären Strom führt, und viele Windungen eines feinen Drahtes, der den induzierten Strom führt. Die Induktionsspule ist das Medium des Wechselstroms, der Signale fortpflanzt und übertragt: Wenn der primäre Kreis unterbrochen wird, induziert das zusammenbrechende magnetische Feld einen kurzen hochvoltigen Strom in der sekundären Spule, dadurch pflanzt sich die Elektrizität, die das Signal transportiert, fort. Was jedoch das Telegrafenrelais gegenüber der einfachen Induktionsspule auszeichnet, ist die Tatsache, dass die Ansprechschwelle des Relaisankers, der vom Magnetfeld, das das ankommende Signal induziert, angezogen wird und dadurch den Ortsstromkreis schließt, fast bis auf Null reduziert werden kann. Die Ansprechschwelle wird beim Telegrafenrelais so stark minimiert, dass die Signalenergie zu einer verschwindend kleinen Größe werden kann. Damit war es möglich geworden, ein und dasselbe ursprüngliche Signal über weite Strecken fortzupflanzen, dies jedoch dank des Relais’ mittels eines Minimums an Übertragungsenergie. Es kam zur Trennung zwischen Energie und Signal, es kam zur Trennung zweier unterschiedlicher Welten, Ingenieurswelten: auf der einen Seite die Starkstromtechnik, die Welt der ungeheuergroßen Maschinen und Fabriken, auf der ganz anderen Seite die Schwachstrom- oder Nachrichtentechnik.175 Im Unterschied zur Starkstromwelt fokussierte die Nachrichtentechnik nicht länger die Wirtschaftlichkeit von Energieproblemen (die im Brennpunkt des industriellen Zeitalters stand), sondern die genaue Reproduktion eines Signals. Was sich ereignet, ist dennoch mehr als nur eine Trennung: Die Differenzierung zwischen Signal und Energie, deren technisch-apriorische Möglichkeitsbedingung das Relais darstellt, läuft auf eine Demontage der auf 173 174 175

Vgl. hierzu auch Kap. 6.10. Dies sowie die folgenden Abschnitte basieren auf den Untersuchungen von Siegert 2003: 372-74 und 384f sowie Beck 1967: 131-177. Vgl. auch Wiener 1963.

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Proportionalität basierenden Dampfmaschine, auf eine Demontage der von dieser Dampfmaschine motorisierten Wirklichkeit hinaus. Der Dampfmaschinenweltmotor wird abgelöst durch eine äußerst subtile elektrische und kurz darauf elektronische Apparatur, die nicht länger substantielle, sondern die immateriellen und virtuellen Welten der Informatik generiert. Das Telegrafenrelais und die damit verbundene Kadenz des Denkens, das Auftauchen der Unterscheidung von Signal und Energie, von Information und Trägermedium, von symbolischer und realer Dimension, verabschiedet endgültig die Ära des Objektiven, jenes Substantiellen, dessen Schlusskapitel sich in einer Thermodynamik geschrieben hatte, in der Ontologisieren schon nicht mehr Qualifizieren und Identifizieren, sondern nurmehr noch Quantifizieren hieß. Mit der Separation von Energie und Signal werden Nachrichtenkanäle ohne jede Materialität zum Alltag. Die im Entstehen begriffene moderne Informationstheorie unterscheidet genau zwischen der Nachricht und ihrem – akzidentiellen – physikalischen Trägermedium. Nachrichten sind nicht mehr mit Notwendigkeit dieser oder jener bestimmten physikalischen oder begrifflichen Wesenheit verkettet. In den Schriften ab 1923, insbesondere in den noch späteren metatheoretischen Schriften folgt Freud bereits diesem auf der Trennung des Symbolischen und des Realen basierenden Diskurs der Informatik und des informationstheoretischen Formalismus, sofern er die Subjektfunktionen nicht mehr in den energetischen Termini von Spannung und Erregung formuliert und nicht mehr neurophysiologisch oder biologisch basiert, sondern strukturale oder topische Entwürfe des psychischen Apparats vorlegt.176 Dennoch, Freud wird sich nie völlig von den Maximen und Idealen des energetischsubstantiellen Denkens lösen. Noch in Jenseits des Lustprinzips verhaftet er sich wieder den Registern der Thermodynamik, zieht nun den Zweiten Thermodynamischen Hauptsatz, das Entropiegesetz, heran, um Todestriebe und Wiederholungszwänge – ohne zufriedenstellendes Ergebnis – zu begründen.177 Einerseits antizipiert er den Strukturalismus und die Informationstheorie, beschreibt den psychischen Apparat als Signalprozessor, als Speicherund Übertragungsmaschine, andererseits intermittieren Passagen wie die im folgende bis zum Ende in seinen Schriften: „Wir haben es als eine der frühesten und wichtigsten Funktionen des seelischen Apparates erkannt, die anlangenden Triebregungen zu „binden“, den in ihnen herrschenden Primärvorgang durch den Sekundärvorgang zu ersetzen, ihre frei bewegliche Besetzungsenergie in vorwiegend ruhende (tonische) Besetzung umzuwandeln. Während dieser Umsetzung kann auf die Entwicklung von Unlust nicht Rücksicht genommen werden, allein das Lustprinzip wird dadurch nicht aufgehoben. Die Umsetzung geschieht vielmehr im Dienste des Lustprinzips; die Bindung ist ein vorbereitender Akt, der die Herrschaft des Lustprinzips einleitet und sichert.“178

Die zweite Angsttheorie, die Theorie des Angstsignals, ist, sofern sie in gleicher Weise energetisch-ökonomische wie informationstechnische Elemente involviert, bezeichnend für Freuds lebenslange Unentschiedenheit, Aporie, zwischen dem materialistischen Denken und dem Immaterialismus der In176 177 178

Vgl. Freud 1999: XII 9, XIII 246-249 und 391. Vgl. Kap. 6.10. Freud 1999: XIII 67.

APORIEN UND ÄNGSTE ſ 383

formation. Und es ist wahrhaftig eine Aporie, eine Sackgasse, die ihn verfolgt und nicht zur Ruhe kommen lässt. All seine Versuche, den energetischen und den strukturalen Aspekt in einem einzigen Subjekt-Entwurf zu integrieren und zu versöhnen, sind zum Scheitern verurteilt. Das Gesetz dieses Scheiterns, das Gesetz dieser Unmöglichkeit, ist nicht zuletzt in der Physik selbst verankert: Die Sätze der Thermodynamik, die auf der Proportionalität von Ursache und Wirkung beruhen, sind mit dem Relaisprinzip, der Minimierung der Signalenergie bei gleichbleibender Botschaft, nicht vereinbar.179 Zwischen den Sätzen der Energetik und den Sätzen der Information besteht eine Antinomie, aus der die Strukturlinguisten, Informationstheoretiker, Computerprogrammierer und Psychoanalytiker des 20. Jahrhunderts Funktion und theoretisches Prinzip machen werden. Damit wird das folgende Kapitel fortfahren, nachdem dieser Teilaspekt einer Genealogie des Unbewussten, die Vorgeschichte des Strukturalismus in der Wechselstromphysik und der Psychotechnik, nun abgeschlossen werden wird. Freud gelangt nicht richtig auf diesen Weg, aber er bahnt er ihn an, und er öffnet Jacques Lacan die Tür zur endgültigen Formulierung und Formalisierung eines Unbewussten als informationsverarbeitende Prozedur im Realen, als Freud’sches-und-wie-eineSprache-strukturiertes-Unbewusstes. Freud bahnt ihn an und betritt ihn, ohne sich dessen ganz bewusst zu sein, sehr spät: in der dritten Angsttheorie. Die dritte, sich im Jahr 1932 formierende Angsttheorie stellt im Vergleich zur zweiten Theorie keine Revision dar. Freud nimmt nur einige Umakzentuierungen vor, er verstärkt einige Thesen und Aspekte, um zugleich andere zu verwerfen. So forciert er die signaltechnische Interpretation der bereits in Hemmung, Symptom und Angst konzipierten Signalangst und gibt der Transformationstheorie ihren endgültigen Abschied. Die These, dass Angst verwandelte Libido sei, wird fallengelassen; Angst wird nun ausschließlich auf eine Ich-Warnfunktion festgelegt. Affekte stellen keine Sicherheitsventile innerhalb eines energetischen Analogreglers mehr dar, sondern sind Signale, die von der Ichfunktion verarbeitet werden. Innerhalb der Freud’schen Angsttheorie der letzten Phase – und nicht etwa innerhalb der letzten Theorieetappen des Freud’schen Werks im allgemeinen – hat sich der libidinöse Dampf in Nichts aufgelöst: Immaterialismus, Information, das Trägermedium ist akzidentiell geworden – „die Frage, aus welchem Stoff die Angst gemacht wird, hat an Interesse verloren“180. Es handelt sich im Grunde um die bereits in der zweiten Angsttheorie vertretene Position, nur dass der energetisch-ökonomische Aspekt, dem in der zweiten Phase noch der Rang einer alternativen Interpretation eingeräumt wurde, jetzt ausgeschlossen wird. Eines der Zentren der dritten Angsttheorie ist ergo die Reformulierung der Angstneurose. Hatte Freud die in der Angstneurose auftretende Angst bis hierhin als krankhaftes Surplus von Libido erklärt, so löst er sich jetzt völlig von dieser Version und beschreibt die Angst in der Angstneurose als Reaktion auf eine traumatische Situation. Insgesamt zeichnen sich drei zentrale Unterschiede zu den früheren Angsttheorien ab: 1. Hatte Freud in der zweiten Phase den signal- bzw. alarmtechnischen Aspekt der Angst auf das Ich reduziert, so kann in der dritten Phase der ganze Apparat zum Signalprozessor von Angstsignalen werden. Der Apparat ist vernetzt, unterschiedliche Angstsignale zirkulieren zwischen 179 180

Vgl. Siegert 2003: 369-372 und 380. Freud 1999: XV 92.

384 ſ DISKRETE GESPENSTER

Ich, Es und Außenwelt: „die drei Hauptarten der Angst, die Realangst, die neurotische und die Gewissensangst [lassen] sich [...] zwanglos auf die drei Abhängigkeiten des Ichs, von der Außenwelt, vom Ich und vom Über-Ich beziehen“181. 2. Freud invertiert das Verhältnis von Angst und Verdrängung: In der dritten Theorie bewirkt Angst Verdrängung und ist nicht umgekehrt, wie es in den früheren Phasen vorausgesetzt wurde, Resultat einer Verdrängungsleistung. 3. Der ursprüngliche Angstimpuls wird nicht mehr im Triebleben des Es situiert, sondern in realen Gefahrensituationen in der Außenwelt verortet, denen das Subjekt in einem bestimmten – traumatisierenden – Moment ausgesetzt war.

181

Ebd.

8. D I E A N K U N F T D E S U N B E W U S S T E N IN DER LINGUISTIK 8.1 Das Freud’sche-Unbewussteund-das-sprachstrukturierte-Unbewusste Eine kleine Dosis Wiederholen, Erinnern, Durcharbeiten. Freud hat, das wurde bis hierhin erwiesen, nicht nur die Saussure’schen Begriffe vorgebildet, sondern Saussure selbst zumindest partiell bereits überwunden, indem er die Traumarbeit des Unbewussten und die darin involvierten Fragen des Wer spricht? und Wer zeigt? erkannte. Er untersuchte Verdichtungen und Verschiebungen, die nicht mehr der Repräsentation von etwas (eines Signifikates oder eines Referenten), sondern der Entstellung einer unbewussten Botschaft dienten. Damit hat er die Chiffriertechnik des Unbewussten und ineins die Technik der Entzifferung, die Lacan’sche Technik der Psychoanalyse inauguriert.1 Lacan formuliert es so: Freud revolutioniert das gängige Verständnis vom Sinn des Traums, indem er nicht etwa sagt, der Traum hat die und die Bedeutung, sondern der Traum spricht. „[...] die einzige Sache, die Freud interessiert, ist die Arbeit, durch die hindurch er [der Traum, Anm. d. Verf.] etwas sagt – er sagt wie man spricht. Das war noch nie so gesehen worden. Man hatte bemerken können, daß der Traum einen Sinn hat, daß man darin etwas lesen kann, aber nicht, daß der Traum spricht.“ Freud dechiffriert den Text des Traums, den Diskurs des Unbewussten, „er entziffert ihn in der Art, in der man Hieroglyphen entziffert.“ „Freuds Genie“ zeigt sich in der Antizipation der strukturalen Linguistik: „Es ist der Geniestreich des Linguisten, der in einem Text mehrere Male das gleiche Zeichen auftauchen sieht, der von dem Gedanken ausgeht, daß dies etwas zu bedeuten haben muß, und schließlich dem Gebrauch sämtlicher Zeichen dieser Sprache auf die Schliche kommt.“2 1 2

Vgl. Marinelli/Mayer 2000 und Goldmann 2003. Lacan 1990a: 13. Im Verlauf seiner Ausführungen, in denen er die Vorrangstellung der signifikanten, d.h. differentiell und nicht repräsentativ-bedeutsamen Schrift in Freuds Denken erläutert, führt Lacan das prominente Beispiel des Rebus an, des Bilderrätsels, das, als Symbolisierungstechnik in Kunst und Literatur bekannt, von Freud in den Mechanismen des Traumes wiederentdeckt wird. „Die erste ausdrückliche Bestimmung gleich im Eingangskapitel [...] besagt, daß der Traum ein Rebus sei. Und Freud präzisiert, daß diese Bestimmung, wie ich zu Anfang gesagt habe, buchstäblich aufzufassen sei. Im Traum nämlich verfolgen wir die Einwirkungen eben der verbuchstäblichenden (oder anders gesagt: phonematischen Struktur (structure littérante)), in welcher sich der Signifikant im Diskurs artikuliert und sich analysieren läßt. [...] Diese die Operation des Lesens ermöglichende Sprachstruktur steht am Anfang der „Traumsignifikanz“, „Traumdeutung“.“( Lacan 1991a: 34f) Um die berühmte Stelle, auf

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Das Freud’sche-Unbewusste-ist-das-sprachstrukturierte-Unbewusste und Saussures Begründung der Linguistik ein terminologisch folgenreicher Schritt, aber ganz sicher keine Urszene.3 Denn die Urszene – wie auch jene klassisch-repräsentationslogische, auf der Distinktion zweier fixer Instanzen, Subjekt und Objekt, basierende wissenschaftliche Szene – ist zur Zeit Freuds, zur Zeit einer neuen, nämlich operationalisierten Ontologie storniert worden. Der psychoanalytischen Technik liegt eine Betrachtungsweise des Unbewussten als ein sich in der Intersubjektivität, also zwischen-den-Subjekten ereignendes Sprechen zugrunde, eine Perspektive, in der die wissenschaftliche Szene der Linguistik – der Linguist untersucht eine Sprache, ein strukturales Objekt – transzendiert wird. Freud setzt sich seinem wissenschaftlichen Gegenstand – wobei hier nur in kursivierter Form von Gegenstand überhaupt noch gesprochen werden kann, handelt es sich doch um einen unbewussten Vorgang der Entstellung und Verschlüsselung – nicht mehr in der Haltung eines souverän und abgemessen fürsichseienden Forschersubjekts gegenüber, er untersucht nicht länger ein Objekt namens Sprache, sondern einen subjektiven Vollzug des Sprechens. Es wurde dargelegt, dass Lacan die Polarität von Sprache und Sprechen unter anderem auch verwendet als Instrument seiner Kritik an bestimmten wissenschaftsmethodischen Strömungen, oder, schärfer und heideggerianischer formuliert, Verfallsformen, die sich im 20. Jahrhundert eingestellt haben und die sich dadurch definieren, dass sie hinter den Horizont Freuds und Heideggers – das Subjekt impliziert das Objekt, das Gefragte impliziert das Fragen – zurückfallen.4 Lacan diagnostiziert diese

3 4

die Lacan sich bezieht, bei Freud selbst aufzusuchen, jenen legendären Vergleich des Traums mit einer Bilderschrift und einem Bilderrätsel, das sich differentiell schreibt und entziffern läßt: „Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind. Man würde offenbar in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bilderwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte“ (Freud 1999: II/III 283f.) Vgl. auch VIII 404f. Die einzelnen Elemente der Traum- bzw. Bilderschrift lassen sich nicht im Sinne des Repräsentationsschemas bzw. der Identitätslogik des klassischen Zeichenmodells übersetzen, sondern nur in ihrer Relationalität im Blick auf den zugrundeliegenden Code, die zugrundeliegende Traumarbeit dechiffrieren. Die einzelnen Elemente der Traumschrift können nicht als Repräsentanten eines bild- oder textexternen Signifikats oder Referenten verstanden, sondern nur in ihrem relativen Bezug zueinander gelesen werden. Sinn kommt dem Zeichen in einem Traumbild also nicht in seiner Singularität und Positivität zu, er ist vielmehr Effekt einer relativen Beziehung eines Zeichens zu anderen Zeichen. Vgl. Kap. 4. So sehr Lacan die Linguistik adaptiert und dies auch selbst beteuert, so handelt es sich dabei doch nicht um eine reine und völlig kritiklose Übernahme. Sein Verhältnis zur Linguistik und deren Objekt ist vielmehr ein zwiespältiges, was sich in den folgenden Stellen, studiert man sie mit Sensibilität, offenbart. „Darum setzt die Tugend des Wortes (verbe) die Bewegung der Großen Schuld fort, deren Ökonomie Rabelais in einer berühmten Metapher bis an die Sterne ausweitet. Es ist kaum überraschend, daß das Kapitel, in dem er durch makkaronische Verschlingungen von Verwandtschaftsnamen ethnographische Entdeckungen vorwegnimmt, uns zeigt, wie er die Substanz des menschlichen Mysteriums erahnt, das wir hier aufzuhellen suchen. Indem sie gleichgesetzt wird mit dem heiligen hau oder dem allgegenwärtigen Mana ist die unverbrüchliche Schuld Garantie dafür, daß die Reise, auf die Frauen und Güter geschickt werden, in einem ununterbrochenen Kreislauf an deren Frauen und Güter als Träger der

DIE ANKUNFT DES UNBEWUSSTEN IN DER LINGUISTIK ſ 387

Rückfälle, von bestimmten neukantianisch mechanisierten Erkenntnistheorien abgesehen, in der modernen Ich-Psychologie sowie, und hier liegt das Motiv für (s)eine Revision der Geschichte des Strukturalismus, in bestimmten Zweigstellen der Strukturlinguistik. So wie hypokritische Psychologen Patienten auf ihr alter ego und das heißt ein Objekt reduzieren, so ist tendenziell auch die Linguistik einer Gefahr der perspektivischen Verkürzung ausgesetzt, die über einem Objekt Sprache die Performanz des Sprechens versäumt. Die symptomatische Virulenz dieser Gefahr ist in Form einer antinomischen Argumentation bereits in Saussures Theorie angelegt. In Form eines Symptoms reagiert Saussure, und schon aus diesem Grund kann er, ohne ihm dadurch irgendwelche Meriten entziehen zu wollen, unmöglich als Entdecker des strukturalen Objekts zelebriert werden, auf bestimmte Ereignisse in der (Vor-)Geschichte des Strukturalismus. Er reagiert, und zwar spezifisch wie synthetisch, auf die Dinge, die ihm in Wundts Laboratorium angetan wurden5, auf die im Zuge der Übernahme der elektrischen Medien demissionierte Repräsentation. Lacan, der Analytiker, wiederholt die Theorie von Ferdinand de Saussure.

8.2 Ferdinand de Saussure und der Strukturalismus Der Strukturalismus ist eine um die Jahrhundertwende entstehende sprachwissenschaftlich-semiologische Disziplin, die Sprache als geschlossenes System von Zeichenelementen betrachtet und dieses System untersucht, indem sie die wechselseitigen Beziehungen der Teile untereinander und zum Systemganzen betrachtet. Als ihr allgemein anerkannter Begründer wird Ferdinand de Saussure (1857-1913) genannt, ein Professor in Genf, dessen Cours de linguistique générale 1916 postum aus Mitschriften seiner Schüler publi-

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gleichen Identität an ihren Ausgangspunkt zurückbringt. Lévi-Strauss nennt diese Identität das Symbol Null und reduziert damit die Macht des Wortes (parole) auf die Form eines algebraischen Zeichens.“ (Lacan 1991: 119f) „Dieser Einschnitt der signifikanten Kette allein verifiziert die Struktur des Subjekts als Diskontinuität im Realen. Wenn die Linguistik den Signifikanten darstellt als das, was das Signifikat mit Bestimmtheit versieht, so offenbart die Analyse erst die Wahrheit dieser Beziehung, wenn sie aus den Löchern des Sinns die Determinanten ihres Diskurses macht.“ (Lacan 1991a: 175) „Zweifellos war es die Absicht von Claude Lévi-Strauss, Mauss kommentierend, darin die Wirkung eines Nullsymbols zu erkennen. Uns aber scheint es sich in unserem Falle eher um den Signifikanten gerade des Mangels eines solchen Nullsymbols zu handeln.“ (Lacan 1991a: 197f) „Ich habe folgende Frage gestellt – Das Funktionieren des Wilden Denkens, das Lévi-Strauss an die Basis der gesellschaftlichen Verfassung stellt, ist ein Unbewußtes, reicht es aber aus, das Unbewußte als solches unterzubringen? Und, wenn das zutreffen sollte, bringt es dann das Freudsche Unbewußte unter? [...] Das Begehren von Freud habe ich auf einer höheren Ebene angesiedelt. Ich sagte, daß das Freudsche Feld der analytischen Praxis nach wie vor abhängig sei von einem Urbegehren, das auch heute noch eine ambivalente, aber beherrschende Rolle in der Überlieferung der Psychoanalyse spielt.“ (Lacan 1987: 20) Saussure litt unter synästhetischen Störungen, die ihn als Versuchsobjekt direkt in Wundts Laboratorium führten. Für diesen Hinweis danke ich Daniel Tyradellis. Vgl. auch Hiebsch 1977.

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ziert wird. Die Genfer strukturalistische Schule um Saussure aktiviert die Bildung einer Anzahl von weiteren Institutionen des Strukturalismus in der ganzen Welt: zunächst in Prag um Roman Jakobson, dann Émile Benveniste in Paris – beide spielen für Lacans Theorie eine tragende Rolle –, desweiteren Hjelmslev in Kopenhagen, schließlich und um Jahre später Bloomfield, Sapir und Chomsky in den USA. Die Formkreise des strukturalistischen Denkens werden zum Fundament einer zunächst und vor allem in Frankreich praktizierten geistigen Strömung; linguistische und strukturalistische Vorgehensweisen werden angewandt in der Philosophie, Ethnologie und Anthropologie.6 Saussure definiert das Zeichen als eine sprachliche Einheit, die aus der Vereinigung zweier Elemente hervorgeht. Dabei legt er den Akzent auf die rein psychische, nicht materielle Konstitution beider Elemente, er betont „daß die im sprachlichen Zeichen enthaltenen Bestandteile alle beide psychisch sind, und daß sie in unserem Gehirn durch das Band der Assoziation verknüpft sind“7. Die beiden Elemente des Saussure’schen Zeichens, das im Zusammenhang mit der Rezeption seitens Lacan gleich genauer mikroskopiert werden wird, werden von Saussure als Vorstellung (Signifikat) und Lautbild (Signifikant) benannt. Zu den wichtigsten Merkmalen, die das Zeichen nach Saussure ausmachen, zählen zum einen die Arbitrarität: Die Verbindung von Vorstellung und Lautbild ist unmotiviert; zum anderen die Linearität des Zeichens: Saussure setzt eine lineare zeitliche Expansion der Signifikanten (das Hörbare) voraus. „Das Bezeichnende, als etwas Hörbares, verläuft ausschließlich in der Zeit und hat Eigenschaften, die von der Zeit bestimmt werden: a) es stellt eine Ausdehnung dar, und b) diese Ausdehnung ist meßbar in einer einzigen Dimension: es ist eine Linie.“8 Lacan und Derrida decouvrieren, wenn auch mit unterschiedlichen Einsatzpunkten und unterschiedlichen begrifflichen Instrumentarien, die dieser Konzeption innewohnende Fixierung auf das mit sich identische, eindeutige, eindimensionale Signifikat. Schließlich soll noch auf die bekannte Unterscheidung von langue und parole verwiesen werden, so wie sie von Saussure gesetzt wird. Die langue bezieht sich auf die als ein kollektiv gültiges Relationssystem begriffene Sprache. Erneut prononciert Saussure den formalen Charakter dieser Sprache: Sprache ist keine materielle Substanz, sondern eine Form, gebildet durch differentiell aufeinander bezogene Zeichen. Die langue bildet ein statisches, synchronisches und universales System aus, das für jeden Teilnehmer der Sprachgemeinschaft verbindlich ist, sie ist das allgemeine Programm, das den Zeichenvorrat (Vokabular) und die Regeln zur Verknüpfung der Zeichen (Grammatik) umfasst. Der Begriff parole signifiziert das Sprechen in zweifacher Hinsicht. Er bezieht sich sowohl auf die Aktualisierung der in der langue gegebenen Regeln und die Selektion der jeweiligen Elemente im Akt der Äußerung, als auch auf die jeweilige individuelle Äußerung selbst. Auf den ersten Blick scheint sich eine Zuordnung von Saussures Dualität von langue und parole zu Lacans Unterscheidung von Sprache und Sprechen anzubieten. Eine solche Vergleichung lässt sich jedoch nur unter äußerster

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7 8

Zum Strukturalismus vgl. Barthes 1976; Barthes 1983; Bierwisch 1966: 77-152; Gallas 1972; Melenk 1981: 137-161; Schiwy 1984; Wahl 1973 und Pelz 1987: 33-68. Saussure 1967: 77. Saussure 1967: 82.

DIE ANKUNFT DES UNBEWUSSTEN IN DER LINGUISTIK ſ 389

Vorsicht und nicht ohne Vorbehalte durchführen. Auch wenn eine gewisse Korrespondenz besteht, so sind die Begriffspaare doch keineswegs kongruent. Nicht nur dass Saussures Akt der parole die spezifischen Implikationen des Lacan’schen Sprechens noch nicht erreicht hätte, er scheint ihnen sogar einen inneren Widerstand entgegenzusetzen. Die sich so ergebende Dissonanz zwischen Saussures parole und Lacans Sprechen wird im Rückblick auf die in der Einleitung (Kapitel 2) konstatierte Parallelität von Lacans Sprechen und Derridas differentiell prozessierende Spur klarer. Das Sprechen verläuft nach Lacan stets nur über einen artikulierten, im Sein transportierten Signifikanten, ein Transport, der Spuren hinterlässt, die sich entziffern und auch umcodieren lassen. Diese Möglichkeit einer textuellen Bearbeitung des signifikanten Materials wird durch die parole Saussures nicht nur nicht gewährleistet, sondern beinahe schon obstruiert. Denn Saussures parole hinterlässt gerade keine Spuren, sie bedient sich der in der langue gegebenen Elemente nicht, um eine ent-zifferbare Botschaft zu übertragen, sondern um eine Bedeutung zu verlautbaren, die, wie der Akt der parole selbst, präsent, einmalig, unwiederholbar, ideell, kurzum und mit Derrida: phono-logozentristisch verfasst ist. Saussure will den individuellen und momentanen Akt der Sprachäußerung gerade nicht als eine signifikante Einschreibung, sondern als ein reines, sich im Aussprechen präsentifizierendes und erschöpfendes Signifikat im doppelten Wortsinne verstehen.

8.3 Lacans (Re-)Lektüre von Saussures Zeichen In dem 1955 veröffentlichten Text Das Drängen des Buchstaben im Unbewußten oder die Vernunft nach Freud formuliert Lacan seine psychoanalytische Theorie das erste Mal in den Begriffen der von Ferdinand de Saussure begründeten strukturalen Linguistik.9 Im Stil einer Deklamation schreibt er: „Damit wir das Auftreten der Disziplin der Linguistik an einem Punkt festmachen können, sagen wir, daß diese, wie jede Wissenschaft im modernen Sinne besteht in dem konstituierenden Moment eines Algorithmus. Dieser Algorithmus ist: S/s, zu lesen als: Signifikant über Signifikat, wobei das „über“ dem Balken entspricht, der beide Teile trennt. Das so geschriebene Zeichen verdanken wir Ferdinand de Saussure, obwohl es in dieser streng reduzierten Form sich in keinem der Schemata findet, unter denen es in der gedruckten Fassung der verschiedenen Vorlesungen aus den Kursen der Jahre 1906/07, 1908/09 und 1910/11 auftaucht, die eine Gruppe seiner Schüler voll Ehrfurcht unter dem Titel Cours de linguistique générale zusammen herausgegeben hat – eine Publikation von höchstem Rang, die eine Lehre weitergibt, die dieses Namens würdig ist, das heißt, die man nur über die ihr eigene Bewegung festhalten kann.“10

Den Dank für den Algorithmus S/s hätte Saussure mit einer Entschiedenheit, deren Intensität unbestimmt ist, zurückweisen müssen. Denn das „so geLacans Kontaktpersonen, die ihn mit der Saussure’schen Theorie vermittelt haben, sind der Ethnologe Lévi-Strauss, Jakobson und in besonderer Weise auch der Philosoph Merleau-Ponty. Vgl. Gondek 2001: 149. 10 Lacan 1991a: 21. 9

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schriebene Zeichen“, das den Vorrang des Signifikanten über das Signifikat voraussetzt, findet sich nicht nur „in dieser streng reduzierten Form“ nicht in Saussures Vorlesungen. Mehr noch, es konfligiert mit Saussures symmetrischer Komposition, derzufolge das Zeichen aus zwei Elementen besteht, aus einer Vorstellung und einem Lautbild, die beide so untrennbar miteinander verbunden sind wie die beiden Seiten ein und desselben Blattes Papier. Im selben Kapitel des Cours, in dem Saussure das Zeichen in dieser Weise „als ein selbständiges, für sich bestehendes Ganzes“ charakterisiert, entbirgt sich aber „noch eine ganz unvorhergesehene Seite der Sache“: „Andererseits ist das Zeichen selbst, d.h. die Beziehung, welche die beiden Bestandteile verbindet, ebenfalls und ebensosehr das Gegenstück der anderen Zeichen der Sprache.“11 Saussure behauptet gleichzeitig die Positivität des Zeichens, die unzerreißbare Verbundenheit von Vorstellung und Lautbild in einem Ganzen, und die Negativität des Zeichens, seine relationale Struktur. Saussures Zeichenbegriff ist von Ambiguität gezeichnet, und damit verrät er die Desorientiertheit eines Semiologen, der haltlos oszilliert zwischen dem klassischmetaphysischen Modell der Repräsentation und der modernen episteme jener diskreten Elemente, die in den elektrischen Schaltkreisen der kontemporären Medien implementiert sind. Saussures Stellung im historischen Kontext der Sprachtheorie bleibt ambivalent: Einerseits bleibt Saussure in seiner Insistenz auf der unauflöslichen Verbindung von Signifikant und Signifikat im Zeichen dem logozentrischen Denken verhaftet, andererseits antizipiert er in seiner Wertetheorie das nicht-repräsentative Denkmodell der Differentialität. Die differentielle Theorie des sprachlichen Wertes stellt sicher den für Lacan wichtigsten und attraktivsten Bestandteil der Saussure’schen Linguistik dar, sofern diese die Differentialität des Signifikanten in den Brennpunkt rückt. Betrachtet man, so Saussure, die Sprache als ein synchronisches System, als ein fertiges „Gebiet der Artikulation“, so kommt dem einzelnen Glied der Sprache lediglich ein negativer Wert zu. Man darf mit Saussure nicht glauben, „daß man mit den Gliedern beginnen und durch ihre Summierung das System konstruieren“ könne, vielmehr muss man „im Gegenteil von dem in sich zusammenhängenden Ganzen ausgehen [...], um durch Analyse die Bestandteile zu gewinnen, die es einschließt“. Die Glieder der Sprache lassen sich nicht vereinzeln und positivieren, da sie lediglich „durch Unterscheidungen bestehen, die nicht positiv durch ihren Inhalt, sondern negativ durch ihre Beziehungen zu den anderen Gliedern des Systems definiert sind“12. Diese im Begriff des Wertes festgelegte Relationalität bestimmt sowohl die Zeichen, als articuli des Systems aufgefasst, als auch die beiden Bereiche der Vorstellungen und der Lautbilder. Einerseits, aus dem Blickwinkel des Wertes betrachtet, ist das Zeichen negativ: Hier definiert es sich allein durch relationale Beziehungen zu anderen Zeichen, hier ist ein Element des Zeichensystems lediglich das, was die anderen nicht sind. Andererseits postuliert Saussure, dass „man das Zeichen als Ganzes in Betracht zieht“, und dann „hat man etwas vor sich, das in seiner Art positiv ist“: „Nicht daß eines anders ist als das andere, ist wesentlich, sondern daß es neben anderen und allen gegenüber steht.“13 Einerseits die auf dem Prinzip der Differentialität basierende Theorie des sprachlichen Werts, 11 Saussure 1967: 134ff. 12 Ebd. 140. 13 Ebd. 145.

DIE ANKUNFT DES UNBEWUSSTEN IN DER LINGUISTIK ſ 391

andererseits das Festhalten an der Totalität des Zeichens als einer Unzerreißbarkeit von Signifikant und Signifikat: Samuel Weber lokalisiert genau hier den „Hauptwiderspruch bei Saussure“ und zugleich eine unausgesprochene Privilegierung der Vorstellung, des Signifikats. Denn „soll das Zeichen als konkretes Element der Sprache begriffen werden, und diese wiederum als geschlossenes System von Gegensätzen, so kann es nur das Signifikat sein, welches das System schließt und das Zeichen totalisiert“14. Saussure präfiguriert nicht den Algorithmus S/s, er setzt sich ihm eher entgegen. Zwar setzt die Theorie des sprachlichen Werts differentielle Beziehungen zwischen den Signifikanten einerseits und den Signifikaten andererseits voraus, dennoch wird dieses Programm der Forderung der Totalität des Zeichens und der Dominanz des Signifikats, des Sinns, untergeordnet, um nicht zu sagen: Es wird derogiert. Noch genauer untersucht Derrida in der Grammatologie die Inkompossibilität des Saussure’schen Zeichens und des Lacan’schen Algorithmus, wie immer hysterisch darauf bedacht, nur nicht Lacans Namen zu erwähnen. In dem unzerstörbaren Junktim, das bei Saussure einen ganz bestimmten Signifikanten mit einem ganz bestimmten Signifikat vernetzt, das also die Totalität des Zeichens konsolidiert, lauere, so Derrida, in versteckter Form das Transzendentalsignifikat des logozentrischen Denkens. In den Grenzbereichen des Logozentrismus situiert, unterstellt sich Saussure doch noch immer dessen zentraler Annahme, nämlich dass ein Sinn, eine transzendental beglaubigte Bedeutung, den Signifikanten beherrscht, der dann degradiert werden kann zu einer reinen Exteriorität, zu einer reinen Repräsentationsfunktion.15 Dadurch dass Saussures Zeichen, wenn es auch in den abgesteckten Grenzen der Wertetheorie bereits differentiell funktionieren darf, noch immer durch das logozentrische Prinzip der Bedeutung, sich reflektierend in der unverbrüchlichen Verbindung von Signifikant und Signifikat innerhalb der Zeichentotalität, geregelt wird, kann der Signifikant nie jener reine Signifikant sein, der als Derrida’sche différance oder Lacan’sches Unbewusstes prozessiert und nicht Bedeutungen repräsentiert, sondern Bedeutungseffekte induziert.16

8.4 Saussure zwischen Ursache und Ur-Sache Saussures logozentrisches Symptom entlädt sich, wo sonst, in der Frage nach der Ursache der Sprache. Die Antwort auf diese Frage hat bereits die aristotelische Sprachphilosophie gegeben, und Saussure scheint dieser Antwort, eben symptomatisch, verpflichtet zu sein. Symptome transportieren ihre verdrängten Wahrheiten in einem Stil der Diskordanz, als ein Wackeln, ein Hinken, und ein verräterisches Wackeln entdeckt Lacan an genau dem Punkt, wo es um den Grund, die Motivation, die Legitimation jener unzerreißbaren Verbindung von Signifikant und Signifikat geht, die das klassische Zeichenmodell von Aristoteles über Port-Royal bis hin zu Saussure bestimmt. Es ist der entscheidende und zugleich der kritische Punkt, denn von ihm hängt die ganze Welt der klassischen episteme ab, also eine repräsentierte, eine in der Vor-

14 Weber 1978: 37f. 15 Vgl. Derrida 1993: 60ff und 75f. 16 Vgl. Derrida 1988: 42; vgl. Lacan 1991a: 182.

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stellung ersetzte und in dieser Weise okkupierte Welt.17 Es ist eine imperiale Frage, nichts geringeres betreffend als die Möglichkeit, die gesamte Welt komplett zu repräsentieren und zu exegetisieren vermittels der Totalität eines Zeichensystems, eines solchen Abbildungssystem, in dem die „bi-univoke Entsprechung von Wort und Sache“ absolut gesichert ist. Ein solches Phantasma von einer Koexistenz und Koextension einer Welt von Worten und einer Welt von Dingen, eine solche phantasmatische Erschließung der Welt in der Vorstellung, läuft, wie oben dargelegt, nur dann, wenn der Signifikant dieser Vorstellung auf eine rein repräsentative Funktion reduziert, ihr radikal untergeordnet und unabtrennbar verhaftet wird. Sobald er sich selbständig machte, sich aus seiner reinen Abbildfunktion befreite, würde Dissemination beginnen, Sprünge und fanalhaftes Leuchten, seltsame Animationseffekte und unbewusste Botschaften in der Welt, „nicht nur ein Proton, ein Meson etc. [...], sondern auch ein Element, mit dem man nicht gerechnet hatte, ein Glied zuviel in der atomaren Mechanik, eine Person, die lügen würde. Da würde man überhaupt nicht mehr lachen“18. Deshalb ist es besser, nicht zu sehr an den Signifikanten zu rühren, nicht zu fragen, warum gerade diese Untrennbarkeit, warum gerade dieser bestimmte Signifikant mit dieser bestimmten Vorstellung versäumt ist, nur keine Zeichen lesen, die Beziehung ist arbiträr. Und da hapert es und hinkt es, da schreibt das Symptom seine Volte, genau in „jener Diskussion der Arbitrarität [...], wie sie sich seit der Reflexion der Antike entwickelt hat, das heißt der bereits von jener Epoche erfahrenen Ausweglosigkeit, die einer bi-univoken Entsprechung von Wort und Sache – und sei es auch nur im Akt der Benennung – entgegensteht“19. Es gibt einen Punkt der Ausweglosigkeit, der Unergründbarkeit, der radikalen Kontingenz, an dem immer wieder und noch bis zu Saussures Sprachtheorie das Transzendentalsignifikat als Ursprungslösung, als Verdrängung der Ur-Sache, einspringen muss. Saussures Sprachtheorie wird bereits, auch wenn er die Mauer dann doch nicht durchbrechen wird, von den Diskursen des modernen Formalismus präskribiert. Die Sprache ist keine Substanz, sondern eine Form, und die der Theorie des Wertes zufolge differentiellen Sprachelemente entstehen im Moment dieser Form, dieser Formung, dieser Segmentierung. Vor der Standardisierung durch die Sprache herrschen im Bereich des Denkens und im Bereich der Laute nur Undifferenziertheit, Diffusität, großer Nebel. Weder auf Seiten der Vorstellungen, noch innerhalb der Lautmasse zeichnen sich klare Strukturen, Segmente oder Parzellen ab. Vorstellungen wie Laute dünen und driften im Kontinuum, alles gestaltlos, verwischt, verschwommen, hazy. Anhand eines Schemas zweier Flüsse, A und B, illustriert Saussure die Entstehung der Sprache als Form, als eine Formgebung via Differenzierung: Sprache entsteht durch gleichzeitige Parzellenbildung in zwei zuvor amorphen Massen. „Wir können also die Sprache in ihrer Gesamtheit darstellen als eine Reihe aneinander grenzender Unterabteilungen, die gleichzeitig auf dem unbestimmten Feld der vagen Vorstellung (A) und auf dem ebenso unbestimmten Gebiet der Laute (B) eingezeichnet sind. Die Sprache hat also dem Denken gegenüber nicht die Rolle, ver17 Vgl. Lacan 1987: 83-87. 18 Lacan 1990a: 90. 19 Lacan 1991a: 21f.

DIE ANKUNFT DES UNBEWUSSTEN IN DER LINGUISTIK ſ 393 mittelst der Laute ein materielles Mittel zum Ausdruck der Gedanken zu schaffen, sondern als Verbindungsglied zwischen dem Denken und dem Laut zu dienen, dergestalt, daß deren Verbindung notwendigerweise zu einander entsprechenden Abgrenzungen von Einheiten führt. Das Denken, das seiner Natur nach chaotisch ist, wird gezwungen, durch Gliederung sich zu präzisieren.“20

Vor dem Auftauchen der Sprache stellt der sprachliche Laut so wenig wie die Vorstellung eine Form dar, sondern eine mit spiritistischen Assoziationen aufgeladene esoterische, ätherartige Masse.21 „Es findet weder eine Verstofflichung der Gedanken noch eine Vergeistung der Laute statt“, es werden nicht etwa unabhängig voneinander Laute und Vorstellungen singularisiert und dann einander zugeordnet, vielmehr werden die beiden Seiten des Zeichens, Vorstellung und Lautbild, in einem einzigen Akt der Modellierung und Formgebung produziert. „Es handelt sich um die einigermaßen mysteriöse Tatsache, daß der „Laut-Gedanke“ Einteilungen mit sich bringt, und die Sprache ihre Einheiten herausarbeitet, indem sie sich zwischen zwei gestaltlosen Massen bildet.“22 Als Werte betrachtet funktionieren diese Einheiten differentiell, als Zweierpaare von Laut und Vorstellung, die in einem simultanen Akt der Emergenz einander unentrinnbar versprochen wurden, formieren sie Unitäten. Die oben dargelegte, seit Aristoteles überdauernde – und erfolgreich verdrängte – aporetische Frage reflektiert sich in dem Widerspruch, der sich dadurch ergibt, dass zwischen Vorstellung und Laut einerseits zwar kein Copyright-Problem und also keine vordergründige Privilegierung des Signifikats existiert, dass jedoch trotzdem weiterhin zwischen Vorstellung und Laut eine klare Trennlinie gezogen wird. Saussures Insistieren auf der Sprache als Form, und nicht Substanz, geht nicht so weit, geht vielmehr in die Kurve kurz vor der Grenze des formalistischen Paradieses von David Hilbert, der zwischen Vorstellungen und Lauten so wenig unterschieden hätte wie zwischen Punkten, Geraden und Oberflächen. Mit seiner Inauguration der axiomatischen Methode in der Geometrie verlässt Hilbert endgültiger als Saussure die episteme der Repräsentation.23 Der Begründer des modernen Formalismus, David Hilbert, löst das Zeichensystem von jeder Anschaulichkeit, von jeder Vorstellung und Vorstellbarkeit, von jedem Weltbezug. „Die Gegenstände der Zahlentheorie sind die Zeichen selbst“24, schreibt Hilbert, und diese Zeichen stellen nicht länger Dualitäten von Signifikant und Signifikat dar, sondern reine Signifikanten. Hilberts Zeichen sind areferenziell und induktiv, sie funktionieren unwidersprüchlicher und radikaler differentiell als Saussures amphibische Gebilde, die sich als Werte zwar negativ abgrenzen, als Positivitäten, in denen sich Elemente von zweierlei Natur verbinden, aber noch immer diejenigen Bedeutungen inventarisieren, die Logos zuvor bereits im Blickfeld hatte. Denn Saussures Spekulation über den Ursprung der Sprache als gleichzeitige Formung zweier Nebel in ein duales Zeichen schildert noch immer ein logozen20 Saussure 1967: 133f. 21 Zu Saussures Beeinflussung durch Spiritismus und Psychophysik um 1900 vgl.

Fehr 1997; zu den Beziehungen zwischen Saussures Theorie, dem Spiritismus und den elektrischen Medien der Jahrhundertwende vgl. Hagen 2001: 99-106. 22 Saussure 1967: 134. 23 Zu Hilberts Formalismus vgl. Heintz 1993: 16-18 und 45-60; vgl. auch Mehrtens 1990: 29ff. 24 Hilbert 1922: 18.

394 ſ DISKRETE GESPENSTER

trisches Geschehnis, bei dem das transzendentale Signifikat, das Betriebsgeheimnis der reduplizierten Repräsentation25, sich in der unzerreißbaren Kopplung verwirklicht. Diese Kopplung macht aus der Differenz letztendlich doch noch ein ganzes Wort, und also hat „das letzte Wort [...] immer der Sinn; wie könnte es auch anders sein, sofern die Sprache vom Wort her gedacht wird, da das Wort sich nur durch den Sinn bestimmt“26. Es ist kein Wunder, dass Saussure gerade diesen Ursprungsakt heranzieht, um das Credo der Arbitrarität zu zementieren, denn die Arbitrarität ist das Symptom des Sinns, des Logos. Ein Symptom entsteht laut Lacan immer an genau der Stelle, an der das Subjekt das Gesetz des Diskurses nicht versteht. Und der Ursprung des Gesetzes, der Ursprung des Symbolischen, ist genau der Moment, der unmöglich verstanden werden kann, weder im logozentrischen und aber auch nicht im formalistischen Sinn. Denn ein formalistisches System kann unmöglich mit formalen Mitteln bewiesen werden, soviel zum Paradies.27 Ein Akt der Formalisierung, der zugleich ein Akt radikaler und pathogener Kontingenz ist, steht am Anfang des Unbewussten, der im Realen prozessierenden Signifikantenkette. Der Moment der Seinsklüftung, der symbolischen Verkürzung, macht aus einem besinnungslosen nirwanahaften Real-Sein das sprechende, das geklüftete, das dem Signifikanten unterworfene Subjekt. Von da an geht alles los. Im Seminar III bedient sich Lacan des Saussure’schen Zwei-Flüsse-Schemas, um zu demonstrieren, was da los geht und wohin das führen kann, und zugleich modifiziert er dieses Schema in entscheidender Weise. „Saussure stellt in seinen berühmten Kursen der Linguistik ein Schema mit einem Fluß dar, welcher die Bedeutung ist, und einem anderen, welcher der Diskurs, das, was wir hören, ist. Dies Schema zeigt, daß das Zerlegen eines Satzes in seine differenten Elemente schon einen bestimmten Teil an Arbitrarität mit sich bringt. Ohne Zweifel gibt es diese Einheiten, welche die Wörter sind, wenn man hier aber näher hinsieht, sind sie nicht wirklich einheitlich. Das ist hier nicht so wichtig. Gut, Saussure meint, daß es eine bestimmte Korrelation zwischen Signifikant und Signifikat ist, die das Zerlegen des Signifikanten erlaubt. Es versteht sich von selbst, daß es einer Pause bedarf, damit die beiden zur gleichen Zeit zerschnitten werden können.“28

Aus Saussures unifizierender Verbindungsnaht wird eine Pause, und zwar nicht ein substantielles Loch, sondern ein diskreter Schnitt, der „das Zerlegen des Signifikanten erlaubt“ und damit den Signifikanten im Sinne eines solchen diskreten Elementes erst definiert, das jedem rein formalen System und jedem Algorithmus zugrundeliegt. Wie immer ohne jedes Scheppern von Destruktion zieht Lacan ganz sanft und implizit das Saussure’sche Zeichen aus dem Sumpf des Sinns, in dem es zur Hälfte steckengeblieben war, er beseitigt die Ambiguitäten, er beantwortet die Fragen, die bei Saussure offen geblieben waren. „Saussure versucht, einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Fluten zu definieren, der sie unterteilen soll. Aber die Tatsache allein, daß seine Lösung offen bleibt [...], zeigt zugleich den Sinn der Methode und 25 26 27 28

Vgl. Foucault 1974: 98-100. Weber 1978: 38. Vgl. Kap. 3.11. Lacan 1990a: 160.

DIE ANKUNFT DES UNBEWUSSTEN IN DER LINGUISTIK ſ 395

ihre Grenzen.“29 Lacan erklärt, „daß man keine ein-eindeutige Entsprechung zwischen den beiden Systemen einrichten kann“, er löst das fixe Bindeglied von Signifikant-Signifikat, er zeigt, dass es nur Gleitbewegungen von Signifikanten gibt, die zu unterschiedlichen Signifikatseffekten führen, und dass durch diese wiederum eine permanente Umschreibung des Systems herbeigeführt wird. Es ist so, „daß sich im diachronischen Sinn, mit der Zeit, ein Gleiten herstellt und daß sich in jedem Moment das sich entwickelnde System menschlicher Bedeutungen verschiebt und die Inhalte der Signifikanten verändert, die unterschiedliche Verwendungen annehmen“30. Aus logozentrischer Ewigkeit und Transzendenz, aus dem schützenden Baldachin über einer Welt, die keine Sprünge macht, die sich tagsüber im Denken exhaurieren und nachts das Wesen zur Ruhe kommen lässt, wird ein von Schlaflosigkeit gejagtes unbewusstes Subjekt-Gespenst, das seine Geschichte in Form einer zirkulierenden Signifikantenkette und über die entsprechenden delete/rewrite Funktionen prozessiert.31

8.5 Der Signifikant als diskrete Relation Lacan radikalisiert das Prinzip der Differenz, das bei Saussure zwar vorgeprägt ist, in letzter Instanz jedoch relativiert wird durch den Strich, der einerseits ein bestimmtes Signifikat einem bestimmten Signifikanten zuordnet und damit die Identität des Zeichens garantiert, der zudem eine Demarkationslinie zwischen den beiden noch immer substantiell verfassten und unterschiedenen Bereichen der Vorstellungen und Lautbilder aufrechterhält. In Lacans Reformulierung des Zeichens in reinen Strukturbegriffen werden konsequenterweise diese beiden Charakteristika des Saussure’schen Zeichens einer Revision unterzogen. Lacan algorithmisiert das Zeichen, wobei es nicht einfach um eine schlichte Inversion der Dominanzbeziehungen zwischen Signifikant und Signifikat geht. Denn das liefe letztendlich nur auf eine Hypostasierung und Ontologisierung des Signifikanten als transzendente, mit sich identische Einheit hinaus. Lacans Rede vom reinen Signifikanten aber meint eine radikal differentielle Artikulation, etwas, was sich nur zwischen-zweien realisiert32, aber niemals als einheitlicher Begriff fassen lässt, eine Beziehung, die sich wie die beiden Momente des elektromagnetischen Feldes weder objektivieren noch ontologisieren lässt, eine Bewegung von Differenzen, die in keiner Identität jemals zum Stillstand kommen wird. Sie wird lediglich skandiert, sie induziert nachträgliche Sinneffekte in Form eines Signifikates, das als eine metaphorische Überdeterminierung oder Übercodierung vom Signifikanten nur strukturell, aber nicht länger substantiell unterschieden werden kann. Der Algorithmus S/s beschreibt einen Signifikanten, eine signifikante Relation, eine signifikante Prozedur, eine Prozession von „reinen Signifikanten“, d.h. diskreten Elementen. Im Zuge einer Reflexion über die Installation des Signifikanten im Subjekt vergleicht Lacan die diskrete Relation, die dieser Signifikant ist, mit einer symbolischen Opposition von Tag und Nacht, die strikt von der imagi29 30 31 32

Lacan 1991b: 348. Lacan 1990a: 160. Vgl. Kap. 10. Vgl. Kap. 3.

396 ſ DISKRETE GESPENSTER

nären, also sinnhaften, „wirklichen“ Erfahrung von Tag und Nacht isoliert werden muss. „Das menschliche Wesen ist nicht, worauf beim Tier alles hindeutet, einfach eingetaucht in ein Phänomen wie das des Alternierens von Tag und Nacht. Das menschliche Wesen setzt den Tag als solchen, und dadurch kommt der Tag zur Präsenz des Tages – auf einem Hintergrund, der nicht ein Hintergrund konkreter Nacht ist, sondern der möglichen Abwesenheit von Tag, in der die Nacht sich beherbergt – und umgekehrt übrigens. Der Tag und die Nacht sind sehr früh signifikante Codes, und nicht Erfahrungen. Sie sind Konnotationen, und der empirische und konkrete Tag kommt nur als imaginäres Korrelat hinzu, am Ursprung, sehr früh.“

Der Tag als Signifikant ist ein diskretes Element, dessen anderes nicht die Nacht im Sinne einer imaginären Erfahrung von Stille und Dunkelheit, sondern die Abwesenheit von Tag ist. Tag und Nacht können nicht objektiviert werden, stehen nicht für empirische Erfahrungen, sondern konstituieren eine relationale Beziehung, in der eines nur das ist, was das andere nicht ist. Genommen als reiner Signifikant „[ist] der Tag als Tag kein Phänomen, der Tag als Tag impliziert die symbolische Konnotation, das fundamentale Alternieren des Anwesenheit und Abwesenheit konnotierenden Vokals“33. Es geht nicht um einen substantiellen oder konkreten, sondern um einen diskreten Wechsel von Tag und Nacht, Anwesenheit und Abwesenheit, 0 und 1. Tag und Nacht operieren als ein und sind nicht zwei Signifikanten. „Magnetisches und elektrisches Feld rufen sich gegenseitig auf – eine Rekursion ist geschaltet, die keine Abbruchbedingung kennt.“34 Etwas wiederholt sich, etwas nimmt ur-sächlich iterativ seinen Lauf. Es ist nur eine Wiederholung, die dieses Mal jedoch ins Gelände der Zeichentheorie führen wird. Faradays Induktionsspule von 1831 in ihrer langen und umwegigen Weiterentwicklung zu den Elektronenröhren der Computer des 20. Jahrhunderts wird zum technischen Apriori des Lacan’schen Unbewussten. Das Prozessieren des reinen Signifikanten im Unbewussten, die diskreten Wechsel zwischen Tag und Nacht, lässt sich implementieren in den beiden diskontinuierlichen Momenten des Wechselstroms. Irgendwann die „Erscheinung eines Wesens, das nirgendwo ist“35, die Erscheinung der „Fee Elektrizität“36, die das Sein klüftet, formalisiert, digitalisierst, die es – durch den Ruhmkorff an die Körper angeschlossen: korpsifiziert37 – zum Medium seiner anankéhaften elektromagnetischen Botschaft macht. Ein Unbewusstes: ein kybernetisches Türenprinzip. Und da geht es nicht länger um eine Abfolge oder Abgrenzung von begrifflichen Einheiten, Saussure’schen Zeichen, eine Tür muss nicht offen oder geschlossen sein, vielmehr geht es um Signifikanten als diskrete Elemente: Die Tür muss offen und dann geschlossen sein und dann offen und dann geschlossen. So entsteht ein Feedback, eine Oszillation, die Lacan mit den Skansionen des Unbewussten gleichsetzt. „Die Skansion ist die Basis, auf der Sie unaufhörlich die geordnete Wirkung wer33 34 35 36 37

Lacan 1990a: 200. Siegert 1999: 203. Vgl. auch Kap. 5. Lacan 1990a: 200. Lacan 1991b: 382. Das Kapitel 6 hat ausführlich dargelegt, dass und inwiefern die Faradaysierung der Körper im Psycholabor die Voraussetzung zum Freud-Lacan’schen Unbewussten darstellt.

DIE ANKUNFT DES UNBEWUSSTEN IN DER LINGUISTIK ſ 397

den einschreiben können durch eine Reihe von Montagen, die nicht mehr sein werden als Kinderspiele.“38 Eine oszillierende Zirkulation von on/off-Impulsen instruiert Lacans Konzept des unbewussten Gedächtnisses, jener Geschichte, die nur wiederholt werden kann und muss, ohne jemals im Hegel’schen Sinne zu sich selbst zu kommen. Ein Wiederholungsautomatismus, sich realisierend in Induktionsspulen, in Digitalcomputern, in menschlichen Körpern, eine diskrete selbstimplikative Folge von Plus und Minus – dassprachstrukturierte-Unbewusste-Freuds-und-Lacans steht unter Strom, Wechselstrom, pathologischer Strom, zeitlos-ewige Rekursion eines elektrischen und eines magnetischen Feldes, sich selbst in reiner Selbstdekonstruktion gegenseitig aufrufend und zerstörend. Die Geschichte des Unbewussten von Freud zu Lacan fällt, wie in den vorangehenden Kapiteln bewiesen39, in die Geschichte des Wechselstroms als Genealogie der elektrischen und elektromagnetischen Medien.

8.6 Die Freud’sche Aporie als Krise der Zeichentheorie Was sich hier jedoch als unbewusst konfrontiert, ist ein Phänomen, das sich mit dem klassischen Repräsentationsmodell nicht mehr fassen lässt und in dieser Unfassbarkeit das Denkformat der Repräsentation selbst mit irreversiblen Effekten durchkreuzt. Es ist ein Phänomen, das sich nicht länger als ein herkömmliches wissenschaftliches Objekt beschreiben und klassifizieren lässt und damit wiederum das wissenschaftliche Subjekt selbst gefährlich destabilisiert. Es ist ein phänomenologisches Phänomen im Sinne Heideggers, ein solches, für das Verdunklung und Verbergung konstitutiv ist40, es ist das Auftauchen eines Subjektiven im Realen. „Wenn wir vom Subjektiven sprechen und auch wenn wir es hier in Frage stellen, erliegt unser Geist immer noch der Täuschung, daß das Subjektive dem Objektiven entgegensteht, daß es sich auf der Seite des Sprechenden befindet und daß es sich ob dieses Faktums selbst auf der Seite der Illusionen findet – sei es, daß es das Objektive entstellt, sei es, daß es dieses enthält. Die Dimension, die bis jetzt im Verständnis

38 Lacan 1991b: 382f. 39 Eine kleine Wiederholung der Ergebnisse: Von den dreißiger Jahren des 19.

Jahrhunderts an bilden Wechselstromgeneratoren und Ruhmkorff’sche Funkeninduktoren das Fundament der Experimente in der Neurophysiologie und materialistischen Psychiatrie, der Experimente von Freuds Lehrern und Kollegen. In den Experimenten von Du Bois-Reymond, Dove, Helmholtz und Hermann Oppenheimer manifestiert sich erstmalig eine Art Unbewusstes in Form von Nervenlaufzeiten, die weit unterhalb jeder bewussten Wahrnehmungsschwelle liegen, in Form von Zuckungen, Krämpfen, Tremolos, künstlich provoziertem Tetanus. Lange vor dem Auftauchen von Technik und Begriff der Implementierung als Korrelat zur Korpsifizierung des Subjekts bei Lacan wird das Unbewusste dem diskontinuierlichen Takt des Wechselstroms unterstellt, wird es als fortlaufende Zuckung operationalisiert. Die oszillierende Pathologie des Wechselstroms schreibt sich als Trauma, als Unbewusstes in die Körper ein. 40 Vgl. Heidegger 1953: 35ff.

398 ſ DISKRETE GESPENSTER des Freudismus ausgespart wird, ist die, daß das Subjektive nicht auf der Seite des Sprechenden ist. Es ist etwas, was wir im Realen antreffen.“41

Es ist nun der Punkt gekommen, die Formel das-Freud’sche-und-das-sprachstrukturierte-Unbewusste auf einer weiteren Ebene zu wiederholen, Freuds Aporie und Erfahrung mit der Linguistik rückzukoppeln, sie in strukturalistischen Begriffen zu reformulieren und so bestätigt zu finden. Die Freud’sche Erfahrung ist eine Erfahrung des Realen. Stand Freuds früher Entwurf einer Psychologie von 1885 noch unterm Kommando von Charcots hartem Materialismus – jede psychologische Behauptung muss physiologisch-experimentell nachgewiesen werden –, so durchzittern bereits die im selben Jahr zusammen mit Breuer publizierten Studien über Hysterie Spuren von Verstörung. Alles deutet für Freud darauf hin, dass bei der Hysterie, die Freud hier gewollt rätselhaft als eine Krankheit durch Vorstellung bezeichnet, eine psychische Verletzung physische Störungen hervorbringt und nicht umgekehrt. Das führt Freud in jene Aporie, die mit den Voraussetzungen des Materialismus nicht lösbar ist. Diese Krise nun lässt sich in die Zeichentheorie transkribieren: Sind hysterische Symptome als Zeichen im Sinne einer materialistischen oder auch ontologisch-repräsentativischen Theorie zu nehmen? Repräsentieren Symptome das Sein, sei es im philosophischen, sei es im materialistischen Sinne? In diesem Fall müssten sie auf ein Signifikat oder einen materialistischen Referenten zu beziehen sein, und genau das sind sie nicht. Symptome sind Signifikanten ohne Signifikat bzw. Referent. Die aporetische Erfahrung aus den Tagen der Hysterie-Forschung holt Freud Jahre später ein, etwas wiederholt sich, abermals wird er von Verwirrung und Irritation ergriffen, diesmal stärker, unausweichlicher. Abermals erblickt Freud das Jenseits der Bedeutung. Er erblickt das neurotische Symptom, den Wiederholungszwang, reine signifikante Struktur, unerklärlich und anankastisch unerlöst vom Schlag der Bedeutung. Ein Zwang, der weder Ankunft noch Bedeutung, der vielmehr nur die reine und radikal bedeutungslose Rekursion ad infinitum will: Eine iterative Struktur ohne fixierbare Substanz diffamiert alle Zeichensysteme der Repräsentation und bewegt Freud zur Unterstellung eines Unbewussten. „Das Unbewußte als Freudscher Begriff“ hängt sicherlich eng zusammen mit „der Funktion der Ursache“42, der Ursache der symptomatischen Wiederholung, dennoch stellt dieser Begriff keine Kausalitätsbeziehung im Sinne der materialistischen Psychiatrie her. Freuds Begriff bringt nicht etwa das Unbewusste auf den Begriff, Freuds Begriff des Unbewussten repräsentiert nicht das Unbewusste, weil das Unbewusste sich ja selbst bereits offenbarte als Repräsentation, als Repräsentation ohne Repräsentiertes, damit als eine bezogen auf das klassische ontologische Modell unmögliche Repräsentation. Freuds Begriff indiziert vielmehr gerade diese Unmöglichkeit, die Ursache in ihrer Unmöglichkeit und in ihrem ewigen Hapern, und inauguriert so das Feld einer Erfahrung, der Freud’schen Erfahrung des Realen. Lacan auf den Spuren Freuds nennt die Koordinaten dieses Feldes und zeigt, „daß das Freudsche Unbewußte genau an diesem Punkt anzusiedeln ist, also da, wo es zwischen der Ursache und dem, was die Ursache affiziert, hapert, und zwar im41 Lacan 1990a: 247f. 42 Lacan 1987: 27.

DIE ANKUNFT DES UNBEWUSSTEN IN DER LINGUISTIK ſ 399 mer. [...] Das Unbewußte zeigt uns vielmehr die Kluft, über die die Neurose mit einem Realen verbunden ist – einem Realen, das selbst nicht determiniert sein muß.“43

Im neurotischen Symptom, einer Wiederholung, die den unmöglichen Sinn verfehlt, um sich in dieser Verfehlung als repetitive Struktur zu reaktivieren, erschließt sich Freud ein Unbewusstes, und „es ist also Diskontinuität, in der das Unbewußte sich uns zuerst zeigt – in der Diskontinuität manifestiert sich etwas als ein Flimmern, Schwanken“44. Es ist das Flimmern von Funken, die Diskontinuität des Wechselstroms – im Sinne eines medialen Aprioris –, der das Sein elektrifiziert und zucken und im diskreten elektromagnetischen Takt der Zuckung unmögliche Botschaften transportieren macht, Botschaften, die bei keinem wahren Sinn mehr landen, sondern im Gegenteil jeden wahren Sinn stochastisch-programmatisch verfehlen, um alternative und unterhalb der phantasmatischen Oberfläche jovial sinnfreie Sinneffekte zu generieren und dann überzugehen ins Wiederholen: Rekursion von Ewigkeit zu Ewigkeit. Diese operationalisierte Unmöglichkeit des Transzendentalsignifikats ist der Abgrund, der Abgrund des Unbewussten, in den Freud geblickt hat: Repräsentant ohne Repräsentiertes, reine Struktur im Körper und keine sie begründende körperliche Substanz, einzig die signifikante Artikulation eines Symptoms in operando, das sich nicht repräsentativisch erden, das sich nicht ontologisieren und nicht materialistisch ableiten lässt. „Der Tag und die Nacht sind in keiner Weise etwas, das durch das Experiment definierbar wäre.“45 An dem Ab-grund oder Ab-ort, aus dem das es spricht des Unbewussten seinen Anlauf nimmt, existiert kein Referent, kein transzendentaler Sinn, kein ganzes fürsichseiendes Un, weder in Form eines Flechsig’schen Präparats noch als jenes großartige logozentrische Hauptsignifikat, das noch in Saussures Untrennbarkeit von Vorstellung und Lautbild überdauert. Dem Unbewussten als korpsifizierte Struktur von Diskontinuität und Wiederholung geht nicht etwa ein Un rettend und begründend vorweg, sondern ein kontingentes Funkengewitter, das den Bruch im Realen, die Klüftung des Seins, das kleine diskrete un des diskontinuierlichen Bösen und ineins damit die sinn- und rettungslosen Tag-Nacht-Serien des unbewussten Begehrens erst hervorruft. „Ist das Eine/le un vor der Diskontinuität? Ich denke nicht, und alles, was ich die letzten Jahre gelehrt habe, geschah in der Absicht, die Forderung nach einem geschlossenen Einen zu Fall zu bringen [...]. Sie werden mir zustimmen, wenn ich sage, daß das in der Erfahrung des Unbewußten eingeführte un jenes un des Spalts, des Zugs, des Bruchs ist“46

Mit einem Spalt, Zug, Bruch emergiert das-Unbewusste-Freuds-und-dassprachstrukturierte-Unbewusste.

43 44 45 46

Lacan 1987: 27f. Lacan 1987: 27f. Lacan 1990a: 221. Lacan 1987: 31f.

400 ſ DISKRETE GESPENSTER

8.7 Der Algorithmus von Begehren und Wiederholung Das Un des Unbewussten ist ein diskretes un, und der Begriff des Unbewussten ist der Begriff dieses un, womit automatisch die Grenze dieses und des Begriffs überhaupt angezeigt ist, das Espirando des wahren Sinns, das Versinken eines metaphysischen Hintergrunds, eine Repräsentation mit unmöglichen Augen, ein Fulgurit von diskreten Zuständen, eine divergente Signifikantenkette, die gegen unmöglich und nicht gegen elysisch geht, aus dieser Unmöglichkeit jedoch verkürzte Elysien und – Begriffe erzeugt. Phantasmen von sahnigen Himmeln und Mitternachtsblau, Begriffe auf allen Meridianen und allen Kongressen dieser Welt: es sind Bedeutungsübertragungen, Bedeutungseffekte, temporäre Haltewerte und Zwischenergebnisse einer unendlichen meerüberwandernden Rekursion. Doch vollzieht sich an diesen Haltewerten keine klassische Zeichenfunktion mehr, nicht die Repräsentation eines vollen Sinns, keine Konvergenz von Bedeutung und Ding. „Keinesfalls können wir als seinen grundlegenden Haltepunkt das Zeigen auf das Ding in Betracht ziehen“, vielmehr „besteht eine absolute Nicht-Äquivalenz des Diskurses mit irgendeinem Hinzeigen.“ Zwar „zielt der Diskurs wesentlich auf etwas, für das wir keinen anderen Ausdruck als den des Seins haben“, nur ist dieses Sein zu Zeiten Lacans zum „problematischen Term“ geworden, weil das Abzielen auf das Sein gerade nicht mehr zu dessen Präsentifizierung im Signifikat und damit zum glücklichen Endpunkt des Satzes führt. Das Sein lässt sich im Gegenteil nie anders als mit einem unausweichlichen „Gefühl des Nichtübereinstimmens“ adressieren, das unbewusste Subjekt kann und muss das ursächliche Sein immer und immer wieder nur versäumen und dann aus diesem schicksalhaft syntaktisierten Versäumnis ambulante Sinneffekte generieren.47 Jenes Sein S, das im Logozentrismus noch jeden Sinn beatmete, wird im Zeitalter der durch die elektrischen Medien automatisierten Psychoanalysen zum Realen im Sinne des Unmöglichen, es muss, um Sinn überhaupt erzeugen zu können, erst geklüftet, diskretisiert werden, es muss durch das „un des Spalts, des Zugs, des Bruchs“ perforiert werden: S/. Es muss markiert werden durch das, was nach dem Untergang all der Epiphanien des Wahren und Ganzen aus Saussures friedlichem Verbindungsstrich zwischen Vorstellung und Lautbild geworden ist: die Lacan’sche Barre, der Trennstrich des „Algorithmus S/s“, der den Zugang des unbewussten Subjekts zum Signifikanten reguliert. Und „eines ist sicher: Dieser Zugang darf auf keinen Fall irgendwelche Bedeutung mit sich führen, soll ihm der Algorithmus S/s mit seinem Balken entsprechen. Denn es kann dieser Algorithmus, sofern er selbst nur reine Funktion des Signifikanten ist, an dieser Übertragung nur eine Signifikantenstruktur aufzeigen.“48

8.8 Kryptologie S/s bezeichnet nicht länger die fürsichseiende Zeichentotalität des Repräsentationsmodells, sondern einen Algorithmus, also eine artikulierte, in reinen 47 Lacan 1991a: 25. 48 Lacan 1991a: 25f.

DIE ANKUNFT DES UNBEWUSSTEN IN DER LINGUISTIK ſ 401

Signifikanten oder diskreten Elementen vorliegende Vorschrift zur Erzeugung von Bedeutungs- und Bewusstseinseffekten. S/s ist der Algorithmus, der von der unbewussten, das heißt rein signifikanten Ebene aus die Übertragung von Signifikaten steuert. Es geht nicht mehr um Repräsentation, sondern, wie Freud es bereits erkannte und operationalisierte, um Verschlüsselung und Codierung: Das Unbewusste ist ein im Realen korpsifizierter Rechenprozess49, der unter anderem jene Signifikate hervorbringt, die von ihrer Struktur her nichts anderes als übercodierte Signifikanten darstellen. Die Unterscheidung zwischen Signifikant und Signifikat ist nicht mehr substantiell, sondern lediglich strukturell: Es handelt sich um zwei unterschiedliche, durch die Barre separierte Niveauebenen, um zwei „unterschiedliche Ordnungen, die von vornherein getrennt sind durch eine Schranke, die sich der Bedeutung widersetzt. Dadurch wird es möglich, die dem Signifikanten eigenen Verbindungen und Funktionsbreite derselben in der Genese des Signifizierten genau zu studieren“50. Das Studium der Genese des Signifizierten, die Wieder-Holung der das Signifikat komponierenden Signifikanten, ist die ureigenste Tätigkeit und Leidenschaft der Psychoanalyse, jener Theorie, die davon ausgeht, dass „jedes Phänomen, das Teil des analytischen Feldes, der analytischen Entdeckung, dessen, mit dem wir im Symptom und in der Neurose zu tun haben, ist, strukturiert ist wie eine Sprache“51, jener Theorie, die mit Freud begann. Freud, und nicht Saussure, ist für Lacan der wahre und unbewusste Pionier der strukturalen Sprachwissenschaft. Die Traumdeutung ist die Urszene, mit der die Ent-zifferung der Signifikantenketten und Signifikantensysteme des Unbewussten begonnen hat, und Lacan setzt diese Dechiffriertechnik fort im Anschluss an die neu entstehenden Disziplinen der Stochastik, der Informationstheorie und der Computermathematik. Mit den Telefoningenieuren der Bell Labs auf den Spuren der „wieselflinken“ Strategien des unbewussten Begehrens: Analyse der Repetitionsstrukturen und Distribution der Signifikanten im Unbewussten, Disassemblierung und Neucodierung des unbewussten Programmspeichers.52 Lacan rekonstruiert jene Rechen- und Codierungsprozesse, die das unbewusste Begehren in einem Signifikat oder auch, alternativ, denn die Struktur ist isomorph, in einem Symptom verschlüsseln.53 Es geht nicht mehr um die Elle des ganzen und wahren und transzendentalen Sinns, es geht vielmehr um strukturalistisch-mathematisch entauratisierte Sinne, um Sinne als überdeterminierte Formationen von Signifikanten, die entziffert und recodiert werden können zu diskreten Elementen. Es geht um multiple und modifikable Sinne, die noch als Palliativa einer unmöglichen Präsenz das Stigma von zeitlicher Verschiebung und Versäumnis tragen. Es geht schließlich um Sinne, die ihre letzten Mysterien bewahren vor dem Loch des Realen, aus dem sie vom Moment der ersten tödlichen Wechselstromzuckung, vom Moment des un des Unbewussten an, getrieben durch den Wahn nach einer unmöglichen Läuterung, produziert worden sind.

49 50 51 52 53

Zur „Mathematik des Unbewussten“ vgl. auch Bitsch 2001. Lacan 1991a: 21. Lacan 1990a: 220. Vgl. Lacan 1991b: 109f. Dieses Verhältnis zwischen Signifikat und Symptom erschließt sich aus der Struktur der Metapher, das im folgenden Abschnitt behandelt wird. Kapitel 10 wird diese Strukturisomorphie aufnehmen.

402 ſ DISKRETE GESPENSTER „Das Zeichen des Zeichens, das besagt die Antwort, die der Frage zum Vorwand (pré-texte) dient, ist darin zu sehen, daß ein beliebiges Zeichen ebensogut die Funktion jedes andern übernehmen kann, und zwar genaugenommen deshalb, weil es ihm substituiert werden kann. Denn Tragweite hat das Zeichen nur, weil es entziffert werden muß. Ohne Zweifel soll die Abfolge der Zeichen Sinn annehmen aus der Entzifferung. Nicht aber gibt diese Abfolge ihre Struktur preis, weil eine Di(t)mension der andern ihren Term gibt. Was die Elle des Sinns wert ist, haben wir ausgesprochen. Daß es darauf hinausgeht mit dem Sinn, hindert nicht, daß dieser ein Loch macht. Eine entzifferte Mitteilung kann ihr Rätsel bewahren. Aus dieser Erfahrung heraus bestimmt sich der Analytiker. Die von mir so genannten Bildungen des Unbewußten (formations de l'inconscient) zeigen ihre Struktur dadurch, daß sie entzifferbar sind.“54

8.9 Metonymie und Metapher: Lacan und Jakobson Der im Loch sich verlierende Sinn ist uneinholbar und unmöglich, dennoch können die Produktionsalgorithmen der sich aus dieser Unmöglichkeit ergebenden Sinneffekte, Sinnkonstitutionen der Nachträglichkeit oder Antizipation, entziffert werden. Lacan knüpft an die beiden von Freud explorierten Traummechanismen der Verschiebung und Verdichtung an55 und präsentiert zwei Algorithmen, die die Aktivität des unbewussten Begehrens regeln: zum einen die Metonymie, die das Gleiten der Signifikantenkette, also die Bewegung des unbewussten Begehrens konstituiert, zum anderen die Metapher, die die Übertragung des Begehrens als Signifikat oder Symptom strukturiert.56 Lacan übernimmt die Konzeptionen von Metonymie und Metapher, und darauf verweist er mehrfach und nachdrücklich, aus der linguistischpoetologischen Theorie Roman Jakobsons.57 Jakobsons Theorie weist die Metonymie und die Metapher als die beiden Pole der Sprache aus, der jeweils zwei zentrale Funktionen oder Operationen des sprachlichen Zeichens in der Literatur entsprechen. So korreliert Jakobson die metonymische Dimension der Kontiguität oder Kontextualität dem literarischen Realismus, während die metaphorische Dimension der Substitution und Selektion die romantische und symbolistische Lyrik dominiert; Lacan resumiert diese Zuordnungen am Ende des dritten Seminars.58 Lacan adaptiert also zwecks Formalisierung der beiden zentralen Rechenoperationen des Unbewussten Jakobsons Funktionen von Metonymie und Metapher, um letztere jedoch zugleich einer für diesen Akt notwendigen Modifikation zu unterziehen. Ähnlich wie er bei Saussure das in der Theorie des sprachlichen Wertes enthaltene Prinzip der Differentialität forciert, so liest er Jakobsons Funktionen mit den digital flackernden Augen des Informatikers aus Leidenschaft, der nur noch diskrete, aber keine substantiellen Beziehungen mehr anerkennt, für den Ontologie sich nur noch aus Operationalität ergibt. Metonymie und Metapher bei Lacan sind Varianten des basalen Algorithmus S/s und somit lassen sich die Relationen ihrer 54 55 56 57 58

Lacan 1991a: 7f. Vgl. Freud 1999: II/III 324-327; vgl. Lacan 1991a: 36-38. Vgl. auch Kappes 1999. Vgl. Jakobson 1956 und Jakobson 1963. Vgl. Lacan 1990a: 305f.

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