Die sibirische Klarheit : Texte aus der Zeit der Gefangenschaft 3764202017

Hrsg. von Wendelin Schmidt-Dengler und Martin Loew-Cadonna. Enthalten in: Das erzählerische Werk : in 9 Bänden. Bd. 8/

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German Pages [162] Year 1991

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Die sibirische Klarheit : Texte aus der Zeit der Gefangenschaft
 3764202017

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lAeimito von Doderer . ,P/e sibirische Klarheit

Heimito von Doderer Die sibirische Klarheit

HEIMITO VON DODERER

Die sibirische Klarheit TEXTE AUS DER GEFANGENSCHAFT

Herausgegeben von Wendelin Schmidt-Dengler und Martin Loew-Cadonna

BIEDERSTEIN VERLAG MÜNCHEN

Mit 8 Abbildungen nach Werken von Rudolf Haybach und Erwin Lang

ISBN 3 7642 0201 7 Umschlagentwurf: Werner Rebhuhn ©1991 Biederstem Verlag, München Gesamtherstellung: Kösel, Kempten Printed in Germany

Inhalt Die Singvögel ......................................................................

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Der Centaur und die Springschnur ..................................

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Der Tod und der Starke.......................................................

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Schneeschmelze im Hof.......................................................

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Das Treibhaus......................................................................

25

Kaulquappen.........................................................................

29

Der Abschied ......................................................................

30

Slobedeff................................................................................

31

Der Brandstuhl....................................................................

36

Holzschnittexte....................................................................

42

Das Cafehaus ......................................................................

52

Dilettanten der Armut.........................................................

54

Katharina .............................................................................

67

Fortunatina und die Löwin. Ein Märchen .......................

87

Falsche Erwartungen...........................................................

98

Finale .......................................................................................

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Zu den Abbildungen..............................................................

119

Nachwort................................................................................

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Die Singvögel. Auf dem Gartenweg ging langsam ein Mann. Hinter ihm kam die große, gefleckte Katze mit verführerischer Freundlichkeit daher. Sie dehnte sich bei jedem Pfötchenschritt, ihr Gang war weich wie Butter. Der Mann auf dem Gartenweg sah sich um und bemerkte die Katze. Er ging wieder ein paar Schritte und freute sich, als die Katze ihm folgte. Es tat ihm leid, daß er nichts für sie hatte, kein Schüsselchen mit Milch oder ein Stückchen weißes Brot Hinter der Katze kam das Hündchen; es sah töricht drein. Die Katze beachtete es kaum, obwohl es sich näher an sie heran­ machte und endlich an ihrer Seite daherzottelte. Die Katze hatte wichtigere und höhere Zwecke im Auge, als einem Spaziergän­ ger nachzulaufen oder mit dem Hündchen zu spielen. Denn auf einem Baum, gleich hier am Wege, gab es ein Vogelhäuschen mit Nestlingen. Und in der Krone des Baumes hüpften und pfiffen die Goldammern. Der Mann bemerkte, als er sich wieder umsah, den Hund, und daß sich jener an die Katze heranmachte. Da hielt er im Gehen inne und sah zu, denn es gingen ihm die Worte ,Hund und Katz' durch den Kopf, und er erwartete ein kleines Schauspiel. Aber die Katze hatte, wie gesagt, Wichtigeres zu tun. Ihr Pfötchenschritt dehnte und streckte sich, sie schlich auf den Fuß des Baumes zu. Das Hündchen versuchte noch immer, mit ihr zu spielen, aber sie beachtete es nicht. Mit einem Male richtete sie sich auf - spak, spak -, die Krallen schlugen in die Rinde des Baumes. Das Hündchen sah nun wohl deutlich, daß die Wege der Katze über seine Kräfte gingen und daß sein Spielkamerad ihm zu sehr überlegen war. Aber es richtete sich auch auf an dem Baum, so gut es konnte, und legte der Katze ein Pfötchen auf den Rücken, wie um sie doch noch zurückzuhalten. Dabei sah es so traurig und töricht drein! In diesem Augenblick freute sich der Mann, der auf dem Weg 7

stand und zusah, über die Katze und ihre Gewandtheit und Überlegenheit dem dummen Hündchen gegenüber. Doch jetzt, als die Katze mit einem Satz an dem Stamm emporschoß - spak, spak, klangen die scharfen Krallen, und die Katzenaugen waren starr auf die Vögel gerichtet, die oben ängstlich herumhüpften -, da wußte der Spaziergänger recht gut, daß jenes arme Hünd­ chen, das nun unter dem Baume stand und traurig nach oben sah, doch besser war als die schnelle Katze. Und wenn er auch einen Augenblick lang die Absicht gehabt haben mochte, der Katze bei der Jagd zuzusehen - nun faßte ihn ein Abscheu vor ihr, er schlug sich auf die Seite der Singvögel und jagte die Katze mit Steinwür­ fen vom Baum herab und davon.

Der Centaur und die Springschnur. (A. Kunft)

Zwei Männer gingen von Abdera weg, in’s Bergland, um einen Centauren zu fangen. Sie hatten zu diesem Zweck nichts Anderes mitgenommen als einen langen Strick. Denn sie wußten recht wohl, wie man es anstellt, einen von den Busch und Halde durchstreifenden, plumpen und zottigen Roßmenschen festzukriegen. „Die dum­ men Halbtiere werden nicht schwer zu überlisten sein“, dachten sie. „Und wenn wir einen in die Stadt und auf den Markt bringen und er dort seine Sprünge macht, wird uns das ein schönes Stück Geld einbringen, die ganze Stadt wird davon reden, und Jeder läuft uns gewiß zu, um das Ungetüm nur auch gesehn zu haben. Und wir haben einen schönen Verdienst, einen Spaß obendrein und werden berühmte und vielgenannte Leute. Man muß nur etwas Mut haben und einen findigen Kopf...“ In währendem Gehen vertrieben sie sich die Zeit, indem sie den Strick ausgespannt über die Straße hielten und damit Wellen, Kreise und Spiralen schlugen; oder es versuchte Einer den Anderen durch plötzliches Anziehen zu Fall zu bringen. Als sie das letzte kleine Bergdorf durchschritten, warfen sie gar einmal den Strick wie eine Schlinge um den Ast eines Birnbaumes, schüttelten, und bestahlen so den Bauer um seine Früchte, die jener ganz sicher geglaubt hatte, da sie ja so hoch hingen. So kamen sie, birnenkauend und allerlei Unfug treibend, am frühen Nachmittage in ein einsames Bergtal. Linker Hand stieg niederer Wald an, und zur Rechten zogen die Matten hin, noch grün und mit den Farbflecken der Herbstzeitlosen weithin be­ tupft. Sie gingen noch immer wie früher, der Eine diesseits, der Andere jenseits des Weges; den Strick hielten sie an seinen Enden und schlenkerten damit. Als der Eine gerade die letzte Birne aus der Gürteltasche nahm und hineinbiß, daß ihm der süße Saft aus den Mundwinkeln und über das Kinn rann, wollte ihm sein

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Gefährte den Genuß verderben; denn dieser war mit seinen Birnen schon zu Ende, und die Sonne stach, trotz der späten Jahreszeit. Darum ärgerte ihn das saftfreudige Kauen des Ande­ ren, und er zog plötzlich und heftig am Strick. In dem unnützen Bestreben, das Ende des Strickes festzuhalten, taumelte nun der zweite Centaurenjäger einen Schritt einwärts des Weges und streckte die freie Hand aus, um in’s Gleichgewicht zu kommen. Dabei hielt er die Birne mit den Zähnen fest, und so kam es, daß ihm gerade das eine Stück im Mund blieb und der andere Teil angebissen und saftfeucht in den Wegstaub fiel. Er wollte schlucken und fluchen, doch grad’ im Augenblicke hörten sie Hufschlag. Sie sahen beide gespannt vor sich hin, nach der nahen Wegbie­ gung. Das Hufgestampf kam näher, es klang wie scharfer Gallopp; und gleich kam es um die Biegung - ein junger Centaur, ein wahrhaft prächtiger Bursche, mit breiten Schultern und stämmi­ gen Leibes. In der Lust des Dahinjagens hatte er den Kopf weit in’s Genick zurückgeworfen und die Arme ausgebreitet. Die langzottigen Brusthaare umflatterten ihm wie eine Mähne die Seiten, unter seinen Hufen flogen die Steine, und weglang stand hinter ihm eine Staubwolke.

Den Zweien fiel im Augenblick nichts Anderes ein, als rasch den Strick zu spannen und ihn in Mannshöhe emporzuhalten. Da war der Centaur auch schon heran und setzte in kraftvollem Sprung über den Strick weg; Staub und Steine flogen hoch auf. Erst standen die beiden Jäger ein wenig verdutzt, dann aber besannen sie sich ihrer List. Sie hatten davon gehört, welches maßlose Vergnügen die Roßmenschen am Springen finden. Drum blieben sie ruhig, wo sie waren, und hielten den Strick nach wie vor ausgespannt über den Weg. Der Centaur machte auch richtig nur mehr etliche langsamere Galloppsprünge, blieb stehen und lugte über die haarige Achsel zurück. Endlich wandte er sich um und kam im langsamen Trabe heran. Dann warf er plötzlich den Kopf in den Nacken, prellte vor und setzte in hohem Bogen zum zweiten Male über den Strick. Die Beiden behielten ihre Stellung unverändert. Und das Spiel wiederholte sich.

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Der Centaur flog hin und her, Sprung folgte auf Sprung. Der Staub stand in Wolken, und den beiden Jägern begannen die Arme zu ermüden, wenngleich sie abwechselten und den Strick bald mit der Linken, bald mit der Rechten hochhielten. Eine Raserei schien den Roßmenschen überkommen zu haben. Er schoß hin und her, mit einem Riesensatze jedesmal den Strick überspringend; und dann wandte er sich gleich auf den Hinter­ hufen, zu neuem Anlauf. Der Schaum begann ihm auf die Lippen zu treten, er hielt den Mund offen, und sein Atem ging keuchend und rasselnd durch die Kehle. Die beiden Jäger sahen das mit Befriedigung. Denn sie hofften, den gänzlich Erschöpften dann leicht zu fangen und zu binden. Aber es dauerte noch eine Weile. Indes, den Jägern fiel etwas ein. Sie begannen nämlich, den Strick zu drehen, in der Art, wie die kleinen Mädchen ihre Springschnur schwingen. Der Centaur wurde da völlig toll. Er blieb gleich an Ort und Stelle stehen und sprang mit seinen vier Rosseshufen immer wieder über den rasch unter ihm durchsausenden Strick. Die Sprünge folgten schneller und schneller aufeinander, denn die Beiden drehten aus Leibes­ kräften; und die Bewegungen des Centauren glichen schon denen eines heftig bockenden Pferdes. Der Strick schnitt blitz­ schnell und pfeifend durch die Luft, er hielt den Roßmenschen gleichsam in seinem Bann: denn immer wieder mußte er sprin­ gen, und kaum war er auf seinen vier Hufen gelandet, so pfiff auch schon die Springschnur von Neuem heran, und es blieb ihm nichts Anderes übrig, als darüber hinwegzusetzen. Er tat es denn auch bald in müderen und plumperen Sätzen, seine breiten Hufe streiften da und da den Strick. Die Zunge lag ihm heiß und rot zwischen den offenen, beschäumten Lippen, die Brust hob sich heftig im fliegenden Atem, und die schweißdunklen Flanken zitterten und bebten. Da verfing er sich denn bald, gänzlich erschöpft, mit den Hufen im Seil, brach in die Hinterbeine, versuchte hufscharrend aufzukommen, fiel aber endlich ermattet zur Seite in den Wegstaub - und da lag er und zuckte mit den Beinen wie ein verendendes Pferd. Die beiden Jäger waren alsbald über ihm her, sie fesselten seine Vorderbeine und schnür­ ten ihm die starken, haarigen Arme auf dem Rücken zusammen. Nun hatten sie ihn und lachten.

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Der Centaur lag mit geschlossenen Augen und atmete heftig. Aber nach einer Weile schlug er die dunklen Augensterne auf und suchte sich zu regen und auf die Beine zu kommen. Da fühlte er denn die Fesseln und sah sich gefangen. Er schloß die Lider auf’s Neue. Dann aber wandte er das Haupt, hob den Blick zu den beiden Jägern, die lachend vor ihm standen, und begann zu sprechen: „Wohlan! - ihr glaubt jetzt, die Klügeren zu sein, und seid es ja in meinem Falle wirklich! Denn eure Springschnur hat mir zu viel Vergnügen gemacht, ich könnt’ nicht mehr los, ich mußte springen und springen bis - nun, jetzt liege ich hier, halb verreckt im Wegstaub. Ihr habt mich gefangen und gebunden. Wohlan! ihr habt mich überlistet. Es sei euch zugestanden! Nun aber hört mich. Meine Dummheit war groß, ich will das nicht läugnen. Und doch liegt sie euren klugen Köpfen nicht so fern, wie ihr viel­ leicht glaubt. Seht - ihr seid Bürger der großen Stadt Abdera, vermutlich; wenigstens seht ihr mir so aus. Nun, ihr habt da euer Gewerbe welches ist es denn, wenn es erlaubt ist zu fragen...? So. Nun gut, Du bist Gewürzkrämer, und Dein Gefährte flickt Schuhe. Ihr habt da also eure Arbeit, euer Geschäft, eine Frau vielleicht und am Ende noch Kinder. Du verkaufst Deine Rettiche und Deinen Knoblauch, und Du besserst Deinen Kunden den zerris­ senen Sandalenriemen aus. Dann geht ihr auf den Markt; ihr seht, was es Neues in den Staats- und Stadtangelegenheiten giebt. Ihr hört zu und gebt eure Meinung ab und nennt den oder jenen Feldherren einen großen Mann und etwa den neugewählten Bürgermeister einen Tropf. Dann kommt ihr nach Hause, die Frau setzt das Essen auf den Tisch, ihr seid zufrieden oder auch gar unzufrieden damit. Ihr prügelt euren Jungen und gebt dem Sklaven, den ihr vielleicht habt, eine Maulschelle, wenn euch die Laune durch das Essen verdorben ist, oder ihr sonstwie schiefge­ wickelt seid. Abends geht ihr dann in die Schenke, oder ihr bleibt auch hübsch daheim und helft der Frau Wollsträhne haspeln. Seht ihr, das geht so Tag für Tag. Und nun frage ich euch: sind eure Tage mit den tausend kleinen Anlässen zu irgend was, zu Arger, Freude, Sorge - sind

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diese Tage nicht auch so eine Art Springschnur, in deren Wirbel ihr hineingeraten seid? Und nun müßt ihr eben hüpfen, immer wieder, und wenn euch auch mitunter - schon zehnmal alle Knochen weh tun. Ihr müßt eben - das rollt so fort, und ihr könnt nicht anders. Nun glaubt ihr vielleicht manchmal im Ernste, selbst die Schnur zu drehen, über die ihr alltäglich springt. Doch nein - ihr wißt ja recht gut, daß dem nicht so ist. Und so hat eigentlich die Schnur samt ihrer Drehung mit euch selbst gar nichts zu tun - sie gehört gleichsam garnicht euch - ihr müßt nur springen, sprin­ gen. Und das noch dazu euer ganzes Leben lang. Bis ihr so daliegt wie ich jetzt. Ich könnte noch anmerken, daß es außerdem etwas in diesem euren Leben giebt, das noch viel größere Ähnlichkeit mit einer Springschnur aufweist. Und das hätte vielleicht einen besseren Vergleich abgegeben. Aber ich kann euch doch nicht gut eure Leidenschaften vorhalten; namentlich, da ich selbst durch etwas Ähnliches zu Fall gekommen bin. Überdies ziemt Höflichkeit dem Unterlegenen.“ So sprach der Centaur. Die beiden Abderiten sahen sich betroffen an. „Wenn er nun solche Geschichten unten auf dem Markt erzählt - wie würden wir dastehen?“ So dachten sie; da lösten sie, ohne ein Wort zu sprechen, die Bande des Roßmen­ schen und zogen stillschweigend mit ihrem Strick zu Tal. Der Centaur aber stürmte aufjauchzend in seine Berge.

Der Tod und der Starke. Oben, an der Ausladerampe des Lebens, ging der Tod langsam auf und ab. Die ganze Breite der steilen Rampe unter ihm war von eifrig emporstrebenden Menschen eingenommen. Im Gewimmel mühten sie sich hinauf: einige versuchten es noch aufrechtge­ hend, andere hatten sich schon auf die Knie und Handflächen gestützt, um nicht zurückzugleiten. Keuchend und eifrig strebte jeder vorwärts und empor auf dem überaus glatten Holz. Der Tod ging oben auf und ab und wartete, bis es jeweils Einen abzufertigen gab. Er hatte das Gehaben eines Beamten, der gleichgültig und gewohnheitsmäßig seine Arbeit macht, ein wenig gelangweilt und mit einer leisen Note von Verachtung gegen das andrängende Publicum. Man sieht solche Mienen an öffentlichen Schaltern. Denn der Beamte hat die Interessen aller zu bedienen, und während er mit dem einen verhandelt, hat er des eben erledigten Vorgängers längst vergessen, und wenn die Angelegenheit noch so einschneidend für diesen war. Daher denn bei dem Schaltermann eine gewisse Erhabenheit über das heftig drängende Einzelinteresse. Ab und zu blieb der Tod stehen, trat an die Rampe und sah hinab. Meistens gab es dann für ihn Ärger. „Aha“, sagte er, „sind wieder ein paar schon vor der Mitte zu Ende.“ Unten waren auf halbem Wege ein paar Menschen zusammengebrochen. Sie lagen kraftlos und zuckend auf den überaus glatten Planken und kamen durchaus nicht weiter. Denen mußte der Tod entgegen­ gehen, klappernd und ächzend; dann tat er sie mit einem ruhi­ gen, gleichmütigen Sensenstriche ab; und dann kehrte er wieder zurück auf seinen Platz, langsam und gemach, die Sense auf der Schulter, wie ein Bauer etwa, der eine steile Wiese hinaufgeht. „Dutzendware, lauter Dutzendware“, brummte der Tod miß­ vergnügt und verächtlich. Er mußte sich oft wundern über die Menschen. War das ein verzweifeltes Drängen und Hasten da

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herauf! Nun, was gab es da heroben schon zu holen, oder was gab es Besonderes zu sehen!? Er fertigte doch alle in gleicher Weise ab. Also, was drängten sie sich da zu ihm herauf? Warum bestürmte man ihn dermaßen? - Der Tod war sehr eingebildet. Die Meisten von unten hatten ihre Augen durchaus nicht auf ihn gerichtet. Sie wollten etwas ganz Anderes. Ab und zu einmal sah ihn Einer. Und dann verdoppelte der seine Bemühungen. Die Bemühungen galten aber nicht dem Tod, sondern gerade dem Gegenteil. Das mochte der Alte oben falsch aufgefaßt haben. Nun, er ging auf und ab, tat seine Arbeit und war über das ganze Gedränge unten erhaben. Mit einem Male aber fühlte er sich in seinem Amtsgleichmaß gestört. Die Rampe nämlich zitterte. Der Tod wußte, was es war. Dies geschah immer, wenn ein Starker heraufkam. Der Tod trat an den Abhang und sah hinab. Er erblickte den Starken sogleich; er hatte das erste Drittel der Rampe bereits überschritten. Der Starke ging bald aufrecht, bald brach er wieder in die Knie. Wenn er aber in die Knie gebrochen war, warf der Starke die Arme weit auseinander und schlug die gekrallten Hände mit den Nägeln in die überaus glatten Planken. Er zerrte, bis es ihm gelang, ein paar Späne loszureißen. Wenn er dann die glatte Oberfläche überwunden hatte, grub der Starke weiter, mit den Nägeln Stückchen auf Stückchen vom Holze losreißend. Sein Blut floß. Aber er gewann eine Vertiefung und einen Halt und richtete sich wieder auf. Der Tod sah zu; er vergaß alle Anderen über dem Anblick, und er vergaß seine überlegene Amtsmiene. Er fühlte sich nicht wohl. Der Starke arbeitete sich empor, die Vertiefungen mit dem klebenden Blut bezeichneten seinen Weg auf der Rampe. „Ist auch Einer - wird eben auch erledigt“, dachte der Tod. Er dachte es sich gleichsam vor und hätte sich’s am liebsten vorgesagt: er fühlte sich nicht sicher. Indessen hatten auf der Rampe Einige die Vertiefungen ent­ deckt, welche der Starke hinterlassen hatte. Sie benützten diese nun für ihr eigenes Weiterkommen als Halt und drängten hinter dem Starken her. Dieser war schon im letzten Drittel des Weges. Er ging aufrecht, langsam und sicher auf den überaus glatten Planken.

Doch schien er müde und wurde es immer mehr. Die breiten Schultern waren vorgeschoben und der Kopf gesenkt über dem tragenden Genick. So kam er auf den Tod zu. Der Tod stand und wußte nicht, wie er sich halten sollte. Konnte er ihn „abtun“? Mit einem Male aber hörten alle Sterne am weiten Himmel zu blinzeln auf und sahen mit ernsten Augen herab auf den schei­ denden Starken und die blutigen Zeichen, die jener hinterlassen hatte. Als der Starke mit wankenden Knien das Ende erreichte, stand der alte Tod demütig und in Achtungstellung wie ein Soldat. Und er bot der müden, ruhesuchenden Hand des Starken seine Schulter zur Stütze.

Schneeschmelze im Hof. (3. März) Mit den Jahreszeiten geht es Dir etwa so, wie mit dem Anhören bekannter Musik: da weißt Du zum Beispiel, daß nun gleich eine Melodie auftauchen wird, die Dir besonders nahe steht. Du merkst scharf auf, damit Du den Anfang gleich erfaßt und nicht dann erst erkennst: das ist sie ja!, wenn Deiner Unaufmerksam­ keit kostbare Töne schon entgangen sind. Und dann kommt es doch jedesmal so rasch daher und über Dich, gleich bist Du mitten darin und hast den Beginn garnicht recht wahrnehmen können. Und wie rasch geht es nun vorbei! Daß Du’s doch halten, gleich zwei- und dreimal hören könntest! So ist es mit den Jahreszeiten, mit ihrem Wechsel und Dahin­ gehen, besonders aber mit dem Frühjahr. Wie schwer läßt sich der Anfang erfassen! Nun lauere ich seit Weihnacht auf den Frühlingsbeginn. Und nun ist er da, hat schon eingesetzt, ich war garnicht recht dabei, bei diesem Ereignis. Auch konnte ich es nicht glauben und fragte Jemand, ob es wahr sei. „Ja selbstver­ ständlich - woher soll denn sonst auf ein Mal die Wärme kommen? Merkwürdig! Wie Sie da fragen! Wir haben doch schließlich und endlich schon Anfang März! Da kann es doch schon einmal warm werden!?“ „Gewiß, gewiß“, beeilte ich mich zu sagen, „wir haben schon im höchsten Grade begründeten Anspruch auf Wärme, eigent­ lich ist es beinahe ein Scandal, daß es nicht schon viel wärmer ist...“ Nun also, heute, am zweiten März, war es offenkundig der nahende Frühling, welcher der Sonne größere Kraft gab, ja dem Winter seinen unerbittlichen Ernst nahm und ihn fast in eine Art Scheinherrschaft verwies. Ich trat zu Mittag aus der Glasveranda und wußte sofort, daß jenes große Geschehniß, auf das ich wartete, nun schon vollendet in der Luft lag. Von heute ab würde kein Mensch mehr den Winter völlig ernst nehmen, und schneite V

es gleich und fröre es auch jeden Abend. Dies zeigte sich auch deutlich in dem gleichsam harmlosen Benehmen der Menschen, welche sich auf dem Hofraum ergingen. Auf den Turnbarren, welche über den Winter ganz trostlos dagestanden hatten, saß eine Gruppe von lachenden jungen Männern, ja sogar eine schneefreie Bank war besetzt. Ich will nicht von den nässedunk­ len Wegen reden und von Lachen Wassers da und dort: allzuviel sichtbare und fühlbare Kraft hatte die Sonne noch nicht, es war alles mehr ein Versprechen. Aber in diesem deutlichen Verspre­ chen lag eben jene Kraft, welche dem Winter seine Alleinherr­ schaft über die Gemüter raubte. Doch manches war auch wirklich schon getan. Die mächtigen Eiskaskaden an den Dachtraufen schienen erheblich gemindert, es tropfte eben doch schon an allen Ecken und Enden. „Was glauben Sie?“ sagte man mir, „weht bei uns zu Hause schon dieser gewisse warme Wind in den Straßen?“ Ich antwortete zuversichtlich mit „ja“. Ich sagte, daß ich die Überzeugung hege, daß jener „warme Wind“ bei uns zu Hause schon ganz gehörig, ja im höchsten Grade vorhanden sei. Sollte meine freundliche Heimat hinter diesem Deportiertenland zurückstehen? (Hier ist es nämlich mit dem „warmen Wind“ noch recht armselig be­ stellt. Der Wind ist, gerade heraus gesagt, kalt.) Eines muß hier noch erwähnt werden. Ich sprach von einem harmlosen Benehmen der Menschen auf dem Hofraum: und dachte dabei an die winterlichen Gestalten der „Spaziergänger aus Gesundheitsrücksichten“. Welche Energie lag in ihren Schritten (sie gingen mit gänzlich überflüssigem Kraftaufwand, der Kälte wegen), wenn sie ihre festgesetzten fünf Runden um das Haus machten! Und welche Vermummungen! Heute zer­ streuten sich die Spaziergänger ganz langsam hierhin und dort­ hin, man sah welche, die stehen blieben, und, wie gesagt, sogar Sitzende gab es. Durchaus nicht mehr das entschlossene Schrei­ ten des winterlichen Hygienikers mit dem von der geradezu heftigen, unanständigen Kälte gespannten Gesicht. (Soweit die­ ses überhaupt sichtbar getragen werden konnte.) Denn hier giebt es einen Winter! Einen heftigen, bösartigen Winter, ohne die geringste Unterbrechung durch einigermaßen wärmere Tage; nein, hier ist es den ganzen Winter hindurch gleichmäßig und

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beispiellos kalt. Und ebenso gleichmäßig herrscht dabei eine bedrückende Abundanz an Schnee, Eis und Sturm. Wieviel bedeutet darum hier das Frühjahr! (4. März) Heute morgen - ich lag noch im Halbschlaf - sagte Jemand draußen auf der Veranda: „Wie warm es ist!“ „Ja, das ist schon das Frühjahr“, wurde ihm geantwortet. Dabei ist heute ein trüber Tag - und doch steht er nicht mehr unter der Knute des Winters. Zwar sind die Wege noch hart gefroren, aber mit der winterlichen Genauigkeit scheint es nun vorbei zu sein. Diese „winterliche Genauigkeit“ herrschte bis jetzt ganz unangetastet. Sie besteht darin, daß der Schnee überall ist und alle Formen makellos nachbildet. Auf jeder Bank im Freien, auf jedem Tisch und auf jedem Fensterbrett lag bis jetzt eine Art Polster mit ganz unnatürlicher Korrektheit aufgebrei­ tet. Jeder Pflock hatte die größtmögliche Haube. Dies alles ist jetzt verwischt, wird ungenau oder verschwindet gar ganz. Um jede Bank, um jeden Tisch entsteht eine Unmenge von kleinen, runden Löchern im Schnee, Tropfen fällt auf Tropfen. Die Eiskaskaden an den Dachtraufen sind nun fast ganz dahin, und unter dem Dachvorsprung ist der Schnee gelöchert wie ein Sieb.

(Abends.) Es schneit. Der Schnee fällt langsam. (5. März) Als ich heute morgen ausging, erkannte ich den neuen Schnee­ mantel gleich an seiner echten Wesenheit: er soll eine Niederlage verhüllen. Unter ihm sieht es ruppig genug aus. Aber es herrscht Kälte, und die Spaziergänger schreiten wieder eifrig rundum.

(22. März) Die Nässe im Freien nimmt zu, das Wasser steht in großen Pfützen. Am Schnee kann man etwas Eigentümliches beobach­ ten: jede glatte Schneefläche löst sich unter dem Einfluß von Sonne, Wind und Schmelzwasser in eine Unmenge von Zacken auf, die immer flächenweise in einer Richtung stehen. Im übrigen sieht es auf dem Hofe recht mäßig aus. Der Schnee

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ist schmutzig, an den Rändern zerfressen und unordentlich. Altes Gerümpel in den Ecken, früher sauber eingeschneit, wird nun sichtbar. Wo aber ein Stückchen trockener Erde bloßliegt, erhält man einen fast - sommerlichen Eindruck. Denn während des eigentlichen Winters gab es hier keine Fußbreite Boden’s, die der Schnee unverhüllt gelassen hätte; daher diese sonderbare Empfindung. Nun - man bekommt nasse Füße, wenn man spazierengeht, und überdies ein wenig Unrast. Die Schneeschmelze hier wird noch lange genug dauern. Berge von Eisblöcken, eng gepreßt und ineinander geschmolzen, liegen allenthalben um das Haus. Man hat ja im Winter von Zeit zu Zeit das Dach von Schnee und Eis befreien müssen, um es zu entlasten. Auch rotes Eis giebt es hier in großen Blöcken. Der Grund dieser Rotfärbung ist mir bisher unbekannt geblieben; nur ein geringer Teil des Eises hatte übrigens diese Eigenschaft.

(28. März) Der Winter ist in voller Auflösung. Jeder Schrittbreit Boden’s im Hof trügt den Fuß und giebt nach. Der Schlitten des Wasserfah­ rers gleitet im Kot. Man kann kaum mehr gehen, mühsam ist es, einen Weg zu finden. Wohl beherrscht der Schnee noch das Bild; aber er weicht mehr und mehr dem um sich greifenden Chaos von Schmelzwasser und Kot. Alle winterliche Ordnung löst sich mit zunehmender Schnelligkeit auf. Die Wege, ehemals im Schnee ausgeschaufelt, sind keine Wege mehr, sie sind zu Was­ sergräben geworden. Große Tümpel breiten sich da und dort immer mehr aus, und der Wind spielt mit ihrer Oberfläche und kräuselt sie, während anderwärts noch der weiße Schnee in Flächen liegt. Aber der Schnee ist triefnaß und altersmüde, er fährt nicht mehr stäubend auf vor dem Wind. Und wenn man ihn betritt, giebt er gleich nach, und das Schmelzwasser quillt von allen Seiten durch Schuh und Strumpf. So macht der Schnee aus dem eigenen Nässetod noch eine schwächliche Tücke. Ja, es ist das Chaos, fortwährend weht der Wind, die Luft ist voll von Tönen. Denn der Wind pfeift nicht mehr herrisch und immer streng und gleichmäßig wie im Winter. Jetzt weht ein anderer Wind: er seufzt und stöhnt, er bittet gleichsam noch. 20

Aber in seiner ganzen Unbeständigkeit und zeitweiligen Zaghaf­ tigkeit ist er doch irgendwie siegesgewiß. Der Winter bricht in Stücke. Und jetzt wird eine Weile das Nichts herrschen, das Chaos: Kot und Wasser, und beides wird immer ärger werden. Bis eines Tages Ja, man hat sich allerdings um die Knospen an den Sträuchern bekümmert; man hat nachgesehen, ob sie nicht schon sichtbar würden an den Astknoten, zu einer Zeit, als noch der Wind scharf pfiff und den stäubenden Schnee längs der Plankenwände trieb Und doch wird man eines Tages überrascht gegen die grauen Planken starren; denn da wird ein ganz zartes Grün vor dem Grau liegen, nur ein paar grüne Striche: das wird fast wie eine Friedensbotschaft sein und wird als ein sichtbares Zeichen des beendigten Überganges freundlich im leichteren Luftzug schwanken.

(29. März) Es sieht hier wahrhaftig aus wie auf einem Schlachtfeld. Der Boden zerrissen, jeder Einheitlichkeit beraubt; nur selten ist ein trockenes Plätzchen zu finden. Alles, was der Schnee unter sich begraben und erdrückt hat, kommt nun wieder an die Sonne: totes Gras, und die gelben Skelette der Sonnenblumen vom vorigen Sommer, die jetzt nackt und dürr im kräftigeren Sonnen­ schein stehen. Überall liegt Unrat herum, Gerümpel, das man im Winter in den allesverbergenden Schooß des Schnee’s geworfen hat, und das jetzt zu Tage tritt, wie alte Stiefel oder Eisenteile, die am Grunde eines entwässerten Teiches sichtbar werden. Und die unter der Schneelast zerbrochenen Lauben und Spaliere stehen klapprig gegen den blauen, windigen Himmel. (1. April) Schritt für Schritt weicht der Schnee; doch ist sein Weiß noch immer die Hauptfarbe. Nur an den Rändern der Schneefläche, von wo aus die Auflösung kommt, ist das Weiß beschmutzt, zerstampft und besudelt. Dort steht der Schnee im Kampf, zieht sich langsam zurück, und in dem Maaße, wie sich seine makel­ lose Einheit und Ordnung aufgelöst hat, läßt er Kot und Wasser hinter sich.

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Die Wege, die zwischen den noch erhaltenen Schneeflächen über den Hof führen, werden fast stündlich breiter. Denn Jedermann tritt am Rande eine neue kleine Wegspur in den Schnee, um nicht in der Mitte durch den Kot waten zu müssen. (2. April) Spazierengehen im Freien.

Heute hatte ich Gelegenheit, einen Spaziergang außerhalb des Lagers zu machen. Da das Besuchen der Ortschaften verboten ist, so nahm ich meinen Weg gleich in der entgegengesetzten Richtung, gegen die großen Wälder zu. Ich verließ das Lager mit einer erwartungsvollen und freudigen Empfindung, als ginge ich nun einer ganz besonderen und neuen Begebenheit entgegen. Es war das reine Abenteurergefühl; im Grunde glaubte ich bei alledem, mich auf verbotenen Wegen zu befinden. Beim Tor erwartete ich mit Bestimmtheit, angehalten zu werden, und war fast verwundert, als nichts dergleichen geschah, und als ich endlich draußen war, hatte ich das Gefühl, glücklich entwischt zu sein. Nun schritt ich rasch vorwärts, ich mußte mich von dem Gefangenenlager gleichsam losreißen. Doch nach hundert und zweihundert Schritten wandte ich mich um, mit dem Gefühl, schon zu weit gelaufen zu sein; ja, es schien mir der Gedanke sehr kühn, so weit zu gehen, daß man das Lager nicht mehr erblicken konnte. Unterdessen aber schritt ich immer in bester Laune vorwärts und schwang meinen Stock. Als ich ein gutes Stück vor mir Leute von uns gehen sah, wußte ich, daß dies der richtige und übliche Spazierweg sei, auf dem ich mich befand. Später sagten mir auch Heimkehrende, daß man über die näch­ sten Höhen und bis zur Bahnlinie gehen könne. Nun machte ich lange Beine, denn an der Lehne des bewalde­ ten Hügels gegenüber sah ich wahrhaftig die Spaziergänger hinaufwandern. Während des Gehens hielt ich mir vor, daß dies ja für mich eine völlig neue Gegend sei, daß ich mich zum ersten Male hier auf diesem Wege befände, daß ich meine Augen wohl offen halten müsse - ich hatte vollständig vergessen, daß ich genau diesen selben Weg vor sechzehn Monaten gegangen war,

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nur in umgekehrter Richtung und unter Eskorte von Kosaken, als wir von Chabarowsk hierhertransportiert worden waren. So ging ich über das offene Feld und dann hügelab und hügelan durch den lichten Wald, der beiderseits des Weges stand. Überall das Weiß des Schnees als Hintergrund aller Dinge; und überall das helle, mattgelbe Birkengeäst, schon Kätzchen tragend, aber noch kahl. Ich fragte mich, welches Weiß heller sei: das des Schnees oder das der Birkenstämme, die als helle Striche überall leuchte­ ten. Und ich fand, daß die Stämme heller gefärbt waren als der Schnee, wenngleich dessen Farbe reicher und mannigfaltiger, gleichsam lebendiger schien, verglichen mit dem glanzlosen und zarten Birkenbast. Hin und wieder stand eine junge Eiche, die noch ihr ganzes trockenes Laub vom vorigen Herbst trug, zwischen den kahlen Stämmen. Ich kann nicht verstehen, wie jene toten Blätter die Winterstürme überdauern konnten. Der Schnee ist an der Oberfläche getaut und wieder leicht gefroren. Dünne Eisplatten, wie Marienglas, überdecken ihn. Wo die Sonne scharf auftrifft, giebt es einen Glanz weithin, wie blankes getriebenes Silber. Und im Schatten und Halbschatten liegen die Mulden und Hügel mit mattem, seidigem Glanz, wie gebauschte Atlaspfühle. Denn hier im Freien ist der Winter noch mehr in Kraft als bei uns auf dem Hofe, wo der Schnee täglich von vielen Füßen immer mehr -zu Brei getreten wird. Doch scheint die Sonne warm, mein Pelz beschwert mich, ich schlüpfe aus den Ärmeln und hänge ihn über. Ich gehe noch ein paar Schritte und komme auf eine Anhöhe mit weitem Ausblick: dort werfe ich den Pelz auf einen Baumstamm und lasse mich in der Sonne nieder. Die Landschaft hier hat einen großzügigen und heroischen Charackter. Rechter Hand Hügel und Berge mit fernen dunklen Nadelwäldern und dahinter noch höhere Berge, die schon blau sind vor Ferne, eine blaue Wand, die den Ausblick endet. Es sind jene Höhen, die man auch von unserem Hof aus über die hohe Plankenwand sehen kann. Aber jetzt liegen sie unverdeckt, und ihre Kette erscheint langgestreckter, als man geahnt hat. Die Wälder wallen gegen die Hügel und Berge zu. An den Flanken der Hügel steigen die zarten Schaaren der Birken em­ por.

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Unten im Tal führt die Bahnlinie, an dem kleinen, roten Stationsgebäude vorbei; sie verschwindet irgendwo im anstei­ genden, waldigen Land. Und linker Hand liegen Ebene, Fluß und Stadt. Alle Entfer­ nungen sind groß, die gelassenen Wellen des Landes ohne Ende. Ich sitze hier auf dem Baumstamm, unter dem lichtblauen Himmel und zwischen den hellen Birken, während die Sonne mich warm durchdringt. Bauern gehen vorbei, ein Holzschlitten kommt, Buben betteln mir meine Cigarre ab. Bauernburschen versuchen, mit mir zu sprechen; ich schäme mich, nicht auf gut russisch antworten zu können. Die Buben werfen sich mit Schneeballen und ich sehe zu Das Beste von alledem aber ist: heute habe ich im Wald, während meine Füße im Schnee standen, einen Schmetterling gesehen: es war ein schöner Admiral. (7. April) Das Ende der Schneeschmelze ging mit großer Schnelligkeit vor sich. Eines Tages stritt schon der graubraune Boden mit dem Schnee um die Beherrschung des Bildes. Dann begann der Schnee im Hofe allenthalben zurückzufliehen, er verlor sein Weiß, wurde grau, schmutzig und unansehnlich. Die aufgetürmtesten Schneewälle verschwanden; sie sanken unglaublich rasch in den Boden: der Hof ist jetzt gleichsam eben geworden. Nur an der Schattenseite des Hauses und da und dort im Schutz und Schatten des hohen Plankenzaunes halten sich noch hart­ näckig schmutzigweiße Streifen. Auch draußen, im freien Land, wird der weiße Hintergrund aller Dinge rasch fortgenommen, und die Schneedecke löst sich in kleine Flecken auf, die von weitem alle ein elliptisches Ansehn haben und den Wald zieren, als erster Schmuck des Vorfrüh­ lings, der noch ohne Blumen ist.

Das Treibhaus. In den großen Sälen schliefen die Kriegsgefangenen, vierzig und fünfzig in jedem Saale. Durch die hohen, kahlen Fenster fiel das Licht in die Kabinen und auf die Schläfer, die darin lagen. Die Stoff- und Mattenwände standen bleich im Dunkel; und da so viele hier atmeten - leichter und schwerer -, so war es fast, als ob dann und wann ein leises Zittern und welliges Mitschwingen durch die leichten Scheidewände liefe, welche den Schläfer vom Schläfer trennten. Doch ging nicht jenes tiefe und hingegebene Atmen durch die Säle, welches sonst ein Haus mit schlafenden Menschen zur Nachtzeit erfüllt, das Atmen derer, die nach einem wahrhaften Tage einer wahrhaften Nacht in den Armen liegen, ein Atmen, das so brusttief kommt und geht, daß dem einsamen Nachtwandler auf der Straße Wände und Dach des schlafenden Hauses sich mit zu heben und zu senken scheinen. Das Atmen der vielen Schläfer hier war unruhig und oftmals abgesetzt, es klang fast verdrossen. Im Dunklen, unter der hohen Decke des Saales, hingen still, in nächtlicher Erstarrung, die Gedanken der Gefangenen: alles das, was ihnen am grauen Morgen, während des langen Tages und am traurigen Abend in den Sinn zu kommen pflegte. Diese Gedan­ ken standen nun zur Nachtzeit still über jedem Schläfer, so, wie im Wasser treibende Dinge beim Gefrieren an ihrem jeweiligen Ort festgebannt bleiben. Und wenn einmal Einer erwachte und mit offenen Augen lag, so taute seine erstarrte Gedankenwolke über ihm allmählich auf, und er begann wieder, in seinem Geist dies und jenes hin- und herzuschieben, bis sich seine Augen von Neuem schlossen. Ein freieres Leben aber führten sie alle im Schlaf mit den Träumen. Denn wenn sie auch gleichsam unter dem Betthimmel ihrer Tagesgedanken träumten, so gaben sich doch hier die Bilder in kräftigeren Farben und folgten einander ganz mutig und entschlossen.

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Die meisten der Gefangenen hatten schon zwei Jahre zwi­ schen den Plankenwänden des Lagers verbracht, manche saßen auch schon drei und vier Jahre hier. Und in dieser ganzen Zeit hatte Jeder immer dieselben Erinnerungen mit sich herumgetra­ gen und immer dieselbe Sehnsucht vergebens an dem Planken­ zaun des Hofes wundgestoßen; bei Vielen war sie auch schon flügellahm geworden. Es verging kaum ein Tag für einen der Gefangenen, an dem er nicht die Erinnerungstafeln seines frühe­ ren Lebens aus dem Gedächtnis hervorgeholt und neu zu bema­ len versucht hätte. Keiner ließ im Grunde ganz davon ab, und alle Arbeit und Beschäftigung, die sich Einer etwa machte, ließen immer noch ein paar Augenblicke frei, in denen ein plötzlich erwachtes Bild von ehemals heraufkam und ihm vor Augen trat. Denn zutiefst hielten sie alle die früheren, besseren Zeiten, die sie durchlebt hatten, für die Gewähr einer schöneren Zukunft. So floß ihnen die vor- und rückschauende Sehnsucht in eins zusam­ men und bildete das Farbenkästchen, mit dem sie ihre graue Gegenwart bemalten. Denn alle glaubten in einem Ausnahmezu­ stand, in der Verbannung zu sein; und sie waren im Grunde der festen Überzeugung, daß sie ein unbestreitbares Anrecht hätten, auch wieder einmal ein schöneres Dasein beschert zu bekom­ men. So ertrugen sie die Gegenwart. Keiner von ihnen betrach­ tete sein früheres, schöneres Leben einfach als vergangen und versunken. Vielmehr sah es Jeder als ein Gut an, das er wohl in dieser wilden Zeit nicht genießen konnte, das ihm aber später rechtens wieder zukam. Sie hatten es gleichsam in Verwahrung gegeben, hielten sich aber für vollauf berechtigt, es später (vor dem Richterstuhl des Lebens gleichsam) zurückzufordern. Kei­ ner hätte sich mit dem Gedanken abgefunden, daß das Leben eben nur den ersten Teil ihres Daseins bunt koloriert habe, um dann die farbigen Pinsel zu verwerfen und jetzt und in Hinkunft nur mehr den grauen zu führen. Indes, am fleißigsten gebrauchten die Gefangenen ihr Farben­ kästchen mit den Zukunfts- und Vergangenheitsfarben im Traume; und im Schlaf gelang es ihnen noch immer am besten, ihre Erinnerungstafeln zu bemalen. Denn bei Jenen, die am längsten gesessen hatten, trat dann und wann schon eine Art Farbenmangel ein, wenn sie wachten; ja, es mochte sogar vor-

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kommen, daß die vorhandenen Farben kaum ausreichten, um das Bild der Mutter lebendig genug und befriedigend im Geiste auszumalen; und daß den Gefangenen eine fremde Furcht an­ kam, gleichsam als hätte er ein Stück seiner selbst irgendwo verloren und an Stelle dessen gähne nun ein schwarzes Loch. Doch im Schlaf ging es noch immer leidlich; und wenn auch die Gestalten der Träume sich mitunter in absonderlicher Weise mit den jetzigen, schon gewohnten Verhältnissen vermischten, so hatten sie doch hinlänglich Leben und Frische. Bis einmal, als ein böses Anzeichen und als Folge dieses flächenhaften und unwirklichen Lebens, ein Traum zur Nacht­ zeit durch die schlafenden Säle wandelte; und wen von den Schläfern er berührte: Dem war es, als stünde er am Krankenbett einer jungen, schönen Frau. Die aber konnte nichts Anderes retten und wieder gesund machen, als der Frühling. Es war aber Winter. Da beschloß man, ihr einen künstlichen Frühling vorzutäu­ schen, um ihr Leben zu retten. Während sie schlief, nachts, ward alles vorbereitet. Und dann war es dem Träumenden, als ginge er aus dem Zimmer, in dem die Kranke lag; er trat hinaus vor das Haus in die Dunkelheit, und da war es mit einem Male sein eigenes Haus, daheim; und sein Nachbar kam im Dunklen auf ihn zu. Da gingen sie beide an die Morgenseite des Hauses, um das Aufge­ hen der Sonne zu erwarten. Denn bei Sonnenaufgang sollte dann jenes Wunder, dessen die Kranke bedurfte, sichtbar werden und die winterliche Gegend im Schmuck des künstlichen Frühlings prangen. Die Luft war seltsam lau, fast schwül, und ihre Wärme erschien fremdartig für diese Tages- und Jahreszeit - wie in einem geschlossenen und geheitzten Raum. Indessen wurde es grau, und der Träumende sah mit Staunen die dunklen Schatten­ bilder der Bäume vor dem Hause belaubt. Eine rasche Morgen­ röte erglomm im Osten. Und nun zeigte sich die Fläche des Gartens allenthalben mit Gras bewachsen. Das Gras war von heftiger, gelbgrüner Farbe, ebenso die ganze Landschaft, die - fast sommerlich begrünt und mit blättergeschmückten Bäu­ men - nunmehr sich allmählich erhellte. Der Nachbar wies in den Garten: dort tanzten Schmetterlinge über dem Rasen. „Es

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sind künstliche“, sagte er. Der Träumende wußte es wohl, aber es schmerzte ihn sehr, es eigens noch zu hören. Er wurde traurig und hätte den Nachbar am liebsten gebeten, ihm seine schwache Freude doch zu lassen. Aber er vermochte nicht zu sprechen. Jetzt ging mit einem Male die Sonne auf über den gewohnten Bergen. Sie war klein und heftig leuchtend, wie ein Stück glühender Holzkohle. Und nun lag das erste morgendliche Rotgold auf dem Rasen - aber es hatte einen düsterroten Schein, wie von Fackeln. Es war nicht das helle, freundliche Gold der wahren Morgensonne. „Es ist eben doch unnatürlich“, sagten die Beiden, der Träumende und sein Nachbar. Dann wurde es Tag, ein grauer Tag, und sie saßen in einer großen Theaterdecoration. Denn nicht anders sah es um sie aus: das künstliche Gras war trocken und schien wie altes Moos auf dem Boden; und die Blätter an den Bäumen raschelten wie Papier. Die Blumen aber waren richtige, trockene Kunstblumen. Einen Falter fing der Träumende; der war aus Schreibpapier ausgeschnitten und noch dazu nur an der Oberseite bemalt, mit ein paar farbigen Punkten und Strichen. Ihn legte er der kranken Frau auf die Bettdecke. So weit träumte der Gefangene; dann verließ ihn der Schlaf, er erwachte und sah in das Dunkel, das über ihm stand, und in den bleichen Schein, der von seitwärts durch die Fenster kam.

Kaulquappen. (Wassergraben im Hof.)

Neben dem Weg war ein Wassergraben. In diesem lebte eine Unmenge Kaulquappen. Sie huschten munter herum in dem sonnigen Wasser. Unter ihnen waren kleine, mit runden Bäuchlein und einem lustigen Schwipp­ schwänzlein hinten. Manche waren größer, und es begannen ihnen schon die Hinterbeine zu wachsen. Alle wollten Frösche werden. Neben dem Wassergraben lag ein Sportplatz. Auf diesem spielte eine Menge lustiger Leute Faustball und Lawn-Tennis. Sie sprangen und liefen munter herum in der Sonne. Alle wollten aus der Gefangenschaft gesund nach Hause kommen; darum betrieben sie Sport. Die Sonne trocknete den Wassergraben aus. Schließlich blie­ ben nur ganz kleine Pfützen. In diesen zuckten die Massen aneinandergedrängter Kaulquappen. Die kleinen Pfützen trock­ neten auch aus. Dann kamen die Fliegen, und von den Kaul­ quappen blieben nur schwarze Flecke, hier und dort auf dem immer dürrer werdenden Boden, der schon Risse bekam. Nach zwei Tagen regnete es heftig. Der Graben war wieder voll Wasser. Das Wasser war aber tot und leer. Früher, bevor die Sonne den Graben ausgetrocknet hatte, war einmal jemand vorbeigegangen, stehengeblieben, hatte sich ein großes Glas geholt und von den lustigen Kaulquappen, die ihm sehr gefielen, ein Dutzend gefangen. Jetzt war er ihrer müde, und da er den Graben wieder voll sah, goß er das Glas mit den Kaul­ quappen hinein. Sie schwammen munter und mit den Schwänz­ lein wedelnd durch das Wasser, das ihnen sehr groß vorkam. Sie waren die letzten Überlebenden eines ungeheuren Geschlechtes. Auf dem Sportplatz neben dem Weg liefen und sprangen die Leute, alte und junge. Es waren die Überlebenden eines Riesen­ heeres, das tot lag.

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Der Abschied. Es wird der Tag kommen, an dem wir diesen Ort verlassen werden. Zum letzten Male über den Hof schreitend, dem Aus­ gang zu, wird unser Blick ausgreifen mit dem angstvollen Bestre­ ben, noch ein Mal dieses ganze Stück Leben, das uns hier zwischen den Plankenwänden liegt, zu umfassen. Und ange­ sichts der Unwiederbringlichkeit alles dessen - die uns hier, als an einem sichtbaren Abschnitt, bewußt wird -, angesichts dieser Unwiederbringlichkeit wird unser Gewissen dem Geist zu dieser Stunde jede Vorschau verbieten. Und wir werden uns zurück­ wenden müssen, wie gerne auch unser Sinn in der Spielstube der Zukunft tändeln möchte. Wir werden Abreisende sein, die sich zum letzten Male umsehen, ob sie nichts vergessen haben. Wir werden gehen und wissen, daß wir Vieles vergessen haben. Unser Gewissen und das Bewußtsein unserer Fahrlässigkeit wird uns auf immer mit die­ sen Jahren und mit diesem Ort verknüpfen. Nur die Lumpen, die ihrer selbst und Gottes nicht achten, werden beides leichthin hinter sich werfen, weil es einen unschönen Titel hat: Kriegsge­ fangenschaft.

(Zwei Grotesken.)

Slobedeff. Der dritte Sommermonat, den er hier im Hotel verbrachte, fand ihn noch immer ohne jedwede Ansprache oder Bekanntschaft. Denn einerseits war die hauptsächlichste und vorwiegendste Empfindung, die Slobedeff seinen Mitmenschen gegenüber im­ mer hatte, jene: daß er sich behelligt fühlte. Anderseits war sein Außeres finster und unschön, zog niemanden an und schien das geeignetste Kleid für eine Seele, die allein zu bleiben wünscht: Slobedeff verbrachte seine Zeit abseits der Gesellschaftsräume und der begangenen Spazierwege - wenn er arbeiten konnte. Slobedeff war glücklich, denn er konnte es diesmal fast den ganzen Sommer hindurch. Je mehr er besaß, desto weniger bedurfte er. Notenheft und Zigarren genügten, der Stoß fertiger Partituren wuchs, ihm zur Freude, im Koffer. Dies alles ging aber nicht kampflos ab; und wie hätte es anders sein können. Slobedeff hatte sich selbst gleichsam dauernd beim Genick gepackt und schüttelte sich haßerfüllt, wenn er gewisse Dinge bemerkte, die sich dann und wann hervorwagten: Flüch­ tigkeiten bei der Arbeit oder Grillen bei der Rast, die ihn untüchtig hätten machen können. Solche Gefechte nun lärmten dann und wann in seinem Innern. Sie wirbelten gleichsam Staub­ wolken auf, aus denen er sich wieder zum klaren Blick herausar­ beiten mußte. Diese Inanspruchnahme seiner selbst nun hatte eines zur Folge (was Slobedeff indessen kaum beachtete): er verlor das übliche Verhältnis zur Umgebung völlig, umsomehr, da er ja seit seinem Aufenthalte hier im Hotel kaum eine Verbin­ dung mit seinen Nebenmenschen gehabt hatte. Slobedeff aber war seine Umgebung nun noch fremder geworden, als am Tage seiner Ankunft - was die Menschen betraf. Wenn er im Speise­ saal mit ihnen zusammenkam und sich unter ihnen bewegen mußte, fühlte sich Slobedeff gleichsam abgerückt von allen. Er konnte nicht teilhaben an ihren Reden, ihren Bewegungen und

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ihrem Lachen, dies alles schien ihm fremd, und er fühlte mit Keinem eine Gemeinsamkeit, die ihn angeschlossen und verbun­ den hätte. Er war getrennt von ihnen. Alles, was über das Essen hinausging, störte ihn, und er empfand es als aufgezwungen. Das Anstandsgespräch mit den Tischnachbarn führte Slobedeff, was Redewendung, Geste und Meinung betraf, gleichsam mit erborg­ tem, fremdem Werkzeug, und am Beginn desselben mußte er immer zwischen sich und dem Nachbar eine Brücke aus den vermutlichen Interessen des Anderen bauen. Er fühlte deutlich, daß garnicht Slobedeff da lachte und sprach oder dieser und jener Meinung war: vielmehr Slobedeff selbst war ganz still, hatte sich dies alles nur irgendwo zum Gebrauch ausgeliehen und ließ es jetzt spielen. Aber es war ihm doch nicht ganz wohl dabei, und er empfand etwas wie Scham darüber, etwa die Scham über einen Zwang, den er sich auferlegen ließ. So lebte Slobedeff hier nicht in einer Umgebung, sondern vielmehr neben derselben her. Und da er eben in keiner Weise in seiner Umgebung enthalten war, so war kein Leben zwischen Slobedeff selbst und ihr, sondern ein toter Raum. Bewegung und Leben der Umwelt gewannen solcherma­ ßen für Slobedeff eigentümlich bildhaften Charackter und, abge­ rückt, wie er von alledem war, sah er es auch als Bild. Doch die rein äußerliche Wechselwirkung, die eben immer noch da war, störte dabei, denn sie bestand seitens der Umgebung in nichts Anderem als in den conventionellen Ansprüchen, die jene an Slobedeff stellte, seinerseits wieder nur darin, daß er diesen Ansprüchen in üblicher Weise Genüge tat; dies alles aber hatte mit ihm selbst nichts zu tun, konnte also nicht beleben, noch erfreuen. Aus alledem erwuchs Slobedeff dann und wann eine Empfin­ dung: die der Einsamkeit und des im Grunde völlig Verlassen­ seins. Dies brachte ihm sein in der eigenen Brust verschlossenes Leben, das abends beim Einschlafen voll Angst, oder in der Dämmerstunde voll Wehmut danach verlangen konnte, hervor­ zubrechen, um ein Widerspiel zu finden: in den bewegteren Zügen eines Anderen, oder nur in einem Zucken der Hand und im schnelleren Gehen des Atems. Aber da war Niemand, der ihm einen Menschen entgegengebracht hätte. Sie konnten es wohl alle nicht mehr, und sie waren untereinander auf das Kleingeldgeben und Kleingeldnehmen des täglichen Verkehres eingestellt.

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Indessen befiel Slobedeff solche Beklemmung nicht allzuoft; nur bei den Abschnitten seiner Arbeit, nach der Vollendung, wenn eine leicht verwundbare Wehmut ihn erfüllte, in der Vieles noch nachklingen konnte, aber gemäßigt und ausgeglichen, sanft wie das Abendrot über dem pflugverlassenen Acker: in solcher Stimmung hätte er eines zweiten Menschen bedurft. In den letzten Tagen hatte Slobedeff an einem Streichquartett gearbeitet. Er pflegte im Wald zu schreiben, an einer Stelle, die, etwa eine halbe Stunde vom Hotel entfernt, abseits der Wege und einsam lag. Nun, da seine Arbeit vollendet war, ging Slobedeff auf der kleinen Waldlichtung hin und wider und überlas die vierstimmige Partitur. Indes klang die Glocke zum Abendessen vom Hotel her. Zwischen den Bäumen lag Dämmerung; sie schob sich an den Stämmen empor gegen die Wipfel, die noch licht vorm lichteren Himmel standen. Slobedeff ging durch den Wald, achtete auf nichts, hörte vielmehr noch immer Harpeggien des Violoncellos, mit denen es, von den Geigenstimmen gleichsam selbst angeregt, diese begleitete. Dies alles schwoll nun wieder in ihm an und drängte sich gleichsam. Mittlerweile erreichte er den Waldrand und die noch stark belebte Kurprome­ nade. Auf der anderen Seite des breiten Weges lag sein Hotel. Während Slobedeff die Promenade überschritt, erfüllt wie er war, empfand er im Gehen zwischen den vielen Menschen etwas wie mangelndes Gleichgewicht und befürchtete fast, an Jemand anzurennen. Er gelangte endlich mit Hast auf sein Zimmer und zog sich für das Abendessen um. Als Slobedeff im Gesellschaftsanzug den Saal betrat, hatte das Essen schon eine Weile gedauert; eben kamen die Kellner mit neuen Platten herein, während ein Piccolo mit gebrauchten Tellern und Bestecken an Slobedeff vorbeieilte. Slobedeff ging, an der langen Tafel entlang, auf seinen Platz zu, vorbei an den Rücken der Essenden. Von der anderen Seite des Tisches sahen einige der ihm zugekehrten Gesichter auf, um augenblicks den enttäuschten Blick wieder zu senken. Slobedeff erreichte seinen Platz. Er grüßte zerstreut seinen Nachbarn zur Linken und eine junge Hannoveranerin, die rechts von ihm saß. Der Kellner kam, eben mit der Platte, Slobedeff bediente sich und begann ohne

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sonderlichen Appetitt zu essen. Das viele Licht im Saal belästigte und verwirrte ihn. „Sie waren weit spazieren - was?“ fragte der junge Mann rechts. Er sprach mit Slobedeff immer französisch, obwohl dieser gut deutsch konnte und ihm anfangs auch deutsch geantwortet hatte. Die französische Sprache aber galt hier mehr der jungen Hannoveranerin, welche daraus die Weltgewandtheit des Sprechers im Verkehr mit dem „Russen“ ersehen sollte. „Ja“, sagte Slobedeff, „ich habe mich verlaufen. Ich bin sehr ermü­ det.“ Gleichzeitig servierte ihm ein Kellner die Vorspeise nach; Slobedeff saß zerstreut vor den beiden Gerichten. Die Bestecke klapperten in das summende Redegetön der langen Tafel. Slobe­ deff hatte mit einem Male den Wunsch, allein zu sein, um essen zu können. „Warum setzen sich die Leute bei Tisch zusam­ men?“ ging es ihm durch den Kopf. „Immer vom Teller zum Mund, vom Teller zum Mund. Jeder führt in das Loch im Gesicht ein, soviel er braucht. Eigentlich unschön - aber man setzt sich eigens dabei zusammen. Das ist ja doch - tierisch. “ Ihm gegenüber gebrauchte jemand das Messer als Löffel. Es ging ihm augenblicks scharf durch den Kopf, daß alle diese Leute nur durch die Convention zusammengehalten und gebändigt seien. „Wenn sie wegfällt -?“ dachte Slobedeff. Mit einem Male erin­ nerte er sich an seine Knabenzeit - und dabei an irgendwelche Augen von Tieren. „Ja - im Teich, dort in dem Teich, wo ich immer am Rand gespielt habe - der Frosch und der Krebs, die einmal ganz einträchtiglich nebeneinander gesessen sind. Ja - ich habe mich gewundert damals, daß sie sich nicht ekeln und fürchten, Einer vor dem Anderen. Den Krebs, ja, den habe ich gefangen damals; und die Augen - so starr und eng, eben von einem Tier.“ Er sah auf. Ihm gegenüber ging es vom Teller zum Mund, vom Teller zum Mund. Und dann sah er die Augen der Menschen. Da erkannte Slobedeff, daß er völlig allein sei: uner­ bittlich allein. In diesem Augenblick, als er die aufsteigende Angst schon nicht mehr eindämmen konnte, schoben zwei Kellner die gläser­ nen Türen zur Terasse zurück. Mit der lauwarmen Luftwelle, die hereinschlug, sank das summende Redegetön an der langen Tafel herab, einen Augenblick herrschte verhältnismäßige Stille. Die Essenden gegenüber von Slobedeff wandten die Köpfe der

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wohltuenden Luftwelle zu. Mit dieser eingetretenen Stille aber brach über Slobedeff das Entsetzen herein. Denn ohne daß er es wußte, hatte das fortgesetzte Reden der Anderen noch beruhi­ gend auf ihn gewirkt. Nun schwiegen sie, nun war es mit einem Male still. „Um Gottes Willen, um Gottes Willen“, dachte Slobedeff immer wieder, „wenn Einer jetzt zu mir hersieht und sich bewegt dabei - nein, nein - das war der Tod - nicht weiter Er schrie gellend auf, fuhr herum und packte seinen Nachbar am Rockaufschlag. Und während Slobedeff zerrte und rüttelte, kreischte er in einem fort: „Reden Sie - sagen Sie - bitte, bitte um Gottes Willen - reden er fühlte, wie er fiel. Während Slobedeff, der sich halb erhoben hatte, samt dem Stuhl hinten­ über schlug, sah er die Kellner mit den weißen Hemdausschnit­ ten von allen Seiten auf sich zu kommen. Man brachte Slobedeff auf sein Zimmer. Er erholte sich, packte, verließ fluchtartig das Hotel und nahm den Nachtzug.

Der Brandstuhl. (A. Kunft)

(I.) Es muß zugegeben werden, daß sowohl Franziska als ich an diesem Abend betrunken waren. Als dem Klavierspieler die Hände von der Tastatur herunter­ fielen und er mit herabhängenden Armen vor dem Piano saß, während die Schweißtropfen ganz still über seine Stirn kullerten, mußten wir mit dem Tanzen aufhören. Wir blieben aber noch in der Mitte des kleinen Raumes stehen und machten einige sehr unentschlossene Bewegungen, die aber schon nichts mehr von Tanz an sich hatten und sich infolge des plötzlichen Aussetzens der Musik eher matt und dösig ausnahmen. Um es aufrichtiger zu sagen: wir standen uns gegenüber, hielten uns bei den Armen und schwankten ein wenig hin und her, und das war eigentlich alles. Denn nach ein paar Augenblicken gab mir Franziska einen mäßigen Rippenstoß, drehte mich in der Richtung der Bar und erteilte mir in energischer Weise den Befehl, mich auf einen der hohen Hocker zu setzen. Ich erkannte augenblicks die Gefähr­ lichkeit dieses Unternehmens und blieb in hilfloser Unentschlos­ senheit am Fuß des Gestelles stehn. Dabei fühlte ich, daß die ganze Welt um mich etwas sozusagen Schwebendes angenom­ men hatte, und ich befand mich dabei tatsächlich in einer so unsicheren Verfassung, daß ich beispielsweise gewiß nicht im Stande gewesen wäre, mich selbst beim Kopf zu packen. Ich sah aber jetzt plötzlich, daß Franziska schon oben auf einem der Hocker saß in ihrem grünen Kleid, mitten drin in der Weißflut der elektrischen Glühbirnen. Dieser Anblick wirkte zwingend auf mich, und ich begann jetzt, ohne Besinnen das vor mir stehende Gestell zu erklettern und gelangte in wunderbarer Weise und ohne Unfall hinauf und saß jetzt neben Franziska. Zugleich fand ich einen herrlichen Halt an der breiten Brüstung des Schanktisches; und dadurch ermutigt ergriff ich ein Glas, das

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vor mir stand und eine rötliche Flüssigkeit enthielt. Ich trank alles aus. Die Eiseskälte in Kehle und Magen empfand ich sehr angenehm, und sie schien mir sonderbarer Weise einen wohltu­ enden Gegensatz zu der grellen Lichtflut rings um mich zu bilden; diese ermüdete mich schrecklich. Auch waren meine Füße heiß vom Tanzen in den Lackschuhen und schmertzten mich. Jetzt, während ich saß, schien die Hitze immer mehr gegen die Fußspitzen hinabzusinken und sich dort förmlich zu ver­ dichten. Ich glaubte einen Augenblick lang, daß man unter meinem Sitzgestell ein Feuer entzündet habe, und sah tatsächlich hinunter. „Was suchst Du denn? Trinke doch“, sagte Franziska, und ich nahm das Glas, das sich inzwischen wieder gefüllt hatte, und trank alles aus. Meine ganze Umgebung kam dabei in’s Schwanken. Franziska’s Sitzgestell schien seine Höhe fortge­ setzt zu verändern, zog sich in die Länge und schrumpfte wieder ein, als ob es von Kautschuk wäre. Bald saß sie hoch über mir, bald in gleicher Höhe mit mir, und dann wuchs der Hocker wieder empor, und ich konnte sie kaum mehr sehen. Jetzt, mit einem Male, fiel mir ein, warum meine Füße so sehr heiß waren, und daß dies nicht allein vom Tanzen herrührte. Ich hatte es ja vorhin gesehen, daß der Heizkörper der Warmwasserleitung unten am Schanktische entlanglief, ich hatte also meine Fußsoh­ len gerade darüber. Während ich mich noch herzlich über meine Klugheit freute, sagte Franziska wieder: „Trinke. Wenn die Anderen wissen würden, daß ich mich hier allein mit Dir herum­ treibe, würden sie mich wahrscheinlich am liebsten aufhängen.“ „Aufhängen -?“ sagte ich und wurde plötzlich sehr ernst und zugleich von wirklicher Angst erfüllt. Denn Franziska saß jetzt wieder ganz hoch oben über mir, und es wäre entsetzlich gewe­ sen, wenn man sie dort oben aufgehängt hätte. Man hätte die Schlinge nur am Kronleuchter festmachen und das hohe Sitzge­ stell umstürzen müssen, und sie wäre dann dort oben gependelt, jedenfalls rettungslos und ganz hilflos. Oder, wenn der Strick gerissen wäre - beispielsweise, mit den Füßen gerade auf die heiße Röhre unten zu fallen, das wäre auch fürchterlich genug gewesen... „Trinke“, sagte Franziska noch einmal, und ich griff jetzt nach dem Glas und trank alles aus, während ich die grellweiße

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Lichtflut der elektrischen Lampen geradezu drückend auf mei­ ner Schädeldecke spürte.

(«•) Ich gelangte nach Hause, da es mir glückte, in eine Automobil­ droschke zu steigen. Ich kam schließlich auch in mein Zimmer und stand dort in der Mitte unter der Lampe, während meine Möbel mich nüchtern anblickten. Mein Gesichtsausdruck muß dabei ein äußerst ungläubiger gewesen sein. Heute erscheint es mir als ein sehr glücklicher Zufall, daß ich damals unter der Türe im Vorbeigehen den Schalter des elektrischen Lichtes gleich gefunden habe. So befand ich mich wenigstens in einem erleuch­ teten Raum. Dadurch nämlich konnte ich gleich mein Bett sehen, wie es breit dort stand, und ich wurde von Weiterem abgehalten und meine Einrichtung vor Schaden bewahrt. Denn ich ging sofort geradewegs auf das Bett zu und ließ mich fallen. Ich lag also und klappte mit den Augendeckeln und dachte daran, daß ich das Licht abdrehen müsse, um zu schlafen. Es fielen mir aber die Augen zu, und ich ließ sie geschlossen und tröstete mich damit, daß man ja dem grellen Licht auch durch ein kaltes Getränk abhelfen könne. Während ich aber durch den Garderobegang der Bar und an den vielen dort hängenden Mänteln vorbei lief, um ein solches Getränk zu holen, merkte ich, daß ich ja noch immer im Bett lag, und zwar mit geschlossenen Augen, und daß das Licht brannte. Ich konnte aber die Augen nicht öffnen. Irgend jemand sagte mir jetzt, daß diese Mäntel hier den Hen­ kern gehörten und daß man es der Franziska schon zeigen würde, was es hieße, sich so allein mit mir herumzutreiben. Ich erschrack fürchterlich, denn ich dachte daran, wie sehr mein kaltes Getränk dem Kronleuchter schaden könnte, so daß er am Ende abbrechen würde; und Franziska würde herunterstürzen und vielleicht gerade auf den glühend heißen Heizkörper. Ich eilte also, von der Angst getrieben, so schnell ich eben konnte durch die langen Gänge, an deren Wänden endlose Reihen von Mänteln hingen. Wie viele Henker mußten da an der Arbeit sein! Endlich stürtzte ich auf den Balkon hinaus und mußte mich an der Brüstung anklammern, um nicht zusammenzubrechen.

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Denn was ich sah, erregte mir das grausamste Entsetzen, und ich hätte mich nicht lebend in die Lage hineindenken können, in der sich Franziska (ich erkannte sie deutlich) hier befand: In der Mitte des von greller Sonne überfluteten Marktplatzes hatte man einen Sessel aufgestellt. Aber was für einen Sessel! Einen Sessel von wahnwitziger Höhe, so hoch wie ein Fabricksschornstein oder noch höher. Und dabei hatte dieser Sessel vier nadeldünne Beine, die noch dazu ganz nahe bei einander stan­ den, so daß ich nicht begreifen konnte, wie sich dieses riesenhaft hohe, dünne Gestell überhaupt im Gleichgewicht hielt. Und ganz oben, hoch in der Luft, auf dem Sitz, der ohne Lehne war und nur aus einer kleinen runden Platte bestand, war Franziska angebunden, splitternackt; sie krümmte und wand sich dort oben wie eine weiße Raupe an der Spitze einer langen, dunklen Nadel. Wäre nun mein Blick in der Erstarrung und an Franziska hängen geblieben, so wäre es besser gewesen. So aber löste sich nach einer Weile die Steifheit meines ganzen Körpers, und während ich ein wenig zu zittern begann, senkte ich meine Augen, und mein Blick fiel hinunter auf den Marktplatz. Dabei wäre ich um ein Haar durch das völlige Aussetzen meines Herzschlages um’s Leben gekommen; wenigstens scheint es mir heute so. Dort unten standen, in einem weiten Ring um den Fuß des Gestelles herum, die zahllosen Henker. Sie bildeten in ihren grellen Kitteln einen blutroten Kreis auf dem weißleuchtenden Pflaster des weiten Platzes. Und eben in diesem Augenblick, als ich hinuntersah, begriff ich auch sofort, warum sie das wogende und drängende Volk abhielten, das schaugierig den ganzen übrigen Teil des Marktplatzes erfüllte: Der Riesensessel ruhte mit seinen vier nadeldünnen Füßen auf einer breiten Platte von rotglühendem Metall. Darunter befand sich eine Vorrichtung, die wie ein Kohlenmeiler aussah. Die Luft zitterte vor Hitze über der glühenden Platte, und eilige Rauch­ wirbel stiegen von jedem der vier nadeldünnen Stuhlbeine em­ por: sie verbrannten und verkohlten fortgesetzt an ihrem unte­ ren Ende. Aber sobald die Flamme an dem dünnen Holz empor­ lecken wollte, sprangen Knechte hinzu, die an langen Stangen

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wassertriefende Tücher trugen. So wurden jedesmal die aufzukkenden Flammen gelöscht, und nur die raschen Rauchwirbel blieben, die still und gleichmäßig von den vier Fußpunkten des Riesenstuhles aufstiegen. Dieser mußte also immer niedriger werden, da ja seine langen, dünnen Füße unten wegbrannten. Franziska näherte sich, wohl unmerklich langsam, aber doch mehr und mehr der glühenden Platte. Als mir das einfiel, als ich es begriff, überkam mich von Neuem eine vollkommene Starrheit; ich hatte kaum Atem, und darum konnte ich auch nicht gleich schreien und blieb zunächst noch unentdeckt. Ich hob meine Augen und sah zu Franziska empor, die jetzt ganz reglos auf ihrem schmalen Sitz hockte; ein weißer Fleck vor dem blauen Himmel. Ein hilflos schweres Gefühl und die Angst überwältigten mich ganz und gar, und ich mochte schon eine lange Weile, ohne mich zu rühren, hinaufge­ blickt haben, als es mir auffiel, daß Franziska sich eigentlich garnicht viel höher oben befand als das Kreuz des Kirchturmes, der in derselben Richtung gerade hinter dem Brandstuhl stand. Während ich nun versuchte, darüber nachzudenken, warum mir der Stuhl beim ersten Anblick so wahnwitzig hoch erschienen war, höher als alle Kirchtürme, die ich jemals gesehen hatte, blickte ich immerfort hinauf und kam dabei auf den Gedanken, den Höhenunterschied zwischen dem Brandstuhl und dem da­ hinter stehenden Turm einzuschätzen. Aber eben als ich das Turmkreuz in’s Auge fassen wollte, bemerkte ich, daß es schon für mich unsichtbar und durch Franziska's Körper gerade ver­ deckt war. Der Stuhl war in dieser kurzen Zeit um das entsprechende Stück niedriger geworden. In diesem Augenblick begann ich zu schreien. Ich lag auf der Brüstung des Balkons und schrie laut und gellend über den Marktplatz hin, so, als könnte ich damit das aufhalten, was dort unten geschah. Im nächsten Augenblick aber schlug der Lärm eines fürchterlichen Tumultes wie eine ungeheure Welle zu mir empor, ich sah hunderte von Menschen, die sich unten durchein­ anderdrängten, alle mit den Gesichtern zu mir heraufgewandt, und über dem Ganzen das helle Gezappel von zahllosen erhobe­ ne)

nen und drohend geschüttelten Fäusten. Die Menge flutete auf das Haustor zu, ich hörte die Türflügel krachen, unten drangen sie in Haufen in den Flur, von der Stiege her tönte schon wüster Lärm. Während das alles geschah, stand ich hilflos und schwach vor Angst an der Brüstung des Balkons und sah über den Marktplatz hin, dessen ganze riesenhafte, schwarzwimmelnde und entfes­ selte Wut mir allein galt. Die Menschen liefen dort unten durch­ einander wie die Ameisen und schrieen aus vollem Halse; von Zeit zu Zeit aber sah ich immer mehr kleinere Trupps mit größter Hast in einer Gasse verschwinden, die gerade neben der Kirche auf den Platz mündete. Und ein paar Augenblicke später ergoß sich von dort ein rückflutender Menschenstrom weithin über den Marktplatz, Hunderte drängten sich dort um zehn oder zwölf grellrot gekleidete Henkersknechte, die langsam heran­ schritten. Über den Köpfen der rufenden Menge aber, über den zappelnden, erhobenen Händen und den jubelnd geschwunge­ nen Hüten schwankte, langsam einhergetragen, ein ebensolcher turmhoher Martersessel, ein ebensolcher Brandstuhl, wie der war, auf dem Franziska des Entsetzlichen harrte. Ich wußte, daß es mir galt. Und in der Angst, die mich jetzt rasend anpackte, wandte ich mich taumelnd gegen die Türe des Balkons, während ich schon hörte, wie man vom Ende des Ganges her, durch den ich hätte entkommen können, lärmend herandrang. Es ist nun nichts weiter zu berichten, als das Folgende: beim Erwachen erschrack ich derart über das weißgrelle Licht der elecktrischen Lampe, daß ich, von einer Art Wut gepackt und wie besessen, aus dem Bett und in die Mitte des Zimmers sprang. Ich holte mit der Faust aus und schlug mit aller Kraft in die Glühbirne. Auch der Lampenschirm zersprang in viele Stücke, und ein Regen von Scherben ging rings um mich im Dunklen nieder.

Holzschnittexte. Das Lager ist groß und weit. Wer im Freien geht, für den ist vor allem der Schnee da oder das Weiß. Dieses Weiß ist weithin gedehnt und allmächtig und liegt fast auf allen Dingen und Flächen: es dehnt sich in jeder Richtung, in Bodensenkungen hinein und wieder heraus und über die Dächer und flieht über den Plankenzaun des Lagers in’s Land hinaus und beherrscht alle, alle Dächer und Giebel und Türme der Stadt, die dort unten vielfach gegliedert und gebreitet liegt. Wer im Freien geht, um den drängt sich übermächtig von allen Seiten das Weiß, es stürtzt förmlich wie ein Strom in ihn hinein und erfüllt ihn, so daß er nichts Anderes um sich denken kann: so voll sind seine Augen davon, und die Kälte hilft dazu und läßt es ihn nicht vergessen. Denn sie ist auch von allen Seiten um ihn und liegt immer ganz dicht auf seiner Haut. Vom Lagertor aus läuft weithin die Reihe der Baracken, der Blick geht daran entlang wie an einem langen ausgespannten Seil: so gleichförmig sind diese Baracken, eine der anderen vollkom­ men ähnlich. Man kann dies nicht etwa als eine „Anzahl von Holzbauten“ bezeichnen. Man kann nur sagen: eine Reihe von Holzbauten. Sie sind in der Tat ganz Reihe; eine harte und unfreundliche Reihe. Wie eine lange Flucht von ungewaschenen und grämlichen Gesichtern unter lauter weißen Spitzhauben: das sind die Giebel. Längs dieser gereihten Kartenhäuser nun, deren perspectivisches Kleinerwerden und Zusammenrücken geradezu aufdring­ lich wirkt, führt schnurgerade die Lagergasse. Auf der anderen Seite derselben stehen in regelmäßigen Abständen die hölzernen Küchengebäude. An diesen gleitet der Blick zwar nicht so rasch entlang wie an den vielen knapp hintereinander gereihten Wohn­ baracken (die ihn gleichsam wie auf Schienen dahinfliehen las­ sen) - vielmehr muß das Auge hier eher Sprünge machen; aber

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auch diese locken den Blick durch ihre Regelmäßigkeit immer weiter hinaus, in eine lange, öde und aufdringliche Perspective. Auf und ab, kreuz und quer und schräg über die breite Lagergasse hin eilen und wimmeln die Bewohner des Lagers; immer sind welche auf den Beinen. Und wer im Freien geht, dem macht die Kälte schnelle Füße, er rappelt sich zusammen und trippelt und läuft. Zwar gibt es zwischen den Eilenden auch langsamere, ja behäbige Gestalten. Solche sind meistens im Besitz eines Pelzes ... und guter Pelzkappen und Hand­ schuhe ... Sie benehmen sich geradezu verachtungsvoll gegen die Kälte, ja, diese wird oft so sehr von ihnen übersehen, daß sie (festgegründet in ihren Filzstiefeln) ganz leichthin plaudernd im Freien stehenbleiben. Solche Menschen wirst Du auch nicht, wenn sie nachhause gehen, eilig auf die niedrige Tür (das Schlupfloch) der Baracke zustreben sehen; vielmehr bringen sie es fertig, gerade vor dem Eingang noch stehen zu bleiben und irgend etwas Gemächliches zu tun: betrachtend um sich zu blicken und zu plaudern; oder sich breitbeinig hinzustellen und eine jener ausgeschmolzenen dünnen Blitzröhren im Schnee zu erzeugen, die man in großer Zahl etwas seitwärts von den Eingängen der Wohnbaracken finden kann. Auf der breiten Lagergasse krabbelt derweil das Leben, vom Morgen bis zum Abend, und führt fortgesetzt ganz deutlich und einfach seine Notwendigkeiten vor, ohne allen Putz, gleichsam immer in Grundzügen. Es geht zum Beispiel vorbei: ein Pelz-Pelzkappen-Filzstiefelmann, der wohl und gesund aussieht, und gleich danach Einer von der kriegsgefangenen Mannschaft, dessen Gesicht durch ein jahrelanges Leben voll Härte, Hunger, Not, Notabwehren und Hungerabwehren derart scharf geworden ist, daß der Blick, der darauffällt, im Vorbeistreifen einfach aufgehalten und davon festgehalten wird, und zwar so plötzlich und hart wie der schlendernde Fuß eines Spaziergängers, der sich unversehens schmerzhaft an einem Prellstein stößt. Du mußt den Mann ansehen, einen Augenblick lang, während er rasch vorübertrappt, und es kann dabei vorkommen, daß er Dir auch in die Augen sieht: das Fragezeichen, das dabei gemacht wird, ist sehr groß, und Du stehst mit leeren Händen vor diesem Fragezeichen, das heißt:

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ohne Antwort, unwissend und hilflos. Aber sehr bald mündest Du wieder, indem Du Dich beruhigst, in den Strom des Gewohn­ ten, in die gewöhnliche Ebene des Tages, und Du borgst Dir gleichsam das verlorene Gleichgewicht von der Umwelt, die derweilen ruhig weitergehaspelt hat, so, wie Du es selbst wieder tun wirst, wenn der letzte Rest des gehabten Eindruckes Dir aus dem Gedächtniss geschwunden sein wird. Doch geht das diesmal nicht so schnell, denn eben jetzt kommt ein Wasserschlitten, vor den etwa ein halbes Dutzend Menschen gespannt sind oder, bes­ ser gesagt, Kleiderbündel, an denen Du nur gerade die Augen, Nasen und die zu Eis gewordenen Bärte ausnehmen kannst. Sie ziehen, zerren, ihre Leiber sagen alle dasselbe: wir müssen, müs­ sen unbedingt diesen Schlitten vorwärtsbringen, wir müssen das unsagbar mitleidslose und ungerührte Gewicht der beiden Was­ serfässer, die ganz vereist auf dem Schlitten stehen, überwinden. Welche Fülle von harten Dingen: die glasharte Kälte, der eisharte Boden, der schrecklich schwere Schlitten, die vereisten Fässer und das Wasser darin, in dem die Eisstücke schwimmen! Hinten am Schlitten schieben Leute an, mit gebeugtem Oberkörper, zusammengezogenen Schultern und stumpf gesenktem Kopf.

Das Lager hat Ebbe und Flut: Hochflut, wenn in den Küchen das Essen ausgeteilt wird. Der Wind fährt breit- und weithin über die Lagergasse, vor ihm her der eilende, stäubende Schnee. Und es scheint, als würden die Schwärme von Mannschaften, die von den Wohn­ baracken her gegen die Küchen zustreben, auch vom Winde dahergeweht: denn so, wie der dahin fliehende Schnee haltmacht und sich zum Wall aufschichtet, wo immer er einen Widerstand findet, so sammeln sich die Menschen, gleichsam zusammenge­ weht, vor den Küchentüren. Dort stehen sie angestellt hinterein­ ander, mit wartenden, vorspähenden Mienen. Und sobald drin­ nen Einige abgefertigt sind und mit ihren zweihenkeligen Trag­ gefäßen wieder herauskommen, dann rücken jedesmal die Ande­ ren, und besonders die, welche noch draußen in der Kälte stehen, rasch nach; und sie haben auch dabei immer die Augen nach vorwärts gerichtet, auf den Kücheneingang.

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Über die breite Lagergasse aber kribbelt das Leben wie im­ mer, vom Morgen bis zum Abend, und führt fortgesetzt ganz deutlich und einfach seine Notwendigkeiten vor, ohne allen Putz, gleichsam immer in Grundzügen: die abgefertigten Leute kom­ men sehr rasch hintereinander aus den Küchen hervor, und oft ziehen sie in ganzen Ketten über die Lagergasse zu den Wohn­ baracken. Du gehst nun da gerade spazieren, auf der Straße, die längs der Baracken hinführt (wir nehmen an, Du seist mit einem Pelz bekleidet, mit einer warmen Kappe und Handschuhen und obendrein, daß Du im Gehen einen ganz hübschen Spazierstock schwingst) - Du gehst also da spazieren und kommst ziemlich rasch daher, weil Du nämlich sonst die Kälte spüren würdest; und nun siehst Du so im Spazierengehen Folgendes: Eine kleine Kette von Menschen bewegt sich quer über die Straße. Der Wind ist ihnen entgegen, alle haben den Kopf gegen den Wind gesenkt, den Oberleib ein wenig vorgeneigt und die Schultern zusammengezogen. Sie können schwer vor sich auf den Weg sehen, der Schnee stäubt ihnen gerade in die Augen. Aber darum können sie sich jetzt nicht bekümmern; ihre Bewe­ gungen sind langsam und voll Vorsicht und Sorgfalt, denn es tragen immer zwei und zwei von ihnen zwischen sich ein Tragge­ fäß an den Henkeln, randvoll mit unsäglich dünner Suppe; und jedes solche Traggefäß voll stellt eine Mahlzeit für etwa zwanzig Menschen dar. So gehen sie tastend und voll Vorsicht über das glasharte, glatte Eis der Straße und durch den tiefen Schnee und durch die Schneewehen: immer zwei und zwei zu einem sorgli­ chen Paar vereinigt, und von Paar zu Paar ist ihre Haltung gleich und fast so, als trügen sie etwas Heiliges. Du blickst ihnen nach, der Wind treibt schräge, stäubende Schleier von Schnee hinter ihnen vorbei, und ihre vorgebeugten Gestalten werden schon undeutlich, während sie sich durch das fliehende, treibende Wehen durcharbeiten, gegen den niederen Eingang der Baracke zu. Du bist rasch dahergegangen, sozusagen leichtbeschwingt mit Deinem Spazierstock, und hast vielleicht erst im letzten Augen­ blick angehalten, als dieser Zug plötzlich zwischen den Schnee­ schleiern auftauchte und auf Dich zukam. Es entsteht also die Vorstellung in Dir (wer hat den Hang zum Peinvollen nicht?!),

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daß Du an Einen der Leute hättest anstoßen können, und daß so von der Suppe etwas verschüttet worden wäre. Und Du siehst in Gedanken vielleicht die Suppe in den Schnee rinnen und wie dieser schmilzt und den grauen Fleck, der da im Weiß um sich fressen würde. Und dieser graue Fleck im Schnee wächst auf sonderbare Weise vor Deinen Augen, gewinnt eine bedrohliche Beziehung und ein ganz anderes Ansehen, als es sonst vielleicht verschüttete Suppe hat: so etwa berührt Dich dies hier, als wäre damit ein Wehrloser geschlagen, ein Hilfloser verhöhnt und als würde Dir damit Deine ganze vergnüglich und schändlich grin­ sende Unwissenheit gegenübergestellt. Aber der graue Fleck, den die dünne Suppe im Schnee gemacht hat, würde ja nicht bleiben, sondern zugeweht werden; und wenn Du Dir auch vornehmen könntest, solange davor stehen zu bleiben und Au­ gen und Sinn nur so lange nicht davon abzuwenden, bis das sichtbare Zeichen der verschütteten Suppe verschwunden und vom Schnee verweht ist - es ist kaum anzunehmen, daß Du es durchführen würdest, noch irgend ein Anderer. Heftiges, schneidendes Rauschen schwillt plötzlich und rasch hinter Dir an, Du wendest Dich und hast eben noch Zeit, beiseite zu springen. Andere, weiter hinab den Weg, zeigen auch einen Augenblick lang ihre Gesichter, indem sie sich umdrehen, und während alles schleunigst den Weg freigibt, fegt der erste Schlit­ ten schon vorbei mit rauschenden und zischenden Kufen und hinter ihm her eine ganze Schlittenkette. Es ist sehr viel Kraft und Strom in dieser vorbeischießenden, rauschenden Bewegung; alle schreitenden Menschen scheinen, damit verglichen, stillzu­ stehen. Ab und zu schleudert ein Schlitten heftig nach seitwärts, und dann springen immer einige Fußgänger eilfertig von der Fahrbahn in den Schnee, um ihre Schienbeine vor den fegenden Kufen in Sicherheit zu bringen. Aber die Lenker stehen ganz sicher und schwer mit gespreitzten Beinen auf den kleinen Fahrzeugen; wie große, schwarze Kegel sehen sie aus, denn der weite Pelzmantel geht von ihren Schultern bis über die Knöchel herab, und die hohe Pelzkappe ragt aufrecht und spitz in die Luft: diese russischen Kutscher scheinen gleichsam von oben in ihre steifen und schweren, kegelförmigen Pelzmäntel eingestie­ gen zu sein und nun sicher und standfest darin zu stecken.

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Die zottigen Pferde aber schlagen mit den Hufen kraftvoll und schallend den glasharten Boden und greifen weit aus: Brust, Hals und Nüstern hängen voll Reif, und der dichte Dampf des heftig ausgestoßenen Atem’s flieht links und rechts vom Pferdekopf zurück, der sich schnaubend im Geschirr schüttelt. Weithin, die ganze Lagerstraße hinab, bis zum Tor, reicht die rauschende, rasche Schlittenkette, und die vielen, hohen Joche von hellem Holz zappeln auf und nieder; unter dem nächsten sieht man gerade den dunklen Pferdekopf mit den aufgestelken, spitzen Ohren sich vom Schnee abheben. Und nun rauscht der letzte Schlitten vorbei und schleudert heftig, Du springst beiseite vor den kreischenden Kufen, und im Augenblick schon ist das Gefährt vorüber und zehn und zwanzig Schritt weiter. Es ist, als ob der Fahrweg dahinter eine ganz kurze Weile hindurch frei­ bliebe. Aber schon ist der hindernde Eindruck, den der Schlitten gemacht hat, verflogen; kreuz und quer eilen die Menschen wieder über die Straße, das Gewimmel dehnt sich weithin und bis zum Lagertor, wo die Schlittenkette verschwindet und kür­ zer und kürzer wird. Die ganze Straße entlang streckt sich die zahllose Menschenbewegung, jeder Einzelne von den Vielen hebt sich scharf und schwarz vom Schnee ab: eben sieht man ganz deutlich dort unten beim Tor ein paar purzelnde Punkte vor dem letzten Schlitten zur Seite springen. Die vielen Menschen aber eilen durcheinander unter dem grauen Himmel, keiner von ihnen scheint in derselben Richtung zu gehen wie irgend ein Anderer: alle eilen nach durchaus verschiedenen Seiten, die Länge der Straße entlang und quer darüber, und viele ganz Einzelne und Deutliche kommen über den Schnee von den Baracken her auf die Straße zu, oder sie verlassen ausscheidend den langen, schwarz wimmelnden Strom. Da wird Holz getra­ gen, dort Essen, dort Wasser, Gesichter strömen immerfort vorbei, jedes einzelne ganz und gar verschieden, gleichsam durcheinandergeschüttelt scheinen sie alle. Und alles ist auf das Weiß daraufgesetzt, daß man es nur recht deutlich sehen kann und keine Verschiedenheit des Durcheinanderbewegens verlo­ ren geht. Aber jetzt, mit einem Male, sinken rasch und schwei­ gend zahllose Flocken vom Himmel, der viel tiefer zu hängen scheint: blickt man aber gerade hinauf, dann kann man ihn

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überhaupt nicht mehr sehen, und man weiß gleichsam nicht, wie hoch er eigentlich über uns steht, ob ganz nahe oder irgendwo ganz oben; der Blick kann hier keine Entfernung ergreifen. Ihm entgegen sinken fortwährend die weißen Flocken in verwirren­ der Vielzahl und stetigem Strömen, und weiterhin giebt es nur Schleier auf Schleier. Damit nun ergießt sich etwas Weiches und Verwischendes über alle einzelne und zahllose Vielfältigkeit und über das ganze schwarze Gewimmel der Straße mit ihren durcheinander eilen­ den Menschen. Denn der Schnee will ja jede Kluft füllen, den weiten klaren Luftraum sogar verhängt er mit seinen Schleiern, jede Spalte schließt er, und überall will er nur abrunden und sich genau anschmiegen. Indessen kommt auch die Dämmerung und reicht ihm die Hand; denn auch sie verhüllt und rundet die Welt und läßt sie enger um uns zusammenrücken. Du gehst nun durch die taumelnden, raschen Flocken, die sich Dir schweigend auf Schultern und Schuhe setzen. Und in einer eigenen Müdigkeit schließt Du vielleicht einen kurzen Frieden mit dem scharfen und deutlichen Bild des Tages: einen kurzen Frieden, denn wenn Du morgen erwachst, wird er schon lange abgelaufen sein.

Manchmal ergießt die Sonne plötzlich (gleichsam mitten am Tage aufgegangen) ihr volles Strahlen und eine ganze Flut von Glanz über das Lager: und der Schnee, der bis her bescheidentlich eintönig und mattweiß gelegen hat, blendet und gleißt nun mit einem Male weit und breit und wirft von seinen gebreite­ ten Flächen Massen des allerlebendigsten Lichtes zurück und hinauf gegen den hochgewölbten, seidig-blaßblauen Himmel. Von dort gießt die Sonne Lebendigkeit über alles, und sie zieht gleichsam jedes Ding zu sich empor, indem sie es mit Licht überschüttet; so macht sie das trübste und geringste irgendwie ansehnlich. Wo aber gebreitete, glanzfreudige Flächen auf sie gewartet haben, dort knallt es vor Lichtfülle, und eine Reinheit ist in diesem Leuchten, die zusammen mit der untadelig dalie­ genden, makellosen Schneeweite fast eine Ahnung von wahrhaf­ ter Vollkommenheit vermitteln kann. Aber auch Geringeres wird von der Sonne erweckt und schön gemacht: jedes schneebe­

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lastete, steile Dach wächst zur gleißenden Erhebung, und das Flimmern und Glitzern der vielen Eiszapfen, die längs der Dachkante herabhängen, scheint fast gemein und gewöhnlich im Vergleich zu dem einigen Glanz des strahlenden Vierecks, das schräg in den blaßblauen Himmel hineinsteht, wie ein der Sonne entgegen gehaltener, leuchtender und makelloser Schild. Auch alle vielfältige, unter dem grauen Himmel sonst stumpf und freudlos durcheinander eilende Menschenbewegung wird fast feiertäglich erhellt und gehoben. Aus den Kaminen zittert der Rauch dünn und kerzengerade empor, und das zaghafte Bewegen seiner knapp gebauschten Wölkchen und Ringe scheint gleichsam von der glasharten Kälte ringsum gehemmt zu sein; so, wie unsere blasse Hand im Freien jetzt jeden Schwung und jede biegsame Beweglichkeit verliert und klamm wird. In dieser Fülle von Licht, Weiß und Kälte blickt uns die Welt mit ganz klar gewaschenen, durchdringend reinlichen und fri­ schen Augen an, und wer in’s Freie tritt, an dem wird keine Verschlafenheit, Verweichlichung der Augen oder irgend ein bequehmer oder schlaffer Zustand geduldet: wenn er bisher vielleicht in einer Ecke gesessen ist und in’s nachgiebige, sanfte Halbdunkel gesehen hat - das eigene Vor-sich-Hindämmern wie eine warme und dunkle Kapuze über den Kopf gezogen -, so springt ihm jetzt gleich an der Türe das überhelle Gleißen des Schnee’s in die Augen, und die Kälte beißt ihm rücksichtslos aufmunternd in beide Wangen. Jeder Schleier wird mit Entschie­ denheit von den Augen weggestrichen, Wind, Schneegleißen und Kälte dringen von allen Seiten heran und dulden kein Abgewendet- und Verträumtsein. Draußen im Freien ist auch alles munter und wach. Das Schneebild ist voll überraschender Entschiedenheit und Genauigkeit. Überall fallen die bläulichen Striche und Vierecke der Schatten scharf in den Sonnenglanz, und das Weiß hebt ihre Grenzen deutlich hervor. Zahllose Fußspuren werden als Schat­ tenflecke sichtbar. Ein einzelnes Schlittengleis, das seitab über eine sonst noch unberührte Schneefläche führt, erzeugt jetzt im kräftigen Sonnenschein zwei scharfe, schwarze Ausrufungszei­ chen, die gleichsam mit heftigem Schwung und riesengroß dort­ hin geschrieben sind.

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Alles ist von der Sonne geadelt und hat ein entschiedeneres und kräftigeres Dasein bekommen. Aber die Sonderbarkeiten des Schnees und seine mannigfalti­ gen, scheinbar spielerischen Gebilde treten nun, da sie gleichsam eine glänzende Hülle bekommen haben, auffallender in’s Anse­ hen. Denn der Schnee tut viel mehr, als einfach schön aufgebrei­ tet dazuliegen; er bewegt sich, wandert, bildet und verwischt und führt fortgesetzt ein Schauspiel von größter Folgerichtigkeit und lückenloser Geschlossenheit vor: der Schnee giebt sich als allervollkommenstes Gegenbild des Windes. Für jedes Streichen, Dahinstürmen, Aufprallen, Zurückge­ schlagenwerden und Wirbeln des Windes hat der Schnee eigene Zeichen und Arabesken; diese ganze rasche, flüchtige und hef­ tige Windgeschichte wird von ihm plastisch festgehalten, und wenn einmal die Luft vollkommen still ist, dann stehen im Sonnenschein merkwürdige Gebilde aus dem allerreinsten Stoff überraschend und seltsam da. Die lange Reihe der Holzbaracken steht dem Wind entgegen wie ein Damm, und er brandet daran. In den windstillen Tag hinein aber dauert die Schneebrandung. Zwanzig Schritte vor der Stirnseite jeder Wohnbaracke steigt die gebreitete Schneeflä­ che an, gleichsam aufgetrieben, und hebt sich zu einem Wall, der hoch empordrängt, bis über die kleinen, trüben Fensterchen hinaus, die er zum Teil verdeckt. Und diese ganze langhin gedehnte Schneewoge, die wie aus einem einzigen Schwung entstanden aussieht, schließt ihre ziehende Bewegung ganz oben in einer stumpfen, klotzigen Rundung ab, wo gleichsam der letzte Rest von Kraft sich spielerisch überkugelt. Wo aber an der Stirnseite einer Baracke ein Windfang angebracht ist, dort ballt der Schnee ganze Kuppeln und Dome darüber zusammen und drängt empor bis zum Giebel, von wo er in Fahnen gleichsam herabträuft und hängt, wie eine hohe halbgeschlossene Riesen­ gardine die dunkle Bretterwand verhüllend. Da und dort aber stechen einzelne Schneewächten vom Dachfirst weißleuchtend und in toller Krümmung in die sonnige Luft hinaus. Vor jeder Baracke bäumt sich so der Schnee auf, und wenn man die Reihe entlang blickt, so ist eine Brandungswelle hinter der andern, und man könnte meinen, daß der Schnee in seiner 5°

ganzen Breite gegen die kümmerliche Reihe von Holzbauten Sturm läuft. Denn auch jede eben und gebreitet liegende Fläche trägt die Richtzeichen des Windes und die Wanderzeichen des Schnees: zahllose feine Furchen und Striche. Wo sich aber das geringfügigste Hindernis aufrichtet, dort hat sich der wandernde Schnee gestaut, und der aufgebäumte Schneetumult (der jetzt ruhig und glänzend im Sonnenschein liegt) giebt mit vielen anderen solchen Erhebungen dem Weiß das einheitliche Ziehen in einer Richtung. Viele von den Baracken sind so sehr verweht, daß man bis zum Eingang einen mannstiefen Graben im Schnee hat ausschaufeln müssen. Der Wind kann hier wahrhaftig aus dem Vollen arbeiten; jede Schneewehe überschlägt sich vor Fülle, und alle die weißen, gleißenden Gebilde sind getürmt und hoch gebauscht. Den Plankenzaun des Lagers aber hat der Wind streckenweise ganz unsichtbar gemacht und im Schnee begraben: Uber die hohe Schneewehe fällt der Blick hinaus wie über den Kamm einer Woge und sieht keine Gegenstände mehr, sondern nur den blauen, fernen Himmel dahinter.

Das Cafehaus. . das Cafehaus besteht im Wesentlichen in einer Aufhebung der Stille und äußeren Ziellosigkeit, die nach dem Verebben des Tages den Einzelnen oder Einsamen in seinem gleichsam warten­ den Zimmer wie ein Vacuum umgeben: er fürchtet den geruhig beleuchtenden Schein seiner Lampe, der nun kommen soll, den leeren Raum um sich und den vor sich, nämlich in der Zeit; von ihr müßte er sich loslösen, etwa durch einen Gedankengang ... aber wir drängen zu Licht, Wärme, Bewegung, Versamm­ lung...“ „Was wollen Sie denn? Hier hab’ ich’s warm, Licht hab’ ich auch, nicht so eine elende Funzen, bei der ich mir die Augen verderbe ... kann lesen ... und einen Kaffee krieg’ ich auch!!!“ „Na ja, natürlich, da läßt sich garnichts sagen, aber Ihre vernünftigen Gründe’ und .offensichtlichen Vorteile’ spielen sich zwar stark als allein maßgebend auf, scheinen mir aber mitunter bloß eine Zuwaag’ zu schon vorhandenen - ganz ohne Überlegung vorhandenen! - Wünschen zu sein, scheinen mir, sag’ ich, eine Zuwaag’ zu sein ...“ „Reden ’S nicht so g’schwollen! Was soll man denn anfangen am Abend, bitt’ Sie?“ ... Schlupp! wir müssen immer in irgend einer Rutschen sein, wir wollen in einer Rinne rinnen, die uns unseren Weg zeigt... Das Cafehaus besteht im Wesentlichen in einer Aufhebung der Stille. Und es ist warm, und alle sitzen unter einer gemeinsamen Lichtquelle, der Raum ist hübsch mit Menschen ausgefüllt, draußen sperrt die Dunkelheit schwarz die Fenster. Wir sind hier zusammengeströmt wie in einem Becken. Wer nicht hereinkom­ men kann, muß mir leidtun, wenn er draußen vorbeigeht. Draußen schweigt man, draußen ist es ganz ruhig, wenige große Umrisse heben sich dort langsam aus der Dunkelheit, die Zeit vergeht nicht ein Viertel so schnell wie hier, oho! hier machen wir ihr schon Beine, kurz und klein gehackt muß sie genießbar sein, es giebt hier zahllose grelle Umrisse, fast jeder von ihnen

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bewegt sich ein wenig, manche sogar sehr, da geht Einer an meinem Tisch vorbei, der Schatten schlägt scharf und fühlbar über mein Buch, ich schaue auf, dort hat ja Einer einen himmel­ blauen Rock an. Wie viele sitzen sich gegenüber! Was sie sich alles mitteilen!? Es ist ein fortwährendes Kollern und Glucksen vom Gespräch in der Luft. Vom Nebentisch hör’ ich eine Solostimme, dann kommt von wo anders her ein einzelnes Gelächter als kleiner Trompetenstoß - immer in die weich fortkollernde Masse des Redegetöns hinein. Einzeln ist man, vor sich hin blickend - lesend, zu zweit, gegenüber, als Gesellschaft um einen Tisch, Einer blickt still beiseite, nur eine Stimme erzählt dort irgend was; oder es sind Karten als Bindemittel da. Mein Herr, Sie dort drüben, Sie waren bisher für mich Karten­ spieler, Mitglied einer Kartenpartie, Sie haben einen reichsdeut­ schen Rock, eine Pfeife, sehr gemütlich. Aber dann bemerkte ich einen Auswuchs an Ihrem Kopf, der entschieden Ihre sonstige Person in den Schatten stellt, der Auswuchs auf Ihrer Glatze läßt sich nicht mehr vergessen! Sie selbst haben sich jedenfalls daran gewöhnt - ob Sie das Ding wohl noch manchmal befühlen? Weißes Licht hat der Raum mit den weißgetünchten Deckenbal­ ken, in der Ecke, bei der Anrichte, brennt gelbes Licht. Zwei am Nebentisch reden viel mit den Händen, jetzt wird geschwiegen und sehr nachdenklich, sehr ernst eine Cigarette gerollt - wie angenehm ist doch so eine kleine Beschäftigung! Und dort bricht man ab, steht auf und hat mit den Überkleidern zu tun, wer seinen Rock schon anhat, sieht zuwartend und aufmerksam dem Anderen zu, der noch mit den Ärmeln herumfuchtelt; endlich haben uns alle den Rücken gedreht, jetzt gehen sie, „Guten Abend“, sagt der Kellner ... Kaffeetragen ist eine Arbeit ohne Rand, die Leute trinken ja doch immer wieder aus, was ihnen gebracht wird. Auch wir werden gehen und aus der kleinen, grellen Zeitteilung in die langsame, fast ruhende Dunkelheit hinaustreten.

Dilettanten der Armut. Als ich die Treppen zu meiner Wohnung hinaufging (ich war im Parterre gewesen, um jemand zu besuchen, ich stieg ganz gesittet die Stiegen hinauf und trug ein paar Bücher unter dem Arm) - da also, ich hatte kaum den Treppenabsatz erreicht, brach unten beim Haustor eine ganze Hochflut von Lärm und Krawall herein, ein ganz abscheuliches Getöse, mit heftigem Geschrei untermischt: Rufe in allen Sprachen, ungarisch, türkisch, deutsch ... ich blieb stehen und sah hinunter. Die beiden Flügel der Gangtüre unten wurden eben durch zwei heftige Fußtritte geöffnet, sie prallten gleichsam entsetzt zurück und schlugen an die Wand. Aus dem Vorraum stürtzte die Kälte in den Gang, daß es bis zu mir herauf nur so zog und wehte. Gleichzeitig wuchsen Lärm und Geschrei noch mehr an, ein schweres Scharren und Knarren wurde hörbar, und nun kam es herein: man schaffte da ein ganzes, zusammenhängendes Stück vom Plankenzaun in’s Haus! Vier Meter lang, zwei Meter hoch... Viele zerrten, schoben, schrien und rückten, die riesige Bretterwand sperrte und verkeilte sich im Türrahmen, das Gebrüll und die anfeuern­ den Rufe übertönten fast das Knarren und Knirschen des Hol­ zes; ich aber stand noch immer ganz sittsam am Stiegenabsatz; während man da unten aus Leibeskräften arbeitete, mit offenem Mund, schnaufend, teils schweißgebadet, teils mit erfrorenen Fingern... Endlich war es geglückt, das riesige Stück Bretterwand durch die Türeinfassung hereinzubringen, und es wurde sofort trap­ pend und eilig durch den langen Korridor weitergeschafft. Da­ mit aber war es keineswegs zu Ende: eine neue Abteilung Schreiender, Schnaufender, Zerrender und Ziehender zwängte sich mit einer ebensolchen Riesenplanke durch das hohe Tür­ viereck, und es wiederholte sich der gleiche Vorgang mit ziem­ lich ebendemselben Geschrei - noch drei- bis viermal; und aus dem Lärm, der vor dem Tor ständig anwuchs, ging es mir gleich-

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sam blitzartig auf, daß man sich da draußen bereits zahlreich und schwerbeladen angestellt hatte; es mußte das eine bedrohliche Stauung sein, an der Gangtüre brauchten sie jedesmal einige Minuten, und im Freien betrug an jenem Tage die Temperatur ungefähr 30° unter Null. Der ganze Korridor war durch die hereinströmende Kälte bereits von einem dichten weißen Nebel erfüllt, und in diesem Dampf schrien, schoben und zerrten die Menschen unter den heftigsten Bewegungen aller Gliedmaßen; es war ein nieder­ schlagendes Bild für einen Ruhe- und Friedliebenden. Als aber eine Abteilung mit ihrer Holzwand auf die Stiege zuschwenkte und mit atemlosen Gebärden das schwere Ding heraufzuschlep­ pen begann, ergriff ich die Flucht, sprang die Treppe zum ersten Stock hinauf und gelangte eilig über den langen Gang in mein Zimmer. Dort war alles vollkommen ruhig. Die zwölf türkischen Officiere, meine Zimmerkameraden, saßen an ihren Studierti­ schen, ganz in ihre Arbeiten vertieft, und in der Mitte, vor dem großen Eßtisch, ging Herr von P. auf und ab und lernte halblaut aus einem blaugehefteten Buch. Ich sah also, einigermaßen erleichtert, daß man hier durchaus noch nichts ahnte, und ich hatte es auch keineswegs eilig damit, zu erzählen, was ich dort unten im Stiegenhaus gesehen hatte, und so die herrliche, ange­ nehme Ruhe zu stören und den Nachmittag durch aufreizende Neuigkeiten um seinen stillen Verlauf zu bringen. Ich setzte mich vielmehr schweigend bedrückt auf mein Bett: bedrückt darum, weil ich mit vollkommener Sicherheit erraten konnte, was der Wirbel dort unten zu bedeuten hatte, und weil ich die lebhafte Befürchtung hegte, daß es auch mit unserm Frieden hier nicht mehr lange dauern würde. Es lag auf der Hand: irgend eine Gelegenheit war vorhanden, sich an dem Plankenzaun, der das Lager umschließt, zu vergreifen und so zu einer größeren Menge Brennholz zu gelangen. In unseren Zimmern hier ist es nie besonders warm, infolgedessen fordert eine solche Gelegenheit gebieterisch, daß man sie ausnützt. Besonders aufreizend kann auch die Vorstellung wirken, daß die Anderen mehr bekommen könnten als man selbst, oder daß man überhaupt zu spät kommt und nichts mehr vorfindet... Dies waren ungefähr meine Erwä­

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gungen. Ich hatte zwar im Augenblicke nicht die mindeste Lust, draußen in der Kälte beim Einreißen des Plankenzaunes zu arbeiten und Holz heraufzuschaffen, vielmehr hätte ich zu gerne mich jetzt recht geruhig in meinen Lehnsessel niedergelassen und mir die schönen Bücher angesehen, die ich mir eben von Herrn J. im Hochparterre ausgeliehen hatte ... aber ich trug mein Wissen um das, was dort unten geschah, wie eine mahnende Pflicht herum, die mich peinigte: denn eigentlich hätte ich nun das Zimmer in Alarm setzen sollen, und wir wären dann alle ausge­ rückt, um auch recht viel Holz zu bekommen... Es offenbarte sich hier in mir eines derjenigen Grundgesetze, die in der Kriegsgefangenschaft stets so besonders lichtvoll und deutlich hervorgetreten sind: „was trägt der dort ? woher ? da muß man doch schauen! daß man nicht am Ende zu kurz kommt!“ Oder, allgemein ausgedrückt: die Eigensucht, die jeder in sich trägt, hat durch die langen Jahre der Gefangenschaft, durch jenes oft an die Grundzüge der allereinfachsten Notdurft eng gebun­ dene Leben, eine Art von unantastbarer Berechtigung erhalten und eine derartige Erhärtung ihrer Nützlichkeit bei jedem Einzel­ nen erfahren, daß sie - gleichsam über ihre Träger hinausgewach­ sen - zum offen und allgemein anerkannten Gesetz wurde, dem Jeder mit gutem Gewissen folgt, auch wenn er sich manchmal im Einzelfalle nicht gerade aus sich selbst heraus dazu angetrieben fühlt. Die Menschen sind hier in der Tat viel eigensüchtiger, als es zur Wahrung ihrer Interessen unbedingt erforderlich wäre: es hat sich ein überflüssig angespannter und überreizt wachsamer Ego­ ismus entwickelt, der fortwährend vor einer vielleicht doch möglichen Benachteiligung auf der Hut ist und in jedem Falle einmal vorbeugen zu müssen glaubt. Und der Einzelne nimmt von vorneherein Menschen, Gelegenheiten und Umständen ge­ genüber diese krampfhaft selbstsüchtige Haltung an. Hier könnte nun eingewendet werden: „Nach dem Gesagten müßten alle Armen dieser Welt - die ja ihr ganzes Leben eng gebunden an die Grundzüge der einfachsten Notdurft verbringen - von einer geradezu wahnwitzig übertriebenen Eigensucht besessen sein?! Dies ist aber durchaus nicht der Fall; vielmehr findet man gerade unter den armen und ärmsten Leuten oft die willigste Hilfsbereitschaft dem Nebenmenschen gegenüber...“

Daß Armut und willige, verständnisvolle Hilfsbereitschaft oft zusammen gefunden werden, ist eine Tatsache: und wie ließe sich die auch leugnen? Aus vielen aneinandergereihten harten Tagen, von denen jeder einzelne den Menschen mit der Nase auf die Not stößt und ihn ganz nahe und vertraut mit ihr leben läßt, ergeben sich für ihn, Strich bei Strich, immer unverwischbarer eingegraben, die festen Grundzüge zu seiner Kenntnis vom Leben. Sein Besitz geht kaum über Brot und Bett hinaus, beides dankt er sich selbst, und beides muß täglich immer auf’s Neue erhalten werden. Er weiß und hat es wissen gelernt: „so ist es, so ist das Leben, nicht anders; es ist ganz ernst gemeint, es ist wahrhaftig so, Dir bleibt nichts übrig, als Dich damit zu stellen. Jeden Tag mußt Du Dich stellen.“ Aber weil er das Wissen von der allereinfachsten Notdurft ganz lebendig hat - kennt er sie auch beim Anderen; bei seinem Nächsten, so weiß er, ist sie auch da. Er weiß, was ein Mensch braucht und wie mühsam es oft der Welt abgepreßt werden muß und wie sich manchmal Einer wirklich ganz draußen und vor der Türe sieht - und wie er dann plötzlich hilflos und unterjocht vor diesem ganzen harten und stummen Wesen steht, das keine Rechenschaft gibt, auch wenn sie laut schreiend gefordert wird. Und weil der Arme das Alles ganz lebendig kennt, in sich hat und weiß - nicht nur in der Form, als Worthülse -, darum hilft er. Nun aber erhebt sich mein Frager und macht einen Einwand, der ihm schon auf der Zungenspitze brennt: „Es wurde hier zuerst behauptet, daß durch ein Leben, das oft eng an die Grundzüge der Notdurft gebunden ist, bei den Gefangenen jene krampfhaft angespannte Eigensucht entstanden sei. Und auf meine Frage, wie sich dies mit der Tatsache verträgt, daß bei den Armen dieser Welt so oft willige Hilfsbereitschaft angetroffen wird - begründen Sie mir das ebenso: weil die armen Leute die Not des Lebens kennen - kennen und verstehen sie auch die Not des Nebenmenschen und helfen. Was ist also wahr? Oder - wie kommt es, daß die Kriegsgefangenen sich ganz anders verhalten als die armen Leute?“ Vor diesem Verdacht eines Widerspruches muß ich mich rechtfertigen und den Widerspruch lösen, da hilft nichts. Diejenigen, von denen hier die Rede ist, gehören nicht zu den

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Armen dieser Welt; es sind gewesene Officiere, die in Kriegsge­ fangenschaft geraten sind, Menschen, von denen ein großer Teil früher in einer Schichte gelebt hat, in der die Leute kaum jemals recht erfahren, woher das Brot kommt, das ihnen schmeckt. Brot? Sie haben es über dem Braten längst vergessen. Bett? Sie könnten in zehn Betten schlafen, jede Nacht in einem anderen und wenn es ihnen gefällt, auch bei Tag. Ein schneidiger Officier, ein Staatsbeamter und Angehöriger der „besten Gesell­ schaft“, ein junger Herr aus großem Hause ... was können sie von alledem wissen? Wie weit, wie viel zu weit ist für sie der Weg zur allereinfachsten Notdurft zurück, ihr weiches Leben Tag für Tag hat diesen Weg längst für sie verschüttet. Keiner von ihnen kann wissen, was ein Mensch braucht, weil dieses Maaß in der eigenen Fülle längst verloren gegangen ist. „So ist es, so ist das Leben, es ist wirklich so...“ Vielleicht irgendwo da draußen?! Ja, aber es soll wirklich so sein. Also wahrhaftig, in der Tat? Ach -! Er hört und liest davon: Worthülse und Form „das große Elend in der Welt“ oder „die vielen armen Leute“. Aber er kann es nicht ausfühlen, und wenn er gleich den besten Willen dazu hat. Denn das Entscheidende in seinem Gedankengang ist der Abschluß: und der besteht unweigerlich darin, daß er sich wieder in’s Weiche sinken läßt. Daß aber Einer wirklich einmal ganz draußen und vor die Türe zu stehen kommen kann, hilflos und unterjocht diesem ganzen harten und stummen Wesen gegenüber - das kann der Reiche zutiefst gar nicht glauben. Denn er kommt kaum bis zum letzten Bollwerk mit seinen Gedanken, zu Brot und Bett. Dahin­ ter liegt das Grauen; und das Ganze wird nun vor seinem Blick zu einer Möglichkeit, die er nicht fassen kann, zu einer Unmög­ lichkeit für ihn. Und diese selben Menschen finden sich nun mit einem Male hieher verschlagen. Dabei nun haben sie den Krampf bekommen und scharren jetzt jede Brotkrume und jede Handvoll Taback zusammen, mit einer Hast und Angespanntheit, die weit über das, was die jeweilige Notwendigkeit fordert, hinausgeht. Etwa so, wie Einer wild um sich schlägt, der nicht schwimmen kann und in’s Wasser

fällt. Oder wie ein Spaziergänger, der zum Spaß einmal dem verlegen lächelnden Arbeitsmann den Spaten aus der Hand nimmt und selbst ein paar Stiche zu tun versucht: ganz über­ flüssig strengt er sich dabei an und setzt seine ganze Kraft ein, nicht so sehr aus Ungeschicklichkeit, vielmehr der Mei­ nung folgend, daß zu so niedriger Arbeit eine ungewöhnliche Kraftanstrengung notwendig sein müsse. Und hier? Hier geschieht im Grunde dasselbe: indem jeder Einzelne eine aufs äußerste angespannte Eigensucht und Knauserei in Hinsicht auf die gemeinen Bedürfnisse des Tages für notwendig hält. Nun geht es den gefangenen Officieren durchaus nicht so sehr schlecht: aber wenn es nun doch einmal vorkommt, daß eine Zeit lang die Geldbezüge ausbleiben oder durch irgend­ welche Umstände nicht regelmäßig ausreichendes Essen auf den Tisch kommt, dann verfallen die Überängstlichen so­ gleich in ihre krampfhaft ergatternde, zupackende und knau­ serig eigensüchtige Art. Und gerade diejenigen, die einmal' ganz notfremd und weich haben leben dürfen, gerade bei diesen ist der Krampf am stärksten. Während solche, die schon früher das unver­ schleierte und unverwischte Gesicht des Lebens kennenge­ lernt haben, sich zu verhalten wissen, auch Maaß zu halten wissen. Nun aber macht der Frager einen Einwand: „Wie lange sind diese Leute denn schon in Gefangenschaft? Was?! Drei, vier, fünf Jahre!? Und sie haben es noch immer nicht gelernt, das Gleichgewicht den Lebensverhältnissen gegenüber immer noch nicht gefunden?“ Nein. Denn sie haben es nie ganz im Ernst glauben ge­ lernt, daß es sich mit dem Leben wirklich so verhält, wie sie es hier sehen. „So ist es, so ist das Leben, es ist wirklich so...“ Ja, aber nur ausnahmsweise, wir sind ja in der Kriegs­ gefangenschaft! Es ist eigentlich alles, was wir hier sehen, ge­ wissermaßen nicht wahr ... es ist eben ein ganz ungewöhnli­ cher Ausnahmszustand. Wir sind ja nur halb und halb hier, eigentlich kommt uns eine ganz andere Lebensweise zu. Hof­ fentlich hat auch dieser Zustand bald ein Ende, und wir kom­

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men bald wieder in’s „wirkliche Leben“ zurück ... es ist eben eine Art Abenteuer, das sich auf ein paar Jahre hinauszieht. In guten Kreisen nimmt man eine Axt nur zum Spaß in die Hand. Wird sie einem mit Notwendigkeit in die Hand gedrückt, so ist’s ein Ausnahmszustand oder eine Art Abenteuer - also auch ein halber Spaß und eigentlich nicht ganz wahr. Das Leben aber ist immer gleich wirklich. Sie wollen es durchaus nicht lernen, wie man sich als armer Teufel mit Anstand zu verhalten hat: das hieße im Ernst ein armer Teufel sein.

Falls der Leser vergessen haben sollte, daß ich noch immer stumm und bedrückt auf meinem Bett sitze, so wird es ihm hiemit freundlichst in Erinnerung gebracht. Die Notwendigkeit dieser langen Abschweifung aber wird er einsehen: denn gerade diese Tatsachen mußten erörtert werden, um zu zeigen, daß ichder von dem schlafenden Teufel und seinem so sehr leisen Schlaf wußte - nicht ganz grundlos mich mit den erwähnten Befürch­ tungen trug. Überdies trat hier noch ein äußerst verschärfender Umstand hinzu: es handelte sich offensichtlich um eine Raubge­ legenheit nicht nur für einige Wenige, vielmehr sah dies ganz so aus wie ein freier Tanzplatz für die Habsucht einer großen Menge; nach dem, was ich unten im Stiegenhaus gesehen und vor dem Haustor draußen - nur allzu begründet? - hatte vermuten dürfen, mußte es sich tatsächlich um einen Massenangriff auf den Plankenzaun handeln Ich horchte plötzlich auf: das ganze Haus schien mir mit einem Male von einem dumpfen, summenden Getöse erfüllt, das ganz allmählich stärker wurde: und jetzt hörte ich, wie draußen, auf dem hallenden Korridor, einige Leute eilig vorbei rannten. Ich glaubte in diesem Augenblick mit Bestimmtheit, daß nun das Kampfgetöse auch in unser Zimmer einbrechen würde, und ergab mich schon beinahe in diesen Gedanken. Als ich aber aufblickte, sah ich die zwölf türkischen Officiere noch immer in voller, ungetrübter Ruhe über ihre Bücher und Hefte gebeugt. Herr v. P. hatte sich mit seinem blaugehefteten Buch in einen

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Sessel niedergelassen und lernte nun in sitzender Stellung: dies war die einzige Veränderung, die sich bisnun im Zimmer zuge­ tragen hatte. Durch dieses überzeugende und sozusagen unerschütterliche Bild des Friedens einigermaßen beruhigt, blieb ich nach wie vor auf meinem Bett sitzen - obwohl in mir irgendein Drang zur Flucht vorhanden war, durch die ich mich ja allen unerquickli­ chen Möglichkeiten, die schon sehr verdichtet in der Luft lagen, hätte entziehen können. Denn ich verspürte noch immer nicht die allermindeste Lust, mich bei einer Temperatur von jo° unter Null am Einreißen des Plankenzaunes und am Holzschleppen zu beteiligen. Und ich wußte nur zu genau, daß nun jeden Augen­ blick die Türe auffliegen konnte, um irgend jemand hereinstür­ zen zu lassen, der atemlos ein paar türkische Worte keuchen würde: deren Bedeutung aber hätte ich mir dann, trotz völliger Unkenntnis des Türkischen, leicht an den Fingern abzählen können; was denn auch anderes als: die russische Verwaltung hat gestattet, daß die Kriegsgefangenen den Zaun abreißen, für Brennholz... Und dann wäre auch schon der Teufel los gewe­ sen. Man hätte zu Äxten gegriffen, um, wild herunterstürmend, auch zu recht viel Holz zu kommen ... Indes, Trägheit und Unentschlossenheit, vielleicht auch die Tatsache, daß Brennholz doch im Grunde nicht zu verachten sei, hielten mich fest, ich blieb und hing wieder meinen Gedanken nach. Da saßen sie alle friedlich und höchst sittsam an ihren Arbeits­ tischen und ich auf meiner Bettstatt. Aber wenn nur ein Gerücht - nur ein Gerücht! - hier hereindringen würde, daß es gestattet sei, Brennholz aus dem Plankenzaun zu machen, wie würden wir alle - sie und ich - aufspringen und hinunterstürmen, um nur ja nicht am Ende eine Minute Zeit oder ein Viertel Brett zu verlieren! Wie würden wir uns in’s Gewühl stürzen, so viel wie möglich erraffen und es dann heraufzerren, schieben, stoßen und schleppen - gerade so, wie ich es vor kurzem unten im Stiegen­ haus gesehen hatte. Jeder Einzelne wäre ein Held und der Gesittetste und Friedlichste ein wilder Drauflosgänger in diesem Augenblick. Denn die Gemeinsamkeit einer Tat mit hunderten Anderer befreit den Einzelnen spielend von jedem Reste einer

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möglicherweise vorhandenen Feigheit, von jeder Hemmung und jedem Bedenken. Und wenn gleich das Gerücht von der Erlaub­ nis der russischen Verwaltung in irgend Einem Zweifel erregen und einen Gedanken an die möglicherweise vorhandene Un­ rechtmäßigkeit seines Vorgehens erzeugen würde - eine Verant­ wortung, auf so viel hunderte von Schultern verteilt, wiegt leicht wie eine Flaumfeder. Vollkommen ungehemmt und frei würde jeden Einzelnen nur die bis zum Krampf angespannte Eigen­ sucht treiben Ich befand mich schon die ganze Zeit hindurch in einiger Besorgnis, es möchte sich etwa Einer von den vorläufig noch eifrig Studierenden durch den ständigen Lärm auf dem Korridor dazu bewogen sehen, aufzustehen und nachzuschauen, was denn ei­ gentlich los sei. Ich selbst konnte es mir nicht mehr verhehlen, daß man draußen Bretter vorbeischleifte. Schon sieben- bis achtmal hatte ich dieses widrig scharrende Geräusch deutlich hereinge­ hört, und es mußte mir eigentlich auffallen, daß die Anderen Da hob Einer den Kopf. Ich stand rasch und erschrocken auf und verließ möglichst geräuschlos, unauffällig und huschend das Zimmer. Auf dem Gang draußen wurde ich sofort um ein Haar ge­ spießt. Aus dem betreffenden Brett standen rostige Nägel her­ aus, bösartig wie Krallen. Der halbe Korridor war bereits von Kältenebeln erfüllt, die Türe zum Stiegenhaus stand sperrangelweit offen. Einzeln und zu zweit lief man mit Brettern, und als ich ein paar Schritte gegangen war, schwenkte gerade eine Gruppe mit einer ganzen, noch zusammenhängenden Plankenwand von der Stiege auf den Gang. Ich gelangte endlich ein paar Türen weiter und in ein Zimmer, wo ich Bekannte habe und einigermaßen zuhause bin; als ich hineingeschlüpft war - ich zog die Türe rasch hinter mir zu, um den hereindringenden Lärm gleich wieder auszuschließen -, bemerkte ich, unsäglich erleichtert, daß man auch hier noch im tiefsten Frieden lebte. Ich ging also quer durch das Zimmer auf den Tisch zu, um den meine Leute lernend, lesend und schlafend herumsaßen. Ich grüßte harmlos, ließ mich in einen Lehnsessel nieder und begann

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vorsichtig von irgend etwas weitab liegendem zu sprechen - im ganzen fühlte ich die Notwendigkeit, mich so zu benehmen, als ob ich über dünnes Eis schritte... „Was gibt’s Neues?“ fragte man mich. Ich war über diese Frage aufrichtig erschrocken, beeilte mich aber sogleich, in möglichst gelangweiltem und nachlässigem Tone zu sagen: „Nichts. Was soll es denn geben.“ Dabei streckte und dehnte ich mich im Lehnstuhl, daß meine Gelenke knackten, ganz überflüssigerweise, im Grunde eigent­ lich aus Unruhe. Nun, ich fühlte mich aber doch ziemlich gesichert. Sollten sie drüben ausrücken! Ich war desertiert, saß hier in Ruhe, war unsichtbar geworden und brauchte nicht mitzutun. Hier war es friedlich. Ich sollte mich grob getäuscht haben. Es waren noch keine zwei Minuten vergangen, als die Türe plötzlich und rasch geöffnet wurde. Aus der kurzen und heftigen Bewegung, mit der sie sich in den Angeln drehte, war zu entnehmen, daß hier etwas eiliges und ungewöhnliches herein­ kam. Während der kleinen Zeitspanne zwischen dem Offnen und Schließen der Tür schlug der Lärm vom Korridor wie eine Welle in das Zimmer. Ein kleiner Mann trat mit einer gehetzten Bewegung ein, lief in eine Ecke und begann, den dort sitzenden Leuten hastig und leise etwas mitzuteilen. Oho! er benachrichtigte seine Freunde, die Anderen ließ er in Unwissenheit. .. Aber es nützte ihm nichts; er war wohl früher gelaufen, und in der Atemlosigkeit stieß er einzelne Worte zu heftig hervor (ich selbst konnte „Holz“ und „Plankenzaun“ deutlich hören) - an unserem Tisch fuhren die Köpfe mit einem Ruck in die Höhe. Man horchte. Dann stand man auf, ging einfach hin, da gab es eben gar nichts mehr, man fragte... Ungern und zögernd wurde irgend eine unbestimmte, laue Auskunft erteilt. Aber da war nichts mehr zu machen. Einen Augenblick später waren sämtliche Sessel im Zimmer frei, man kam aus allen Ecken, stand in der Mitte beisammen, jetzt wurde ganz laut gesprochen, da konnte niemand mehr ausgeschlossen werden, was nützte das Flüstern noch!

In diesem Augenblick sank ich in meinem Stuhl (es war der einzige, der noch besetzt war) gleichsam zusammen und gab nun endgültig Ruhe und Frieden auf. Herein denn in’s Wilde! Ich raffte mich empor, stürtzte auf den Gang, warf mich gleichsam hinein in die Welle von Getöse, die mir da entgegenschlug, und rannte in großen Sprüngen den Gang entlang, auf die Türe meines Zimmers zu. Ich hatte sie noch nicht erreicht, als mir der erste von uns schon mit einem breiten Beil in der Hand entgegenlief, hinter ihm kamen trap­ pend die Anderen, das Zimmer rückte aus; im Vorbeilaufen rief man mir zu, ich solle auch mithalten! Was blieb mir, als einem gerade noch rechtzeitig eingerückten Deserteur, denn anderes übrig!? Kameradschaft, da darf man sich nicht drücken! Wer warm haben will, soll Holz holen. Der Zwang war zu stark. Der Letzte von den Ausrückenden rannte mich fast zu Boden, er schwang ein Bündel Stricke in der Hand, er schwang seine Beine wie Windmühlenflügel, um den Anderen auf dem Korridor nachzukommen. Holterdiepolter! Ich hörte sie die Stiegen hin­ untertrampeln, ich hörte das eiserne Geländer bis hieher schep­ pern! Und sie schrieen gar alle, so schien es mir! Ja, wahrhaftig, sie brüllten, und ob sie brüllten, alles schrie und brüllte auf dem Gang, auf der Stiege, unten im Vorhaus, und von irgendwo, von draußen, hörte man dumpfe, krachende Schläge wie von einem Mauerbrecher. Indessen kam ich in mein Zimmer; das lag ganz leer und still, schön und herrlich still, aber ich war schon auf einem anderen Geleise, ich trat roh in diese Stille hinein, ich fuhr mit einer verzweifelt entschlossenen Bewegung in meinen Pelz und stürzte fort, über den Korridor, in den Kältedampf hinein, über die Stiegen hinunter, hinaus in das weiße, grelle Schneelicht und in den dröhnenden Lärm, der mir jetzt nur so entgegen krachte und böllerte. Bevor ich überhaupt zu irgend einem Erfassen der Lage oder zur Besinnung kommen konnte, mußte ich wohl meine zwanzig, dreißig Sprünge und ausweichenden Schwenkungen machen, um meine Knochen nur heil zu halten. Oh, es war kein Spaß, da vor dem Haustor! Es war kalt, und man wurde dumm vor Lärm und immer von zehn langen Brettern zugleich bedroht, die aus

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den verschiedensten Richtungen heranschwankten, alle zugleich in’s Haustor und hineinwollten und dabei sämtlich ihre rostigen Krallen zeigten. Und man sah da wahrhaftig Menschen, die keine Menschen mehr waren; wie sie brüllten! über dem ganzen aber der einige langhinkrachende Donner von Mauerbrechern! Wahrhaftig, es waren Mauerbrecher, Plankenbrecher, Pallissadenbrecher! Die ganze Länge des Zaunes entlang, soweit man nur überhaupt sehen konnte, wälzte sich die Masse wie eine einige Brandung dagegen los. Sie schäumte gleichsam auf am Fuße der hohen Pallissade, sie kochte wie Wasser, das am Rande des Topfes große, platzende Blasen wirft. In blinder Wut schonte niemand seiner eigenen Gliedmaßen, sie brauchten ihre Fäuste wie Zangen und Hämmer, ihre Füße wie Dreschflegel und Sturmböcke. Es galt, ja wahrhaftig, es galt da, denen zuvoroder gleichzukommen, die Äxte hatten! Und bald war in jeder Hand ein losgerissenes Brett oder ein Pfosten, und damit rannten sie gegen die Planken, daß es krachte und daß die rostigen Nägel kreischend mit einem Wehelaut aus dem Holz pfiffen, bis end­ lich das losgesprengte Brett einen lauten Schuß abgab und frei kam und krachend-polternd auf der anderen Seite zu Boden stürzte. Der lange und hohe, grauverwitterte Plankenzaun aber stand in seiner ganzen Ausdehnung dröhnend und schwankend unter diesem Massenansturm. Weithin sah man die schwarzen Menschlein auf dem Schnee wimmeln, und in der Entfernung sah es aus, als ob zahllose kleine dunkle Kugeln immer wieder gegen den Zaun zu purzelten und kollerten, wie hingeschüttet, wie ausgeschüttet. Hinter den kämpfenden Reihen aber standen die Wächter bei den ständig wachsenden Bretterhaufen - jede Abteilung hatte so einen stehen bei ihrem Brennholzschatz: da war Zimmer N° 4, da 7, 10, 14... Wer einem solchen scharf bewachenden Mann nur ganz harmlos in die Nähe ging, der mußte auf drei Schritte bereits spüren, wie die Luft dicker wurde vor unbedingter und auf’s äußerste angespannter Abweisung: das sind unsere Bretter, die haben wir losgemacht! Wie hatten sich da viele verändert! Herr von X., Herr S., Herr von Z. ... sie schoben und schrieen, zerrten und schleppten, sie

rasten gegen den Plankenzaun, daß ihnen das Haar büschelweis in die Stirne hing und der Schweiß in Tropfen darunter hervor und über die halberfrorenen Wangen rann! Leute, die daheim, bei uns zuhause Es war ein tolles Abenteuer! Der Plankenzaun um das Lager dürfte im Ganzen eine Länge von j bis 6 Kilometern gehabt haben. In zwei und einer halben Stunde war er vollkommen wegrasiert, verschwunden und bis auf den letzten Holzsplitter in die Wohnungen geschafft.

Bald darauf begann sich das Gerücht zu verbreiten, daß von einer Erlaubnis der russischen Verwaltung keine Rede sei und das Ganze auf einem Irrtum beruhe. Als wir Abends erschöpft, schweigsam und müde beim Essen saßen, erfuhr dieses Gerücht seine amtliche Bestätigung. Der Adjutant kam und teilte mit... Es folgten acht böse Tage. Es wurden Listen angefertigt, jeder wurde aufgeschrieben, der mit dabei gewesen war. Wir mußten alle Bretter zurückgeben. Wir mußten bezahlen. Wir mußten die ganze Pallissade wieder aufbauen lassen. Das russische Kom­ mando drohte mit Repressalien: wir sollten strafweise ausquar­ tiert und in Erdbaracken untergebracht werden. Wir schwebten tagein, tagaus zwischen Hoffnung und Furcht, je nachdem etwas Beruhigendes oder etwas Schlimmes verlautete. Schließlich wur­ den wir doch in unseren Wohnungen belassen und atmeten erleichtert auf. An demselben Tage aber, an dem der Plankenzaun eingerissen wurde, kamen solche Mengen von Kohle in’s Lager, daß man damit bis in den Juni hinein hätte heizen können.

Katharina. Zusammenhang Katharina, eine bescheidene, aber junge und sehr anmutige Pro­ stituierte in einer proletarischen Vorstadtgegend, kommt durch einen Zufall, der sich mit ihrem Verlangen und ein wenig Streber­ tum verbündet, „hinauf“ - d.h., sie wird die Mätresse eines Menschen namens Folrad: ein Mann von etwa dreißig Jahren, den sein Reichtum, sein eigenes Wesen u. seine gelehrten Neigungen bisher in ganz sonderbarer Weise vom Leben separiert haben. Dieser fast nur seinen Studien ergebene Mann ändert nun (durch Katharina unmerklich dazu bewogen) seine Lebensweise fast völ­ lig. D. h., er begiebt sich in einen Kreis von jungen Herren aus d. „Gesellschaft“, Bekannte von früher einmal oder (wie d. Gym­ nasiast Schlaggenberg) - Söhne von solchen. Diese, im Alter oft sehr verschiedenen Leute, haben nun untereinander die Gewohn­ heit sog. „zwangloser Zusammenkünfte“ angenommen - d. h., Jeder bringt die Seinige mit, u. es wird unbedingt reiner Mund gehalten - nachdem sich mitunter „Damen“ im allerofficiellsten Sinn unter den „Mitgebrachten“ befinden. Allerdings ist das nicht immer der Fall. In diesen Kreis (es kommen selten mehr als 6-8 Leute zusammen) hat nun Folrad jene Katharina schon früher einmal eingeführt.

Personen in folgd. Scenen: Folrad, Katharina Grete Nagl (eher kleinbürgerliche junge Witwe), gepaart mit dem Gymnasiasten Schlaggenberg. Ansinger, kleiner, schmächtiger Mensch jüdisch. Blutes, Stu­ dent, gepaart mit Agnes Hausvogt, Konservatoristin, Meister­ schülerin im Klavierfach, mehr „schöngeistig“ als hübsch: dieses Paar ist überhaupt in jeder Hinsicht ein wenig blaßblau u. ätherisch verstiegen.

Notwendiges, da sonst dem Folgenden, aus dem Zusammenhang Genommenen, stellenweise jeder Sinn abgeht: aus Katharinas früherer Vergangenheit: 1. ) ... Wenn Katharina nachts, gefolgt von Irgendeinem, in das Zimmer trat, konnte sie eine Erinnerung an ihr Elternhaus haben. Auf dem Tisch stand eine üppig geschwungene Schüssel mit geradezu prachtvollen Äpfeln. Diese Äpfel waren an der Schüssel festgewachsen u. aus Porzellan. Der oberste davon trug in seiner knallroten Backe einen Schlitz, wie eine Sparbüchse. So etwas hatte es zuhause auch gegeben. Wenn die Weinhändler, die Kunden ihres Vaters, nach endlosen Faßproben aus dem Keller kamen, dann brachte die Mutter immer einen Kaffee in’s Wohn­ zimmer. Katharina hatte sich daran gewöhnt, die dicken Männer mit den lippenhängerischen, feuchten Schnurrbärten auf ihre Art auszunützen. Wurde sie ihrer strammen Persönlichkeit und ihres niedlichen Kindermäulchens wegen unterm Kinn genom­ men, dann gab „Kathi“ sogar auf Verlangen ein Busserl. Aber gleich pflegte die Kleine mit einer ganz ernsthaften Gebärde auf ihre Sparbüchse zu weisen, die apfelrot und prangend auf der Kommode stand Es war nicht mehr dieselbe Sparbüchse, diese hier auf dem Tisch. Die hatte K. vor einem Vierteljahr geschenkt bekommen, von Irgendeinem, der sie öfter aufsuchen kam. Der oberste Apfel mit dem Schlitz hatte Geld enthalten. 2. ) Die Tatsache, daß in jener Straße, wo Katharina früher ihr Geschäft betrieben hatte, sich eine Druckerei befand. Für das Mädchen, das seines Lebensunterhaltes wegen viele lange Win­ ternächte auf der Straße zubringen mußte - und oft mit sehr wenig Erfolg, in dieser einsamen Gegend -, war die Nähe einer Druckerei sehr wichtig. Denn wenn gegen Morgen die Arbeiter heimkehrten, konnte sie immer noch hoffen, einen von ihnen als späte Kundschaft zu bekommen - wenn ihr gerade noch ein Gulden für die Hausfrau fehlte.

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Aus K.’s jüngerer Vergangenheit: als sie schon von F. ausgehal­ ten wurde und in jener hübschen, von ihm selbst für sie einge­ richteten Wohnung lebte, passierte es ihr einmal, daß sie abends im Einschlafen von dem Gedanken gequält wurde, sie habe ja etwas Wichtiges vergessen: nämlich rasch hinunter auf die Straße zu gehen, da sie den Laternenschein von draußen im Fenster bemerkte (und das war für sie früher das Signal, daß es dunkel u. höchste Zeit sei).

Introduction (zu „Katharina“)

Komm’ herauf, rührendes Bild Blume im Ruß: aus der Tiefe des Meeres (wie ist es dunkel dort!) bist Du zu uns gekommen; wir lebten fröhlich fort mit Dir und lachten und dachten nichts Schweres. Als Du aber aus unseren Räumen und Zimmern gegangen da überkam uns alle ein unruhvolles Verlangen wir erkannten mit eins die Größe der Stadt: ihr Prangen und ihre Breite und Tiefe und Masse des Menschenheeres.

Da Du nun aber für uns darinnen verloren haben wir, Dein zu gedenken, die Stille erkoren die in dem Rasseln der Stadt wie eine Pause liegt. Einsam zuwartend das Zimmer; die Sonne schickt schräges bedachtsames Gold durch die leise erglühenden Scheiben (wenn wir indessen, allein gelassen, nicht ganz in der Stille verbleiben macht uns das unruhvoll und verlangend bedrückt)

und verlangend bedrückt: denn wir fühlen die Weite wünschen, daß sie sich noch mehr uns entgegenbreite und verlangend bedrückt: denn wir empfinden die Schwere wünschen, daß sie uns noch mehr und noch besser belehre und verlangend bedrückt, denn wir fühlen wie eng unser Kopf ist wissen, was jeder von uns für ein darbender Tropf ist

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und wie von Stein umschließt uns das tägliche Leben. Was wir darinnen nicht finden, das wird uns niemals gegeben - stiegen wir anders nicht aus dem heraus - nämlich schweifender Wünsche Stillung.

Doch es geschieht ja oft in dieser sehr großen Stadt daß Einer aufsteht und hinausgeht und kein Heim mehr hat dies aber war ihr die Erfüllung.

Scene zu „Katharina“ IV. Der Kellner beugte sich zwischen je zwei Sitzenden über den Tisch und stellte die Schüsseln ab: „Zwei mal Forellen...! Bries...!“ Der Wind raschelte ein wenig in den Blättern der Laube, aber der Schein des elecktrischen Licht’s blieb starr und ohne zu flackern über den leicht bewegten Zweigen. Die Hände aller griffen über den Tisch, aus hellen Blusenärmeln und dunk­ lem, manchettengesäumtem Stoff, Schüsseln wurden durchein­ ander gerückt, gehoben und glücklich an einander vorbeige­ bracht ... Auf den blanken Tellern lagen nun die frisch vorgeleg­ ten Speisen, ab und zu klirrte leise ein Besteck in eine Gesprächs­ pause, Grete Nagl sagte „oha“, und Ansinger erschrack ernst­ haft, als eine Bratenschüssel in Gefahr geriet... Katharina aß nicht mit besonderem Apettit, oder sie hatte nicht die rechte Ruhe dazu ... das Nachtmahl war ja nur die Einleitung zu diesem Abend; man wollte dann zum „Heurigen“ gehen - sie dachte fortgesetzt daran und erinnerte sich dabei manchmal an Vergangenes, für einen Augenblick. Man saß etwas eng hier in der Laube; einmal kam Katharina unversehens unter dem Tisch mit dem Knie an Schlaggenberg an. „Pardon“, sagte er. „Aff’“, dachte sie. Die übertriebenen Manieren dieser jungen Leute konnten sie mitunter sehr reizen; Folrad hatte auch so etwas an sich... Der Kellner mit dem gewichsten Schnurrbart brachte Wein­ flaschen, die außen feucht beschlagen waren. Man griff nach den Gläsern, die Herren schenkten ihren Damen ein. Katharina hielt



mit dem Besteck still, während Folrad ihr Glas füllte. Obwohl es hier in dem terassenförmig angelegten Garten kühl war und Katharina eine kalte Forelle vor sich hatte, griff sie gleich nach dem Glas und trank es halb leer. Ihr war fast heiß, und sie empfand angenehm das kalte Gleiten des Weines durch die Kehle. Dann überkam sie für einen Augenblick leichter Schwindel. „Lang’ bleiben wir aber nicht da „Nein, sonst steht es garnicht dafür „Nicht deswegen, aber um halb zwölf ist doch Schluß mit der .Elektrischen' „Also da gehn wir dann bald „Ist es weit?“ Katharina hörte eine kleine Weile lang das Durch­ einanderreden der Anderen, als ob sie Pfropfen in den Ohren hätte. Dann löste sich das wieder, und jener Schleier, der für ein paar Augenblicke zwischen ihr und der Umgebung gewesen war, fiel nun gleichsam ... Der Kellner kam, er trug einen Arm voll Tellern mit Glasun­ tersätzen, das gebrauchte Geschirr verschwand, Eis und Tonen­ stücke nahmen den Tisch ein. Wieder ein allgemeines Zulangen, die Augenlust beflügelte den Handgriff; Katharina begann, rasch das Eis zu löffeln. Das erste blaue Rauchfähnchen einer Cigarette wurde über den Tisch gefegt... Der Kellner stand eine Weile bei jedem der Herren, ganz und gar aufmerksam horchend und vorgeneigt, die Brieftasche in der Hand, den sprungbereiten Bleistift angesetzt auf dem weißen Rechenzettel. Die schrei­ bende Bewegung seiner rechten Hand hatte etwas krampfhaft beflissenes Man erhob sich, schob sich langsam aus der Laube hinaus; es dauerte eine Weile, zwischen Tisch und Blätterwand war grade eines Sessels Breite. Den Frauen drückte die Tischkante das Kleid in den Schooß. Dann blieben alle draußen stehen, die Herren hielten die hellen Jacken auseinandergespannt zum Hin­ einschlüpfen und sahen den Damen auf’s Genick, die ihnen den Rücken kehrten und mit möglichst graciler Bewegung in die Ärmel zu kommen suchten ... Grete Nagl und Schlaggenberg stiegen als die Ersten die Treppen durch den erleuchteten Garten hinab in die Dunkelheit der Straße. Sie nahmen unten gleich die Führung, und man schritt aus... Sie gingen aber bald alle in einer Kette über die

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ganze Breite der stillen Straße, und das Lachen sprang daran entlang, hin und her, bald lachte der, bald jener; zwischen den dunklen Anzügen der Herren, die ganz in’s umgebende Schwarz versanken, leuchteten die hellen Frühjahrskleider, und wenn man an einer Laterne vorbeiging, wurde dieses oder jenes Ge­ sicht gerade am meisten in’s Licht gehoben - Katharina erstaunte dabei einmal, wie hübsch Grete Nagl aussah, fast schön schien sie ihr... Oft unterbrach sich die Reihe der niederen Häuser, und dunkle Laubmassen bewegten sich langsam im leichten Wind, manchmal standen auch Büsche und Bäume ganz reglos. Geigenklang kam von irgendwoher. „Ist es das schon?“ fragte jemand. „Nein, nein, wir gehen dann links, folgt’s mir nur, dort ist es am schönsten.“ Sie bogen ein, am Ende der Gasse hob sich ein ausgesteckter Busch scharf vom Laternenlicht ab; man hörte singen. Im Torbogen war es noch dunkel, aber als sie auf den Hof traten, schlug ihnen das Licht in breiter Welle zugleich mit dem lauten Gesang aus dem offenen Gartensaal entgegen. Sie gingen über den Hof, ein paar Stufen hinan, und traten mitten unter die singenden Menschen an den Tischen, und sie gingen ganz benommen ein paar Schritte auf dem Kies. Von den aller­ nächsten Tischen unterschied man die einzelnen Stimmen der Singenden, man fühlte sich gleichsam angeschrien von ihnen; während sie den Mund singend geöffnet hielten, musterten ihre Augen die Neuankömmlinge, und viele Blicke gingen hinter den Mädchen her, und der Gesang wurde noch stärker. Auf dem Podium hatten sich die Musikanten erhoben: die zwei Geiger sahen ein wenig bescheidener aus, durch die geneigte Kopfhal­ tung, und der Harmonikaspieler war mit dem gewichtigen In­ strument zu sehr beschäftigt. Aber der ölgescheitelte Jüngling mit der Doppelguitarre war das Bild eines Siegers, er sah über die singende Menge hin, deren Lustigkeit gleichsam auf Befehl der vier Musikanten ausgebrochen war ... seine Finger gingen lässig, das rechte Handgelenk war geradezu elegant... hoho! er hatte sie alle in der Tasche!...

S’ giebt nur a Weanastadt S’ giebt nur a Wean Und vorne auf dem Podium stand ein kurzer Mann, der, da

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man seinen Gesang unter den vielen Stimmen nicht mehr hören konnte, den Mund aufriß und den steifen Hut mit gestrecktem Arm ekstatisch emporhielt... Sie taumelten förmlich zwischen den Tischen unter diesem Ansturm von Licht und Schall; sie fanden endlich Platz und ließen sich nieder, Weinflaschen wurden klirrend auf die grüne Platte gestellt, schon bot eine Kellnerin mit weißer Schürtze aus einem großen Kasten Bäckerei an; Schlaggenberg und Grete Nagl sangen laut mit, bis das Lied zu Ende war. Katharina ließ den Blick in der Nachbarschaft umherspringen. Sie wußte augenblicks, daß man ihre Tischgesellschaft als „feine Leute“ hier mit Interesse betrachtete ... aber daran lag ihr jetzt garnichts ... Der Gesang war zu Ende, die Einigkeit der Stimmen löste sich auf in das verworrene Redegetön der vielen Men­ schen. „Brot!“ rief jemand, Kellner und Kellnerinnen lavierten zwischen den Tischen. Katharina trank, sie trank das Glas fast aus, und als sie es ein wenig atemlos niedersetzte, sah sie am Nebentisch einen jungen Burschen, der sie unternehmend anblickte und dessen Oberlippe mit dem schneidigen Schnurr­ bart leise zuckte. Sie sah das gerade zwischen den Köpfen von Ansinger und Agnes Hausvogt, die still und gleichsam ergeben dasaßen. Diese beiden erschienen Katharina mit einem Male ganz merkwürdig dumm und einfältig... Händeklatschen flatterte durch den ganzen Saal, alle Gesichter wandten sich zum Podium; der kurze Mann stand wieder oben, mit einem Frauenzimmer in gelbem Kleid, deren Busen eine scharfe Mie­ derkante zeigte. Die Beiden sahen sich herausfordernd nach allen Seiten um. Dann gaben sie sich gleichsam einen Ruck, ihre Gesichter wandten sich wie auf Kommando in eine Richtung, und schon schallten ihre Stimmen; das Lied wurde in gemüt­ lichem und selbstgefälligem Erzählerton vorgetragen; und wäh­ rend sie sangen, drehten sie die Köpfe in einer eckigen Weise hin und her, als wollten sie auch ja allen in der Runde ihre Mitteilung zukommen lassen ... Am Sonntag nach’n Rasier’n denk’ i ma: „gehst noch spazier’n“ und weil’s ma da drausten so g’fallt

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geh’ i aussi nach Sievring* am Wald geh’ i aussi nach Sievring am Wald -

der letzte Vers wurde schon leise mitgesungen. Katharina lachte über’s ganze Gesicht. Die Anderen am Tisch sahen mehr zuwartend aus... Und wia’r i da drausten bin g’west am Bam oben siach’ i a Nest glei kraxel i auffa - Malheur! des Vogelnest, des war scho’ leer des Vogelnest, des war scho’ leer!

„Des Vogelnest, des war scho’ leer“, sangen viele, alle mit, Katharina und Grete Nagl mit Inbrunst... Diese beiden wand­ ten keinen Blick vom Podium Der kurze Mann hatte ein sehr überraschtes Gesicht gemacht beim Anblick des leeren Vogelnestes, und seine Partnerin ließ die erhobenen Handflächen herabsinken... Nun aber zog er ein schönes rotes Schneuztuch heraus, lüpfte den Stößer, trocknete die Stirn und fuhr fort: Und wia’r i da droben no sitz’ und ausruhn tua von dr’ Hitz’ da kommen, versu - u - unken im Tra - a - am zwei Lü - ü - übende unter den Ba - a - am zwei Lü - ü - übende unter den Ba - a - am - die Gelbgekleidete mit der Miederkante legte ihre ganze Empfindung in die letzten Verse, während der kurze Mann sich damit begnügte, in verschämter Weise die Hand auf’s Herz zu pressen und seinen Blick emporzuheben, als wölbe sich über ihm der Sternenhimmel... Nun aber wandten sich die beiden auf dem Podium einander zu und begannen zu schäkern ... Er fragt: „ob’s n’ heirat’n möcht?“ sang der Kurze, doch -

Sie sagt: „ja dös wär’ ma’ scho recht! * gleichgültig; irgendeine Örtlichkeit eben, die in das Versmaß paßt. D. angegebene Text dürfte kaum ganz original richtig sein.

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doch tua ma des ane erklär’n wer soll un’sre Kinderln ernähr’n?! wer soll un’sre Kinderln ernähr’n?!“ sang die Miederkante, schier schamhaft mit niedergeschlage­ nen Augen, und die Zuhörer ergriffen den Vers „wer soll un’sre Kinderln ernähr’n“ und schrien ihn geradezu überlaut mit, aber-

Er sagt: „ja was fallt Dir denn ein?! unser Herrgott wird gnädig schon sein, verlass’ di nur drob’n auf den Herrn, der wird un’sre Kinderln ernähr’n der wird un’sre Kinderln ernähr’n!“ Der Kurze stand straff aufgerichtet, mit gerecktem Arm und erhobenem Zeigefinger ... seine Feierlichkeit war ganz bedeu­ tend, und er blieb in dieser Pose, während die Zuhörer schon den Kehrreim mitsangen. Dann aber traten beide, sie und er, bis an den Rand des Podium’s vor, bückten sich und sangen in einer Weise, als schimpften sie von oben herab: Glei kraxel i aba vom Bam, „ös Bagaschi, geht’s net glei ham?! i soll eng’re Kinder ernähr’n?! wann i abakumm’, zeig’ euch den Herrn!!“*

„Wann i abakumm’, zeig euch den Herrn!“ brüllte alles, und das Händeklatschen flatterte wieder durch den ganzen Saal hin, und die beiden am Podium verbeugten sich ... Katharina klatschte aus vollen Kräften, sie lachte über das ganze Gesicht. Oben am Podium begann ein neues Lied... Ihr gegenüber, am Nachbartisch, erhob der junge Bursche mit dem schneidigen Schnurrbart sein Glas und trank ihr zu. Es wurde Katharina erst jetzt bewußt, daß sie ihm gerade in’s Gesicht gelacht hatte... Sie sah augenblicks beiseite und auf die Anderen am Tisch. Warum hatte sie nicht erwidert? Alle Gesichter waren zum Podium gekehrt. Sie nahm das Glas und sah hinüber - da hatten sich Agnes Hausvogt und Ansinger gerade so gesetzt, daß sie ihren Augen im Wege waren, sie konnte jetzt ihr Gegenüber * die Lautzeichen für den Wiener Dialect dieses Liedes bedürfen noch der genauen Durchsicht und Feststellung.

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am Nachbartisch überhaupt nicht sehen. Katharina senkte den Blick enttäuscht auf die Tischplatte; dann trank sie ihr Glas ganz aus, in drei heftigen, großen Schlucken ... Auf dem Podium bewegte der kurze Mann seinen Stößer in gemessenen Bogenlinien über dem Kopf, während die Mieder­ kante in die Hände klatschte. Katharina blinzelte, sie stützte den Kopf in die Hand und bog langsam das Gesicht zurück, während sie ein wenig betäubt zwischen den vollbesetzten Tischen durch­ sah ... Dann brach sie ein Stück Backwerk entzwei, knabberte und trank Wein. Der Schall der Lieder und das vielfache Redege­ tön lagen ihr in den Ohren, und es war ihr wieder so, als wären Schleier rings um sie gefallen. Der Gesang setzte aus, die Musik spielte einen Walzer, Katharina wiegte sich ein wenig in den Hüften, wie viele Frauen hier. Eine leichte Wellenbewegung ging so durch den Saal, irgendwo zwischen den Tischen erhob sich eine einzelne Männerstimme und sang mit der Musik, holdrioh! - ganz im Kehlkopfton ... Es wurde allmählich immer lauter. Zu der einen Singstimme kamen andere, man sang bald wieder an allen Tischen. Über den vielen ungefügen Stimmen tantzten die hohen und schwungvol­ len Töne der zwei Geigen, wie weiße Schaumkronen am Kimm einer brandenden Welle, und das dumpfe Summen der Doppelguittarre saß mit den knarrenden Tönen der Harmonika immer auf’s Neue erregend gleichsam im Mittelpunkt aller Geräusche. Man erhob sich, man schwang Gläser, helles Frauenlachen sprang für Augenblicke auf, Bewegung war an allen Tischen, unsichere Hände griffen nach den großen Glasflaschen, aus denen der hellgelbe Wein rascher verschwand ... Katharina bemerkte, daß ihr Tisch mitten darunter eine zwar gefällig mitlächelnde, aber stille Insel bildete... Jemand stand groß auf unter den vielen Menschen, ein paar Tische weiter. Er hatte das Glas in der Hand, lachte und schwankte und ging, vorsichtig das Gleichgewicht haltend, zwi­ schen den Sitzenden durch, die ihm grinsend nachblickten; dann war die breite Gestalt ganz nahe, Katharina sah ein gutmütiges, weingerötetes Gesicht mit lippenhängerischem Schnurrbart... „Alsdann, meine Herr - schäften, nur gemüt - lieh - was nützt die Traurigkeit - zu der is’ später Zeit - wann ma’ scho’ steinalt

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is’ und nimmer hupfen kann - so schöne Damen! Prosit! Nur gemütlich! Warum denn gar a’ so stad’..man stieß lächelnd mit dem Biederen an. „Pupperl!“ rief er plötzlich mit hoher Stimme, breitete die Arme aus und sah schwimmenden Auges auf Katharina herab, „so ein fesches Frauerl! ich gratuliere Herr Baron, meinen auf-rich-tigsten Gli-i-ckwunsch.“ Folrad schüt­ telte, freundlich auf den Spaß eingehend, die breite Hand, die ihm geboten wurde... Katharina lachte, die anderen übten gefälliges Mitlächeln - „und die Gnädige hat si’ aber an bildsauber’n jungen Herrn ausg’sucht“, wandte sich der Biedere an Grete Nagl; er hob mit tastender Hand sein Glas, das er knapp an den Tischrand gestellt hatte - „Prosit das schöne junge Paar!!“ rief er jetzt laut und mit einer weitausgreifenden declamatori­ schen Armbewegung; man trank ihm freundlich zu... Katha­ rina sah im Augenblick zwischen Agnes Hausvogt und Ansinger durch, begegnete dem gesuchten Blick, hob das Glas hoch und nippte lächelnd; drüben beeilte man sich, mit einer geehrten und ungeschickt raschen Verbeugung des Oberkörpers das Gleiche zu tun ... Der Biedere hatte sich inzwischen mitten im Gespräch lang­ sam umgewandt und war nach ein paar Schwankungen an einem anderen Tisch gelandet, wo er gleich weiterredete... Die kleine Gesellschaft fühlte sich ein wenig befreit, das Gespräch mit dem gemütlichen Mann hatte schon etwas lange gedauert - jetzt aber lachten alle und fanden das Ganze urko­ misch. Schlaggenberg rief dem Beschwipsten noch etwas nach, aber Ansinger legte dem Gymnasiasten die Hand auf den Arm, als ob er sagen wollte, daß es nun doch genug sei... Katharina sah das und ärgerte sich darüber. „Es müssen ja nicht lauter überspannte und nervo - ö - se Herren auf der Welt sein - mir is’ der dort im klan’ Finga liaber“, dachte sie deutlich und in Worten, und sie nahm, noch immer im Arger, ihr Glas auf, trank es leer und wurde ziemlich schwindlig. Aber sie ließ sich von Folrad gleich wieder einschenken; der sah sie ein wenig belustigt an und lächelte zufrieden ... Die Musik spielte einen Marsch, von irgendwoher pfiff je­ mand gellend mit, ein „Juhu!“ tönte aus der anderen Ecke des Saales. Katharina wurde durch das alles nicht mehr recht leb­

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haft... Das ständige Brausen und Summen der vielen Stimmen lag ihr ermüdend im Ohr, sie sah gerade vor sich hin und hatte das Glas von sich geschoben. Händeklatschen flatterte auf; dann wieder Musik, auf dem Podium machte jemand Tanzbewegun­ gen und schlug die Handflächen im Takt zusammen... Ein Kellner stand eine Weile beim Tisch, Katharina hörte die Stim­ men wie mit verstopften Ohren. Die Anderen standen alle auf und schoben die Sessel zurück, auch Katharina erhob sich und fuhr in die Ärmel ihrer Frühjahrsjacke, die ihr jemand höflich bereithielt; sie gingen zwischen den Tischen durch, es war dann kühl und dunkel auf dem Hof, das Stimmengewirr blieb zurück und brach ganz ab, als sie aus der Toreinfahrt auf die Gasse traten. Im Weitergehen hörte Katharina noch einmal die Musik spielen, schon ganz schwach; sie gingen eine Weile rasch und schweigend durch die vollkommen stillen Gassen. Die Fenster der niedrigen Häuser waren alle dunkel, nichts regte sich. Nur einmal kamen Stimmengeräusch und Musikklänge aus einer Wirtschaft, sickerten ein Stück in die Dunkelheit und waren bald wieder ausgelöscht. Auch die große Straße lag ganz still; bei der Tafel an der Haltestelle standen ein paar Menschen und blickten in der Richtung, aus welcher die Tramway kommen sollte. Man sah weithin die Reihe der Straßenlaternen, immer kleiner wur­ den sie, vor jeder schimmerte ein Stück des Geleises am dunklen Pflaster. Ganz ferne bewegten sich endlich gelbliche Lichter und wuchsen, noch ohne vernehmbarem Geräusch. Eine Klingel schlug an, noch weit, dann hörte man Rollen, man konnte schon die Signalscheibe mit dem Buchstaben sehen - bald war er auch zu lesen; die Straße wurde heller um die beleuchteten Wagen. Das ansteigende Jammern und Jaulen der Räder ließ nach, die rote Stirnwand und die hellen Fenster glitten langsam an der Haltestelle vorbei, alles ging auf die Trittbretter zu ... Die kleine Gesellschaft machte sich im gelben, hellerleuchte­ ten Innenraum breit; Katharina setzte sich gleich nieder. Der Wagen fuhr rasch und schwankte, die dunklen Häuserfronten zogen draußen in schneller Kette an den Fenstern vorüber... Von Zeit zu Zeit klang die Klingel scharf und heftig in das Sausen der Räder unter dem Fußboden. An der Decke pendelten die Lederhandgriffe hin und her... Katharina sah vor sich hin und

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las... „Annoncen auf Fahrscheinen! Scini u. Co ... Simonsbrot“ ... Die Räder rauntzten ihre Scala herab, das Licht ver­ löschte für ein paar Augenblicke, der Wagen hielt, fuhr wieder an, mit einem leichten Ruck, und die Glasscheiben begannen zu zittern. Licht und Klingeln eines in entgegengesetzter Richtung fahrenden Zuges waren für ein paar Augenblicke da und wieder weg. Die Straßen wurden ein wenig lebendiger, gegen das Innere der Stadt zu; große, gelberleuchtete Scheiben von Kaffeehäusern glitten vorüber, andere Straßenbahnwagen kamen aus Seiten­ gassen, fuhren in Bogen und Schleifen über einen großen Platz. Eine Kirchturmuhr mit leuchtendem Zifferblatt schwebte hoch oben im Schwarz. Der Wagen fuhr langsam eine Kurve und hielt, sie stiegen aus, Katharina bog das Genick zurück und sah in den hohen, bläulichen Lichtnebel einer Bogenlampe. „Also auf Wiedersehen - gute Nacht - servus - gute Nacht!“ Die anderen verabschiedeten sich. Ein Automobil fuhr in der Mitte der breiten Straße, Folrad hob die Hand und ging darauf zu. Das Automobil fuhr langsamer, die Pneumatiks schabten am Pflaster. Folrad öffnete den Schlag, Katharina stieg ein und ließ sich in die Polster fallen. Der Motor schnurrte, dann stieg Folrad ein, es gab einen weichen Stoß, draußen zogen Lichter und dunkle Massen schnell vorüber. Katharina sah vor sich hin, durch die Glasscheibe und auf den schwarzen, breiten Umriß des Chauffeurs. Es machte ihr im Augenblick einen gewissen Eindruck, wie sicher und selbstverständlich der da draußen saß und lenkte. In den Kurven lehnte sie sich an Folrad. Sie glitten nun wieder durch ganz stille, schwarze Gassen, über Asphalt; dann fuhr der Wagen an den Gehsteig heran und hielt. Katha­ rina vermochte im Augenblick nicht gleich aufzustehen, eine eigene Trägheit hielt sie auf ihrem Sitz. Folrad öffnete den Schlag und stand schon draußen; da erhob sie sich mit einem kleinen Ruck und stieg aus und ging geradewegs über den Gehsteig auf die Haustüre zu und fühlte sich hier gleichsam aufgehalten und aufgefangen. Sie drückte auf den Elfenbein­ knopf der Klingel. Hinter ihr schnurrte der Motor. Ein Schlüs­ sel rasselte von innen. „Also, schlaf’ recht gut, gute Nacht, auf Wiedersehen morgen - gute Nacht.“ „Ja, auf morgen - gute Nacht - “, Kerzenschein fiel durch den Spalt der Türe. „Guten

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Abend, gnä’ Fräul’n“ Katharina war froh, als sie gleich das Geldstück für die Hausmeisterin fand, ohne lang zwischen den Münzen im Täschchen suchen zu müssen. Von draußen hörte sie das Pfauchen des wieder anfahrenden Automobils. „Hier is’ der Leuchter, gnä’ Fräul’n“ „Dank’ schön, gute Nacht, Frau Pawlicek“ „Gute Nacht, gnä’ Fräul’n“ Katharina stieg die Treppen, ihr war dabei ein wenig schwindlig, der Kerzenschein schwankte und zuckte stark an den Wänden. Sie blieb vor der Türe ihrer Wohnung stehen und starrte in die Flamme des Lichtes. Dann erwachte sie gleichsam, steckte den Drücker in’s Schloß, der schwarze Türspalt öffnete sich lautlos. Sie klappte die Türe hinter sich zu, dabei hielt sie den Leuchter schief, die Kerze ging aus, Katharina stand einen kleinen Augenblick lang träge und reglos im Dunkeln. Dann entschloß sie sich mit einem kleinen, plötzlichen Ruck, stellte den Leuchter ab und ging, den Türdrücker in der Hand, durch die zwei vorderen Räume in ihr Schlafzimmer. Sie ging jetzt ziem­ lich rasch, ohne irgendwo an ein Möbelstück anzustoßen, und sie empfand eine gewisse Befriedigung darüber. Als sie im Schlafzimmer das elektrische Licht einschaltete, mußte sie die Augen halb schließen. Die Vorhänge standen als hohe weiße Flächen im Hintergrund, und die vier Glühbirnen der Hänge­ lampe strahlten blendend in alle Ecken des Raumes. Katharina warf Hut, Jacke und Schlüssel auf den Divan und setzte sich nieder. Die Häckchen an Bluse und Rock glitten ihr oft aus den Fingern, sie waren schwer zu öffnen, und es waren viele. Katharina lehnte sich zurück, sie stützte sich auf die Ellbogen. Eine Weile blieb sie so, dann versuchte sie, mit den Fersen die Halbschuhe abzustreifen, ohne sich sonst zu bewegen. Das elektrische Licht blendete Katharina, sie sank ein wenig zu­ rück......... es wird nur manchmal dunkel, wenn der Wagen hält ... der Conducteur sollte das Licht überhaupt abdrehen ... er führt den Wagen so sicher ... mit dem Schnurrbart, ein fescher Kerl... der is’ ma im kleinen Finger lieber... Die Schuhe fielen klappend auf den Fußboden. Es wurde Katharina bewußt, daß sie eingenickt war. Sie schloß die Augen wieder und dachte daran, daß sie zu Bett gehen und das Licht auslöschen sollte; aber sie blieb regungslos. Endlich begannen ihr die Ellbogen müde zu

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werden und einzuschlafen. Sie richtete sich mit einer plötz­ lichen Bewegung auf, blinzelte in’s Licht und begann ihre Klei­ der abzustreifen. Dann schritt sie ein wenig unsicher durch das Zimmer, auf ihr Bett zu. Im Vorbeigehen griff sie an den Schalter und knipste das Licht aus. Sie legte sich auf das Bett, drehte sich zur Seite und zog die Knie an... Der eine Vorhang war nicht ganz geschlossen; in der Mitte blieb ein schmales Stück des Fenster’s frei. Der schwache Schimmer einer Straßen­ laterne von draußen lag darin ... es muß schon dunkel sein ... die Laternen brennen ja schon ... ich möcht’ schon endlich hinunter ... aber da, in dem grünen Laubkäfig ... mit den feinen Herr’n ... man kommt zu nichts ... „pardon!“ ... also gehn wir schon zum „Heurigen“! ... es ist schon dunkel, aller­ höchste Zeit ... Die Herr’n machen aber alle Umständ’ ... unten werden’s dann auch so g’schraubte Manier’n haben. Nicht einmal hinausschaun kann man, der Ansinger und die Klavierfräul’n gehen nicht auseinander, man müßt’ die Zwei mit der Vorhangschnur weiter auseinanderziehn ... daß man endlich amal die feschen Kerl’n sehn kann. Die ganzen Arbeiter aus der Druckerei kommen ja schon daher ... so fesche Män­ ner. Besonders der mit’n Schnurrbart ... der sollt’ ma scho’ endlich amal was Kühles bringen ... so a’ Hitz ... a Tatzeri mit Eis?... Jessas! so viele Arbeiter ... grau, grau ... aber starke Bursch’n san d’r des! ... die ruhn si’ dann da drob’n von d’r Hitz aus. Aber die Arbeiter müss’n in der Druckerei aufpass’n... daß sie sich nicht das weiße Hemd vom Frack schmutzig mach’n... Sonst müssen’s des all’s z’ammrechnen, des is sehr vül Geld ... Jetzt kommen’s scho’ alle daher, muß’ scho’ sechs Uhr sein, da ist dann drüb’n Schluß in der Druckerei, da rechnen’s dann zamm’, im Frack, und nacha’ gengan’s mit dö Zettln ham... Jetzt muaß aba no ana mit mir, von dena! dann is aba Schluß! Bei so ana Kält’n bis in d’r Fruah auf d’r Gass’n sein... komm! komm! - alle geh’n vorbei, alle gehn’s weiter, sie haben’s scho’ zusamm’gerechnet für den feinen Herr’n ... so sicher geht das ... ja, jetzt kann i doch net scho’ weggehn mit dem Herrn, mit dem Einen ... san’ do’ so vüle da ... dö ganze Gass’n is voll ... also schon hinunter, man sieht scho’ wieda nix, da kann ma’

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ziag'n an dera’ Schnur, dö Klavierfräul’n geht net auf die Seiten ... und immer nur auf den einen elegant’n Herrn warten ... da laufen nachdem’ alle andern davon ... bei so aner Kält’n auf d’r Gass’n ... nicht einmal die Decke hab’ ich umgenommen ... da muß ich ja unter die Decke kriechen endlich ... Natürlich ist mir kalt! Katharina erwachte fast ganz, und es wurde ihr bewußt, daß sie in Hemd und Strümpfen auf dem Deckbett lag. Sie kroch fröstelnd unter die Decke, zog die Knie fast ganz unter das Kinn und griff an ihr rechtes Bein, um den Strumpf herabzustreifen. Aber sie fühlte plötzlich so große Müdigkeit in Hand und Arm... ... Jetzt gehn die Ander’n alle weg, und man bleibt natürlich mit dem Einen allein ... aha, des is’ ja der dicke Alte, mit den letschat’n Schnauzbart... wo is dö Sparbüchs’n ... da muaß erst g’spielt werd’n drauf... dö Weanastadt hat drauf Sait’n aufzog’n ... der Weana Reichsapfel ... aber der da ob’n, der spielt drauf. Er bild’t sich was ein, daß er drauf spiel’n kann ... was hab ich vergess’n ...?... was sollt’ ich denn tun ...? Den Feschen mit’n Schnurrbart! Den Feschen mit’n Schnurrbart! ... der is’ ja noch unt’ auf d’r Gass’n mit meine Strümpf... und jetzt gehn erst die Hafteln net auf!...

Anmrkg: i.) alle Dialectstellen der vorhergehenden Scenen sind bei einer eventuell. Ausarbeitung genauestens durchzu­ sehen und die Lautzeichen zu korrigieren und festzustellen (eventll. auch stellenweise der Text zu korrigieren; dialect. Wendungen!) i.) Traum (Halbschlaf)- Scene: der Wiener Dialect steigert sich gemäß dem schwindenden Bewußtsein! Katharina ist soweit Strebernatur, daß sie sich das Hochdeutsche ihrer neuen Umge­ bung in den letzten Monaten immerhin etwas angewöhnt hat; wenn sie aufpaßt, spricht sie immerhin schon so halbwegs ähnlich den Anderen, deren Sprache ja auch bis zu einem gewis­ sen Grade vom Dialect gefärbt ist. Demgmss. wenn sie nicht aufpaßt etc. etc. Auch hängt der Wechsel zwischen beiden

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Denktonarten im Halbschlaf von dem jeweiligen Gegenstd. ab, mit dem ihre durch den Wein u. d. Müdgkt. verworrene Phantas. gerade beschäftgt. ist. 3.) Die Dialect(-und „Hochdeutsch“)-Stellen der Halbschlf. Sc. bedürfen noch d. Krrktr. u. Feststllg. Der Wiener Dialect muß aber (soweit das ohne Beeinträchtg. d. Tonart mögl. ist) stets dem Hochdeutschen denkbar angenähert werden! damit die Verständlchkt. mögl. groß ist. (Im Vorhergehenden sind viele Dlct.-Stlln. durch viel zu krasse Lautzchn wiederge­ geben!)

IV. anschließend

Katharina fühlte das weiche Kissen unter dem Kopf; sie vergrub das Gesicht noch mehr hinein und lag so eine Weile im Halbschlummer. Dann legte sie sich auf den Rücken, hob dabei die Lider und sah, daß es vollkommen hell im Zimmer war: gleichmäßig nüchternes Tageslicht. Kein Sonnengold schien durch die Vorhänge, die blaß und hoch von den Messingstangen hingen. Die kleine Pendule flüsterte leise. Katharina lag reglos auf dem Rücken. Sie war hell wach und ausgeschlafen: aber eine Art von Unentschlossenheit lag über ihr, drückte sie gleichsam nieder und lähmte jeden Ansatz zu einer Bewegung. Kein Laut war um sie her, außer dem gleichmü­ tigen Fortflüstern der Uhr. Nur einmal tönte ein ferner Pfiff von der Gasse. Wie sie so still lag, überkam sie leichte Unlust und gleichsam vorschauende Langeweile: das Aufstehen jetzt, der Vormittag, alles, was etwa ihrer wartete, erschien ihr freudlos und leer. Und sie blieb noch immer reglos liegen. Endlich bewegte sie die Füße ein wenig. Dabei spürte sie, wie sich Seide an Seide rieb, und es wurde ihr bewußt, daß sie darauf vergessen hatte, die Strümpfe auszuziehen. Katharina setzte sich mit einer raschen und plötzlichen Bewegung im Bett aufrecht. Sie sah gerade vor sich hin, während sie gedankenlos mit der linken Hand den einen Strumpf herabzustreifen begann. Als sie

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das ziemlich enge Seidengewebe über die Ferse ziehn mußte, warf sie endlich die Decke ab und griff auch mit der anderen Hand zu. Dann setzte sie sich auf den Bettrand, zog den zweiten Strumpf aus, schlüpfte in ihre Pantöffelchen und klingelte. Als Katharina in frischer Wäsche aus dem Badezimmer kam dort war es ihr erst bewußt geworden, daß sie auch vergessen hatte, das Hemd für die Nacht zu wechseln -, fühlte sie sich wohler und empfand die Dinge um sich her ein wenig freund­ licher. Sie setzte sich rasch an den Toilettentisch und begann ihr Haar zu kämmen. Indes wurde ihr dabei die Hand heute oftmals müde, und wenn sie dann so saß, mit herabgesunkenem Arm, den Kamm in der Rechten, hatte sie unter allem doch die eine Empfindung: daß jetzt der Tag da vor ihr war und sie darin nichts Rechtes anzufangen wissen würde. Aber sie half sich unbewußt damit, in den Spiegel zu sehen: dabei empfand sie dann immer eine stille Genugtuung über ihr Bild. Durch die Vorhänge brach plötzlich das volle Gold der Vor­ mittagssonne, als hätte ein unsichtbarer Theatermeister mit einem Male die Beleuchtung eingeschaltet. Katharina wandte den Kopf, während sie noch den Arm erhoben und den Kamm im Haar hielt, und sah in die durchleuchtete Fläche des Seidenstoffes, der bis zu den Messingstangen empor hochaufgeflammt im Golde stand. Der Schatten des Fensterkreuzes trat scharf hervor, so kräftig waren die Sonnenstrahlen. In diesem Augenblicke aber drang von ferne, von draußen her, ein Ton in das stille Zimmer und legte sich verdeckend über das leise Flüstern der Uhr: ein tiefer und breiter Ton, einmal, noch einmal, noch nicht laut, noch fern. Und dann wieder von weither ein schellendes und schallendes Geräusch und Gesumme. Katharina horchte auf, den Arm noch immer erho­ ben Dann, mit einem Male, war da ein Rhythmus: bum, bum - bum bum bum ... und dann wieder die tiefen Baßtöne, höhere waren schon darüber vernehmbar, breit und prahlend kam es näher. Ein rasches Lachen flog über Katharinas Gesicht, sie sprang auf und lief, den Kamm in der Hand, zum Fenster. An der Quaste zog sie so heftig, daß die Vorhangschnüre kreischend über die kleinen Rollen liefen; die durchleuchtete Seidenfläche rauschte auf und teilte sich.

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Die Sonne brach hell in’s Zimmer. Katharina griff rasch an die Fensterriegel; sie öffnete die inneren Flügel, warf das lange, viereckige Kissen zu Boden und entriegelte das Außenfenster Mit einem Male war das Trompetengetön der heranmarschie­ renden Militärmusik stärker, gleichsam plötzlich nähergebracht. Katharina war es, als hätte sie bis dahin die Ohren verstopft gehabt - viel Sonne brach in breiter Bahn durch’s Fenster, und ein leichter Luftzug strich ihr an den Wangen vorbei. Sie lag im Frisiermantel, den Kamm in der Hand, auf dem Fensterbrett und sah in den strahlenden vormittäglichen Son­ nenüberfluß, der, von einer Häuserfront zur anderen zurückge­ schleudert, die Straße weißleuchtend machte. Noch stärker und näher klangen die dumpfen und schmetternden Töne der Mu­ sik -. Zwei Häuser weiter war die Straßenkreuzung. Dort, auf dem breiteren Fahrdamm der Querstraße, mußte hinter dem Eckhaus hervor die Musik kommen. Katharina heftete den Blick im voraus auf das Pflaster, gleichsam, um ja nichts zu versäumen und sofort beim Sichtbarwerden der Soldaten mit dem Blick zugreifen zu können Leute blieben unten stehen und sahen alle in einer Richtung. Schmetternd und brummend, hell und prahlend kamen die Töne, schon von ganz nahe Mit einem Male war da Einer - blauer Rock, am Stab gläntzte der Knauf. Und hinter ihm kam es breit daher, mit dem plötz­ lich, mit einem Ruck, ganz stark andringenden Tonschwall: vier und vier, die Instrumente blitzten reihlang. Breit schob sich die Truppe über den Fahrdamm. Und das Widerblitzen des grellen Sonnenlichtes vom blankgelben Blech schrie über die Straße, über das weißleuchtende Pflaster und die schauenden Menschen, zusammen mit dem schmetternden Prahlen der Trompeten und den allesumsausenden Cinellenschlägen. Dumpf tönte die Pauke, wie der innerste Herzschlag dieser ganzen Auftürmung von Sonnenlicht, Trompetenschall und Masseneinherzug Das Pferdchen mit dem Paukenwagen verschwand zuletzt, merklich fing das nächste Eckhaus den Schall ab: und dann hörte man schon den Tritt der endlos nachziehenden Truppe.

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Die Musik hatte den Marsch zu Ende gespielt und brach ab. Es blieben nur die dumpfen Takttritte der Viererreihen auf dem Pflaster: rrrum ... rrrum... Katharina, noch immer ganz und gar festgehalten, sah auf die vielen, vielen grau gekleideten Männer hinab, die, vier und vier und vier ... endlos über den Fahrdamm zogen.

nachdem sich bei ihr schon deutlich etwas gemeldet hat, und eine Reihe von zufälligen Umständen ihr es jetzt bereits fast zu Bewußtsein bringen, wird die Geschichte damit enden, daß sie eines Tages glatt davonläuft, wieder dorthin, von wo sie einmal gekommen ist.

Fortunatina und die Löwin. Ein Märchen

In seinem Buche „Aschanti“ berichtet Peter Altenberg von der lieblichen und engelgleichen Fortunatina, daß sie, beim Betrach­ ten der Löwin im Tiergarten, lange am Gitter des Käfigs verweilt habe, wie versunken, und daß die großmächtige Löwin selbst jenseits der Gitterstäbe still dagestanden sei, den Blick auf das zarte Kind draußen gerichtet. So hätten die beiden einander angesehen, und es ist durchaus verständlich, daß der Hofmei­ ster, der Fortunatina und ihren Bruder begleitete, dabei bewegt wurde und seinerseits ganz in’s Anschauen dieses absonderlich und rührend gegensätzlichen Bildes versank. Der Dichter be­ richtet dann noch viel Schönes und Tiefes von Fortunatinas Tiergartenbesuch, wir aber wollen es uns nicht einfallen lassen, das alles hier in mangelhafter Weise wiederzugeben; vielmehr möge derjenige, der zu wissen wünscht, was Fortunatina sonst noch alles im Tiergarten erlebt habe, die wahrhaftige Erzählung des Dichters selbst lesen. Für uns aber beginnt hier ein Märchen, das wir Fortunatina verdanken, und eigentlich hat es ja schon begonnen, in dem Augenblick nämlich, als sich die Blicke des Kindes und der Löwin begegneten. Und da es nun einmal ein Märchen ist, so dürfen auch die schwarzen und starren Eisen­ stäbe, die zwischen den beiden aufragen, verschiedenes tun und sogar erleben, was sonst einer Stange einfach nicht erlaubt ist: denn Eisen ist eben hart wie Eisen und kalt und ganz fühllos und hat einfach so zu sein; die Welt würde sich alles andere ganz gewaltig verbitten, es herrscht so schon ein peinlicher Überfluß an fühlenden und empfindenden Wesen am unrechten Platz, die sich’s wahrhaftig alle schenken könnten: wie viel leichter ließe sich so vieles dann machen! Aber, Gott bewahre, wie würden die Schwierigkeiten anwachsen, wenn, um nur ein Beispiel zu nen­ nen, jeder Holzklotz, auf den man mit der Axt hindrischt, nicht nur Widerstand leisten, sondern überdies noch kleine Schreie

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ausstoßen würde! Aber gerade in einer so beschaffenen Welt hätte sich Fortunatina, die jene andere, gebräuchliche, eigentlich gar nicht kannte, völlig zurechtgefunden, ohne darin irgendwo anzustoßen. Und eigentlich lebte sie ja in einer solchen Welt, in ihrem eigenen schneereinen Seelchen, und von da aus sah sie, was um sie vorging. Aber schon in ihrem kleinen und behüteten Kreis gab es Geschehnisse, oft so ganz kleine Geschehnisse, die in dem stillen und himmelspiegelnden Weiher ihres ungeteilten Daseins (ein Stücklein von diesem Weiher konnte man in ihren Augen blauen sehen) hilflose und erschreckte Weilchen des Staunens erzeugen konnten. Aber vielleicht erreichte gerade in solchen Augenblicken ihre Sanftmut eine wahre Art von Kraft, als wollte sie damit immer noch alles wieder gut und friedlich machen und versöhnen; und in Wahrheit glaubte sie ja auch daran, daß dies möglich sei. Aber alles das geht ja ganz deutlich hervor aus dem, was Fortunatina im Tiergarten selbst und nachher, während sie mit dem Hofmeister und ihrem Bruder auf einer Bank sitzt, spricht und fühlt; ihr Dichter berichtet es getreulich in seinem Buch. Für uns steht sie noch immer vor dem Gitter der Löwin, und da ist es jetzt allerdings wichtig, ganz zu begreifen, welche Kraft ihre Sanftmut hatte. Denn wieder warf der stille und himmelspiegelnde Weiher ihres Seelchens hilflose und erschreckte Weilchen des Staunens, angesichts der Ungerührtheit und Härte der Gitterstäbe, die hoch und starr ganz nahe vor ihr aufragten, und wieder hätte sie so gerne das alles versöhnt und ausgeglichen: die Welt versöhnt mit der gefangenen Löwin, die gefangene Löwin mit der Welt, die Gitterstäbe irgendwie begütigt und auch die Menschen, die da hinter ihr auf dem kurz knirschenden Kiesweg vorbeigingen und es selbstverständlich fanden, daß die Löwin eingesperrt war. Und Fortunatina’s Sanftmut, ihre Sehnsucht nach Sanftmut überall (war dies vielleicht schon der Beginn eines Zwiespaltes?) und ihr großer unverletzter Glaube wurden ganz stark, und sie sah aus ihren Augen wie ein Engel. Und diesen reinen Engel zu zerbrechen, vermochten selbst die Eisenstäbe des Gitters nicht; sie hätten aber das zarte Seelchen, das in vollem, ungehemmtem Fluge da ankam, sicherlich beschädigt, es hätte sich gewiß an ihnen sehr verletzt. Da wichen die Gitterstäbe, sie wichen

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wahrhaftig vor dem reinen ungeteilten Licht, sie hatten ganz einfach nicht den Mut, jene Wahrheit, die sie zu vertreten hatten, hier geltend zu machen. Wie unerträgliche Angst rieselte es durch das Metall vor jenem Riß und Schrei, der durch die ganze Welt gehen mußte, wenn das Kind verletzt würde, und die harten Eisenstäbe fühlten sich zu ihrem Amt verdammt und verurteilt wie zu einer Höllenstrafe: da lösten sie sich auf in ihrer eigenen Qual, sie verzichteten auf ihr Amt und ihr gutes Recht und sagten nicht „ja“, sondern „nein“ dazu und zu dem, was sie bisher gewesen waren und weiter hätten sein sollen. Erst er­ weichte sich das Eisen in seinem innersten Kerne, und dann drängte es wie eine heilige Glut nach außen. Die dicken Gitter­ stäbe wurden weich wie heißes Wachs, sie bogen sich und fielen zusammen und schwanden dahin, sie lösten sich in der Luft auf wie Nebel. Und ein wahrhaftig schönes und reines Klingen schwang leise und wie ein befreiter und erlöster Seufzer in dem vergehenden Metall. Fortunatina aber machte noch zwei kleine Schritte vorwärts mit ihren kleinen Füßen, und nun stand sie ganz nahe bei der Löwin. Da wußte sie jetzt nur eines zu tun: sie hob ihre Hand (ihre Hand, die rein war wie ein eben aus der Knospe geschnelltes junges Blatt, und wie ein solches atmete sie gleichsam selbst durch die zarte Haut), und mit ihrer Hand streichelte Fortunatina die Löwin ein ganz klein wenig am Kopf, zwischen den Ohren; wie eine schüchterne Anfrage und Begüti­ gung ging dieses leise Streicheln über den großmächtigen Kopf der Löwin hin. „Du bist ja schön und gut, ich hab’ es ja gewußt“, sagte Fortunatina, denn sie empfand es wie eine erwartete Ant­ wort auf ihre Anfrage, als sich das schwere Tier leise erbebend an sie schmiegte. „Aber wir wollen fortgehen von hier“, fuhr sie dann fort, und in ihrem feinen Stimmchen klang jetzt etwas wie Triumph und Trotz, „wir wollen fortgehen, denn wenn man uns hier beisammen sieht, giebt es sicher einen großen Lärm, alle werden sich schrecklich aufregen, der Wärter wird gelaufen kommen, man wird uns trennen, natürlich. Weil du eine Löwin bist; und die wissen alle garnichts, nichts. Ich möcht’ mich gerne auf deinen Rücken setzen, und du trägst mich fort, du bist stark; oh, ich fürchte mich ja garnicht vor dir, das ist so lustig!“ Und damit stieg Fortunatina auf den Rücken der Löwin, und die

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Löwin begann zu laufen, immer gerade aus. Denn auch die Mauern des Käfigs hatten sich eines Besseren besonnen und waren verschwunden, und nichts hinderte die beiden mehr. Alles war mit einem Male verwandelt, anders und schön gewor­ den: zwischen einzelnen Palmen und Palmengruppen hin zog sich ein lieblicher Wiesenplan, der im leisen Windhauch gleich­ sam atmete; sanft wie ein ruhiger Atem ging das wellige Schwin­ gen des hohen Grases weit dahin, man konnte ein silbriges, ruhigbewegtes Schimmern noch zwischen fernen Palmenhainen ausnehmen, wie eine friedliche Welle, die weit draußen auf der beglänzten See sich der Sonne entgegenhebt. Fortunatinas wun­ derbares Reittier aber lief in einem sanften, wiegenden Trott durch das hohe Gras, immer weiter, während sich die Palmen­ haine links und rechts verschoben, bald zurücktraten, um eine breite, sanftwogende Wiesenfläche freizugeben, bald wieder enger und schattig zusammenrückten. Die hohen Palmenwipfel oben vor dem tiefblauen Himmel schwangen leise und feierlich bewegt in der sanft rauschenden Stille, und dann und wann fuhr ein kleiner, bunter Vogel blitzschnell durch das Sonnengold, wie ein funkelnder Edelstein. Wie war Fortunatina glücklich! Sie dachte irgend ein Wort: „Arabien“ etwa oder „die Palme“, und dieses Wort war dann gleichsam übervoll für sie und löste sie ganz auf in Freude und Dankbarkeit, so daß sie sich vorneigte und, die eine Hand auf das weiche Vließ der Löwin gestützt, mit der anderen den Kopf ihrer großmächtigen Freundin streichelte. Alles, was sie sah, floß in einem breiten Strom von Glanz und lichter Farbe durch ihre reinen und erhellten Augen geradewegs tief, tief in sie hinein, wohnte wieder als Glanz in ihr und füllte sie ganz aus. So zogen die beiden, Fortunatina und die Löwin, durch eine herrlich schöne Welt, und der aufstiebende Blüten­ staub, der sich erhob, während die Löwin durch das hohe Gras brach, stand um sie und das Kind wie eine Wolke von Duft und reiner Freude und lag hinter ihnen auf ihrem Wege noch lange fein und sinkend in der Luft, wie eine Spur und ein letztes feines Wehen dieser Freude. Und sie zogen lange so dahin, so lange schon, daß Fortunatina sich auf nichts anderes mehr besinnen konnte als auf dieses seelige Schweifen durch das Paradies. Nachts schlief Fortunatina immer an den warmen Leib ihrer

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großen Freundin geschmiegt, und ihr feiner Vogelatem füllte die langen Pausen zwischen den dumpfen und knurrenden Atemzü­ gen der Löwin wie mit einem hauchartigen Gezwitscher aus. Das starke und brusttiefe Atmen des Tieres aber ging ganz im Ein­ klang mit den großzügigen Geräuschen der Nacht, mit jenen Tönen, die so ruhig und gelassen sind, daß sie keinen Schläfer stören und wecken: der leise an- und abschwellende Windatem und das steigende und schwindende Rauschen in den Kronen der Bäume, die dem Wind bis in die feinsten Blättchen hingegeben und träumend gehorsam sind. So ging hier der Atem der Löwin wie zusammengestimmt mit dem langsamen Neigen und Er­ schauern der Palmwipfel und dem feinen, langatmigen Rauschen des Windes im hohen, erzitternden Gras. Fortunatina aber schlief gleichsam warm eingehüllt in dem Dunstkreis, der um das tief ruhende Leben des gewaltigen Tieres lag; und sie schlief ruhig, meist die ganze Nacht durch, ohne zu erwachen. Wenn es aber doch einmal geschah, daß sie die Augen aufschlug und ihr Blick sich von den Schleiern ihres reinen und kindlichen Schlafes allmählich befreite und hoch hinauftauchte in den breiten und tiefen, hellgestirnten Himmel, dann war ihr Erwachen kein enttäuschendes und plötzliches Geschiedensein von schönen Träumen: vielmehr fand sie alles wieder und bestätigt. Und sie schmiegte sich ganz voll von Freude und Dankbarkeit enger in das warme Fell der Löwin und dachte an alles, was morgen sein würde: die Sonne und der warme Wiesenduft und ein Büschel frischer Datteln, die sie wieder unter einem der hohen Palm­ bäume finden würde; oder die Rast an einem kleinen Wasserlauf und das Waten mit den bloßen Füßen darin, während ihre Freundin den dicken Kopf über das Wasser gesenkt hielt und in großen, schlappenden Zügen trank. Fortunatina lachte ein wenig in der Dunkelheit, und damit schlief sie nun wieder ein. Wie immer zogen die beiden am anderen Morgen weiter, und eine lange Wanderwolke von Blütenstaub stand und sank schon hinter ihnen, während im Osten der letzte Zwiespalt zwischen dem neu heraufgekommenen Tage und der zergehenden Nacht noch nicht ganz beendigt war, vielmehr das sonst schon einheit­ liche und erklärte sonnige Blau des Himmels dort noch immer in Glut und bewegte Farben aufgelöst stand, gleichsam aufgeregte

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Fanfaren, die den endlichen Sieg des Tagesgestirns verkündeten. Fortunatina wiegte sich im weichen Trott der Löwin, die uner­ müdlich schien, naschte Datteln und griff dann und wann zur Seite nach einer oder der anderen Blume, die ihr besonders gefiel. Sie hatte bald einen ganzen Strauß gesammelt, und wie sie so, die Blumen in der Rechten, die Linke leicht nach rückwärts auf das weiche Fell der Löwin gestützt, in den lobpreisenden Morgen hineinritt, mochte sie selbst aussehen wie ein lebendiger Glück­ wunsch zu ihrer eigenen Fröhlichkeit. Gegen Mittag kamen sie zu einem klaren Wasserlauf, der sich inmitten eines lichten Palmenhaines in einem kleinen Weiher sammelte, und Fortuna­ tina, der es eigentlich noch garnicht aufgefallen war, daß sie schon lange keine Kleider mehr trug, plätscherte munter darin herum, während ihr die Löwin, am Rande des Weihers gelagert, aus blinzelnden Augen zusah. Es fanden sich auch Blumen, und Fortunatina bekränzte ihre große Freundin über und über, spielte mit ihren Pranken oder vergrub ihr nasses Gesichtchen in das weiche und dichte Fell. Die beiden blieben noch bis in den späten Nachmittag hinein an dem lieblichen Ort, erst als es dämmerte, setzten sie ihren Weg fort, immer nach Osten zu, in den duftig verschleierten Abend hinein, während in ihrem Rükken der Himmel breit und prangend in den leidenschaftlichen Farben des Sonnenunterganges stand. Erst als die Dunkelheit völlig hereingebrochen war, lagerten sie sich, und Fortunatina schlief so glücklich ein wie immer. Tief in der Nacht aber erwachte sie plötzlich und schauerte vor Kälte; Fortunatina erschrack darüber, es griff sie gleichsam hart an, denn es war das erste Mal während ihrer langen Reise durch das Paradies, daß sie irgend ein Unbehagen empfand. Im Augenblicke zwar beruhigte sie sich wieder und sah jetzt den Grund ihres sonderbaren Durchkältetseins: sie lag etwa eine Armlänge abgerückt von der Löwin, deren zusammenge­ krümmter Körper sich im Sternenschein als ein großer dunkler Buckel von stumpfem Schwarz aus der ebenen Grasfläche hob; ihr knurrender Atem zerteilte kräftig die Stille. Fortunatina kroch fröstelnd zu ihr hin und kuschelte sich mitten in den Ring des zusammengekrümmten Körpers hinein, während die Löwin sich kaum im Schlaf regte. Fortunatina erwärmte sich bald

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wieder und lag nun so behaglich wie immer in ihrem Nest: doch konnte sie nicht einschlafen, irgendwie war sie aus ihrem Frieden gebracht, eine Art von Schreck lag noch in den Gliedern; dessen nachhaltige Wirkung aber hielt Fortunatina noch immer unter ihrem Bann, und dies befremdete sie tief und in unbegreiflicher Weise; denn was war denn eigentlich geschehen ? Eine verborgen angstvolle Erregung lag wie ein unruhiges Zittern und Flattern zwischen ihr und dem allseits so tief ruhenden Frieden dieser Nacht und trennte sie davon, die sie diesen Frieden sonst so voll und ganz genossen hatte, ja, wie eins mit ihm gewesen war. Fast traurig sehnte sich Fortunatina danach zurück, sie sah zu den Sternen hinauf und zu den leise wiegenden Palmwipfeln, als wollte sie alte Freunde bitten, sie doch wieder in ihren Bund aufzunehmen. Aber es kam ihr keine Hilfe von dort, nur die Angst begann schleichend und unaufhaltsam in ihr aufzusteigen. Der Wind strich durch das Gras, die Palmenwipfel rauschten auf, wie ein breiter Ton klang es zusammen mit dem unbeküm­ merten und kraftvollen Atmen der Löwin. Fortunatina war es plötzlich, als werde sie klein und kleiner, wie erdrückt, sie fühlte etwas wie ein Versinken in dem warmen Dunst des gewaltigen Körpers, der um sie herumgekrümmt lag. Hilflos staunend sah sie gleichsam, wie die Angst in ihr größer wurde und anschwoll, wie etwas Finsteres und Fremdes, sie verging fast davor. Da kamen auch schon die ersten bebenden Schreie in ihr hoch, irgendwelche Namen und Worte, die so lange schon ganz ver­ sunken und vergangen gewesen waren; jetzt aber ließen sie sich nicht unterdrücken, sie wollten durchaus von Fortunatina ge­ nannt werden und drohten, daß sie jetzt ihre Wirklichkeit gefunden hätten: „die Einsamkeit in der Wildnis...“ „verirrt in der Nacht...“ „die bösen Geister der Wüste...“ „die blutgieri­ gen, reißenden Tiere...“ - oh, nein, nein, schrie es in ihr auf, und sie drückte ihr fast zum Weinen verzogenes Gesichtchen in das warme Fell der Löwin. „Du bist ja gut und schön“, sprach sie sich leise vor, „ich weiß es ja“, und ihre zuckenden Lippen flüsterten inbrünstig immer wieder dieselben Worte und dann viele Kosenamen für ihre Freundin. Aber es half nichts, die Angst war schon übergroß in ihr gewachsen, und sie wagte jetzt nicht mehr, ihr tief in das Fell gepreßtes Gesicht zu erheben und

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sich umzusehen. Da aber geschah das Fürchterliche; die Löwin wandte im Schlaf ein wenig den Kopf, öffnete den herrlichen Rachen weit, mit einem behaglich gähnenden und rülpsenden Ton, und dann schlugen die Kinnladen wieder aufeinander, daß es in der Stille schallte. Das knurrende Schnarchen setzte von Neuem voll und brusttief ein, während jeder Muskel an dem gewaltigen Körper wohlig erzitterte und sich streckte. Fortunatina aber erlitt in diesem Augenblick den letzten, schreienden Trompetenstoß von Angst und Schrecken, und gleichzeitig wi­ derfuhr ihr jenes tief Grauenhafte, das sie sogar am nächsten Tage, mitten in der Sonne und unter dem blauen Himmel, nicht vergessen konnte, das sie nicht mehr eins sein ließ, weder mit diesem Himmel noch mit der Sonne oder mit ihrer großen Freundin, der Löwin: es sollte vielmehr im strahlendsten Licht des Tages als eine dumpfe und angstvolle Erinnerung in ihr sein und wie ein Vorgefühl von etwas unausweichlich Kommendem. In dem Augenblick nämlich, als der tiefe und gähnende Laut des schlafenden Tieres eingesetzt hatte, war Fortunatina jäh empor­ gefahren, ganz durchdrungen von dem einen endgültigen Schrecken, daß sich nun etwas Fürchterlichstes erfüllen mußte. Der Wind strich vom Kopf der Löwin her und brachte erst eine Ahnung, dann aber den vollen Schwaden eines Dunstes mit, dessen bestialische Stärke gerade durch die Unsichtbarkeit über Fortunatina ein letztes und tiefstes Grauen hereinbrechen ließ, das sie jetzt von allen Seiten finster umfaßte und sich wie eine Riesenmasse langsam und drückend auf sie herabsenkte. Sie verhielt den Atem, ihr Herz setzte erst aus, trommelte aber dann förmlich in die Stille hinein, so daß sie nach Luft schnappen mußte und sich der schwere Geruch wie ein dicker, schmutziger Strom in ihre Brust ergoß. Unsagbar, was sie dabei ahnte: roheste und dumpfste Kraft war darin und etwas Süßliches, das ihr rote, grausame Schleier vor die Augen trieb. Mehr hätte sie nicht ertragen, aber jetzt quoll es ihr heiß aus den Augen, und so erlöste sie sich selbst und war mit einem Male nichts weiter als ein einsames Kind in der Nacht, das sich fürchtet und weint. Darum schlief sie auch endlich ein, und während sie noch ein letztes Mal schluchzte, schon bei geschlossenen Augen, war doch eine Hoffnung in ihr auf den kommenden Morgen mit seiner Sonne

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und dem reinen blauen Himmel, unter dem ja alles gut sein mußte. Und wirklich, als es Tag wurde und sie erwachte, übertönte der glanzvolle Aufschwung und Ansturm des Lichtes die vielen dumpfen und dunklen Stimmen, die noch von der Nacht her am Grunde ihrer Seele gleichsam im Halbschlaf lagen, und sie konnte sich für’s erste (wenn vielleicht auch nicht mehr so völlig ungeteilt wie früher?) der überwältigenden Reinheit des neuen Tages hingeben. Doch schon als sie unter den Palmen nach Datteln suchte, überkam Fortunatina, gerade während sie sich niederbeugte, um ein Büschel vom Boden aufzunehmen, das Bewußtsein dessen, was sie während der Nacht erlebt hatte; und wenn sie sich dessen auch nur wie eines Traumes entsann, so war die Erinnerung daran doch eine solche, die befleckt und be­ schwert. So kehrte sie mit gesenktem Kopf und langsamen Schrittes zu der Löwin zurück, in der herabhängenden rechten Hand den kleinen Zweig mit den Früchten haltend. Die beiden setzten nun ihren Weg fort, während Fortunatina sich mit den Augen gleichsam an alles anklammerte, an das edle Wellen­ schwingen des Grases, an die wiegenden Palmwipfel und den Himmel, der auch heute so rein und blau war wie immer. Aber der unbekümmert schöne Tag schien ihr heute sein übervolles Maaß von erhellter Reinheit nur zu ihrer eigenen Qual ent­ gegenzubreiten, und sie mußte, um nur einigermaßen zur Freude zu gelangen, sich durch die Lichtfülle mehr berauschen und betäuben lassen (wie um etwas zu übertönen und zu über­ glänzen), wo sie früher in ruhiger und reiner Fröhlichkeit wahr­ haftig eins mit dem Sonnenschein gewesen war. Ja, als wieder ein kleiner, bunter Vogel wie ein geschleuderter Edelstein vor ihr durch das Sonnenlicht flitzte, empfand sie einen sonderbar deutlichen und hoffnungslosen Schmerz, und es war ihr im Augenblick so, als sei sie selbst im Versinken mitsamt ihren reinen Freudentagen, oder als sei sie schon versunken und mit ihr die Fröhlichkeit von ehemals. Und was davon jetzt noch in ihr lag, mußte sie traurig machen. Uber Fortunatinas Wesen lag aber, trotz allen Zwiespaltes, eine eigene und ergebungsvolle Müdigkeit gebreitet, wie ein falscher Friede, und darin war sie gleichsam verschleiert. Auch stand das unveränderte Wander­ bild der Landschaft im hellen Sonnenschein noch um sie wie ein

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Halt, der trotz allem da war. Erst als die Gegend sich wirklich veränderte, die Palmbäume seltener wurden und das Gras kür­ zer, fühlte sie wie Schauer eine kommende Erfüllung, aber sie blieb ganz still dabei. Denn daß etwas Überstarkes und Fremdes heraufkam, die Ahnung davon war schon lange in allem gewe­ sen, sie fühlte ja immer die Wärme der Löwin unter sich wie eine unwiderstehliche Gewalt, und jetzt war es ihr fast, als versinke sie in diesem heißen, beweglichen Leibe. Bei alledem aber blieb jetzt Fortunatina still und in Müdigkeit; als es dunkel geworden war und sie sich mit der Löwin gelagert hatte, schlossen sich ihre Augen bald, und sie erwachte nicht ein einziges Mal wäh­ rend dieser Nacht. Am nächsten Morgen aber ergab sie sich völlig. Nein, Fortunatina erschrack nicht, als sie den roten Tau bemerkte, der das Gras befleckte, gerade dort, wo es von dem schweren Kopf der Löwin niedergedrückt war. Sie nahm das hin, als hätte sie’s schon früher bemerkt und schon lange gewußt; und ebenso sah sie der öden Landschaft in’s altgewor­ dene Gesicht: kein Baum war da weit und breit, das Gras niedrig und vertrocknet, da und dort trat sandiger und steiniger Boden in großen kahlen Flächen zu Tage. Sie setzten wie immer ihren Weg fort, unermüdlich lief die Löwin durch das nackte und tote, vom heißen blauen Himmel überwölbte Land, hügelab und hügelan: die Gegend wurde leicht bergig, an den Hügel­ kämmen standen die Steine, durch den Wind vom Flugsand entblößt, wie Rippen hervor. Jedesmal aber, wenn sie eine Erhöhung erreichten, wurde Fortunatina’s Blick weit, weit hin­ ausgeleitet durch die endlose Kette von Bodenwellen, nur sel­ ten, daß ihr Auge noch irgendwo ruhen konnte, an einem dürren Strauch etwa, der sich auch hier noch hielt. In der Ferne, an der äußersten Grenze des Gesichtskreises, dort, wo der blaue Himmel auf dem gelben Land stand, schien die Luft in flimmernder Weißglut zu sein, wie ein schmaler Streifen Dampf lag es rund um den Horizont. „Ja“, dachte Fortunatina jetzt, „die Wüste, es ist die Wüste.“ Aber obgleich sie jetzt eigentlich auch auf da und dort vereinzelt herumliegende, ge­ bleichte Knochen gefaßt sein mußte, erschreckte sie das nicht. Sie sah in die Weite, fühlte sich fast gehoben und erfüllt. Heute, an diesem Tage, wurde keine Rast gehalten, in gleichbleiben-

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der Geschwindigkeit lief die Löwin immer fort, nach Osten. Als sie gegen Abend den Rand der eigentlichen Wüste erreichten, sank gerade die Sonne, heftig rot, gleichsam in nackter Glut hinter den zackigen Hügelrändern. Auch in dieser Nacht ließ die Löwin, wie schon oft, Fortunatina vorsichtig von sich abgleiten und trabte davon, in die Dunkelheit hinaus, um zu würgen und ihren Hunger zu stillen. Aber ihre Witterung verriet ihr diesmal kein Wasser, an dem sie einem Wild hätte auflauern können. So näherte sie sich in immer kleineren Kreisen wieder dem Lagerplatz, ihr Knurren und Jaulen drang dann und wann leise und klagend in der Öde. Als sie die Stelle wieder erreicht hatte, wo Fortunatina lag, stand sie eine Weile mit zitternden Flanken still; aber sie war schließlich doch ganz und gar einhellig in sich und Gesetz, als sie sich mit einem blutgierigen Knurren auf das schlafende Mädchen warf. Es dauerte auch nur ein paar Augenblicke, dann war die gewal­ tige Löwin schon mitten in einer fürstlichen Mahlzeit, und sie leckte sich erst die Schnauze, als der Morgenwind ihr von Osten her, wo schon der erste Schein heraufkam, den Sand in langen, flüchtenden Ketten entgegentrieb. Da aber, während sie so mit hängenden Lefzen einsam in der Wüste gegen den Wind stand, geschah an ihr eine Art Mirakel: ihre Gestalt verfeinerte und streckte sich, sie verlor ihr Fell, stand aufrecht und war ein blühendes Weib, das mit halb eröffneten Lippen, als empfinge oder erwarte sie einen küssenden Hauch, lange und sehnsüchtig in die aufgehende Sonne sah. Nicht ihre Lippen allein, ihr ganzer Leib bebte und blühte dem entgegen wie ein Baum. Nur in dem feinen Aderngeflecht ihrer Schläfen lag der Schimmer einer nie ganz versunkenen und unüberwindlichen Mädchenhaftigkeit und Kindlichkeit - wie ein Schein von oben. Lange stand sie so bebend, während der Morgen breit aufzog, erst als die Sonne ganz herauf war, wandte sie sich zurück und ging rastlos, immer in der Richtung, wo wieder begrüntes Land liegen mußte. Als sie aber unter die ersten Palmbäume trat, sammelte sie von den großen abgefallenen Blättern, machte ein Kleid und bedeckte sich. Dann wanderte sie weiter, um die Wohnstätten von Men­ schen zu finden.

Falsche Erwartungen. „(...) Du gehst bei Nacht hin und schaust Dir das an. Du kommst hin, unbewußt mit Deiner alten Vorstellung, und fin­ dest etwas ganz Neues. Und dazu hast Du dann keine Beziehung - nicht wahr -, auch wenn Du dort in der Schwimmschule irgend etwas erlebt hättest, etwas Unangenehmes zum Beispiel, einen Streit oder so was - das hätte dann garnicht solche Macht über Dich, weil eben die Schwimmschule in der Kehrseite keine „Schwimmschule“ mehr ist - sondern ein Wasser in der Nacht, mit Brettern und Geländern rundherum. - Und weil Du Dir die Schule doch hauptsächlich bei Tag vorstellst und mit den ganzen Professoren - so bleibt der Abend hier immer eine Kehrseite nicht wahr?“ „Ja sagte Stangeler; sein Blick hatte sich ganz verloren. Sie schwiegen eine Weile, indes von draußen wieder das Rasseln der Rapiere in die Stille klang. Kurze Rufe: „tocco!“, „e-la!“ kamen hallend vom Saale herein, dazwischen tönte der häufige Fußtritt der Fechtenden. „Du, ich werde doch gehen, bevor die hereinkommen und der Wirbel anfängt“, sagte Stangeler. „Na gut, gehn wir.“ Sie legten ihre Fechtsachen in den Schrank und nahmen die Mäntel. Am Gang war es völlig dunkel. Sie tappten sich bis zur Eingangs­ halle; hier brannte mattes Licht. „Komm einmal, ich zeig Dir was“, sagte Stangeler plötzlich und schritt auf die breite Treppe zu, die zum ersten Stock emporführte. Lill folgte ihm gespannt. Sie stiegen hinauf. Am Ende der Treppe verlegte ihnen ein hohes Gitter den Weg. Dahinter lag der Gang stockfinster. Lill versuchte, das Gitter aufzuklinken. Es war versperrt. „Das ist es?“ „Ja, das wollte ich Dir zeigen.“ „Klettern wir drüber!“ „Aber zu was denn Lill zog seinen Mantel aus und warf ihn auf die lanzenförmigen Spitzen der Gitterstäbe. Dann kletterte er rasch nach; er fand leichten Halt am Rankenwerk des Schmiedeeisens. „Komm!“ rief er, schon jenseits herabsteigend.

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Stangeler tat wie er. „Du, aber der Schuldiener...“ sagte er leise, fühlte sich aber ziemlich sicher. „Ah was-!“ „Pst!-das hört man ja!“ „No Malheur! wird man’s halt hören!“ sagte Lill etwas laut. Sie standen noch immer in der Finsternis. „Na komm.“ Lill schritt voran, sie tappten um die Ecke bis zum Konferenzzim­ mer. Mattes Grau lag in den Gangfenstern. Lill versuchte, eine Klassentüre zu öffnen. „Die sind alle zugesperrt“, sagte René leise. Sie standen eine kleine Weile ganz still. Mit einem Male hörte Stangeler ein kurzes Aufstöhnen, gleich darauf sagte Lill mit rauher Stimme: „Na, gehen wir.“ Sie tappten zurück, klet­ terten über das Gitter, ihre Mäntel nehmend, und stiegen die Treppen hinab. „Ich werde Dich ein Stück begleiten“, sagte Lill auf der Straße. Sie gingen schweigend eine Weile nebeneinander, den leichten Hauchnebel des Atem’s vor sich. „Spielst Du ein Instru­ ment?“ fragte Lill plötzlich. Er sagte das in einer Weise, als seien seine Worte für ihn der Schlußpunkt längeren Nachdenkens, gleichsam ein Ergebnis. „Ja, Violine“, sagte Stangeler. „Was spielst Du jetzt?“ „Konzerte - von Beethoven, Mozart, Men­ delssohn - dann auch Kreutzer-Etüden - jetzt werde ich viel­ leicht Fiorilla anfangen.“ „So - vielleicht möchtest Du einmal Quartett spielen?“ „O ja!“ sagte Stangeler lebhaft, „mit wem denn?“ „Mit mir und noch zwei Freunden.“ „Was spielst denn Du -?“ „Bratsche, gegenwärtig.“ „Aber das ist ja sehr schön -“, sie gingen eben an einem Cigarettenladen vorbei, „wart’ einen Augenblick, ich kauf’ nur ein paar Cigaretten.“ Lill blieb auf der Gasse stehn und sah Stangeler nach, der in dem erleuchteten Raum an den Ladentisch trat. Dann klingelte das Läutewerk der Türe wieder, Stangeler kam heraus, mit einer Schachtel in der Hand, sie gingen weiter. „Also“, sagte Lill, „wenn es Dir recht ist - vielleicht kommst Du morgen nachmittag zu mir, Du spielst mir dann etwas vor, und wir besprechen das Nähere. „Ja - aber morgen nachmittag haben wir ja von j-j Mathematik und Turnen.“ „No ja - da gehn wir halt gleich nach der Schule zu mir nachhause.“ „Gut-hast Du dort eine Geige?“ „Ja, sogar ein sehr gutes Instrument - den Bogen kannst Du ja mitbringen - wenn Du ihn gewohnt bist.“ „Also gut, einverstanden“, sagte Stange­ ler erfreut. - Sie gingen noch ein paar Schritte, dann blieb

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Stangeler an der Gittertür des Vorgartens stehen. „Hier wohnst Du?“ fragte Lill und sah an der Front des Hauses hinauf. „Ja.“ „Wo ist Dein Zimmer?“ „Das geht nach hinten hinaus, auf den Garten.“ Lill’s Gesicht bekam einen abwesenden Zug. „Soso da hast Du’s ja ganz schön.“ „O ja.“ „Na, laß Dich nicht aufhalten.“ „Also auf morgen; servus Lill!“ „Gute Nacht, René“, sagte jener und sah Stangeler nach, der durch das kahle Vorgärtchen auf die Haustüre zuschritt. „Du, weißt Du was, entschuldigen wir uns und gehen wir nachhause - zu mir.“ „Ja - da muß aber erst der Eine sich entschuldigen gehen und dann der Andere.“ „Also, dann gehe ich jetzt und warte unten auf Dich - ja?“ „No gut.“ „Also ich warte dann am Eck - servus derweil.“ Lill wandte sich zur Treppe und ging mit den anderen Schülern, die zum Turnsaal strömten, hinunter. Stangeler verzog noch eine Weile auf dem Gang, dann begann auch er langsam hinabzusteigen. - Die Garderobe war dicht gefüllt mit Gymnasiasten, die ihre Röcke abwarfen und die Turnschuhe anzogen; Einer stieß an den Anderen, die Luft war staubig. Durch die geöffnete Tür liefen schon Einzelne in den Saal hinaus. Stangeler drängte sich durch, bis zu der Türe des kleinen Zimmers, in dem sich der Turnlehrer während der Pausen aufzuhalten pflegte. - „Bitte, Herr Profes­ sor, könnte ich vielleicht nach Hause gehen - mir ist nicht wohl Turnen kann ich ohnehin nicht, ich möchte mich gerne niederle­ gen.“ „Was fehlt Ihnen denn?“ sagte der Turnlehrer; seine Stimme klang wie eine sehr gedämpfte Schnarre; er war ein ungemein kleiner Mann mit kahlem Haupt. Doch ging von ihm die Sage, daß er die längsten Octavaner mit spielender Hand aus dem Saal geschleudert habe, wenn diese es allzu arg in der Turnstunde getrieben hatten. Auch erzählte man, er könne sich an einem Arm zehnmal aufziehen. Doch stecke diese Kraft eigentlich in jenem steifen alten Röcklein, das er beim Turnun­ terricht anzuhaben pflegte. Generationen von Gymnasiasten waren daran vorübergegangen. - „Ich glaube, es ist vom Ma­ gen“, sagte Stangeler. „Na, gehn’S nachhause - ruhiger! ruhi­ ger!“ rief er in die Garderobe, wo das Stimmgewirr inzwischen zum Tosen angeschwollen war. Stangeler schlüpfte hinaus,

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drängte sich bis zur Türe und ging eilig durch den Gang und das Vestibül. Dann sprang er die breiten Treppen hinab, auf die Straße. Stangeler zog die Luft ein ; die Sonne schien, es war warm, fast lau. An der Ecke stand Lill. „Na also - alles glatt gegangen?“ „Ja.“ „Wo hast Du den Bogen?“ „Dort drüben in der Papier­ handlung hab’ ich ihn gelassen, warte einen Augenblick“, und Stangeler lief rasch über die Straße und verschwand in dem Geschäft. Lill stand in der Sonne - wie sonderbar es in der Luft lag, gleichsam von kommendem Grün! und der Sonnenschein, dünn und freundlich! Da kam auch schon Stangeler. - Ja, dies mochte wohl sein, daß es der Frühling war - dieses feine grüne Wehen, von dem er nicht hätte sagen können, ob er es wirklich verspüre, das kam wohl vom Prater herauf, wenngleich noch von kahlen Bäumen. - Indes war Stangeler zu ihm getreten, in der Hand den Fiedelbogen, dessen Frosch in der Sonne blitzte. „Also, gehen wir.“ Sie gingen. „Wo wohnst Du eigentlich?“ „Auf der Wieden.“ Sie gingen eine Weile schweigend durch die stilleren Straßen, während ein lauer Wind sie anfächelte. Lill begann leise zu pfeifen, eine Passage aus einem Streichquartett von Mozart, ihm schien heute alles heller und freundlicher belebt, Straße und Himmel, ja selbst die Fronten der Häuser machten nicht ihr gewohntes „Notwen­ digkeits-Gesicht“, das Einen so anöden konnte: nein, sie schie­ nen, besonnt, eher etwas zu verheißen. - Indes hörte er den Einsatz der Bratsche, die hier das Thema zu übernehmen hatte, ganz korreckt und fein neben sich gepfiffen; das war Stangeler, der ein wenig abwesend neben ihm ging und nun unwillkürlich, ohne es eigentlich zu wollen, einfach der erwachten Erinnerung folgend auf die angegebene Melodie geantwortet hatte. - Lill wurde es ganz ungemein freundlich zu Mute; er faßte René unter, und so schlenderten sie Arm in Arm, Licht und Sonne nehmend von allem, was ihre Augen sahn, und sich selbst wieder alles vergoldend aus ihrer eigenen Schatzkammer: die war mit einem Male geöffnet, durch die Gunst einer Stunde; und dies hatten sie wohl Einer dem Anderen zu danken. Als nun aber belebtere Straßen kamen, ward dieses geruhig wandelnde Idyll erstmals zum Ausweichen gezwungen: darum

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stiegen Lill und René in die Straßenbahn. Sie blieben aber auf der Plattform stehen und ließen sich die laue Luft, von der ihnen so viel Wohlbehagen kam, um die Schläfen wehen; während die kleinen Rauchfahnen der Cigaretten mit der Zugluft eilends nach hinten verwirbelten. So fuhren sie durch schöne Gegenden der Stadt; links und rechts der Schienen liefen Boskette und Bäume, derzeit noch kahl; doch zwischen leerem Geäst wehte verhei­ ßende Luft.

Am Karlsplatz stiegen Lill und Stangeler aus. Sie gingen durch ein paar Straßen, die René unbekannt waren: zumeist neue Häuser standen hier, mit blanken Toren ; die Sonne machte alles liebenswert. „Da sind wir“, sagte Lill und trat in einen hellen Hausflur. Sie stiegen einige Stufen hinauf zum Lift. Lill zog einen kleinen Schlüssel hervor, sperrte das Gitter auf und schob die Türe zurück. „Bitte - steig ein.“ Stangeler setzte sich auf die gepolsterte Bank, während Lill die Türe zuschob. Es war ganz still im Hause. Lill drückte auf einen Knopf, der Lift zog an und stieg, indes Stangeler das Gefühl hatte, als bleibe in ihm etwas hinter dieser Bewegung zurück ... Und nun, während der Lift stieg, kam es ihm zum Bewußt­ sein : dies hier war etwas Neues. Und nun stand die Zeit vor ihm, lebhaft, weil eben erst vergangen, wo er von Lill und alledem hier, diesem Lift und diesem Haus - garnichts gewußt hatte. Wie - still dies gekommen war, gleichsam unvermerkt, und nun war es da. Und er fühlte mit einem Male, daß er schon viel „Neues“ auf diese Art erlebt hatte, und nun war es vorbei. Ja, er brauchte wohl nur irgendwo in seine Vergangenheit sich hineinzustellen, festen Fuß zu fassen und wieder nach vorwärts zu blicken - da war dann vieles ganz „neu“, was in Wahrheit allmählich und unvermerckt gekommen - und dann war es eben da, man hätte nicht sagen können, wann die Veränderung geschehen wäre Seine Gedanken hatten nicht Worte in dieser halben Minute; zwei Bilder aber sah René mit Schärfe : er stieg einen Pfad empor, an einer Bergflanke ; des Berges oberer Teil war in Nebel gehüllt. Und er fühlte Spannung auf den Augenblick, in dem er dort in den Nebel eintreten würde. Doch kam dieser Augenblick nie wohl aber erinnerte er sich, dann im Nebel gegangen zu sein.

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Und dabei hatte er schon Befriedigung empfunden, wenn er einen Nebelfetzen deutlich treiben sah, nur auf drei, vier Schritt Entfernung - Da war ein zweites Bild : er sah aus dem Fenster des fahrenden Eisenbahnzuges. Draußen, zwischen den Feldern, tauchte ein Schienenstrang auf, eine Zweigbahn, welche der eigenen Strecke zulief, und er war gespannt auf den Augenblick, wo sich die beiden Geleise vereinigen würden. Aber dies war dann garnichts besonderes - eine ganze Weile lief schon die andere Strecke ganz nah an der eigenen, oder es kam ein Bahn­ hof, in dessen Schienengewirr das ganze unterging... Der Lift hielt, die Schiebetüre rasselte, indes Stangeler die Empfindung hatte, der stehengebliebene Boden bleibe hinter der Bewegung seines eigenen Körpers zurück. Sie traten auf den Flur. Lill drückte auf einen Knopf, der Lift versank, während sie schon auf die Wohnungstüre zuschritten. Durch ein Gangfen­ ster fiel die Sonne auf die Fliesen. Lill blieb stehen und läutete. „Ernst von Lill“ stand auf dem Türschild. Ein Stubenmädchen mit weißer Schürtze und Häubchen öffnete, sie traten ein. Das Mädchen half René in dem hellen Vorzimmer aus dem Mantel. René sah sich um, wo er dabei seinen Bogen auf einen Augen­ blick ablegen könne. „Bringen Sie uns gleich den Tee, Katinka“, sagte Lill. Das Mädchen nahm den Bogen und hielt ihn zwischen zwei Fingern, während René aus den Ärmeln fuhr. „Bitte, komm weiter.“ Lill ging auf eine Flügeltüre zu. René bemerkte rechts vom Türrahmen an der Wand einen großen Kupferteller mit türkischer Inschrift. Lill öffnete, Stangeler trat hinter ihm ein. Das Zimmer war hell; Stangeler fiel sogleich ein großer Konzertflügel beim Fenster auf. In der Mitte stand ein schwerer runder Tisch mit sternförmig eingelegter Platte. „Setz’ Dich doch, bitte“, sagte Lill. René legte den Bogen auf den Tisch und ließ sich in einen Armsessel nieder. „Wir bekommen gleich einen Thee“, sagte Lill. „Hübsch hast Du’s da - spielst Du auch Klavier?“ René sah zum Flügel hinüber. „Ja, hin und wieder.“ „Du, da können wir ja auch einmal ein Klavierquintett spielen - kennst Du das Klavierquin­ tett von Schumann ?“ „Ja -“, Lill trat vor René hin, „hat Dir das auch so gefallen ?“ Er blickte ihn sehr lebhaft an. „Ja - der Anfang gleich - Du, das spielen wir!“ Indem öffnete sich die Tür, das

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Mädchen trug ein niedriges Gestell in’s Zimmer, in der Art eines kleinen Blumentisches. Sie stellte es in die Ecke beim Fenster, ging hinaus und kam wieder, mit einem kleinen Samowar von Messing, der heftig dampfte. Dann brachte sie Kanne und Tassen, richtete den Teetisch beim Fenster, rückte zwei Armses­ sel zurecht und verschwand. „Also, gehen wir Thee trinken.“ Sie gingen zum Fenster und setzten sich. Lill ließ aus dem Samowar heißes Wasser in die Teekanne und schob Stangeler kleine Weißbrote, Marmelade und Bäckerei zu. „Bitt’ schön, bedien’ Dich.“ Lill schenkte ein und öffnete die Zuckerdose. Eine kleine Weile schwiegen sie. Dann und wann ließ Stangeler den Blick schnell durch das Zimmer gleiten; doch tat er’s nur auf Augenblicke. Irgend etwas in ihm selbst hinderte ihn daran, sich länger umzusehen, und doch hatte er das Bedürfnis danach, ja, es machte ihn unruhig, so viel Fremdes um sich zu wissen, ohne es recht gesehn zu haben. Doch vom Mustern hielt ihn eine Art Scham zurück. Er wollte etwas auf die Schule Bezügliches sagen, doch schwieg er, es kam ihm mit einem Male läppisch vor. „Bedien’ Dich doch“, sagte Lill. Stangeler sah ihn an; mit einem Male empfand er Zutrauen. „Du, vorhin im Lift, da ist mir so etwas Merkwürdiges eingefal­ len-“ „Was denn?“ sagte Lill und beugte sich vor. „Ja - ich kann das garnicht so recht sagen - wart einmal: so am Anfang des Schuljahres, da denkt man sich ... Jetzt wird ein Monat kom­ men und dann noch einer, bis nach Weihnachten, dann das zweite Semester - und auf jeden Fall wird da alles mögliche sein - auch ganz neue Sachen, von denen man noch garnichts weiß'...“ „Aber an die allernächste Zeit, ich meine ,morgen“ oder .übermorgen“, denkt man dabei nicht - gelt?“ „Nein - nein, da hast Du recht - nein, nur so weiter weg, an die nächsten Monate — und dann freut man sich darauf, das kommt alles so auf einen zu, denkt man sich - ich weiß nicht, ob Du das so kennst -“ „O ja - sehr gut, René!“ „Und dann hat man das Gefühl: also, es wird immer was Neues sein, und man wird es wissen und wird sehen, wie alles kommt ... und dann wird es einmal da sein, und man wird wissen: ,also das ist auch so etwas von dem“...“ „Du meinst, man wird gleichsam darüberstehen und dem allen überlegen sein.“ „Ja! ja-so meine ich es!“ „Nicht

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wahr - und dann ist man später doch immer ganz mitten drin, und es fällt Einem garnicht ein, was man sich im September gedacht hat, man hat ganz darauf vergessen - man denkt höch­ stens wieder einmal nach vorwärts - aber auch nicht an die nächsten Tage. Und dann sieht man wieder sich selbst, wie man das oder jenes tun wird und was man sagen wird..„Ja, ja! also Du kennst das auch?! - aber wenn ich mir dann vorstelle, jetzt im - sagen wir Jänner, voriges Jahr - da ist doch viel Neues wirklich später gekommen und - es waren auch lauter Sachen, von denen ich vorher nichts gewußt habe, ganz nach der Erwar­ tung von damals ist es gewesen. Aber dann, im Februar, März wie sich dann für mich wirklich einiges ereignet hat, da wär ich doch wieder mitten drin und habe ganz und gar auf meinen Standpunkt im Jänner vergessen ...“ „Nicht wahr, René, eigentlich ist das ein unangenehmes Gefühl.“ „Ja - es sollte - man sollte anders sein — ich möchte ganz so werden, daß ich ...“ „Das wirst Du schon ... aber nie ganz“, sagte Lill leise. Stangeler sah ihn an, ohne zu verstehen. Lills Gesicht war düster geworden, er starrte einen Augenblick lang bedrückt vor sich hin. - „Ja - Du, das ist so, wie wenn man auf Nebel zugeht: da ist man gespannt darauf, wie das sein wird, wenn man in den Nebel hineingeht - aber so kommt es eigentlich nie, man ist dann eben einfach im Nebel drin - weißt Du, ich kenne das vom Gebirge Lill hatte sich aufgerichtet. „Aber ausgezeichnet sagst du das, der Vergleich ist gut, René, so ist es nämlich Sie schwiegen eine kleine Weile. „Warum hast Du vorhin gesagt, daß man - daß ich - auch einmal so sein werde, wie ich will - Du weißt ja? -, aber nie ganz?“ „Ja, René, Du meinst ja schließlich nichts anderes, als daß man - seine Persönlichkeit immer ganz bewahren soll, bewußt, oder wie man sonst sagen will — aber weißt Du ... es giebt doch Augenblicke, in denen - man diesen eigentlichen freien Ge­ sichtspunkt verliert - ich meine, man geht dann ganz in seiner jeweiligen Umgebung, in den Umständen auf - Du, und das kann sogar auf längere Zeit über Einen kommen; aber man soll sich dessen schämen - und das tut man auch.“ „Ja - das versteh’ ich nicht ganz - aber ich glaube doch, Du meinst dasselbe wie

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ich-“ „Ganz sicher, René, ich weiß sehr gut, was Du meinst übrigens muß ich Dir dann auch etwas sagen - aber erst spielst Du mir jetzt etwas vor - ja?“ „Ja - Du, ich habe mir sogar schon oft vorgenommen : von morgen ab werde ich so sein - weißt Du, ich denke mir, besonders in der Schule muß Einen das viel freier machen -“, Stangeler stand auf, „wo hast Du die Geige?“ „Ja, in der Schule...“ sagte Lill, und sein Gesicht zeigte einen irgend­ wie schmerzhaften Ausdruck; er sprach dann sehr rasch und so, als wollte er etwas verwischen und verschwinden machen: „Warte einen Augenblick, ich geh’ nur die Violine holen.“ Er ging in’s Nebenzimmer. Stangeler sah sich um. Beim Klavier stand ein Pult, er ging hin und stellte es so ein, daß er stehend bequem lesen konnte. Lill kam wieder, mit der Geige und einigen Heften. „Aha - hast Du schon das Pult gerichtet? - also, hier sind die Kreutzer-Etüden.“ Stangeler griff nach der Geige; er nahm den Bogen vom Tisch, strich an, stimmte und fingerte eine rasche Scala. „No, paßt sie Dir?“ „O ja, sehr gut. Was soll ich jetzt spielen?“ Er wandte sich zum Pult. „Also, jetzt werden wir sehen, was Du kannst, René“, sagte Lill und lachte. „Spiel’ einmal - na, die da, N° 33, den Marsch.“ Er zog einen Armstuhl heran, setzte sich und sah zu René auf. „Also, kann ich anfan­ gen?“ „Ja - nur los.“ René setzte die Geige noch einmal ab. „Wird denn das hier niemand stören - ?“ „Wieso - wen denn - ?“ „Deine Leute - nicht?“ „Ach so - ja, René, ich wohne hier ganz allein.“ „So -“, René sah einen Augenblick abwesend über das Pult weg durch’s Fenster, „also das bist dann Du - auf dem Türschild draußen?“ „Ja -“, Lill sah zu Boden, „das bin ich.“ „Ja -“, sagte René - und dann, gleichsam sich selbst wachrufend, „na also -“, und er setzte an. ... Es kam Stangeler sehr gelegen, Kreutzer-Etüden vor Lill exercieren zu können; für René waren sie eine alltägliche und längst wohlbekannte Übung. Er strich die zwei ersten Doppel­ griffe entschieden an, so, daß gleich die Geige mit ihrer ganzen Stimme lautschallend herauskam. Dann galloppierte er die punktierten Achtel und Sechzehntel hinab. Jeder Griff saß ge­ nau. Stangeler führte auf Lill’s Geige Schule vor. - Er konnte die Übung vom vielen Studium her nahezu auswendig; so achtete er beim Spielen sehr auf die Haltung seiner Hände.

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Lill sah diesem geigenspielenden Gymnasiasten zu, indes manches in ihm wach wurde. Denn es rührte ihn etwas im Gesicht René’s; mit einem Male ging ihm das Wort „ungeteilt“ durch den Kopf - ... „ja! Stangeler spielte Geige! und er konnte diese Übung, jawohl, und ob er sie konnte! Mehr braucht’s nicht. Und daß mehr darin sei, ja, daß er um des Geigenspielens willen auf irgend etwas verzichtet hätte - nein ! Er spielte Geige was weiter?! Deswegen gehörte alles andere ebensogut ihm Diese Worte fielen Lill dann alle rasch nacheinander ein. „Schluß, Schluß, René“, sagte er, stand auf und berührte ihn am Arm, „das spielst Du ja mehr als gut.“ Stangeler setzte ab und sah in die Noten. „Jetzt möchte ich aber sehen, ob Du auch vom Blatt so gut spielst“, Lill griff nach den Heften, die auf dem Klavier lagen, „da ist die erste Geige vom Quintenquartett.“ Er nahm das Etüdenheft vom Pult und legte die Stimme auf. „Warte, ich werde die drei anderen Stimmen am Klavier mitspie­ len - einen Augenblick, ich hol’ mir nur das Partiturbüchei.“ Während Lill hinausging, schlug René am Klavier an und stimmte sorgfältig; das Quartett war ihm unbekannt, doch sah er nichts, was ihm sonderliche Mühe gemacht hätte. Lill kam zurück, öffnete den Flügel und setzte sich. Sie spielten etwa eine Seite; dann brach Lill ab. Stangeler hatte die Gelegenheit be­ nützt, um sich durch Strich und Tonbildung in’s Licht zu setzen. Aber schon nach einigen Tackten meinte er es ernst, und er spielte die Stimme nicht mehr „vor“, sondern eben so schön und gut als möglich, weil er selbst es so wollte. „Einen Besseren als Dich hätte ich nie gefunden“, sagte Lill und schloß das Klavier. „Komm, jetzt rauchen wir eine Ciga­ rette.“ René legte die Geige auf den Tisch, sie setzten sich. Lill spielte mit der angezündeten Cigarette zwischen seinen Fingern ; er saß vorgebeugt und sah vor sich nieder. „Du, da hast Du es aber tadellos, wenn Du hier allein wohnst-“ „Ja, René. - Ich wollte Dir etwas sagen - ich werde von morgen an nicht mehr in die Schule kommen -“ „Ja, wieso denn - bist Du krank - ?“ „Nein, nein — nun ja, also - warte, sofort.“ Er ging rasch hinaus. Stangeler blickte durch’s Fenster auf das gegenüberliegende Haus, dessen Front von der früh­ abendlichen Sonne leicht gerötet stand, blitzenden Scheins in

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den oberen Fenstern. Eine Automobilhuppe klang von der Straße. Indem trat Lill wieder ein. Stangeler wandte sich zu ihm. Lill hielt ihm ein Papier hin. René begriff nicht recht. „Lies!“, sagte Lill. René nahm das Blatt und faltete es auseinander; es war ein Maturazeugnis auf den Namen Ernst von Lill.

Eine Weile saß René zusammengedrückt unter der Peinlichkeit dieser Überraschung; er hatte es zunächst garnicht begriffen. Nun er es begriff, wurde es ihm zur tiefen Enttäuschung. Er stand auf; blitzschnell und ängstlich durchlief seine Vorstellung die jüngste Vergangenheit : und er empfand jeden Augenblick, in dem er sich mit Lill wie mit - seinesgleichen verhalten hatte, beschämend und als Qual. Und indem René sich der geteilten Schulsorgen erinnerte, stieg ihm das Blut in die Wangen. Und Lill verstand dieses Erröten; er hatte den Kopf gesenkt wie ein Schuldiger. Ja! er hatte sich eingeschlichen! Aber nun dachte René wieder, daß es doch nicht möglich sei... „Ja...“ sagte er, „aber warum sind Sie dann ...“ „Nein, René!“ sagte Lill dringend, „deshalb brauchst Du mir nicht ,Sie‘ zu sagen! - bitte nicht!“ Aber sein Urteil war nun doch gesprochen durch den Gymnasiasten. „Sie!“ Nun war es am Tage, nun der Traum vorbei. Und er empfand, daß er dies verdient hatte und daß jener trennende Schwerthieb zwischen ihm und dem Knaben rechtens geführt worden war, wenngleich er schmertzte. Hatte er das „Du“ nicht erschlichen, sich dort als Kampfgenossen ausgebend, wo er ja doch, trotz aller Sehnsucht, nur mehr Zuschauer war ? - „Komm - setz Dich doch, René.“ Der sah zu Boden. „Ja - was bist Du denn - jetzt eigentlich - ?“ „Ich bin Musiker, René - ich werde Dir alles erzählen -“, eine schamvolle Pein war in ihm, es war ihm, als hätte er einen Wehrlosen verletzt, einen Arglosen getäuscht. René nun wieder ging es durch den Kopf, daß ja Lill ganz gut einer von den jungen Leute sein könnte, wie sie bei seinen Eltern und mit seinen erwachsenen Schwestern verkehr­ ten ----- was hatte er nun eigentlich mit ihm zu tun, was sollte er überhaupt hier -? und irgend ein Traum war auch in ihm zu Ende, seine Hoffnung enttäuscht. Aber mit einem Male fühlte er köstlich das Neue und Abenteuerliche, das in alledem lag. Ja, nun war es da! „Also, René - bitte sei mir nicht mehr böse, ich

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bitte Dich inständigst !“ Dies war es ! Aber jetzt wollte er Haltung haben — „ich !“ dachte René. „Aber woher denn, gar keine Rede von böse sagte er. „Also schau sagte Lill und stand auf, „ich habe vor drei Jahren maturiert, dann bin ich zwei Jahre auf der Academie gewesen, dann hab’ ich die Staatsprüfung ge­ macht-“ René hörte nicht allzu gespannt zu. Er genoß sich selbst - ja ! er fühlte sich, alledem gegenüber - „und dann war ich weg von hier, auf Reisen - also das ist ja gleichgültig. - Siehst Du, ich habe Sehnsucht nach dem Gymnasium gehabt, immer...“ „Ich wollte, ich wäre noch im Gymnasium!“ hörte René die Stimme seines älteren Bruders sagen - für ihn waren es nur Worte. Etwa so, wie er selbst manchmal sagte: „Dazu bin ich zu jung, das kann ich nicht beurteilen“, und zuinnerst glaubte er das garnicht. Aber es hieß eben, daß man, jung, kein Urteil habe und daß man sich später noch in die Schule zurücksehnen werde ... „wie ich dann vom Ausland gekommen bin, hab’ ich mir ein Gymnasialzeugnis verschafft und bin bei euch eingetreten. Ich weiß selbst nicht, wie ich auf diesen Einfall gekommen bin. Aber ich habe mir halt vorgestellt : es wird alles so sein wie damals, die jungen Leute, mit denen ich beisammen sein werde, und wie großartig das sein wird, wenn mich der Professor dann aufruftweißt Du, ich habe eigentlich geglaubt, daß ich auf die Art dieses Unentrinnbare - ich meine das: vergangen ist vergangen -, daß ich das ganz umgehen kann Lill stand auf und schritt im Zimmer hin und her - „aber das war eben doch nicht so, weißt Du, da habe ich mich selbst getäuscht...“, seine Stimme sank, er blieb an dem anderen Fenster stehen, „ich habe dabei aber innerlich immer den Vorbehalt gehabt, daß ich ja doch nicht mehr Gymnasiast bin, daß ich schon maturiert habe, schon längst - das habe ich nie ganz vergessen können -“, er sprach nun schon für sich, vor sich hin - „und das hat eben den Unter­ schied zwischen mir und den anderen ganz aufrechterhalten - in Wirklichkeit habe ich keinen Schritt zurückkönnen - “ René, der nun schon gespannt zugehört hatte und auf’s heftigste versuchte, sich das alles vorzustellen, um Lill zu verstehen - René erinnerte sich mit einem Male des letzten Weihnachtsabends zuhause: er war in dem Christzimmer umhergegangen, während der Baum brannte, mit ein wenig Traurigkeit, trotz der Bescherungs­

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freude; denn René hatte da mit einem Male deutlich empfunden, daß er sich vor vier, fünf Jahren noch viel mehr gefreut hatte und er hätte das so gerne wieder gespürt - „da hab’ ich auch nicht zurück können“, wehte es ihm flüchtig durch den Kopf -, aber dann dachte er gleich, was man alles hätte treiben können an Lill’s Stelle, in der Schule, die großartigsten Pflanzereien schließlich können sie Einem dann garnichts tun - man ver­ schwindet einfach Lill war verstummt; er stand am Fenster, und es war ihm, als sollte ihm nun etwas klar werden : ja, er fühlte die Pflicht, nicht abzulassen - da dieser Augenblick ihm einen Durchblick durch vieles und eine Verbindung zwischen vielen Dingen deutlich zu machen versprach. Aber er konnte nicht heben, was da in ihm halb erwacht war. Seine Gedanken drängten sich, gleich einer Koppel Pferde, die scheu geworden - es war für ihn kein gemeinsamer Zug in einer Richtung zu erreichen ; die Vorstellun­ gen reihten sich ihm nicht, eine verdrängte die andere. Er wandte sich vom Fenster. „Ja, René, man kann halt nicht zurückkrie­ chen, die alte Form wird Einem dann zu eng - so wie die ausgewachsenen Anzüge es geht nur in der Vorstellung - so dachte er für sich weiter -, in der Wirklichkeit, da ist man sich selbst dabei im Wege - ja, aber das war es nicht, was er vorhin hätte finden können... „Ja, das mit der Form, da hast Du rechtmir wird sie jetzt schon zu eng.“ Lill fühlte, wie René ihn nicht verstanden, mißverstanden hatte. Und blitzschnell zurückden­ kend, empfand er deutlich, daß er schon sehr oft, viele Male, von anderen Menschen in dieser Art mißverstanden worden sei - und er selbst mochte Andere ebenso mißverstanden haben, gewiß sehr oft, er empfand es deutlich; der Gedanke war quälend „weißt Du - das hängt auch damit zusammen - deshalb war mir das im ersten Augenblick auch so schrecklich, wie Du mir gesagt hast - daß Du eigentlich schon viel älter bist. Ich weiß nicht, ob Du das verstehst - ich habe schon immer so eine Art - Sehnsucht gehabt, nach Einem, der auch in’s Gymnasium geht und doch eigentlich schon ein Erwachsener ist - verstehst Du? -, der darüber steht - Du hast früher so gesagt - über dem Ganzen, wenn er auch mitten drin ist - ja, und ich habe geglaubt, Du bist so Einer - weil Dir - ich weiß nicht - vieles so gleichgültig war -

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Du hast nie Angst gehabt, aber jetzt weiß ich, daß Du ja garnicht mehr dazugehörst - nicht wahr -, da ist es dann leicht Sie schwiegen. - „Ach Gott, Lill - weißt Du, ich möchte selbst schon so weit sein wie Du. Aber ich kann mir das eigentlich garnicht vorstellen - daß ich auch einmal die Matura hinter mir haben werde.“ „René, schau, ich kann Dir nur das eine sagen: sei froh, solange Du noch im Gymnasium bist.“ „Ja, ja, das sagt ja mein älterer Bruder auch immer, und mein Vater sagt es auch aber sie möchten doch nicht noch einmal die Matura machen -“, in Lill wollte wiederum etwas aufdämmern - „aber man sollte schon jetzt, im Gymnasium, so sein, daß Einem das Ganze nicht mehr imponiert „- er hat eben einen anderen Begriff vom Erwachsenen“ “ - so dachte Lill -, „kennt nur die Form ; könnte man ihm den Inhalt geben, so wüßte er seine eigene Lage zu schätzen ... aber in dem .Schätzen“ liegt ja schon die Trennung, man kann doch erst schätzen, wenn man von etwas schon eine gewisse Entfernung hat - er müßte also auch die Vergangenheit haben, um das zu verstehen“ - und doch sagte er: „Weißt Du, René, eigentlich ist das garnicht notwendig, gar nicht gut, daß Du Dir das so wünschst-ich sag’ Dir, Du bist ja doch viel reicher als diese sogenannten .Erwachsenen“, es giebt ja für Dich viel mehr Schönes als für sie - Du bist noch ungeteilter...“, er brach ab; er wollte ihm nicht sagen, daß die Schulsorgen noch besser seien als vieles, was später nachkam. Lill empfand diese Sentenz als platt - und im Grunde als unwahr. „Ja, ich weiß“, sagte Stangeler, „es heißt, man hat als ganz junger Mensch noch dieseIdeale - und die verliert man später - ich glaube oft, die älteren Leute halten Einen - für ganz anders, als man eigentlich ist -“ „Ja, ja!“ dachte Lill, „wie recht er hat! ganz recht! ,Die sorglose Jugend“ heißt es einfach. Aber in Wirklichkeit sind die Schulsor­ gen vielleicht die ärgsten - weil man ihnen nichts Geschlossenes in sich entgegenzusetzen hat, man kann nie einen Augenblick darüberstehen; später kann man das doch manchmal: sich auf sich selbst zurückretten, von außen. Aber die Schulsorgen kann man höchstens vergessen auf eine Zeit, auf ein paar Minuten, auf eine Stunde oder im Schlaf - leichtsinnig, verzweifelt.“ - René hatte abgebrochen und schwieg. „Schau, René, jetzt werde ich Dir noch etwas sagen: sehne Dich nicht so viel nach - vorwärts,

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nach etwas, wovon Du nur die äußere Form, die Außenseite kennst - ich meine, das sind Sachen, die eigentlich noch nicht Dir gehören - man soll nicht in dieser Weise - vorausgreifen.“ Für René war es ein altes Lied; etwas wie „sprich nicht über Sachen, die Du nicht verstehen kannst!“ Und in Lill sagte etwas ganz laut : man soll auch nicht zurückkriechen wollen ! Aber mit einem Male brach es gleichsam wie ein Strom über ihn herein, er sagte kein Wort mehr, auf den Mund geschlagen von seinem eigenen Verstehen : „man soll nicht in dieser Weise vorausgreifen ? !“ man muß ja! man bekommt ja von außen schon als Knabe Worte für irgend etwas - nur die Form, die Form von Dingen, die Einem noch garnicht gehören -, und diese muß man selbst ausfüllen, beleben mit dem Inhalt - „man verliert die Ideale, wenn man älter wird“, er weiß ja nicht, was das ist, „Ideale verlieren“ - aber er weiß doch, was die Worte bedeuten, ja, so muß er ja glauben, er versteht es - „Nein, René“, sagte er mit einem Male, „man verliert sie nicht, die Ideale, nein, noch nicht.“ Und in dem Schweigen, das nun wieder zwischen ihm und dem Knaben lag, überkam es ihn, wie wenig wir einander von den verschiedenen Stufen des Lebens übermitteln können: will man eine Erfahrung hinunterreichen - der Inhalt fließt dabei aus, nur das Gefäß bleibt, Wort und Form; und dieses Gefäß muß jener, der noch unten steht, selbst wieder füllen. In diesem Augenblick erkannte Lill die unerbittliche Trennung der Lebensalter: die des Knaben vom Jüngling, die - eine kühlende Vorahnung überkam ihn - des Jünglings vom Manne, die des Mannes vom Greise : das war fern. „Weißt Du, René, Du hast ganz recht, ich will Dir keine weisen Lehren geben, ich kann das auch nicht leiden“, und er fühlte in diesem Augenblick, wieviel er selbst noch in sich auszufüllen hatte. René antwortete nicht; jener Widerstand, der eben vordem in ihm aufgestiegen war, als Lill gesagt hatte: „sei froh, daß Du noch im Gymnasium bist“ - jener Widerstand schwand nun und verblaßte. Was war das alles! Eines erfüllte ihn, nicht wortklar gedacht, und doch trug es ihn : manches war in den Bereich seiner Vorahnung getreten, was bislang fremd und leblos für ihn geblieben war. Und nun empfand René jene Zeit „nach der Matura“, jene Zeit, die er sich nicht hatte vorstellen können,

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näher, ja, sie wollte fast schon erwachen in ihm und Leben annehmen. Und er fühlte, daß daran doch nicht das Wichtigste war, daß man dann nicht mehr in’s Gymnasium ging. Und wie René empfand, daß viele Gedanken, die er jetzt noch trug, ihre Festigkeit verlieren sollten, um von ihm abzufallen als enge, als nicht mehr zureichend - so fühlte er auch, wie schon Neues heraufkam. - Er hob seine Augen und sah durch das Fenster die rötere Abendglut, die an dem Hause gegenüber höher empor­ rückte. In die Stille des Zimmers klangen deutlicher die Töne der Straße. René war voll Freude - es mochte wohl nicht mehr die augenblicksfrohe Kinderfreude sein; diese hier trieb weiter hin­ aus und übergläntzte im voraus, was immer da kommen konnte. Lill stand auf. „Ja, René, wir wollen gute Freunde bleiben und Du kommst recht oft zu mir musicieren“, sagte er und faßte den Gymnasiasten an beiden Händen. Und wie auch Lill eben zurückgekehrt war von einem weiten Vorausahnen, so empfand er nun seine Vergangenheit doppelt nahe und verwandt. Lief denn nicht jener Faden, von dessen künftiger Richtung er eben etwas erfassen hatte können, auch durch sie?! er sah zurück und erkannte voll Liebe den begangenen Weg, nun eins mit sich in diesem Augenblick. Ja! er hatte seine Knabenzeit in sich selbst, sie lebte in ihm, was tat die Zeit dazwischen?! Ja! sie ist bei mir! Sie ist bei mir! und er sah René an. Es war nahe an dem, daß ihm die Tränen gekommen wären. - Und nun wieder begriff er zutiefst, was ihn dort in der Schule, wohin er zurückgekehrt war, getrennt hatte von all den Knaben: die Quelle seiner Rückkehr selbst war jenen fremd, seine Sehnsucht. Und eben die kam ihm aus Vergangenem. Seine Vergangenheit, sich selbst hätte er in den Wind schlagen müssen, um ganz zurückzukeh­ ren ; und hätte er’s auch gekonnt, nein, er hätte es nimmer getan. Zutiefst hatte er doch kein Knabe mehr werden wollen. Nein, er konnte nicht zurück, er wollte und sollte es auch nicht. „Komm, komm, René“, sagte er, ging zum Fenster und öffnete es weit; stärker drang das Tönen der Stadt herein. René kam durch das Zimmer. Lill legte seinen Arm um ihn, so standen sie und sahen hinab in die abendlich bewegtere und rollende Gasse; und es war in beiden dasselbe: denn sie hatten beide immer noch mehr zu wollen.

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Finale. Eine halbe Stunde, nachdem Stangeler seine Matura überstanden hatte, ging er von der Hauptallee im Prater über die Stiegen zum Bootsplatz hinunter. Die farbigen Boote lagen, gleichmäßig gereiht, an den Bret­ tern des Anlegesteges. Weiter rückwärts, zwischen den alten Bäumen, führten Stufen hinauf zu dem grünen Kassenhäuschen; mehrere Kähne standen daneben auf Holzböcken, mit dem Kiel nach oben. Stangeler nahm eine Karte und ging auf den Brettern am Ufer entlang, um ein Boot zu wählen. Jedes hatte einen Namen: „Panther“, „Tegetthoff“ - das waren solche mit Rollsitzen. Der Verleiher mit seiner aufdringlich zuwartenden Miene wollte schon eines losmachen. Aber Stangeler mochte heute keinen „Roller“: ein paar Schritte weiter lag ein breites, anspruchsloses Boot, eines von jenen, die auf dem Wasser keinen Ehrgeiz entwickeln und niemand vorfahren. Es war, grün und rot, in frischen Farben gestrichen und hieß „Hertha“. Stangeler stieg ein. Der Verleiher machte den Kahn geringschätzig los; dann drückte er ihn kräftig aus der Reihe ins offene Wasser. Die schlanken, ehrgeizigen Schnellboote, auf denen Stange­ ler sonst fuhr, glitten durch den Abstoß immer bis über die Mitte des Wasserarmes hinaus. „Hertha“ blieb zwei Meter vom Landungssteg schon liegen, etwas eigensinnig und gemütlich schaukelnd, als wollte sie gleich wieder einschlafen. Und das Wasser fuhr nicht in langhinfliehenden Streifen zurück, wie bei den scharfen „Rollern“. Es erzitterte glucksend in gerundeteren Bögen vor Hertha’s breiter Beschaulichkeit, so, als hätte man den Kahn mit einem „plumps!“ hineinfallen lassen. Stangeler legte lässig und müde die Ruder ein; träges Auf­ rauschen hob sich aus der glitzernden Kühle, als er das Boot drehte. Dann begann er hinzugleiten, mit schwachen, halb­ durchgezogenen Schlägen. Das Wasser quirlte in kleinen,

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dunklen Ringen um die eingetauchten Schäfte und fiel matt plätschernd von den langsam gehobenen, spiegelnd tropfnas­ sen Ruderblättern. Und die sonnigblanke Fläche glitzerte, leise erregt, neben und hinter dem Kahn. Allmählich löste sich in Stangeler die Verhetztheit der hastig durchlernten letzten Tage. Und er fand, statt des erwarteten Freiheitsrausches, ein laues Abschwingen in der feuchtschwe­ ren, vom schwachen Sumpfgeruch erfüllten Luft. Der leise Windhauch in den Blättern der ufernahen Bäume war eingeschlafen. Ahorn und Eschen standen reglos in dich­ ter Reihe, hingen tief über das Wasser und nahmen der Sonne einen Streifen von ihrem Spiegel weg: sein Glänzen verlor sich und erstarb in ihren grünschummrigen Laubgrotten. Der Kahn zog an den alten Bäumen vorüber, die Ufer ent­ lang, mit Plätschern und funkelndem Rudergeträufel. Die klei­ nen, glucksenden Schaukelwellen hinter dem Steuer erregten hüpfende Glanzlichter in der Wasserfläche. Und die weißen Spiegelbilder der Sommerwolken verzitterten wellig um das Boot. Stangeler war ganz ruhig geworden durch die langsame, gleichmäßige Bewegung. Er ließ die Ruder fahren und saß eine Weile zusammengesunken und völlig antriebslos, die Arme über die Knie gelegt. Die Sonne brannte auf seinem Rücken, und das Herz schlief ihm fast ein vor Trägheit in dem leise verschaukelnden Boot. Er sah über den Spiegel hin: so viel Licht war da! und in dem heißen Glänzen bekam er Sehnsucht nach einem ganz versteckten Dämmerwinkel, abseits von aller lebendigen Grellheit. Die alten Praterbäume dort drüben stan­ den still und eingenickt. Und der Schatten über dem Wasser! Im Hinschauen wandte er verlangend das Boot und glitt nahe an die eingetauchten Äste heran, die ihr Spiegelbild auf das der weißen, sonnensatten Wolken legten. Stangeler machte zwei letzte Ruderschläge; einen Augenblick lang war er ganz im Laubrauschen und Spritzen des Wassers. Dann knirschte der Nachen leicht auf das Ufer, glitt ein wenig zurück und lag still. Stangeler saß überrascht in seiner grünen Verborgenheit, während der erregte Astvorhang verschwang und sich wieder schloß. Nun war es ganz still in der Laubgrotte, auch die

Blätter hatten zu zittern aufgehört, und das seichte Wasser ruhte dunkel und schattig um das Boot. Da ließ sich Stangeler zurücksinken und fand alle Sehnsucht nach Rast und Träumen erfüllt, die in den letzten heißen Tagen oft schmerzlich in ihm sich geregt hatte.

Eine leise Ahnung von Abendwind rieselte durch die erzittern­ den Blätter. Stangeler richtete sich auf. Er war fast beklemmt nach der langen Einsamkeit. Von der Hauptallee her klangen jetzt Hufschläge und Räderrollen des abendlichen Korso. Stangeler stieß sich ab und griff an die Ruder. Zwei Schläge fuhren halb in’s aufrauschende Laub, halb in’s spritzende Wasser. Als er aus seiner grünen Verborgenheit hervorglitt, war der Nachmittag schon zum Abend erglüht: die Wolken hatten ihr heißes, sonnensattes Weiß verloren, farbiger schwammen nun ihre Bilder in dem leicht erschauernden Spie­ gel. Und die Praterbäume standen im Westen silhouettenhaft dunkel vor den breit gelagerten Glutschichten des Himmels. Und aus dieser rotgoldenen Stille, zwischen dem Leuchten auf dem Wasser und den grünen Baumkronen, die schon dunkel zurückzutreten begannen, aus dieser Stille horchte sein ruhesattes Herz auf das Klappern und Rollen und die viele, halb geahnte Menschenbewegung, dort auf der Allee, hinter den Bäumen. Und wie im Widerspiel zu dieser gedämpft herübertönenden und grüßenden Unruhe begann Stangeler, rascher die Ruder zu be­ wegen, und spürte fast wollüstig den Gegendruck des aufquirlen­ den Wassers. So glitt er an den Ufern entlang und an den Bäumen vorbei, deren Laub in dunklen, schweren Massen stand, hier und dort rotdurchleuchtet, von der Abendglut durchbrochen. Stan­ geler fuhr um eine Biegung. Da lief die Hauptallee auf einer kleinen Steinbrücke quer über den versumpfenden Wasserarm. Und inmitten des stillen Leuchtens über Wasser und Baumkronen bewegten sich mit einem Male die vielen bunten und schwarzen Menschen auf den Gehsteigen und die schnellen Silhouetten der

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Wagen. Und das Räderrollen und Hufgeklapper und die Geräu­ sche der Stimmen und Tritte waren mit einem Male näher und deutlich. Stangeler aber fuhr mit kräftigen Ruderschlägen, nach vorwärts umgewandt in seinem Kahn, dem heiteren Leben entgegen, das vielfarbig und bewegt in dem rötlichdurchleuchte­ ten Staub über die Brücke zog.

Zu den Abbildungen

Die Holzschnitte stammen von Erwin Lang (1886-1962): der Wiener Maler und Graphiker (und Träger des Österreichischen Staatspreises 1935), als Secessionsmitglied zunächst ein Vertreter des Impressionismus, gelangte in der Zwischenkriegszeit vor allem auch als Holzschneider zu internationaler Anerkennung. Die Bleistiftzeichnungen hat Rudolf Haybach (1886-1983) angefertigt, der nach dem Abschluß eines Ingenieurstudiums an der Wiener TH sich dem Druck- und Verlagswesen zuwandte und 1921 einen eigenen (Kunst-)Verlag gründete. Alle Illustrationen sind während jener Kriegsgefangenschaft entstanden, die Lang und Haybach in Sibirien zu Lagergefährten Heimito von Doderers gemacht hatte (vgl. das Nachwort). Doderer war denn auch, in Krasnojarsk, das - erkennbare Modell für die erste der folgenden Abbildungen, der Erwin Lang selbst schlicht den Titel „Der Gefangene“ gegeben hat.

Nachwort „Vom Norden und vom Süden werden wir die Russen packen, verstehen Sie, in einer Zange! (...) Indessen wird im Westen Paris erobert. Die Franzosen unterwerfen sich, denn wenn sie noch länger warten, werden sie im Süden von Italien angegriffen. Dann wirft Wilhelm die ganze Armee nach dem Osten. In drei Monaten ist der Zar vernichtet. Die ganze Kunst besteht heutzu­ tage darin, den Feind zu umzingeln. Mit möglichst wenig Trup­ penmaterial umzingeln! Außerdem muß man die richtige Ba­ lance halten zwischen Offensive und Defensive.“ Soweit die Fiktion in der Fiktion: was Joseph Roths alter Herr Zipper da an einem Wiener Julitag des Jahres 1914 verlauten läßt, bleibt ein kleines literarisches Denkmal der Fehlprognose. Als der Autor der im vorliegenden Buch erstveröffentlichten Texte im Hoch­ sommer 1916 in russische Kriegsgefangenschaft geriet, hatten die Mittelmächte die „Balance zwischen Offensive und Defensive“ zu einem verheerenden Stellungskrieg ausarten lassen, ohne die Erfolge aus der Frühphase des Weltkonflikts in strategisch be­ langvolle Tatsachen ummünzen zu können, und das von Zipper sen. als verbündet beschworene Italien war längst zum Gegner an der südwestlichen Flanke der Donaumonarchie geworden. Im äußersten Nordosten der Monarchie aber verbrachte der k. u.k. Dragoner Heimito von Doderer die letzten Tage und Stunden seines Felddienstes im Ersten Weltkrieg, ehe er einer der über 270000 Gefangenen des gewaltigsten Brussilowschen Vor­ stoßes wurde. Als Kavalleriefähnrich wurde er in Gewahrsam genommen, jedoch als unberittener: was paradox klingt, ist militärgeschichtlich erläuterbar. Bereits in der Zeit von Königgrätz und Sedan hatte der k. u. k. Generalstab der Reiterei schlachtentscheidende Parte mit wachsendem Vorbehalt einge­ räumt; vollends in der Ära der Materialschlachten wurde die Kavallerie als weniger wichtig beurteilt. Demgegenüber rückten die Fernwirkung der neuen Waffen und die Rolle der rasant

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modernisierten Artillerie und Infanterie in den Vordergrund. So galt etwa die Unterstützung eines Feuergefechts durch Reiter­ vorstöße bald als veraltete Taktik, und Dragoner, Ulanen und Husaren mußten mehr und mehr Aufklärungs- und Sicherungs­ aufgaben für die übrigen Waffengattungen versehen. Erzherzog Franz Ferdinand, der 1913 zum Generalinspektor der gesamten bewaffneten Macht Osterreich-Ungarns ernannt worden war, regte persönlich an, das Gros der berittenen Truppen schon bei Regimentsübungen eskadronsweise der Infanterie zuzuteilen was denn auch wenige Monate vor Ausbruch des Krieges strikt anbefohlen wurde. Im Krieg nahm die Eingliederung der Kaval­ lerie in andere Sparten der habsburgischen Streitmacht beinahe proportional zur Länge der Schützengräben zu, und die restlose Infanterisierung ganzer Reitereskadronen bewegte sich unum­ kehrbar vom Bereich der Ausnahmen in Richtung Regel. In diesen Kontext ist der Umstand zu fügen, daß Doderer als pedes statt als eques, in hechtgrauer statt in blau-roter Montur den Brussilow-Ansturm erlebte und überlebte. „Einteilung zur Zeit der Gefangennahme I. R. 57. XX. Komp.“ steht auf dem „Präsentierungsblatt“ zu lesen, das Doderer in der „Heimkeh­ rer-Zerstreuungsstation in Wien-Hietzing“ unmittelbar nach seiner Rückkunft aus Sibirien im August 1920 ausgefüllt hat; die Formularfrage „Wann und wo in Gefangenschaft geraten“ ist mit „12. Juli 1916. Olesza. Galizien“ beantwortet. Das angege­ bene 57. Infanterieregiment gehörte zur 24. Brigade der 12. Infanteriedivision im VI., von General von Arz befehligten österreichisch-ungarischen Korps. Dieses Korps wiederum war noch Anfang Juni 1916, als der kaiserlich russische General Brussilow auf einer 400 km langen Linie zwischen dem Oberlauf des Styr, in der Ukraine, und der bukowinisch-rumänischen Grenze seinen Angriff eröffnete, Teil der 7., vom Freiherrn von Pflanzer-Baltin kommandierten k.u.k. Armee. Nachdem indes die Russische Dampfwalze“ die Front in den Abschnitten Luck und Czernowitz mit spektakulärer Schnelligkeit um bis zu 60 km eingebeult hatte, gab es prompte Interventionen des Berliner Kriegsministeriums gegen die erfolglosen Einheiten des Bundes­ genossen: Deutschland schickte neue Divisionen nach Osten und Süden, während und obwohl man sich im Westen auf die

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Sommeschlachten vorzubereiten suchte, und verstärkte seine ohnehin schon massive Supervision über die Streitkräfte der Donaumonarchie. Pflanzer-Baltin bekam Mitte Juni den preußi­ schen General (und späteren Mitinitiator der Reichswehr) von Seeckt vorgesetzt, Doderers VI. Korps wurde überhaupt der zweifelhaften Ägide des Freiherrn entzogen und dem bayrischen Grafen von Bothmer, mithin dem Kommando der deutschen Südarmee, unterstellt. Die zeitgleichen Landgewinne des Zaren­ heeres an Pruth und Dniester, an Styr und Pripiatj beruhten im übrigen gewiß auf dem Effekt der Überrumpelung, auf der Strategie simultaner Attacken an verschiedenen Punkten der Kampflinie und auf dem Prinzip des Erstschlags ohne Rücksicht auf Verluste, sie beruhten allerdings auch auf dem, was Norman Stone „an advantage of backwardness“ genannt hat: gerade Brussilows Generäle Lesch, Kaledin, Sacharow, Schtscherbatschew und Letschitzki setzten angesichts der waffentechnischen Rückständigkeit ihrer Regimenter die Reiterei ungleich häufiger und ausgiebiger ein als der Feind auf der anderen Seite der russischen Südwestfront. Auf dem relativ unkultivierten, im Sommer meist entweder morastigen oder staubigen Terrain Ost­ galiziens zeigten die Pferde jedoch eine damals unübertreffliche Beweglichkeit. In der Tat richteten in solcher Gegend „im Sommer 1916 (...) große russische Kavalleriemassen bei den zurückgehenden Österreichern Verwirrung an, sie waren überall und nirgends. Aber man hatte keine Reiterei mehr im Sattel, welche mit ihnen sich hätte herumschlagen können, und so überfielen sie allenthalben stockende Trains und durcheinander geratene Kolonnen“, läßt Doderer selbst seinen Erzähler im Roman „Der Grenzwald“ zusammenfassen. Die 3. turkestanische Schützendivision der Armee Schtscherbatschew hatte in besagtem Raum und Zeitraum jene 12. Infante­ riedivision, in deren Verband der nachmalige Schriftsteller war, zum direkten Gegner. Die Feuerlinie verlief Anfang Juni noch am Strypa, einem Nebenfluß des Dniester. Kurz vor der Mo­ natsmitte besetzten Schtscherbatschews Soldaten die am Strypa, immerhin mehr als 50 km westlich der alten Husiatyner Grenze, gelegene Bezirkshauptstadt Buczacz, zwei Wochen später hatte sich, entlang der strategisch wichtigen Bahnverbindung Stanis-

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lau-Monasterzyska-Buczacz-Husiatyn, die Feuerlinie aber­ mals, um io km, weiter nach Westen verschoben. Unmittelbar dahinter, und zwar knapp außerhalb des Dorfes Olesza, 3 Wegstunden nordwestlich der gefallenen Bezirkskapitale, be­ fand sich zusammen mit seinen Divisionskameraden Heimito von Doderer. Die Schützengräben waren an den Hügelrücken bei Olesza angelegt worden; dort wachte und schlief unser gelernter Dragoner, vermutlich von Anfang an mit dem Gefühl, „im Graben verkommen (...), also deklassiert“ zu sein, wie es in Doderers „Nachtbuch“-Eintrag vom 25. Mai 1957 heißt. Die Ruhetage Anfang Juli jedenfalls waren trügerisch. Schon am 5. Juli unternahm General Schtscherbatschew einen Versuch, die Riegelstellung von Bothmers Südarmee zwischen Buczacz und Monasterzyska zu durchbrechen; am 10. sichteten Bothmers Flieger unweit der Bahntrasse Anhäufungen russischer Trup­ pen, die einen baldigen Angriff erwarten ließen. Aus der Er­ wartung sollte bald böse Erfüllung werden. Binnen weniger Stunden waren die 3. turkestanische Schützendivision und das XVI. Infanteriekorps der Armee Schtscherbatschew auf den Hügelfluren zwischen Olesza und den benachbarten Ortschaf­ ten Hreheröw und Kurdwanöwka zum Sturm bereitgestellt. Zunächst verwirrten jedoch die Russen den Gegner mit starkem Artilleriefeuer im Abseits des Operationsgebietes. (Ablen­ kungsmanöver waren Kernelemente im Brussilowschen Kon­ zept.) Am 12. Juli nahmen russische Batterien in den frühen Nachmittagsstunden die Linie Hreheröw-Olesza unter heftigen Beschuß; ein Vorstoß der Angreifer über Hreheröw scheiterte, nördlich Oleszas aber wurde Arz* 57. Infanterieregiment durchbrochen, und auch die Divisionsreserven, die Bothmer in die Bresche werfen ließ, konnten den fast sofortigen Verlust Oleszas und des Abschnittes Hreheröw-Kurdwanöwka nicht verhindern. Wenn die Angabe „eine der Schlachten von 1916, in welcher ich selbst stand: Olesza, 12. Juli 1916, '/1 4 p. m.“ (aus Doderers Tage-,Commentarius‘ vom 4. Mai 1955) auch im Detail der Uhrzeit stimmt, dann muß der Verfasser des Tagebuchs kurz nach jenem Zeitpunkt gefangengenommen worden sein. Am Abend desselben Tages nämlich vertrieben die Südarmee-Ba-

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taillone ihre Opponenten aus den eroberten Stellungen (wobei die Rückeroberung wiederum von kurzer Dauer war: Anfang September, am Ende der Brussilowschen Offensive vom Som­ mer 1916, war Schtscherbatschew noch über Stanislau hinausge­ langt). Daß bei Olesza am 12. 7. 16 eine (der letzten) Reiter­ schlachten des Ersten Weltkriegs) stattgefunden habe, gehört zu den Legenden in der Literatur über Doderer.

2;Eine Voraussetzung der Legende mag Doderers militärische Ausbildung gewesen sein. Dessen mobilisierungsbedingte Aus­ hebung für das 3. k.u. k. Dragonerregiment im Frühjahr 1915 bedeutete, ungeachtet der vorhin besprochenen taktischen Ab­ wertung der österreichisch-ungarischen Kavallerie, die Unter­ werfung unter einen gründlichen und strengen Kanon. (Als er eingezogen wurde, war Doderer, am 5. September 1896 in Hadersdorf, am Westrand Wiens, geboren, 18 Jahre alt; in Friedenszeiten begann die Stellungspflicht mit dem 1 .Januar des Kalenderjahres, in dem der künftige Rekrut sein 21. Lebensjahr vollenden würde.) Mit dem Dragonerregiment „Friedrich Au­ gust König von Sachsen“ hatte sich Doderer innerhalb der allgemein als Waffengattung des Establishments betrachteten Reiterei die vielleicht prestigeträchtigste Einheit ausgesucht: es war das klassische Votum eines nachgeborenen, ledigen Sprosses aus einem hochvermögenden Haus der Monarchie. Die Wahl des Truppenkörpers zählte zu den Begünstigungen, die Heimito von Doderer als Einjährig-Freiwilliger genoß. Ein anderes großes Privileg der k. u. k. Einjährig-Freiwilligen war die im Vergleich zur je nach Waffe zwei- oder dreijährigen aktiven Normdienstzeit im Heer halbierte bzw. gedrittelte Länge des Präsenzdienstes. Hinzu kam, am Ende oder schon im Laufe des Dienstjahres, die Offiziersprüfung: wer sie bestand, wurde Reserveoffizier oder (falls der entsprechende Bedarf des Heeres vorerst gedeckt war) zumindest Kadett der Reserve mit besten Aussichten auf eine baldige automatische Beförderung. Vom Einjährig-Freiwilligenrecht konnten allerdings nur die Ab­ solventen der Gymnasien und gleichgestellter Anstalten Ge­ brauch machen. Außerdem mußte der Dienst in der Regel auf

eigene Kosten abgeleistet werden, und bei der Kavallerie schloß dies fast immer die Haltung eines eigenen Pferdes ein. In puncto Besitz war der junge Ritter von Doderer als Sohn eines bekannten Bauingenieurs und Unternehmers bestens do­ tiert. Die Matura hatte er im Juli 1914 erworben - im Landstraßer Gymnasium, in der „gräßlichen Jugendheimat jenes dritten Wiener Gemeindebezirks“ (aus dem ,Commentarius‘ vom 17. April 1952). Im Herbst desselben Jahres hatte er an der Wiener Universität, als Verlegenheitsstudium, Jus inskribiert. Die for­ melle Einreihung Heimito von Doderers in das 3. Dragonerregi­ ment datiert vom März 1915. Mitte April wurde er in der Breitenseer Kaserne im 14. Wiener Bezirk vorstellig (das Ge­ bäude ist heute nach drei im Zweiten Weltkrieg gefallenen Offizieren benannt), er bezog allerdings, entsprechend den Ge­ pflogenheiten der wohlhabenden berittenen .Einjährigen*, Quartier außerhalb der Kaserne, in einem Haus nahebei. Nach den Rekrutenwochen begann die Spezialausbildung in der Reserveoffiziersschule der k. u. k. Kavallerie in Holic, einem hart an der March auf damals ungarischem Staatsgebiet gelege­ nen slowakischen Dorf. Der Lehrgang war erst im Dezember 1914 als zentrale Unterrichtsstätte für alle Dragoner, Husaren und Ulanen auf Schloß Holic eingerichtet worden, das zuvor als Sommersitz des Wiener Reitlehrerinstitutes fungiert hatte. Ab­ gesehen von der Infrastruktur des Schlosses und seiner Stallun­ gen bot die waldige und alleenreiche Umgebung der Ortschaft ein ausgezeichnetes Reitrevier. „Die Schule war ganz übermäßig anstrengend, Reiten, Exerzieren und Unterricht von früh bis spät und Felddienst-Übungen bei Nacht wie bei Tag“: E. P. s Darstellung in Doderers Roman „Die Strudlhofstiege“ ist nicht minder faktenorientiert als die Gestalt des E. P. selbst. Wie der Ulanen-Einjährigenfreiwillige Ernst Pentlarz war Doderer Fre­ quentant des siebten Holicer Turnusses: Juli und August 1915. Allmorgendlich um 6 wurde zu Pferd ausgerückt; bis 11 Uhr (mindestens) mußte man sich ins Schulreiten schicken, auch bei heftigstem Regen oder brütender Hitze und in voller Adjustie­ rung, inklusive Säbel, Karabiner, Kartusche und Helm. Der frühe Nachmittag war dem Fußexerzieren, Kapselschießen, Stockfechten und Turnen vorbehalten, der spätere Nachmittag

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und der frühe Abend dem theoretischen Unterricht: dem Exer­ zierreglement, der Waffenlehre, der Heereskunde, dem Militär­ geschäftsstil, dem Pferdewesen. Am Sonntag waren, nach dem Kirchgang um 6 Uhr 30, zwei Stunden Satteln, Packen und Zäumen obligat. Nicht eingerechnet sind bei diesem Standard­ pensum die nächtlichen Bereitschaftsübungen, das Studium zur Offiziersprüfung und der tägliche Weg vom Logis, um das man sich selbst zu kümmern hatte, zum Schloß und zurück. Selten dürfte sich demnach die Gelegenheit ergeben haben, daß man „abends ein altmodisches Ungetüm von Landauer“ bestieg und „in die March-Auen (fuhr) um zu baden, um sich endlich abzukühlen“ (E. P.). Der nichtfiktive Kommilitone E. P. s hat jedenfalls das Examen, das Reit- und Kommandopraxis, Reko­ gnoszierung und Verfolgung und die aufgezählten Theoriefächer umfaßte, mit respektablem Erfolg abgelegt: laut der im Septem­ ber 1915 angefertigten „Rangierungsliste VII“ der Reserveschule kam Doderer unter den 49 Einjährig-Freiwilligen seines Kurses auf Rang 15; seine „Konduite“ wird da mit „sehr gut“ bewer­ tet, und in der Rubrik „Eigenschaften des Charakters“ ist ein „sehr anständig“ notiert. Die Wohlkonduite hatte die Ernen­ nung zum Patrouillenführer gebracht (Mitte Juli), dann die Beförderungen zum Korporal und zum Zugsführer (Mitte Au­ gust), und Doderers Regimentskollege Ernst Putz weiß über jenen aus der Holicer Zeit nichts Suspekteres zu referieren, als daß der Kandidat, um sich vor dem schreiwütigen Instruktor Rittmeister von Schildenfeld zu behaupten, bei einer Komman­ doübung die Befehle mit Radikalgebrüll erteilt habe, „so kräftig, daß die Pferde erschreckt auseinanderwichen. Aber wider Er­ warten mißfiel das dem Rittmeister dieses Mal, denn er brummte halblaut vor sich hin: ,der blöde Kerl glaubt, er kann mir imponieren, wenn er so brüllt1, wobei er sich zornig in den Schnurrbart biß“. Auf die bestandene Offiziersprüfung folgte verbindlich das Stadium der infanteristischen Zusatzausbildung in Bruck an der Leitha (Niederösterreich), dem Sitz der Armeeschießschule: das bedeutete anno 1915, nach der besprochenen Einpassung der Kavallerie in die Funktionen der Fußtruppen, vier Wochen intensiver Unterweisung in Geländebenützung, Operationsbe-

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obachtung, Nahkampf, Schwarmformation, richtigem Umgang mit Maschinengewehren und Repetierpistolen (und vier Wochen unkommoden Hausens im Behelfsheim des Brücker Übungsla­ gers). Die letzte Phase der Standardschulung war die interimisti­ sche Rückkehr - in unserem Fall, zu Beginn des Herbstes 1915, nach Wien - zur Ersatzeskadron des Stammregiments. Dabei sollten die jungen Chargen weiter lernen, eine Mannschaft zu führen und deren Vertrauen zu gewinnen, um endlich via Ersatz­ transport zur Armee im Feld gesandt zu werden. Mitte Januar des Jahres 1916 kam der Kadett i.d. R. Franz Carl Heimito Ritter von Doderer nach Lemberg und an die südostgalizische Front.

Ein halbes Jahr später fuhr er, nunmehr Fähnrich i.d.R., in einem Wagen IV. Klasse der transsibirischen Eisenbahn in die Ferne der Gefangenschaft: über Samara, Ufa, Omsk, Irkutsk und Tschita nach Krasnaja Rjetschka, dicht bei Chabarowsk. Hier, im äußersten Osten seines asiatischen Besitzes, hatte Ruß­ land vor und nach dem ruinösen Krieg gegen Japan starke Garnisonen aller Waffengattungen eingerichtet. Nun standen aber, da ja das entgegengesetzte Ende des Zarenreiches Kriegs­ schauplatz war, die meisten der Militärobjekte leer, und es lag nahe, Kriegsgefangene darin unterzubringen. Die Verschickten traten als Verbraucher an die Stelle der abkommandierten Solda­ ten, die Lebensmittelversorgung ließ sich klaglos umfunktionie­ ren (und erhielt vonseiten mehrerer Hilfsorganisationen Verstär­ kung, vor allem aus den neutralen Staaten Dänemark und Schwe­ den). In den Holz- und Ziegelbauten von Krasnaja Rjetschka wohnten so, eher recht denn schlecht, an die tausend österrei­ chisch-ungarische, deutsche, türkische und bulgarische Offi­ ziere. (Im Hinblick auf die Mannschaft, die mit Erdbaracken vorliebnehmen mußte, wäre allerdings das .schlecht“ dem .recht“ voranzustellen.) „Man lebte hier, wie’s einem grad paßte, schlief lang oder stand zeitig auf, und die Russen waren die letzten, die irgendwen störten oder irgendwem was vorschreiben wollten“, anerkennt der Erzähler des „Grenzwaldes“, einer Prosaarbeit, in der Doderer, wie schon im Roman „Das Geheimnis des Reichs“, ij6

Daten und Taten der Internierten verwertet hat. Daß das Wort von der Jnternierung“ dem positiven Lagerdasein generell eine sehr ungefähre Rechnung trägt, ist in „Grenzwald“ und „Ge­ heimnis“ sowohl als auch in außerliterarischen Quellen nachzule­ sen - und in manchen Passagen der „Sibirischen Klarheit“. Auch dort, wo sie nicht mit Visiten neutraler Beobachter rechnen mußten, hielten sich die Militärgewaltigen Sibiriens an fast alle im Haager Abkommen von 1907 verankerten Leitsätze über huma­ nen Kriegsgewahrsam. Ein konfinierter Offizier bekam dieselbe Gage wie eine ranggleiche Charge der Aufsichtführenden, durfte Uniform und Privateffekten behalten und sich aus der Heimat praktisch alles Erdenkliche außer Waffen und spionageverdäch­ tigem Gut schicken lassen. Wollte er in der Garnisonsstadt etwas besorgen, konnte er eine Wache damit beauftragen. (Vom No­ vember 1917 an verbesserten sich die Aussichten auf einen Passierschein zusehends.) Ein Spaziergang außerhalb des Lagers war allemal möglich; die raren Ausreißer, die nicht in der Weite und dem Klima des Landes umzukommen fürchteten oder um­ kamen, wurden sowieso beinahe unweigerlich aufgegriffen. Der Zwang zur Freizeit aber ließ sich beschäftigungstherapieren: es wurde geturnt und Mannschaftssport betrieben (in Krasnaja Rjetschka überwog der Fußball), gewettet und gepokert, Schach und Mühle gespielt, Musik, Theater, Cabaret gemacht, debat­ tiert, philosophien, politisiert, gebastelt, geschachert, homound heterosexuell geliebt (letzteres gelegentlich eines Ausgangs, oder indem man die Mädchen in maskuliner Verkleidung, mit­ unter in martialischer Adjustierung ins Lager schmuggelte), es wurde gemalt, komponiert, gedichtet und ungeheuer viel gelesen und studiert. Jedes .Woyennyi-Gorodok“, jedes für die Gefan­ genen adaptierte ,Garnisons-Viertel‘ hatte (mindestens) ein Kaf­ feehaus, aber auch eine eigene Bibliothek, die mit den Büchern der Lagerinsassen, den häufigen und reichhaltigen externen Bü­ cherspenden und russisch-, deutsch-, tschechisch-, ungarisch­ sprachigen Tageszeitungen und Fachzeitschriften bestückt wurde. „Formal education was one of the most remarkable POW activities“ (Gerald H. Davis). Die Akademiker konnten ihre Disziplinen pflegen und sich neuer annehmen. „In den Sälen sah es abends aus wie in einer öffentlichen Bibliothek: viele

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Studierlampen“, wird im „Grenzwald“ über das Innere der Offiziersbaracken von Krasnaja Rjetschka mitgeteilt. Im Frühsommer 1918 verließ Doderer das Lager bei Chaba­ rowsk, aber nicht (Sowjet-)Rußland. Gemeinsam mit zahlrei­ chen anderen Mitverbannten trat er in westlicher Richtung die transsibirische Reise an, die ihn gut anderthalb Jahre zuvor in das Amurgebiet geführt hatte; als neue Ziele stellten sich zwei mittelsibirische Städte heraus, zuerst Nowo-Nikolajewsk, das heutige Nowosibirsk, dann Krasnojarsk. Nach dem Friedens­ schluß von Brest-Litowsk waren im März und April 1918 zwi­ schen den Sowjets und den Mittelmächten vielversprechende Verhandlungen über den Austausch der Kriegsgefangenen ange­ laufen; konkrete Abmachungen kamen allerdings, wenn über­ haupt, nur schleppend zustande. Die Verhandlungsbasis des von der Revolution, dann vom Bürgerkrieg erschütterten ehemaligen Zarenreichs war überaus labil, die Verkehrsverbindungen, über die 2,2 Millionen Deportierte nach Wien und Berlin, Prag und Budapest, Sofia und Konstantinopel hätten zurückbefördert werden sollen, waren in - vorsichtig ausgedrückt - desolatem Zustand. Auch schränkte die westliche Signatarseite des Brester Friedens ihre Aufnahmebereitschaft ein, da sie die Gefahr aus­ machte, daß die Rußlandheimkehrer bolschewistische bzw. kommunistische Beeinflussungen mitbringen könnten: der Ver­ dacht, die liberale Behandlung der Gefangenen durch die So­ wjets erfülle propagandistische Zwecke, war nicht von der Hand zu weisen. (Vor allem im europäischen Teil des neuen Rußland sollte unter den Vertretern des ausländischen Klassenfeindes bald lebhaft für den Eintritt in die Rote Armee geworben werden.) Dem und den Arrestanten aus Krasnaja Rjetschka aber wurde letztlich, wie tausenden anderen, die sogenannte Tsche­ chische Legion zum Verhängnis. Die .Legion“ war - mit der Hilfe aller Ententestaaten und hauptsächlich durch die Anwer­ bung der in Rußland befindlichen autonomistischen, vom k. u. k. Heeresverband abtrünnigen tschechischen und slowaki­ schen Kriegsgefangenen - gleichsam als bewaffnetes östliches Detachement des in Paris tagenden Tschechoslowakischen Na­ tionalrats Tomás Masaryks zustandegekommen. Die CSR-bestrebte Streitmacht, die im Januar 1918 offiziell dem französi-

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sehen Heer einrangiert worden war, blieb nach Brest-Litowsk entschlossen und ermächtigt, einen Separatkrieg gegen Oster­ reich-Ungarn weiterzuführen. Als jedoch im Mai des nämlichen Jahres der Volkskommissar für Landesverteidigung Trotzkij, in völliger Abkehr von den Verträgen zwischen Paris und Moskau und von persönlichen Zusagen Lenins, anordnete, die 60000 .Legionäre“ mögen nicht nur ihre Waffen abliefern, sondern auch statt in Wladiwostok sich in den Eismeerhäfen nach Frankreich einschiffen, als gegen die insgesamt antikommunistisch gesinnte Legion weitere Schikanen in Gang gesetzt und die Moskauer Emissäre Masaryks verhaftet wurden, als endlich Trotzkijs Ver­ fügung ruchbar wurde, jeden Tschechen oder Slowaken, der sich auf der transsibirischen Strecke bewaffnet antreffen ließ, stand­ rechtlich zu erschießen, revoltierte die Legion (Ende Mai und Anfang Juni) offen gegen die Rote Armee, um den Abzug über Wladiwostok bedingungslos zu sichern. Im Handstreich okku­ pierte der neue, exzellent ausgerüstete Verbündete der Weißen vom Pazifik bis über den Ural hinaus, bis Ufa und Samara, die Bahnhöfe der kontinentalen Lebensader (deren sibirischen Teil behielt er mehr als ein Jahr lang in seiner Gewalt). Auf derlei Hintergrund wurde der Fähnrich Doderer auf seiner vermeintlichen Heimreise gemeinsam mit ungezählten anderen wahrscheinlich im Juni 1918- genauere Daten sind nicht eruierbar - aufgehalten, noch ehe er Samara passieren konnte, und sozusagen als Gefangener zweiter Instanz zurück an den Ob und nach Nowo-Nikolajewsk verbannt. Für die Tschechische Legion waren die Soldaten und Chargen der Mittelmächte ja nach wie vor Kriegsgegner, für die Weißen waren sie obendrein potentielle Parteigänger der Roten. Für einen Beamten des Kriegsministeriums in Wien aber war inzwischen der vermißte Offizier Doderer anscheinend selbst dem Namen nach aus allen heimischen Rahmen gefallen: in einer auf den Stichtag 3. No­ vember 1917 bezogenen ministeriellen Verlustliste ist ein Drago­ nerfähnrich mit dem interessanten zusammengesetzten Fami­ liennamen „Doderer-Heimito“ angeführt, Vorname: Franz. Die Verlegung von Arrestanten aus Nowo-Nikolajewsk, wo Doderer sich in einem Lager-Fußballteam brillant bewährt hatte („Ich spielte rechts Verteidigung [...]. Ich war beliebt. Der Ruf

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,Hoppauf, Heimito!“ oder .Heimito! Schuß!“ wurde [...] oft gehört“, liest man in einem Essay des Bandes „Die Wiederkehr der Drachen“) - die Verlegung Doderers und anderer Offiziere aus Nowo-Nikolajewsk ins 600 km weiter östlich gelegene Krasnojarsk im Frühjahr 1919 wurde wiederum durch die Eska­ lation des russischen Bürgerkriegs ausgelöst: beim Defensiv­ kampf gegen die von Westrußland her immer rascher vorrücken­ den roten Truppen ließ die weiß-tschechische Koalition die Deportiertencamps, die sie für ihre eigenen zurückweichenden Truppen benötigte, räumen - unter anderem auch Nowo-Nikolajewsk. Das Krasnojarsker Lager war für Doderer die letzte sibirische Verbannungsstation, zugleich die größte: im ,Woyennyj-Gorodok“, das „hoch über der Stadt“ am Jenissej errichtet worden war, beim „Zusammenstößen des mächtig aufgeworfenen Wald­ gebirges vom Süden her mit den im grauen Schneedunst entflie­ henden Steppen des Nordens“ („Das Geheimnis des Reichs“), waren bis zu 8000 Mann untergebracht. Deren Bewachung wurde von den gegenrevolutionären Machthabern vorüberge­ hend verschärft, die Lagergrenzen blieben dennoch durchlässig. Der dichtbesiedelte umgewidmete Kasernenkomplex entwikkelte sich so zum Areal besonderer gewerblicher Aktivität; viele Räume der Mannschaftsbaracken wie der Offiziersgebäude ver­ wandelten sich in kleine Betriebe und Werkstätten, in denen Gebrauchs- und Kunstgegenstände hergestellt, Anzüge ge­ schneidert, Uniformen ausgebessert, Schuhe geflickt, Hufe ge­ schmiedet, Handwagen und Schlitten repariert wurden. Für die Zimmer, in denen man zu sechst, zehnt, vierzehn! koexistieren mußte, aber auch für allfällige Abnehmer aus der Stadt wurden Pritschen und Matratzen, Stühle und Kästen, Pulte und Regale gefertigt (in den Innenhäusern des Lagers sorgten aus Pappe oder Stoff fabrizierte Zwischenwände für ein Minimum an Privat­ sphäre). Einem drucktechnisch gewitzten Lagergenossen und Landsmann Doderers namens Rudolf Haybach gelang es, eine vollständig aus Holzteilen zusammengesetzte, offenbar recht effiziente Rotationspresse zu bauen; mit ihr wurden Lagerzei­ tungen, Bekanntmachungen, Kunstblätter, radierte Ansichts­ karten, Holzschnitte und Zeichnungen, wie sie in diesem Band

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zu sehen sind, Werbeplakate für die Geschäftsleute inner- und außerhalb des Militärrayons vervielfältigt. Bei der Motivgestal­ tung zeigte sich neben Dipl.-Ing. Haybach der Wiener Maler und Graphiker Erwin Lang, der noch vor Kriegsbeginn als Mitglied der Secession bekannt geworden war, sehr erfinderisch. (In Wien sollte Haybach Doderers erster Verleger werden, und Lang sollte für Doderers Ur-Publikation bei Haybach, den Gedichtband „Gassen und Landschaft“, das Titelblatt gestal­ ten.) Zu den meistverbreiteten Erzeugnissen der Lagerpresse zählten indes Produktetiketten mit wunderlichen Aufschriften vom Typ .Champagne mousseux - servir ä froid“, ,Brillantine“, .English Piaster“, .Cappelli Borsalino“. Zwischen dem ,Gorodok“ und Krasnojarsker Händlern war ein perfider Fälschungs­ pakt geschlossen worden: letztere versahen Waren obskurer Herkunft mit den nobel anmutenden Markenzeichen, und die Labelschöpfer erhielten dafür Gratislieferungen und ansehnliche Honorare. Weniger Anklang fand ein Amateurfabrikant, der im Lager während der langen Wintermonate auf die Idee gekommen war, aus einer Mischung von Teer und Sand Knöpfe zu gießen: zwar setzte er auf dem Krasnojarsker Markt Hunderte von Garnituren ab, doch stellte sich im Sommer bald heraus, daß die Knöpfe sich in der Hitze auflösten und über Jacken und Hemden herabtropften. „Der brave Knopfmacher suchte durch Verände­ rung der Barttracht den Schlägen zu entgehen, die ihm drohten“ (Erwin Lang in seinen sibirischen Memoiren). In minder riskan­ ter Weise trachtete Doderer die Rubel- und Gehaltsentwertung durch Nebenverdienste auszugleichen: er betätigte sich als Akkord-Kaffeemahler, dann - im Sommer 1919 - in den Wäldern südlich Krasnojarsks als Holzfäller. Die Schlägerungsaufträge kamen von der Stadtverwaltung, es sollte Brennholz beschafft werden. (Daß die Flucht der billigen Lager-Waldarbeiter eine entlegene Eventualität blieb, dazu trug nun auch der Bürgerkrieg bei.) Im Herbst 1919 und im darauffolgenden Winter wurden die Berichte und Gerüchte über den Vormarsch der Roten, die Rückzugsgefechte der Weißen, die beginnende Agonie der Streitkräfte des Admirals Koltschak auch am Jenissej immer üppiger, und die Folgen wurden abermals handgreiflich: Sympa­ thisanten und Soldaten Koltschaks und der Tschechischen Le­

gion suchten just im relativ großen Krasnojarsker Gefangenen­ bezirk Schutz und Obdach. Mit den früheren moderaten Be­ quemlichkeiten war es nun vorbei. „Man mußte übrigens die Deutschen und Österreicher aus ihren Quartieren nehmen und zusammenpferchen, um Raum zu schaffen. Alle Offiziere verlo­ ren ihre ein wenig geräumigeren Unterkünfte “, und „am Ende hieß es die Steingebäude überhaupt verlassen und Erdbaracken beziehen. Hier lebte man, bei kaum vier Grad über dem Null­ punkt und von 4 Uhr nachmittags an in Dunkelheit“ („Das Geheimnis des Reichs“). Krankheiten, vornehmlich Infektio­ nen, wurden jetzt häufiger denn je. Tausende, ja vermutlich knapp die Hälfte der Lagerinsassen fielen dem Flecktyphus, der Tuberkulose, der Ruhr, dem Skorbut zum Opfer. Unterdessen konnte sich auch in die Nachrichten aus Mitteleuropa die wilde­ ste Fama mengen, beispielsweise: „Kaiser Karl ist mit Zügen von Lebensmitteln und Geld aus der Schweiz nach Österreich zu­ rückgekehrt, Linz bejubelt seinen Einzug“ (aus den Aufzeich­ nungen Erwin Langs). Im April 1920 befanden sich noch rund 400000 Verschickte aus den vormaligen Zentralmächten in den Lagern zwischen Tarnopol und Jakutsk. Deren Rückholung aus dem noch immer nicht befriedeten (Sowjet-)Rußland blieb schwierig, obwohl der neu ernannte Hochkommissar des Völkerbundes, der berühmte norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen, sich mit großem Engagement für die Entbürokratisierung der Heimtransporte einsetzte. Nun gesellte sich Doderer zu denen, die beim Warten auf eine offizielle Reisebewilligung den Geduldsfaden nicht weiter ausspannen mochten. Im Juni oder Juli 1920 schloß sich der Fähnrich, dessen Regiment jetzt .Reiterschwadron Nr. 2' hieß, einer Arbeitsgruppe an, die in der Nähe des westsibirischen Petropawlowsk (wiederum auf Anweisung der örtlichen Ver­ waltungsbehörde) Getreide dreschen sollte. Zum Gruppenfüh­ rer war Leutnant Haybach bestimmt worden. Nach einigen Tagen Dreschermühe eröffneten Doderer und zwei andere Offi­ ziere dem Leutnant ihre Fluchtabsicht. Nachdem Haybach seine Deckung zugesagt hatte, brachen die drei, mit sparsam berech­ netem Proviant versorgt, eines Abends zu Fuß auf. Sie wander­ ten rund 400 km, durch das nördliche Kasachstan und bis zu den 742

Ausläufern des Ural. Städten und größeren Dörfern wichen sie aus; bisweilen suchten sie in einem Gehöft Rast und Bekösti­ gung. Ob oder wann deren Wege sich trennten, läßt sich nicht feststellen. Doderer selbst dürfte sich in Tscheljabinsk oder Ufa in einen Bahnwaggon gestohlen haben und als blinder Passagier nach Petrograd gelangt sein. Von dort fuhr er, wahrscheinlich mit einem Schiff der Repatriierungsorganisation des Völkerbun­ des, nach Stettin, dann, wieder per Bahn, nach Hamburg und von dort endlich nach Wien. Am 14. August „stand (ich) in einem englischen Soldaten-Rock, den man mir zu Stettin nach der Landung meiner Zerlumptheit wegen gegeben hatte, vor dem Elternhause, in welches mich die inzwischen neubestallte Hausmeisterin, die mich nicht kannte, kaum hat hineinlassen wollen“ (aus dem „Tangenten“-Tagebuch unter dem Datum des 14. August 1945). Das Wagnis der Rückkehr hatte Doderer glücklich hinter sich gebracht, das Wagnis des Schreibens indes, an das er sich in Sibirien gemacht hatte, sollte er bis an sein Lebensende auszustehen haben.

Zwar verriet Doderer einmal, Ende der fünfziger Jahre, in einem Interview, er habe sein allerfrühestes (für uns nicht erhaltenes) literarisches Schreibexperiment während seines ersten und letz­ ten Fronturlaubs im Juni 1916 im elterlichen Landhaus in Prein an der Rax (Niederösterreich) unternommen. Die definitive und ergiebige Entscheidung, Schriftsteller zu werden, ließ er aber bald nach seiner Gefangennahme im transbaikalischen Rußland reifen; diese „primäre Wahl, welche die Gesinnung meines Lebens fortan bestimmte. Es war am Beginne meines einundzwanzigsten Lebensjahres, in Ost-Asien“ („Commentarii“, 11. April 1953) hat er selbst in seinen Aufzeichnungen öfter evo­ ziert. Den prompten Niederschlag jenes im heimlichen Wahl­ kreis Krasnaja Rjetschka abgegebenen Votums dokumentiert der vorliegende Band allerdings im Widerspruch zu Doderers Selbstzeugnissen, die Abhandenkommen oder Vernichtung der sibirischen Schriften vermelden und dabei - so der Tagebuchein­ trag vom 16. November 1931 - lediglich „ein paar (...) in meinem ersten Buch (...) (Gassen und Landschaft, 1923)“ ver-

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öffentlichte „Verse“ ausnehmen. Auf ein gut Teil seiner frühe­ sten Texte treffen Doderers Verlustmeldungen wohl zu; neben der erwähnten Preiner Ouvertüre sind beispielsweise die „Kras­ nojarsker Variationen“ und die „Untersuchungen“ „I“ und „II“, die einige Male in „Tangenten“ und „Commentarii“ erwähnt werden, freilich auch beträchtliche Partien zweier in diesem Buch vertretener Kompositionen verschollen. Andererseits be­ steht kein Grund anzunehmen, daß der Autor etwas unterschla­ gen wollte, indem er etwa die hier mitpublizierten „Dilettanten der Armut“ ausdrücklich „verloren“ gab (im „Commentarius“ vom 23. Januar 1952): er wußte sichtlich selbst nichts über den Verbleib der Texte (und wollte vielleicht darüber auch nichts wissen, hatte er doch von der Prosa und Lyrik seiner Anfänge schon Mitte der zwanziger Jahre keine gute Meinung). Unser Informationsvorteil hinsichtlich der Überlieferung des russischen Œuvres Heimito von Doderers ist mäßig - und schnell beschrieben. Das Manuskript des „Katharina“-Fragments gehört zum Dodererschen Nachlaß, der 1968 aus dem Besitz der Witwe des Dichters der österreichischen Nationalbi­ bliothek übergeben wurde. Die ebenfalls fragmentarischen Ge­ schichten von Stangeler und Lill, für die wir den Titel „Falsche Erwartungen“ vorschlagen, und das Stangelersche „Finale“ wur­ den dank der Vermittlung von Frau Dr. Gabriele Steinhart vor einigen Jahren in die Handschriftensammlung der Wiener Stadtund Landesbibliothek aufgenommen. Das „Märchen“ der „Fortunatina“ war noch in Rußland von Johannes Eggenberger, einem Maler und Bekannten Doderers, abgeschrieben worden. Eine Photokopie dieses Manuskripts wurde von Prof. Erwin Lang aufbewahrt. Sie ist, zusammen mit den Ablichtungen der übrigen handschriftlichen Originale der „Sibirischen Klarheit“, im Doderer-Archiv des Institutes für Germanistik der Universi­ tät Wien einsehbar. Diese übrigen Originale - die zuvor geson­ dert genannten natürlich ausgenommen - sind 1986 in Innsbruck entdeckt worden, und zwar bei Frau Dr. Helga Kutscha, einer Enkelin Ilse Mayers, der ältesten Schwester Heimito von Dode­ rers. (Frau Mayer und ihr Mann waren Anfang des Jahrhunderts von Wien nach Innsbruck gezogen.) Die Kanäle, durch welche die Texte zwischen Sibirien und Tirol geleitet worden sind,

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haben sich nicht ergründen lassen. Was die genetischen Verhält­ nisse anbelangt, so müssen „Die Singvögel“, „Der Centaur und die Springschnur“, „Der Tod und der Starke“, „Schnee­ schmelze im Hof“, „Das Treibhaus“, „Kaulquappen“, „Der Abschied“, „Slobedeff“, „Der Brandstuhl“, „Falsche Erwar­ tungen“ und „Finale“ in Krasnaja Rjetschka entstanden sein, in jenem sibirischen Fernost also, in dem Doderer die ersten 18-19 Monate seiner Gefangenschaft zubrachte. Am Ende der zwei zuletzt genannten Partien finden sich Datumangaben („März 1918“, „März 1917“); ansonsten ist die genetische Zu­ weisung „aus keiner direkt beigegebenen Datierung zu erschlie­ ßen, sondern lediglich aus der Erwähnung (vgl. die ,Schnee­ schmelze im Hof“ unter dem Datum des 7. April, sc. 1918, S. 24), daß Doderer hierher (nach Krasnaja Rjetschka) vor sech­ zehn Monaten aus Chabarowsk gekommen wäre, was nur in diesem Lager möglich ist, denn in keinem anderen war er so lange geblieben“ (Wendelin Schmidt-Dengler). Die Originale der „Katharina“ und der „Holzschnittexte“ sind vom August resp. vom Dezember 1918 datiert, man darf die Genese dem­ nach in Nowo-Nikolajewsk verorten, dem Schauplatz der ,mittleren Sibirienperiode“ Doderers. Was endlich die „Caféhaus“-Skizze und die „Dilettanten der Armut“ betrifft, so ge­ ben hier die Originaldatierungen Krasnojarsk als Entstehungs­ ort zu erkennen. In diesem Lager, mithin zwischen dem späten Frühjahr 1919 und dem Frühsommer 1920, ist auch die „Fortunatina“ mit großer Wahrscheinlichkeit konzipiert, mit Sicher­ heit von Johannes Eggenberger aufgeschrieben worden. Die Reihenfolge der Texte in diesem Band könnte man als Kompromiß zwischen der Entstehungschronologie und ander­ weitigen Überlegungen bezeichnen. Im Heckteil der „Sibiri­ schen Klarheit“ gibt, von der „Katharina“ bis zum „Finale“, die gewählte Reihung ja nicht den genetischen Sukzeß bzw. die Diachronie der Herkunftsorte wieder. Das „Finale“ an den Schluß zu rücken, empfahl sich trotzdem, als Schlußpunkt entbehrt es nebenbei insofern nicht einer gewissen Ambivalenz, als es, zusammen mit den „Falschen Erwartungen“, die fiktive Biographie René Stangelers einleitet, einer Gestalt, die schließ­ lich zu einer der wichtigsten werkübergreifenden Doderer-Figu­

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ren werden sollte. Im engeren Sinn läßt sich das „Finale“ als Ausklang jener Episoden um Stangeler und dessen Pseudomit­ schüler Lill lesen; auch deshalb erschien es ratsam, ihm „Falsche Erwartungen“ direkt voranzustellen. Von den Sujets und von deren Namen her passen „Katharina“ und „Fortunatina“ gut zusammen, passend erschien ferner, dem Wiener Ambiente in der einen und der Würdigung Peter Altenbergs in der anderen Geschichte das Wiener Szenario der Stangelerschen Texte folgen zu lassen. Von den „Singvögeln“ bis zu den „Dilettanten der Armut“, im Bereich der .Innsbrucker Schriften“ also, deckt sich die Gliederung des Bandes mit der Disposition der Original­ manuskripte. Last but not least: innerhalb der hier dargebotenen Schriften sind spezielle Evolutionslinien, die es durch strenge entstehungsgeschichtliche Observanz bei der Zusammenstel­ lung herauszustreichen gegolten hätte, nicht erkennbar - wie denn allgemein Doderer in seinem Schaffen weniger stets neue Themen und Motive gesucht hat, sondern vor allem die stets neue Variation bereits vorhandener thematischer und motivi­ scher Grundelemente. Eben in der Begründung dieser Elemente, im nie widerrufe­ nen Ja zur schriftstellerischen Anstrengung bestand zuvörderst Doderers russische (R-)Evolution. Mag sein, daß dergleichen Selbstdeterminierung das Gewicht der äußeren Umstände leich­ ter machen sollte, daß eine vertrauter Reize, herkömmlicher Verheißungen bare Umgebung die produktive Selbstbeleuch­ tung gefördert, die literarische Imagination begünstigt hat, daß das physische Abseits der Sprache dessen, der - als Poet, als Kategoriker des Nichtkategorisierbaren - abseits stehen will, Vorschub geleistet hat: gerade im Hinblick auf die Bedingungen, unter denen sie hervorgebracht wurden, sind die Erzählungen und Skizzen der „Sibirischen Klarheit“ exzeptionell. Soweit ich sehe, bliebe nur noch der Roman „Die große Phrase“ von Rudolf Jeremias Kreutz (eigentlich: Rudolf Kriz, 1876-1949) als merk­ würdiges Rarissimum einer während des Ersten Weltkrieges in russischer Kriegsgefangenschaft und in deutscher Sprache ge­ schaffenen Literatur zu nennen (der Roman kam zunächst, 1917, in dänischer Übersetzung und 1919 auf deutsch heraus). Aber anders als im abschnittweise pazifistischen, weitgehend agitato-

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rischen, sich vornehmlich auf die k. u. k. Militärführung ein­ schießenden Roman des Böhmen Kreutz (der etliche Jahre vor Kriegsbeginn zu publizieren begonnen hatte) erhebt das dodereske „Auftreten des .Schriftstellers“ (1916)“ („Commentarii“, 6. Februar 1959) in seiner Summe nichts polemisch Gerichtetes, nichts formal oder inhaltlich Offensives zur Hauptsache; es produziert vorzugsweise elementare, im gewinnenden Sinn des Wortes schlichte, anschauliche Darstellungsweisen. Vom Be­ ginn seiner literarischen Laufbahn an unterlief der Autor alle zeitgenössische Erzählskepsis und genügte der „Tatsache, daß wir stets bei einer guten Erzählung ihr Substrat (Milieu und .Handlung“, ihre faits divers also) schmackhaft und beinahe lockend empfinden, mag das auch dem Gegenstände nach, den allgemeinen Wertungen entsprechend, durchaus nicht zutref­ fen“ („Tangenten“, aus „Das kahle Zimmer. 1942/43“). Von der argumentativen Festigung solcher Vorlieben durch das thomistische Zutrauen zur Welt-Ordnung ist allerdings in der frü­ hesten Prosa Heimito von Doderers noch keine Spur auszuma­ chen; die eigentümliche Melancholie, die insbesondere die aus Krasnaja Rjetschka stammenden Schriften grundiert, wirkt un­ berührt von der später autortypischen (schicksals-)gläubigen Divination. In der Art eines profanen, immanenten Existentialismus schimmert aber die vielbeschworene und vielgescholtene Doderersche Fatologie auf der ideellen Rückseite von „Der Tod und der Starke“ und „Der Centaur und die Springschnur“ doch schon durch. Die Kraft des .Starken“ besteht in der unverblende­ ten Annahme des Lebens und des Sterbens. Die Dutzendmen­ schen mühen sich ehrlos auf der „Ausladerampe des Lebens“ (S. 14) ab, ohne zu bemerken, daß sie sich auf ihren Exitus zubewegen. „Sie wollten etwas ganz Anderes“ (S. 15). Allein der Würdevolle, der „aufrecht, langsam und sicher“ (ebd.) dem Tod entgegengeht, indem er der eigenen Todverfallenheit entgegen­ kommt, nötigt dem Sensenmann Anerkennung, ja eine .demü­ tige Achtungstellung“ ab (vgl. S. 16). Der gefesselte Zentaur wiederum kann seine Befreiung von den Abderiten und deren Schnur dadurch erwirken, daß er sich listig in die unvermutete Bedrängnis fügt, statt vorschnell aufzubegehren. „Überdies

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ziemt Höflichkeit dem Unterlegenen“ (S. 13) deklamiert er, nachdem er den vorgeblich Überlegenen den Spiegel seiner Lage vorgehalten und die Fänger davon überzeugt hat, daß auch um deren Dasein unsichtbare Stricke sich wie eine Schlinge zu legen drohen. Man darf diese Geschichten auch als Parabeln pro domo auslegen: der Dodererschen Standardformel, wonach der Ver­ ständige sich in sein Schicksal eben schickt, muß die Erfahrung der Kriegsgefangenschaft entscheidenden Auftrieb gegeben ha­ ben. Zu zweifelhaften Ergebnissen muß hingegen kommen, wer „Die Singvögel“ auf Gleichnishaftes hin abklopft. Der kleinen Geschichte vom „Hündchen“, dem „Vogelhäuschen“ und der „großen, gefleckten Katze“ (S. 7) eignet trotz und in ihrer Ver­ bindung von naiven Akteuren und sentimentalischen Arabesken eine spezifische Gewichtlosigkeit, die wie ein Vorgriff auf die dralle Pointenlosigkeit der besten Kurz- oder „Kürzestgeschichten“ des bejahrteren Doderer wirkt. Einen Vorgeschmack der männerphantastischen Höhen und Tiefen des Schriftstellers gibt „Der Brandstuhl“: vom Platz, an den die „splitternackte“ Franziska (S. 39) und ihr „turmhoher Martersessel“ (S. 41) halluziniert werden, führen die Unter­ grundbahnen der Dodererschen Fiktion zu den düsteren Gelas­ sen des Riesenromans „Die Dämonen“, zu den Frauenfolterver­ liesen der Burg Neudegg. In „Schneeschmelze im Hof“ und, eindrücklicher, in den „Holzschnittexten“ schöpft der Autor aus der Not der unwirtli­ chen Gegenden an Ob und Amur die Tugend exakter Registra­ tur, als wollte er die Ferne der „freundlichen Heimat“ in „diesem Deportiertenland“ (S. 18) durch ein sprachlich erweitertes Habi­ tat aufwiegen. Narration und Deskription haken aufs engste ineinander, oder anders: die Beschreibung (einer Schneefläche, -wehe, -schmelze) erzielt lebhafte Wirkungen, versinnlicht das naturhafte Vorrücken der Zeit, schlüsselt den Frost wie das Tauwetter nach mannigfaltigen Prozessen auf. Die Verbannten sind „purzelnde Punkte“ (S. 47) in der Choreographie von Wind, Schnee, Eis, das Widerspiel der Elemente bietet „fortge­ setzt ein Schauspiel von größter Folgerichtigkeit und lückenloser Geschlossenheit“ (S. 50). Die Kargheit der Umgebung ist zu­

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gleich deren Klarheit, und diese Deutlichkeit, die im „heftigen, bösartigen Winter“ (S. 18) und der „glasharten Kälte“ Sibiriens (S. 44, 49) ihre markanteste Ausprägung hat, lenkt den Blick auf spröde Details. Man gerät in Versuchung, Analogien herzustel­ len zwischen dem extremen Klima des nördlichen Ostasien, der Radikalität, mit der da ein Sohn aus reichem Technikerhaus die Berufsorthodoxie der Väter verabschiedete, und seinem Bestre­ ben, die Klarheit, die er sich über seine Beruf(ung)swahl zu verschaffen vermochte, auch in den Formen seiner Kunst nach­ weisbar zu machen. So bestimmt die „winterliche Genauigkeit“ (S. 19) der Chabarowsker Provinz und die „überraschende Ent­ schiedenheit und Genauigkeit“ des „Schneebildes“ (S. 49) von Nowo-Nikolajewsk auch bei der Beobachtung eines „Vorfrüh­ lings, der noch ohne Blumen ist“ (S. 24) oder der „Lichtfülle“ eines „glanzfreudigen“ Sonnentags (S. 48) die Präzision der nar­ rativen und deskriptiven Kontrastmittel. Mit den Schwenks von einem „Stückchen trockener Erde“ (S. 20) über „die gelben Skelette der Sonnenblumen vom vorigen Sommer“ und die „alten Stiefel oder Eisenteile, die am Grunde eines entwässerten Teiches sichtbar werden“ (S. 21) hin zu einem „Schmetterling (...): es war ein schöner Admiral“ (S. 24), mit der Lektüre in einem ungeläufig lakonischen Buch der Natur, dessen „feine Furchen und Striche“ „die Richtzeichen des Windes und die Wanderzeichen des Schnees“ (S. 51) offenbaren, beginnt Dode­ rers Meisterschaft in der Benennung des scheinbar Marginalen, man könnte auch sagen: seine Beweiskette dafür, daß die soge­ nannten „Kleinigkeiten (...) das Große des Lebens ganz enthal­ ten“ („Die Dämonen“). Von den „kleinen Beschäftigungen“ (S. 53) der Besucher einer lagerinternen Gaststätte erzählt die „Cafehaus“-Vignette; was die Traumwelt eines der Lagerinsassen enthalten haben mag, stellt der Erzähler sich und uns im „Treibhaus“ vor. In der stickigen Luft der Barackenzimmer werden, heftiger als im ,Kaffeehaus', Gegenzüge gegen das rauhe Draußen geatmet, und selbst die Weite Sibiriens scheint im weiten Seelenland zu ver­ schwinden. Den Schein bringt die auktoriale Nüchternheit indes früh genug zum Platzen. An die Fähigkeit, auch in der Kriegsge­ fangenschaft, auch in der Einöde der Taiga der Gegenwart

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beizukommen, ohne die „vor- und rückschauende Sehnsucht“ (S. 26) wuchern zu lassen, appelliert „Das Geheimnis des Reichs“ recht laut; die im Roman aus der Warte des längst repatriierten Autors umrissenen Bewährungsproben haben in der älteren Erzählung keinen Platz, diese ist ja, um ihre Meta­ phorik aufzugreifen, selbst ein Gewächshausprodukt. Doderers illusionslose Sicht auf die kleinen Fluchten der anderen Treib­ häusler ist dennoch merklich. In allegorischer Verkapselung führt die nach dem Komponi­ sten „Slobedeff“ benannte Szene die Zerrissenheit des Künstlers zwischen fruchtbarem und furchtbarem Distanzbewußtsein vor. Jeder Unterschied von Musik und Literatur wird überwölbt durch die Anschauung, daß von der Qual der Einsamkeit zu den Wonnen der Gewöhnlichkeit für Slobedeff kein Weg, eigentlich nicht einmal ein Ausweg begehbar ist. In jüngeren Dodererschen Kompositionen tritt der fiktive Tondichter erneut auf, mit dem Makel des „mangelnden Gleichgewichts“ (S. 33) ist er aber in „Die Bresche“ oder „Jutta Bamberger“ nicht mehr behaftet parallel dazu lernte der reale Dichter Slobedeffs das Spannungs­ verhältnis von Gemeinschaftsferne und Textnähe besser auszu­ halten. Apperzeption, eine unbestechliche, den Abstand von Ich und Welt im Doppelsinn des Wortes aufhebende Wahrneh­ mung, wurde schließlich seine magische Formel; daß an derlei Losungen das Beste die Absicht zu sein pflegt, steht auf einem anderen Blatt. Die Diagnose der mangelhaften Apperzeption, wenn auch weder deren Begriff noch deren Therapie, ist der gemeinsame Nenner von „Der Abschied“ und „Falsche Erwartungen“. Letz­ tere Überschrift - für die erhaltenen Abschnitte eines umfang­ reicheren Textes oder Projekts, denen in der Handschrift „René Stangeler (Novellen)“ und „Lill (8-11)“ als Arbeitstitel vorange­ stellt sind - wäre damit zu rechtfertigen, daß bei René Stangeler das Hauptproblem das gleiche ist wie bei den Lagergefährten, denen der „Abschied“ von Krasnaja Rjetschka bevorsteht: näm­ lich die Tendenz, den „Sinn in der Spielstube der Zukunft tändeln“ zu lassen (S. 30) und sich dabei den je gegenwärtigen Gesichtskreis zu verbauen. René lauert gern dem „Neuen und Abenteuerlichen“ (S. 108) auf, aber an den wesentlichen Bruch-

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stellen der ersehnten Ereignisse kann sein krampfiger Erlebnis­ drang keinen Halt finden. Bei einer Bergwanderung, einer Bahn­ fahrt, einer Unternehmung mit Lill wird die Novität zur Nach­ lese: „Wie - still dies gekommen war, gleichsam unvermerkt, und nun war es da“ (S. 102). Ernst von Lill wiederum hat mit seiner überspannten Nostalgie die Vergangenheit nur aufschür­ fen und aufscheuchen, nicht aufklären oder gar wiedergewinnen können. Sein Fazit: „vergangen ist vergangen“ (S. 109), „man soll auch nicht zurückkriechen wollen!“ (S. 112). Die private Lehre des frustrierten Nostalgikers birgt, zumal wenn man sie mit dem zweimaligen Wort von der „Unwiederbringlichkeit“ im „Abschied“ (S. 30) und insbesondere mit der Miniatur über die „Kaulquappen“ des „Wassergrabens im Hof“ verrechnet, eine durchaus überpersönliche Bedeutung. „Es waren die Überleben­ den eines Riesen-Heeres, das tot lag“ (S. 29), liest man am Ende über die Kriegsgefangenen, die mit zufällig geretteten Froschlar­ ven sich vergleichen ließen; dem Schlußsatz ist die Erkenntnis implizit: es sind Zeugen einer versunkenen Epoche. Von hier liegt Doderers spätere Verliebtheit ins Re-Konstruieren der tempi passati und ins Wegargumentieren geschichtlicher Ein­ schnitte weit ab. Krieg und Gefangenschaft werden als Zäsuren erfahren und wiedergegeben. Allein im Bild der überlebenden „lustigen Leute“ und „lustigen Kaulquappen“ (ebd.) des Lagers sind Ehemals und Jetzt durch eine schmale Klammer verbunden; die „Falschen Erwartungen“ aber präsentieren Selbst- und Iden­ titätsfindung und das Ziel, „seine Persönlichkeit immer ganz (zu) bewahren“ (S. 105), als ein sehr delikates Unterfangen, das in jedem Fall die Narben der verrinnenden Zeit zurückläßt, wenn es auch deren Wunden zu heilen vermag. „Menschwer­ dung“ wird der Verfasser der „Strudlhofstiege“ und der „Dämo­ nen“ diese Aufgabe nennen - und er wird sie in seinen großen ,Wiener Romanen“ als Modell der Bewältigung historischer Umbrüche gestalten. Der Autor der „Sibirischen Klarheit“ macht dieselbe Aufgabe klar, ohne die Lösung hinzuzutun: bemerkenswert ist, daß von Anfang an der spätere Student der Geschichte und der Psychologie (1920-25) die Frage nach der geschichtlichen Kontinuität unter individualpsychologischem Aspekt aufwirft. Wie treffsicher er zur nämlichen Zeit personal-

und sozialpsychologische Sujets zu verflechten imstande ist, belegen „Katharina“ und „Dilettanten der Armut“. Ein paar Bemerkungen seien noch an das längste Kapitel des Bandes, an die Bruchstücke der Stangeler-„Novellen“ geknüpft. Im „Abenteuerlichen“, das René mit unzulänglichen Mitteln abpaßt, liegt ein Kernbegriff des .Novellisten' beschlossen. Ein „reines Abenteuergefühl“ hegt einmal der Ich-Berichterstatter der „Schneeschmelze im Hof“ (S. 24). „Der Abenteurer“, eine „Symphonische Phantasie“ mit polternden Versen, rechnet zu den ersten poetischen Erzeugnissen des Geschichts- und Psy­ chologiestudenten Doderer, einer seiner ersten Zeitungsbeiträge ist mit „Der Abenteurer und sein Typus“ überschrieben: als typisch abenteuerlich begreift der Feuilletonartikel die „zahl­ losen exzentrischen Einzelschicksale“, die in den Kriegswirren sich entsponnen haben, und die „ganz entlegenen Bahnen“ im Leben der Kriegsverschleppten. Bezeichnenderweise ruft Erwin Lang in den oben angesprochenen Rußlanderinnerungen seine Empfindungen, als er von Krasnojarsk nach der Mandschurei auf- oder ausbrach, mit dem Satz herauf : „So müssen die alten Helden ausgesehen haben, denke ich bei mir, die auf Abenteuer in die Welt zogen.“ Und nicht von ungefähr hat Robert Musil die Signatur einer Epoche folgendermaßen zusammengefaßt: „Die­ ser Mensch von 1914 langweilte sich buchstäblich zum Sterben! Deshalb kam der Krieg mit dem Rausch des Abenteuers über ihn, mit dem Glanz ferner unentdeckter Küsten.“ Daraus einen Dodererschen Blutrausch ableiten zu wollen, wäre freilich eine grundverkehrte Unterstellung. Ein Korrektiv dazu läßt sich (zum Beispiel) einem Ausschnitt der „Sibirischen Klarheit“ ent­ nehmen: der für die „Dilettanten der Armut“ zentrale Befund, „die Gemeinsamkeit einer Tat mit hunderten Anderer befreit den Einzelnen spielend von jedem Reste einer möglicherweise vorhandenen Feigheit, von jeder Hemmung und jedem Beden­ ken“ (S. 61 f.), dieser Befund des Ich-Chronisten ist als kriegsund mittelbar selbstkritische Chiffre wohl kaum überinterpre­ tiert. Für die Armutsamateure und, mit einer ganz anderen Bedeutungsvalenz, für Doderers Werkkosmos ist .Abenteuer' dennoch ein Haupt-Wort. Aus dem Irrsinn des Krieges und den Bizarrerien des Lageralltags schließt der bereits anzitierte Feuil­

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letonbeitrag: „Die ehemals ganz obenhin gebräuchliche Phrase .möglich ist alles“, wurde (...) tiefer in unsere Mentalität hinein­ geschlagen, ist ein Teil derselben geworden.“ Den Rekurs auf das unerschöpfliche Potential der Wirklichkeit hat Doderer beim Bau seiner oft wahrhaft abenteuerlichen, andererseits ausnahms­ los veristisch gemeinten Zufalls-, Verwechslungs-, Enthüllungs­ geschichten stets vorausgesetzt. Einerlei, ob etwa die verblüf­ fende Schlußvolte der „Dilettanten“-story wirklich stattgefun­ den hat oder nicht: dem Fabulierer und seinem Nichts-istunmöglich-Gedanken muß beides gleich gegolten haben. Die in der Not verächtlichen .Officiere“ aber werden ob ihrer These vom „Abenteuer“-Dasein einzig deshalb verurteilt, weil sie mit ihr eine unwirkliche, sogar „nicht wahre“ Lebensphase (S. 59) assoziieren. „Das Leben aber ist immer gleich wirklich“, kontert der Erzähler (S. 60) und könnte hinzufügen: sämtliche Aben­ teuer sind lebensgemäß - eine Überzeugung, die zu einer wichti­ gen Dodererschen Maxime bei der Verkraftung privater und öffentlicher Krisen wurde. Nicht der Begriff, sondern der dilet­ tantische Gebrauch des Begriffs .Abenteuer“ wird beanstandet. Der wohlbekannte René und sein Freund Ernst hadern mit einem ähnlichen, sprachgebundenen, jedes Wort bedrohenden Defizit. Es gründet darin, daß der bedenkenlose Einsatz, die anstandslose Übernahme von Ausdrücken und Redewendungen gravierende Fehleinschätzungen nach sich ziehen kann. Solange man „nur die Formen“ (S. 111 f.) nachspricht, ohne die Substanz nachzuvollziehen, solange man auf neue Einsichten oder Erfah­ rungen mit bloßen „Worthülsen“ (S. 57) zusteuert, bekommt man das Gemeinte nicht in den Griff. Anders gesehen : Wert und Macht der Sprache sind für Doderer über jeden Verdacht erha­ ben, solange Diskurs und Sachgefühl ungeteilt bleiben. Auf eine gegenüber dem modernen Sprachzweifel zunehmend eigensin­ nige Haltung hat Doderer sein Schaffen beharrlich abgestimmt. In Sibirien hat er dazu mehr als nur Ansätze entwickelt. Abgese­ hen von den beiden soeben angeschnittenen Fällen ist die Spanne zwischen Sach- und Sprachkompetenz auch für Fortunatina greifbar (vgl. S. 93); noch in einem der vom Kriegsgefangenen Doderer stammenden Gedichte wird die Forderung erhoben: „vergiß die wurzellosen Worte, die sehr leicht berührten“. (Die

zwischen 1916 und 1920 entstandene Lyrik Doderers, sicher keine Paradenummer, ist in der schönen Abschrift Rudolf Haybachs in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek einsehbar. Einige der 19 Gedichte wurden - siehe oben - in den Band „Gassen und Landschaft“ aufgenommen, eine Komposition wurde in der zweiten Auswahl Dodererscher Lyrik, „Ein Weg im Dunklen“, neu abgedruckt.) Außerordentlich differenziert ist die Sprachgestalt der „Scenen“ (vgl. S. 67, 70) mit der Hauptdarstellerin Katharina. Ein Synonym von ,Scenen‘ könnte hier,Romantorso1 sein, denn in einer Tagebuchnotiz Doderers vom 11. Dezember 1931 ist von „meinem in Sibirien verlorengegangenen Roman ,Katharina*“ die Rede. Die angegebene Großform ist möglicherweise ausge­ schrieben worden; die noch vorhandene, vom Januar 1920 da­ tierte „Introduction“ könnte nach der Vollendung des Resttextes gereimt worden sein. Doch zurück zu den Ausdrucksmitteln des Fragments: am besten verdeutlichen die dialektologischen Rand­ notizen, wie sehr der .Romancier* schon als Debütant des Faches sich eine Literatur für Leser, für aufmerksame Leser hat angele­ gen sein lassen. Mit dem Idiom des Wiener Freudenmädchens bildet sich eine Sprachschicht, die in den „Dämonen“ nachge­ rade eruptiv wird. Dort kommt unter anderem die Ambivalenz der Dodererschen Mundartkunde ans hellste Licht: im Vergleich zu der von allzumenschlichen Instinkten entschlackten, gar dichterischen Hochsprache wird der Dialekt als Reduktions­ form aufgefaßt, Respekt wird ihm aber dafür gezollt, daß er, organisch entstanden, etymologisch dankbar, sich nicht wie eine standardisierte Fertigform der besprochenen Welt aufstülpe, der er ja vielmehr entwachsen sei. So betrachtet sollte man überle­ gen, ob die üppige mundartliche Ausstattung der „Katharina“ nicht auch geschichtliche Reminiszenzen anpeilt, ob der Autor mit der Sprache der alten fernen „Weanastadt“ (S. 72, 82) die Vergangenheit wenn schon nicht fortleben, so doch fortklingen lassen will. Das Personal der „Katharina“ ist in der Tat ein seltenes (unsentimentales) Exempel doderesken Jung-Wiens mit einem Schuß fin-de-siecle-Ironie, wo Katharina „deutlich und in Worten“ denkt: „Es müssen ja nicht lauter überspannte und nervö-ö-se Herren auf der Welt sein“ (S. 77). Andererseits

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scheinen im „Pupperl“ (ebd.) selbst und in den „feschen Män­ nern“, die es „aus der Druckerei kommen“ sieht (S. 81; und in der Figur namens Schlaggenberg) wieder Charakter- und Milieu­ studien aus dem ,dämonischen“ Wien von 1927 angebahnt. Das Prostituiertenambiente schildert das Fragment mindestens ebenso einfühlsam wie der Großroman; Katharina ist eine runde, überzeugende, sicherlich nicht unsympathische Figur. Darauf wäre zu reflektieren, ehe man sich dem Verdikt vom Sexualchauvinisten Doderer anschließt. (Nicht ganz so leicht fällt diese Bemerkung, wenn man an den „Brandstuhl“ oder an die „Fortunatina“ denkt.) Eine für Doderersche Verhältnisse ungewöhnliche und unge­ wöhnlich offene Anknüpfung an eine Zelebrität der literarischen Wiener Jahrhundertwende leitet das „Märchen“ vom Mädchen und der Löwin ein. Wer, dem Wink der auktorialen Vorrede folgend, in Peter Altenbergs „Ashantee“ nachschlägt, stößt im Kapitel „Der Hofmeister“ auf folgende Stelle (der Erzieher hat gerade das ihm anvertraute Kind bis zum Tiergartenkäfig beglei­ tet): „,Fortunatina und die Löwin----- “, dachte er. Er wußte gar nicht, was es bedeutete, welchen Inhalt es habe. Wie eine Ballade fühlte er es, welche noch niemand gedichtet hat. Die Ballade ist da, will geboren werden von einem Dichter, ganz in das Leben hinaus gestellt sein.“ Und „Fortunatina träumte:,----- plötzlich, mitten in der Nacht, ertönt ein Gebrüll, welches gleichsam die ganze Natur erbeben macht . Ein Schlag mit der Tatze ist im Stande, ein Rind zu fällen . Man hat Beispiele, daß . Afrika. Afrika. (...)““ Als sei er der vom Hofmeister imaginierte Poet, hakt Doderer hier ein, um die Geschichte Fortunatinas weiterzudichten. Das Ergebnis ist eine überraschend getreue Hommage an den Gegennaturalismus. (Überraschend mit Be­ zug auf die sonst werkbeherrschenden Stilzüge Doderers, nicht aber mit Blick auf einen anderen werkbiographischen Aspekt. Unbeschadet der nachträglichen vernichtenden Selbstzeugnisse besteht kein Anlaß zu glauben, der angehende Schriftsteller habe beim sibirischen Schreiben Veröffentlichungen nicht ins Auge gefaßt. Für ihn lag es ursprünglich wohl am nächsten, mit variierten Kurzformen die relativ leichte Aufnahme in eine Zeitung oder Zeitschrift anzusteuern und dabei in vielseitiger

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Geschmacksübung zu sein.) Die „Fortunatina“ ist streckenweise verspielt und ornamental, bald elegisch, bald ekstatisch, durch­ weg exotisch, am Ende erotisch und unter den abgedruckten Texten der am wenigsten urheber- und situations- und am meisten zeitcharakteristische. „Nein, Fortunatina erschrack nicht, als sie den roten Tau bemerkte, der das Gras befleckte“ (S. 96), im Arrangement ihrer Unschuld ist die erste Menstrua­ tion nur eine Farbnuance in der Metapher der Frauwerdung. Am Ende ist das „blühende Weib“ (S. 97) eine aus der geschmeidigen Wildheit der Großkatze und dem reinen Geist der Kindheit geborene Verwandte Lulus, eine domestizierbare Angst- und Lustkreatur allerdings: sie macht sich zumindest auf, „die Wohnstätten von Menschen zu finden“ (ebd.). Aber „das lang­ atmige Rauschen des Windes im hohen, erzitternden Gras“ „die Wanderwolke von Blütenstaub“ das „sonnige Blau des Him­ mels“, das „in Glut und bewegte Farben aufgelöst stand“ (S. 91), „die Luft“, die „in flimmernder Weißglut (...) wie ein schmaler Streifen Dampf (...) den Horizont“ säumt (S. 96) - genügt es, für derlei Formulierungen die Schublade,Impressionismus“ frei­ zumachen? Blättert man hinter die „Fortunatina“ zurück, und vor allem: liest man nach dem „Märchen“ weiter, so kann man ähnlich zerstäubte Passagen in der „Katharina“ und in den Abschnitten mit und über René Stangeler noch öfter antreffen. Sobald er sich auf Wien legt, löst sich Doderers Impressionismus von allem Generischen und wird zur unverwechselbaren Stim­ mungskunst. Deren Klimax ist das „Finale“, das den bestrikkendsten Panoramen der „Strudlhofstiege“ an Suggestivkraft nicht nachsteht. Im „lauen Wind“, dem „grünen Wehen“ (S. 101) des Frühlings waren René und Ernst durch Wien spa­ ziert. Im „Finale“ der einsamen Stangelerschen Bootsfahrt zwi­ schen Prater und Krieau ist für Minuten, die aus der Zeit der Zifferblätter heraustreten, sogar „der leise Windhauch in den Blättern der ufernahen Bäume (...) eingeschlafen“, aber Luft, Licht, Schatten, Wasserrauschen, Wolken und Wind sind zu einem um so zarteren Fluidum zusammengetuscht. „Und die weißen Spiegelbilder der Sommerwolken verzitterten wellig um das Boot“ (S. 115). Die Ruhe ist vollkommen, in ihrer zeitfreien Vollkommenheit aber doch nur ein Moratorium und bald

„schon zum Abend erglüht: die Wolken“ verlieren „ihr sonnen­ sattes Weiß (...), farbiger schwammen nun ihre Bilder in dem leicht erschauernden Spiegel“ (S. 116). Stangelers „Dämmerwin­ kel, abseits von aller lebendigen Grellheit“ (S. uj) verdämmert selbst unter „den breit gelagerten Glutschichten des Himmels“ (S. ii6). Der Kontrast zwischen diesen „rotgoldenen“, dann „rotdurchleuchteten“, endlich blässer „rötlichdurchleuchteten“ Schleiern (S. i i6f.) und jener „Grellheit“ steht metonymisch für den Gegensatz zwischen den Stilverhauchungen in den Wiener Partien der „Sibirischen Klarheit“ und der frostigen, kantigen, nadelspitzen Sprache der Seiten über die Lagerwelt. Hier Er­ kenntnisintensität und Konturschärfe, dort Erlebnisintensität und Diffusion - in der, in seiner sibirischen Klarheit aquarelliert Doderer die Heimatstadt des Maturanten und alter ego Stangeler so, als könne die Vergegenwärtigung einer Stadt und einer Jugend nur in höchster Verflüchtigung begriffen sein. Noch bei seinen romanfüllenden Abstiegen in die „Tiefe der Jahre“ („Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre“ lautet die komplette Überschrift seines bekanntesten Werks) wird er eher die Aura als den Körper der Vergangenheit herbeizaubern.

Bei der Wiedergabe der Vorlagen wurden die für Doderer cha­ rakteristischen Eigenheiten der Orthographie und Interpunk­ tion gewahrt. Sowohl die epochenbedingten Abweichungen von den heutigen Rechtschreibnormen (z. B. „giebt“ oder „gläntzen“) als auch einschlägige Inkonsequenzen (etwa bei der Großund Kleinschreibung oder bei der Verwendung von Fremdwör­ tern) wurden belassen. Die semantisch irrelevante Doderersche Bevorzugung von ss vor ß wurde hingegen ebensowenig über­ nommen wie das manchmal als plane Abkürzung für mm auftau­ chende rh. Die Kommaunterlassungen und die anderen (spärli­ chen) Versehen, die dem Autor aus Flüchtigkeit unterlaufen sein müssen, wurden stillschweigend korrigiert. Alle Absätze folgen dem Original. Rein arbeitstechnisch intendierte Vermerke, Nu­ merierungen, Datierungen, Parenthesen wurden bei der Wieder­ gabe ausgeschieden - die besprochenen Paralipomena zur „Ka-

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tharina“ natürlich ausgenommen. Relevante Unterstreichungen sind kursiv wiedergegeben. Unter die Titel „Der Centaur und die Springschnur“ und „Der Brandstuhl“ ist in der Handschrift, in Klammern, der Name „A. Kunft“ gesetzt. Das dürfte bedeu­ ten, daß Doderers Lagergefährte Alfred Kunft zu beiden Ge­ schichten die Basisidee geliefert hat. Die Urheberschaft der Texte stammt indes eindeutig und einheitlich von Doderer.

Die Handschrift der „Katharina“ wird in der Österreichischen Natio­ nalbibliothek unter der Signatur der Series nova 14.179 aufbewahrt, die der „Falschen Erwartungen“ und des „Finales“ in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek unter der Zuwachsprotokollnummer 689. (Die ZpNr. 687 haben ebenda die von Rudolf Haybach niedergeschriebenen Gedichte Heimito von Doderers.) Die Belege zu den Quellen und Darstellungen, aus denen im vorange­ henden zitiert wurde:

Heimito von Doderer: Der Abenteurer. Symphonische Phantasie für Chöre, Soli und Orchester. Series nova 14.279 ders.: Der Abenteurer und sein Typus. In: Wiener Mittags-Zeitung, 5- i9*i ders.: Commentarii 1951 bis 1956. Tagebücher aus dem Nachlaß. Hg. von Wendelin Schmidt-Dengler. München: Biederstem 1976 (S. 120, 203, 104) ders.: Commentarii 1957 bis 1966. Tagebücher aus dem Nachlaß. Bd. 2. Hg- von Wendelin Schmidt-Dengler. München: Biederstein 1986 (S. 44, 388, 164) ders.: Die Dämonen. Nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff. München: Biederstein 1956 (S. 20) ders.: Frühe Prosa. Die Bresche / Jutta Bamberger / Das Geheimnis des Reichs. Hg. u. mit einem Nachw. vers. von Hans Flesch-Brunningen. München: Biederstein 1968 (S. 250, 331) ders.: Der Grenzwald. Fragment. (Mit einem Nachw. von Dietrich Weber.) München: Biederstein 1967 (= Roman No7, II. Teil) (S. 198, 79, 83) ders.: Journal TB.TBS 1931/32. Series nova 14.068 ders.: Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre. Mün­ chen: Biederstein 1951 (S. 340)

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ders.: Tangenten. Tagebuch eines Schriftstellers 1940-1950. München: Biederstein 1964 (S. 363, 223E) ders.: Die Wiederkehr der Drachen. Aufsätze / Traktate / Reden. Hg. von Wendelin Schmidt-Dengler. Vorw. von Wolfgang H. Fleischer. München: Biederstein 1970 (S. 134)

Akte MLA (Militärliquidierungsamt) 1920, 1. Abteilung, Rubrik 27-1/ 69 im Kriegsarchiv des Österreichischen Staatsarchivs Peter Altenberg: Expeditionen in den Alltag. Gesammelte Skizzen 1895-1898. Hg. von Werner J. Schweiger. Wien-Frankfurt/M.: Löcker-Fischer 1987 (S.233) Gerald H. Davis: The Life of Prisoners of War in Russia, 1914-1921. In: Essays on World War I. Origins and Prisoners of War. Samuel R. Williamson, Jr. and Peter Pastor, Ed. New York: Brooklyn CP 1983 (= Atlantic Studies Nr. 14) (S. 180) Mir Budit. Die Aufzeichnungen des jungen Leutnants der Tiroler Kaiser Jäger und Malers Erwin Lang. 1914 bis 1920 in Sibirien und China. (Unveröff. Typoskript) (S. 64, 66) Robert Musil: Essays und Reden. Kritik. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek: Rowohlt 1983 (= ders.: Gesammelte Werke) (S. 1343f.) Ernst Putz: Die Reserveoffiziersschule der Kavallerie der k. u. k. Armee in Holies und Stockerau, 1914-1918. Geschichte und Erlebnis. Horn: Berger o.J. (1967) (S. 70) Joseph Roth: Romane und Erzählungen 1916-1929. Hg. und mit einem Nachw. von Fritz Hacken. Köln: Kiepenheuer und Witsch 1989 (= ders.: Werke 4) (S. 526E) Wendelin Schmidt-Dengler: Das Ende im Anfang. Zu unbekannten Texten Doderers aus der Frühzeit. In: Internationales Symposion Heimito von Doderer (4-/5. 10. 1986, Prein/Rax, NÖ). Ergebnisse. Hg. von der Niederösterreich-Gesellschaft für Kunst und Kultur. Wien o.J. (1988) (S. 100) Norman Stone: The Eastern Front 1914-1917. London: Hodder and Stoughton 1975 (S.235) Herangezogen wurden weiters:

Grundbuchblatt .Doderer 1896, Wien“, Karton 221 im Kriegsarchiv des Österreichischen Staatsarchivs Die Habsburgermonarchie 1848-1918 (...) Hg. von Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch. Bd. V: Die bewaffnete Macht. Wien: Verl, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1987 Österreich-Ungarns letzter Krieg 1914-1918. (...) Bd. 4: Das Kriegs­ jahr 1916. i. Teil: Die Ereignisse von Jänner bis Ende Juli. Unter der

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Leitung von Edmund Glaise-Horstenau bearb. von Josef Brauner u.a. Wien: Verl, der Militärwissenschaftlichen Mitteilungen 1933

Dem Mitherausgeber Herrn Univ.-Prof. Dr. Wendelin Schmidt-Dengler (Wien) schulde ich für die Anregung zu dieser Edition, für die Hilfsbereitschaft, für die wichtigen Ratschläge großen Dank. Besonders bedankt seien auch Frau Dr. Gabriele Haybach (Wien), welche die Zeichnungen ihres Vaters zur Verfügung gestellt hat, Frau Dr. Helga Kutscha (Innsbruck), ohne deren Kooperation dieses Buch nicht zu­ stande gekommen wäre, und Herr Martin Lang (Wien), der das ange­ führte Typoskript seines Vaters verborgt und den Abdruck der Holz­ schnitte gestattet hat. Mit Dank angenommen habe ich ferner die Hinweise und Erläuterungen von Frau Dr. Lisel Ehrhardt (Strasbourg), Herrn Dr. Eckart Früh, Herrn Dr. Walter Obermaier, Frau Angela Pauser, Herrn Dr. Engelbert Pfeiffer, Herrn Thomas Römer, Frau Elisabeth Scharmitzer und Herrn Dr. Christoph Tepperberg (alle Wien). Herr Dr. Hans Haider (Wien) hat die Herausgeber auf den Innsbrucker Fund der Texte Doderers aufmerksam gemacht und somit den integralen Bestandteil des Bandes für die Forschung gesichert; ihm gebührt an dieser Stelle besonderer Dank.

Martin Loew-Cadonna

Die Erfahrung der Kriegsgefangen­ schaft 1916 bis 1920 gilt als das Schlüsselerlebnis, das Heimito von Doderer den Weg ins Schriftstellertum wies. Doderer hatte als Dra­ goner am Rußlandfeldzug teilge­ nommen, wurde im Juli 1916 bei der Reiterschlacht von Olesza (Ostgali­ zien) gefangengenommen und zuerst nach Ostasien, dann ins westliche Sibirien deportiert. In den Lagern Krasnaja Rjetschka bei Chabarowsk am Amur, im fernen Osten Ruß­ lands, während der Internierung bei Nowo Nikolajewsk, dem heutigen Nowosibirsk, und im Kriegsgefan­ genenlager von Krasnojarsk entstan­ den die Texte, die im vorliegenden Band zum ersten Mal veröffentlicht werden. Auf abenteuerlichen Wegen gelangte Doderer im Sommer 1920 wieder nach Wien. Vor dem Krieg hatte Doderer das Verlegenheitsstudium der Rechts­ wissenschaft begonnen. Nach dem Krieg entschied er sich für das Stu­ dium der Geschichte und der Psy­ chologie. Ausschlaggebend dafür war, die für den Beruf des Schrift­ stellers am besten geeigneten Studien zu betreiben. Fortsetzung auf der hinteren Klappe

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In den frühen Skizzen und Erzäh­ lungen, die das Lagerleben reflektie­ ren, aber auch das ferne Wien poe­ tisch vergegenwärtigen, finden sich bereits Themenstränge, die sich, Jahrzehnte später, in der „Strudlhofstiege“, den „Dämonen“ und noch im „Grenzwald“ romanhaft auffä­ chern. Auch Doderers eigentümli­ che Beschreibungsart und „dodereske“ Stilmittel sind in den Texten aus der Zeit der Gefangenschaft schon im Keim erkennbar. wurde am 5. September 1896 in Weidlingau bei Wien geboren. Er studierte Ge­ schichtswissenschaft, widmete sich nach der Promotion 1925 jedoch ganz der Literatur. Doderer starb am 23. Dezember 1966 in Wien.

Heimito von Doderer

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