Adiaphorie und Kunst: Studien zur Genealogie ästhetischen Denkens 9783110947335, 9783484366077

The book investigates theories dating from the 13th to the 18th century on the moral indifference of human action with a

199 52 12MB

German Pages 371 [372] Year 2005

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Table of contents :
Vorwort
I. Einleitung
1. Problemstellung
1.1. »Nulla συμφώνησις Christo cum Belial«
1.2. Methodisches
1.3. Kunst als Zweckform
1.4. Die Sphäre des Indifferenten
1.5. Kunst als ästhetischer Gegenstand
2. Einige neuere Thesen zur Herkunft und Entstehung der Ästhetik
II. Mittelalterliche Lehrmeinungen zum Problem der moralischen Indifferenz menschlicher Handlungen
1. Thomas von Aquino
1.1. Die Unmöglichkeit moralischer Indifferenz deliberativer Akte
1.2. Revision des Lehrbegriffs in den späteren Schriften
2. Johannes Duns Scotus
2.1. Die Möglichkeit moralischer Indifferenz individueller Handlungen
2.2. Petrus Aureolis Lehre vom ›finis indifferens‹
III. Adiaphora und Adiaphorismus im 16. Jahrhundert
1. Luthers ›anomistische‹ Adiaphoralehre
1.1. Libertas christiana und Adiaphora
1.2. Die Folgen des Sündenfalls
1.3. Das Kultuskonzept: Gotteswerk und Menschenwerk
1.4. Herrschaft und Arbeit
1.5. Indifferenz als Attitüde
1.6. Das Indifferente als Raum der freien Formwahl
1.7. Innere und äußere Bilder
1.8. Die Sichtbarkeit der Kirche und die Indifferenz der Welt
2. Die interimistischen und adiaphoristischen Kontroversen
2.1. ›Sphynx Augustana Interim‹ und ›adiaphoristische Reformation‹
2.2. Matthias Flacius, Flacianer und philippistische Adiaphoristen
2.3. Geistliche und weltliche Dinge: Abgrenzungsprobleme
2.4. Thomistische Interpretation der Mitteldinge
2.5. Der freie Rest des Indifferenten und das Joch der praktischen Nützlichkeit
2.6. Wahre und falsche Adiaphora im Reich des Scheins
IV. Die Zeit der altprotestantischen Orthodoxie
1. Autonomia in adiaphoris
1.1. Libertas christiana
1.2. Die stoische und die protestantische Adiaphoralehre
1.3. Kirchliche und weltliche Adiaphora
1.4. Abgrenzungen gegenüber der reformierten Lehre vom Indifferenten
1.5. Die Adiaphorie der Bilder in katholischer Sicht
1.6. Johann Arndt: Ikonographia
1.7. Bild, Tanz und Schauspiel
1.8. Libertas christiana in poeticis
2. Pietismus und Ästhetik
2.1. Religionsindifferentismus
2.2. Der Ursprung der Moralität
2.3. Aufwertung der Sinnlichkeit und Moralität der freien Künste
2.4. Die Vockerodt-Rotth-Kontroverse
2.5. Schluß, skotistisch
V. Anhang
1. Textanhang: Consilium de rebus adiaphoris (1549)
2. Abkürzungen
3. Sigla
4. Bibliographie
4.1. Anmerkungen zur Textgestalt der Quellenschriften
4.2. Vorbemerkung zum Quellenverzeichnis
4.3. Quellen
4.4. Forschungsliteratur
5. Personenregister
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Adiaphorie und Kunst: Studien zur Genealogie ästhetischen Denkens
 9783110947335, 9783484366077

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Frühe Neuzeit Band 107 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Reimund Β. Sdzuj

Adiaphorie und Kunst Studien zur Genealogie ästhetischen Denkens

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-36607-9

ISSN 0934-5531

© M a x Niemeyer Verlag, Tübingen 2005 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag G m b H , München http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: A Z Druck und Datentechnik G m b H , Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2003 von der Philosophischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald als Habilitationsschrift angenommen und für die Drucklegung in einigen Teilen leicht überarbeitet. An dieser Stelle möchte ich einer Reihe von Personen Dank abstatten für die Unterstützung, die ich während der Arbeit an diesem Projekt erfahren habe. Zuvörderst ist hier Herr Prof. Dr. Herbert Jaumann (Universität Greifswald) zu nennen, der die Arbeit unermüdlich durch seinen Rat, seine konstruktive Kritik und mit großem persönlichen Einsatz gefördert und schließlich vertreten hat. Des weiteren schulde ich Herrn Prof. Dr. Walter Sparn (Universität ErlangenNürnberg) und Herrn Prof. Dr. Klaus Krüger (Universität Basel) Dank fiir ihre Bereitschaft, als Gutachter mitzuwirken, und für ihre hilfreichen Ratschläge zur Überarbeitung der Studie. Mein Dank gilt ebenso Herrn Dr. Hanspeter Marti (Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen, Engi/Schweiz) für seine kritische Lektüre des Textes und seine wertvollen Hinweise und Anregungen. Den Versuch, ein solches Buch über den Adiaphora-Diskurs der Frühen Neuzeit in Angriff zu nehmen, kann man nur in alten Bibliotheken wagen, aus deren Fundus die benutzten Quellenschriften stammen. Darüber gibt die Liste der Bibliothekssigla Auskunft. Für jahrelang bereitwillig geleistete Hilfe bei der nicht immer leichten Beschaffung von Büchern habe ich besonders den Mitarbeitern der Universitätsbibliothek Greifswald zu danken, für die ich stellvertretend Frau Karin KJicks und Herrn Dr. Bruno Blüggel nennen möchte. Den Herausgebern der Buchreihe »Frühe Neuzeit« weiß ich mich für die Aufnahme meiner Arbeit dankbar verpflichtet. Frau Birgitta Zeller-Ebert vom Max Niemeyer Verlag möchte ich sehr für die gute Zusammenarbeit danken. Einen ganz besonderen Anteil am Zustandekommen dieser Arbeit hat schließlich Frau Dr. Barbara Gribnitz (Universite d'Artois, Arras/France), auf deren Beistand ich jederzeit bauen konnte; sie hat zudem mehrfach die beschwerliche Mühe des Korrekturlesens auf sich genommen. Widmen möchte ich diese Arbeit meinen Eltern als Dank für ihre uneingeschränkte Unterstützung während der Zeit der Ausarbeitung. Greifswald, im März 2004

Reimund B. Sdzuj

What shall we say then? hath the World talked so much of Indifference, and the power in Indifference, And yet no Indifference, at all, be in the World? Robert Greville (Lord Brooke)

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

I. Einleitung 1. Problemstellung 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5.

»Nulla συμφώνησις Christo cum Belial« Methodisches Kunst als Zweckform Die Sphäre des Indifferenten Kunst als ästhetischer Gegenstand

2. Einige neuere Thesen zur Herkunft und Entstehung der Ästhetik

3 3 5 23 34 39

45

II. Mittelalterliche Lehrmeinungen zum Problem der moralischen Indifferenz menschlicher Handlungen 1. Thomas von Aquino 1.1. 1.2.

Die Unmöglichkeit moralischer Indifferenz deliberativer Akte. 5 5 Revision des Lehrbegriffs in den späteren Schriften 64

2. Johannes Duns Scotus 2.1. 2.2.

55

Die Möglichkeit moralischer Indifferenz individueller Handlungen Petrus Aureolis Lehre vom >finis indifferens
anomistische< Adiaphoralehre 1.1. 1.2. 1.3.

Liberias Christiana und Adiaphora Die Folgen des Sündenfalls Das Kultuskonzept: Gotteswerk und Menschenwerk

91 91 96 97

VIII 1.4. 1.5. 1.6. 1.7. 1.8.

Herrschaft und Arbeit Indifferenz als Attitüde Das Indifferente als Raum der freien Formwahl Innere und äußere Bilder Die Sichtbarkeit der Kirche und die Indifferenz der Welt

102 105 109 113 . . . 121

2. Die interimistischen und adiaphoristischen Kontroversen 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6.

>Sphynx Augustana Interim< und >adiaphoristische Reformation Matthias Flacius, Flacianer und philippistische Adiaphoristen. Geistliche und weltliche Dinge: Abgrenzungsprobleme Thomistische Interpretation der Mitteldinge Der freie Rest des Indifferenten und das Joch der praktischen Nützlichkeit Wahre und falsche Adiaphora im Reich des Scheins

127 127 135 147 153 157 164

IV. Die Zeit der altprotestantischen Orthodoxie 1. Autonomia in adiaphoris 1.1. 1.2. 1.3. 1.4.

175

1.5. 1.6. 1.7.

Liberias Christiana Die stoische und die protestantische Adiaphoralehre Kirchliche und weltliche Adiaphora Abgrenzungen gegenüber der reformierten Lehre vom Indifferenten Die Adiaphorie der Bilder in katholischer Sicht Johann Arndt: Ikonographia Bild, Tanz und Schauspiel

186 196 198 203

1.8.

Libertas Christiana in poeticis

229

2. Pietismus und Ästhetik 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.

175 179 182

235

Religionsindifferentismus 235 Der Ursprung der Moralität 243 Aufwertung der Sinnlichkeit und Moralität der freien Künste . 251 Die Vockerodt-Rotth-Kontroverse 265 Schluß, skotistisch 281

V. Anhang

1. Textanhang: Consilium de rebus adiaphoris (1549)

293

2. Abkürzungen

305

IX

3. Sigla

307

4. Bibliographie

309

4.1. 4.2. 4.3.

4.4.

Anmerkungen zur Textgestalt der Quellenschriften Vorbemerkung zum Quellenverzeichnis Quellen

309 309 311

4.3.1. Antike und mittelalterliche Texte 4.3.2. Frühneuzeitliche Texte

311 313

Forschungsliteratur

349

5. Personenregister

357

I. Einleitung

1.

Problemstellung

1.1.

»Nulla σ υ μ φ ώ ν η σ ι ς Christo cum Belial«

Würde man dem Hegelianer Johann Karl Friedrich Rosenkranz (1805-1879) Glauben schenken, dann war die wesentliche Tat des Protestantismus bei seinem Auftreten die Zerstörung der Äußerlichkeit, in der die christliche Religion im Katholizismus erschien. Mit der Zurücknahme der Religion aus ihrer »äußeren Offenbarung durch die Schönheit der Kunst in die einfache Tiefe der Wahrheit« wurde »das Ewige in der unsichtbaren Enthüllung des Gemüths« vergegenwärtigt. Indem die Reformatoren der beseligenden Wahrheit durch diese selbst gewiß zu werden versuchten, behandelten sie »die Kunst zunächst [...] mit Gleichgültigkeit«, hier und dort sogar mit Feindseligkeit. Eine Zeit lang habe der Eindruck entstehen können, als müßte die Religion an sich als höchste Form der Wahrheit überhaupt »gleichgültig gegen die Kunst [...] gesinnt« sein. Diesen Schein zerstörte das protestantische Christentum indessen in seiner weiteren historischen Entwicklung; »als Religion der vollkommenen Freiheit« war es seinem wahren Prinzip nach dem Kunststreben nicht nur nicht entgegengesetzt: es mußte »dasselbe vielmehr als eine Aeußerung der geistigen Freiheit in sich einschließen«. Die Religion war nach Rosenkranz durch die Lehre der Reformatoren keineswegs unpoetisch geworden; den Protestantismus für kunstfeindlich zu halten, hieße, ihn zu unrecht mit jener Gestalt der Religiosität gleichzusetzen, die sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts unter dem Namen Deismus in der ganzen christlichen Welt ausgebreitet hatte. Ebenso wie vom Deismus unterschied er sich in dieser Beziehung auch vom Katholizismus, innerhalb dessen sich die Kunst immer mehr oder weniger »im Dienst der Kirche« bewegt habe, indem sie ausschließlich daran arbeitete, das Jenseits zu verherrlichen. Der Protestantismus hingegen will in der Kunst »das Diesseits, die Wirklichkeit, das unmittelbare Leben des Geistes wie der Natur in höherem Licht verklären«. Mehr noch, im Protestantismus, der Religion »allseitiger Freiheit«, wurde das für das Christentum von Anfang an leitende Bestreben, das »Irdische nach allen Beziehungen dem Himmlischen zu vermählen«, endlich selbstbewußtes Prinzip und die Kunst dadurch zur freien Selbständigkeit erhoben.1 Diese hier nur knapp referierten Ausführungen von Rosenkranz, ein Teilresultat der postidealistischen Neubesinnung auf das Wesen des Protestantismus, sind historisch nicht nur im Detail, sondern auch in der gesamten Akzentsetzung Karl Rosenkranz: Das Verhältniß des Protestantismus zur bildenden Kunst. Rede, gehalten [...] am 13. December 1834. In: Ders.: Studien. Erster Theil. Reden und Abhandlungen: Zur Philosophie und Literatur. Berlin 1839, S. 1-26, hier S. 2, 7f., 10-12, 14.

4 so offenkundig falsch, daß sie keiner inhaltlichen Widerlegung bedürfen; sie verdanken sich einer konsequenten Verdrängungsanstrengung hinsichtlich des reformatorischen Lehrbegriffes in allen wesentlichen Stücken. Luthers Lehre vom versklavten Willen, seine Konzeption von weltlicher Obrigkeit oder Calvins Lehre von der doppelten Prädestination sind in der protestantischen Vorstellungs- und Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts kaum mehr präsent. Die altprotestantische Orthodoxie hätte der zu einem Hauptanliegen des Christentums erklärten Absicht, das Irdische mit dem Himmlischen zu vermählen, unfehlbar das paulinische Verdikt (2 Cor. 6, 15) entgegengesetzt: »Nulla συμφώνησις Christo cum Belial«.2 Doch dem Vortrag, den Rosenkranz am 13. Dezember 1834 im Königsberger Kunstverein gehalten hat, läßt sich - wenn auch anders, als es der Intention des Autors entsprach - ein entscheidender Hinweis darauf entnehmen, wie die Kunst in und mit dem Protestantismus frei geworden ist: nämlich der Hinweis auf die Gleichgültigkeit, mit der das protestantische Christentum anfangs der Kunst gegenüber getreten sei. In Anknüpfung an diese Bemerkungen von Rosenkranz möchte ich in der vorliegenden Arbeit die Hypothese aufstellen und historisch ausarbeiten, daß sich das spezifisch moderne Kunstverständnis und damit zusammenhängend ein autonomer, ästhetischer Diskurs der Kunst erst durch die in der frühen Neuzeit erfolgende Ansiedlung des Künstlerischen im Bereich des Adiaphorischen ausdifferenzieren konnten beziehungsweise dadurch maßgeblich mitbestimmt wurden. Den Gegenstand der folgenden Studien bilden weder die Geschichte der einzelnen Künste - Dichtung, Malerei, Architektur, Musik usw. - noch die technischen Traktate dieser Disziplinen, aber ebensowenig die Geschichte philosophischer oder theologischer Schönheitslehren, sondern ein ganz andersartiger, im historischen Raum der Prämoderne aber zentraler Diskurs, in welchem auch >Kunstästhetischen< Diskurs der Kunst gibt und insbesondere aufgrund welcher Bedingung er sich konstitutierte, ist die spekulative Frage nach dem Beginn der Kunst und einer autonomen Kunstentwicklung zwar gedanklich unterscheidbar, der Sache nach aber nicht einfach zu trennen. Deshalb hängt für die Abgrenzung des gewählten Themas viel von der Klärung einiger theoretischer Vorfragen ab.

2

Henricus Julius Strubius (Praes.) / Johannes Heidenreich (Resp.): Disputatio theologica de adiaphoris in genere, et in specie de imaginibus et exorcismo. Helmaestadi 1621, thes. 50, fol. Cl r . - Das paulinische Verdikt gegen den Umgang mit Ungläubigen wurde auf alle >weltlichen< Weisen der Weltzuwendung ausgeweitet, wenn es nicht gleich gegen die Weltzuwendung überhaupt gerichtet wurde wie in reformatorischer Zeit am unversöhnlichsten von spiritualistischen Autoren wie zum Beispiel Sebastian Franck (1499-1542), für den es »ein thörichter eiffer« war, Christus und Belial, Gott und die Welt vereinigen zu wollen, »gleich als sey der glaub [...] ain bratwurst, und yedermans ding«; vgl. S. Franck: Paradoxa ducenta octoginta, das ist, CC.LXXX. Wundeired, und gleichsam Rhäterschafft, auß der H. Schlifft [...]. o.O.o.J. (Ulm, um 1535), Par. 233, Bl. CXXXVnT. Zum benutzten Druck der Paradoxa vgl. Klaus Kaczerowsky: Sebastian Franck Bibliographie [...]. Wiesbaden 1976, Nr. A 103.

5 1.2.

Methodisches

In Gestalt einer normativen Genese, und damit aus einer den historischen Akteuren selbst verschlossenen Perspektive, ließe sich die Analyse der Art und Weise, in der sich Kunst und ästhetisches Kunstverständnis als ein besonderer Bereich konstituierten, nur durchführen, wenn mehrere Bedingungen erfüllt wären: Anfangs- und Endpunkt der Entwicklung müßten bekannt sein und vom Gegenstand >Ästhetik< müßte es eine eindeutige Definition geben, so daß sich aus dem Geflecht diskursiver Entwicklungslinien genau die Faktoren herausheben ließen, die für das Resultat maßgeblich waren. Davon kann man jedoch nicht ausgehen. Eine einhellige Verständigung über die konstitutiven Bestimmungsmomente des Ästhetischen scheint vorerst nicht möglich, und zwar umso weniger, je intensiver nach dessen Herkunft geforscht wird. Diese Unklarheit ermöglichte nicht nur die Entdeckung von sogenannten potentiellen Ästhetiken;3 sie führt auch seit langem - befördert durch die in den geisteswissenschaftlichen Fächern ohnehin ausgeprägte Bereitschaft zu anachronistischer Verwendung von Begriffen und Kategorien - zu Konstruktionen, mit denen man keine historische Bodenberührung gewinnt, geschweige denn, daß sie den geschichtlichen Gegebenheiten gerecht werden. So schrieb Edgar de Bruyne ein mittlerweile klassisches Werk über die >mittelalterliche ÄsthetikStruktur< und >Semantik< zu fassen versucht, diese eine »Ablagerung« von jener sein lassen und die Ausdifferenzierung eines auf sich selbst gestellten Eigenbereiches für Kunst als Folge der Umstellung der primären Strukturierungsweise des Gesellschaftssystems von >stratifikatorischer< auf >funktionale< Differenzierung in der 3

4

5

Als besonders erfindungsreich im Entdecken von >Proto- und potentiellen Ästhetikern hat sich Heinz Schlaffer gezeigt, vgl. Ders.: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt/M. 1990. E. de Bruyne: Etudes d'esthetique medievale. Bd. Π. Postface de Michel Lemoine. Paris 1998 (Nachdruck der Ausgabe Louvain 1947), S. 336. Andreas Speer: >Kunst< und >SchönheitVorzeit< zur Kunst und zum Gegenstand der Kunstforschung gehören. Der Kunsthistoriker Frederik Adama van Scheltema setzte die Fähigkeit, gewisse konkrete Erscheinungen als reine Formen aufzufassen, selbst für diese frühe Zeit uneingeschränkt voraus und sah den Beweis in eben diesen zwei Kunstgattungen, der Körper- und der Geräteverzierung.7 Darüber, daß derartige Schmuckformen, unbeschadet des Umstandes, daß sie als solche auch einen unmittelbar praktischen Zweck erfüllen konnten, zugleich reine Kunstformen waren, könne kein Zweifel bestehen, da sie als Schmuckformen nur dadurch verständlich werden, daß sie eine gegebene gegenständliche Form des menschlichen Körpers oder eines Gerätes als reine Form deuten, also künstlerisch interpretieren. Für van Scheltema mußte und konnte die künstlerische Formentwicklung der reinen Ornamentik, zu der er nicht jede Spielform einer freischweifenden Phantasie zählte, sondern nur die bewußte künstlerische Deutung einer gegebenen gegenständlichen Form (eines Trägers), nicht aus etwas anderem als ihr selbst erklärt werden.8 In der kunsthistorischen Forschung sah er jedoch Anschauungen vorherrschen, die eine jeweils neue Form nicht als künstlerische Ausdrucksform zu verstehen suchten, sondern aus einem Konglomerat von Funktionen, als das Ergebnis eines unkünstlerischen Spiels des Zufalls oder aus äußerlichen Faktoren wie etwa der

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7

8

Vgl. dazu N. Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. In: Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselementes. Hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht u. Karl Ludwig Pfeiffer. Frankfurt/M. 1986, S. 620-672, hier S. 624. F. Adama van Scheltema: Die Kunst der Vorzeit. Stuttgart 1950, S. 15. Dieses Buch ist die Neubearbeitung eines 1936 unter dem Titel Die Kunst unserer Vorzeit erschienenen Werkes. Van Scheltemas Ornament- und Kunstdefinition ist materialiter in Frage gestellt worden, vgl. dazu Paul Frankls eingehende, an prinzipiellen Aussagen reiche Rezension, P. Frankl: F. Adama van Scheltema. Die Kunst unserer Vorzeit. Leipzig 1936. In: Kritische Berichte zur kunstgeschichtlichen Literatur VI (1937), S. 73-93. Frank] ging es vornehmlich um eine klarere Unterscheidung der Begriffe Schmuck, Ornament und Dekoration. Hier genügen die drei Hinweise, (1) daß Frankl die Richtigkeit der These bezweifelte, daß ein Ornament zu einem solchen erst durch den Träger wird, den es formal (>künstlerischals ästhetisches Mittel< ist und (3) daß das, was van Scheltema Ornament nennt, für Frankl Dekoration (Verzierung) mit Hilfe eines Ornamentes ist, und zwar ganz unabhängig davon, ob der (von van Scheltema begrifflich vernachlässigte) Ornamentträger Naturgegenstand, künstlicher Gegenstand oder selbst Kunstwerk ist. Frankls begriffsbestimmende Kritik ließ van Scheltemas These zum Beginn der Kunst ausdrücklich unberührt.

7 Herstellungstechnik erklärten, die erst nachträglich künstlerische Bedeutung gewinnen sollten.9 Die These von der Gleichursprünglichkeit der Künste mit allen anderen kulturellen Praktiken ist nicht neu und bereits im 18. Jahrhundert diskutiert und vertreten worden. Darauf möchte ich hier allerdings nicht näher eingehen, sondern nur auf die Batteux-Anmerkungen Johann Adolf Schlegels verweisen. Schlegel lehnte die Behauptung ab, man könne die Sorge des Menschen für das Notwendige, das Bequeme (d.i. das Nützliche) und das Angenehme in eine eindeutige zeitliche Abfolge bringen. Gestützt auf den biblischen Bericht, erschien es ihm vielmehr glaubhaft, daß die den notwendigen Bedürfnissen und der Bequemlichkeit dienenden mechanischen Künste den aus der Muße hervorgehenden und bloß auf das Wohlgefallen angelegten schönen Künste nicht vorausgegangen, sondern »ohngefähr zu gleicher Zeit entsprungen sind«.10 Ohne mehr als beiläufig auf solche älteren Theorien Bezug zu nehmen, hat die anschauungsformalistische Lehre im menschlichen Kunstwollen von Anbeginn an eine eigenständige geistige Funktion gesehen. Alois Riegl, dem van Scheltema mit seiner These zum Beginn der Kunst folgte, bezeichnete es als den Grundfehler der korrespondierenden Gegentheorie Gottfried Sempers, den eigentlichen Kunstzweck und künstlerischen Inhalt nachträglich aus praktischen Gebrauchs- oder (im Fall darstellender Künste) aus Vorstellungszwecken ableiten zu wollen. Die von Semper vertretene technisch-materielle Deszendenztheorie der Kunst erbrachte für ihn gerade nicht die Erklärung, um derentwillen diese Theorie doch eigens ins Leben gerufen wurde, indem er sie außerstande sah, das ästhetische Gefallen an bestimmten Formen, die sich angeblich technisch ergeben haben, verständlich zu machen." Daß es aus der Sicht dieser von Riegl als »positivistisch« bezeichneten Theorie des Kunstwollens keiner im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung schubweise erfolgenden Ausdifferenzierung und Autonomisierung der Kunst bedurfte, da zwar Kunstwerke »niemals ohne äußeren Zweck«, aber Kunstzweck und praktischer Zweck immer zweierlei gewesen seien,12 versteht sich von selbst. Mit der Kunst und der ebenso wichtigen wie dunklen Frage nach dem Anfang des Kunstschaffens verhielt es sich nach formalistischer Auffassung ähnlich wie mit der Geschichte: beide Begriffsbereiche seien willkürlichen Auslegungen und Einschränkungen ausgesetzt. Noch für Hegel, so van Scheltema, habe >Geschichte< erst mit der Staatsbildung angefangen; »wird darunter die Entstehung des Nationalstaates verstanden, so würde

9 10

"

12

A. van Scheltema: Die Kunst der Vorzeit, S. 38f„ 42, 75, 99, 104f„ 121. Vgl. Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz; aus dem Französischen Ubersetzt, und mit verschiednen eignen damit verwandten Abhandlungen begleitet von Johann Adolf Schlegeln. Erster Theil. Hildesheim 1976 (Nachdruck der 3., von neuem verb. u. verm. Auflage Leipzig 1770), S. 18-21. A. Riegl: Historische Grammatik der bildenden Künste (1897/98; 1899). Aus dem Nachlaß hg. v. Kail M. Swoboda u. Otto Pacht. Graz, Köln 1966, S. 217; A. Riegl: Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik. München 1985 (Nachdruck der Ausgabe Berlin 1893), S. VI, 5, 10f„ 20, 32. A. Riegl: Gesammelte Aufsätze. Hg. ν. Κ. M. Swoboda. Augsburg, Wien 1929, S. 59f., 63f., 67.

8 noch das Mittelalter eigentlich als vorgeschichtlich gelten müssen, während die deutsche Geschichte sich streng genommen auf die wenigen Jahrzehnte seit 1870 beschränken würde«. Van Scheltema bezweifelte, daß eine Kunsthistorie, die es als unter ihrer Würde erachtet, sich eingehend und ausführlich mit den Schöpfungen der >vorzeitlichen< Kunstentwicklung zwischen Jungsteinzeit und Mittelalter zu beschäftigen, über einen klaren Begriff der Kunst verfügt. In dieser Beziehung befand sich für ihn die junge Kunstwissenschaft immer noch auf dem anfänglichen, aber seit Jahrhunderten überwundenen Stadium einer Naturwissenschaft, die sich zwar ausgiebig mit einer Beschreibung der höheren Tiere beschäftigte, den unscheinbaren niederen Lebewesen hingegen keinerlei Beachtung schenkte.13 Übersetzt in die Begriffssprache der prämodernen Tradition, besagt diese vernichtende Charakteristik: die Kunstgeschichte folgte in einer ihr selbst unklaren Weise primär dem immer noch als wissenschaftlich verbindlich anerkannten ordo dignitatis. Doch auch dann, wenn man die Berechtigung dieser Kritik anerkennt, bleibt die Sache problematisch; denn wo nicht nur schriftliche Zeugnisse über ornamentierende Praktiken fehlen, sondern überhaupt diese Kunstproduktion (wie van Scheltema selbst betonte) »niemals zum Inhalt des subjektiv-historischen Bewußtseins und der damit einsetzenden Geschichtsschreibung gehört«14 hat, ist es naturgemäß schwer - wenngleich nicht notwendigerweise unmöglich - auszumachen, als was und wie jene Praktiken verstanden wurden. Luhmann hätte wohl eingewendet, daß ein funktionsautonomer Kunst- beziehungsweise Formbereich überhaupt erst durch die Einbeziehung einer in den Werken selbst präsenten »Beobachtung zweiter Ordnung« - ein von ihm unter anderem am englischen Roman des 18. Jahrhunderts veranschaulichtes b e obachten des Beobachtens< - ermöglicht wird. In solchem Beobachten zweiter Ordnung hat er die Art und Weise gesehen, in welcher die Kunst als ein gegenüber ihrer Umwelt auf Selbsteinschränkung angewiesenes System auf jenen angesprochenen strukturellen Wandel der primären Gesellschaftsdifferenzierung reagieren mußte.15 Man spricht nur einen anderen Aspekt derselben Sache an, wenn man sagt, daß sich das durch Selbstbezüglichkeit bestimmte Kunstsystem mit hinreichender Indifferenz gegenüber der sozialen wie natürlichen Umwelt ausstatten mußte. Diese Indifferenzausstattung gegenüber der System- und der natürlichen Umwelt, also der Zusammenhang von Autonomie und nach außen gekehrter Indifferenz, ist für Luhmann jedoch nichts Kunstspezifisches (darauf wird zurückzukommen sein), sondern Merkmal jedes operativ geschlossenen Systems gegenüber seinem sozialen Umfeld, die negative Seite seines Selbstbezuges.16 Van Scheltemas Ausführungen hängen - wie angedeutet - von der pro13 14 15

16

Van Scheltema: Die Kunst der Vorzeit, S. 14, 22. Van Scheltema: Die Kunst der Vorzeit, S. 15. Luhmann: Weltkunst. In: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur. Hg. v. N. Luhmann, Frederick D. Bunsen u. Dirk Baecker. Bielefeld 1990, S. 7 ^ 5 , hier S. 26, 28, 33; Luhmann: Die Ausdifferung des Kunstsystems. Bern 1994, S. 22. Luhmann: Die Ausdifferung des Kunstsystems, S. 25.

9 blematischen Berechtigung seiner Annahme einer reinen Formintention ab, das heißt von der Voraussetzung, »daß diese rein formale Wirkung auch zweifellos von ihren Urhebern bewußt erstrebt wurde«.17 Indes scheint Luhmanns Hypothese über den Zusammenhang von struktureller Systemdifferenzierung und historischen Semantiken nicht weniger angreifbar zu sein, ganz abgesehen davon, daß die meisten seiner historischen Aussagen viel zu allgemein gehalten und oftmals so grob gestrickt sind, daß sie für präzise Detailanalysen weitgehend unbrauchbar sind. Luhmann modelliert Gesellschaft und ihre Teilsysteme, darunter auch das Sozialsystem der Kunst, nach dem autopoietischen System der Psyche.18 Dabei gilt für das Bewußtseinssystem dasselbe wie für andere autopoietische Systeme (wie beispielsweise Zellen): unter der Bedingung operativer Schließung kann ein solches System sich nur an die Realität seiner eigenen (Bewußtseins-) Operationen halten. Das psychische System muß zunächst einmal seine Operationen reproduzieren; erst dann ist es möglich, daß unter bestimmten Bedingungen, vor allem der Existenz von Gedächtnis, etwas davon im System als Kognition behandelt wird. Kognitionen sind Operationen operativ geschlossener Systeme. Hier ist folglich auch die Vorstellung aufgegeben worden, daß der Bezug eines Wissens auf einen außerhalb des Wissens angenommenen Gegenstandsbereich erklärt werden muß. Dieses Modell des psychischen Systems überträgt Luhmann, nicht per analogiam, sondern ausdrücklich nur in Gestalt einer Theorieentscheidung auf Gesellschaft. Begreift man nämlich die systembildende Operation sozialer Systeme als Kommunikation, und die des Sozialsystems Kunst als nach einem besonderen, kunstspezifischen Code prozessierende Kommunikation, dann werde einsichtig, daß fortlaufende kommunikative Operationen nicht nur dieses System reproduzieren, sondern auch zur Ablagerung entsprechender Semantiken führen, an denen sich dann die Reproduktion von Kognitionen (Beobachtungen, Beschreibungen) orientieren. Einzig dieser Gedanke trägt die Begründungslast der Hypothese, daß es einen Zusammenhang zwischen struktureller Systemdifferenzierung und historischen Semantiken gibt. Semantiken sollen interne Erzeugnisse operativ geschlossener Sozialsysteme sein. Zwar bedarf dieser Gedanke keiner Annahme einer zutreffenden oder unzutreffenden Repräsentation systemexterner Weltsachverhalte im und durch das System mehr; hinsichtlich der Natur der systeminternen Beziehung zwischen Struktur und Semantik ist aber mit Worten wie »Ablagerung«, »internes Erzeugnis« oder »Korrelat« denkbar wenig gesagt. Der Eindruck läßt sich nicht ohne weiteres ausräumen, daß Luhmann sich den Zusammenhang der beiden Ebenen letztlich doch nur als Basis-Überbau-Verhältnis, also im Sinne der Determinationsschemata einer materialistischen Erklärung geistiger Gegebenheiten vorstellt, indem er historische Semantiken nicht wie Michel Foucault als unableitbare diskursive Praktiken, sondern nur als unselbständige Phänomene über einer sie bedingenden Strukturbasis denkt. In gezielter Vermeidung eines expliziten Gebrauchs von Adäquatheitsvorstellungen spricht er jedoch ständig davon, daß einer strukturellen Veränderung semantisch »Rechnung getragen

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Van Scheltema: Die Kunst der Vorzeit, S. 15, 67. Vgl. Luhmann: Die Ausdifferung des Kunstsystems, bes. S. 49-54.

10 werden« müsse, jene sich »auf die semantische Ebene auswirke« oder »an semantischen Korrelaten ablesbar« sei. Luhmann hat es sich trotz seiner erklärten Ablehnung von Kongruenz- und Adäquatheitsvorstellungen als mit einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie unvereinbar durchaus nicht versagt, Phänomene auf der semantischen Ebene wegen ihrer Inkongruenz gegenüber Entwicklungen auf der strukturellen Ebene zum Beispiel als »anachronistisch« zu kritisieren19 oder umgekehrt bei der Frage der Angemessenheit von Kunstwahrnehmung in (mit Hans-Georg Gadamer zu reden) geradezu >naiv objektivistischen Weise von »in den Kunstwerken fixierten Beobachtungen« und der Notwendigkeit einer »Beobachtung deijenigen Unterscheidungen, mit denen das Kunstwerk selbst gearbeitet hat«, zu sprechen oder darauf zu insistieren, daß Kunstwerke dem Beobachter »Unterscheidungen vorgeben, an die er sich zu halten hat, wenn er überhaupt an Kunst teilnehmen will«, und daß Beobachter auf diese Unterscheidungen als die Mittel, mit denen die Kunst arbeitet, »achten und nach deren Maßgabe beobachten« müssen, weil sich ein Kunstwerk nur durch ein solches »Sicheinlassen auf das, was sichtbar oder hörbar gemacht ist«, erschließt.20 Solches Sicheinlassen bezeichnete die ältere, vorkantische Erkenntnislehre auch als >Koaptation< und verstand darunter primär eine die Freiheit des Geistes (indifferentia activa) nicht aufhebende »determinatio passivae indijferentiae mentis per agens extra mentem« und nicht ein der »actio objecti« vorausgehendes Unterscheidungshandeln von Seiten des Intellekts: »nam quodlibet ens, utpote objectum ad subjectum mentis actione sua accedens, debet sibi coaptare mentem coaptatione, utrique et agendi et recipienti connaturali, proportionata, grata et simili. [...] Hac igitur coaptatione, quam peragit objectum, et patitur seu recipit mens subjecti loco posita, perit menti sua passiva indifferentia, recipit autem determinationem et actu transformatur in imaginem talem, qualem voluit actio Objecti.«21 Wie ein derartiges Sicheinlassen mit einer konsequent gehandhabten konstruktivistischen Gnoseologie kompatibel sein könnte, bleibt unerfindlich. Kann denn wirklich ernsthaft behauptet werden, daß die Kompositionsprinzipien von Texten keine sachlichen Gegebenheiten sind, auf die man sich einlassen muß, sondern eine Frage der konstruktiven Einstellung? Ein Beispiel soll das verdeutlichen. In den fünf Teilen des höfischen Romans Die Durchleuchtige Syrerinn Aramena (1669-1673) von Herzog Anton Ulrich von Braunschweig (1633-1714) verdichten sich eine Vielzahl von Hauptpersonen und einzelnen Handlungssträngen zu einem fast undurchdringlichen, chaotisch scheinenden Geflecht, in dem alle Einzelfaktoren in engster, unabtrennbarer Beziehung zu allen anderen stehen. Die einzelnen Handlungssequenzen können sich nicht als selbständige Bestandteile des Ganzen, in dem es unzählige Handlungsfolgen zu geben scheint, behaupten, sondern gehen in der Gesamtbewegung der Massen auf. Eine solche kunstvolle Komposition, »alles in Verwirrung

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Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 647. Luhmann: Weltkunst, S. 11, 15, 20f., 36, u. ö. Ferdinand H. Lichtscheid: Interesse veritatis [...]. Cizae 1699, S. 58-60.

11 fallen zu laßen, und dann unverhofft herauß zu wickeln«,22 ist nicht darauf berechnet, daß ihre einzelnen Formglieder gesehen werden. Jede sich neu ergebende Perspektive, aus der Teilgegebenheiten oder das Ganze betrachtet werden, läßt immer neue und unerwartete Aspekte sichtbar werden, ohne daß diese verschiedenen Ansichten sich zu einer einzigen Vorstellung zusammenziehen ließen oder eine die Hauptansicht wäre, in der sich der Gegenstand erschöpfend darbietet. Es wäre doch närrisch zu behaupten, daß diese den ganzen Roman durchherrschende Art des Sehens - ein gutes literarisches Zeugnis für hochbarocke »Vielbildigkeit«23, das heißt (in zeitgenössischer Ausdrucksweise) für »ambiguitas affectata«24 - vom subjektiven Unterscheidungshandeln des Lesers abhängt. Erste Vorstöße, die Überlieferung von Texten als konstruktive Interpretation zu begründen, wurden keineswegs erst seit dem Frühkritizismus unternommen, auf den sie gewöhnlich zurückgeführt werden,25 sie liegen noch vor den entsprechenden Bemühungen Christian Wolffs (1679-1754) und seiner Schule. Der Versuch des Amsterdamer Mediziners und Philologen Lodewijk Meyer (1629-1681), die cartesische Philosophie zur Wahrheitsnorm der Bibelauslegung zu erheben, dürfte einer der frühesten Anläße gewesen sein, explizit die Frage der Berechtigung solcher Interpretationen aufzuwerfen. 26 Die Diskussion dieser Frage wurde hauptsächlich in Gestalt von mehr oder weniger polemischen Reaktionen der niederländischen reformierten Orthodoxie auf die von Meyer aufgestellte Behauptung geführt, die Bibel könne nicht selbst diese Norm sein, da ihr Sinn interpretativ ja erst ermittelt werden müsse. Nach Meinung des Calvinisten Reinier Vogelsang (ca. 1610-1679) hatte Meyer die Schrift, indem er sie auf den äußerlichen Buchstaben reduzierte, ihres Sinns beraubt. Um der Bibel die Bestimmung, selbst alleinige Norm ihrer Auslegung und Norm der Richtigkeit der Auslegung zu sein, bestreiten zu können, mußte Meyer eine Interpretation des Textes »citra Scripturae sensum« fingieren. Für Vogelsang konnte >Ermittlung des Schriftsinns< vernünftigerweise nichts anderes bedeuten

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Gottfried Wilhelm von Leibniz: Brief [= Extract meines Schreibens] an Herzog Anton Ulrich v. 26. 4. 1713, vgl. Eduard Bodemann: Leibnizens Briefwechsel mit dem Herzoge Anton Ulrich von Brauschweig-Wolfenbüttel. In: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen. Nr. 87 (1888), S. 73-244, hier S. 233f. Vgl. dazu Paul Frankl: Die Entwicklungsphasen der neueren Baukunst. Leipzig 1914, S. 135f. Samuel Maresius (Praes.) / Henricus Benthem (Resp.): Disputatio theologica quinta refutatoria libelli De Philosophia interprete Scripturae [...]. Groningae 1667, fol. A4". - Die negative Konnotation ist primär theologisch motiviert. Der Reformierte Samuel des Marets sah die Lehre von der numerischen Einheit des Literalsinns der Bibel dadurch in Gefahr, daß aus einem spezifischen Gestaltungsprinzip von Texten und Bildern illegitimerweise eine hermeneutische Prämisse der Schriftauslegung gemacht wurde. Die Folge wäre, daß man interpretativ stets etwas >Richtiges< trifft, ganz gleich, welchen Sinn man den Bibeltexten auch gibt. Vgl. ζ. B. Lucien Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte (zuerst frz. 1973). Darmstadt 1990, S. 275f. Das aus der Zeit der Patristik überlieferte Verfahren gezielter allegorischer Umdeutung antiker Texte gehört nicht hierher.

12 als >SchriftinterpretationÄsthetikLiteraturKunstDokumente< (d. h. als unselbständige und sekundäre Zeichen für etwas anderes), sie tendiert umgekehrt zur immanenten systematischen Beschreibung der effektiven Aussagen. Diskurse sind keine einfache Verschränkung der Dinge und der Wörter, sie sind weder auf die Gesetze des Denkens noch der Sprache noch der Gegenstände reduzibel. Diskurse, die zwar aus Zeichen bestehen, aber nicht Zeichen für etwas anderes, für einen prädiskursiven, >natürlichen< Referenten sind, sollen nicht als Übersetzung von Kommunikationsprozessen beschrieben werden, die sich anderswo abwickeln. Durch die Infragestellung einer >wirklichen< Wirklichkeit hinter der diskursiv vermittelten, welche dieser erst Funktion und Bedeutung zuteilt, wird der Welt jedoch nichts genommen. Ein Diskurs ist kein neutrales, transparentes oder insuffizientes Medium, kein Ort, wo sich Gegenstände >ablagerndie Kunst< entdeckt, die dann die Einheit des ästhetischen Diskurses konstituierte: »il ne suffit pas d'ouvrir les yeux, de faire attention, ou de prendre conscience, pour que de nouveaux objets, aussitöt, s'illuminent«. Man kann nicht zu allen Zeiten alles sagen (on ne peut pas parier ä n'importe quelle epoque de n'importe quoi); und diese Gesamtheit historisch jeweils möglicher Aussagen bezieht sich nicht auf ein einziges, identisch bleibendes Objekt.39 Fragt man im Anschluß an diese diskurstheoretischen Überlegungen nach der Ausdifferenzierung und Formierung eines einheitlichen, geregelten Diskurses über die Kunst und danach, wie dieser sich konstituierte, dann muß man ganz heterogene Aussagengruppen miteinbeziehen, in denen nicht nur auf oft sehr verschiedenartige Weise von Kunst, richtiger: von einzelnen Künsten die Rede ist, sondern die in der Epoche ihrer Formulierung auch ganz anderen Diskursen und Disziplinen angehörten und anderen Charakterisierungen unterworfen waren als in späterer Zeit. Der Literatur-Begriff im heutigen Sinne ist eine junge Kategorie, die man - wie Marc Fumaroli deutlich gemacht hat - nicht unbesehen auf die den >lettreserudition< angehörenden Schreibgattungen der frühen Neuzeit anwenden kann. Die ältere, humanistische >literatura< (d. h. die >res literariaernsthafteren< Sachen. »Limitation en langue vulgaire, pour le plaisir des >ignorantsHistorie< in Christian Gryphius' Actus von den Helden-Büchern oder Romanen (1694). Aus der Handschrift hg., erläutert u. mit einem Nachwort versehen v. Konrad Gajek. Frankfurt/M. 1994, (Seena I) S. 10. Fumaroli: L'äge de l'eloquence, S. 23f.

16 Büchermarkt der Unterhaltungsschriften betrifft, der durch eine unbedingte Vorherrschaft der Andachts- und Erbauungsliteratur bestimmt war. 4 3 D a s Feld der Diskurse wird i m 16. und 17. Jahrhundert durch andere Einheiten gegliedert als etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. W a s man heute unter der B e z e i c h nung Kunst

zusammenfaßt und z u m Beispiel v o n Johann Christoph Gottsched

( 1 7 0 0 - 1 7 6 6 ) eher beiläufig in der uns vertrauten Fünfzahl v o n Dichtkunst, Musik, Malerei, Baukunst und Bildschnitzen erwähnt wird, 4 4 verteilte sich - w i e n o c h bei Johann Heinrich Zedier ( 1 7 0 6 - 1 7 6 3 ) zu sehen - bis ins 18. Jahrhundert der Überlieferung entsprechend auf Wissenschaft (ars poetica als Teil der Rationalphilosophie) 4 5 freie Künste (artes liberales w i e Musik qua Wissen), Handwerk (artes illiberales: »ein Bild mahlen, l ö s t e n tragen«, Musizieren) und die bereits i m Mittelalter sogenannten artes ludicrae, z u denen »Seil-tanzen, C o m o e d i e n , [...] Gauckeln, Taschen-Spielen« gezählt wurden, 4 6 und, w i e man ergänzen muß, seit d e m 17. Jahrhundert auch Oper und Roman. W i e w e n i g endgültig

die

Gottschedsche

Fünfergruppe

selbst n o c h

am A u s g a n g

des

18. Jahrhunderts war, dokumentieren b e i s p i e l s w e i s e die sich mehrfach überlagernden Gruppierungen (bildende Künste, redende Künste, mechanische Künste, eigentlich und uneigentlich schöne Künste, eigentlich und uneigentlich schöne Wissenschaften, schöne Literatur u. a.), mit denen Johann Joachim Eschenburg ( 1 7 4 3 - 1 8 2 0 ) eine potenziell o f f e n e Reihe v o n Disziplinen zu gliedern versuchte. 4 7

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Vgl. dazu Herbert Schöffler: Protestantismus und Literatur. Neue Wege zur englischen Literatur des 18. Jahrhunderts (1922). 2. Aufl. Göttingen 1958, S. 186-193. Schöffler stellte für die (mit den kontinentalen vergleichbaren) englischen Verhältnisse fest: »Überhaupt können wir uns ja die Entlegenheit des Gedankens an ausgedehnte weltlich-schöngeistige Lektüre noch um 1700 gar nicht groß genug vorstellen.« Erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts verringert sich innerhalb des ziemlich konstant bei 25% hegenden Unterhaltungsteils der Gesamtbücherproduktion des deutschsprachigen protestantischen Büchermarktes der Anteil der Erbauungs- und theologischen Literatur von ca. 75 auf ca. 25 Prozent, der Anteil der weltlichen Unterhaltungsschriften wächst im genau umgekehrten Verhältnis (Zahlen nach Rudolf Jentzsch: Der deutsch-lateinische Büchermarkt nach den Leipziger Ostermeß-Katalogen von 1740, 1770 und 1800 [...]. Diss. Leipzig 1912). J. C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst (1730). Darmstadt 1982 (Nachdruck der 4., verm. Auflage Leipzig 1751), 2. Hauptst., § 1, S. 94. Vgl. Vincentius Bellovacensis: Bibliotheca mundi, seu speculi maioris. Tomus Π: Speculum doctrinale. Graz 1965 (Nachdruck der Ausgabe Duaci 1624), col. 287. - Hieronymus de Ferraria, O.P.: Opus perutile de divisione ordine ac utilitate omnium scientiarum [...] in poeticen apologeticus. o.O.o.J. (Venetiis 1542), fol. 5', 14-15 r . Formalobjekt der Poetik ist ein »ens rationis«, nämlich der von Aristoteles (Anal, pr., Π, 24, 68b40-69al5) »exemplum« genannte Syllogismus. »Ratio [...] aliquando ex similitudinibus et exemplis procedit per syllogismum [...], cui processui deservit ars poetica.« - Vgl. auch Jacobus Zabarella: Opera logica [...] (1578). Editio tertia. Hg. v. Wilhelm Risse. Hildesheim 1966 (Nachdruck der Ausgabe Coloniae 1597), coll. 78B-102A (= De natura logicae, libri duo, lib. 2, c. 1324). J. H. Zedier: Grosses vollständiges Universal Lexikon aller Wissenschafften und Künste [...]. Anderer Bd. Graz 1993 (Nachdruck der Ausgabe Halle u. Leipzig 1732), Sp. 1645 (Art. >Arstranscendentia< bezeichnete die mittelalterliche Philosophie und Theologie ontologisch die allgemeinsten, transkategorialen Bestimmungen des Seienden. Der ontologische Aspekt des Schönen ist zu verstehen im Blick auf die Offenbarung Gottes im geschaffenen Sein. Die Welt ist als Schöpfung Gottes prinzipiell schön. Das absolut Schöne ist Gott, Paradigma sinnlicher Schönheit ist die Schöpfung, nicht jedoch menschliche Kunst. Noch im 15. und 16. Jahrhundert wird das Schöne bei philosophischen Autoren in einem metaphysisch-ontologischen Kontext behandelt, wo es nicht unabhängig vom Wahren und Guten auftaucht. Ebenso bezeichnend wie selbstverständlich beispielsweise für Rudolph Goclenius' Erörterung der Frage, »An Pulcritudo sit praedicatum Transcendens?« und seine Einteilungen der >pulcritudo< (in >increata< und >creataKunstkünstlerische< Praxis oder auf der anderen Seite - auf Schönheitslehren, so daß zu bezweifeln ist, daß man einfach auf der Linie dieser Gattung von Texten und Praktiken kontinuierlich in die Vergangenheit zurückzugehen brauchte, um zu seinem Ursprung zu gelangen.52 Mitentscheidende Debatten, die unerwartete, das heißt aus ursprünglichen Handlungsintentionen nicht verständlich zu machende Spätwirkungen gezeitigt haben, wurden anderswo geführt. Man kann nur vermuten, daß es unter anderem auch diese heterogenen Aussagegruppen waren, die Kristeller vor Augen hatte, als er seine Kritik an der Methode der herkömmlichen Historiographie der Philosophie und allgemeinen Ideengeschichte formulierte, eine halbherzige und inkonsequente Kritik, die sich vornehmlich noch mit der längst obsolet gewordenen Unterscheidung zwischen »important original authors« und »secondary authors« abmühte, obwohl sich für ihn letztere doch gerade als die wichtigeren und originelleren erwiesen haben: We are accustomed to the process by which notions first formulated by great and influential thinkers are gradually diffused among secondary writers and finally become the common property of the general public. Such seems to have been the development of aesthetics from Kant to the present. Its history before Kant is of very different kind. The basic questions and conceptions underlying modern aesthetics seem to have originated quite apart from the traditions of systematic philosophy or from the writings of important original authors. They had their inconspicuous beginnings in secondary authors, now almost forgotten though influential in their own time.53

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heitsspekulationen, Rhetoriken oder Malereitraktaten, auf die ausschließlich Bezug genommen wird, die Vorgeschichte des ästhetischen Kunstverständnisses zu sehen ist. Wie groß der Zwang zur Konstruktion einer solchen »Vorgeschichte der philosophischen Ästhetik« ist, zeigte bereits Brigitte Scheers Darstellung dieser Disziplin (B. Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik. Darmstadt 1997), die sie >eigentlich< mit Baumgarten beginnen läßt, zuvor aber pflichtschuldig dem »Schönen« und der »Kunst« in Antike, Mittelalter und Renaissance einen eigenen Abschnitt widmen zu müssen glaubt, obwohl sie ausdrücklich betont, daß dort »noch kein Begriff von einer spezifisch ästhetischen Kunst« existiert und die »Engführung von Kunst und Schönem erst seit der Neuzeit versucht wurde« (S. 7). Augustinus Niphus: De pulchro liber. Romae 1531, c. 31 u. 37, fol. 20 v -21 r , 24r/v: »nec Deus, nec angeli pulchri, sed boni, atque perfecti sunt [...], coelum vero non est pulchrum [...] Mundus etiam nequaquam [...] res artificiales licet sint iucundae, atque voluptificae, non tarnen sunt natura pulchrae [...] nec oratio, vel carmen erit pulchrum.« Ein neuerliches Musterbeispiel für ein solches Vorgehen, mit dem bekannten Bequemlichkeitssprung über Mittelalter und frühe Neuzeit hinweg, ist die Arbeit von Dagmar Fenner. Kunst - jenseits von Gut und Böse? Kritischer Versuch über das Verhältnis von Ästhetik und Ethik. Tübingen, Basel 2000. Vgl. P. O. Kristeller: The modem System of the Arts: A Study in the History of Aesthetics. In: Journal of the History of Ideas 12 (1951), S. 496-527 u. 13 (1952), S. 17^16, hier S. 518-521 u. S. 44f.

19 Denkt man Ausdifferenzierung nicht nach dem schon vor Zeiten von Wilhelm Wundt formulierten methodischen Prinzip der »Heterogonie der Zwecke«, nach welchem das jeweils »letzte Ergebnis nicht die Verwirklichung einer von Anfang an in den Erscheinungen wirksamen Idee ist«,54 sondern wie Luhmann teleologisch und als lineare Genese, dann ist der Substantialismus unvermeidlich. Am Beginn und am Ende des Prozesses steht dann nämlich derselbe Gegenstand >KunstKunst< erst konstituierenden Ausdifferenzierung Kunst im modernen Sinn noch gar nicht gab, kann es auch keine >heteronomen Anlehnungen< gegeben haben, von denen nicht nur Systemtheoretiker so gerne sprechen. Was hieße denn auch für das 16. Jahrhundert, »die Kunst selbst« zu beobachten? Das von Luhmann angeführte Beispiel Albrecht Dürers, der seine Malerei bekanntlich zu einem guten Teil als angewandte Geometrie verstand, ist instruktiv: bei Dürer habe sich die Kunst mit ihrer Anlehnung an die Wissenschaft selbst mißverstanden - ein >Mißverständniskunstnähere< Bestimmungen der Kunst erlauben, setzt ein Wissen darum voraus, was Kunst eigentlich ist. Auf die Kunstevolution übertragen, muß aus der Orientierung an Kunstbegriffen einer späteren Zeit ein zumindest impliziter Normativismus resultieren, hier also in Gestalt der Vorstellung einer Ablösung der Kunst von »fremdgesetzten oder fremdausgerichteten« Zwekken.58 Für die Bestimmung dessen, was >Kunst< vorher war, stehen dann nur noch Negativkategorien zur Verfügung; sie bleibt also tendentiell unverstanden. Ausdifferenzierung der Kunst und eines Kunstdiskurses darf nicht so verstanden und dargestellt werden, als ob die wahre, jahrhundertelang in einem idealen Wartestand verharrende Natur der Kunst endlich erkannt und in Überwindung sachfremder Bestimmungen zur Geltung gebracht worden sei. Oder 54

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W. Wundt: Völkerpsychologie. III. Bd. 3., neub. Aufl. Leipzig 1919, S. 363; Bd. VI/3. 2. Aufl. Leipzig 1915, S. 193. Wundts Lehre von der Heterogonie der Zwecke ist unverkennbar mit Friedrich Nietzsches Genealogie-Konzept verwandt und besagt, daß man die Vorstellung aufgeben muß, daß alle kulturellen Phänomene aus je eigenem Ursprung und Recht entstammen. Vgl. Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 624. Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 625f. Vgl. einige Bemerkungen zum künstlerischen Selbstverständnis bei Anthony Blunt: Artistic theory in Italy 1450-1600. Oxford 1940. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (1995). Frankfurt/M. 1997, S. 42.

20 mit Foucault zu reden: die Kunst wartet nicht in der Vorhölle (dans les limbes) auf die Ordnung, die sie befreien und ihr gestatten wird, endlich Gestalt anzunehmen. Das Prinzip der »Zweckläufigkeit der Kultur« begeht, wie Wilhelm Wundt gezeigt hat, den Fehler, »daß es Anfang und Ende miteinander vertauscht, indem es eine von den letzten Resultanten eines Vorganges ausgehende ideelle Rekonstruktion an die Stelle der ursprünglichen Motive setzt«.59 Zu prüfen wäre erst einmal (so ergänzte Foucault der Sache nach diesen Gedanken), ob überhaupt stets von >demselben< Gegenstand die Rede gewesen ist, ob es sich nicht bei >KunstLiteratur< und verwandten Kategorien möglichweise nur um retrospektive Umgruppierungen handelt, durch die heutige Wissenschaften sich einer Elusion über ihre eigene und die Vergangenheit ihrer Gegenstände anheim geben. »Sont-elles des formes qui se sont instaurees une fois pour toutes et se sont developpees souverainement ä travers le temps?«60 Die Geschichte des Kunstund Ästhetikkonzepts verläuft wie jede andere auch weder geradlinig noch kontinuierlich. Es hat nicht nur Fortschritt gegeben. Das eigentliche Problem liegt in der »emergence of aesthetics« (Woodfield) und nicht (nur) in der Erklärung von immanentem Strukturwandel. Anders gesagt, es hat nicht immer schon die Vorstellung von >künstlerischer< Produktion und einer ihr adäquaten Kunstrezeption gegeben. Es geht in der vorliegenden Arbeit nicht um die Bedeutung des Adiaphoradiskurses für die frühneuzeitliche Kunstpraxis, also nicht um die Feststellung oder Behauptung einer determinierenden Relation zwischen Adiaphorie und konkreter Kunstproduktion. Dafür müßten überhaupt die literarischen, musikalischen und bildnerischen Denkmäler selbst in ganz anderer Weise Berücksichtung finden, als es hier geschehen ist. Die Frage, die ich zu beantworten versuche, lautet vielmehr: Wie und mit welchen Begriffen hat man im 16. und 17. Jahrhundert außerhalb der Regelbücher der Artes diejenigen Gegebenheiten beschrieben, kritisiert oder verteidigt, von denen später einige erst zum Gegenstand der philosophischen Ästhetik und dann der Kunstwissenschaften wurden? Und woher stammen wesentliche Bestimmungsmomente, die spätestens seit dem ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert den Kunstbegriff in einer uns vertrauten Weise zu dominieren beginnen? Es wäre gewiß eine interessante Aufgabe, den Beziehungen zwischen der (in einer genuin kunstwissenschaftlichen Analyse erfaßten) Entwicklung der Künste und der der Konzeptualisierung von Kunstbegriffen im Horizont der Adiaphora-Lehren nachzugehen. Wie sich diese Konzeptualisierung zur konkreten Kunstübung genau verhält - ob explikativ, ob determinierend oder determiniert oder ob letztere überwiegend nur zur exemplarischen Veranschaulichung dient - halte ich noch für weitgehend unausgemacht. Ich würde jedenfalls nicht ohne weiteres vorab zu behaupten wagen, daß die konkrete künstlerische Produktion in allen ihren Teilsphären, diese einmal vereinfachend als einheitlich unterstellt, mit der Entwicklung der Kunstbegriffe in den Adiaphoratraktaten jeweils Schritt gehalten hat oder dieser sogar 59 60

Wundt: Völkerpsychologie. Bd. X. Leipzig 1920, S. 154. Foucault: L'archeologie du savoir, S. 45 / dtsch. S. 49.

21 vorausgeeilt ist. Wie entsteht überhaupt das Konzept einer nur auf sich selbst bezogenen, sich selbst genügenden künstlerischen Produktion und Rezeption? Historiker sehen oft retrospektiv die >Vorgeschichte< als eigene Geschichte, so als ob es immer schon >Kunst< im modernen Sinne gegeben habe und nur Fortschritte oder Strukturwandel bei einem gegebenen Reproduktionstypus zu verzeichnen seien. Strukturbrüche sind jedoch kein Fortschritt.62 Damit lautet eine wesentliche Aufgabe: am uns Vertrauten, Selbstverständlichen, das Unwahrscheinliche seiner Entstehung wiederzuentdecken. In Antike und Mittelalter bis weit in die frühe Neuzeit und sogar Moderne hinein dominierte in Hinsicht auf die hier vornehmlich zu berücksichtigenden Kunstgattungen fraglos die Vorstellung von wesensmäßig nützlichen Unterweisungen durch die Kunst (vgl. ζ. B. die Topoi »poetae doctores populorum« oder »doctores vulgares« etc.).62 Um überhaupt zur Vorstellung von künstlerischer Funktionsautonomie zu gelangen, mußte vor allem der von Hause aus instrumentalistisch beziehungsweise utilitarisch konzipierte Kunstbegriff grundlegend verändert werden; dies war nicht allein mit einer internen Umakzentuierung innerhalb der traditionellen Funktionsduplizität von >prodesse< und >delectare< (andere Kategorien haben, sieht man einmal vom rhetorischen >movere< ab, zunächst gar nicht zur Verfügung gestanden) zugunsten des >delectare< zu erreichen, zumal durch diese neue Betonung ja nicht die utilitarische Interpretation der Kunst überwunden, sondern nur der Akzent innerhalb der Dienste der Kunst (ihrer >LeistungL'art pour l'art< will das, was das System ist, im System zum Programm machen und verfehlt damit den elementaren Tatbestand, daß Autonomie die Beziehungen zur Umwelt nicht unterbindet, sondern gerade voraussetzt und reguliert.«130 Luhmanns Kritik wird der tatsächlichen historischen Funktion von Indifferenzkonzepten (und davon abgeleiteten, auch metaphorischen Umschreibungen) im Kontext der Ausdifferenzierung eines Kunstdiskurses gerade in selbstreferentieller Hinsicht nicht gerecht. Davon abgesehen, war die seinem kritischen Gedanken zugrundeliegende Unterscheidung auch früheren Zeiten nicht unbekannt; darüber belehren zum Beispiel alle Bemühungen, den genauen Sinn der Frage zu klären, ob es neben den an sich guten und an sich schlechten Handlungen noch indifferente Akte gibt. An dieser Stelle muß der Hinweis genügen, daß sehr genau zwischen der 130

Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 626.

41 Wesensindifferenz einer Handlung selbst (ut indifferentia sit de ratione specifica alicujus actionis) und dem Indifferenzverhältnis einer Handlung gegenüber anderen Differenzen, etwa der moralischen Unterscheidung zwischen gut und böse (ut communis natura alicujus actionis indifferenter se habeat ad bonitatem et malitiam) unterschieden wurde.131 Mit der Ausdifferenzierung des Kunstsystems war ein neuer Schritt getan; fortan mußte man Kunstwerke von anderen Omamentträgern unterscheiden und die besondere Eigenart von Kunstwerken im Unterschied zum bloß Dekorativen, das Kunstwerke mit anderen Gegenständen teilen, hervorheben. Zu Recht hat Luhmann darauf hingewiesen, daß eine Theorie der Einheit der Form des Kunstwerks solange unmöglich ist, wie diese hierarchische Unterscheidung, etwa zwischen Schönheit und Verzierung oder, wie etwa bei Paleotti, zwischen Nachahmung und allen übrigen >accessiones< (wie >elegantiavarietas colorum< und >ornamentaabstrakt betrachtet ist hier als Kautel gemeint. Historisch betrachtet, müßte eine Formulierung des Sachverhaltes Heinrich Wölfflins bekannte Sentenz >Nicht alles ist zu allen Zeiten möglich« berücksichtigen; vgl. H. Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst. München 1915, S. 11. Kant: KU § 22 (Ak. Α. V, S. 242).

43 Kunst in der Funktionslosigkeit sieht,138 oder indem man die Aufgabe der Kunst - im Unterschied zu allen anderen sozialen Unterscheidungssystemen - in der »Herstellung von Weltkontingenz« erkennt: Indem Kunst Beobachtung im Bereich des Wahrnehmbaren beobachtbar macht, macht sie uns sehen, daß wir nicht sehen, was wir nicht sehen.139 Ist ein Kunstsystem erst einmal ausdifferenziert, dann erfahren alle auf Kunst bezogenen überlieferten Bestimmungen und Begriffe eine Neubewertung. Es gab zwar auch im 19. Jahrhundert noch die Unterscheidung zwischen dem Notwendigen, dem Nützlichen und dem Überflüssigen, und auch die Frage nach der Notwendigkeit des Überflüssigen vexierte weiterhin protestantische Köpfe,140 diese Frage wurde jedoch nicht mehr auf dem Gebiet der Kunst gestellt und beantwortet, denn diese war jetzt selbst ein Notwendiges geworden, dessen Prinzipien in ihm selbst, in der Idee der Schönheit liegen. Die Kunst gehört seither nicht länger zu den Gebieten des Lebens, die in ihrer Existenz vom Luxus abhängig sind. Daß sie unter gebildeten Völkern den größten Raum der Muße, die für sich selbst Zweck ist, einnimmt, lag für den Hegelianer Rosenkranz nur daran, daß sich in der Kunst »die tieffste innere Nothwendigkeit unter der Form willkürlicher Darstellung verbirgt«. Und selbst das Überflüssige, der Luxus, erschien Rosenkranz als ein an sich untadeliges, »unabwendbares Resultat der für die Freiheit des Menschen unvermeidlichen Arbeit«. Die Anklagen, welche gegen den Luxus, als der die schöne Kunst lange Zeit galt, erhoben wurden, treffen nicht mehr ihn selbst, sondern nur mehr seine Ausartung in das Maßlose.141 Die Geschichte des notwendigen Unwesentlichen und Überflüssigen, des allmählichen Auf-sich-selbst-Stellens des Indifferenten als des zuerst geduldeten und dann ausgezeichneten, aber immer begrenzten Ortes der Willkür, möchte ich anhand der Adiaphora-Traktate nachzeichnen, da dieses Thema dort - viel mehr als zum Beispiel in förmlichen Dichtungslehren - in der Verklammerung von (Zweck-) Indifferenz, Sinnlichkeit (Schein) und Willkür ex professo behandelt wurde. Der Entwicklung über die Zeit des frühen 18. Jahrhunderts hinaus systematisch nachzugehen,142 überschritte die der vorliegenden Arbeit gesetzten Grenzen. 138

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Negativ konnotiert, finden sich derartige Gedankenfiguren (non enim delectat ut delectat poeta; le plaisir pour le plaisir) gehäuft im 17. Jahrhundert, bei P. Nicole, T. Campanella, G. Heidegger u. a. Luhmann: Weltkunst, S. 33; Die Kunst der Gesellschaft, S. 124 u. ö. - Am Rande sei vermerkt, daß der systemtheoretisch arbeitenden Literatur- und Kunstwissenschaft eine einhellige, auch in historischer Perspektive überzeugende Formulierung der spezifischen Funktion der Kunst sowie ihres Codes bislang nicht annähernd gelungen ist bzw. dafür verschiedene, sich wechselseitig ausschließende Vorschläge gemacht wurden. Rosenkranz: Die Notwendigkeit des Luxus. Vortrag in der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg am 26sten Juni 1835 (K. Rosenkranz: Studien I, S. 27-55). Vgl. Rosenkranz: Die Notwendigkeit des Luxus, S. 51-54. Einige Bemerkungen dazu findet man bei Manfred Geier: Das Glück der Gleichgültigen. Reinbeck bei Hamburg 1998. Der Weg »Von der stoischen Seelenruhe zur postmodernen Indifferenz«, so der Untertitel der Schrift, die mit enzyklopädischem Anspruch auftritt, ist allerdings ein wenig zu kurz geraten. >Enzyklopädisch< ist an diesem Buch nur der Titel der Reihe (>rowohlts enzyklopädiegeborgen< werden müßten. Bezeichnenderweise hat Stolnitz keinen einzigen Textbeleg für >aesthetic disinterestedness< oder >aesthetic perception bei Shaftesbury beibringen können, auch an den Stellen nicht, wo er Anführungszeichen benutzte. Doch kommt noch ein weiterer problematischer Punkt hinzu: Der Begriff der Desinteressiertheit soll seine Wurzeln in den zeitgenössischen ethischen und religiösen Kontroversen, insbesondere um Thomas Hobbes (1588-1679) und dessen Konzept des verborgenen Eigeninteresses, gehabt und seine spezifisch ästhetische Bedeutung erst allmählich und »even deviously« erhalten haben. Daß Shaftesbury von >disinterestedness< nur in moralisch-ethischem Kontext sprach (»disinterested love of God«, einziger Wortbeleg) und daß das >aesthetic-disinterestednessfiktional< und >ästhetisch< einfach gleichsetzen darf, ebensowenig über die Herkunft und Ermöglichungs-

49 Werner Hofmann hingegen billigte dem Protestantismus weit mehr als nur eine solche negative Rolle zu.14 Hofmanns Annahme eines heterogonen Ursprungs des modernen Kunstverständnisses wird bereits im Titel seiner Untersuchung Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion kenntlich, die sich allerdings über weite Strecken weniger durch die historische Überprüfbarkeit ihrer Aussagen als ein phantasievolles Ausmalen der Adiaphoralehre Martin Luthers auszeichnet: Luther, so lesen wir da, bahnte »einem neuen, schlechthin modernen Kunsturteil den Weg«, sein »abwägendes Kunsturteil« reicht »in alle Bereiche der Moderne«, von ihm hat das Kunstverständnis »den entscheidenden Freibrief« empfangen, mit dem die Moderne begann, von da an sollte der Betrachter »vor dem Kunstwerk seine Freiheit erproben«. Indem Luther das »Kunstwerk in den Freiraum der Verfügbarkeit« stellte, legte er den Grund für die Betrachterästhetik. »Was ein Bild ist, was es aussagt, was es bedeutet, entscheidet sich im Betrachter.« Der Betrachter macht es zu dem, was es ist. »Das Kunstwerk wird zu einem Angebot, das sich im Rezipienten vollendet, wenn nicht überhaupt erst konstituiert [...]. Alles das hat mit Luther begonnen«.15 Bei soviel Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Lehre Luthers, die Hofmann auf eine nicht näher erläuterte Weise mit spätmittelalterlichem >Nominalismus< in Verbindung bringt, fällt es schwer, die korrespondierenden Gegenfragen in sich wachzuhalten. Werden diese Aussagen der Lehre Luthers und der altprotestantischen Orthodoxie wirklich gerecht oder treffen sie nur aus späterer oder gar nur aus heutiger Sicht zu? War für den Protestantismus mit der religiösen Neutralität der Kunst tatsächlich sofort auch Indifferenz in allen anderen relevanten Rücksichten gegeben? Hat sich wirklich schon im 16. oder 17. Jahrhundert der Begriff der Kunst vom technischen Verfahren und von einer Zweckform zum ästhetischen Objekt gewandelt? Keine dieser Fragen dürfte sich bei näherer Betrachtung im Sinne Hofmanns beantworten lassen. Auch dessen Einschränkung, Luther habe den Umgang mit Kunst aufs Neue durch eine »ethisch verinnerlichte Bekenntnishaltung« belastet, die sich später im Museum als Bildungsanstalt und ästhetisch säkularisierte Kirche bemerkbar machte,16 ist nicht dazu geeignet, die historische Wahrheit hervortreten zu lassen. Doch selbst dann, wenn man die Aussage Hofmanns, von »Luthers Adiaphoron-Position, welche die Gesamtheit der künstlerischen Äußerungen gleich-gültig und frag-würdig machte«, führe ein direkter Weg zu Kant und seinem interesselosen Wohlgefallen^ der »Einstellung also, mit der wir uns heute versehen, wenn wir [...] vor Kunst-

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bedingungen der Haltung unbeteiligten ZusehensProzesses der ModerneBefreiung aus der beschränkten Welt der scholastischen ErfahrungAufhebung der Verbindlichkeit des christlichen DenkensÄsthetikadmirano-Ästhetik< - die Erzeugung der Wirkung des Staunens als »das eigentliche Ziel der Dichtung«22 auf sich selbst gestellt wurde, wird ohnehin nur suggeriert, nicht anhand historischer Quellen nachgewiesen. Im 16. Jahrhundert wurden die einzelnen Disziplinen, in der hier relevanten Hinsicht und unbeschadet der (im übrigen bis weit in das 18. Jahrhundert hinein lebendig gebliebenen) Enzyklopädie-Vorstellung, vorzugsweise dadurch voneinander abgegrenzt, daß man sie auf einer Achse von Graden der Gewißheit ansiedelte, die sie zu erzielen imstande oder bestimmt waren, beginnend mit den demonstrative Gewißheit gewährleistenden spekulativen Wissenschaften über diejenigen Disziplinen, die Probabilität, sichere Meinung (opinio) oder festen Glauben (fides) wie die Topik oder nurmehr Mutmaßung (suspitio) wie die Rhetorik anstrebten oder erreichten, bis hinab zur Poetik, die für die Erzeugung von bloßer Schätzung (existimatio) zuständig war. Eine Sonderstellung am Rande des Kreises dieser Disziplinen wurde der >ars sophistica< zugewiesen, da

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Schröder: Logos und List, S. 10, 18, 31, 35f„ 237. Schröder: Logos und List, S. 10, 88.

52 sie nur Scheinwissen biete.23 Daß es zu einem förmlichen Oppositionskonzept von >Kunst< und zur Verbindung dieser neubegründeten Kunstlehre mit der Sophistik im Zeichen der >admiratio< gekommen ist, läßt sich Schröders Darstellung jedenfalls nicht überzeugend entnehmen. Der Entstehung eines eigenen >ästhetischen< Bereiches wäre es zweifellos sehr hinderlich gewesen, hätte man ihn antagonistisch, in Opposition zu wissenschaftlicher Wahrheit, Moral und Nützlichkeit, konzipiert. Den Freiheitsspielraum, den der neue Bereich bot, dürfte er vielmehr den Möglichkeiten verdankt haben, welche die in ihm waltende Indifferenz eröffnete.

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Vgl. dazu Jodocus Trutfetter: Summule totius logice: quod opus maius appellitare libuit [...]. Eiphurdie 1501, lib. 3, Preambula, fol. NNij': »In hoc autem processu rationis id est inventione medij: quandoque proceditur ex apparentibus nec existentibus propter defectu alicuius observandi in ratiotinatione: Cui subservit zophistica generans errorem [...]. Quandoque vero itur ex probabilibus veris vel probabilibus non facientibus plenam certitudinem: in quo processu multi comperiuntur gradus [...]. Fit enim per huiusmodi processum aliquandoque fides: opinio vel probabilitas [...] ad quorum mediorum inventionem ordinatur Topica [...]. Quandoque enim non fit complete fides vel opinio sed suspitio quedam: qua non totaliter declinator ad unam partem contradictionis licet magis uni quam alten adhereatur. Cuius medij inventio est in Rhetorica tradita [...]. Quandoque autem sola existimatio declinat in aliquam partem contradictionis propter aliquam representationem alicuius delectabilis aut abhominabilis: ad quod poetica ordinatur«; vgl. auch lib. 3, c. 4, fol. ooo4r. Ausgerechnet bei Trutfetter hätte Schröder eine ausdrückliche >admiratioin abstracto< beziehungsweise >in concreto< ist keine enzyklopädische Darstellung der theologischen Lehrentwicklung beabsichtigt. Die Analyse und Charakterisierung der Konzepte und Begriffe bleiben eng auf die leitende Fragestellung der vorliegenden Untersuchung bezogen und werden nur so weit getrieben, daß sie dem Bedürfnis nach deutlicher Abgrenzung der konträren Hauptpositionen voneinander Genüge tun. Daraus erklärt sich auch die Beschränkung auf den thomistischen und den skotistischen Lehrbegriff und deren Rezeption in den Schultraditionen und im protestantischen Raum bis in das 18. Jahrhundert. Rechtfertigen ließe sich diese Beschränkung ebenfalls dadurch, daß schon Petrus Aureoli um 1317 das Kontroversthema als im wesentlichen von diesen zwei Lehrmeinungen beherrscht referierte - »Sunt duo modi dicendi«1 - , daß sich spätere Thomisten wie Thomas de Vio Cajetan primär und vornehmlich mit der skotistischen Position auseinandersetzten und noch die Frati Editori der Bonaventura-Ausgabe in einem Scholion von der »Celebris controversia, praecipue inter scholas S. Thomae et Scoti agitata«2 sprachen. Ausschlaggebend für die gegenwärtige Problematik ist jedoch der Umstand, daß es diese beiden Lehrbegriffe sind, die in zumeist stark vereinfachter Gestalt im Protestantismus virulent wurden. Von Anfang an und keineswegs erst seit Konrad Horneius (1590-1649), 3 wie Johannes Gottschick meinte,4 wurde der thomi-

Petrus Aureoli, O.F.M.: In 2 Sent, d. 40, q. un., a. 1 (Commentariorum in secundum librum sententiarum tomus secundus. Romae 1605, S. 312aA). - Diese Ausgabe enthält die zweite Redaktion des Kommentars (um 1316-1318). Vgl. Bonaventura (Johannes Fidanza), O.F.M.: Commentarius in secundum librum Sententiarum. Opera omnia [...] edita studio et cura PP. Collegii a S. Bonaventura [...]. Tomus II. Ad Claras Aquas 1885, S. 946a. C. Horneius: Philosophiae moralis sive civilis doctrinae de moribus libri IV [...] (1625). Editio secunda priori emendatiora. Francofurti 1634.

56 stische Lehrbegriff rezipiert und bildete das theoretische Fundament des lutherischen Adiaphorakonzeptes. Erst im späten 17. Jahrhundert wurde dieses im Rahmen der Auseinandersetzung der lutherischen Orthodoxie mit den radikalen innerprotestantischen Reformbestrebungen des Pietismus durch eine verhaltene Aufnahme der skotistisch interpretierten Adiaphorie in seiner alleinigen Geltung eingeschränkt. Thomas von Aquino (1224/25-1274) hat die Frage nach der Möglichkeit indifferenter Handlungen mehrfach und mit unterschiedlicher Intensität erörtert,5 eingehend im Sentenzenkommentar (1254-56 lectum, 1256-58 editum) und in den Quaestiones disputatae de malo (1269-71), quaestio2, articulus 4 und 5 (1269), vergleichsweise knapp hingegen in der Prima Secundae, quaestio 18, articulus 8 und 9 (1270) der Summa theologiae (1269-1272/73). 6 Ohne systematisch auf entwicklungsgeschichtliche Fragen einzugehen, läßt sich sagen, daß seine Lehrauffassung in den genannten Schriften wenigstens in einer der hier relevanten Hinsichten eine nicht unbedeutende Veränderung erfahren hat. Freilich, schon in seinem frühen Sentenzenkommentar bestritt Thomas, vornehmlich in Auseinandersetzung mit Bonaventura (1217/18-1274), 7 die Möglichkeit moralischer Indifferenz (quod neque bonum neque malum est) sei es in Worten, sei es in äußeren Handlungen, sofern dabei individuelle Akte im Blick sind.8 Konkretes menschliches Handeln steht in einer moralischen Differenz. Der Satz, daß es keine spezifisch menschliche Handlung gibt, die nicht entweder moralisch gut oder schlecht wäre, galt fur ihn nicht nur theologisch, sondern auch moralphilosophisch. Thomas begründete diese Lehrmeinung im Sentenzenkommentar - im Unterschied zu seiner späteren Auffassung - damit, daß das »malum inquantum malum« dem »bonum« im moralischen Handlungsbereich stets privativ, nicht konträr entgegengesetzt sei. Wären >bonum< und >malum< einander auf konträre Weise entgegengesetzt, dann könnte es zwischen ihnen kein Mittleres im gesuchten Sinne geben, da man von Kontraria nur da spreche, wo in den einander entgegengesetzten Gliedern etwas die »ratio mali« ja gerade ausschließendes Positives gesetzt wird. Steht das Mittlere in der Weise zwischen den Extrema, daß es etwas Positives setzt, und dies ist der Fall, wenn sie einander konträr entgegengesetzt sind, dann fuhrt dies nicht zu einer solchen Bestimmung des zwischen >bonum< und >malum< stehenden Mittleren, daß es als weder gut noch böse< bezeichnet werden könnte. Der Kontrarietätsgegen4

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J. Gottschick: Art. >Adiaphorabonum< und >malummalum< dem >bonum< privativ entgegengesetzt ist. In privativ entgegengesetzten Gliedern war fur Thomas ein solches Mittleres freilich nur möglich im Sinne des Fehlens einer Eigenschaft, auf deren Besitz beziehungsweise Aufnahme ein Trägersubjekt von Natur aus nicht angelegt ist (quod subjectum non est susceptivum habitus). Von einem Stein, der naturgemäß gar nicht auf den Besitz eines Sehvermögens angelegt ist, könnte man folglich sagen, daß er weder sehend noch blind< ist. Dies, und damit also die >negatio extra genusLebewesen< ist indifferent gegenüber Rationalität und Irrationalität, und doch ist jedes wirkliche Lebewesen mit Notwendigkeit entweder rational oder irrational. Ähnlich im Falle der Handlung, die generisch betrachtet (actus in eo, quod est agere), also als Seiendes (inquantum ens), zwar eine natürliche (transzendentale) Bonität besitzt, moralisch hingegen indifferent ist. Dies betrachtete Thomas als den richtigen und vermutlich auch intendierten Sinn (hoc videntur intellexisse) der >älteren Lehrefacetiae< und abgeleitete Formen: »At qui apte ac moderate iocantur, faceti ac versatiles dicuntur, quasi ad versionem apti« (Vgl. Aristotelis Opera cum Averrois commentariis. Vol. III, fol. 61VL). Der reformierte Theologe Johann Ludwig Fabricius hat später in seinem vorsichtigen Versuch einer Rechtfertigung des Schultheaters betont, daß der Ausdruck εύτραπελία nicht primär die »Comicorum facetiae« und die »impia puerorum scurrilitas« der alten Komödie meine, sondern gewöhnlich >urbanitas< bedeute und so auch von Aristoteles verstanden und in der Bibel keineswegs verurteilt worden sei, vgl. J. L. Fabricius: De ludis scenicis ΔΙΑΛΕΞΙΣ casuistica quinquepartita (1663). In: Thesaurus Graecarum Antiquitatum, contextus et designatus ab Jacobo Gronovio. Vol. V m . Lugduni Batavorum 1699, hier coll. 1748F-1749A.

62 solche Handlungen zwar in meritorischer, nicht jedoch in moralischer Hinsicht indifferent.30 Es dürfte deutlich geworden sein, daß die Funktion der Indifferenz in diesem von Thomas später revidierten handlungstheoretischen Kalkül genau deijenigen entspricht, die sie im differenztheoretischen Konzept Luhmanns einnimmt: wie dieses Indifferenz nur die negative Seite des Selbstbezuges sein, das heißt die Abgrenzung eines Systems nach außen leisten läßt, so konnte für Thomas Indifferenz von Akten nur in Beziehung zu einem Bereich ausgesagt werden kann, dem diese selbst nicht angehören. Im Blick auf die leitende Fragestellung der gesamten Distinctio 40 (bzw. 41) des zweiten Sentenzenbuches, »an omnis intentio vel actio eorum qui fide carent sit mala«, erweist sich Thomas' Position als vergleichsweise milde. Thomas lehnte die Lehre, daß jeder Akt eines nicht durch die Gnade informierten Willens demeritorisch sei, als schlechthin falsch ab (simpliciter falsum) und vertrat die korrespondierende Auffassung der Indifferenz individueller Akte in meritorischer Hinsicht für die Menschen, die außerhalb der Gnade leben: »in non habente gratiam potest esse aliquis actus deliberativus qui nec meritorius nec demeritorius est«.31 Zur konträren Gegenposition der harten paulinisch-augustinischen Gnadenlehre,32 die durch den von Luther als Ausnahmeerscheinung des Mittelalters hochgeschätzten Augustinereremiten Gregorius von Rimini (ca. 1300-1358) vermittelt wurde,33 haben sich innerhalb des Protestantismus nicht nur die präzisistischen Richtungen bekannt, sondern auch solche, die als vergleichsweise gemäßigt gelten können. Im katholischen Raum hingegen konnte sich diese Linie weder im Mittelalter noch in der frühen Neuzeit durchsetzen; dafür gibt es verschiedene Indizien, unter anderem die Einschätzung von Gabriel Biel (ca. 1410— 1495), demzufolge im Mittelalter die auch von ihm selbst geteilte Ansicht, daß die Gebote Gottes einen Zeitindex haben, das heißt den Menschen nur zu bestimmten Zeiten und Gelegenheiten, keinesfalls aber ununterbrochen verpflich-

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Thomas v. Aquino: In 2 Sent., d. 40, q. 1, a. 5, ra 6, co. und ra 8 (Busa I, S. 243c, 244a); ebenso Q. disp. de malo, q. 2, a. 5, 7/ad 7 (Leon. XXIII, S. 42b, 44b): »non omnis actus procedens a voluntate informata caritate est meritorius si voluntas pro potentia accipiatur [...]; set verum est quod omnis actus qui est ex caritate est meritorius.« Thomas v. Aquino: In 2 Sent., d. 40, q. 1, a. 5, co. und ag 2/ra 2 (Busa I, S. 243a/b/c); vgl. in 2 Sent., d. 41, q. 1, a. 2, ra 4 (Busa I, S. 245a). Petrus Lombardus referierte diese Lehre in den Sätzen: »Omne quod non est ex fide, peccatum est« und »Omnis infidelium vita peccatum est, et nihil bonum est sine summo bono«; vgl. Petrus Lombardus: Sententiae in IV libris distinctae. Tomus I, pars II, lib. 1 et 2. Editiones Collegii S. Bonaventurae ad Claras Aquas. Editio tertia. Grottaferrata (Romae) 1971, S. 561f. Gregorius v. Rimini, O.E.S.A.: In 2 Sent., d. 26-28, q. 1, a. 3, ad 7 (Super primum et secundum sententiarum [1342-44]. St. Bonaventura 1955 [Nachdruck der Ausgabe Venetiis 1522], fol. 98vbN): »homo in solis suis naturalibus constitutum [...] nec potest agere actum aliquem moraliter bonum.« - Die unerbittliche Lehre Augustins hat Gregor auch in der Frage der ewigen Verdammnis ungetauft verstorbener Kinder übernommen (vgl. In 2 Sent., d. 30-33, q. 3, fol. 115vaL) und sich dadurch den Beinamen »tortor puerorum« eingehandelt.

63 ten, 3 4 und daß sich Gott der schwachen Natur des M e n s c h e n gegenüber nachsichtig zeigt und v o n diesem nicht verlangt, daß er j e d e seinen natürlichen B e dürfnissen geschuldete Handlung auf ihn als das letzte Ziel hinordnet, 3 5 nicht nur als die maßvollere, sondern auch als die Mehrheitsmeinung galt (opinio temperantior et communior). Genannt seien die Verurteilung der Lehre v o n Jan Hus v o n der bis auf j e d e einzelne »conversacio hominis« sich erstreckenden »divisio inmediata humanorum operum« in »virtuosa« und »viciosa« 3 6 durch das Konstanzer Konzil ( 1 4 1 5 ) 3 7 oder die seit 1560 erfolgenden Zensurierungen der auf einem rigiden Augustinismus fußenden Lehrsätze Michael de Bays. Zu den durch mehrere Universitäten und das kirchliche Lehramt (Papst Pius V , 1567) verurteilten »errores Michealis Baii« wurde auch der Satz gerechnet: »Omnia opera infidelium sunt peccata, et philosophorum virtutes sunt vitia.« 3 8 D i e s e Linie wurde 1 6 9 0 durch die Dekrete Papst Gregorius' VIII. g e g e n die »errores Jansenistarum« bekräftigt. 3 9

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Gabriel Biel (Byhel): In 2 Sent., d. 41, q. un., a. 3 (Epithoma pariter et collectorium circa quattuor sententiarum libros. Frankfurt/M. 1965 [Nachdruck der Ausgabe Basilee 1508], fol. qqiijTC): »Non enim praecepta quae ad certos actus certo modo agendos obligant, pro semper obligant, sed pro certo tempore, loco, vel causa [...]. Posset quidem Deus secundum iustitie rigorem omnem nostram vitam et actionem exigere ut in eum referemus: sed non exigit per misericordiam.« Ebd.: »non omnis actio non ordinata in fmern ultimum, scilicet deum est mala et demeritoria. Quedam enim est inordinata [...] propter operantis infirmitatem. [...] Et illa est quando aliquis [...] facit propter aliquem finem [qui] respicit indigentiam nature: ut cum quis ambulat ut recreetur aut comedit ut reficiatur, talis actio est indifferens: quia deus nec illam remunerat nec imputat in culpam: [...] Indulgetur enim nature fragili et infirme ut multa talia possit facere: nec deus requirit in tali statu distractionis et miserie quod omnia dum facit referat ad se.« J. Hus: Tractatus de ecclesia, c. 19, S. 174-176: »Ulterius notandum, quod divisio inmediata humanorum operum est, quod vel sunt virtuosa vel viciosa. Patet quia si homo est viciosus et agit quicquam, tunc agit viciose, et si est virtuosus et agit quicquam, tunc agit virtuose, quia sicut vicium, quod crimen dicitur sive mortale peccatum, inficit universaliter actus subiecti sive hominis, sic virtus vivificat omnes actus hominis virtuosi in tantum, quod existens in gracia dicitur mereri et orare dormiendo et quomodolibet operando, ut dicunt saneti Augustinus, Gregorius et alii. [...] Ex quo patet quod sicut nemo potest esse neuter quoad virtutem vel vicium, cum oportet, quod vel sit in gracia dei vel extra graciam, sic nulla conversacio hominis potest esse neutra.« Summa conciliorum a S. Petro usque ad Iulium III. Pontificem Maximum, omnibus in sacris Uteris versantibus apprime utilißima. A R. P. Bartholomaeo Caranza [...] pridem collecta: Nunc vero Francisci Sylvii [...] additionibus illustrata et aueta [...]. Duaci 1659, S. 629 (= Acta Concilii Constantiensis. Sess. 15. Articuli Ioanni Uss damnati [...] n. 16). Vgl. Denz., n. 1925 (prop. 25), vgl. auch n. 1935 (prop. 35). Vgl. Denz., n. 2308 (prop. 8): »Necesse est, infidelem in omni opere peccare.«

64 1.2.

Revision des Lehrbegriffs in den späteren Schriften

In seinen späteren Schriften, in den Quaestiones disputatae de malo und in der Summa theologiae, wandte sich Thomas intensiver der Frage zu, ob Indifferenz auch auf der Ebene von bereits spezifisch durch ihren Gegenstand bestimmten Handlungen möglich ist, und er übernahm die von ihm schon im Sentenzenkommentar referierte Lehre von der Dreiteilung der Handlungen in ihrer moralischen Natur nach gute, schlechte und indifferente.40 Die Annahme eines mittelbaren Gegensatzes zwischen guten und schlechten Handlungen räumte der Indifferenz innerhalb des Bereichs spezifisch menschlicher Akte einen Platz ein. Dies geschah allerdings nur auf der Ebene der Artbestimmtheit von Handlungen (est aliquis actus qui in specie consideratus est indifferens); sofern es um individuelle Handlungen ging, bildeten gut und böse weiterhin einen immediaten Gegensatz: »bonum autem et malum ex circumstantia sunt immediata [...]; et ideo nullus actus humanus singularis est indifferens«.41 Dieser Lehre folgten zahlreiche Autoren, nicht nur Dominikaner, sondern, wie Diego Alvarez (ca. 15501635) meinte, »omnes Thomistae«, wenn auch in hinsichtlich ihrer Strenge voneinander abweichender Ausdeutung;42 ich nenne hier nur Egidius Colonna (1243/47-1316), 43 Johannes Capreolus (ca. 1380-1444)44 und Franciscus Suärez (1548—1617).45 Daß es sich für das Hoch- und Spätmittelalter um die dominierende Auffassung handelte, da Thomas »die meisten Scholastiker beypflichten«,46 wurde bisher freilich eher suggeriert als durch tiefschürfendes Quellenstudium nachgewiesen, wobei die Plausibilität einer solchen Suggestion sich in dem Maß erhöhen dürfte, wie die sich selbst nicht durchsichtige Bereitschaft wächst, Thomas von Aquino mit >dem Mittelalter< gleichzusetzen. Bislang ist 40

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Thomas v. Aquino: Q. disp. de malo, q. 2, a. 5, resp. (Leon. XXIII, S. 43b): »Si ergo loquamur de actu morali secundum suam speciem, sie non omnis actus moralis est bonus vel malus set aliquis est indifferens: quia actus moralis speciem habet ex obiecto secundum ordinem ad rationem [...]. quoddam vero obiectum est quod neque importat aliquid conveniens rationi neque aliquid a ratione discordans, sicut levare festucam de terra.« Thomas v. Aquino: Q. disp. de malo, q. 2, a. 5, resp. (Leon. XXIII, S. 44a). Didacus Alvarez, O.P.: Disputationes theologicae in primam secundae Sancti Thomae [...]. Trani 1617, q. 18., a. 9, S. 187a: »in modo explicandi sententiam Sancti Thomae differunt Thomistae«. - Der spanische Dominikaner Alvarez wurde als Verfechter der »praemotio physica« nach Rom in die Congregatio de auxiliis berufen, seit 1606 war er Bischof des italienischen Erzbistums Trani (Apulien). Aegidius Romanus: In 2 Sent., d. 40, q. 2, a. 3 (Π/2, S. 615bA/C/D): »quantum ad esse individuate possumus rationabiliter sustinere, quod nulla sit actio moralis indifferens. [...] Generaliter, et specialiter potest [sc. actio moralis] aeeipi, ut indifferens [...], sed individualiter, ut est haec actio, vel ilia non potest aeeipi, ut indifferens. quia sic aeeepta, vel non erit moralis, vel erit otiosa.« Johannes Capreolus, O.P.: In 2 Sent. (an. 1426), d. 40, q. 1, a. 1, concl. 1 (Defensiones theologiae Divi Thomae Aquinatis de novo editae cura et studio RR. PP. Ceslai Paban et Thomae Pegues. Tomus IV. Turonibus 1903, S. 454a). F. Suärez: Tract, quinque ad lam Ilae D. Thomae, tract. III, de bonitate et malitia humanorum actuum, d. 9, sect. 1, η. 3; sect. 3, nn. 3, 7,10 (IV, S. 416b, 421a, 422b, 423b-424a). Carl Christian Erhard Schmid: Adiaphora. Wissenschaftlich und historisch untersucht. Leipzig 1809, S. 613.

65 jedenfalls kein Versuch unternommen worden, die jahrhundertelange, erst im 17. Jahrhundert auslaufende Kommentation des entsprechenden locus classicus im Sentenzenbuch des Petrus Lombardus (ca. 1095-1160), auf die sich eine Aussage dieser Tragweite allein stützen könnte, diachronisch auszuwerten. Moralisch gute und schlechte Handlungen setzte Thomas in den Quaestiones disputatae de malo einander nicht mehr wie in seinem frühen Sentenzenkommentar privativ, sondern konträr entgegen und rechnete diese Kontrarietät wie Aristoteles zu den Kontraria, die ein Mittleres haben.47 Der in De malo konträr gedeutete Gegensatz von >gut< und >böse< erscheint indes in der Summa theologiae wieder als Privationsverhältnis. Möglich wurde dies dadurch, daß Thomas unter Berufung auf Simplikios eine »duplex privatio« unterschied;48 die eine besteht im »privatum esse« (ζ. B. völlige Blindheit), die andere im »privari« (ζ. B. Krankheit als Einschränkung, nicht als völlige Aufhebung der Gesundheit). Im Falle des »privatum esse« sind Habitus und Beraubung einander unmittelbar entgegengesetzt (opposita immediata) und lassen kein Mittleres hinsichtlich ihres aufnehmenden Vermögens (medium circa proprium susceptibile) zu. Anders im Falle des »privari«, hier gibt es ein Mittleres zwischen Habitus und Beraubung 49 Mit diesem »privari« hat sich aber ein neuer Begriff des Indifferenten ergeben, insofern es sich nicht mehr wie bisher - und überhaupt in dieser ganzen Frage50 - um ein >weder-noch< (neque bonum neque malum), also um das sogenannte »medium negationis«51 handelt, sondern, insofern in ihm ein von den Extrema generisch nicht unterschiedenes Positives gesetzt ist und dies genau als solches im Blick ist, um ein >teils-teilsprobum< und >improbumindifferens< bezeichnet wurde: »nomen [...] a posterioribus inventum est. Aristoteles autem qui hoc nomine usus nunquam est, ait probum atque improbum habere quidem aliquam medietatem, verumtamen eam nullo nomine nuncupari, sed eam utriusque contrarii negatione [corr. ex: negotiatione] diffinivit«.58 Die negative Definition resultierte nach Boethius mithin primär aus der sprachlichen Verlegenheit, keinen eigenen Ausdruck für den 54

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Klaus Hedwig: Actus indifferens. Über die Theorie des indifferenten Handelns bei Thomas von Aquin und Duns Scotus. In: Philosophisches Jahrbuch 95 (1988), S. 120-131, hier S. 123, scheint sie hingegen gar nicht bemerkt zu haben. Die Kommentare Cajetans sind in der Editio Leonina mitabgedruckt, hier VI, S. 136b. Aristoteles: Praedicamenta, cap. de oppositis (Opera, V\, fol. 53VI-K). Dem Fall der >catuliNegotiatione< bereits in der alten Baseler Ausgabe der Werke von Boethius: Anitii Manlii Serverini Boethii opera omnia [...]. Basileae 1570, S. 195.

67 mittleren Sachverhalt, also das >contrarium mediatumopposita contraria< gibt. »Horum autem quae unam retinent medietatem, in aliis nomina sunt posita [...] In aliquibus vero nomen positum non est, ut in eo quod est bonum atque malum, justum atque injustum. In his enim medietas nomen positum non habet, sed utrorumque contrariorum negationibus diffinitur, ut dicamus earn esse boni et mali medietatem, quod neque bonum est [neque] malum«.59 Obwohl die »qualitas medietatis« in diesen Fällen als ein >indifferens< und durch ein >neque-neque< (bzw. >per utriusque abnegationemmedium negationis< gemeint.60 Nach der von Thomas spätestens seit den Quaestiones disputatae de malo rezipierten Lehre von der Dreiteilung menschlicher Handlungen sind diese Handlungen aufgrund ihrer Natur und an sich entweder gut oder schlecht oder indifferent. Es gibt menschliche Handlungen, die ihrer Art nach (secundum speciem suam) moralisch gleichgültig sind, weil die Objekte der Handlungen, durch die diese spezifiziert werden, nichts weder positiv noch negativ auf die Vernunft Bezügliches enthalten, wie etwa einen Grashalm aufheben oder Spazierengehen.61 Mit Aktindifferenz >secundum speciem< war nicht gemeint, daß die Indifferenz zur spezifischen Natur bestimmter Handlungen gehört. Thomas erkannte klar, daß es infolge einer derartigen Auffassung von spezifischer Aktindifferenz unmöglich wäre, in einer solchen Spezies einen individuellen Akt zu finden, der nicht ebenfalls indifferent wäre, da die spezifische Natur in den zur Spezies gehörenden Individuen erhalten bleibt. Wenn also die Vernunftwidrigkeit oder die Vernunftgemäßheit (esse praeter rationem vel secundum rationem) ebensowenig zum Wesen menschlicher Handlungen gehören würden, wie der Mensch an sich weder weiß noch schwarz ist, dann folgte daraus, daß alle Handlungen an sich indifferent wären. Aktindifferenz >secundum speciem< konnte also nur heißen, daß es nicht zur spezifischen Natur eines Aktes gehört, moralisch gut oder böse zu sein. Der ansonsten, zum Beispiel in der Universalienfrage und der Erkenntnislehre, für seine antithomistische Haltung bekannte Dominikaner Durandus von St. Pour^ain (ca. 1275-1334) bemühte sich in seinem Sentenzenkommentar62 - in der vorliegenden Frage ganz auf der Linie von Thomas - um eine weitere Klärung des komplexen Terminus von der spezifischen Aktindifferenz, indem er die mit dem In- von Indifferenz ausgesagte Negation logisch präzisierte. In dem Satz »quod actum esse indifferentem secundum speciem suam« kann sich die Verneinung auf zweifache Weise auf die copula principalis beziehen. Nach dem für richtig erklärten Sinn muß sie dem 59

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Α. M. S. Boethius: In Categories Aristotelis, lib. 4, de oppositis (MPL 64, coli. 263-283, hier coll. 268B/C, 268D, 269A). Vgl. zu den contraria mediata< Jodocus Trutfetter: Summule totius logice: quod opus malus appellitare libuit, lib. 1, c. 2, fol. Kij'. Thomas v. Aquino: S. th. I-II, q. 18, a. 8, resp. (Leon. VI, S. 134b). Seinen Kommentar zu den Sentenzen schrieb Durandus 1310-1312 in Paris, später hat er ihn als Magister Sacri Palatii (Avignon, 1313) und als Bischof, seit 1317, neu bearbeitet (tertia redactio); gedruckt ist die zweite Redaktion.

68 >esse< nicht nach-, sondern vorangestellt werden, so daß der Satz besagt, daß es nicht zum Wesen einer indifferenten Handlung gehört, moralisch gut oder böse zu sein; der Satz besagt hingegen nicht, daß es zum Wesen einer derartigen Handlungen gehört, nicht moralisch gut oder böse zu sein.63 Für Thomas hing von der genauen Bestimmung des Bedeutung, welcher der Rede von der spezifischen Aktindifferenz zukommt, die richtige Beantwortung der ganzen Frage ab. Wie jede Art ihre eigenen Perfektionen hat, so gilt auch im Verhältnis von Gattung und Art das »diversa diversorum«; das »bonum hominis« ist nicht mit dem »bonum animalis« identisch. >Bonum< und >malum< in menschlichen Handlungen sind nach dem zu betrachten, was den Menschen auszeichnet (das ist die Vernunft), also »secundum quod actus concordat rationi informate lege divina, vel naturaliter, vel per doctrinam, vel per infusionem«. Dieses »esse secundum vel preter rationem« gehörte fur Thomas zur Natur menschlicher Handlungen. Akte werden durch ihre Objekte spezifiziert, und moralische Akte werden durch ihre Objekte spezifiziert, insofern diese einen Bezug auf die Vernunft haben.64 Menschliche Handlungen unterscheiden sich also spezifisch, wenn ihre Handlungsgegenstände sich in einer Weise unterscheiden, die an sich einen positiven oder negativen Bezug auf die Vernunft hat. Freilich sind Akte nur insoweit im eigentlichen Sinn menschliche Akte, wie sie vernünftige Akte sind (In tantum sunt actus humani in quantum sunt actus rationis).65 Obwohl es fur Thomas ihrer Art nach moralisch gleichgültige Handlungen gab und damit eine im Bereich der dichotomisch zwischen wahr und falsch unterscheidenden spekulativen Vernunft undenkbare Indifferenz (De bono autem et malo alia ratio est),66 war für ihn jede beliebige auf vernünftiger Überlegung beruhende menschliche Handlung, sofern sie als individuelle, wirkliche Hand63

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Durandus de Sancto Porciano: In 2 Sent., dist. 40, q. 1, n. 10, S. 444b-446a, hier S. 446a: »Dicendum est quod actum esse indifferentem secundum speciem suam potest intelligi dupliciter, scilicet secundum quod negatio importata per hoc quod est indifferens potest dupliciter ordinari ad copulam verbalem. Uno enim modo potest postponi, et sie est sensus, quod de ratione specifica actus est quod sit indifferens, et si isto modo aliquis actus secundum speciem esset indifferens, non solum esset impossibile dare sub tali specie actum individualem indifferentem, imo impossibile esset sub tali specie dare actum, nisi indifferentem, quia ea quae sunt de ratione speciei conveniunt omni individuo sub tali specie [...]. Alio modo potest negatio importata [...] praeponi copulae verbali sub hoc sensu, quod de ratione specifica actus non est, quod sit differenter vel determinate bonus vel malus, sed tamen utrumque potest ipsi per aliud convenire, sicut homo ex sua specie non habet quod sit determinate albus, vel determinate niger: et tamen per aliud ei utrumque istorum convenit.« Thomas v. Aquino: Q. disp. de malo, q. 2, a. 4, resp. (Leon. XXIII, S. 39a/b); vgl. S. th. III, q. 18, a. 2, resp. (Leon. VI, S. 128a): »Sicut [...] res naturalis habet speciem ex sua forma, ita actio habet speciem ex obiecto«. - Q. disp. de malo, q. 2, a. 4, ad 5, ad 9 (Leon. ΧΧΠΙ, S. 41a/b): Das Objekt einer Handlung nannte Thomas auch deren >materiamateria< ist wiederum mit dem >finis proximus< des Aktes identisch. »Finis proximus actus idem est quod obiectum, et ab hoc reeipit speciem; ex fine autem remoto non habet speciem, set ordo ad talem finem est circumstantia actus«. Thomas v. Aquino: Q. disp. de malo, q. 2, a. 4, resp. (Leon. XXIII, S. 40a). Thomas v. Aquino: Q. disp. de malo, q. 2, a. 5, ad 9 (Leon. XXIII, S. 45a).

69 lung betrachtet wird, mit Notwendigkeit entweder gut oder schlecht.67 Es sind akzidentielle Bestimmungen (quasi quaedam accidentia)68 wie Zielintention und andere Handlungsumstände, welche die ihrer Art nach indifferenten Akte zu der dichotomischen Differenz von gut und böse kontrahieren. Mit Aristoteles lehrte Thomas, daß keine überlegte Handlung, wie belanglos sie inhaltlich auch sein oder scheinen mag, ohne eine Zielintention sein könne.69 Die Annahme, daß ein mit vernünftiger Überlegung gewähltes Handlungsziel als solches indifferent sein könnte, wies Thomas kategorisch zurück: »nihil appetatur nisi inquantum est bonum«.70 Aegidius Romanus (1243/47-1316) ist seinem Lehrer Thomas unter Berufung auf Mt. 12, 36 (Omne verbum otiosum, quod locuti fuerint homines, reddent rationem de eo in die iudicii) gefolgt: eine indifferente Handlungsintention (intentio indifferens) sei eo ipso eine »intentio mala«;71 denn, so referierte Petrus Aureoli (ca. 1280-1322) diese von ihm selbst nicht geteilte Lehrmeinung, eine deliberative Handlung oder Rede, die ziellos ist, ist genau deshalb müßig, also schlecht (ad nullum finem, et sie otiosum, ergo malum).72 Dieses Verdikt wurde in der Folgezeit nicht allein gegen denjenigen äußeren Akt gerichtet, »qui versatur circa bonum delectabile propter solam delectationem«, selbst wenn ihm sonst kein Fehl anhaftete, sondern auch gegen solche Handlungen, die bloß ein »bonum conveniens naturae« wie etwa die körperliche Gesundheit zum Gegenstand haben (propter solum naturalem convenientiam, et non propter aliquem finem altiorem).73 Im Gegensatz zu derartigen von den Thomisten als >naturwidrig< eingestuften Vorstellungen von Zweckindifferenz74 konnte es sich schon fur den Ahnherrn ihrer Lehre bei spezifisch menschlichen Akten stets nur um ein dem Menschen sinnlich oder geistig entsprechendes >bonum< handeln. Es gab für Thomas keinen Gegenstand menschlichen Handelns, der nicht durch Umstände und Zielintention auf die moralische Unterscheidung von gut und schlecht bezogen würde. Ebenso lehnte er die Vorstellung ab, daß etwas, was auf die Weise indifferent ist, daß es der Art nach weder gut noch 67

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Thomas v. Aquino: Q. disp. de malo, q. 2, a. 5, resp. (Leon. XXIII, S. 43b); S. Th. I-II, q. 18, a. 9, resp. (Leon. VI, S. 137b). Thomas v. Aquino: S. th. I-II, q. 18, a. 9, resp. (Leon. VI, S. 137b); vgl. Q. disp. de malo, q. 2, a. 4, 5/ad 5 (Leon. XXIII, S. 38a). Thomas v. Aquino: In 2 Sent., d. 40, q. 1, a. 5, co. (Busa I, S. 243b); Q. disp. de malo, q. 2, a. 5, 4/ad 4 (Leon. ΧΧΠΙ, S. 42a). Thomas v. Aquino: In 2 Sent., d. 40, q. 1, a. 5, ra 5 (Busa I, S. 244a): Dem würde natürlich auch der Fall der Täuschung nicht widersprechen, in dem etwas nur für gut gehalten wird (also der Fall des »bonum desideranti, secundum aliquid sui«), was an sich nicht gut ist (vel ratio deeipitur, et judicat esse bonum sibi quod non est bonum). Aegidius Romanus: In 2 Sent., d. 40, q. 2, a. 3 (II/2, S. 615bA); vgl. Thomas von Aquino: Q. disp. de malo, q. 2, a. 5, resp. (Leon. ΧΧΠΙ, S. 44a). Petrus Aureoli: In 2 Sent., d. 40, q. un., a. un. (II, S. 312aC). Martinus Becanus, S.J.: Theologia scholastica (1614), pars II, tract. 1, c. 5., q. 6 (Opera omnia aliquot tractatibus posthumis aueta: et duobus tomis comprehensa [...]. Moguntiae 1649, tom. 1,S. 177b-178a). Becanus: Theologia scholastica, pars Π, tract. 1, c. 5, q. 6, S. 178a: »deiectatio ex natura sua non est propter se, sed propter operationem; ac proinde, qui vult aliquid propter solam delectationem, otiose et inordinate agit, quia agit contra naturam et institutionem ipsius delectationis.«

70 schlecht ist, deshalb der Art nach darauf angelegt ist, solche Bestimmungen nicht anzunehmen. Aus dem Umstand, daß es nicht zum Wesen des Menschen gehört, weiß oder schwarz zu sein, könne man nicht folgern, daß es deshalb zu seinem Wesen gehört, weder weiß noch schwarz zu sein.75 Nach der im Thomismus überwiegend rezipierten Ansicht ist die Indifferenz »secundum speciem« >negative< zu verstehen. Der Jesuit Martin Becan (1563-1624) war einer der wenigen Autoren auf thomistischer Seite, die die Indifferenz von Akten positiv und negativ verstanden, ohne daß er deshalb Indifferenz »in individuo« gelehrt hätte. Die Bezeichnung von Akten als indifferent leitete sich für Becan im eigentlichen Sinn nicht von der positiven Spezies, sondern von der negativ verstandenen Indifferenz ab, kann doch derselbe indifferente Akt, und zwar gerade »servata specie positiva«, in der konkreten Ausübung »ex fine extrinseco« sowohl gut als auch schlecht werden.76 Für Alvarez hingegen führte gerade die Annahme einer positiv verstandenen Aktindifferenz (actus secundum suam speciem indifferentes positive) dazu, diese Indifferenz auch »in individuo« vertreten zu müssen, weil die individuelle Differenz einer Handlung ihrer spezifischen Natur nicht widerstreiten könne.77 Die >negative< verstandene Indifferenz bleibt zwar ebenfalls im konkreten Akt erhalten (etiam in exercitio semper retinent illam indifferentiam ex obiecto), ist aber folgenlos, da die Akte durch die konkreten Handlungsumstände (aliunde) in eine moralische Differenz gestellt werden.78 Die Frage, ob Thomas nach der Revision seines Lehrbegriffes die spezifische Indifferenz moralischer Akte nur im Sinne des >medium participationis< verstanden oder aber, wie Juan Alonso Curiel (f 1609) meinte, überhaupt niemals Indifferenz innerhalb des moralischen Seins gelehrt hatte,79 ist noch nicht abschließend geklärt. Das Problem, ob die Aktindifferenz im Sinne des >medium negationis< oder des >medium participationis< zu verstehen sei, beschäftigte jedenfalls im 17. Jahrhundert nicht nur Thomisten, es tauchte auch bei Autoren auf, die auf calvinistischer Seite dem thomistischen Lehrbegriff folgten, wie bei

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Thomas v. Aquino: S. th. I-II, q. 18, a. 9, ad 1 (Leon. VI, S. 138a). M. Becanus: Theologia scholastica, pars II, tract. 1, c. 5, q. 5 (Opera I, S. 177a): »Actus indifferens habet utrumque, et speciem positivem, et negationem bonitatis ac malitiae. Nam speciem positivam habet ab obiecto [...]: Negationem vero bonitatis et malitiae habet ab eodem obiecto, quatenus [...] indifferens. [...] Denominatio indifferentiae [...] proprie non sumitur a specie positiva, sed a negatione bonitatis et malitiae.« D. Alvarez: Disputationes theologicae in lam Ilae S. Thomae, q. 18., a. 9, S. 186a; disp. 71, S. 189b: »nam si secundum differentiam individualem intrinsecam datur actus humanus indifferens in individuo, iam talis actus haberet aliquam indifferentiam positivam sibi intrinsecam, ac per consequens deberet assignari aliquod individuum, in quo talis indifferentia positiva salvaretur; nam indifferentia, quae est intrinseca alicui actui in individuo, a tali actu removeri non potest.« Alvarez: Disputationes theologicae, disp. 71, S. 189a, 190b; 189b: »Quando ergo actus est indifferens ex sua specie isto secundo modo, non oportet, quod assignetur, vel sit assignab l e aliquod individuum per se indifferens, in quo species ilia conservetur.« Johannes Alphonsus Curiel: Lecturae seu quaestiones in D. Thomae Aquinatis primam secundae. Antverpiae 1621, Ia-IIae, q. 18, a. 8 u. 9, S. 21 la-216a. - Der spanische Weltgeistliche Curiel lehrte am OSB-Kolleg in Salamanca.

71 Henry Jeanes (1611-1662), der die Schwierigkeiten einer eindeutigen Zuordnung moralisch gleichgültiger Akte zu beiden Begriffen diskutierte: Absolutely, and simply, in strictnesse of speech, it is neither medium negationis, nor participationis: 1. Not negationis; because it hath no repugnancy unto it's extreames: 2. Not participationis; because it doth not allwaies actually partake of both extreames; But yet, secundum quid, after a sort, and in some respect, it may be reduced unto both medium abnegationis, and participationis·. It resembleth medium abnegationis, because as such it is neither of the extreames, and it resembleth medium participationis, because sometimes it actually participates of both extreames: And thus you see how these different opinions may be reconciled; But yet (because denominatio fit a potiori) we shall rather reduce it unto medium participationis; because unto that it hath the greatest resemblance.80

Curiel legte hingegen in ebenso anspruchsvollen Erörterungen die Lehre von der Möglichkeit der spezifischen Aktindifferenz dahin aus, daß diese gerade keine objektive Bestimmung sei, die sich auf das moralische Sein bezieht (indifferentia ad bonum et malum morale ex obiecto, non est ratio aliqua obiectiva pertinens ad genus moris), und verstand unter der Indifferenz in materialer Hinsicht die bloße Entität (die natürliche Bonität) des Aktes und in formaler dreierlei: (1) die Negation sowohl der Vernunftgemäßheit als auch der Vernunfhvidrigkeit des Aktes, (2) die Negation einer natürlichen Inklination des Aktes zu einer der beiden Seiten sowie (3) die Nichtrepugnanz hinsichtlich beider. Das Fehlen einer Vernunftbeziehung (in positiver oder negativer Weise) und die Zugehörigkeit zum moralischen Sein schlossen sich für Curiel wechselseitig aus (repugnat, obiectum, ut indifferens ad utrumque, pertinere actu ad genus moris).81 Dies hatte dann aber zur Folge, daß sich eine so verstandene, außerhalb des moralischen Seins angesiedelte Aktindifferenz nur noch durch die fehlende Repugnanz eines Bezuges der Handlung zur Vernunft von der Handlung eines Tieres unterscheiden konnte; denn dem Handeln eines Tieres fehlt diese Relation nicht nur, sie widerstreitet ihr.82 Damit war für Curiel zugleich auch die Annahme einer eigenen positiven Spezies des indifferenten moralischen Aktes ausgeschlossen, eine Annahme, die er indes selbst von Thomisten (aliqui) vertreten sah. Dagegen suchte er die Lehre zur Geltung zu bringen, die für ihn die wahre Lehre Thomae war: daß die Indifferenz, abgesehen von der Entität des Aktes, nur in jener Negation der Relation zur Vernunft besteht, die dem Akt durch sein Objekt zukommt. Ausschlaggebend war für Curiel jedoch, daß eine Handlung nicht durch ihr Objekt (obiectum praecise sumptum), sondern durch die Zirkumstanzen beziehungsweise durch deren Fehlen die wesentliche Differenz gewinnt, die sie zu einer moralischen Handlung macht. Vermittels der positiven Spezies, die der indifferenten Handlung durch ihren Gegenstand zukommt, gehöre sie nur zum natürlichen Sein.83 Gegen die skotistische Doktrin von der Nichtnotwendigkeit der ständigen Ausrichtung aller deliberativen Akte auf ein

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Henry Jeanes: A treatise concerning the indifferencie of humane actions [...]. Oxford 1659, S. 5. Curiel: Lecturae seu quaestiones in Iam-IIae, a. 8, dubium unic., S. 21 IbA-C. Curiel: Lecturae, S. 21 lbC/D. Curiel: Lecturae, S. 21 lbD, 212aB/C.

72 moralisches Ziel haben die Thomisten eingewandt, es widerspreche der vernünftigen Natur des Menschen, seine freien Handlungen nicht auf ein dieser vernünftigen Natur entsprechendes Ziel, nämlich das mit dem >bonum rationis< identische >bonum moraleactus hominis< geht. Vgl. Bonaventura: In 2 Sent., d. 41, a. 1, q. 3, Scholion (II, S. 946a). Duns Scotus: In 2 Sent., d. 40, q. un., n. 3 (VI/2, S. 1029 = n. 934 [Garcia Π, S. 866]). Duns Scotus: Lectura in 2 Sent., d. 41, q. un., n. 8 (Vatic. XIX, S. 395). Vgl. Duns Scotus: Lectura in 2 Sent., d. 41, q. un., nn. 5-6 (Vatic. XIX, S. 394). J. A. Curiel: Lecturae seu quaestiones in D. Thomae Aquinatis Iam-IIae, q. 18, a. 9, dubium prim., S. 213bA/B.

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Auslegungskontroverse über diesen Punkt und protestierte gegen die von jüngeren Ordensbrüdern unternommenen Versuche, Scotus auf die Seite derjenigen zu ziehen, die die Möglichkeit individueller, nicht aber spezifischer Aktindifferenz lehrten.24 Eben in diesem von Karg als adulterin kritisierten Sinne wurde die Lehrmeinung von Scotus und seiner Schule im Protestantismus überwiegend wiedergegeben.25 Doch gleichviel, ob eine zweifelsfreie Klärung dieses Problems möglich ist oder nicht,26 der Streit entzündete sich primär an der Frage nach der von Duns Scotus vertretenen Möglichkeit moralischer Gleichgültigkeit individueller Handlungen und sprachlicher Äußerungen. Konkrete Handlungen und Worte können, so argumentierte Duns Scotus, bestimmter, für ihre moralische Vollkommenheit erforderlicher Umstände, zum Beispiel einer vernünftigen Zielintention, entbehren, sie müssen deshalb jedoch noch nicht mit einer der Vernunft widersprechenden Absicht unternommen werden. Ein solcher individueller Akt (puta si det eleemosynam pauperi non ex circumstantia finis, quia non considerat) ist dann zwar nicht »virtuosus moraliter« und damit »malus privative«; gleichwohl ist er auch nicht »malus contrarie«, da er kein vernunftwidriges Ziel hat, sondern sehr wohl dem Vernunftgebot entsprechend ausgeübt werden könnte. In dem so dargelegten Sinn galt er Duns Scotus als moralisch gleichgültiger Akt.27 Dabei machte es für seinen Kommentator Lychetus auch keinen Unterschied, ob man dies Diktum so versteht, daß ein Akt präzis dann als moralisch zu bezeichnen ist, wenn er unmittelbar von einem moralischen Vermögen hervorgerufen (elicitus a virtute morali), oder aber dann, wenn er einem aktuellen Vernunftgebot entsprechend veranlaßt wird (elicitus conformiter rationi rectae actu dictantis).28 Moralische Indifferenz wurde fur Duns Scotus auch dadurch ermöglicht, daß selbst ein habituell tugendhafter Wille (voluntas habens virtutem) nicht ständig und notwendigerweise gehalten ist, tugendhaft zu handeln, sondern nur dann, wenn zum Beispiel ein Affekt so stark ist, daß er eine Gefahr für die Vernunft darstellt. Auf diesem Gedanken, daß es kein göttliches Gebot gebe, wodurch die Menschen gehalten wären, alle ihre deliberativen Handlungen auf ein moralisch gutes Ziel hinzuordnen, ruhte überhaupt aus der Sicht der Thomisten die von 24

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S. Karg, O.F.M. (Praes.) / Epimachus Nidermayr (Resp.): Actus humanus indifferens. Ad mentem doctoris subtilis Joannis Duns Scoti examinatus, ac publicae disputationi expositus [...]. Monachii 1711, q. 1, § 1,S. 10f.; q. 2, § 2, S. 39. So noch Gottlieb Wernsdorf (Praes.) / Friedrich J. Fimhaber (Auct.): Disputatio de absolutismo morali eoque theologico (1715). In: G. Wernsdorfius: Disputationes academicae [...] tribus voluminibus comprehensae, labore et studio Chr. Henrici Zeibichii [...]. Vol. I. Vitembergae 1736, disp. XXI, S. 766-822, hier S. 769, 777. Es ist hier nicht erforderlich, auf die komplizierte und noch nicht abschließend geklärte Textsituation, insbesondere die absolute und relative Chronologie der überlieferten ScotusTexte, einzugehen. Man geht davon aus, daß die Oxforder und Pariser Sentenzenvorlesungen der Ordinatio zugrundeliegen, vgl. dazu die oben bereits erwähnte Disquisitio historico-critica (Vatic. I, S. 157*-161*). Duns Scotus: In 2 Sent., d. 7, q. un., a. 2, n. 458 (Garcia Π, S. 415). Lychetus: Commentarius. In: J. Duns Scotus: In 2 Sent., d. 41, q. un., nn. 2-3 (VI/2, S. 1036a/b).

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vielen Autoren geteilte skotische Lehre. Wo es kein Gebot gibt, so faßte Curiel zusammen, da kann es auch keine Pflichtverletzung geben.29 Von diesem Argument hat später die lutherische Orthodoxie, die sich als Anwältin der Sache der Freiheit in indifferenten Dingen verstand, in ihren Kontroversen mit den Calvinisten ständig Gebrauch gemacht. Für den protestantischen Standpunkt in der Frage des weder Gebotenen noch Verbotenen ist allerdings die Einschränkung bezeichnend, die dem indifferenten Bereich des Freigelassenen auferlegt wurde, indem man ihn nämlich doch wieder wenigstens generisch (nicht jedoch spezifisch) und zwar hinsichtlich seiner causa finalis geboten sein ließ. Dies mußte im Ergebnis zum thomistischen Konzept der Aktindifferenz führen. Für Scotus spielte es im Falle natürlicher Akte keine Rolle, ob es sich um Handlungen handelt, die einem moralischen Habitus vorausgehen oder diesem nachfolgen. Denn auch im zweiten Fall »potest deliberare [sc. quis] de actu, non referendo ad finem per syllogismum practicum rectum«.30 Das heißt in Bezug auf ihren Träger sind >bonum< und >malum< einander nicht kontradiktorisch entgegengesetzt, so daß der Akt schon allein dadurch zu einem schlechten würde, daß ihm dieses oder jenes Gutsein fehlte. Zu einem schlechten Akt wird er erst, wenn ihm genau das Gutsein fehlt, das er - aber nicht jeder Akt - haben muß.31 Habitus und privatio schließen nur als Absoluta ein Mittleres aus; ein Mittleres, und zwar eines im Sinne des »medium negationis«, konnte es für Duns Scotus hingegen sehr wohl geben, wenn habitus und privatio Respectiva sind, also einen Bezug auf Umstände, insbesondere auf einen bestimmten Zeitpunkt, implizieren (quia donee veniat illud quando, neutrum oportet inesse subiecto), wie es beispielsweise bei der Verpflichtung auf positive Gebote der Fall ist.32 Für Duns Scotus konnte eine individuelle Handlung aufgrund ihrer moralischen Gleichgültigkeit auch in meritorischer beziehungsweise demeritorischer Hinsicht indifferent sein, wenn sie nämlich nicht »ex gratia« entspringt und somit privativ schlecht ist. Nach der Ansicht von Biel folgte Scotus seinem Ordensbruder Bonaventura auch hinsichtlich der Distinktion der dreifachen Möglichkeit, eine Handlung auf den »finis ultimus ex charitate« hinzuordnen (sanctum Bonaventuram quem imitatur Scotus distinetione praesenti, clarioribus tarnen verbis):33 »actualiter«, »virtualiter« oder nur »habitualiter«.34 Dieser Differenzierung entspricht die ebenso vielfache Möglichkeit des Nichtbezogenseins: »negative absolute« (weder »actualiter« noch »virtualiter ex charitate«), »privative« (wie das »peccatum veniale«) oder »contrarie« (wie das »peccatum 29

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Curiel: Lecturae seu quaestiones, S. 212bE, 213bB/C: »In hoc dubio multi sequuntur partem [Scoti] [...]. Potissimum fundamentum huius partis est, nullum esse praeeeptum, quo teneamur referre quodeumque opus deliberatum in finem bonum moraliter: [...] ubi non est lex, nec praevaricatio esse potest«. Duns Scotus: Lectura in 2 Sent., d. 41, q. un., nn. 9-10 (Vatic. XIX, S. 395f.). Duns Scotus: In 2 Sent., d. 41, q. un., ad 1, n. 944 (Garcia II, S. 874). Duns Scotus: Reportata Parisiensia, in 2 Sent., d. 41, q. un., ad 1, n. 4 (XI/1, S. 409a). Biel: In 2 Sent., d. 41, q. un., a. 3, fol. qqiij v M. Vgl. Lychetus genaue Unterscheidung der Möglichkeiten, die virtuelle Beziehung zu verstehen (VI/2, S. 1037f., nn. 7-9).

79 mortale«). Scotus Schloß die Möglichkeit der Indifferenz »ad bonitatem gratuitam« von aktuell und virtuell auf Gott bezogenen Handlungen aus; beide waren für ihn meritorisch im Blick auf das ewige Leben (quia nimis gravis sententia est, quod nunquam est actus meritorius, nisi actuali relatione ad Deum). Ebenso konnten auch deren Gegenstücke, die aktuelle und virtuelle Nicht-Relation, nicht indifferent sein. Diese beiden Fälle der negativen beziehungsweise der konträren Nichtbeziehbarkeit von Akten auf Gott sind das »peccatum mortale« (quia actu corrumpit gratiam) und das »peccatum veniale« (licet non sit referibilis, tarnen stat cum gratia). Akte hingegen, die entweder nur auf habituelle oder negative Weise nicht auf den >finis ultimus< bezogen sind, hielt Duns Scotus weder für verdienstlich noch für (läßlich) sündhaft. Scotus drückte sich vorsichtig aus: Aufgrund der sich aus der gegenteiligen Annahme ergebenden allzu harten Folgen erscheine ihm die Indifferenz derartiger Handlungen zumindest probabel. Denn wäre dies anders, dann würde sich ein Mensch, solange er im Stand der Gnade ist, beständig (beim Essen oder Schlafen)35 das ewige Leben verdienen oder aber ständig sündigen, da er unentwegt Handlungen verrichtete, die er nicht auf Gott bezieht; und umgekehrt würde sich ein Mensch, solange er nicht im Stand der Gnade ist, kontinuierlich Mißverdienste erwerben, wie moralisch gut er auch handelte. Ein in der Gnade lebender Mensch kann eine in meritorischer Hinsicht gleichgültige Handlung verrichten, die sehr wohl an sich moralisch gut sein kann. Und ebenso kann ein aktuell außerhalb der Gnade existierender Mensch durchaus moralisch so gut handeln, daß er sich die himmlische Herrlichkeit angemessenermaßen (de congruo) verdient. Duns Scotus sah keinen hinreichenden Grund, derartige Akte für gut zu halten, weil er für die Verdienstlichkeit einer Handlung mindestens deren virtuellen Bezug auf Gott für erforderlich hielt; aber ebenso wenig sah er einen hinreichenden Grund, sie für schlecht zu halten. Der Mensch sei nämlich von Gott in keiner Weise mit Notwendigkeit gehalten, alle seine Handlungen entweder aktuell oder auch nur virtuell auf ihn zu beziehen, »quia Deus non obligavit nos ad hoc«.36 Daß genau in diesem Punkt einer der wesentlichsten Unterschiede zur altprotestantischaugustinischen Erbsünden- und Gnadenlehre besteht, liegt auf der Hand. Und was würden die kulturprotestantischen Verächter des Mittelalters dafür geben, könnten sie einen solchen, ja keineswegs nur von Duns Scotus vertretenen Satz aus den Schriften des älteren Protestantismus belegen, der für viele mit Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770-1831) immer noch die eigentliche Begründungsphase des modernen Welt- und Selbstverständnisses ist.37 Würde man in

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Vgl. den Kommentar von Lychetus zu dieser Stelle: »nec credo, ut aliqui Praedicatores minus quam docte, qui asserunt, quod quando aliquis est in charitate, quod sive dormiat, sive comedat, sive aliquid aliud faciat, quod semper mereatur« (VI/2, S. 568b, n. 5). Duns Scotus: In 2 Sent., d. 41, q. un., n. 942 g (Garcia II, S. 974): »non enim tenetur homo, nec tentione necessitatis [...] nec tentione minori [...] referre semper actum suum in Deum actualiter vel virtualiter«; vgl. die Lectura in 2 Sent., d. 41, q, un., nn. 12-13 (Vatic. XIX, S. 396-397). Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (Berlin 1822/23). Hg. v. Karl Brehmer u. a. (Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Bd. 12). Hamburg 1996, S. 499, 502: Für Hegel war Luthers einfache Lehre

80 der hier angesprochenen Frage ausgehend vom reformatorischen Lehrbegriff des frühen 16. Jahrhunderts eine Fortschrittsachse zeichnen wollen, dann müßte der Pfeil in Richtung Mittelalter zeigen. Die These von Duns Scotus lautete: Es gibt viele indifferente Akte, und zwar nicht nur gemäß ihrem Sein, das sie »in specie naturae«38, sondern auch gemäß dem Sein, das sie »in esse morali« haben, und es gibt darüberhinaus Akte, die gegenüber dem meritorischen Gutsein und demeritorischen Schlechtsein indifferent sind. Und stets ging es Scotus dabei nur um spezifisch menschliche, frei veranlaßte Handlungen (est sermo [...] de actibus libere elicitis), die Intellekt und Willen einschließen, nicht etwa um bloß unwillkürliche »actus non humani« (wie »movere barbam«, »levare festucam« usw.), von denen hier gerade nicht die Rede war. Thomas hatte ja unter anderem auch diese Exempla gewählt, um zu veranschaulichen, welche individuellen Handlungen nach seinem Verständnis als moralisch gleichgültig gelten können: nämlich nur derartige »actus hominis« (actus non humani). Doch darauf wollte Duns Scotus die Möglichkeit von Indifferenz ausdrücklich nicht beschränkt wissen.

2.2.

Petrus Aureolis Lehre vom >finis indifferens
adiaphorischen< bezeichnete. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ausfuhrlich auf die mittelalterliche Wort- und Begriffsgeschichte des Ausdrucks >adiaphoron< einzugehen, ist nicht erforderlich; dies bedürfte aber auch umfangreicher Vorarbeiten, die durch die fortschreitende digitale Texterfassung (ζ. B. des Corpus Christianorum und der Patrologia) eine erhebliche Unterstützung finden würden. Hinweisen möchte ich hier nur auf einen, wie es scheint, wenig bekannten Gebrauch des Ausdrucks in der Metrik. In der metrischen Analyse unterscheidet man zwischem dem konkreten Schema eines Verses (qua Folge von Silben) und dem metrischen Typus (Schema eines Verstypus qua Folge metrischer Elemente). Während eine Silbe als Versbestandteil stets entweder kurz oder lang ist, kann der Bestandteil eines abstrakten Schemas kurz, lang, frei oder indifferent sein. Die immer wieder aufgegriffene Formulierung dieses Sachverhaltes: »omnis syllaba in ultimo versu adiaforos est, id est indifferenter accipitur, nec interest utrum producta sit an correpta«, stammt aus der Schrift De metrica institutione; die Verfasserschaft

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»das letzte, neue Panier«, »um das sich die Völker sammeln, die Fahne der Freiheit [...] der Geist der neuen Zeit«. Duns Scotus: In 2 Sent., d. 41, q. un., n. 943 a (Garcia Π, S. 874); vgl. Lychetus (VI/2, S. 1036a): »actus [...] naturaliter bonus ex genere [...]; talis [...] actus non est perfecte bonus bonitate naturali, nec perfecte malus malitia naturali«. Hier geht es nicht um die natürliche Bonität, die mit dem ens konvertibel ist, sondern diejenige, der ein malum opponiert; vgl. dazu Duns Scotus: In 2 Sent., d. 40, q. un., resp. (VI/2, S. 1027).

81 v o n Gaius Marius Victorinus (ca. 2 7 5 - n a c h 3 6 3 ) gilt als zweifelhaft. 3 9 M e i n e s W i s s e n s wurde erst sehr viel später eine Parallelität z w i s c h e n metrischer und moralischer Indifferenz gesehen, w i e sie etwa Johannes Friedrich Krebs formulierte: » H i n c non incongrue actio Indifferens a scholasticis comparatur c u m indifferente Grammaticorum syllaba, quae e x se nec determinate brevis nec longa est, e x arbitrio tarnen Poetae produci aut corripi apta est.« 4 0 D o c h zurück z u Aureoli, dessen Ausgangsüberlegung die Gestalt eines Ent h y m e m s hat: Es gibt indifferente Handlungsziele, folglich sind auch die auf diese Ziele gerichteten Akte indifferent. Gut und schlecht sind einander in einer auf ein solches Handlungsziel gerichteten Handlung nicht absolut, das heißt >privativeweil es e i n e m so gefällt< - oder, ohne j e d e weitergehende Absicht, zu handeln, u m die e i g e n e Freiheit zu erfahren: Est dare finem indifferentem ad bonitatem, et malitiam: ergo actus circa illum finem erit indifferens ad bonitatem, et malitiam. Antecedens huius Enthymematis, probo, quia velle facere, quod placet, et experiri libertatem videtur esse indifferens in his, quae non sunt prohibita: si enim levo festucam propter finem, ut faciam, quod placeat, non procedendo ulterius ad aliquem alium finem [...]. Videtur enim, quod placeat, Deo, quod homo velit libere, unde relinquit eum libertati suae in his, quae per eum non sunt praecepta, nec prohibita.41 [Man muß ein Handlungsziel einräumen, das indifferent gegenüber der Güte und der Schlechtigkeit ist: Also wird eine sich auf dieses Ziel richtende Handlung indifferent sein gegenüber der Güte und der Schlechtigkeit. Den Vordersatz dieses Enthymens beweise ich, weil >tun wollen, was gefälltdie Freiheit erfahren< in den Dingen, die nicht verboten sind, indifferent zu sein scheint: wenn ich nämlich einen Grashalm nur deshalb aufhebe, um etwas zu tun, was mir gefällt, und meine Handlung dabei auf kein darübergehendes Ziel richte [...]. Es scheint nämlich, daß Gott am freien Wollen des Menschen ein Gefallen hat, weshalb er ihn seiner Freiheit in den Dingen überläßt, die er weder geboten noch verboten hat.] Genau darin, im Vermögen, allein aus z w e c k f r e i e m (grundlosem) W o h l g e f a l l e n handeln zu können, nicht j e d o c h in der Kontingenz (Indifferenz) oder der Selbstmächtigkeit des Handelns (dominativum actus), bestand für Aureoli der

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Vgl. Grammatici latini. Hg. v. Heinrich Keil. Bd. VI (Scriptores artis metricae). Leipzig 1874, S. 208; vgl. dazu S. 62f., 108 (ars grammatica) und den Index, S. 665 (v. indifferens syllaba). - Ich nenne für diese Zitattradition nur einige ausgewählte Belegstellen in abgekürzter Form. Aurelius Augustinus: De musica libri sex. MPL 32, coll. 1127-1129, 1133, 1149 (Augustinus verwendet nur >indifferentiamüßige< Worte und Handlungen oftmals durchaus als sinnvoll erweisen, dann nämlich, wenn sie der geistigen Erholung dienen (ad recreationem aliquam spiritus et exclusionem acidiae). Vom heiligen Bernhard erzähle man, er habe, nachdem er jemandem auf dem Rasen ein Bein gestellt und auf diese Weise zu Fall gebracht hatte, gesagt: »Otiosum [...] fuit factum, sed non otiose factum« - der Spaß geschah nämlich zur Aufheiterung eines traurigen Mitbruders. Im übrigen bestritt Bonaventura überhaupt die Möglichkeit, präzis den Zeitpunkt für das Einsetzen einer Obligation angeben zu können: »Si autem quaeratur, quando: hoc est difficile, immo impossibile est determinare«.46 42

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Aureoli: In 1 Sent., d. 1, q. 8, a. 3 (Buytaert I, S. 449f.): »formalis ratio libertatis consistit in potentia ex actu complacentiae et delectationis. Actus enim complacentiae est formaliter Uber; potentia autem, quae quidquid agit agit ex complacentia, dicitur libera; nec aliquid aliud exigitur ad rationem libertatis. [...] Liberum enim dicitur quod est gratia sui [...]. Sed solus actus complacentiae est gratia sui.« Aureoli: In 1 Sent., d. 1, q. 8, a. 3 (Buytaert I, S. 450). Aureoli: In 2 Sent., d. 40, q. un., a. un. (II, S. 312bF): »possum enim intelligere hoc, quod est facere, quod placet, et deliberare, utrum sit pro nunc eligendum, nec tarnen talis finis est bonus, vel malus moraliter.« Aureoli: In 2 Sent., d. 40, q. un., a. un. (Π, S. 312bD): »reputo otiosa ilia [verba], quando pro tempore, pro quo sum obligatus ad verba utilia, converto me ad vana, et impertinentia futili, quae pro tunc non expediunt.« Bonaventura: In 2 Sent., d. 41, a. 1, q. 3, ad 2 u. 3 (Π, S. 945a/b): »otiosum non dicitur verbum, quia non sit ordinatum in finem solum, sed quia omni caret utilitate, dum tarnen aliquam deberet habere; et inter tale otiosum et meritorium sive bonum cadit medium, quando

83 Bestätigt wird das dargelegte Verständnis der >complacentia< bei Aureoli durch dessen Ausführungen zum Verhältnis von >frui< und >utiusus< noch >fruitio< ist und den er eben >complacentia< nannte.47 Die Frage war bekanntlich nicht ohne theologisch-dogmatische Brisanz, es drohte der Vorwurf der Verkehrung: »frui utendis«, oder umgekehrt: »uti fruendis«. Dieser Vorwurf konnte auch auf die um ihrer selbst willen betriebene kontemplative Tätigkeit ausgedehnt werden, die dann >curiositas< genannt wurde: »Sunt namque qui scire volunt eo fine tantum, ut sciant: et turpis curiositas est.«48 Daß auch Aureoli die grundsätzlich theozentrische Ausrichtung aller diskutierten Weltzuwendungsweisen nicht in Frage stellte, muß nicht eigens betont werden, ebensowenig die relative Nebensächlichkeit der Frage nach der Handlungsindifferenz im Vergleich zu den systematischen Hauptfragen spekulativer Theologie. Diese Theozentrik wäre indes mißverstanden, würde man in ihr allein den Grund dafür sehen, daß Möglichkeiten ausgeschlossen waren, gründete doch die frei kontingente Kausalität menschlicher Handlungen in der kontingenten Kausalität Gottes: Da die Welt nichts beizutragen vermag zur Vollkommenheit und Güte Gottes, auf die und nicht etwa auf ein weltimmanentes Ziel sie hingeordnet ist, und Gott niemandes Schuldner ist und vieles tun kann, was er nicht will, aber auch vieles unterlassen kann von dem, was er tut, war es nach mittelalterlicher Lehre gerade nicht natürlich und notwendig, daß Gott etwas von ihm selbst Verschiedenes will, es sei denn »ex suppositione«, das heißt in dem Sinn, daß er es, wenn er es einmal will, nicht mehr nicht wollen kann, weil sein Wille schlechterdings unveränderlich ist.49 Schöpfung wurde nicht als notwendiger Emanationsvorgang gedacht. Damit kam allein der göttliche Wille, dessen zielgerichtetes Wirken >ad extra< nicht naturhaft sein könne, als letzter Grund frei kontingenter Verursachung innerhalb der Schöpfung in Frage. Wäre die Erstursache nur notwendige Kausalität, dann bliebe unverständlich, wie im Bereich der von ihr abhängigen Zweitursachen etwas anderes als notwendige Kausalität vorkommen könnte.50 Die Ordnung der Dinge richtete Gott jedoch so ein, daß einiges auf notwendige Weise geschieht, anderes hingegen auf freikontingente (Vult autem quaedam fieri Deus necessario, et quaedam contingenter, ut sit ordo in rebus, ad complementum universi [...] propterea quia Deus voluit eos contingenter evenire, contingentes causas ad eos praeparavit).51

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aliquis facit aliquid, quod non est omnimoda utilitate privatum, nec tarnen est ordinatum in Deum tanquam in finem ultimum; unde non dicitur homo esse otiosus semper, quando non laborat, sed tunc dicitur esse otiosus, quando non laborat et deberet laborare.« Aureoli: In 1 Sent, d. 1., q. 8, a. 1, nn. 48-64 (Buytaert I, S. 430-435). S. Bernardus: Sermo 36 super Cantica Canticorum (Opera. Vol. II. Ad fidem codicum recensuerunt Jean Leclercq u. a. Romae 1958, S. 5). Petrus Lombardus: Sententiae, lib. I, dist. 43, c. un., ad 3 (1/2, S. 300). - Thomas v. Aquino: S. th. I, q. 19, a. 3, co., ad 3 (Leon. IV, S. 235b). Duns Scotus: Tractatus de primo principio, c. 4, concl. 4 (Abhandlung über das erste Prinzip. Hg. u. übers, v. Wolfgang KJuxen. 2. Aufl. Darmstadt 1987, S. 68-70). Thomas v. Aquino: S. th. I, q. 19, a. 8, co. (Leon. IV, S. 244b).

84 Im Geltungsrahmen des franziskanischen Systems göttlicher Rücksichtnahme, die sich den Bedürfnissen und der Kapazität der Geschöpfe anpaßte, war im Mittelalter offenbar mehr möglich als im protestantischen Raum der frühen Neuzeit. Unbestritten war für Aureoli der Gedanke, daß ein »frui utendis« gegeben wäre, würde man dasjenige, was nicht der wahre >finis ultimus< ist, um seiner selbst willen wollen; und ebenso der Gedanke, daß jeder auf Kreatürliches gerichtete Willensakt ein >uti< sein muß (omnis actus voluntatis transiens super creaturam, sive inhaerentem tamquam perfectionem propriam, ut sunt virtutes, scientia et honores, seu quaelibet voluptates [...], uti esse debet).52 Diesem unmittelbaren Ausschließungsverhältnis von >uti< und >frui< begegnete Aureoli mit dem Begründungsversuch eines indifferenten >utiusus< (quia actu non refert) noch >fruitio< (quia non existimat irreferibile) vor, der Akt ist weder verdienstlich noch mißverdienstlich. Obwohl dieser Akt eine »delectatio et complacentia in bono creato propter se« ist, ist er keine >fruitiocontrarie< und dem >negative< Nichtbezogensein. >Uti< und >frui< sind einander konträr entgegengesetzt hinsichtlich »referre« und »nolle referre«, nicht jedoch hinsichtlich »referre« und »non referre«.53 Die Struktur der Freiheitserfahrung, die Aureoli zu beschreiben versuchte, ist die einer Zweckmäßigkeit (commodus), die keinem Zweck dient, also die Gedankenfigur einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck: »non dicerer frui illa [sc. libertate mea], licet inhaerere ei, ut modo commotio«.54 Aureoli eröffnete dem Menschen damit ein Weltverhältnis, das die Weltvergötterung vermeidet (nur Gott ist zu genießen), ohne in einen rein utilistischen Bezug zur Welt zu geraten. Auf ein derartiges Nutzungsverhältnis hatte die strenge augustinische Tradition die Weltzuwendung des Menschen festzulegen versucht. Das Verhältnis des Menschen zur Welt durfte nur ein >uti< sein; und selbst die Liebe Gottes zu seiner Schöpfung, von der die Bibel an vielen Stellen spreche, konnte nur ein >uti< sein (deum nobis uti; nos diligit deus utendo), so Gregor von Rimini. Gregor hatte die Thesen Aureolis in seiner Lectura sententiarum (1343-44) diskutiert und entschieden zurückgewiesen, für ihn gab es unter Berufung auf Augu52 53 54

Aureoli: In 1 Sent, d. 1., q. 8, a. 1, nn. 60-61 (Buytaert I, S. 433f.). Aureoli: In 1 Sent, d. 1., q. 8, a. 1, n. 64 (Buytaert I, S. 434f.). Aureoli: In 2 Sent., d. 40, q. un., a. un. (Π, S. 313bA).

85 stinus keine »volitio media«, kein auf Überlegung beruhendes mittleres, moralisch indifferentes Wollen, das heißt ein solches Wollen, das weder >usus< noch >fruitio< wäre (si esset aliquis actus voluntatis medius: posset esse aliquis actus voluntatis deliberatus: nec bonus nec malus).55 Damit ein fruitio-Verhältnis vorliegt, bedurfte es für Gregor weder der von Aureoli genannten Einschätzung der Nichtbeziehbarkeit (quia non estimat illud non referibile) noch eines Aktes des Nichtbeziehenwollens (actus nolendi referre), es genügte das Fehlen eines aktuellen oder habituellen Bezuges auf Gott (nec actu nec habitu referre), damit die Wertschätzung einer Sache um ihrer selbst willen (diligere rem propter se ipsam) vorliegt.56 Man würde zweifelsfrei zuviel behaupten, wollte man sagen, moralisch indifferente Akte (Handlungen oder sprachliche Äußerungen) beziehungsweise deren Problematisierung wären bereits im Mittelalter thematisch in besonderer Weise mit Kunst und Kunstausübung oder Kunstrezeption in Verbindung gebracht worden. Daß dies im allgemeinen nicht so ist, machen schon die zu Veranschaulichungszwecken benutzten Exempla (ambulare, etc.) deutlich; doch ergab sich aus dem hier einschlägigen und selten nicht angeführten Locus Mt. 12, 36 zum »verbum otiosum« in der Auslegung durch Gregorius Magnus (Otiosum quippe verbum est quod aut ratione iustae necessitatis, aut intentione piae utilitatis caret)57 die tatsächlich vielgenutzte Möglichkeit, unter der Bezeichnung »inutilia opera« bestimmte zu den »Artes ludicrae« gezählte Gattungen zu thematisieren und zu legitimieren, die keinem erkennbaren Nutzen dienten und in diesem Sinn als selbstzweckhaft galten (ut homo solum haec opera velit gratia ipsorum, hoc est, quatenus delectabilis, et commoda naturae, nec ullam rationem honestatis consideret) wie unter anderem eben auch das »verbum otiosum, si careat honesto fine, ut in enarrandis gestis, aut fabulis«.58 Das Resümee Gabriel Biels am Ausgang des Mittelalters und die diversen universitären und kirchlichen Verurteilungsdekrete, auf die bereits hingewiesen wurde, haben deutlich gemacht, daß sich der Lehrbegriff des antipelagianischen Augustinismus innerhalb der katholischen Kirche nicht als der vorherrschende, geschweige denn allgemein verbindliche hatte durchsetzen können. Nach Vazquez folgten selbst viele von denjenigen, die theoretisch etwas anders lehrten, in praxi der Ansicht, die der menschlichen Schwachheit mehr entgegenkommt und für die er in Hieronymus und Gregorios von Nazianz Vertreter selbst in frühchristlicher Zeit ausmachte (Admittunt ergo hi Patres secundum Philosophiam Christianam medium opus inter bonum, et malum, propter naturae imbecillitatem).59 55

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Gregorius v. Rimini: 1 Sent., d. 1, q. 1, a. 1, concl. 3 u. 4, fol. 23'A-C. - Vgl. Augustinus: De doctr. Christ., lib. I, xxxi, 34 (Opera IV/1, S. 25f.). Gregorius v. Rimini: 1 Sent., d. 1, q. 1, a. 1, fol. 23Ή. Gregorius Magnus: Moralia in lob, lib. VII, xxxvii, n. 58 (Opera. Moralia in lob libri I-X. Cura et studio Marci Adriaen. Tumholti 1979, S. 379). Vazquez: Commentariorum [...] in primam secundae [...] tomus primus, disp. 52, c. 5, S. 261a; c. 6, S. 262a/b. Vazquez: Commentariorum [...] in primam secundae [...] tomus primus, disp. 52, c. 6, S. 263a; c. 3, S. 259b.

86 Anders im Protestantismus, wo sich, vermittelt unter anderem durch Johannes von Staupitz (ca. 1468-1524), Generalvikar der deutschen Augustinerobservanten, und den Wittenberger Theologen Andreas Bodenstein von Karlstadt (ca. 1480-1541), eine erklärte Hinwendung zur harten augustinischen Gnadentheologie vollzog, eine Neuorientierung, die sich 1517 in Luthers Wittenberger Disputationsthesen gegen die aristotelisch-scholastische Theologie, und namentlich gegen Johannes Duns Scotus, Pierre d'Ailly (1352-1420) und Gabriel Biel, fortsetzte.60 Biel war in seinem vielbenutzten Collectorium (ca. 14861488),61 mit dem Luther nach dem Zeugnis Philipp Melanchthons62 bestens vertraut war und das, ähnlich wie die Disputationes metaphysicae von Suärez, vielen neuzeitlichen Autoren als zuverlässige Primärquelle mittelalterlicher Philosophie und Theologie diente, der von ihm in dieser Frage als herrschende Lehre apostrophierten Linie und insbesondere Petrus Aureoli gefolgt. Sowohl unmittelbare Willensakte (wie >wollenlaufenbloß aus Freiheit erfolgt, muß nicht mit Notwendigkeit bedeuten, daß der Wille sich selbst und seine Freiheit oder Kreatürliches genießt, was gegen die Vernunft verstoßen würde (voluntas potest frui seipsa aut creatura: quo casu praestituit sibi finem contra rectam rationem).66

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Insignium theologorum Domini Martini Lutheri, Domini Andree Carolostadii [...] et aliorum, conclusiones varie, pro divine gratie defensione [...] contra scolasticos et pelagianos: disputate in preclara academia Wittenbergensi. o.J. (1520); vgl. Luther: WA 1, S. 221-228. Zu Biel vgl. Heiko A. Oberman: The harvest of medieval theology. Gabriel Biel and late medieval nominalism. Cambridge 1963, hier S. 25. Ph. Melanchthon: Praefatio in tomum secundum omnium operum rev. D. M. Lutheri (1546). Opera quae supersunt omnia. Vol. VI (CR 6). Halis Sax. 1839, col. 159: »Gabrielen! et Cameracensem [Pierre d'Ailly] pene ad verbum memoriter recitare poterat«. - Vgl. auch die Registereinträge in Luther: WA 63, S. 98-100. Biel: In 2 Sent., d. 41, q. un., a. 1 u. 2, fol. qqij'A/C. Biel: In 2 Sent., d. 41, q. un., a. 1 u. 2, fol. qqijvE, qqiij'H. Ebd., a. 2, fol. qqij'C, qqij v G. Ebd., a. 2, fol. qqij'C.

87 Luthers Angriff gegen die mittelalterliche Theologie setzte bekanntlich mit der Leugnung der menschlichen Willensfreiheit ein67 und mit der Behauptung einer dem Willen nach dem Sündenfall natürlichen und unveränderlichen Richtungsbestimmtheit zum Bösen.68 Der Gedanke einer unausweichlichen, aber trotzdem willentlichen und in diesem Sinn freien und damit zurechenbaren Inklination zur Sünde (das heißt, »daß der mensch von nottwegen sündiget«) wurde später auch von Philipp Melanchthon (1497-1560) 69 und Jean Calvin (15091564) übernommen (homines peccato mancipati nihil velle possunt nisi malum. [...] Nego [...] peccatum ideo minus debere imputari, quod necessarium est: nego rursum, [...] evitabile esse, quia voluntarium sit)70 und ist unter anderem über die Schwäbische Concordie, in der sich extreme Steigerungsformein zur Charakterisierung der Folgelasten der Erbsündenschädigung finden,71 schließlich in die Konkordienformel eingegangen. Dieser Gedanke ist im katholischen Raum insbesondere von den Jesuiten als mit dem Formalbegriff der Freiheit unvereinbar ebenso entschieden verworfen worden.72 Daß auf protestantischer Seite mit der durch die Erbsünde verursachten und auch durch die Taufe nicht aufgehobenen »corruptio naturae« eine moralische Indifferenz freier menschlicher Akte ausgeschlossen war, versteht sich von selbst: »ignorantia finxerunt [sc. Scholastici], Opera quaedam esse, nec bona nec mala, sed media seu naturalia«, verkündete Luther.73 Diese Freiheitsfeindschaft der Reformatoren sollte sich im Verlauf der Jahre noch bis zu einem Standpunkt von kaum überbietbarer Radikalität steigern. Während das von Petrus Aureoli sentenziös mit unerreichter Prägnanz formulierte Konzept der >complacentia< im Scotismus der frühen Neuzeit eine kontinuierliche Fortset-

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Luther: WA 1, S. 224, prop. 5: »Falsitas est quod appetitus liber potest in utrumque oppositorum, immo nec liber sed captivus est. Contra communem [sententiam Scholasticorum].« Luther: WA 1, S. 224, prop. 4: »Veritas itaque est quod homo arbor mala factus non potest nisi malum velle et facere.« Prop. 9: »Est [...] naturaliter et inevitabiliter mala et viciata natura.« Vgl. auch Luthers Disputatio Heidelbergae habita (1518), probat, concl. 13: »Liberum arbitrium [...] est captivum et servum peccato, non quod sit nihil, sed quod non sit liberum, nisi ad malum« (WA 1, S. 359). Philipp Melanchthon: Loci communes (1521/1522), übersetzt von Spalatin (Supplementa Melanchthoniana. I. Abt.: Dogmatische Schriften 1. Hg. v. Otto Clemen. Leipzig 1910, S. 9, vgl. S. 26, 38 u. ö.). Calvinus: Institutio christianae religionis (1559), lib. 2, c. 5 (Barth / Niesei III, S. 298, vgl. S. 314). Vgl. Formula consensionis inter saxonicas et suevicas ecclesias, anno 1574 in Suevica primum delineata et statim ad saxonicas ecclesias missa, quae earn censurae suae subicerunt et anno 1576 ad Electorem Saxoniae remiserunt ex qua postmodum Formula Concordiae prodiit. [...]. Hg. v. Heinrich Heppe: Geschichte des deutschen Protestantismus [...]. DI. Bd. Marburg 1857, Beil. II: die ganze Natur des Menschen wurde »an leib und an seele und in allen kreffien durch und durch auffs eußerste genßlich durch die Erbsunde verderbe«« (S. 86). Eine der besten Darstellungen des ganzen Kontroversthemas: Dionysius Petavius, S.J.: De libero arbitrio libri tres. Lutetiae Parisiorum 1643; danach in den Ausgaben der >Dogmata theologica< (1644-1650), hier: De opere sex dierum, üb. 3-5 (Opus de theologicis dogmatibus in hac novissima editione auctius [...]. Tom. III. Venetiis 1745, S. 180-291). Luther: WA 39/1, S. 117; 85.

88 zung gefunden hat, wofür noch einmal Gabriel Vazquez genannt sei,74 dauerte es auf protestantischer Seite noch bis zum späten 17. Jahrhundert, bis man einer Auffassung begegnen konnte, die der mittelalterlichen Konzilianz in Sachen menschlicher Handlungsfreiheit und moralischer Handlungsindifferenz wenigstens vergleichbar war. Und das war - wie bereits angedeutet - kein Zufall, hatte doch erst die spätere lutherische Orthodoxie die jesuitische Gnadenlehre als Gegenmöglichkeit zum calvinistisch-pietistischen Prädeterminismus adaptiert, während die Reformatoren calvinistischer Observanz umgekehrt lange zuvor die thomistische Position übernommen hatten. Dem korrespondiert eine zweite Inversion. Am Kulminationspunkt des outrierten Nützlichkeitsdenkens im 17. Jahrhundert, von dem sich auch die katholische Reform nicht völlig unbeeindruckt zeigte, steuerte man gegen und lehrte, auch Handlungen, die nicht unmittelbar nützlicher Praxis zuzurechnen sind, einen positiven Wert abzugewinnen. Daß dieser Neubesinnung der »Scoto und Occam« zuzuschreibende »grobe Irthum [...] daß der Wille sich nicht allezeit zum guten neigen sollte«, zugrundelag, der sie verleitete, »daß sie auch willkührliche und Moral Handlungen vor indifferent hielten«,75 konnte jedoch aus pietistischer Sicht kein Zweifel bestehen.

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Vgl. Vazquez: Commentariorum [...] in primam secundae Sancti Thomae tomus primus [...], disp. 52, c. 6, S. 262a: »dicimus, quoties homo operatur ut homo libere, non semper debere operari ex fine honesta propter ipsum [...]: positive autem operari secundum rectam rationem non est necesse, tametsi quotiescunque operatur ut homo, operetur ut rationalis [...]. Debere autem hominem semper operari secundum rectam rationem, hoc est, operari opus studiosum, ita ut non operari studiose sit peccatum, nulla ratione probare possunt Theologi prioris opinionis [sc. Thomistae].« Gottfried Vockerodt: Erleuterte Auffdeckung des Betrugs und Aergemisses, so mit denen vorgegebenen Mitteldingen [...] in der Christenheit angerichtet worden [...]. Halle 1699, Teil II, Sekt. 2, Kap. 5.S.221.

III.

Adiaphora und Adiaphorismus im 16. Jahrhundert

1.

Luthers >anomistische< Adiaphoralehre

1.1.

Libertas Christiana und Adiaphora

Martin Luther (1483-1546) hat seine neue Lehre von der christlichen Freiheit in der Schrift, die von späteren Autoren gern als »Freiheitsschrift« bezeichnet wurde, paradox formuliert: Der Mensch sei durch das Erlösungswerk Christi zugleich frei und unfrei (simul über et servus).1 Diese Lehre wurde nicht erst durch den modernen Kulturprotestantismus in wesentlicher Hinsicht verkürzt rezipiert, sondern schon von einem Teil seiner Zeitgenossen im Sinne der libertinistisch (bzw. antinomistisch) verstandenen »libertates externae« uminterpretiert und damit nach Luthers eigenem Verständnis in einer Weise verfälscht, gegen die er sich selbst gar nicht entschieden genug glaubte zur Wehr setzen zu können. »Sunt quam plurimi, qui hanc libertatem fidei audientes mox eam in occasionem carnis vertant, omnia sibi statim licere arbitrantes, nec alia re ulla liberi et Christiani videri volentes quam contemptu et reprehensione cerimoniarum, traditionum, legum humanarum.«2 Die beiden einander nur scheinbar widersprechenden Aussagen »Christianus homo omnium dominus est liberrimus, nulli subiectus« und »Christianus homo omnium servus est officiossimus, omnibus subiectus« hat Luther auf die nach dem Sündenfall und trotz der Taufe mit sich selbst streitende Doppelnatur des Menschen bezogen (ipsi duo homines in eodem homine sibi pugnent),3 und zwar die durch die Rechtfertigung gewonnene Freiheit auf seine neue, geistliche und innerliche, die Knechtschaft hingegen auf seine alte, Leib und Seele umfassende äußerliche Natur (mit 2 Cor. 4, 16; Gal. 5, 17).4 Nach der überlieferten dreifachen Unterscheidung der Freiheit steht 1 2

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Luther: Tractatus de libertate Christiana (1520), WA 7, S. 49-73, hier S. 50. Luther: WA 7, S. 69. Zusätzliche Bedeutung erhielt dieser Aspekt, wie aus dem Freiheitstraktat Andreas Oslanders d. Ä. zu ersehen ist, auf dem Höhepunkt des Bauernkrieges, der »nicht nur bei altgläubigen Obrigkeiten den Eindruck hervorrief, die evangelische Predigt müsse letzten Endes zu Aufruhr und Umsturz fuhren«, so Gottfried Seebaß in seiner »Einleitung« zu A. Oslander: Gutachten über die Zeremonien, 1526 (A. Oslander: Gesamtausgabe, Bd. 2, S. 242). Vgl. dazu und zum Zusammenhang mit dem Antinomismus auch: [Johannes Aurifaber (Hg.):] Tischreden oder Colloquia Doct. Mart. Luthers [...] nach den Heubtstücken unserer christlichen Lere, zusammen getragen. Leipzig 1967 (Nachdruck der Ausgabe Eisleben 1566), Nr. XXXVIII, Bl. 393v, 397v. Luther: WA 7, S. 50. Auch Melanchthon hat sich verschiedentlich zu dem Hinweis veranlaßt gesehen, daß der >alte MenschFleischKräfte des natürlichen Menschen< oder der >äußerliche Mensch< als synonyme Ausdrücke für den ganzen natürlichen Menschen gebraucht werden (Loci communes von 1521 und 1522, übers, v. Spalatin. Supplemente Melanchthoniana. Abt. 1/1, S. 35, 36, 37 u. ö.).

92 die »libertas Christiana« als »libertas gratiae« zwischen der »libertas naturae«, das heißt der Willensfreiheit, die Luther im paulinisch-augustinischen Sinne als bloße Freiheit von physischem Zwang, aber nicht auch von Notwendigkeit, interpretiert hatte, und der »libertas gloriae« (>liber a miseria huius vitaein spirituellen Dingen tot< und (2) weltlicher Obrigkeit untertan< sei. Die durch die Rechtfertigung gewonnene Freiheit eines Christenmenschen ist primär und vor allem innerliche Freiheit des Gewissens. Vermittels des Glaubens ist der allein durch das Erlösungswerk Christi gerechtfertigte Mensch im Besitz einer Macht (omnipotens potestas; spirituale imperium), die ihn zum geistlichen Herren über alle äußerlichen Dinge macht.5 >Geistlich frei< heißt frei vom Fluch des Gesetzes und frei von der Einhaltung bestimmter Zeremonialgesetze, und nicht etwa, daß der Mensch in geistlichen Dingen frei schalten und walten könne. Jean Calvin hat diese Verinnerlichung und Vergeistigung des Bundes mit Vorliebe als ein »circuncidi manu Dei [...] corda nostra« veranschaulicht.6 >Untertan< (subiectus) ist der Mensch in seinem äußeren, politischen Leben. Wenn das Wirken nach außen explizit in den Begriff der christlichen Freiheit aufgenommen wurde, war die »libertas in adiaphoris« gemeint. Denn einigermaßen frei< ist ein Christ hinsichtlich der »inferiora«, über welche der Mensch zum Herrn eingesetzt ist, damit er nach eigenem vernünftigen Ermessen über sie zu verfugen vermag (habemus quidem liberum quodam modo arbitrium in iis, quae infra nos sunt [...] ut per rationem ea disponat, quae sunt sese inferiora, pro suo arbitrio).7 Unter der Bezeichnung >Adiaphora< machen diese »inferiora« genau den Bereich des religiösen und bürgerlichen Lebens aus, der durch keine ausdrücklichen göttlichen Gebote oder Verbote geregelt ist.8 Der dem lateinischen Mittelalter zwar bekannte, aber wenig und zumal nicht im vorliegenden thematischen Zusammenhang gebrauchte Ausdruck >adiaphoron< hat erst in der frühen Neuzeit, vor allem in und mit den Auseinandersetzungen um das Augsburger Interim, Geltung erlangt, auch wenn Melanchthon ihn - neben »res indifferens« und »opus indifferens« - bereits vor 1548 vielfältig benutzt hatte, zumeist allerdings in griechischer Schreibweise.9 Daß der Aus5 6

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Luther: WA 7, S. 53, 57. Calvinus: Inst. Christ, relig., lib. II, c. 5: »Iubet ut praeputia cordis nostri circuncidamus« (Barth / Niesei III, S. 302, 306, 312 u. ö.). Luther: Vorl. über 1. Mose 2, 3 - 7 (1535-15), WA 42, S. 64. Luther: Brief an Joh. Briesmann (1523), WA 11, S. 286f.: »partior vitam hominis in duo: vel enim agit cum inferioribus vel cum superioribus sese. Cum inferioribus agere permittit deus etiam ea, quae ipse non ordinat sacris literis ut edificare, pascere pecus, emere et, ut Petrus vocat, creaturas humanas id est ordinationes facere. In his non est opus, ut verbum dei expectes.« Melanchthon: Loci communes theologici (1535). Opera quae supersunt omnia. Vol. XXI (CR 21), coli. 464, 465, 503, 511, 512. - Loci (ed. 1543, in der Fass. v. 1559), Vol. XXI (CR 21), coli. 1019, 1020, 1023, 1024, 1044, 1047 u. ö. In der ersten Ausgabe der Loci (1521) benutzte Melanchthon statt dessen die Umschreibung »quae sunt iuris humani et

93 druck bei Luther selbst gar nicht auftauche, 1 0 ist unrichtig. Im Unterschied z u Melanchthon verwendete er den im N e u e n Testament nicht belegten Terminus >adiaphoron< j e d o c h äußerst selten und in der R e g e l auch in d e m Zusammenhang nicht, in d e m der Gebrauch v o n der Sache her naheliegend und für spätere protestantische Autoren selbstverständlich war. D i e Zahl der im lateinischen Sachregister der Weimarer

Ausgabe11

verzeichneten Okkurrenzen ist relativ ge-

ring ( W A 2, S. 4 7 8 , W A 9, S. 4 5 7 , W A 49, S. 627); hinzu k o m m e n einige w e nige Verwendungen des Ausdrucks im B r i e f w e c h s e l ( W A Br 3, S. 4 8 8 ; Br 9, S. 2 2 , 53, 5 5 f „ 2 8 0 f . ) , w o b e i für alle in W A Br 9 genannten Stellen Melanchthon als Hauptverfasser gilt, Luther nur als Mitunterzeichner. D i e in den bislang erstellten Sachregistern noch nicht verzeichneten V e r w e n d u n g e n des griechischen Wortes ά δ ι ά φ ο ρ ο ν sind dabei allerdings nicht berücksichtigt, sie sind aber bezeichnenderweise, w i e z u m Beispiel W A 39/1, S. 118, mit e i n e m distanzierenden »ut vocant« versehen. Statt >adiaphoron< benutzte Luther, w e n n er nicht überhaupt v o n »ritus« oder »ceremoniae« sprach, v o r z u g s w e i s e die A u s drücke »licita«, »indifferentiae«, »libera«, »neutra« (jeweils nebst Komposita und Derivata) oder »res parvae«, b e z i e h u n g s w e i s e deren deutsche Entsprechungen, 1 2 und in j e d e m Fall ohne sie - w i e später verschiedentlich behauptet 1 3 - in signifikanter oder gar systematischer W e i s e voneinander zu unterscheiden. 1 4

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media« (CR 21, col. 226). - In den: Disputationes theologicae. Opera [...]. Vol. XII (CR 12), coli. 442 (de peccato reliquo in renatis), 475 (de libertate Christiana), 477f. (de usu libertatis in άδιαφόροις et scandalo). - Im Römerbriefkommentar: Secundus tomus operam Philippi Melanchtonis. Basileae 1541, S. 154D, 304D, 305A, 310C (Ritus αδιάφοροι) u. ö. Das Register der Baseler Melanchthon-Ausgabe (Tom. I) verzeichnet den Terminus noch nicht. Eine stehende Behauptung, vgl. ζ. B. Edward F. Meyland: The stoic doctrine of indifferent things and the conception of christian liberty in Calvin's Institutio Religionis Christianae. In: The Romanic Review 28 (1937), S. 135-145, hier S. 138. Vgl. Luther: WA 64, S. 37. Vgl. Luther: In epist. Pauli ad Galat. commentarius (1519), WA 2, S. 436-618, hier S. 451, 665f.; Ad librum [...] Ambr. Catharini defensoris S. Prieratis [...] responsio (1521), WA 7, S. 698-778, hier S. 720; Contra Henricum Regem Angliae (1522), WA 10/2, S. 175-222, hierS. 191 u. a. Vgl. ζ. Β. Wolfgang Trillhaas: Adiaphora. Erneute Erwägung eines alten Begriffs. In: Theologische Literaturzeitung 79 (1954), S. 457^462, hier S. 459. Auch nach Luther gab es, soweit mir bekannt ist, nur situativ das Bemühen, diese Begriffe, zum Beispiel >indifferens< und >licitumheilige< oder >prophane< Orte, Ornat und dergleichen Dinge haben auf die Erlangung der Gerechtigkeit keinerlei Einfluß. Um dies zu veranschaulichen, habe sich Christus nicht gescheut, zu ungewöhnlich groben Ausdrucksmittel zu greifen,20 indem er auch die elementarsten körperlichen Lebensnotwendigkeiten beim Namen nannte, allerdings ohne dabei gleich »germanico more« zu sprechen.21 Zur Bezeichnung und Charakterisierung menschlicher Traditionen und Satzungen (iusticias extra

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ad rem litterariam spectantium tomus II. Halae Magdeburgicae 1700, Observ. XIII, S. 289305, hier S. 292, 294, 296, 301. Vgl. auch Luther: Predigt von dem Reich Christi aus dem 8. Ps. (1545), WA 51, S. 11. Luther: Predigt >Postridie ascensionis< (18. 5. 1520), WA 9, S. 457. Luther: Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakrament (1525), WA 18, S. 37-214, hier S. 66f. Luther: WA 18, S. 63. Luther: Brief an Kurfürst Johann Friedrich (7. 1. 1540), WA Br 9, S. 9; Br. an Kurfürst Johann Friedrich (18. 1. 1540), Br9, S. 22, 24f., 27, 29; Epistola Witenbergensium theologorum de dißidiis religionis mitigandis ad Nurubergensis ecclesiae presbyteros scripta, in qua et sententia ipsorum de adiaphoris explicatur. o.O.o.J. (Magdeburg 1549), fol. Aivv, Bijv (WA Br 9, S. 53, 55). Der Brief vom 12. oder 17. Febr. 1540 ist unterzeichnet von Luther, Jonas, Bugenhagen und Melanchthon, der als Verfasser gilt. Matth. 15, 17: »Non intelligitis, quod omne, quod intrat in os, in ventrem abit, et in secessum eiicitur?«; vgl. auch Phil. 3, 8. Vgl. dazu Luther: Annotationes in aliquot capitula Matthaei (1538), WA 38, S. 443-667, hier S. 591. (In dem hier verwendeten Sinn wurde das Wort >deutsch< bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein gebraucht, vgl. ζ. B. Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Berlin 1877ff., Bd. 1, S. 252, 540; Bd. 24, S. 391 f.).

95 fidem)

b e d i e n t e s i c h Luther gern sprachlich drastischer A u s d r ü c k e , d i e w o h l ei-

n e n Platz in e i n e m der b e i d e n K ä s t e n H i e r o n y m u s E m s e r s ( 1 4 7 8 - 1 5 2 7 ) verdient hätten: 2 2 Quasi scilicet Deo curae sit (quo ad iustitiam), quid edas aut caces [...]· Germani, ut sunt homines elegantes sua lingua, praecipue cum de hoc opere loquuntur, istam Christi sententiam crasso suo more ita efferent: Qui in cibo ponunt iusticiam, sunt Sancti concacati et merdosi, Eorum enim sanctitas consistit in cacando et mingendo, Egregia profecto sanctitas, quae per secessum in latrinam eiicitur. [Als ob sich Gott (hinsichtlich der Gerechtigkeit) darum sorgte, was jemand ißt oder kackt [...]. Die Deutschen, als Menschen mit einer >gewählten< Ausdrucksweise, formulieren, besonders dann, wenn sie darüber sprechen, diese Lehre Christi auf ihre derbe Art: Diejenigen, welche die Gerechtigkeit in die Speise verlegen, sind bekackte und besudelte Heilige, deren Heiligkeit nämlich im Kacken und Pissen besteht, eine wahrlich vorzügliche Heiligkeit, die durch den Stuhlgang in die Kloake abgeführt wird.] M e n s c h e n w e r k j e d w e d e r Art ist zur R e c h t f e r t i g u n g w e d e r n ö t i g n o c h überhaupt tauglich. »Et ut o m n i a reiiciamus, etiam s p e c u l a t i o n e s , m e d i t a t i o n e s et q u i c q u i d per a n i m a e studia geri potest nihil prodest.« 2 3 In religiöser H i n s i c h t n o t w e n d i g w a r für Luther n a c h seiner v o m Tridentin u m anathematisierten Lehre 2 4 allein das vermittels d e s G l a u b e n s e m p f a n g e n e » v e r b u m dei«. D e r G l a u b e w a r für ihn das e i n z i g e >medium per quod< d e s H e i l s , alles andere, » e h e l i c h w e r d e n , schwartz, rot tragen, burger, edel s e i n « , rechnete er z u d e n Adiaphora. 2 5 D i e G e s e t z e d e s A l t e n T e s t a m e n t e s hatten nur d e n Z w e c k , d e n M e n s c h e n zu dieser Einsicht in sein U n v e r m ö g e n , s i e z u erfüllen ( i m p o s s i b i l i a n o b i s o m n i a ) , z u z w i n g e n und ihn an s e i n e n e i g e n e n Kräften v e r z w e i f e l n z u l a s s e n (cogitur de s e s e desperare et alibi ac per a l i u m quaerere a u x i l i u m ) . 2 6 H i l f e findet der M e n s c h allein i m G n a d e n g e s c h e n k d e s G l a u b e n s . D a n a c h Luthers L e h r b e g r i f f aber a u c h der gerechtfertigte M e n s c h weiterhin Sünder ist, kann d i e R e d e v o n der Indifferenz aller D i n g e mit A u s n a h m e d e s G l a u b e n s nicht als T h e s e einer g e n e r e l l e n G e s e t z e s f r e i h e i t verstanden w e r d e n , w i e e s j e d o c h s c h o n e i n i g e seiner Z e i t g e n o s s e n getan haben. 2 7 Luther war kein

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Damit wird angespielt auf Emsers Warnung an die Glaubensgegner, daß er »zweyerley kästen oder truchen doheym stehen« habe; »in deren ein ich pfleg Scheltwort zu legen, welche mir Luter und seyne anhenger gar gefullet haben, in die andern leg ich gute gruntliche solutiones [...] meyner argument, wolche noch gantz ledig ist«; H. Emser: Das man der heyligen bilder in den kirchen nit abthon, noch Unehren soll, unnd das sie in der schriffi nyndert verbotten seyn. o.O.o.J (Dedic.: Dresden 1522), fol. Hiiij'. Luther: WA 38, S. 591 f. Sess. VI, Canones de iustificatione (1547), n. 19 (Concilii Tridentini Actorum pars altera. Acta post sessionem tertiam usque ad Concilium Bononiam translatum. Collegit, edidit, illustravit Stephanus Ehses. Friburgi Brisgoviae 1911, S. 799): »Si quis dixerit, nihil praeceptum esse in evangelio praeter fidem, cetera esse indifferentia, neque praecepta, neque prohibita, sed libera, aut decern praecepta nihil pertinere ad Christianos: anathema sit.« Luther: Predigt am 18. Sonntag nach Trinitatis (12. 10. 1544), WA 49, S. 627. Luther: WA 7, S. 52. Vgl. dazu Bernard Joseph Verkamp: The limits upon adiaphoristic freedom: Luther and Melanchthon. In: Theological Studies 36 (1975), S. 52-76, hier S. 54, 57; B. J. Verkamp:

96 Antinomist; zwar erstreckten sich für ihn die Vorschriften der Bibel nicht auf die Totalität des Lebens und des Gottesdienstes; doch der Raum der Indifferenz war äußerlich durch kirchliche und politische Gesetze und innerlich durch evangelische Gebote begrenzt und normiert.

1.2.

Die Folgen des Sündenfalls

Die mittelalterlichen Scholastiker hatten nach Luthers Verständnis die Natur der Erbsünde völlig verkannt, indem sie in ihr >materialiter< nicht mehr als eine bloße »concupiscentia« und >formaliter< nur die »carentia iustitiae originalis inesse debitae« gesehen haben.28 Scholastischer Lehre zufolge sollte nach der Sündenvergebung nur eine gewisse Schwachheit (infirmitas) zurückbleiben. Die »naturalia« des Menschen, zu denen neben körperlicher Sterblichkeit und Passibilität eben auch die Konkupiszenz gerechnet wurde, seien nach dem Sündenfall jedoch intakt geblieben.29 Nach der Definition jüngerer Scholastiker, nach Johannes Duns Scotus, Wilhelm von Ockham (ca. 1290-1349/50) und deren Schülern ist der Mensch nach dem Fall »in puris naturalibus«, und die »integritas« der natürlichen Kräfte beschränkten sie nicht auf die animalischen Kräfte des Menschen.30 Die »concupiscentia« (cupiditas) wurde mit Aristoteles31 nicht als Sünde, sondern als eine moralisch indifferente Passion (passio indifferens sive [ut vocant] άδιάφορον, quae [...] nec prodest, nec obest) interpretiert.32 Dieser Passion ohne Verstoß gegen ausdrückliche Gebote nachzugeben, sollte keine Sünde, und ihr zu widerstehen, sogar tugendhaft sein. Luther selbst vertrat diesen scholastischen Lehrbegriff zunächst insoweit, als er in der Konkupiszenz, da sie durch die Taufe nicht aufgehoben werde, nicht die Erbsünde, sondern nur Sündenstrafe (poena peccati) gesehen hatte. Seine Abwendung von dieser Lehre seit der Psalmenvorlesung fuhrt man auf den Einfluß von Gregor von Rimini zurück. Die Apologia Confessionis Augustanae betont freilich, Luther habe stets gelehrt, daß die Konkupiszenz »an sich nicht indifferent«, sondern sehr wohl

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The indifferent mean: Adiaphorism in the english Reformation to 1554. Athens (Ohio) 1977, S. 25ff. Luther: Die Disputation de iustificatione (1536), WA 39/1, S. 78-126, hier S. 84. Petrus Lombardus: Sententiae in IV libris distinctae. Tomus 1/2 (= liber 1 u. 2). Grottaferrata 1971: »concupiscentia« als »fomes peccati« und »lex carnis« (2 Sent. [ca. 1151/52], d. 30, c. 8; 1/2, S. 500), mit Augustinus: »quae est morbidus quidam affectus et languor, qui commovet illicitum desiderium« (2 Sent., d. 31, c. 3; 1/2, S. 506). Zwar blieb die »concupiscentia« auch nach der Taufe bestehen, aber durch die Taufgnade wurde ihre Macht entscheidend geschwächt, »ita ut iam non regnet nisi consensu redantur ei vires«, und »nec post baptismum remanet ad reatum«, sondern war nur noch »poena peccati« (2 Sent., d. 32, c. 1; 1/2, S. 511). Luther: De iustificatione, thes. 16, WA 39/1, S. 85. Aristoteles: Ethica Nie. II, c. 4, 1105 b 22-32 (Aristotelis Opera cum Averrois commentariis. Vol. III, fol. 23rB [c. 5]): »Affectus igitur [wie ζ. B. die »cupiditas«], neque ipse virtutes, neque ipsa vitia sunt«. Luther: WA 39/1, S. 118; vgl. auch Apologia (1531), Art. Π (BSEK, S. 155a).

97 »verdammliche Sunde« sei, denen, die an Christus glauben, aber nicht zugerechnet werde. Die Taufe tilgt zwar die Schuld der Erbsünde, »wiewohl das Material [...] der Sunde, nämlich die böse Neigung und Lust bleibet«.33 Sah man hingegen in der Erbsünde eine echte »corruptio naturae«, dann mußte man bestreiten, daß die natürlichen animalischen wie rationalen Kräfte des Menschen durch den Sündenfall unverschont bleiben konnten (nec animates, nec rationales vires relictas esse integras).34 Die Scholastiker konnten nach Luther allein aufgrund jener von ihm als >irrig< bezeichneten Erbsündenlehre von der Existenz neutraler Handlungen >in individuo< ausgehen: »Eadem ignorantia finxerunt, opera quaedam esse, nec bona nec mala, sed media seu naturalia«.35 Aus Luthers Lehre vom geistlichen Tod des Menschen ergab sich unmittelbar, daß der Glaube ebenso wie die Annahme der Rechtfertigungsgnade ein Werk Gottes ist. Der geistliche Tod des Menschen nach dem Fall hatte auch zur Folge, daß Gebote wie deren Erfüllung allein Sache Gottes sind (omnia solius dei, tarn praecepta et plenitudo eorum). »Operemini« (sc. opera dei) besagt demzufolge: »Gottes Werck wircken«. Unmißverständlich heißt es, daß es »nicht allein Gottes werck [ist], was er thut als Gott, sondern auch, was wir thun«. Den Glauben, den »Gott von uns erffodert«, muß Gott »auch selber uns geben, den wir können von uns auch selbs nicht gleuben«. Der Glaube ist »nicht unser Werck«, die christliche Gerechtigkeit und der wahrhaftige Gottesdienst im Geist stehen »ausserhalb unser kraffi, wircken und verdienst«.36

1.3.

Das Kultuskonzept: Gotteswerk und Menschenwerk

Aus dem Gedanken, daß sich der Gottesdienst am ausdrücklichen Schriftgebot zu orientieren habe, resultierte Luthers allenthalben vorgetragene radikale Kritik an jenen äußeren und inneren Formen des Kultus, die von Menschen willkürlich selbst erzeugt wurden (opiniones et cogitationes de deo, ex nobis extra vocem dei fictas),37 und sei es auch in der Überzeugung, Gott damit zu gefallen (Non ergo hoc placet aut displicet deo, quod tibi videtur ei placere aut displicere, quantumvis sancte et pie videaris tibi cogitare).38 Die radikale Formulierung des Schriftprinzips für den Bereich des religiös Notwendigen (des Gebotenen und Verbotenen) verband Luther aber mit der Anerkennung der Existenz von Indifferentem: Sed cum superioribus agere, id est cum deo, non permisit deus unquam nec permittit. Sed quicquid hie fieri debet, hoc debet non nisi certo et expresso mandato dei fieri, eo quod

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Apologia, Art. Π (BSEK, S. 154b, 155b, 156b). Luther: De iustificatione, thes. 17, WA 39/1, S. 85. Luther: De iustificatione, thes. 18, WA 39/1, S. 85. Luther: Dritte Wochenpredigt über Joh. 6, 27-29 (1530), WA 33, S. 24-38, hier S. 25, 29f„ 31. Luther: Deuteronomion Mosi cum annotationibus (1525), WA 14, S. 489-744, hier S. 593. Luther: WA 14, S. 594.

98 nesciat homo per se ea, quae supra se sunt [...]. Ideo hie non satis est dicere >non est prohibitum in sacris literis< sed oportet dicere >hoc est mandatumin der Bibel nicht verbotene sondern man muß sagen, >dies ist gebotene ja eben dadurch, daß etwas nicht geboten ist, ist es tatsächlich verboten. Denn der Mensch darf nicht dort über sich herrschen, wo es allein Sache Gottes ist zu herrschen [...]. So ist etwas eben dadurch gegen Gott, daß es ohne das Wort Gottes ist.] N o t w e n d i g war nach Überzeugung Luthers nicht der N a c h w e i s , daß über bestimmte D i n g e ( w i e etwa das M ö n c h t u m als spirituelle, nicht als profane Lebensform) in der Bibel nichts gesagt wird, sondern umgekehrt: »affirmativam n o n negativam probari debuit«. Es lagen hier die beiden bereits in frühchristlicher Zeit vertretenen Prinzipien der positiven und der negativen (d. h. nichtrepugnanten) Übereinstimmung der Kirche mit der Schrift i m Konflikt: D a s eine Prinzip besagt, daß dasjenige, w a s in der Bibel nicht ausdrücklich erlaubt oder geboten ist, verboten ist; das andere, daß dasjenige, w a s nicht ausdrücklich verboten ist, erlaubt ist. Luther vertrat das erste, strikt schriftgläubige Prinzip, das d e m M e n s c h e n auch nicht den kleinsten eigenmächtigen Eingriff in den Wortlaut der Schriftgebote gestattete: Non enim nostri est arbitrii in ecclesia Dei et in cultu Dei vel statuere vel tolerare, quod verbo Dei non potest defendi, et me urit non parum ista sacrilega vox >indifferensgleichgültig< nicht wenig; vermittels dieses Wortes hätte ich leichthin alle Gesetze und Anordnungen Gottes gleichgültig machen können. Wenn man einräumt, daß das Wort Gottes nur etwas Gleichgültiges enthält, wie könnte man verhindern, daß alles gleichgültig wird?] Gleichzeitig aber schränkte er den Geltungs- und Anwendungsbereich dieses Prinzips auf geistliche D i n g e , den Kultus im engeren Sinne, ein. Umgekehrt bedeutete das, daß vieles, und zwar k e i n e s w e g s nur hinsichtlich der äußeren Kultusordnung, erlaubt sein mußte, was, nach der M a x i m e , sich streng an den Buchstaben der Schrift zu halten, nicht zur Pflicht gemacht w e r d e n konnte. Genau aus diesem Grund wurde Luther, und mit ihm die lutherische Orthodoxie, auch sehr viel später n o c h v o n Rigoristen und moralischen Absolutisten w i e d e m Kantianer Carl Christian Erhard S c h m i d ( 1 7 6 1 - 1 8 1 2 ) scharf kritisiert. 41

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Luther: Brief an J. Briesmann (1523), WA 11, S. 287. Luther: Brief an Melanchthon (26. 8. 1530), WA Br 5, S. 577, Nr. 1699. Schmid: Adiaphora, S. 624, 641 u. ö. Nicht einmal Kant selbst blieb von Schmids Kritik verschont. Schmid konnte sich nur wundern, daß manche Zeitgenossen Kant unter die Ri-

99 Doch Luther kam es aufgrund seiner neuen Lehre von der zugerechneten Gerechtigkeit allein durch den Glauben - der sogenannten »iustitia imputativa ab extra« - und der korrespondierenden Ablehnung der Lehre von der Werkgerechtigkeit auf die präzise Abgrenzung des Kultus von allem Menschenwerk an: Christus hat den Dekalog nicht etwa abrogiert, sondern im Gegenteil bestätigt, und die Gebote des Dekalogs sind keine Zeremonialgesetze. Abrogation des Gesetzes wie der Gesetzeswerke durch Christus besagt, daß sie genauso wie Reichtum, Ehre, Macht und überhaupt alle zeitlichen Dinge (quaecunque alia res temporalis)42 in religiöser Hinsicht für indifferent gehalten werden können (ut indifferenter ea haberi possint) und schlechthin zu Adiaphora geworden sind (ea prorsus esse Adiaphora et talia, qualis esset ille, qui faceret).43 Der Gottesdienst mußte folglich gegen alle menschliche Zutat abgesichert werden, auch und gerade da, wo diese unter dem Vorwand daherkommt, es gut zu meinen (»Wenn ichs gut meine, so wirds Gott gefallen«). Das, was Luther als >sophistische< Argumentation bezeichnete (sc. >Facienti, quod in se est, Deus dat gratiamadiaphora< durch >indifferentia< ersetzt. Luther: Annot. in aliquot cap. Matth., WA 38, S. 584f., 587. Apologia, Art. XV (BSEK, S. 299a/b, 302a/b, 303a). Luther: Hauspostille (1544/45), 15. Sonntag nach Trinitatis über Matth. 6, 24-34 (1532, domi), WA 52, S. 1-842, hier S. 469-473.

100 D i e größten Gefahren fur den wahren Gottesdienst sah Luther dabei v o n der inneren Idolatrie (interior idololatria) ausgehen: »Meretrix ratio semper aliquid n o v i molitur, quo deum vult colere. [...] Tollit [sc. primum praeceptum], quicquid potest fingi ab homine aut humana ratione«. 4 7 Aber gerade i m R a h m e n dieser im streng gehandhabten Schriftprinzip begründeten Kritik an aller menschlichen Fiktionswillkür hat sich ein Fiktionsbegriff herausgebildet, der semantisch und in seiner Anschauungshaltigkeit viel stärker und prägnanter ist als das traditionell faktizistische und technologische Verständnis v o n Fiktion (als Gestaltung eines g e g e b e n e n Materials), das man in zeitgenössischen Dichtungslehren formuliert findet. 4 8 Natürlich wurden Fiktionalisierungen, als w e l c h e der Bilderkult und der Kult der Äußerlichkeit jetzt interpretiert wurden, verurteilt. D a s kirchliche Fest duldet sie nicht. Es ist ein bestechender Gedanke, daß es das Theatrum

ceremoniale

der h ö f i s c h e n Gesellschaft g e w e s e n sei, in d e m der im

16. Jahrhundert auf protestantischer Seite w e i t g e h e n d entmachtete Kult der Ä u ßerlichkeit sein wichtigstes R e f u g i u m g e f u n d e n habe. W a s Luther der Sinnlichkeit päpstlicher Selbstrepräsentation bestritten und am katholischen Meßritus als teuflisches Gaukelwerk denunziert hatte, wurde der sinnlichen Inszenierung weltlich-politischer Macht dienstbar gemacht, die zu ihrer e i g e n e n Selbstversicherung und Behauptung im h ö f i s c h e n Fest mit Fiktionalisierungen, insbesondere Allegorisierungen, operierte. 4 9 U n d dennoch: W i e Jörg Jochen Berns v o n

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Luther: WA 14, S. 593. Gewöhnlicherweise vermutet und sucht man den Ursprung des »neuen Fiktionsbegriffs«, der zuallererst und insbesondere der sich konstituierenden Gattung der Prosaromane den Anspruch auf eine nicht mehr von der Historiographie entliehene, eigene >Wahrheit< sicherte, immer noch eher in der Tradition der lateinischen Poetiken als im hier untersuchten Feld der >Adiaphoriafingere fabulis< verstanden als ein >Dei instar res veluti condereMimesis< to >Fantasiavita contemplativa< erfolgte, später mit den Worten: Seit Luther habe die »Arbeitslosigkeit [...] nicht mehr als ein Heiliges gegolten«.67 Bei diesen Aufgaben handelte es sich um jene, die sich aus den Pflichten gegenüber sich selbst und aus den Pflichten gegenüber dem Nächsten ergeben. Der Mensch lebt nicht allein und schon gar nicht für sich, sondern primär mit und für andere (non [...] sibi vivit soli [...] immo solum aliis vivit et non sibi). Der von nun an in der Sphäre des Weltlichen alles beherrschende Nützlichkeitsgedanke (omnibus serva et obsequiosa et utilis)68 ließ für Müßigang im Leben keinen Platz mehr. Mönche als Träger eines kontemplativen Lebensideals erscheinen seitdem (und nicht erst seit Hegel) nur noch als Faulenzer. Die hier eingeleitete Entwicklung kulminierte im 17. Jahrhundert im praktizistischen Erneuerungswerk von Johann Amos Comenius (1592-1670). 69 Diese Entwicklung ging aber 62 63 64

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Luther: WA 7, S. 64. Luther: WA 33, S. 30, 32f., 35 Melanchthon: Enairationes aliquot librorum Ethicorum Aristotelis (zuerst 1529). In primum libr., c. 5. Opera quae supersunt omnia. Vol. XVI (CR 16), S. 289f. Luther: Dritte Wochenpredigt über Joh. 6,27-29 (1530), WA 33, S. 33. Luther: WA 7, S. 61; WA 52, S. 476. Hegel fuhr freilich ganz unlutherisch fort: »es wurde als das Höhere angesehen, daß der Mensch in der Abhängigkeit durch Tätigkeit und Verstand und Fleiß sich selber unabhängig macht« (G. F. W. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke in zwanzig Bänden. Frankfurt/M. 1970, Bd. 12, S. 503). Luther: WA 7, S. 64. Vgl. dazu Wolfgang Hübener: Der Praxisbegriff der aristotelischen Tradition und der Praktizismus der Prämoderne. In: Studia Leibnitiana, Bd. 1, Suppl. XIX (1980), S. 41-59, hier bes. S. 51.

105 auch an der katholischen Reform nicht wirkungslos vorüber;70 und wenn ein zeitgenössischer katholischer Beobachter die Nützlichkeitsemphase despektierlich als nicht sehr vornehm charakterisierte (quaerere enim omnibus in rebus utilitatem, minime convenit viris magnanimis, atque ingenuis) und seine Hochschätzung der profanen Bildkunst unter anderem damit begründete, daß sie dem Menschen die Betrachtung der Naturschönheit ermögliche (Quia reddit hominem contemplatorem pulchritudinis quae in corporibus versatur),71 dann muß dies bereits im späten 16. Jahrhundert als ein ebenso vereinzelter wie schwacher Protest gegen das allgegenwärtige utilitaristische Denken gelten.72

1.5.

Indifferenz als Attitüde

Luther betonte nachdrücklich den Umstand, daß Christus sagt, sein Reich sei nicht von dieser Welt (hinc seu de hoc mundo), und daß er nicht sagt, es sei nicht in dieser Welt (hic seu in hoc mundo). Der Mensch lebt zwar in der Welt, doch soll er nicht weltlich leben, das heißt ihr nicht verfallen (vgl. 1 Cor. 6, 12), sie aber ebensowenig verdammen. Dies ist der von Luther anvisierte und von der protestantischen Orthodoxie stets mit klarem Bewußtsein beschrittene evangelische Mittelweg christlicher Freiheit (Christiano per medium eundum) als eine nur dem Gerechtfertigten mögliche Distanzhaltung zur Welt. Ein derartiges hypothetisches Weltverhältnis der Adiaphorie, das die Haltung des erlösten Christen im Unterschied zu den dieser Welt Verfallenen charakterisiert, erfüllt sich jedoch nicht in seelischer Gleichgültigkeit (Apathie als psychische Adiaphorie), insbesondere nicht in solcher gegenüber dem Mitmenschen, sondern in Menschen, welche »pie et amanter adfecti« sind. »Deus detestatur άπάϋειαν illam [...] Pereant igitur fanatici illi cum sua απάθεια«. 7 3 Auf diesen Gedanken gründete sich die gleichzeitige Verurteilung der Prinzipien der epikurischen und antinomistischen Lehre wie auch der stoischen Ethik und des mönchischen Lebensideals. Während Epikureer und Antinomisten für libertinistische Weltverfallenheit stehen (quilibet sibi quod libet licere putat, nec dignitatis suae, nec honestatis ratione habita),74 verkennen Stoiker und Mönche mit ihrer Ablehnung 70

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Vgl. dazu Hubert Jedin: Entstehung und Tragweite des Trienter Dekrets über die Bilderverehrung. In: Theologische Quartalschrift 116 (1935), S. 143-188 u. S. 404-429, hier bes. S. 423f.: Die Hervorhebung des praktischen Lebenswertes der Bilder und der Bilderverehrung habe den Reformbestimmungen des Trienter Dekretes »recht eigentlich« ihr Gepräge gegeben, womit eine »lange und folgenschwere Entwickelung in der kirchlichen Kunst des Zeitalters der Gegenreformation eingeleitet« wurde. G. Paleotti: De imaginibus sacris, et profanis [...] libri quinque, lib. I, c. 6, S. 28. Schwach war dieser Protest vor allem deshalb, weil für Paleotti neben diesen kontemplativen Aspekt, dem er ein wenig Raum gewährte (vgl. dazu weiter unten Kapitel IV.1.5.), beherrschend die traditionellen, moderat gegeneinander abgewogenen Dienstfunktionen des >prodesse< und >delectare< traten (Paleotti: De imaginibus sacris, et profanis, lib. I, c. 21, S. 91; lib. II, c. 30, S. 266f., c. 42, S. 328). Luther: Vorl. über 1 Mose 43, 6 (1535^»5), WA 44, S. 533. Luther: Vorl. über 1 Mose 24, 16-21 (1535^t5), WA 43, S. 334.

106 weltlicher Güter und der korrespondierenden Hochschätzung der mit der αταραξία (Seelenruhe) eng verwandten απάθεια (Affektlosigkeit), daß die Wurzel des Übels nicht in den Dingen, sondern im Menschen selbst liegt (extrema haec coecitas et foedissima ignorantia est, quod transtulerunt vicio, quae in homine sunt, ab homine ad creaturas, quae per se bonae sunt et Dei dona. [...] decepti illo falso principio, quod praesumebant hominem bonum et naturalia integra esse).75 Mit dem Argument, daß die natürliche Bonität der geschaffenen Dinge durch menschlichen Mißbrauch beeinträchtigt wird (natura peccato originali corrupta non potest frui rebus divinitus creatis et donatis sine abusu), wies Luther die bekannte philosophisch-theologische Sentenz: »Quae extra nos, nihil ad nos« (natürlich auch in der sinngemäß abgewandelten Form: >[...] maxime ad nosfinis ultimus< herausgenommen zu sein. Das bedeutete für Luther allerdings nicht, daß es für Gott Indifferentes gebe, welches nur nach seinem Nutzen oder Wert für den Menschen zu bewerten wäre (Neque enim apud Deum relinquitur medium inter iustitiam et peccatum, quod velut neutrum sit, quasi nec iustitia nec peccatum). Aber es gab für Luther eine indifferente Sphäre, die auf den Menschen hingeordnet war und nach rein menschlichen Maßstäben gemessen wurde (Apud homines sane ita habet res, ut media et neutralia sint, in quibus homines invicem neque debent quicquam, neque praestant quicquam).78 Doch unter welchem Vorzeichen hatte für Luther die Ausübung der Freiheit zu erfolgen? Er zitierte 1 Cor. 9, 20-22, wo nach seinem Verständnis das Wesen der christlichen Freiheit sprachlich unübertroffen (Quomodo potuit libertatem evangelicam clarius explicare?) durch gezielt eingesetzte Darstellungsmittel wie ώς und ώς μή, quasi, tanquam und tanquam non (als ob, als ob nicht) als Indifferenzhaltung gegenüber der Welt,79 das heißt gegenüber den neutralen Dingen, zum Ausdruck gebracht wird: »Factus sum ludeis tanquam Iudeus, ut Iudeos lucrifacerem; Iis, qui sub lege sunt, quasi sub lege essem, cum ipse non essem sub legem; Iis, qui sine lege erant, tanquam sine lege essem.«80 Hierher gehört, im 75 76 77 78 79

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Luther: Vorl. über 1 Mose 13, 2 (1535-45), WA 42, S. 495. Luther: WA 42, S. 497, 510. Luther: WA 43, S. 331,334. Luther: De servo arbitrio (1525),WA 18, S. 600-787, hier S. 768. Luther: WA 2, S. 478; vgl. auch: Operationes in Psalmos (1519-21), WA 5, S. 1-673, hier S. 424f. Luther: WA 2, S. 478.

107 Zusammenhang mit der Ermahnung, >fratres, tempus breviatum estώς μή-Paränesec 81 »ut et qui habent uxores, tamquam non habentes sint, et qui flent, tamquam non flentes, et qui gaudent, tamquam non gaudentes, et [...] qui utuntur hoc mundo, tamquam non abutentes« (1 Cor. 7, 29-31). 82 Die wie alles rechte Handeln aus dem Glaubensgehorsam erwachsende Grundhaltung des Gerechtfertigten der Welt gegenüber ist desinteressiert, gelassen, ungeschäftig (non sollicita), »in omnibus eadem, equabilis, indifferens«. 83 Ebenso äußerte sich Luther in der Nachschrift zur ersten Galatervorlesung: »Libertas in Christo est prorsus nullo externo opere alligari, sed ad quodlibet libere et indifferenter se habere« (mit der schon oben angedeuteten, maßgeblichen, bereits von Paulus der stoischen Indifferenz gegenüber dem Mitmenschen entgegengesetzten Einschränkung: »nisi ubi sola Charitas fraterna requirat«). Und vom Christen, der schließlich in der Welt im Exil lebt, heißt es (mit Gal. 3, 28): »>non est Uber neque servus neque Iudeus neque gentilis, non est masculus neque feminasola fidelibertinistischen< Uminterpretation christlicher Freiheit in weltliche WillkürGötzenwerke< zu bekämpfen, diese physisch aber unangetastet zu lassen, wurde zunächst zu einer menschlichen Eigenmächtigkeit erklärt122 und kurz darauf als offene Verteidigung des Götzendienstes verurteilt.123 Nach calvinistischer Auslegung des Dekalogs unterscheidet dieser ausdrücklich die »Nichtanbetung der Götzen« von der »Wegthuung der Götzen«. Dem Gebot, die Götzen >wegzutunUnordentlichkeit< des physischen Bilderstürmens (»Lieber, es ist nicht zu schertzen 122

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Abraham Scultetus: Kurtzer aber schrifftmessiger Bericht von den Götzenbildern: an die christliche Gemein zu Prag, als auß königlicher Majestät gnädigstem Befehlich die Schloßkirch von allem Götzenwerck gesäubert worden, gethan Sontags den 12/22. Decembris deß 1619. Jahrs. Prag 1620, fol. Ciij r . - Der Text dieser Predigt wurde nicht nur in Scultetus: Vindiciae, oder gründtliche Rettung der kurtzen und schriftmässigen Predigt [...]. Hanau 1620, hier S. 130, wiederabgedruckt, sondern auch in diversen Gegenschriften von lutherischer und katholischer Seite; vgl. ζ. B. Balthasar Hager, S.J.: Wiederlegung deß kurtzen, aber nicht schrifftmässigen Berichts Abrahami Sculteti, von den vermeinten Götzenbildern [...]. Meyntz 1620, hier S. 82. Scultetus: Vindiciae, oder gründtliche Rettung, S. 292f„ 302, 367 u. ö. Scultetus: Vindiciae, oder gründtliche Rettung, S. 293, 297, 300, 373. Luther: WA 18, S. 67. Vgl. J. J. Berns: Die Macht der äußeren und der inneren Bilder. Momente des innerprotestantischen Bilderstreits während der Reformation. In: Begrifflichkeit und Bildlichkeit der Reformation. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1992, S. 9-37. Luther: Ein Brief an die Christen zu Straßburg wider den Schwärmergeist (1524), WA 15, S. 391-397, hier S. 395. Vgl. Johann N. Hess: Gründtliche Ablehnung dero XX. auß Luthero fälschlich zusammen geflickten, und zu Marpurg underschiedlich abgedruckten Fragen und Antwort vom Brotbrechen, etc. In welcher D. Luthers beständige Meynung vom Bilderbrechen, Brotbrechen, und andern verwandten streitigen Puncten, auß seinen selbst eygenen Schriffien treulich zusammen getragen, dargegen der falschgenannten Lutheraner, aber wolbekannten Calvinianer Betrug und Tück, so sie unter D. Luthers Namen und Schriffien üben, entdeckt [...]. werden [...]. Glessen 1606, S. 16.

117 mit er Omnes, drumb hat Got öberkeyt wollen haben«). Seine Ausführungen sollten primär dem Nachweis dienen, daß Bilderstürmer »eygentlich widderumb werck und freyen willen« lehrten und daß ihre neue Werkheiligkeit darüberhinaus inkonsequent sei.129 Versteht man nämlich das Verbot religiöser Bilder der ersten Tafel des Dekalogs (Exod. 20, 4; Dt. 4, 14-19; 5, 8) nicht als zeitliche, im Neuen Testament aufgehobene und damit freie Zeremonie,130 sondern wie Bodenstein131 oder Huldreich Zwingli (1484—1531)'32 und der Zwingli-Schüler Ludwig Hätzer (ca. 1500-1529)133 in Zürich und Martin Bucer (1491-1551) 134 in Straßburg als natürliches Gesetz mit unabdingbarer Geltung für Christen, dann ergibt sich daraus die Notwendigkeit, auch alle anderen mosaischen Gebote einzuhalten. Gerade an diesem Nachdruck, mit dem auf calvinistischer und zwinglianischer Seite die Gliederung der Gebote beider Tafeln behandelt wurde - »non de numero, sed secandi ratione ambigitur«, betonte schon Calvin läßt sich die eigenständige dogmatische Bedeutung, die man der Bilderfrage zumaß, am unmittelbarsten ablesen.135 Auf lutherischer Seite war die Frage der Einteilung des Dekalogs dezidiert ins Indifferente verschoben worden. Im übrigen betrachtete Luther Karlstadts Position als komplementär zur Position der Papstkirche; beide würden >die christliche Freiheit brechenconceptus mentis< (species intelligibiles) in prägnanter Weise als natürliche, der inneren Anschauung erscheinende Dingzeichen verstanden: »Sunt enim rerum naturales similitudines interiori visioni apparentes: sive res presentes sint intelligenti sive non«.153 Im vorliegenden Zusammenhang ist allerdings Luthers These von der Adiaphorie der Bilder - auch der inneren, geistigen Bilder - und des anschaulich Zeichenhaften wichtiger, und die Bedeutung dieser These kann erst dann richtig eingeschätzt werden, wenn man sie mit radikal spiritualistischen Anschauungen, wie sie auf reformierter,154 aber auch katholischer Seite vertreten wurden,155 vergleicht. 151 152

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Luther: Sermone aus den Jahren 1514-1517, WA 1, S. 30. Luther: WA 1, S. 23; vgl. auch WA 4, S. 193: »fides verbum est rerum futurarum, i. e. argumentum et signum«; WA 9, S. 630: »Diß zceychen ist allein das worth, dan es kan mir nymanth das geben, darvon ich rede, Sunder man gibt mir allein eyn zceychen des dingß. Also wirdt Christus ein wordh, das bringt mitt sich der Engel«; WA 40/3, S. 623, und insgesamt WA 68, S. 542f. (Einträge Π.6.). J. Trutfetter: Summule totius logice: quod opus maius appellitare libuit, lib. 1, c. 1, fol. Dij"; vgl. auch lib. 1, c. 3, fol. Tij'. Vgl. ζ. B. Sebastian Francks harte Kritik am lutherischen Schriftglauben, den er als abergläubische Bibliolatrie und Bilderglauben verwarf, weil der Buchstabe der Schrift für ihn nur ein endliches, geistloses Bild des ewigen Wortes war (S. Franck: Sämtliche Werke. Bd. 4, S. 235, 246 u. ö.). Ebenso Caspar Schwenckfeld: Catechismus vom Worte des Creützes, und vom unterschaide des Worts, des Gaists, und Buchstabens (1545). In: Corpus Schwenckfeldianorum. Vol. IX. Leipzig 1928, S. 448-493, hier S. 455^158: Das »eusserlich vergencklich Wort der schlifft oder deß Buchstabens« und das »innerlich ewig Wort des Gaists« verhalten sich zueinander nur wie das »eusserlich bilde« zur unsichtbaren »Wahrheit«, der Geist ist weder im noch bei dem bildhaften Buchstaben (ebensowenig wie der Leib Christi im oder beim sichtbaren Abendmahlsbrot gegenwärtig ist). »Es kommet auch nicht ains auß dem andern, der Gaist kommpt nicht äussern buchstaben, noch der himmel auß der erden, wie denn auch ains nicht mit dem andern vermengt, noch im andern als der kern inn der schalen [...] ist«. Vgl. auch C. Schwenckfeld: Der XCVII. Sendbrieff [...] von Bildern, Gemähide, und den Ceremonien der Kirchen (1553). In: Ders.: Epistolar [...]. Der erste Theil [...]. o.O. 1566, S. 844: Bilderstürmerische Zwinglianer und bibelgläubige Lutheraner sehen nicht, daß alle kreatürlichen Dinge, einschließlich der hl. Schrift, nur »Bilder sein, gegen die warheit [...] des unsichtbarlichen Gottes«. Schwenckfeld war sich

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1.8.

Die Sichtbarkeit der Kirche und die Indifferenz der Welt

Nach der Lehre Luthers war das Verhältnis der Kirche als Ganzes zur sichtbaren Welt dasselbe wie für jeden einzelnen Gläubigen: Die wahre christliche Kirche ist zwar eine rein geistliche Gemeinschaft der Gläubigen, sie existiert aber auch noch in der sichtbaren Welt und hat daher also selbst eine sichtbare Seite. Dies machte Abgrenzungen sowohl nach reformiert-spiritualistischer als auch nach römisch-katholischer Seite erforderlich und führte in dieser doppelten Frontstellung zur Ausbildung der für die lutherische Lehre so bezeichnenden Indifferenzhaltung gegenüber allem Sinnlich-Weltlichen. Gegen die spiritualistische Position mußte die Unentbehrlichkeit des Sinnlichen verteidigt werden; gegen die katholische Seite, welche die Notwendigkeit des Sinnlichen betonte (Corpus ergo et locum necessario habebit Ecclesia), machte Luther geltend, daß das Leben im Fleische nicht zu einem Leben nach dem Fleisch werden dürfe: »Quanquam Ecclesia in carne vivat, tarnen non secundum carnem vivit [...]. Ita in loco, rebus operibusque mundi versatur, sed non secundum haec aestimatur.«156 Christus hatte mit seinen Worten, das Reich Gottes komme nicht so, daß man es mit Augen sehen könne (Lc. 17, 20), jede Räumlichkeit aufgehoben. Diese prekäre Beziehung zwischen notwendigem Spirituellen und indifferentem, aber unentbehrlichen Sinnlichen konnte Luther nur paradox darstellen: »sine loco et corpore non est Ecclesia, et tarnen corpus et locus non sunt Ecclesia neque ad eam pertinent.« Anders formuliert: Kirche und Gläubige bedürfen keines bestimmten Brotes, keiner bestimmten Kleidung und keines bestimmten Ortes; doch überhaupt ohne Brot, Kleidung und Ort können sie nicht sein: »non queant vivere in hoc seculo, sed omnia sunt libera et indifferentia [...] omnis locus Christiano quadrat et nullus locus Christiano necessarius est.« In dieser Sphäre regiert die Freiheit des Geistes, »quae facit omnia indifferentia, nulla necessaria quaecunque corporalia et terrena sunt«.157 Die Ubiquifizierung des Heiligen hob alle Sakralität auf Seiten materieller Gegenstände (Kirchenraum, etc.) auf und bedeutete, daß kein bestimmter Ort religiös wesentlich ist, jeder beliebige Raum, ohne Unterschied, ist gleich und als solcher notwendig. Daran sei jedoch nichts verwunderlich (Et quid hoc mirum?): Auch der Mensch muß, um als Mensch existieren zu können, körperlich nicht an einem ganz bestimmten Ort sein, er kann überall sein. Luther weitete diesen Gedanken kosmologisch im Sinne einer Gehorsamsunmittelbarkeit alles Kreatürlichen gegenüber Gott aus, und zwar in loser Anlehnung an das ockhamistische Modell, demzufolge ungeachtet des Umstandes, daß die Einzeldinge in der Welt durch sich selbst einander zugeordnet

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erklärtermaßen bewußt, daß die spiritualistische Kritik des Schriftprinzipes zugleich ein rein historisches Bibelverständnis begründete. Vgl. ζ. B. den 1687 verurteilten Satz von Michael de Molinos: »Qui in oratione utitur imaginibus, figuris, speciebus et propriis conceptibus, non adorat Deum in spiritu et veritate« (Denz., n. 2218). Luther: Ad librum [...] Ambr. Catharini defensoris S. Prieratis [...] responsio (1521), WA 7, S. 719. Luther bezieht sich auf die »Apologia« von Ambrosius Catharinus (Lancelotto Politus). Luther: WA 7, S. 720.

122 sind und aufeinander wirken, in der Wirklichkeit kein Ding vorstellbar sei denn als Absolutes (in re nihil est imaginabile nisi absolutum vel absoluta).158 Mit Wilhelm von Ockhams Bestreitung der erkenntnisunabhängigen Eigenrealität von Relationen (relatio non est alia res sed tantum est in intellectu) und seiner gleichzeitigen Zurückweisung des Gedankens einer Einheit und Geordnetheit, die erst durch den menschlichen Verstand gestiftet werden, war gerade nicht ausgeschlossen, daß die Welt einheitlich und geordnet ist. Beides, die Bestreitung der Existenz eines dinghaften Beziehungsnetzes wie die Behauptung, daß Beziehungsbegriffe in der Seele sind und zu der zwischen den Dingen bestehenden Einheits- und Ordnungsbeziehung, die sie begrifflich ausdrücken, selbst nichts beitragen,159 diente jedenfalls nicht der vorrangigen Betonung einer chaotischen Zusammenhangslosigkeit der vorgefundenen einzelnen Weltbegebenheiten. Über diese Annahmen ging Luther für seine Beweiszwecke insofern noch hinaus, als er keine Sache in der Welt mit einer anderen derart eng und notwendig verbunden sein ließ, daß ihr wechselseitiges Verhältnis nicht auch beliebig anders sein könnte (quae res mundi necessario alii adhaeret et alligatur, ac non potius libere et indifferenter se quaelibet ad quamlibet habet?). Daher konnte ihm die ganze Schöpfung als von der Freiheit des Geistes erfüllt erscheinen (ut libertate spiritus plena appareat tota creatura). Die Indifferenz der Weltdinge gegeneinander ist nur die andere Seite der Immediatrelation des Gehorsams. Da die Freiheit des Geistes zuhöchst der Kirche eignet, kann die wahre Kirche Christi nicht an bestimmten sinnlichen Zeichen, wie zum Beispiel an bestimmten Orten oder Personen, an die sie notwendigerweise gebunden wäre, zu erkennen sein. Die notwendigen Erkennungszeichen der Kirche Christi sind allein Taufe, Abendmahl und Evangelium.160 Das Dringen auf »Anbetung im Geist< trug - anders als in den spiritualistischen Richtungen161 - im orthodoxen Luthertum jedenfalls keinerlei liturgiezerstörende Tendenz in sich. Geist stand 158

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Guillelmus de Ockham: Scriptum in librum primum sententiarum, d. 30, q. 1 (Opera theologica. Vol. IV. St. Bonaventura, New York 1979, S. 309,316, 321). Ockham: In I Sent., d. 30, q. 1 (IV, S. 316f.): »simpliciter concedendum est quod intellectus nihil facit ad hoc quod universum sit unum vel quod totum sit compositum [...] vel quod triangulus habeat tres etc., et sie de aliis, non plus quam facit ad hoc quod Sortes sit albus«. Luther: WA 7, S. 720. Die Möglichkeit einer sichtbaren christlichen Kirche in der Gegenwart wurde radikal geleugnet, so beispielsweise von Franck in seinem berühmten Brief an den Antitrinitarier Johannes Campanus (1500-um 1575) vom 4. Febr. 1531: Der Voraussage des Apostel Paulus gemäß seien gleich nach dessen Ableben die Wölfe in die Herde des Herren eingefallen. »Ich glaub [...] fästiglich das die eusserliche kirch Christi, anstundt nach den Apostlen, verwüstet und zerstört« und daher seit 1400 Jahren präzis »nirgent« sei, vgl. Franck: Zween Sendbrieff [...] von auffhebungen aller Kirchen Ordnungen und policey. In: [Johann von Ewich] Von dem Kindertauff, bestendiger und klarer Gegenbericht [...]. o.O. 1563, Bl. Bbl v , Ffl r , Ggl r . Der Brief an Campanus ist nur in frühneuhochdeutscher lind niederländischer Übersetzung überliefert, das lateinische Original (bis auf ein Fragment aus dem 17. Jahrhundert) nicht mehr erhalten (vgl. Kaczerowsky: Sebastian Franck Bibliographie, Nr. A 176). Der 2. Brief (v. 15. Mai 1540 bzw. 1541 o. 1542) ist an die Christen in der Eifel gerichtet. (Neuausgabe in: Quellen zur Geschichte der Täufer. Bd. 7: Elsaß. Teil 1. Hg. v. Manfred Krebs u. Hans-Georg Rott. Gütersloh 1959, S. 301-325).

123 nicht in Opposition zu äußerer Form. Joh. 4, 24 wurde nicht dahin ausgelegt, daß die Anbetung Gottes im Menschengeist, im reinen, unanschaulichen Denken Gottes vor sich gehen müsse. Der Geist, von dem hier die Rede ist, ist der Geist Gottes selbst, und dieser Geist ist gleichgültig gegen die äußere Form, in der sich die Anbetung vollzieht.162 Gottesdienst definierte Luther als allseitigen und umfassenden Gehorsam und dehnte ihn dann kosmologisch auf alle Kreaturen aus: Die doch auch im gehorsam Gottes daher gehen. Denn da sehen wir, das Sonn und Mon, die Erd und alles daher gehet in dem, das sie unser Herr Gott geheyssen hat. Also das Wasser auch, Was hat es fur ein befelh? [...] Es sol Fisch bringen [...] Was thut nun ein blümlein? Was ist sein befelh? Änderst nicht, denn das es sol da stehn und lieblich sehen und [...] sich ansehen unnd nützen lassen.163

Im Gehorsam lag ein »geistlicher Schmuck« der Schöpfung insgesamt und des Menschen im besonderen. Der Handlungsraum der Freiheit des gerechtfertigten Christen war eng bemessen, die evangelische Freiheit primär und vor allem Gewissensfreiheit. Wurde diese Freiheit als Freiheit in indifferenten Zeremonialdingen verstanden, dann unterlag sie dem Gebot der Liebe, welches allerdings ständig in Gefahr war, im Sinne eines banausischen Nützlichkeitskonzeptes ausgelegt beziehungsweise verengt zu werden. Man darf der Versuchung nicht erliegen, die gelegentlich allerdings sehr weitgehenden Aussagen Luthers über die kontradiktorische und konträre Freiheit des Tuns und Lassens im Bereich des religiös Gleichgültigen, den Luther gerne auch als den Bereich des trügerischen »eusserlichen scheyns«, der Verfuhrung und des »eytel narrn wergs«, des »gauckelwercks« oder des »Sophistischen« bezeichnet hatte,164 überzubewerten: »wyr sind widder Bepstisch noch Carlstadisch, sondern frey und Christisch [...] Drümb soils frey seyn, wem es gelüstet zu thun und zu lassen, [...] wie, wo, wenn, wie lange es uns gelüstet, wie uns Gott die freyheyt hat geben, [...] Hie sind wyr herrn und leyden keyn gesetz, gepot, lere nach verbot«.165 Die Radikalität solcher und vergleichbarer Aussagen erklärt sich oftmals vor allem aus dem situativen Bedürfnis, die eigene Position klar und unmißverständlich abzugrenzen. Indes ist hier wie an vielen anderen Stellen der Sache nach durchaus von menschlicher Indifferenzfreiheit im religiös Indifferenten die Rede, auch wenn Luther den Augustinus noch unbekannten, der hochscholastischen und der Theologie und Philosophie seiner Zeit aber durchaus geläufigen Ausdruck »libertas indifferentiae«166 selbst nicht verwandt hat. In die Charakterisierung der >liber162 163 164

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Vgl. dazu Kalb: Die Lehre vom Kultus, S. 129f. Luther: WA 52, S. 472. Luther: WA 18, S. 109, 116, 119, 120, 122: Karlstadt sei »ym eusserlichen scheyn ersoffen«; 124, 125 u. ö. Luther: WA 18, S. 112f. Vgl. Johannes Altenstaig: Vocabularius theologie complectens vocabulorum descriptiones, diffinitiones et significatus ad theologiam utilium [...]. Hagenau 1517, v. >Libertaslibertas contradictionis< und die >libertas contrarietatisfalschen< Mitteldinge anzunehmen. Zu den letzteren haben die Flacianer primär nicht diejenigen Dinge gerechnet, die nur aufgrund bestimmter Umstände zu falschen Adiaphora geworden waren, sondern vornehmlich solche, die wie bestimmte dogmatische Lehrstücke ihrem Wesen nach nicht als Mitteldinge aufgefaßt werden konnten.6 Ein beträchtlicher Teil der zeitgenössischen Schriften, die im Titel auf Adiaphora und Adiaphorismus verweisen, befaßt sich mit derartigen Gegenständen. Der Status quaestionis wurde von flacianischer Seite dahin bestimmt, ob in der Zeit der Verfolgung und im Bekenntnisfall, in dem man es nicht mit Brüdern, sondern mit Glaubensgegnern zu tun hat, welche die evangelische Glaubenslehre verbieten und wahre Christen verfolgen, ein Vergleich hinsichtlich der an sich adiaphorischen Zeremonien, deren Wiedereinführung Papst oder Kaiser jedoch »als Gottesdienste geboten« haben, möglich sei.7 Hier ging es 4

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Vgl. dazu die Einfuhrung von Joachim Mehlhausen zu dem von ihm herausgegebenen Text: Das Augsburger Interim von 1548. Nach den Reichtagsakten deutsch und lateinisch. 2., erw. Aufl. Neuenkirchen-Vluyn 1996, und J. Mehlhausen: Der Streit um die Adiaphora. In: Bekenntnis und Einheit der Kirche. Studien zum Konkordienbuch im Auftrag der Sektion Kirchengeschichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie hg. v. Martin Brecht u. Reinhard Schwarz. Stuttgart 1980, S. 105-128. Die Leipziger und Wittenberger Adiaphoristen haben später in der Weitläufigkeit und Allgemeinheit, mit der die Flacianer den Ausdruck >adiaphoron< gebraucht haben, nämlich gleichbedeutend mit >menschliche Satzungen< (genus pro specie und species pro genere), allerdings Arglistigkeit und den aus Mutwillen entstandenen Versuch gesehen, sich und »ire neue Kirche« dergestalt dem schuldigen Gehorsam gegenüber der christlichen Obrigkeit zu entziehen. - Vgl. Endlicher Bericht und Erklerung der Theologen beider Universiteten, von Leipzig und Wittemberg, auch der Superintendenten der Kirchen in des Churfürsten zu Sachsen Landen, belangend die Lere, so gemelte Universiteten und Kirchen von anfang der Augspurgischen Confession bis auff diese zeit, laut und vermüge derselben, in allen Artickeln gleichförmig, eintrechtig und bestendig gefiiret haben [...]. Wittemberg 1570, Bl. 138', 139r. Als Verfasser dieser Schrift gilt der kursächsische Theologe Heinrich Moller (1530-1589), sie gehört in den Umkreis des Kolloquiums zu Altenburg. Schlüsselburg: Catalogi haereticorum [...] liber ΧΠΙ, fol. 691. Vgl. ζ. B. Nicolaus von Amsdorff: Das Doctor Martinus kein Adiaphorist gewesen ist, und das D. Pfeffinger und das buch on namen ihm, gewalt und unrecht thut. Magdeburg 1550, Bl. Bij"v.

129 (soweit e s den Gegenstand vorliegender Arbeit betrifft) vornehmlich u m die Unterscheidung z w i s c h e n wahren und falschen, das heißt soviel w i e e r d i c h t e t e m Mitteldingen, dann u m die Frage der v o n katholischer Seite als schlechthin n o t w e n d i g erachteten Redintegration 8 bereits abgeschaffter altkirchlicher 9 Zeremonien, und schließlich auch u m das Problem der Verdienstlichkeit (der sogenannten »opera supererogationis«), das mit der als heilsnotwendig gebotenen Einhaltung kirchlich eingeführter Riten und Zeremonien (»neue cultus, neue Articulos fidei, neue praecepta bonorum operum ad salutem necessaria«) 1 0 e n g verknüpft war. Damit war sofort der radikale Passivismus der protestantischen Gnaden- und Rechtfertigungslehre in Gefahr, hieß doch, die Liebe Gottes, v o n der Paulus sprach ( R o m . 5), »auff unser liebe g e g e n Gott active, Qua nos D e u m complectimur«, auslegen und damit d e m M e n s c h e n etwas zusprechen, » d e m Son Gottes sein ehr und ampt rauben«. 11 D i e Suggestion z u erzeugen, daß es in den Interimsstreitigkeiten nur u m » g e ringe mittel und unnötig ding« w i e den Chorrock gehe, 1 2 gehörte für Nikolaus v o n A m s d o r f f (1483—1565) 1 3 und Matthias Flacius Illyricus ( 1 5 2 0 - 1 5 7 5 ) , 1 4 die standhaften Wortführer der Ablehnungsfront, w e l c h e ihre B e z e i c h n u n g als »hal-

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Der Römischen Kaiserlichen Maiestat erclärung, Bl. Hiijv—Iijr; vgl. Braun: De caeremoniis libri sex, lib. I, c. 2 (Opera tria, S. 8): »nostris temporibus omnium maxime necessarium erit, ut non solum imagines, sed omnes prope ritus divini cultus, [...] quos impius et sacrilegus haereticorum furor perturbavit, et quosdam etiam penitus destruxit et abolevit, redintegrentur, et in priorem ordinem et nitorem reponantur«. Den Ausdruck >altkirchlich< benutzte bereits die zeitgenössische katholische Kontroversliteratur, vgl. ζ. B. Michael Heiding: Von der hailigisten Messe fünffzehen Predige, zu Augspurg auff dem Reichsztag, im Jar M.D.XLVIII. gepredigt [...]. Durch Michaeln Bischoff zu Sidonien, Meintzischen Suffraganeen. Ingolstat 1548, Bl. aijv (Altkirchische warheit, Altkirchische leer), 32' (altkirchische handlung) u. ö. Johann Amsterdam (Timann): Was vor grosse und mannichfaltige sünde, Unehre und ferlickeit, alle diejenigen so das Interim odder Adiaphora annemen [...] auff sich laden. o.O. 1549, Bl. Ci', vgl. Bl. Dir (Klaiber, Nr. 46, hat diese Schrift fälschlich dem bereits 1544 verstorbenen holländischen Humanisten Alardus Amstelredamus zugeschrieben). - Vgl. Bekentnuss unnd Erklerung auffs Interim durch der erbam Stedte, Lübeck, Hamburg, Lüneburg, etc. Superintendenten [...] (1548). Magdeburg 1549, Bl. ΧΠΓ: »alle Adiaphora [...] solten werck Supererogationis sein«. Amsterdam: Was vor grosse und mannichfaltige sünde, Bl. Bijv, Biiij': »wir künnen fur Gott nicht verdienen, das er uns was solte schuldig seyn, denn wir seind seyne knechte, das wir thun ist alles schuldige pflicht«, d. h. es ist nur ein »opus necessariae obedientiae und nicht supererogationis«. Amsdorff: Das Doctor Pomer und Doctor Maior mit iren Adiaphoristen ergemis unnd zur trennung angericht, unnd den Kirchen Christi, unüberwintlichen schaden gethan haben. Derhalben sie und nicht wir zu Magdeburg vom Teuffei erwegt sein, wie sie uns schmehen und lestem [...]. o.O. 1551, Bl. Aiij1. Zu Amsdorff vgl. Emst-Otto Reichert: Amsdorff und das Interim. Erstausgabe seiner Schriften zum Interim mit Kommentar und historischer Einleitung. Theol. Diss. HalleWittenberg 1955 (masch.). Zu Flacius (Matija Vlacic; Frankovich) vgl. immer noch Wilhelm Preger: Matthias Flacius Illyricus und seine Zeit. 2 Bde. Hildesheim, Nieuwkoop 1964 (Nachdruck der Ausgabe Erlangen 1859). - Peter F. Barton: Matthias Flacius Illyricus. In: Gestalten der Kirchengeschichte. Hg. v. Martin Greschat. Bd. 6. Die Reformationszeit II. Stuttgart, Berlin u. a. 1981, S. 277-293.

130 starrige Stoici« w i e einen Ehrentitel trugen, 1 5 bereits w e s e n s m ä ß i g zur Strategie der adiaphoristischen Interimisten: » E s m a g w o l sein, aber sieh du armer Christ [...], w i e w e i t dieser Chorrock sey, nemlich, das er den gantzen Antichrist bedecket«. 1 6 Flacius hegte die Befürchtung, j a sah den Fall bereits eingetreten, daß die >Interimisten< und >AdiaphoristenRottenfuhrers< und >Lästeres< Flacius (»der Lesterer Illyricus sampt seiner Rotten«, Bl. Giiij', u. passim), widmete Menius einen Großteil seiner Ausführungen (vgl. Bl. Hi'-Kiij r ). Synodus avium depingens miseram faciem ecclesiae propter certamina quorundam qui de primatu contendunt, cum oppressione recte meritorum. Item: Hortus Libani [...]. o.O. 1558; auch in J. Maior: Operum pars prima. Wittebergae 1574, fol. T2V—Vlr. (Das Greifswalder Exemplar der Opera enthält handschriftliche Erläuterungen von [Ambrosius?] Willich zu den Vogelmasken). Dieses ursprünglich anonym (Wittenberg 1557) publizierte Carmen wurde falschlich u. a. Melanchthon zugeschrieben und ist daher auch im Corpus Reformatorum abgedruckt (vgl. CR 20, coli. 767-776). Ich nenne als Beispiel nur: Flacius (Hg.): Etliche Brieffe, des ehrwirdigen Herrn D. Martini Luthers seligen gedechtnis, an die Theologos aufF den Reichstag zu Augspurg geschrieben, Anno 1530. Von der Vereinigung Christi und Belials, auss welchen man viel nützlicher Lehr in gegenwertiger gefahr der Kirchen nemen kan, verdeudscht. Item etliche andere schrifften, nützlich und tröstlich zu lesen. o.O.o.J. (um 1549). - Sententia reverendi viri D. M. Lutheri sanctae memoriae de adiaphoris ex scriptis illius collecta, per M. Joachimum Westphalum [...]. Magdeburg 1549 (dtsch. 1550). - Amsdorff: Etliche sprüche aus Doctoris Martini Lutheri Schriften, darinne er, als ein Adiaphorist sich mit dem Bapst hat vergleichen wollen. o.O. 1551 (natürlich ironischer Titel). Vgl. ζ. B.: Eine Schlifft der Theologen zu Wittenberg, an die Prediger zu Nürnberg, Anno 1540. Widder die Adiaphoristen geschrieben, daraus man sehr wol verstehen kan, wie fein gemess den vorigen iren Handeln sie itzt Adiaphorisiern, wie denn ihre ungrüntliche bericht, unverschemt leuget [...]. Magdeburgk 1550. Flacius: Gründliche Verlegung aller Sophisterey, Bl. Cij'.

139 N a c h einer Reihe gescheiterter Vermittlungsbemühungen w i e z u m Beispiel denen im anhaltinischen C o s w i g 6 0 und in Altenburg, 6 1 die nur n o c h zur stereotypen Ausformulierung und Bekräftigung längst verfestigter Positionen dienten, ist dieser flacianische Lehrbegriff, der die v o n den kursächsischen, philippistischen Theologen 6 2 weiterhin verworfene Überzeugung einschloß, daß Gott den Bereich der Zeremonien »in genere« geordnet habe, endlich auch in die abschließende symbolische Urkunde des Luthertums, die >Formula concordiae< ( 1 5 7 7 ) des Konkordienbuches v o n 1580, a u f g e n o m m e n worden. 6 3 W i e v i e l e seiner Zeitgenossen hat Flacius seine zahllosen Flugschriften überhastet, mit zumeist schwer erträglicher Redundanz und für g e w ö h n l i c h in gereiztem und ausfallendem Ton verfaßt. D i e s e Arbeiten haben in der Regel keine in sich geschlossene, auf ein Thema zentrierte Form, sondern reihen in unsystematischer F o l g e einzelne Punkte der Traktate aneinander, auf die sie sich gerade polemisch beziehen. Mangelt es - nicht selten auch nach zeitgenöss i s c h e m Verständnis - diesen letzteren selbst bereits an e i n e m » g e w i s s e n Scop u m oder Proposition, darauff alle andere stück, als z u irem gebürlichen ende 59

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Ich nenne nur: Johann Pfeffinger: Grüntlicher und warhaffiiger Bericht der vorigen und jetzigen, fur und nach dem Kriege ergangen Handlungen, von den Adiaphoris oder Mitteldingen. Sampt einer christlichen kurtzen Verantwortung. Leipzig 1550. - Flacius: Von der einigkeit derer, so für und wider die Adiaphora in vorgangenen Jaren gestritten haben, christlicher einfeltiger bericht, sehr nützlich zu lesen. o.O.o.J. (1556). - Flacius: Auff das ausschreiben der zweien Universiteten, und die invectivam scholasticorum, Antwort [...], darin die Adiaphoristen aus iren eigen Schrifften und Zeugnissen, irer greulichen Bulerey mit der babylonischen Bestien uberwiesen werden [...]. Jhena 1558. Vgl. die Acta Cosvicensia (1557). In: Melanchthon: Opera quae supersunt omnia. Vol. IX (= CR 9). Halis Saxonum 1842, S. 23-72, und die von Flacius verfaßte (und von Gallus, Wigand, Aurifaber, Otto und Judex mitunterzeichnete) Schrift: Die fürnemste adiaphoristische irthumen, der waren Religion Verfälschungen und Ergemissen, aus iren eignen Schrifften und handlungen treulich zusamen gezogen. Mit einer Vorred etlicher treuen Lerer, so wider solche hochschedliche irthumen der babylonischen Bulerey bisher mit Gottes hülff gestritten haben [...]. o.O.o.J., Bl. Cij v -Ciij r . Mehrfache, umstrittene Publikation der Akten: Colloquium zu Altenburgk in Meissen, vom Artikel der Rechtfertigung vor Gott. Zwischen den churfürstlichen und fürstlichen zu Sachsen etc. Theologen gehalten. Vom 20. Octobris anno 1568. bis auff den 9. Martij, anno 1569. Es ist auch von den zweien hinderstelligen Artikeln, nemlich vom freien Willen, und von den Mitteldingen [...] hinzu gedruckt. Jhena 1569. - Eine Teilausgabe davon: Von den Adiaphoren oder Mitteldingen. Bekendtnis der fürstlichen sechsischen Theologen. Jhena 1570. - Lat.: Colloquium Altenburgense de articulo iustificationis. Inter electoris et ducis saxoniae theologos. A 20. Octobr. anno 1568 usque ad 9. Martij, anno 1569. Adiecti sunt et reliqui duo articuli, nempe, de libero arbitrio, et de adiaphoris, sicut eos in continuatione colloquij, ducis saxoniae theologi proposituri fuissent. Jenae 1570. - Vgl. dazu auch Heinrich Heppe: Geschichte des deutschen Protestantismus. Bd. 2. Marburg 1853, S. 227. Endlicher Bericht und Erklerung der Theologen beider Universiteten, Bl. 139v: »Nun sind aber die Adiaphoren nicht in Gottes wort geboten, denn sonst weren es weder traditiones humanae noch Mitteldinge, Sondern sind allein umb guter Ordnung willen von Menschen in der Kirchen gestiffiet, Derwegen kan ja die Bekentnis nicht stehen auff annemung oder Unterlassung der Adiaphom, es geschehe zur zeit der Verfolgung, oder sonsten zu anderer gelegenheit«. Formula Concordiae, Epitome, Art. X, und Solida Declaratio, Art. X (BSEK, S. 815, 1054). Vgl. dazu Franz H. R. Frank: Die Theologie der Concordienformel historischdogmatisch entwickelt und beleuchtet. Bd. 4. Erlangen 1865, S. 1-120.

140 und ziel können gezogen werden«, und liegt überdies »eine lange unordentliche Vermischung vieler dinge, oder ein gerümpel mancherley reden und Sprüchen, Hendeln, Geschichten, declamationen, schmehen, lestern und tichten« vor, dann wird wie im Falle von Flacius' Gründlicher Verlegung des langen Comments der Adiaphoristen (1560),64 seiner polemischen Auseinandersetzung mit den Acta synodica der Wittenberger Theologen,65 das Lesen zur Qual. Verglichen mit diesen Schriften, ist die Lektüre seines Liber de veris et falsis adiaphoris (1549), in dem er sich die ganze Materie »methodice« abzuhandeln vorgenommen hatte,66 geradezu wohltuend. Nach der vorangestellten allgemeinen Definition >wahrer Mitteldinge< werden Fragen nach der Existenz, dem Inhalt, der Einteilung und den Ursachen und Wirkungen von kirchlichen Mitteldingen beantwortet. Der zweite Teil des Werkes untersucht die >falschen Mitteldinge< (de praesentibus pseudadiaphoris) und vergleicht sie mit den >wahrenadiaphoron< und dem Wesen von indifferenten Dingen und Handlungen im allgemeinen erörterte Flacius vermittels der Bestimmungen der kontradiktorischen und konträren Indifferenz und - wie in dieser Zeit üblich - ohne jeden Hinweis auf die stoische Adiaphoralehre: Indifferent sind solche Handlungen (bzw. >DingeadiaphoronindifferensMitteldingadiaphoron< gesehen haben, die Berechtigung zur Übernahme des ursprünglich in der Sphäre des gemeinen Lebens angesiedelten, in der Bibel jedoch nicht belegten Ausdrucks77 für kirchliche Zwecke abgeleitet.78 73 74

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Gallus: Disputatio de adiaphoris, prop. 19 u. 20, fol. Cl v . Gallus: Disputatio de adiaphoris, prop. 15 u. 16, fol. Cl r . Die vier gebotenen Zeremonien waren: (1) traditio verbi, (2) administratio baptismi, (3) sacrae coenae und (4) potestatis ligandi et solvendi peccata (prop. 13, fol. B8 v -Cl r ), also Predigt, Taufe, Abendmahl und Sündenvergebung. Quod in Ecclesias emendatas nullae ceremoniae Papisticae [...] reduci debeant, § XI. Flacius: Liber de veris et falsis adiaphoris, fol. X3r (dtsch. Bl. Jij")· Johan Ihre und Michael Grönlund waren (1755) meines Wissens die ersten, die auf eine Okkurrenz des Wortes in den Apokryphen im Buch Jesus Sirach (Lib. Eccles. 27, 1) aufmerksam machten. Vgl. Ihre / Grönlund: Diss, grad., de cura principis circa ΑΔΙΑΦΟΡΑ, sect, prior, § 1, S. 5; sie hätten auch Lib. Eccles. 7, 19 nennen können. - Vgl. Liber Tobiae, Judith, Oratio Manassae, Sapientia, et Ecclesiasticus graece et latine cum [...] prolegomenis M. Johannis Alberti Fabricii [...]. Francofurti, Lipsiae 1691, Sir. 27, 1, interprete Johanne Drusio, S. 494a/b: »Χάριν άδιαφόρου πολλοί ήμαρτον« / »Propter bona fortunae multi peccant«. Sir. 7, 19, S. 402a/b: »Μή άλλάξης φ ι λ ο ν ένεκεν άδιαφόρου« / »Ne permutes amicum pecuniae caussa«. Luther übersetzte Sir. 7, 19 [20]: »Ubergib deinen freund umb keines guts willen«; Sir. 27, 1: »Denn umb guts willen thun viel unrecht« (WA DB 12, S. 168,218).

143 Die Frage nach den Ursachen der Mitteldinge behandelte Flacius streng nach dem viergliedrigen aristotelischen Ursachenschema von >causa efficienscausa materialise >causa formalis< und >causa finaliscausa finalis< und als deren unselbständiges Resultat.79 In der Antwort auf die eigentlich maßgebliche Frage nach dem Nutzen der Mitteldinge kommt die instrumentalistische Subordination der Form- unter die Zweckursache klar zum Ausdruck. Porro finalis causa talium caeremoniarum debet esse ea, quam Paulus 1. Cor. 14. praescribit, ut omnia decenter, ordine, et ad aedificationem fiant. Quaecunque ordine fiunt, ea etiam decenter fiunt, et quae ordine ac decenter fiunt, ea etiam ad aedificationem spectant, ita ut sub aedificationis nomine tota finalis caeremoniarum causa contineri videatur.80 [Die Zweckursache solcher Zeremonien muß diejenige sein, die Paulus im Vers 14 des 1. Briefes an die Korinther vorschreibt, daß nämlich alles geziemend, ordentlich und erbaulich geschehe. Was immer ordentlich geschieht, das geschieht auch geziemend, und was ordentlich und geziemend geschieht, das dient auch der Erbauung, so daß in dem Wort >Erbauung< die ganze Zweckursache der Zeremonien enthalten zu sein scheint.]

Den Ordnungsaspekt der paulinischen Regel bezog Flacius auf die Form (a) der äußeren Umstände, (b) der Personen (hierarchische Struktur des Kirchenregimentes, der »Politia ecclesiastica«; geregelte Aufstiegsmöglichkeiten in den Kirchenämtem; Unterschied zwischen Lehrenden und Zuhörern), (c) der Zeit (Gliederung von Jahr, Woche, Tag) und (d) des Handelns (Einrichtung und Ablauf des Gottesdienstes: Geläut, Gesang, Gebet, Lesung etc.). Der maßgebliche Gesichtspunkt war für Flacius der Primat des Wortes, dem alle äußeren Dinge zu dienen hatten; daher erklärt sich das zusammenfassende, gegen die in der 78

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S. Gesnerus: Disputationes XVII. pro sanctissimo libro christianae Concordiae [...] (1595), disp. 15, c. 1, thes. 5-7, S. 536f.: »per se non absolvunt veram civilem felicitatem, neque etiam impediunt, licet eidem ornamento, et quodammodo adiumento sint: Ita in Ecclesia nominamus Adiaphora res illas, quae ad aetemam salutem [...] per se non sunt necessariae [...], respectu tarnen hominum religioni quoddam decus addunt.« Der >Nomismus< der Realdefinition war davon nicht betroffen. Flacius: Liber de veris et falsis adiaphoris, fol. X4V (dtsch. Bl. Jiijv). Flacius: Liber de veris et falsis adiaphoris, fol. X5r (dtsch. Bl. Jiiij'); später in schulmäßiger Form unablässig wiederholt, ich nenne nur Jacobus Heerbrandus (Praes.) / Martinus Curbinus Schomdorffius (Resp.): Disputatio, de adiaphoris, et calendario gregoriano. Tubingae 1584, thes. 45, zitiert mit: FA, Nr. 8, fol. Dl v : »Finis enim Ceremoniarum Adiaphorarum est, ut omnia fiant secundum ordinem, et decenter, et ad aedificationem.«

144 Papstkirche vorgeblich allgegenwärtige Konfusion gerichtete formale Ordnungspostulat: »ne plures actiones in coetu Dei simul fiant, quae se mutuo impediant«. Verwirrung sollen die Papisten nicht nur unter den Ständen angerichtet haben, sondern auch zwischen weltlichem und geistlichem Regiment, Gesetz und Evangelium, göttlicher Lehre und Menschensatzungen und im Kirchenregiment; letzteres wurde im Rahmen der Meßfeier als besonders sinnfällig angesehen, denn gleich wie vorzeiten bey den Corinthern geschach, also hat ein jglicher in eim besondem winckel ihm selbs Messgehalten und Communicirt. ihr viel zugleich haben in einer kirch geplappert, zu Zeiten haben ihr wol zwentzig, einer an diesem, der ander an jenem ort, Mess gekakelt [missas garriverunt], zu Zeiten hat man etliche hohe Messen (wie sies nennen) zu gleich in einer kirche gesungen, Das also ein lauter gemeng der stimmen worden ist. haben undemander geblockt, gebrült, und geheult [und dies] in unbekanter spräche.81

Nikolaus Gallus rechnete die »Mutatio noti aedificantisque sermonis in ignotum«, also den wiedereingeführten Gebrauch der lateinischen Sprache in der Kirche gar zu den an sich gottlosen Zugeständnissen der Interimisten (Conceßa per se et simpliciter impia).82 Die formale >decenteradiaphora< bezeichneten äußerlichen Zeremonien auch ohne Einigkeit in den dogmatischen Hauptpunkten möglich sei, sofern nur die Lehre des Evangeliums und der Gebrauch der Sakramente und anderer in der Schrift gebotener Ordnungen frei bliebe. Dafür berief er sich, ebenso wie Justus Menius es getan hatte,95 ausdrücklich auf erst kürzlich von den Flacianern in unzulässig verkürzter Form veröffentlichte briefliche Äußerungen Luthers aus dem Jahre 1530, in denen sich dieser als »ein rechter Adiaphorista« gezeigt habe.96 Die von den Adiaphoristen oft zitierte, in ihrer Echtheit jedoch umstrittene Äußerung Luthers findet sich auch in einem Gutachten gegen die Adiaphoristen, welches Andreas Oslander 1550 anfertigte; die editio princeps dieses Gutachtens (veröffentlicht in der Gesamtausgabe seiner Schriften) gibt den Text allerdings in einer offensichtlich korrupten Form wieder (ob bereits die Handschrift an dieser Stelle verderbt ist oder ein Transkriptionsfehler vorliegt, bliebe zu prüfen): »Wo man der haubtsach nicht ainig wirdt, was hilfts, von disen schwayfen, den Sachen vil geben oder nemen?«97 Nach Pfeffingers Grüntlichem und warhaffiigem Bericht lautet die Äußerung Luthers folgendermaßen: Wo man der Hauptsachen nicht einig wirdt, was hilffis von diesen schweiffenden Sachen viel geben oder nehmen, Würde man aber der Hauptsachen einig, so wollten wir in diesen schweiffenden Sachen weichen, leiden, thun, was wir sollen, und sie wollen. [...] Aber

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remoniarum in papisticas. Per Hermannum Primatem. o.O. 1549, fol. B4 v -B5 r . - Zu der Unterscheidung von Graden der Freiheit vgl. weiter unten. Flacius: Kurtze antwort [...] auff des Larven Bischoffs von Sydon Holhiplerey, damit er seinen antichristischen Catechismum vertedigen wil. o.O.o.J., Bl. Aiijv. Menius: Verantworttung, Bl. Ei", Eiij v -Eiiij r , Gijv. Pfeffinger: Grüntlicher und warhafftiger Bericht, Bl. Bvj', Liv; vgl. auch Menius: Verantworttung, Bl. Eij'. Oslander: Was von der entschuldigung der adiaphoristen, so durch doctor Georgen Maier zu Wittemberg und doctor Johann Pfeffinger zu Leyptzigh beschriben, zu halten sey. Gesamtausgabe. Bd. 9. Hg. v. Gerhard Müller u. Gottfried Seebaß. Gütersloh 1994, S. 369401 (Nr. 418: Gutachten gegen die Adiaphoristen), hier S. 392, vgl. ebd. Fn. 179.

149 darmit sie nicht dencken, das wir steiff sein wollen, ob gleich die Hauptsache sperrig bleibt, So bin ich für mein theil willig und erbötig, alle solche eusserliche weise anzunemen, umb Friede willen, so fern mir mein Gewissen damit nicht beschweret werde.98 Christliche Freiheit war für Pfeffinger, w i e für die Adiaphoristen i n s g e s a m t , " Gewissensfreiheit, die »nur eusserliche Freiheit«, nach der »muthwillige Leute« suchen, hingegen das Mißverstehen dieser Freiheit und z u g l e i c h ihr Mißbrauch: »etwas sonderlichs machen, ungleicheit, ohne not, einfüren«, zerstört willkürlich übereinstimmende äußere Ordnungen und erregt Anstoß. Äußere Übereinstimmung der Kirchen hatte für ihn einen sehr h o h e n Stellenwert; er nahm sie stets in die Regel auf, die die >causa fmalis< der Adiaphora formuliert: »zur Zucht, Gleichförmigkeit und Ordnung dienstlich«. 1 0 0 Indem die Flacianer den Willen zur sichtbaren Übereinstimmung in Mitteldingen verdammten, machten sie » e x Adiaphoris necessaria«. 1 0 1 D i e v o n den Antiadiaphoristen unermüdlich wiederholte Formel v o n den »adiaphora in casu c o n f e s s i o n i s n o n adiaphora« haben die Wittenberger T h e o l o g e n kurzerhand umgekehrt und v o m Bekenntnisfall in Mitteldingen gesprochen: »Item es gehört aber z u m bekentnis der waren Lere auch dieses, das man Adiaphora nicht Gottesdienst sein lasse«, w e l c h e s Bekenntnis »heisst Casus confessionis in Adiaphoris«. 1 0 2 Mit d e m zu den Früchten des Glaubens zählenden neuen Gehorsam gegenüber der v o n Gott ver-

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Pfeffinger: Grüntlicher und warhaffiiger Bericht, Bl. Biij v -Biiij r , Liv. - Vgl. den Text in Luther: WA Br 5, S. 616. Vgl. Georg Maior: Auslegung der Epistel S. Pauli an die Galater in 20. Predigt verfasset, in welcher der fumemeste Artickel unsers Glaubens, wo durch der Mensch gerecht und selig werde, gehandelt wird. Wittemberg 1560, Bl. 377 v -380 v . »Also sind wir nu, die an Christum gleuben, gar Vogel frey, von Sünden, von dem ewigen Todt« (Bl. 379v). - G. Maior: Auslegung der ersten Epistel S. Pauli an die Corinther, in 26. Predigt, den Dorffpfarherrn und Hausvetem zu dienst einfeltiglich verfasset. Wittemberg 1560, Bl. 174-180'. - Christliche Freiheit bedeutet in ihrem ersten Grad Erlösung vom Gesetz; dies darf jedoch nicht so verstanden werden, als sei man »vom gehorsam des Gesetzes erledigt [...] sondern es heisset erledigt werden vom fluch des Gesetzes« (Bl. 179'). Und auch der zweite Grad der Freiheit »von allen des Mosi ceremonien [...] darnach auch von eusserlichen und mittel dingen« bedeutet nur, daß »uns kein eusserlich ding könne verdammen und das gewissen gefangen nemen« (Bl. 179v). J. Pfeffinger: Von den Traditionibus, Ceremoniis, oder Mitteldingen, christlicher warer bericht, allen lieben Christen in disen letzten und gefehrlichen zeitten, nützlich zu wissen [...]. o.O. 1550, Bl. Cvij', EV u. ö. - J. Pfeffinger: Nochmals gründlicher, klarer, warhaffiiger Bericht und Bekentnis, der bittern lautern Warheit, reiner Lere, unstrefflichen Handlungen, und unvermeidliche notwendige Verantwortunge [...]. Wider den Lügengeist, und Lesterschriffien, neulich in Druck, unter dem Namen Matthiae Flaccij Illyrici ausgangen [...]. Wittemberg 1559, Bl. Dij'. - >Zucht< und >Wohlstand< sind übliche Übersetzungen des Ausdrucks >decorumBedenken auf das Interim< heißt - »kein Creatur, Göttliche warheit zu endern macht hat«; man durfte daher »die lehr von Unterscheidt, rechter Gottes dienst, unnd solchen mittlen unnötigen dingen nicht verleschen lassen«.134 Melanchthon135 trennte das Gebiet des Glaubens exakt von dem der Mitteldinge und stellte fest, daß über die Lehre Christus bestimmt, über die äußerliche Kirchenordnung hingegen die von Gott eingesetzte Obrigkeit, der man Gehorsam schulde, soweit sie nichts dieser Lehre Gegenteiliges anordnet oder die Gewissen verletzt.136 Dem ganzen Gebiet des Indifferenten vermochte Melanchthon keinen eigenständigen und positiven Wert zuzuerkennen. Die Frage, warum die Lehre von der Freiheit in äußerlichen Dingen (wie den kirchlichen Riten), die er auf den vierten und damit untersten Grad der >libertas christiana< herabsetzte, notwendig sei, hatte sich für ihn bereits in den Loci communes theologici durch den Hinweis auf die Glaubensgerechtigkeit, die nicht verdunkelt werden dürfe, beantwortet. Seine Lehre von den »docendi caussa« unterschiedenen vier Graden der evangelischen Freiheit hatte Melanchthon mehrfach und im wesentlichen unverändert vorgetragen. Der erste und zweite Grad, die »gratuita imputatio iustitiae« und die »donatio [...] vitae aeternae«, hatten eine rein spirituelle Natur. Die beiden weiteren Grade hingegen, die Befreiung von den levitischen Zeremonien (libertas, quod non necesse est nos retinere caeremonias et politiam Moysi ) und von allen menschlichen Kirchentraditionen (humana traditiones non sunt existimandae necessarij cultus, ideo sunt αδιάφορα, et omitti sine peccato possunt), gründeten zwar in den ersten beiden, bezogen sich jedoch auf äußere Dinge. Als wesentlich verstand Melanchthon stets nur den ersten und zweiten Grad, ohne die der dritte und der vierte Grad, also die eigentliche »libertas in adiaphoris«, nur eine »libertas barbarica, scythica, vandalica«

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Ex actis synodicis, fol. Hhhi' (dtsch. Bl. 288r/v [statt der falschen, doppelt vergebenen Paginierung 287]). Bedencken auffs Interim der Theologen zu Wittenberg. o.O. 1548, Bl. Di', Diij'. Melanchthon gilt als Verfasser, die Schrift soll aber auf Betreiben von Flacius in Magdeburg veröffentlicht worden sein. Zu Philipp Melanchthon vgl. Clyde L. Manschreck: The Role of Melanchthon in the Adiaphora Controversy. In: Archiv für Reformationsgeschichte 48 (1957), S. 165-182, und C. L. Manschreck: Melanchthon: The Quiet Reformer. New York, Nashville 1958, insbes. Kap. 21. The important nonessential, S. 277-292. - Thomas F. Mayer: Starkey and Melanchthon on Adiaphora: A critique of W. Gordon Zeeveld. In: The Sixteenth Century Journal 11/1 (1980), S. 39^t9. Melanchthon: Opera quae supersunt omnia. Vol. VII. Halis Saxonum 1840 (= CR 7), S. 230, 258, 314. - Summa und kurtzer Auszug aus den Actis Synodicis, Bl. Jiiij': »Wenn nu nichts Abgöttisches [...] gehalten werden sol, bedürffen Christen keines andern zwangs, als das irer Oberkeit wille, und meinung inen kund werde [...]. Dieser und kein anderer zwang, ist damals gebraucht worden, [...] und kan und mag on solchen zwang, keine Ordnung gelten noch bestehen, [...] und ist dieses ein eusserlicher zwang der Oberkeit, damit die Theologen nichts zuthun haben«.

157 wären, wie er in dringenden Worten versicherte.137 Diese beiden auf Äußeres bezogenen Grade der Freiheit hat er bezeichnenderweise primär negativ verstanden im Sinne einer >Freiheit von< (in Bezug auf die Rechtfertigung). Trotz der Anerkennung der Notwendigkeit des Indifferenten ließ er dieses eigens noch durch ein ausdrückliches Gesetz erlaubt sein: »cum haec vita corporalis non possit in totum carere traditionibus, [...] permittit Evangelium in Ecclesia fieri tales ordinationes«.138 Wie seine Mitstreiter glaubte Melanchthon mit seiner Bereitschaft zum Nachgeben in äußerlichen, geringen Dingen einen Weg gefunden zu haben, die evangelische Lehre trotz größter Bedrängnis bewahren zu können. Seinen Äußerungen liegt die klare Unterscheidung und Trennung von innerem und äußerem Akt zugrunde. Während der innere Akt die recht verstandene evangelische Freiheit, die nur die Vergebung der Sünden, also den bedingungslosen Empfang der Gnade betraf, durch Glauben, Anrufung, Liebe, Hoffnung und Gerechtigkeit bezeugte, blieb der äußere Akt indifferent, allerdings auch Mißdeutungen ausgesetzt (libertas externa in [...] Adiaphoris non est libertas Christiana, sed nova politia gratior fortasse populo, quia pauciora vincula habet). Wenn es auch das Ansinnen des Kaisers und der Papstkirche war, die römischen Zeremonien als Kultus, nicht als Mitteldinge, zu praktizieren beziehungsweise den Gläubigen aufzuerlegen (alijs imponere legem [...] tanquam necessariam), für Melanchthon und seine Anhänger blieb doch entscheidend, daß sie als Mitteldinge angenommen wurden (corda scient tales ritus non esse cultus Dei).139

2.5.

Der freie Rest des Indifferenten und das Joch der praktischen Nützlichkeit

Mit dem Streit um das Augsburger Interim wurde ein Problem virulent, das implizt schon im protestantischen Schriftprinzip angelegt war und das in der weiteren Geschichte des Protestantismus immer wieder zu unentscheidbaren Fragen führte. Erzeugt wurde dieses Problem durch den Versuch der biblischen Wiederbegründung des wahren evangelischen Glaubens gegenüber allen Verfälschungen, die dieser durch die römische Kirche in Form der Einführung menschlicher Traditionen und Einrichtungen erfahren haben soll. Der strikte Schriftglaube mußte auch hier in die aus anderen Kontroversen bereits hinlänglich bekannten, aber eben unvermeidbaren Schwierigkeiten führen. Die Freiheit der evangelischen Kirche ruhte in der souveränen Freiheit, mit der Luther, der

137 138 139

Melanchthon: Disputatio de Iibertate Christiana (Tertius tomus operum, S. 313B, 314D). Melanchthon: Loci communes theologici (1535), CR 21, S. 462-464. Vgl. Ex actis synodicis, fol. Hhh2 r (dtsch. Bl. 290 r ). - Summa und kurtzer Auszug aus den Actis Synodicis, Bl. Ciij', Jiij r ' v . - J. Menius: Bericht der bittern Warheit [...] auff die unerfindlichen aufflagen M. Flacij Illyrici, und des Herrn Niclas von Amsdorffs. Wittemberg 1558, Bl. Diiij'-Ei', Eiiij v (Mindestbedingung fur den Vergleich hinsichtlich der äußerlichen Kirchenordnung).

158 >dritte Eliasverdienstlich sein< läßt: Jeder von Menschen selbsterwählte Kultus müßte dann mit gleichem Recht als gültiger Gottesdienst anerkannt werden, auch der pagane.143 Mit einer gewiß ebenso interessanten wie zweifellos unbeabsichtigten Doppeldeutigkeit (im Wort »facimus«) formulierten die Hamburger Theologen im Interimsgutachten ihren obersten Grundsatz in den adiaphoristischen Auseinandersetzungen: »Veri divini cultus authorem solum Deum facimus.«144 Als Menschen sind Theologen jedoch dem Irrtum unterworfen, sie können das Wort Gottes in verkehrter Weise geltend machen. Die Schrift sollte aber die Möglichkeit bieten, irrige Meinungen zu überwinden: Der wahre Christus, so lauteten die Beteuerungen, würde sich gegen den scheinbaren durchsetzen. Die Überwindung irriger Meinungen konnte indes nur im Bereich der sichtbaren Kirche erfolgen und durch niemanden in Angriff genommen werden, der nicht selbst prinzipiell der Möglichkeit, einem Irrtum zu verfallen, ausgesetzt war, hat doch die Sphäre der Sichtbarkeit ihre eigenen Spielregeln.145 >MachiavellismusScheins< und insbesondere die A b g r e n z u n g des Scheins v o n der Lüge wurde v o n theologischer Seite allerdings erst später und in anderen als kultischen Zusammenhängen in A n g r i f f g e n o m m e n , denn die Liturgie duldet keine Fiktionalisierungen. Es entbehrt indes nicht einer g e w i s s e n Ironie, daß es nicht einmal drei Jahrzehnte dauerte, bis innerhalb des Protestantismus ein Streit u m die v o n Calvinisten und Zwinglianern als n o t w e n d i g angesehene Wiedereinführung der Zeremonie des Brotbrechens ausbrach 1 8 7 und damit u m D i n g e , die denen, die man zuvor ins Lächerliche z u ziehen versuchte, z u m V e r w e c h s e l n ähnlich sahen. D i e s e z w i s c h e n Lutheranern und Reformierten entbrannte Kontroverse u m den »ritus fractionis panis« im Abendmahl, auf den sich im reformierten Kult g e m ä ß der spiritualistischen Kultsymbolik Calvins die Möglichkeit v o n Erinnerungsbild 1 8 8 und Passionsspiel 1 8 9 reduzierte, ist bestens geeignet, darüber z u belehren, w a s passiert, w e n n man biblisch nicht festgelegte Aspekte der konkreten Gestaltung der Sakramentsverwaltung, den >freien Rest
historice< berichteter Beispiele (Exempla enim docent) nachdrücklich abkehrten. 193 D e n n w i e w e i t man ein Werk auch durch das ihm zugrundeliegende Zweckprogramm festzulegen versucht, es bleibt ein nicht tilgbarer Rest, der nur willkürlich bestimmbar ist. Es gab in dieser Frage keine n o c h so geringfügige Kleinigkeit, die nicht strittig g e w e s e n wäre: die äußere Form und Gestalt des Brotes, seine B e schaffenheit und Zubereitungsweise, der Akt des Brechens, die Zahl der Bruchstücke, der Zeitpunkt des Brechens, die Art der Austeilung, und so weiter >ad minima usquesinnlichen Prunk< der katholischen Welt und der >dürren Nüchternheit der protestantischen wurde jedenfalls im weiteren Verlauf der Problem- und Begriffsentwicklung, weitgehend befreit von religiösen und konfessionellen Implikationen und Parteinahmen, in diesem ästhetischen Sinne behandelt.195 Aber auch ganz unabhängig von solcher Erkenntnis aus späterer Zeit hätte für die Sphäre des Scheins die Berechtigung der katholischen Lehre, derzufolge der in den Gotteshäusern der römischen Kirche betriebene sinnliche Aufwand neben der bildhaften Repräsentation des Himmelsreiches196 auch einer intensiveren Andacht dienen kann,197 nicht a priori in Zweifel gezogen werden dürfen. Zwar konnte man, wie beispielsweise Westphal es getan hatte, die Nüchternheit des einzig wahren Kultus betonen: »Cultus autem Dei elegans, festivus, et iucundus est, non quidem ab auro et argento, non sumptuosis aedificijs, preciosis vestibus, simulachris, aut alijs externis splendidis rebus, quas prophani homines admirantur addicti elementis mundi«. Doch auch diese wahre Anbetung im Geiste hatte sehr wohl eine sinnliche Form, eben diese »schickliche Nüchternheit«, in der sie anschaulich Präsenz gewinnt. Daß solche Nüchternheit weltverhafteten Menschen gleichgültig und verächtlich erscheinen mag (Verbum obedientia et fides condecorant et magnificant cultum Dei [...], quamlibet ob res externas vilem et contemptibilem mundo), war noch kein hinreichender Nachweis dafür, daß sich in ihr allein die von Gott eingesetzte Form des Kultus konkret erfüllt (Deus non alio delectatur cultu, quam qui instituitur et peragitur secundum eius voluntatem).198 Ist der Gegensatz demnach überhaupt nur eine Stilfrage? Dagegen hätte sich natürlich nicht nur Westphal entschieden mit dem Hinweis verwahrt, daß 194 195

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198

De rebus adiaphoris epistola, fol. A6V, A7r. Vgl. dazu Frankl: Das System der Kunstwissenschaft, S. 992, speziell zu den ästhetischen Mutationen des Sakralen. Von der Gedankenfigur des >templum dei< als >imago coelorum< hat in besonders starkem Maße die nachtridentinische Theologie Gebrauch gemacht, vgl. ζ. B. Molanus: De picturis et imaginibus sacris, liber unus, c. 31, fol. 65v (mit Verweis auf N. Sanders); »Cogitet ergo Christianus, quando in templum ingreditur, se in coelum quoddam terrestre ingredi« (fol. 66'). Braun (Brunus): De caeremoniis, c. 1, S. 5f.: »ut vires nostras incitemus, ad colendum Deum vera fide, spe, et charitate, et fratemam charitatem in proximum exercendam. His enim visibilibus signis, non quidem Deum ipsum commovemus, sed nos potius mobiles, ad immobilem divinitatem attrahimus [...]. Et contemplatio nostra, tanto acrius in sublime provehatur, quanto magis attoniti antea obstupuerimus.« Darin genau bestand für Braun die »caeremoniarum ratio.« J. Westphal: Homiliae quatuor de custodiendo precioso thesauro verbi dei et cultus sacri, contra multiplices fures, Papistas, Interimistas et Adiaphoristas, deque afflicta ecclesia Christi non deserenda. Magdeburg! 1550, prima concio, fol. A7r/v.

171

eine als Wohnen im Hause des Herrn und als Genuß der Schönheit des wahren Gottesdienstes (frui amoeno cultu Domini)199 verstandene Lebensführung nicht im Sinne prophaner Weltverfallenheit mißdeutet werden dürfe.

199

Westphal: Homiliae quatuor, fol. A5'.

Die Zeit der altprotestantischen Orthodoxie

1.

Autonomia in adiaphoris

1.1.

Libertas Christiana

Der flacianische Standpunkt in der Frage der Adiaphora und der christlichen Freiheit im Gebrauch der Adiaphora hatte in der Formula

Concordiae

den Rang

eines S y m b o l s erhalten. D a v o n ausgehend hat das orthodoxe Luthertum schulmäßig ein mehr oder weniger rigides >nomistisches< Konzept der Mitteldinge vertreten, d e m z u f o l g e das Gebotensein der Adiaphora in genereller Hinsicht als notwendig, ihr spezielles Gebotensein hingegen, da es ihrer A u f h e b u n g gleichkäme, als unmöglich verstanden wurde. Verbo Dei praecepta non sunt [adiaphora], non quidem generaliter, aut prohibitive, sed in specie, sive definitive; si enim generaliter praecepta non essent, unde bona ea esse, ac in conspectu Dei placentia, constare posset? Si in specie mandata essent quomodo adiaphora dicerentur, cum in nullius arbitrio essent posita.1 [Durch das Wort Gottes sind die Adiaphora nicht geboten, dies allerdings nicht im allgemeinen oder verbotsweise, sondern nur im besonderen und auf bestimmte Weise nicht; woher wüßte man nämlich, daß sie gut sind und Gott wohlgefällig, wenn sie im allgemeinen nicht geboten wären? Wenn sie im besondern geboten wären, könnten sie nicht als Adiaphora bezeichnet werden, weil niemanden mehr frei über sie bestimmen dürfte.] D i e s e Lehre v o n e i n e m moralischen Genus der Adiaphora war auch in der englischen Hochkirche die vorherrschende. Der für seine Gelehrsamkeit bekannte anglikanische T h e o l o g e Gabriel P o w e l ( 1 5 7 5 / 7 6 - 1 6 1 1 ) , >domestic chaplain< des B i s c h o f s v o n London (Richard Vaugham), hatte in den Mitteldingen freie Festlegungen der Umstände gesehen, die zur Realisierung der Gebote der ersten Tafel des D e k a l o g s n o t w e n d i g und nützlich sind. 2 D e n kirchlichen Satzungen Entsprechendes galt für die zweite Art menschlicher Gesetze, die politischen; »Civiles

Leges,

sunt determinationes circumstantiarum necessariae, vel utiles ad

Leonhartus Hutterus (Praes.) / Nicolaus Hunnius (Resp.): Disputatio XV. continens διέξοδον articuli X de adiaphoris. Pro Formulae christianae Concordiae [...]. Wittenberg 1604, thes. ΠΙ, fol. A2'. Gabrielus Povelus: De adiaphoris theses theologicae ac scholasticae. Ubi etiam methodice atque succincte explicantur loci de magistratu civili et ecclesiastico, de legibus humanis, de libertate Christiana, de scandalo, de cultu dei. Libellus votivus, sopiendis (per dei gratiam) dissidijs in ecclesia anglicana ortis, destinatus. Londini 1606, c. 1, thes. 19-21, S. 6f.: »Genus horum morale est, cum sint determinationes circumstantiarum necessariae aut utiles ad servanda praecepta moralia primae tabulae; [...] vel ad exercitia pietatis publica et privata.« - Engl.: G. Powel: De adiaphoris. Theological and scholastical positions, concerning the nature and use of things indifferent [...]. London 1607, S. 4f.

176 servanda praecepta moralia secunde tabule.«3 Umgekehrt folgte aus dieser >nomistischen< Lehre, daß diejenigen Mitteldinge, die weder generisch noch spezifisch geboten waren, verboten waren.4 Die nähere Qualifizierung der christlichen Freiheit und der Mitteldinge blieb gleichfalls eng an Flacius' Vorgehen und damit am viergliedrigen aristotelischen Ursachenschema orientiert,5 wenn dieses mitunter auch in sich sehr viel feiner differenziert wurde, als Flacius es getan hatte.6 Nicht verhindert werden konnte damit, daß viele der zumeist wenig originellen Kommentare zum Artikel 15 der Confessio Augustana und zum Artikel 10 der Formula Concordiae7 ein schematisches Aussehen erhielten und das Thema im Rahmen eines Ensembles gleichbleibender Fragestellungen entfalteten: »Quidnam sint res adiaphorae?« »An ceremonias ecclesiasticas mutare liceat?« »Num tempore persecutionis, vel edendae confessionis, in usu rerum adiaphorarum cedendum sit hostibus veritatis?« und »An dißimilitudo ceremoniarum tollat unitatem fidei?« Am auffallendsten an den Charakterisierungsbemühungen der >libertas christiana< ist das umfassende Abgrenzungsbedürfnis, das die lutherische Orthodoxie verspürte. Wenn es »Damnamus« hieß, dann folgte in der Regel eine stattliche Liste von Angeklagten: Antinomisten, Libertinisten, Anabaptisten, Juden, Katholiken, Calvinisten etc. Mit wechselndem Nachdruck wurde betont, die evangelische Freiheit dürfe nicht als natürliche oder politische Freiheit verstanden werden, das heißt nicht als Autonomie, nach eigenen Gesetzen zu leben (non est [...] libertas [...], qua pie fideles secundum άυτονομΰαν aliquam et leges proprias sine vi et oppreßione aliena civiliter vivant): Für eine derart belanglose Sache wie äußerliche Freiheit habe der Sohn Gottes sein Blut nicht vergossen.8 Insbesondere Leonhart Hutter (oder >Hüttermateria ex qua< (Zeremonien, Handlungen, Dinge, Worte etc.), >materia in qua< (die Kirche, qua >subiectummateria circa quam< (der Kultus qua >obiectumsententia communiter recepta< angesehen werden; zwei Hinweise mögen genügen. Der Theologe Polycarp Leyser (1552-1610), kurfürstlicher Hofprediger in Dresden, formulierte vorsichtig Vorbehalte, indem er den uneigentlichen Charakter dieser Gewissensbindung betonte (illi conscientiam proprie non ligant);10 Balthasar Meisner (1587-1626) legte die unbedingte Pflicht, derartigen Gesetzen zu gehorchen (ijs parendum omnino est etiam propter conscientiam), im Sinn einer nur zeitlichen Einschränkung oder Aufhebung allein des äußeren Gebrauches der inneren Gewissensfreiheit aus." Abgegrenzt wurde die christliche Freiheit von der ohnedies nur als eremitische Simulation geltenden Freiheit von der Sorge um weltliche Dinge und natürlich insbesondere von aller »licentia carnalis« und »effrenis licentia«.12 Den anabaptistischen >Mißbrauch< christlicher Freiheit,13 das heißt die bemerkenswerte These, »nec tarnen peccare, quia Lege solutus sit, qui tarnen sibi ipsi lex est«,14 zu bekämpfen, war und blieb ein Anliegen der Orthodoxie aller christlichen Konfessionen. Die Katholiken konfrontierte man mit dem Vorwurf, die Freiheit durch menschliche Satzungen tyrannisch zu unterdrücken, die Calvinisten wurden verurteilt, weil sie aus gleichgültigen Dingen notwendige machten, die Antinomisten, weil sie das Gesetz in eine gleichgültige Sache verwandelten. 15

9 10 11

12

13

14 15

Hutterus: Libri christianae concordiae [...] explicatio, S. 1114. P. Leyser / F. Leyser: De ceremoniis ecclesiasticis, q. 4, thes. 49-50, fol. ΒΓ. Balthasar Meisner (Praes.) / Augustinus a Peine (Resp.): Collegii adiaphoristici Calvinianis oppositi disputatio prima de übertäte Christiana et adiaphoris in genere [...]. Wittebergae 1618, thes. 50, fol. CVN\ »neque propterea aut Ecclesiae aut Reipublicae antistites Imperium sibi in conscientias sumunt; non enim legibus ejusmodi conscientiae interna libertas eripitur, sed extemus libertatis usus propter circumstantias certas coercetur, quibus cessantibus leges etiam expirant, nec amplius in conscientia obligant.« Vgl. Matthias Hafenreffer (Praes.) / Nicolaus Crollius (Resp.): Disputatio theologica: de adiaphoris sive rebus indifferentibus [...]. Tubingae 1612, thes. 20, S. 4. Guilielmus Bucanus: Institutions theologicae, seu locorum communium christianae religionis [...] analysis [...]. Editio posthuma [...]. Genevae 1612, loc. XXXIII, § 21, S. 358: »qui iactant se per Evangelij praedicationem liberates ab omnibus corporalibus debitis et officiis [...] qui pretextu Christianae Libertatis peccandi licentiam inducunt, abutentes dicto Pauli Rom. 7. 25. [...] hinc enim dicunt, se carne tantum [...] impure vivere: mente autem ac Spiritu puros esse«. Bucanus: Institutions theologicae, loc. XIV, § 28, S. 152. Vgl. Jacob Martini (Praes.) / Georg Vogler (Resp.): Collegii secundi theorematum theologicorum disputatio ΧΠ. de libertate Christiana et adiaphoris. Wittebergae 1624, thes. 40, fol. Bb4v.

178 Die verbreitete Bezeichnung der evangelischen Freiheit als »libertas personae«16 diente einer weiteren Abhebung, ihrer Unterscheidung nämlich von der natürlichen Willensfreiheit des Menschen. Der überwiegende Teil der protestantischen Denominationen hatte in den Formalbegriff der Willensfreiheit in spirituellen Dingen mit dem »voluntarium« (spontaneum) nur den Gegensatz zum physischen Zwang (coactio), nicht auch den zur inneren Notwendigkeit aufgenommen. Eine der wenigen Ausnahmen bildete die gemäßigt synergistische Willens- und Gnadenlehre der Remonstraten, die 1619 von der Dordrechter Synode als Favorisierung des jesuitischen Indifferenzkonzeptes der Freiheit (libertas indifferentiae) verurteilt wurde.17 Die >libertas christiana< stand der »servitus spiritualis«, nicht jedoch, wie die Willensfreiheit, der »servitus corporalis« gegenüber und hieß eben deshalb geistliche Freiheit.18 »Nulli ergo alii, quam servituti peccati opponitur Christiana libertas«, hielt auch Jacob Martini fest.19 Nicht weniger bezeichnend und aufschlußreich als die Einschränkung des liberum arbitrium< auf das >voluntarium< sind die Ergebnisse der Ursachenanalyse der >libertas christanaSubjekt< der Befreiung (liberationis subjectum), das heißt deren »materia, quae subjecti rationem habet«, war zum einen der gefallene Mensch, dem diese Befreiung durch das Evangelium angeboten, zum anderen der wiedergeborene Mensch, dem sie durch den Glauben appliziert wird.20 Dieser Begriff des »passiven Subjektes«, in dem der heilige Geist durch das Wort wirksam wird - »tanquam in subiecto patiente, ubi homo nihil agit aut operatur, sed tantum patitur«,21 - ist im übrigen der einzige Subjektbegriff, den die Symbole des älteren Protestantismus kennen.

16 17

18 19 20 21

Vgl. Bucanus: Institutiones theologicae, loc. XXXIII, § 1, S. 348. Vgl. Acta Synodi Nationalis [...] autoritate [...] DD. Ordinum Generalium Foederati Belgii Provinciarum, Dordrechti habitae, anno 1618 et 1619 [...]. Lugduni Batavorum 1620, pars I, S. 219ff., 260, 262 (die Annahme der Resistibilität der Gnadenwirkung bedeute nichts anderes »quam [...] actionem Dei omnipotentis subjicere voluntati hominis«); pars Π, S. 134f. (aequilibrium), 150, 180 u. ö. Meisner / Peine: Collegii adiaphoristici disp. I, thes. fol. A2V. Martini / Vogler: Disp. ΧΠ. de libertate Christiana et adiaphoris, thes. IV, fol. Bb2 r . Meisner / Peine: Collegii adiaphoristici disp. I, thes. 7-9, fol. A3r/v. Vgl. BSEK, S. 910.

179 1.2.

Die stoische und die protestantische Adiaphoralehre

An Hinweisen auf die innere Affinität von christlicher Lehre und stoischer Ethik hat es in der Geschichte des Christentums nicht gefehlt. »Stoici«, hieß es schon bei Hieronymus, »qui nostra dogmati in plerisque concordant, nihil appellant bonum, nisi solam honestatem atque virtutem: nihil malum, nisi turpitudinem«.22 Die Reformatoren haben jedoch auf die frühchristliche Hochschätzung der stoischen Philosophie mit Unverständnis reagiert. »Neque ego ignoro multos scriptores esse ac veteres quidem qui Stoicas illas ineptias ita admirantur, ut praedicare ausint Stoicam doctrinam, purum Evangelium esse«, stellte Philipp Melanchthon fest und wies mehrfach nachdrücklich die stoische Lehre vom Fatum und insbesondere diejenige von den Affekten als offenkundig schrift- und naturwidrig zurück: Das Begehren und die Affekte würden selbst dann zur Natur des Menschen gehören, wenn diese noch im Status der Unversehrtheit wäre.23 Beiläufig beurteilte er in einer Disputation über den Unterschied zwischen Evangelium und Philosophie auch die stoische Lehre von der Wahl im Raum des Indifferenten als >lächerlichindifferentia< auch den Ausdruck >adiaphora< (vgl. Epist. 118). Melanchthon: In Ethicam Aristotelis [...] enarratio, comm. in lib. III (Tomus quartus operum, S. 163B, 164C). - Melanchthon: Disputationes (Tomus tertius operum, S. 334D). Melanchthon: Disputatio de discrimine evangelii et philosophiae (Tomus tertius operum, S. 312D = C R 1 2 , col. 690).

180 zwar »significatione n o n activa sed passiva«. 2 6 D i e ersten genaueren A u s f ü h rungen zur stoischen und frühchristlichen Geschichte des Adiaphorabegriffes dürften v o n d e m Holländer Marten S c h o o c k ( 1 6 1 4 - 1 6 6 9 ) stammen, e i n e m der Hauptkontrahenten der Voetianer im Streit u m den moralisch-religiösen Präzisismus. 2 7 Erst S c h o o c k s Darstellung in der Exercitatio ferentibus

de adiaphoris,

sive

indif-

(zuerst 1657) beruht auf echter Quellenkenntnis, die er durch die B e -

nutzung der Manuductio

ad stoicam

philosophiam

v o n Justus Lipsius (1547—

1606) ergänzte. 2 8 Seither wurde sehr viel mehr Sorgfalt auf historische und systematische B e s t i m m u n g e n des Adiaphorabegriffs verwandt, auch in solchen Schriften, die primär der A u s l e g u n g einer Bibelstelle g e w i d m e t waren. 2 9 B i s z u S c h o o c k blieb Suda (Suidas, 10. Jh.) eine der Hauptquellen für die Vermittlung der stoischen Lehre, und damit, w i e schon Ludolph Küster, der Herausgeber des enzyklopädistischen Lexikons, vermerkt hatte, 3 0 die Vita Zenonis

des D i o g e n e s

Laertius; 31 Cicero und A u l u s Gellius wurden in d i e s e m Zusammenhang hingeg e n sehr selten, Seneca s o gut w i e gar nicht erwähnt. 3 2 D a s bis zu S c h o o k übliche Verständnis findet man bei Gabriel P o w e l artikuliert: Convenit hec Nominis explicatio cum rebus Ecclesiasticis, ideoque ab usu communis vitae ea appellatio ad Ecclesiam traducta est. Sicut enim Philosophi illa nominant αδιάφορα que per se non absolvunt veram felicitatem, neque earn impediunt, licet eidem ornamento, et quodammodo adiumento sint; Ita Ecclesia ea appellat αδιάφορα, quae ad etemam salu25

Gisenius / Wetzel: Disputatio XX. et de libero adiaphororum usu, thes. 4, S. 297. - Vgl. Johannes Himmelius (Praes.) / Johannes Georg (Resp.): Disp. XI. de ceremoniis ecclesiasticis seu adiaphoris. In: J. Himmelius: Collegium analyticum libri Concordiae Christianae, genuinorum Augustanae Confessionis sociorum symboli [...]. Jenae 1621, thes. 17, fol. Y2y (wiederabgedr. in: J. Himmelius: Analysis logico-theologica libri Concordiae, disputationibus XIII proposita. Jenae 1623). 26 Gobelinus Schrägen (Praes.) / Johannes Coccaeus (Resp.): Exegesis canonum theologicorum de adiaphoris et scandalo nec non thematum trium philosophicorum de testimonio, amicitia, mundo [...]. o.O. 1628, fol. A2V. 27 Martinus Schoockius: Exercitatio prima. De adiaphoris, sive indifferentibus. In: Schoockius: Exercitationes variae, de diversis materiis [...]. Trajecti ad Rhenum 1663, S. 1-28, hier S. 2-6. - Die erste Auflage der Sammlung erschien sechs Jahre zuvor unter dem Titel: Exercitationes sacrae unde-viginti [...]. Groningae 1657. Bereits in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Exercitationes äußerte sich Schoock »de lepida Praecisitate« und profilierte sich als Gegner der »severi Reformatores«, die er als »Cathari redivivi« qualifizierte. Ein Jahr später, 1658, erschien in Groningen sein in der Vorrede angekündigter >Tractatus de praecisitate vera oppositus pseudo-praecisismo pro vindiciis genuinae praxios pietatisAdiaphora< bezeichnen, die an sich das wahre Glück nicht vollkommen machen, es aber auch nicht behindern, mögen sie auch als Ornament und gewissermaßen als Zugabe dienen, so bezeichnet die Kirche die Dinge als >Adiaphoralustige Historien< und Schauspiele) einfügte: »Neque anilibus nugis et ludicris spectaculis nomen adiaphororum praetexi debet, quae neque ad έυταξίαν, neque ad commodum Ecclesiae quicquam faciunt.«38 Damit wurde eine Praxis eingeleitet, die sich fortan ständig ausweiten und konsolidieren sollte. Wolfgang Mamphrasius (1557-1616) gliederte 1601 die »Licita Adiaphora« 35

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A. C. Rotth: Philosophiae moralis juxta Peripateticorum sententiam capita praecipua, ut Stoicorum placita, ex iis praemissis rectius intelligantur, et ex his Ciceronis nostri officia. In: M. Tullii Ciceronis de officiis libri tres et paradoxa sex [...] accurate emendati, [...] arguments, resolutionibus ac notis accuratis illustrati [...]. Operam et Studium commodavit M. A. C. Rotth [...]. Lipsiae 1692, S. 1-166, hier bes. S. 78-84, 117-130, 164-166. J. L. Jaquette: Paul, Epictetus, and others on indifference to status. In: The catholic biblical quarterly 56 (1994), S. 68-80, hier S. 76: »one summum bonum, virtue through the exercise of one's moral purpose, is replaced by another, the truth of the gospel«. Vgl. dazu J. L. Jaquette: Discerning what counts. The Function of the >Adiaphora Topos< in Paul's Letters. Atlanta 1995, chapt. 2: Adiaphora in the Greco-Roman Moralists, S. 3 7 96, hier bes. S. 55ff., 84, 93,95. S. Gesnerus: Disputationes XVII. pro sanctissimo libro christianae Concordiae, disp. 15, c. 1, thes. 26, S. 543.

183 förmlich in »Oeconomica«, »Politica« und »Ecclesiastica«, 39 ohne sich allerdings mit den ersten beiden Arten näher zu beschäftigen. Johannes Giesen (1577-1658) ließ 1617 Hermann Philipp Orth in den letzten Thesen seiner zweiten adiaphoristischen Disputation, als Appendix zur Erörterung der Legitimität kirchlicher Instrumental- und Vokalmusik, die intrinsische Indifferenz der »saltationes jocosae« verteidigen.40 Balthasar Meisner dehnte den Kompetenzbereich der >libertas christiana< auf schlechthin alle Dinge aus, welche die Gewissen fesseln könnten: »Materia, quae objecti rationem habet, et circa quam libertas versatur, tarn late se extendit, quam late patet omnis earum rerum ambitus, quae constringere conscientias vel aliquo spiritualis servitus jugo implicare possunt«,41 und er widmete eine seiner im Übrigen allein mit kirchlichen Zeremonien befaßten dreizehn Disputationen des von ihm in den Jahren 16161618 veranstalteten Collegium adiaphoristicum der Erörterung von Tanz und Schauspiel.42 Später, in der Hochzeit der Streitigkeiten zwischen Pietismus und Orthodoxie, tauchte in pietistischen Kreisen allenthalben die Vermutung auf, Meisner habe mit diesem Schritt einen, wenn nicht den entscheidenden Anstoß zu ebenso >unverantwortlichen< wie >ärgerlichen Neuerungen gegeben. Es waren jedenfalls die Pietisten, die den Anspruch erhoben, erst sie hätten das ganze Ausmaß der Folgelasten und Folgeschäden der >Erdichtung< einer neuen Gattung von >bürgerlichen< Mitteldingen und der Eingliederung der so genannten »kurtzweiligen Lust-Handlungen« in dieses Genus erkannt und gebührend zur Sprache gebracht.43 Als bereits selbstverständlich erscheint die dreigliedrige Differenzierung der Sphäre der »Adiaphora hodierna«, das heißt innerhalb des Christentums, in »oeconomica«, »civilia« und »ecclesiastica« schließlich bei dem Straßburger Lutheraner Johann Conrad Dannhauer (1603-1666), der in sei39

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W. Mamphrasius: Duae methodi, una de sacramentis, sacramentorum definitione, et natura contra tropologiam sacramentariam [...]: altera de adiaphoris, adiaphorismo, adiaphoromachia contra adiaphoromastigas Carolstadiano spiritu ebrios [...]. Lipsiae 1601, S. 121. J. Gisenius (Praes.) / Η. P. Orth (Resp.): Disputatio XXI. de quibusdam adiaphoris, quae oppugnantur a Calvinianis [...]. In: J. Gisenius: Calvinismus, hoc est, errorum ZwinglioCalvinianorum methodica enumeratio, S. 313-332, hier thes. 61-63, S. 330f. Meisner / Peine: Collegii adiaphoristici disp. I, thes. 12, fol. A3"; thes. 25, fol. Bl v : vtGeneraliter [...] quae in communi vita spectantur, ut cibus, potus, conjugium, coelibatus, vestitus, contractus civiles, peregrinationes, et in hisce omnibus, quae ad locorum, temporum, personarum respectus pertinent fere universa.« Das Themenspektrum der Disputationen, die 1628 in zweiter und 1663 in dritter Auflage erschienen, sieht folgendermaßen aus: 1. de libertate Christiana et adiaphoris in genere; 2. de distinctione decalogi; 3. de imaginibus et earum inter christianos usu licito; 4. de precibus latinis, de versione germanica orationis dominicae, et de apertione capitis ad mentionem nominis Jesu; 5. de exorcismo; 6. de ceremoniis et circumstantijs circa baptismi administrationem usitatis; 7. de confessione et absolutione privata; 8. de fractione panis in sacrae coenae administratione; 9. de altaribus, hostiis, sacris vestibus, aliisque ritibus in administratione coenae usitatis; 10.de distinctis gradibus ministrorum, et usu templorum; 11. de festis et lectionibus dominicalibus, de musica figurali et organis; 12. de choreis et comoediis; 13. de dissensu Lutheranorum et Calvinianorum in fundamento fidei. Vgl. Gottfried Vockerode Erleuterte Auffdeckung des Betrugs und Aergemisses, so mit denen vorgegebenen Mitteldingen und vergönneten Lust in der Christenheit angerichtet worden [...]. Halle 1699, I. Teil, Kap. 22, S. 93f.; und G. Vockerode Sieg der Wahrheit in dem zeitherigen Mitteldings- und vergönneten Lust-Streit [...]. Halle 1700, S. 49, 51.

184 ner Theologia

casualis

auch nicht-kirchliche Kasus intensiv erörterte, 44 darunter

die Frage, o b das Reisen in fremde und insbesondere in konfessionsfremde Länder z u m bloßen Vergnügen gestattet sei. 4 5 Es war nur konsequent, daß die Ursachenanalyse der »res mediae« ( τ ά μ έ σ α ) nach aristotelischem Muster bald auch als »allgemeine Adiaphoratheorie< bezeichnet wurde (generalis Adiaphororum θ ε ω ρ ί α ) . 4 6 W e i t g e h e n d befreit v o m Druck der unmittelbaren Bekenntnissituation, unter d e m die Frage nach den Mitteldingen und deren rechtem Gebrauch in den Jahren der Auseinandersetzungen u m das Augsburger

Interim

gestanden hatte - Gesner nahm diesen Ge-

sichtspunkt eigens in eine Kapitelüberschrift auf: » D e legitimo u s u [...] extra tempus c o n f e s s i o n i s «

haben die lutherischen Adiaphoratraktate des 17. Jahr-

hunderts den Schwerpunkt der Erörterung zunehmend auf >weltliche< Gegenstände verlagert. Dabei waren es im weiteren Verlauf nicht zufällig die radikalen Vorstöße calvinistischer und zwinglianischer Sakramentarier, Indifferentes z u nezessitarisieren, mithin die Praxis, »durch selbst erwehlte gebot und verbot« aus Mitteldingen n o t w e n d i g e D i n g e z u machen, 4 7 die auf lutherischer Seite Veranlassung z u weiteren klaren Positionsbestimmungen und nachdrücklichen B e kräftigungen der christlichen Freiheit g e w e s e n sind: b e i s p i e l s w e i s e die nachträgliche Legitimation selbst der nicht v o m politischen R e g i m e n t initiierten jüngeren Bilderstürme in Frankreich und den Niederlanden: Daß die jenige nicht also baldt, und ohne unterschied für onsinnig zuhalten, wie sie auch nicht seindt, welche sich in niderreissung der Bilder also auß eignem gewalt verhalten, erscheint auß dem fumemblich, daß ein ernster Eiffer die Abgötterey zu fliehen, auß keiner onsinnigkeit herkommen kan.4S 44

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J. C. Dannhauer: Theologia casualis, quam e Msto publicae luci asseruit et in Academia Regia Pomeranorum dissertationum academicarum argumentum statuit D. Joh. Fridericus Mayer [...]. Gryphiswaldiae 1706, S. 110-159, hier S. 110, 112. Nach Mitteilung Mayers hat Dannhauer die Gewissensfalle zuerst in den Monaten Juli bis Oktober 1649 »intra privates parietes« vorgetragen (Praef., fol. )(6'). - Zu Dannhauer vgl. Johannes Wallmann: Straßburger lutherische Orthodoxie im 17. Jahrhundert: Johann Conrad Dannhauer. Versuch einer Annäherung. In: Revue d'histoire et de philosophie religieuses 68 (1988), S. 5571. Vgl. Dannhauer: Theologia casualis, S. 122f.: »An liceat uti societate peregrinatoria, seu an liceat peregrinari in Galliam, Italiam? Resp. Quod mihi tu responderes, si quaererem, an licitum sit, ire in domum peste infectam, idem et ego ad hanc quaestionem responderem; scilicet si officium et necessitas id jubet, omnino debes: sie Chirurgus, Medicus, Pastor urgente officii necessitate, ut debent domum peste infectam ingredi; ita ex eadem ratione, scilicet officii respeetu, legatis licet abire in peregrinos locos, ut et mercatoribus commerciorum gratia, sed omnino illis opus praeservativo aliquo.« Melchior Nicolai / Johann Georg Weishard: Dissertatio ελεγκτική de rebus adiaphoristicis corruptelis et erroribus Calvinianorum et inprimis Pontificiorum opposita. Tubingae 1620, S. 6-9, hier S. 9. Vgl. Simon Gedik: Von Bildern und Altarn, in den evangelischen Kirchen Augspurgischer Confession. Wolgegriindter Bericht, sampt kurtzer Wiederlegung des neulich abgegangenen Zerbestischen Buchs, menniglich in diesen letzten gefehrlichen leufflen, wieder die calvinische Neurung der Bilder und Altarstürmer, zu wissen sehr nützlich und nötig. Magdeburgk 1597, fol. Civ"v. Theodorus Beza: Nutzliche und sehr nothwendige Antwort, [...] erster und anderer Theil, auff das publicirte Colloquium Mompelgartense: das ist, auff das in anno 86. zu Mompel-

185 Gegen diese von Theodore de Beze stammende apologetische Aussage insistierte Jakob Andreae 1586 im Religionsgespräch zu Mömpelgard49 bezüglich der Frage der »Papistischen Kirchen unnd Bilder Reformation« auf dem in der vorliegenden Untersuchung bereits mehrfach zitierten lutherischen Grundsatz: »Wo kein Gesetz ist, da ist auch kein ubertrettung«, und versicherte, daß, weil »kein Gebot Gottes zufinden« sei, auch in der Kirche Historien- und Andachtsbilder als indifferent zu gelten haben. Die Freiheit, solche Bilder zu besitzen und zu gebrauchen, leide nicht nur keinen Zwang, sondern sei »mit besonderem fleiß« zu erhalten.50 Von da aus war es für Mamphrasius nur noch ein kleiner Schritt zur ausdrücklichen Rede von der Autonomie des Menschen im Gebrauch solcher freien äußerlichen Dinge: »Christus acquisivit nobis άυτονομιαν in ceremonijs«.51 Die Handlungsautonomie des Menschen in der Sphäre indifferenter Dinge hat der Altprotestantismus im Lichte der Lehre von Thomas von Aquino interpretiert. Die lutherische Orthodoxie tradierte unverändert, und seit dem frühen 17. Jahrhundert vermehrt auch in expliziter Weise, für die Konrad Horneius nur ein Beispiel ist,52 das thomistische Konzept von der Aktindifferenz, demzufolge eine ihrer Artnatur nach indifferente Handlung ihr Wesen verliert beziehungsweise verwandelt, wenn sie in den konkreten Handlungsvollzug christlicher Freiheit gerät, und in eine Differenz gestellt wird und damit zu einer verbotenen oder gebotenen Handlung werden kann. Der freie Gebrauch indifferenter Dinge war selbst nicht indifferent (usus enim rerum indifferentium minime indifferens),53 und dies wurde nur deshalb als möglich betrachtet, weil auch die ihrer Art nach indifferenten Dinge generisch als geboten galten (Genus άδιαφόρου in specie nec expreße praecepti nec prohibiti [...] praeceptum est).54 Doch im-

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gardten gehalten, unnd zu Tübingen in Truck gefertigte Gespräch [...] auß dem Latein treulichen verteutschet. Heidelberg 1588, 2. Teil, S. 25f. Bis 1793 württembergisch; heute: Montbeliard. Acta colloquij Montis Belligartensis: quod habitum est, anno Christi 1586 [...] Praeside illustrissimo principe ac domino, domino Friderico, comite Wirtembergico et Mompelgartensi, etc. inter clarissimos viros, D. Jacobum Andreae [...] et D. Theodorum Bezam [...]. Tubingae 1587, S. 390, 393, 395, 405, 408, 420. - Dtsch.: Colloquium Mompelgartense. Gespräch, in gegenwart des durchleuchtigen hochgebornen Fürsten und Herrn, Herrn Friderichen, Grauen zu Würtemberg und Mümpelgart, etc. [...], zwischen den hochgelehrten, D. Iacobo Andreae [...] unnd D. Theodora Beza [...] Anno 1586. im Mertzen zu Mümpelgart im Schloß gehalten, auffrichtig und treulich beschriben [...]. Auß dem Latein verdeutscht. Tübingen 1587, S. 695, 701, 708, 723, 728, 746f. Mamphrasius: Duae methodi, S. 128. Conrad Horneius: Philosophiae moralis sive civilis doctrinae de moribus libri IV, lib. 2, c. 7, § 18, S. 256f.: »Scotus 2. sentent. distinct. 41. putat actiones morales dari, quae etiam in individuo sint indifferentes. Sed rectius sine dubio sentit Thomas: omnis enim actio voluntarie suscepta, quaeque ordinem habet ad honestatem et legem divinam, illa aut refertur in debitum finem, aut in indebitum, aut in nullum. Si in debitum, bona est moraliter, si in indebitum, mala omnium confessione: si in nullum, malla itidem est, quia omnis actio nostra referri in certum finem debet«. Martini / Vogler: Disp. XII. de libertate Christiana et adiaphoris, thes. 24, fol. Bb3v. David Lobechius (Praes.) / Henricus Vestringius (Resp.): Disputatio XVII. ex articulo Augustanae Confessionis XV. de ritibus ecclesiasticis seu ceremoniis humana auctoritate in Ecclesia institutis. In: D. Lobechius: Disputationes theologicae XXX. articulorum Augu-

186 mer häufiger wurde eigens betont, selbst und gerade in einem von Geboten oder Verboten betroffenen konkreten Gebrauch müsse das Wissen um die Indifferenz der Dinge stets wach bleiben und diesen Gebrauch kontinuierlich begleiten und bestimmen: »usu non semper sunt liberae, sed extra casum scandali, cognitione autem et iudicio semper indifferentes manent. [...] atque sie iudicio quidem manet indifferens semper, quod tarnen usu sit illicitum«.55 Trotz aller Versuche, die Freiheit im Gebrauch indifferenter äußerer Dinge einzuschränken, fehlte es zugleich nicht an Bemühungen, sie auch diesseits vom Fall des Anstoßes und der gewissensverpflichtenden Geltung menschlicher Satzungen wirksam werden zu lassen: vor allem natürlich als Freiheit, Zeremonialgegenstände und Riten nach Form und Materie willkürlich festzulegen. Das entsprach der allgemeinen Definition von Mitteldingen, denn Adiaphora waren (l)generisch (d.h. materialursächlich) menschliche Handlungen, nämlich Festlegungen (ordinationes) äußerer Dinge, und (2) spezifisch (d. h. formursächlich) weder gebotene noch verbotene, mithin freie Festlegungen dieser Dinge. Die >libertas christiana< hatte in einem ihrer Aspekte einen nicht vorhersehbaren Weg zurückgelegt, indem die zunächst auf den untersten ihrer vier Grade herabgesetzte Freiheit in indifferenten äußeren Dingen einen Stellenwert erhielt, der ursprünglich gewiß nicht intendiert war. Von diesem Stellenwert zeugen pointierte Aussagen wie die von Wolfgang Mamphrasius über die autonome Freiheit des Menschen in kirchlichen Mitteldingen. Vergleichbare Äußerungen würde man in den Texten calvinistischer Autoren des frühen 17. Jahrhunderts nicht nur vergebens suchen; die neue Hochschätzung der nach außen gerichteten Freiheit durch die Lutheraner wurde ganz im Gegenteil als »Idolizing of our Christian liberty« gebrandmarkt.56

1.4.

Abgrenzungen gegenüber der reformierten Lehre vom Indifferenten

Im reformierten Raum war die Auffassung von der reinen Spiritualität der christlichen Freiheit die herrschende geblieben. Theodore de Beze hat diesen Lehrbegriff in einem Brief aus dem Jahre 1568 an die Glaubensbrüder in England konzis gefaßt: »Christiana libertas [...] in externo rerum usu minime consistit, sed res est mere spiritualis et interna«. Wenn er die nach außen gekehrte Seite der christlichen Freiheit ex professo ansprach, betonte er fast ausnahmslos die freudige Gehorsams- und Unterwerfungsbereitschaft und deren Notwendig-

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stanae Confessionis άνάλυσιν complectentes et orthodoxem ecclesiarum evangelicarum doctrinam [...] explicantes [...]. Witebergae 1610, § 60, S. 387. Lobechius / Vestringius: Disp. XVII. ex art. Aug. Conf. XV. de ritibus eccles., §§ 41-42, S. 382f. Laurence Womock: Beaten oyle for the lamps of the sanctuarie; or the great controversie concerning set prayers and our liturgie [...] with an appendix [...]. Unto which are added some usefull observations touching christian libertie, and things indifferent [...]. London 1641, S. 48f.

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keit: »perlibenter se omni humanae ordinationi praepositisque Ecclesiasticis iuxta Dei praescriptum submittit, [...] suis Magistratibus, vel praepositis suis sponte [...] paret in Domino«. 57 Und dabei blieb es: »The conscience«, versicherte Laurence Womock (1612-1686) mit Beze, »is now free, to which (and not so much to the outward man) the benefit of such liberty was due.«58 Der äußere Gebrauch der Freiheit wurde, in genauer Umkehrung der Adiaphoraregel Luthers, an ein positiv formuliertes Erlaubnisgesetz gebunden. Wenn man ein solches Erlaubnisgesetz oder ein förmliches Gebot nicht aufzuweisen vermag, so hieß das für Johann Jakob Breitinger (1575-1645), 59 daß eine Handlung als verboten zu gelten hat. Nach diesem Prinzip ging er vor, als er Schauspiele und die ihnen »gar natürlich verwandten]« Bilder aus Zürich zu verbannen suchte: [Wir finden] in gantzer H. Schrift Alten unnd Neuen Testaments [...] weder daß die Comoedien von Gott gebotten, noch den Comoedianten etwas verheissung beschehen, oder daß sie als ein mittelding dem menschen frey gesteh, oder auch ein eintzig exempel daß sie von gläubigen jemahlen gebraucht worden sygind.60

Man trifft allerdings den Sachverhalt nicht richtig, wenn man die Aussage Breitingers dahingehend versteht, daß innerhalb des Calvinismus »ein biblizistischer Nomismus die Ansicht, es gebe Adiaphora, völlig unter Verdikt gestellt« hatte.61 Die calvinistische Ethik kannte sehr wohl adiaphorische Handlungen, und diese wurden, beispielsweise von Lambert Daneau (ca. 1530-1595) 62 oder Marten Schoock, strikt thomistisch interpretiert. Im Streit zwischen Thomismus und Skotismus schlug sich Schoock auf die Seite der Thomisten und beteuerte umstandlos, »recte statuit communis Schola Thomistarum«, und fugte hinzu: »Eadem sententia est Amesii«. 63 Mit etwas mehr Recht, wenngleich nicht ohne Einschränkungen, ließe sich mit der geläufigen These vom calvinistischen Adia57

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T. Beza: Epistola ΧΧΠΙΙ. ad peregrinarum in Anglia ecclesianim fratres (25. Juni 1568). In: Ders.: Volumen tertium tractationum theologicarum [...]. Editio prima ab ipso auctore recognita. o.O. (Genevae) 1582, S. 232-238, hier S. 233f. Womock: Beaten oyle for the lamps of the sanctuarie, S. 49, 52. Breitinger war seit 1613 Antistes der Zürcher Kirche, er nahm an der Dordrechter Synode teil und wirkte maßgeblich bei der Abfassung der Synodalbeschlüsse mit. J. J. Breitinger: Bedencken von Comoedien oder Spilen: gesteh zu dienst und gefallen einer jungen Burgerschafft von Edlen und Geschlechteren der uralten loblichen Statt Zürych [...]. Mit einem Kommentar u. einer Monographie v. Thomas Brunnschweiler. Bern 1989 (Nachdruck der Ausgabe Zürych 1624), S. 10, 19. - Vgl. ebenso Georg Grabow: DanckOpffer. Cölln an der Spree o.J. (ca. 1680), S. 6f., 23, 34f. Der Text erschien in zweiter Auflage unter dem Titel: Danck-Opffer, in welchem zugleich erwiesen, das das so genannte heilige Christ-Spiel kein gut Werck, oder Mittelding; sondern ein sündliches wesen, und schändlicher Greuel sey. Leipzig 1683. So ζ. B. Thomas Brunnschweiler in seinem Kommentar zu dieser Stelle, vgl. Breitinger: Bedencken von Comoedien, S. 72. Lambertus Danaeus: Ethicae christianae libri tres [...] (1577). Editio tertia ab ipso authore recognita. Genevae 1582, lib. 1, c. 17, fol. 72': »Medias autem quasdam actiones et άδιαφόρους, quae vocantur, esse quanquam non nego, quemadmodum etiam ex sacra Scriptura docemur: eas tarnen ratione actus, non autem ratione finis tales esse contendo«. Zur Ethik Daneaus vgl. Christoph Strohm: Ethik im frühen Calvinismus. Berlin, New York 1996, hierinsbes. S. 613ff. Schoockius: Exerc. I. de adiaphoris, sive indifferentibus, S. 9f.

188 phora-Verdikt der Standpunkt der englischen und holländischen Puritaner beschreiben, für die das Bestreben kennzeichnend war, die verpflichtende Kraft der Fundamentalartikel auch noch in jenen Bereich ausstrahlen zu lassen, den die lutherische und die anglikanische Kirche als indifferent betrachteten. Doch selbst dies hieß nicht, daß ein puritanischer >Pastor< die Existenz von spezifisch indifferenten Dingen und Handlungen notwendigerweise hätte leugnen müssen. »The Pastor«, so David Calderwood (1575-1650), »distinguisheth betwixt the natur and use of things indifferent, and confesseth with all the learned, that albeit many actions be in their nature indifferent, yet that all our actions in particular [...] are eyther good or evill«.64 Noch deutlicher äußerte sich der Puritaner Henry Jeanes (1611-1662), fiir den die Behauptung, die Nonkonformisten würden die Existenz von indifferenten Akten leugnen (denyall of things indifferent [...] an aspersion so manfestely untrue, and unjust), Anlaß genug war, sich des Themas in einer Schrift, die ungewöhnlich reich an Literaturverweisen ist, intensiver anzunehmen. Die Begriffe jedoch, mit denen er dies tat, waren noch diejenigen, mit denen das Problem seit dem Mittelalter behandelt wurde, also die Begriffe der scholastischen Philosophie und Theologie. Erwähnenswert dürfte auch sein direkter Rekurs auf Durandus von St. Pour5ain und Johannes Capreolus (In 2 Sent., dist. 40, q. 1) sein, den >Princeps Thomistarum< im 15. Jahrhundert.65 David Calderwoods Drei-Stufen-Modell der Glaubensdinge - (1) Fundamentalartikel, (2) Sätze, die unmittelbar aus diesen folgen, und (3) all diejenigen Dinge, die durch die Bibel abgesichert sind (warrented by the word) - sah in praxi keinen Platz für indifferente Dinge vor: Es gebe im Leben nichts, was so weit von den Fundamentalia entfernt wäre, daß es wirklich gleichgültig sein könnte und die Gewissen nicht binde. Calderwood war sich im Klaren darüber, daß eine derartige Position bei den Vertretern nicht-präzisistischer Denominationen, die allein die erste und zweite Stufe als religiös relevant anerkannten, nur Verwunderung hervorrufen konnte. In der Figur des >Prälaten< wurde Calderwood der »adiaphorisme« anschaulich. Puritaner haben sich stets um einen ausgesprochen distanzierten Gebrauch des Adiaphora-Vokabulars bemüht, um zu verdeutlichen, daß diese Nomenklatur genau genommen einer fremden Lehre angehört, der gegenüber man auch sprachlich auf Abgrenzung bedacht sein muß. Dies gilt ebenso für die englischen Non-Konformisten wie für die Utrechter Präzisisten um Gisbert Voetius (1589-1676). 66 »The Prelat [...] wondereth that a wiseman should be so precise 64

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D. Calderwood: The Pastor and the Prelate, or Reformation and Conformitie shortly compared by the word of god, by antiquity and the proceedings of the ancient kirk, by the nature and use of things indifferent [...]. o.O. 1628, part III, S. 34f. Henry Jeanes: A treatise concerning the indifferencie of humane actions [...]. Oxford 1659, S. If., 3. - Weitere Scholastiker, die Jeanes unmittelbar auswertet, sind Thomas von Aquino, Francisco Suärez, Gregor von Valentia, Cornelius a Lapide (Steen) und Theophil Raynaud. Vgl. G. Voetius: De idololatria indirecta et participata (1642). In: Ders.: Selectarum disputationum theologicarum, pars tertia. Ultrajecti 1659, S. 234-386, hier S. 246: »Lutherani peculari titulo adiaphororum hanc controversiam, et inde adiaphorismum atque adiaphori-

189 and puritanicall, as to stand upon matters that are not fundamentall, but indifferent. For so he distinguisheth, making every thing eyther fundamentall or indifferent.«67 Ein Blick auf andere puritanische determinations concerning indifference< zeigt allerdings, daß David Calderwoods Position nicht unbesehen als exemplarisch für so etwas wie einen gemeinpuritanischen Lehrbegriff betrachtet werden kann. Sehr viel bezeichnender dürfte die Grundüberzeugung gewesen sein, daß es im Bereich des moralischen Seins überhaupt keine oder, wie Robert Greville meinte, nur eine scheinbare Indifferenz gibt (no indifference in Re, but onely in appearence unto us). Die Position der Puritaner, die anhand weniger Beispiele veranschaulicht werden soll, wurde in ebenso eigenwilligen wie originellen Traktaten begründet, in denen der Indifferenzbegriff eingehenden Analysen unterzogen wurde, ein im Luthertum eher unübliches Vorgehen, das erst wieder im Pietismus begegnet. Auffallend an der englischen Kontroverse um »nature and use of things indifferent« zwischen Anglikanern und puritanischen Non-Konformisten ist auch der Umstand, daß weder auf die philosophisch-stoische Tradition noch auf die kontinentalen adiaphoristischen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts Bezug genommen wurde. William Bradshaw (1571-1618), Verfasser einer der frühesten förmlichen Adiaphoraschriften im englischen Sprachraum, bemühte sich um den Nachweis, daß es keine indifferenten Religionszeremonien geben könne. Doch nicht dieses Beweisziel ist bemerkenswert, sondern der damit einhergehende Versuch einer rein formalen Bestimmung von Indifferenz. Bradshaw verstand unter »things indifferent« im allgemeinsten Sinn des Wortes »any Mean between two Extreames« und »any mediocritie whatsoever«, allerdings veranschaulichte er seinen Begriff anhand mißverständlicher mathematisch-geometrischer Exempla, indem er ihn mit der Mitte einer Linie und dem Mittelpunkt eines Kreises verglich.68 Indifferenz war für Bradshaw nicht in sich und von sich selbst her bestimmbar, sondern nur relational, das heißt in Relation zu zwei einander in derselben Gattung entgegengesetzten Extrema. >Things indifferent wurden damit in der Kategorie der Relation situiert. Das Indifferente, das zu derselben Gattung wie die einander entgegengesetzten Extrema gehören muß, stimmt mit diesen in allen Aspekten überein, in denen diese selbst miteinander übereinstimmen (That which is properly a mean, must agree with the extreames in althinges

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stas denominarunt«; vgl. auch ebd., S. 262: »Non sine ratione tempore majorum nostrorum abhorruerunt Protestantes in Germania non tantum a Pseudo-Interim, sed ab omnibus phrasibus Interimisticis.« - Voet erörterte in diesem Kontext auch die Frage, ob Christen heidnische Götternamen benutzen dürfen: ein Problem, das von erheblicher Bedeutung gerade fur die Dichtung war und noch im 18. Jahrhundert diskutiert wurde; vgl. dazu ζ. B. Justus Heinrich Rümker (Praes.) / Georg Friedrich Neumann (Resp.): De mythologiae deorum gentilium abusu in poesi Christiana. Lipsiae 1709. Calderwood: The Pastor and the Prelate, S. 30, 33. W. Bradshaw: A treatise of the nature and use of things indifferent. Tendinge to prove, that the ceremonies in present controversie amongst the ministers of the gospell in the realme of England, are neither in nature or use indifferent. o.O. 1605, S. 1, 3f., 24. - Wiederabgedruckt in W. Bradshaw: Several treatises of worship and ceremonies [...]. London 1660, S. 17-31 (Nr. 3).

190 in which the extreames doe agree. [...] things indifferent follow their extreames). Das Mittlere zwischen zwei einander entgegengesetzten Qualitäten oder Handlungen muß selbst eine Qualität oder eine Handlung sein. Daß Indifferenz nicht in sich selbst bestimmbar ist, bedeutete aber auch, das dasjenige, was in einer Beziehung indifferent ist, in einer anderen zu den Extrema zählen kann. Folglich konnte es wegen der natürlichen Güte der Schöpfung auf der entitativen Ebene keine Indifferenz geben, da es auf dieser kein dem natürlichen Gutsein entgegengesetztes Schlechtsein gab. Bradshaw ging indes noch einen Schritt weiter und Schloß Indifferenz auch auf der Ebene moralischer und religiöser Handlungen einschließlich der Zeremonialhandlungen aus.69 Ohne Bradshaws Namen zu nennen, orientierte sich Robert Greville, Second Lord Brooke (1607-1643), unübersehbar an dessen Abhandlung, beseitigte jedoch eine bei Bradshaw verbliebene Unklarheit im Begriff der Indifferenz, indem er deutlich machte, daß zwei >mediummedium negationismedium negationisin< im Wort >indifferent< kann nicht rein im Sinn des >medium negationis< gemeint sein (not purely Non differens, but in such, or such a respect, it Differeth not), denn »Negatives make no Definition«. Ein >medium participationismedium negationis< beschränkt sich folglich darauf, ein Medium der Negation am partizipativen Medium zu sein, und zwar genau im Sinn der Nichtidentität des partizipativen Mittleren mit beiden Extrema, wenn und insofern es an beiden partizipiert (so wie sich lauwarm gegenüber heiß und kalt, grau gegenüber weiß und schwarz verhält). Diese verbliebene Möglichkeit des >medium negationis< bezeichnete Greville als »Indifferentdifference«.70 Der Grund für die Unmöglichkeit eines moralischen >medium participationis< lag für Greville hingegen darin, daß im moralischen Bereich die Extrema (d. h. gut und böse) nicht zwei positive Entitäten sind, an denen ein Mittleres partizipieren könnte (denn das Böse ist nur die >Beraubung< des Guten). Wollte man Indifferentes im Raum des moralischen Seins definieren, dann müßte man sagen: Es ist generisch etwas in sich Gutes und spezifisch etwas, dessen Gebrauch indifferent ist, oder richtiger: indifferent zu sein scheint: »A thing Lawfull and Good, which [...] may be Used or not: may or may not be done.«71 Die 69 70

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Bradshaw: A treatise of the nature and use of things indifferent, S. 3f., 10, 12, 22f. Robert Greville: A discourse opening the nature of that episcopacie, which is exercised in England [...]. London 1641, sect. I, ch. 5, S. 19f. - Der Text erschien (corrected and enlarged) in London 1642 in zweiter Auflage, ein Reprint dieser zweiten Ausgabe in: Tracts on Liberty in the Puritan Revolution 1638-1647. Edited, with a commentary, by William Haller. Vol.11. Facsimiles, parti. New York 1934, S. 37-163. Im folgenden wird die Schrift nach der 2. Auflage zitiert unter Angabe der Originalpaginierung, hier S. 17f. Greville: A discourse opening the nature of that episcopacie, S. 19f.

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an den Gedanken von der scheinbaren Indifferenz anknüpfende Frage, ob es überhaupt möglich ist, daß eine in sich gute Sache (Akt) zu ein und derselben Zeit von ein und derselben Person nach Belieben und ohne Anstoß zu erregen getan oder unterlassen werden kann, zerlegte Greville in zwei Teilfragen: (1) Muß nicht von zwei Kontraria mit Notwendigkeit eines besser sein als das andere? (2) Ist man in einem solchen Fall nicht verpflichtet, das Bessere beziehungsweise Beste oder zumindest dasjenige zu wählen, was das Bessere beziehungsweise Beste zu sein scheint? Greville sah nur zwei, nach seinem Verständnis gleichermaßen indiskutable Möglichkeiten (a strange Tenet), den Inhalt der zweiten Teilfrage (whether Optimum sit semper faciendum) in Zweifel zu ziehen: entweder durch die Behauptung, daß man nicht stets gehalten ist, dem Urteil der Vernunft zu gehorchen (that [...] wee are not bound to follow Right Reasons Dictates), oder durch die Behauptung, daß man nicht stets die Vernunft befragen muß.72 Die erste (definitorische) Bedingung generischer, das heißt natürlicher Bonität des indifferenten Aktes >a parte rei< hatte schon Johannes Duns Scotus formuliert; der Hauptunterschied zu dessen Lehre liegt im zweiten Satz, den Greville, betrachtet man ihn aus skotischer Sicht, ungenügend differenzierte. Denn die Nichtübereinstimmung >a parte operantis< mit der Vernunft legte er exklusiv auf Vernunftwidrigkeit fest (Acts [...] against the Dictate of Right Reason), ohne die Möglichkeit der negativen Nichtentsprechung überhaupt in Erwägung zu ziehen. Die erste Teilfrage (whether amongst divers Things [...] [to be done] There be any Optimum) verstand Greville nicht im überlieferten Sinn, also nicht als Frage nach der Möglichkeit spezifischer Aktindifferenz »a parte rei«, sondern ging vom bereits mit individuellen Umständen bekleideten Akt aus und beantwortete die Frage erwartungsgemäß negativ: »There is no One thing, no One Act, in all the World, That I may doe, or not doe, ad placitum, at my pleasure, all Circumstances considered.« Indifferenz erklärte Greville ebenso wie Kontingenz - zu einem Phänomen, das in seiner Existenz allein vom Beobachter abhängig ist: eine Aussage, die man allerdings nicht vorschnell im Sinn der systemtheoretischen Beobachtungslehre Luhmanns verstehen darf. Indifferenz und Kontingenz waren nämlich nur Resultate der Schwäche (imbecillitas) des menschlichen Intellekts: »I conceive that all the Indifference (in the world) lies in our Understandings, and the Darkenesse thereof, (which makes them wavering sometimes, and doubtfull whether to doe or not, so that in them seemes some Indifference to either extreme) but there is none in the things themselves, or Actions.«73 Mit diesen Überlegungen hatte Greville für die Beantwortung der weiteren Fragen »What power may determine in Indifference, and where this Power is fixed« weitgehende Vorentscheidungen getroffen. In Fällen nur scheinbarer Indifferenz, die für Greville überdies nicht sehr zahlreich waren, hatte die Kirche determinative Macht, und sie hatte zugleich keine. Waren beide Extrema nicht notwendig, sondern zweifelhaft, weil die Schrift sie nicht festlegte, dann besaß die Kirche keine Macht, gewissensverpflichtende Festlegungen zu treffen, und 72 73

Greville: A discourse opening the nature of that episcopacie, S. 20f, 23. Greville: A discourse opening the nature of that episcopacie, S. 24f., 26.

192 mußte dennoch entscheiden. Die Notwendigkeit dieser Entscheidung (die Notwendigkeit des Indifferenten) führte Greville allerdings nicht etwa darauf zurück, daß das biblische Programm ohne willkürliche menschliche Determinationen gar nicht existieren könnte, sondern präzis auf den Umstand, daß die Indifferenz nur scheinbar bestehe und »in re« eines der Extrema notwendig sei. Die Kirche »here must not command what she will, because she Will; but must goe by her Rule«.74 Genau dies hätte indes nur dann geschehen können, wenn eine solche Regel, die darüber etwas aussagt, auch zur Verfugung gestanden hätte, was jedoch nicht der Fall war. Das Problem der Willkür beschäftigte und irritierte nicht nur die Vertreter reformierter Denominationen; auch auf lutherischer Seite waren die Warnungen vor dem Mißbrauch vor allem der nach außen wirkenden Freiheit nicht etwa plötzlich verstummt. Die Beteuerungen, daß kirchliche Riten nicht deshalb als indifferent und frei bezeichnet werden, weil sie individueller Willkür unterworfen sind, hatten bereits rituellen Charakter bekommen. Man berief sich zu diesem Zweck gern auf die >Adiaphoralehre< Augustins, das heißt auf eine Stelle aus einem Brief an Januarius,75 die integral in das Decretum Gratiani (um 1142) aufgenommen worden war.76 Doch immer häufiger handelte es sich dabei um pflichtschuldig gemachte Aussagen topischer Art, die dem veränderten Lehrbegriff nicht mehr entsprachen. Ein beträchtlicher Teil der Anhänger Luthers artikulierte in der vorliegenden Frage Anschauungen, denen schwerlich etwas auch nur annähernd Vergleichbares aus Texten reformierter Autoren an die Seite gestellt werden könnte. Denn für die lutherische Orthodoxie war die Sache der Adiaphora ohne die Sache der Freiheit nicht mehr thematisierbar: Diesen engen Zusammenhang zwischen Mitteldingen und Freiheit machte Melchior Nicolai (1578-1659) kurzerhand dadurch deutlich, daß er beide Ausdrücke für bedeutungsgleich erklärte: »Synonymum ejus [του άδιαφόρου] est quod et libertas Christiana nuncupatur.«77 Es war Konrad Horneius (1590—1649),78 der die Freiheit im Indifferenten explizit, und nicht mehr nur - nach dem Vorbild Luthers - allein der Sache nach, mit der Indifferenzfreiheit der Jesuiten verknüpfte, nach deren Lehre diese 74 75

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Greville: A discourse opening the nature of that episcopacie, ch. 6, S. 27f., 30. Vgl. Himmelius / Georg: Disp. XI. de ceremoniis ecclesiasticis seu adiaphoris, thes. 20, fol. Y3 r . - A. Augustinus: Ad inquisitiones Januarii liber primus, seu epistola 54 (nach anderer Zählung: ep. 118), c. 1 u. 2 (Opera omnia. Tom. II. MPL 33. Paris 1865, col. 200). Decretum Gratiani, pars I, dist. 12, can. 11 (Corpus juris canonici emendatum et notis illustratum. Gregorii XIII. Pontif. Max. jussu editum [...]. Coloniae Munatianae 1696, col. 27). Nicolai (Praes.) / Weishard (Resp.): Dissertatio ελεγκτική de rebus adiaphoristicis corruptelis et erroribus Calvinianorum et inprimis Pontificiorum opposite, S. 6f. - Vgl. Johannes Himmelius (Praes.) / Johannes Georg (Resp.): Disp. XI. de ceremoniis ecclesiasticis seu adiaphoris. In: J. Himmelius: Collegium analyticum libri Concordiae Christianae, genuinorum Augustanae Confessionis sociorum symboli [...]. Jenae 1621, thes. 50, fol. Zl v (wiederabgedr. in: Ders.: Analysis logico-theologica libri Concordiae, disputationibus ΧΠΙ proposita. Jenae 1623, S. 229-250). Horneius (Horn[e]), lutherischer Theologe und Philosoph in Helmstedt, Schüler und Nachfolger von Cornelius Martini, war in die synkretistischen Streitigkeiten verwickelt und wurde des Kryptopapismus verdächtigt.

193 Freiheit der Indifferenz eine unverlierbare Wesenseigenschaft des natürlichen Willens ausmacht. Das hatte Rückwirkungen auf die katholischen Glaubensgegner, zumindest sprachlicher Art. Man kann nämlich davon ausgehen, daß Denys Petau (1583-1652) kurze Zeit später gezielt den Ausdruck »liberii arbitrii τό άδιάφορον« statt der sonst zur Bezeichnung der Willensfreiheit üblichen Nomenklatur benutzte; nicht weniger aussagekräftig sind seine Hinweise auf andere verwandte, bei den Patres gebräuchliche Termini wie »αύτόνομον, id est sui iuris« oder »αύτοτελής, quod est ipsum per se agendi, eligendique vim habens«.79 Weitere Zeugnisse für eine verstärkte Übernahme des AdiaphoraVokabulars im katholischen Raum finden sich auch in jenen Schriften, die sich mit dem Problem des religiösen Indifferentismus auseinandersetzten.80 Die förmliche Verknüpfung der >libertas in adiaphoris< mit der aktiven Indifferenz könnte aus heutiger Sicht als großer Schritt erscheinen, allerdings nur dann, wenn man ihn kontextlos und nicht im Licht der bisher betrachteten Entwicklung sieht. Bemerkenswert ist aber in jedem Fall, daß die Hauptautoritäten, die Horneius zitierte, neben mittelalterlichen Autoren vor allem spanische Jesuiten waren: »probat recte Thomas«, »recte Fonseca demonstrat«, »rectissime censet Suarez«, heißt es bei ihm allenthalben. Die argumentative Orientierung an der Jesuitenscholastik bestimmte seither die Lehre der Lutheraner und vornehmlich deren Auseinandersetzungen mit den Reformierten entscheidend mit. Horneius übernahm das jesuitische Freiheitskonzept der aktiven Indifferenz, wonach als frei nur dasjenige bezeichnet werden kann, »quod simpliciter agit ad utrumque oppositorum, sive quod ad utrumque partem contradictionis indifferenter se habet, id est, quod tale est, ut posito et omnibus caeteris requisitis, iisque nihil mutatis, possit velle et non velle, sive agere et non agere«.81 Freies Handeln implizierte für ihn mehr als nur Spontaneität (Freiwilligkeit). Horneius rezipierte dieses Konzept in der strengen Ausgestaltung, die ihm die Jesuiten gegeben hatten, er verteilte also die freie Wahl in beide Richtungen nicht, so wie es die Gegner der Indifferenzfreiheit mit dem alten Verweis auf die >mutabilitas< und >inconstantia< des menschlichen Willens gern taten, auf verschiedene Zeiten, sondern lehrte, daß dem Willen die Indifferenz auch in dem Augenblick erhalten bleibt, in dem er den Akt veranlaßt (sane si voluntas eo instanti quo elicit actum non est indifferens ad eliciendum et non eliciendum, numquam est indifferens, quia respectu istius instantis proprie libera dicebatur).82 Allerdings beschränkte Horneius die Anwendung dieses Konzeptes auf die Dinge, die der menschlichen Vernunft unterworfen sind - die >inferioraNominales< auch den Satz »fmis appetitur necessario« und sprach dem Menschen die Fähigkeit zur freien Wahl all seiner Zwecke zu.85 Den Gedanken der mittelalterlichen Theologen, die Freiheit des Willens bei der Wahl seiner Zwecke bestehe auch gegenüber dem »bonum commune«, schränkte er zwar auf Willensindifferenz in der Ausführung der Handlung ein (quoad exercitium actus), verneinte sie also »quoad speciem actus« und wies damit das scholastische Gedankenspiel zurück, der Wille könne die Seligkeit ablehnen (possit quis beatitudinem odio habere).86 Doch dabei blieb Slevogt nicht stehen, sondern machte auf das Vermögen des Willens aufmerksam, sich reflexiv auf sich selbst und seine Akte zu beziehen und in einem positiven Akt seinen >quoad speciem< notwendigerweise auf das >bonum commune< gerichteten Akt nicht zu wollen (potest etiam semet in seipsam et in motus suos reflectere, et ita per alium actum positivum velle carentiam illius actus, aut, quod eodem recidit, nolle exercere eum). Das Resultat dieser Überlegung bestand darin, daß die Indifferenz des Willens gegenüber ausnahmslos jedem Zweck und Gegenstand - im genannten Sinn - sowohl bezüglich der Ausführung als auch der Spezifikation des Aktes gesichert war (Qua ratione circa quodcunque objectum voluntas libera est quoad exercitium, libera quoque est quoad specificationem). Slevogt hob ausdrücklich hervor, daß seine Überlegungen nicht weniger bedeuteten als die Revision der alten, aristotelischen Vorstellung, die Beziehung des Willens zu seinem Ziel gleiche der Beziehung des Intellekts zu seinen Prinzipien.87 83 84

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Paul Slevogt war Professor fur biblische Sprachen, Logik und Metaphysik in Jena. Slevogt: Disputationum philosophicarum practicarum prima ( - quinta), de indifferentia voluntatis humanae in ordine ad actiones morales (1651-1652). In: Ders.: Disputationes academicae, cum philosophicae, tum philologicae [...]. Jenae 1656, S. 553-696, hier disp. 1, S. 558f. - Die Reduktion menschlicher Willensfreiheit auf bloße Spontaneität hat Calvin und dem Calvinismus von katholischer Seite den Vorwurf eingetragen, eine Religion fur Tiere< zu sein. Vgl. die gleichnamige Schrift: Calvinismus, bestiarum religio. In: Theophili Raynaudi Societatis Jesu Apopompaeus. Admodum rara continens [...]. Tomus vigesimus [...]. Per Anonimum novissime digestus [...]. Cracoviae 1669, S. 77a-98b, hier Diatriba II, S. 82a, 83a. Der zuerst 1630 publizierte Text wird auch Antoine Riviere zugeschrieben. Slevogt: Disp. quinta de indifferentia voluntatis humanae, S. 669, 671, 676. - Slevogt nannte explizit nur Wilhelm von Ockham und Gabriel Biel. Die Denkfigur des >sibi finem proponere< ist im späten Mittelalter aber allenthalben zu finden. Slevogt: Disp. quinta de indifferentia voluntatis humanae, S. 672. Slevogt: Disp. quinta de indifferentia voluntatis humanae, S. 670, 673. - Vgl. Suärez: Disp. metaph., disp. 19, sect. 5, η. 7; sect. 8, η. 8 (XXV, S. 713a/b; 728b).

195 In der frühen Neuzeit war das Kontingente der genuine Kompetenzraum von Deliberation und Wahlfreiheit. Die Freiheit der Indifferenz, Gegenstand der adiaphoristischen Kontroversen, hatte ihren Sitz »formaliter« im Willen, im Intellekt war sie hingegen nur »radicaliter« angesiedelt. Diese Distinktion schien Homeius geeignet, eine Äquivokation im Terminus >Indifferenz< zu beseitigen, auf die bereits Suärez aufmerksam gemacht hatte. Wenn man von einer »indifferentia intellectus« spricht, dann ist diese nur als »indifferentia objecti«, nicht als eine der Erkenntnisakte zu verstehen: Der Intellekt zeigt nur, »rem esse indifferentem«, das heißt, daß Verschiedenes, sowohl dieses als auch jenes, gewollt werden kann. Damit kam dem Intellekt weder die >libertas contradictionis< noch die >libertas contrarietatis< zu. Der Wille hingegen war das Vermögen, frei und indifferent zu wollen beziehungsweise nicht zu wollen, wenn ihm der Intellekt zuvor dasjenige gezeigt hat, was er auf indifferente Weise wollen kann (quae indifferenter appeti possent). Die Indifferenz des Willens war ein die Freiheit konstituierendes »indifferenter velle«, nicht etwa ein »velle indifferen88

tia«. In Gestalt der Versicherung, daß der Wille nicht Indifferentes wolle, lehnte Horneius das scholastische Lehrstück vom >finis indifferens< ab. Denn hinsichtlich ihrer Zielintention legte er diese Freiheit auf Erbauung fest; und sie konnte dadurch auch problemlos im Rahmen älterer, didaktischer Konzepte interpretiert werden. Begründungen und Rechtfertigungen des kirchlichen und weltlichen Gebrauchs von Bildern oder Instrumental- und Vokalmusik weisen genaue Parallelen zu entsprechenden poetischen Entwürfen der horazischen Tradition auf: »difficulter genus humanuni posse ad pietatem et virtutem flecti propterea quod neglecta recte vivendi ratione ad voluptatem prono feratur impetu: Melodiae oblectationem doctrinae praeceptis commiscuit, ut una cum suavitate et dulcedine rerum bonarum et utilium doctrina animis illaberetur«.89 Das unverändert >nomistische< Verständnis der Adiaphora (in genere quidem in verbo Dei comprehensae, sed in specie atque expreße ibidem non mandatae nec prohibitae, sed mediae, id est, per se ac sua natura nec bonae nec malae, sed libere [...] Nam carentia mandati specialis est proprium adiaphororum)90 machte es den Calvinisten und Puritanern allerdings leicht, Zeremonien und den ihnen zugewiesenen Funktionen den adiaphorischen Charakter gänzlich abzusprechen.91 Den Gedanken der lutherischen Verteidiger der adiaphorischen Natur der Zeremonien und anderer äußerlicher Dinge, daß sich die Freiheit in deren Gebrauch am paulinischen Regelternar von >ordodecorum< und >aedificatio< zu orientieren habe, kehrten die Calvinisten einfach um, indem sie, wie William Ames (1576-1633), alles, was seiner Natur nach zu diesen drei Stükken beiträgt, eben gerade deshalb nicht als indifferent gelten ließen: »Quae-

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Horneius: Philosophiae moralis [...] libri IV, lib. 2, c. 5, S. 196, 198f. - Vgl. Suarez: Disp. metaph., disp. 19, sect. 5, η. 22 (XXV, S. 717b-718a). Lobechius / Vestringius: Disp. XVII. ex art. Aug. Conf. XV, § 99, S. 397f. Mamphrasius: Duae methodi, S. 121, 125. - Vgl. Strubius / Heidenreich: Disp. theol. de adiaphoris in genere, et in specie de imaginibus, thes. 10, 24, fol. A3', A4V. Vgl. Bradshaw: A treatise of the nature and use of things indifferent, S. 22f.

196 cunque sua natura faciunt ad ordinem, decorum, aut aedificationem ullam, ilia non sunt adiaphora«. 92

1.5.

Die Adiaphorie der Bilder in katholischer Sicht

Zu den wenigen Autoren, die im 16. Jahrhundert auf katholischer Seite überhaupt zum lutherischen Konzept der Adiaphorie profaner Bildformen Stellung genommen haben, gehörte Kardinal Gabriele Paleotti (1522-1597). Paleotti wandte erklärtermaßen den thomistischen Lehrbegriff in der Frage der Möglichkeit einer moralischen Indifferenz von menschlichen Handlungen auf bildtheoretische Probleme an und gab eine nach ausgewählten Bildgattungen differenzierte Antwort. Konkreter Ausgangspunkt seiner Überlegungen waren die antiken Herrscherbildnisse und die (allerdings keinem bestimmten Autor oder Text zugeschriebene) Behauptung von der Adiaphorie dieser Bildform, die ihre moralische Bedeutung erst in bestimmten Verwendungszusammenhängen erhalte (nec bonas per se, nec malos esse, sed intermedias, et [ut aiunt] άδιάφορας, et totum hoc a consilio, et a fine [quem sibi utentis animus proposuit] pendere). Paleotti hielt diese Hypothese für legitimatorisch und wies sie entschieden zurück.93 Ebenso kategorisch Schloß er im Fall von Sakralkunst insgesamt und heidnischen Götterbildern insbesondere moralische Indifferenz aus. Antike Götterbilder wollte er, wie profane Bilder überhaupt, allerdings nur in der Kirche verboten sehen, zu Studienzwecken sollten sie durchaus benutzbar sein, aber nicht an exponierter Stelle aufgehängt werden. In unmittelbarer Analogie zur Rechtfertigung des Gebrauches heidnischer Bücher 94 plädierte Paleotti für eine maßvolle Auswertung antiker Profanbilder (picturas profanas, cum varia inde argumenta elici possunt, non esse statim expellendas) nach Art der Bienen (instar apium, quae e summa florum varietate mel colligunt). 95 Statuen und Bildwerke von Herrschern ebenso wie Porträtbilder von Philosophen oder Dichtern waren für Paleotti als anschauliche Zeichen der Ehrerbietung und »virtutis monumenta« ihrer Natur nach mit moralischer Indifferenz unvereinbar (propria imaginum natura ea [...] ut hominem cum dignitate repraesentet). Die positive Wertschätzung, die den dargestellten Personen zuteil wird, liegt in den Prinzipien solcher Bildtypen selbst begründet. 96 Anders, im Resultat aber vergleichbar, schätzte Paleotti Selbstbildnisse ein: Auch eine an sich beste92

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G. Amesius: De conscientia, et eius iure, vel casibus, lib. III, c. 18, S. 148. - Der Engländer William Ames war Sekretär des Dordrechter Synodalpräsidenten Johann Bogerman. Paleotti: De imaginibus sacris, et profanis, lib. Π, c. 10, S. 166ff., 170. - Das literarische Parallelproblem wurde in der frühen Neuzeit gern vom Extremfall ausgehend diskutiert: Ist hyperbolische Panegyrik sittlich zulässig? Vgl. dazu Alphonso de Castro: Adversus omnes haereses libri quatuordecim [...] (1532). Venetiis 1555, fol. 512'-514 v (v. >studia generaliaästhetisch< hätte bezeichnen können. Allerdings war Paleotti der Meinung, daß diese Form der Gegenstandszuwendung nur den wenigsten Menschen zugänglich sei (pauci sunt, qui ad hunc contemplationis gradum ascendunt). Den >ästhetischen< Zu97 98

Paleotti: De imaginibus sacris, et profanis, lib. Π, c. 19, S. 210f., 213. Paleotti: De imaginibus sacris, et profanis, lib. II, c. 30, S. 266,: »Apponere ergo Studium circa sensibilia cognoscenda, dupliciter potest esse vitiosum. Uno modo, inquantum cognitio sensitiva non ordinatur in aliquid utile, sed potius avertit hominem ab aliqua utili consideratione« (die zweite fehlerhafte Art besteht darin, die sinnliche Erkenntnis unmittelbar auf etwas Schädliches zu richten). - Paleotti äußert sich hier mit und zugleich gegen Thomas von Aquino, vgl. dazu S. Th., II-II, q. 167, a. 2 (Leon. X, S. 347a/b).

198 wendungsmodus unterschied er von dem Verhältnis, welches die Menschen gewöhnlich zu den >artes ludicrae< einnehmen, insofern diese nur den Zweck hätten, die sinnliche Augenlust zu befriedigen." Trotz der genannten Einschränkung zeigte Paleotti im Umgang mit profanen Bilderwerken allemal mehr Konzilianz, als man im protestantischen Raum dieser Zeit finden könnte. Das eigentlich Interessante an seinen Ausführungen liegt jedoch darin, daß sie, und sei es noch so vermittelt und in Anlehnung an alte Vorstellungen von kontemplativer Weltfrömmigkeit formuliert, im Umgang mit profaner Kunst die Möglichkeit von Indifferenz >in individuo< andeuteten. Eine Stellungnahme von protestantischer Seite scheint es dazu nicht gegeben zu haben.

1.6.

Johann Arndt: Ikonographia

Mit der 1586 in Mömpelgard durch den Nachfolger Calvins in Genf, Theodore de Beze, bekräftigten reformierten Position in der Frage der Adiaphorie der Bilder setzte sich der lutherische Theologe und Mystiker Johann Arndt (15551621) in seiner Ikonographia auseinander.100 Das anonym erschienene, wenig bekannte Werk Arndts war, anders als zahlreiche andere lutherische Disputationen des 16. Jahrhunderts über Bildkunst und Bildgebrauch,10' nicht allein mit der Zielsetzung verfaßt worden, einen negativen Verbotsnachweis für rechtverstandenen, nützlichen christlichen Bildgebrauch zu führen. Denn obwohl auch Arndt zeigen wollte, daß Gott »nicht die Bilder an im selbst [...], sondern den mißbrauch« verboten habe,102 hob er mit seiner Schrift Bilder doch gleichzeitig aus der Gesamtheit äußerlicher Dinge heraus und machte sie zum Gegenstand einer eigenen Untersuchung, die dem Gebrauch, vor allem aber dem vielfältigen Ursprung von Bildern nachging. Das verstand sich nicht von selbst; als zu den 99 100

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Paleotti: De imaginibus sacris, et profanis, lib. II, c. 30, S. 263-265. Johann Arndt studierte in den Jahren 1575-1581 Theologie und Medizin in Helmstedt, Wittenberg, Straßburg und Basel, von 1590-1599 war er als Pfarrer an der Nikolaikirche in Quedlinburg tätig, 1599 wurde er an die Martinikirche in Braunschweig berufen, von 1609-1611 arbeitete er in Eisleben, seit 1611 war er Generalsuperintendent des Fürstentums Braunschweig-Lüneburg. Von seinen Amtskollegen wurde er wegen seines Anschlusses an die Tradition der katholischen Mystik des Mittelalters angegriffen. Ein Streit um seine Rechtgläubigkeit in der Frage der Erbsünde und der Willensfreiheit veranlaßte ihn, sein Hauptwerk, die Vier Bücher vom wahren Christentumb, mehrfach umzuarbeiten (1. Buch zuerst Franckfurt/M. 1605, alle vier Bücher Braunschweig 1606, endgültiger Text der 1. Buches zuerst Jena 1607, aller vier Bücher Magdeburg 1610). Vgl. als Beispiel für viele: Theodoricus Sneppius (Praes.) / Nicolaus Schweickerus (Resp.): Disputatio de imaginibus. Tubingae 1571, hier § 55. Johann Arndt: Ikonographia. Gründtlicher und christlicher Bericht, von Bildern, ihrem uhrsprung, rechtem gebrauch und mißbrauch, im alten und neuen Testament: ob der mißbrauch die Bilder gar auffhebe: was dieselbe für ein gezeugnuß in der Natur haben, in geistlichen und weltlichen Sachen: von der Ceremonia oder Zeichen des Creutzes: auch von der eusserlichen Reverentz und Ehrerbietung gegen dem hochgelobten Namen Jesu Christi, unsers einigen Erlösers und Ehren-Königs [...]. Halberstadt o.J. (Vorrede: 1596), c. 4, Β1.2Γ.

199 äußerlichen Zeremonien gehörig und unter dem Gesichtspunkt des Angriffs auf die christliche Freiheit lag es viel näher, die »Bilderey« zu den anderen »eusserlich gering ding« zu tun und im Blick auf die versuchte Gewissensbindung das >BrotbrechenBilderbrechen< und dergleichen Dinge zusammen und als zusammengehörig zu behandeln.103 In einer nur scheinbar weit über die entsprechenden Aussagen Luthers hinausgehenden Weise vertrat Arndt die vollkommene Spiritualität des im Glauben und in der Liebe bestehenden reinen Gottesdienstes. Dieser Kult, der als unsichtbare Kirche das Reich Gottes ist, war in seiner Existenz nicht gefährdet, wenn auch »nimmermehr eine Kirche, Bilde und Altar were. Denn er ist an keine zeit, ort oder einig eusserlich ding gebunden«. Der historische Beleg für die Existenzmöglichkeit einer unsichtbaren Kirche war die Zeit der Christenverfolgung, in der keine »öffentliche versammlunge oder brauch der Sakramenten verstattet worden«; diese nur Gott bekannte Kirche hatte ihren Ort allein im gläubigen Herzen.104 Daß darüberhinaus noch eine sichtbare Kirche mit einer äußerlichen Ordnung und Zeremonien nötig war, führte Arndt in einer nicht unmittelbar verständlichen Weise auf »die art des Glaubens, Liebe, hoffnung, bekenntnus« zurück, bezog dieses Erfordernis aber ursächlich zunächst nur auf die am äußerlich Sichtbaren hängenden Glaubensschwachen und generell auf menschliche Schwachheit.105 Arndt verwarf unter Berufung auf das Mumpelgartische Colloquium den Einwand, daß ein äußerlich sichtbares Gedächtniszeichen, das nicht wie Wort, Taufe und Abendmahl geboten war, für abgöttisch gehalten werden könnte, wenn es in übereinstimmender Weise den »Augen das fürbildet, das daß Hertze gleubet«, und machte einen in dieser Weite bislang unbekannten Gebrauch von dem Gedanken, Christus »auf allerley weise« und insbesondere auf sichtbare Art zu predigen.106 Zur Bekräftigung dieses Gedankens zog er neben etlichen Beispielen aus beiden Testamenten auch zahlreiche fabulöse Berichte heran wie etwa die Geschichte eines schweren Erdbebens, das ein einst von den Türken übertünchtes Bild der Leiden Christi wieder zum Vorschein gebracht haben soll. Die These von der generellen Herkunft der Bilder aus der Abgötterei und das von den Reformierten aus »überflüssige[r] Heiligkeit«107 daraus abgeleitete allgemeine Bilderverbot wies Arndt zurück, indem er den Ursprung von Bildern dreifach gliederte und diese Bilder als »imagines typicae« und »imagines mysticae« aus Gott, das heißt aus prophetischer und göttlicher Offenbarung, aus der Geschichte und aus der Natur hervorgehen ließ. Damit mußte er den Mißbrauch,

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Vgl. als typisches Beispiel für diese Auffassung Johann N. Hess: Gründtliche Ablehnung dero XX. auß Luthero falschlich zusammen geflickten, und zu Marpurg underschiedlich abgedruckten Fragen und Antwort vom Brotbrechen, etc. In welcher D. Luthers beständige Meynung vom Bilderbrechen, Brotbrechen, und andern verwandten streitigen Puncten, auß seinen [...] Schafften treulich zusammen getragen [...] werden [...]. Glessen 1606, S. 16f. Arndt: Ikonographia, Vorrede, Bl. 2 M r . Arndt: Ikonographia, Bl. 3V, T, 8'. Arndt: Ikonographia, Bl. 8V; c. 1, fol. 14'. Arndt: Ikonographia, c. 8, Bl. 3Γ.

200 dem die »Bilder Kunst« vornehmlich in Gestalt des Bilderdienstes stets ausgesetzt war, nicht den Bildern selbst anrechnen.108 Das Verbot, den unsichtbaren Gott im Bild anzubeten, begründete Arndt protestantischer Lehre gemäß - von Seiten des Menschen mit der Gefahr, die Einzigkeit Gottes, und wenn auch nur im Bewußtsein des Menschen, zu verletzten, da im Bilderkult Kreatürliches verehrt wird. Biblisch legitimiert, ja bisweilen sogar geboten, war für ihn die Darstellung sowohl geistlicher als auch weltlicher Dinge als »schöner nützlicher gebrauch« von Bildern.109 Der lutherischen Äquivalenzthese von figürlich-anschaulichem Wort und äußerlich wahrnehmbarem Bild hinsichtlich ihrer Wirkung gab Arndt, indem er sie im Licht der Signaturenlehre interpretierte, ein ganz eigenes Aussehen, was seine Konzeption durchgängig bestimmte. Bild und Wort näherte Arndt einander dadurch an, daß er sie zunächst nur als zwei verschiedene natürliche Wege — durch das Gehör und durch das Auge nämlich - auffaßte, das innere, geistige Vorstellungsbild, von dem alles menschliche Erkennen und Verstehen abhängt, zu erzeugen. Die Äquivalenzthese haben die Lutheraner auch hinsichtlich der >causa exemplaris< als Lehre von der Gleichrangigkeit von innerem und äußerem Formvorbild als dem Woraufhin einer gestaltenden Bezugnahme vertreten.110 Nach dieser wenig später von Simon Gedik vertretenen Doktrin ist ein Bild »ein muster und darstellung eines dinges, es sey nu gleich in des Menschen Seele, oder ausser des Menschen Seele«.111 Entscheidend für Arndt war indes, daß sich das reformierte Verdikt gegen Bilder und Gemälde, konsequent gehandhabt, selbst gegen das Wort Gottes richten mußte: Denn auch der Geist Gottes durch Bilden und Figuren mit uns redet, in seinem Wort, im neuen Testament so wol als im alten [...]. Es haben warlich die Propheten ire Gesichte so artig und deutlich beschrieben, als sehe man dieselbe für Augen. Hat sie Gott in seinem Worte, unserm Gemüte abmalen lassen, welches vielmehr ist, So kan er auch ja leiden, das man dieselbe mit leiblichen Augen anschaut, welches viel weniger und geringer ist.112

Den Primat des Wortes gegenüber den Bildern wollte die altprotestantische Orthodoxie damit nicht einschränken; die jesuitische Lehre, »picturam magis et fortius movere animum ad devotionem, quam vocem verbi auditam et cogitatam«, wurde entgegen psychologischer Einsicht zunächst umstandslos mit Hilfe biblischer Argumentation abgelehnt. In dieser Frage war für Protestanten nicht die physische Natur und Wirkungsweise der Zeichen ausschlaggebend, sondern allein die an das Wort gebundene Verheißung. »Tales vero promissiones efficaciae divinae de imaginibus et statuis non habemus«, hatte Martin Chemnitz

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Arndt: Ikonographia, c. 1, Bl. 13v, c. 4, Bl. 22'. Arndt: Ikonographia, c. 2, Bl. 15r/v, 16'. Zur Geschichte dieser Aquivalenzthese im Mittelalter vgl. Wolfgang Hübener: >Idea extra artificembricht aus< in äußerliche Zeichen und Gebärden, kann ohne solche nicht sein, und der Natur und Eigenschaft »warhaffier Historien« entspricht es, daß sie »Memorial Bildnussen gleichsam geberen«, und ebenso leuchten die Arcana der Natur aus ihren sichtbaren Formen und Figuren hervor.115 Wie ihr Schöpfer, den sie nachahmt, offenbart sich die Natur in Bildern, den Buchstaben Gottes, die dieser »mit seinem allmächtigen Finger selbst geschrieben« hatte. Anknüpfend an das alte, mit der Physiognomik verwandte Konzept einer Manifestation der Natur oder innerer verborgener Kräfte der Dinge durch äußere Zeichen, wie es im frühen 16. Jahrhundert bei Agrippa von Nettesheim in astrologischem und bei Paracelsus in medizinischem Zusammenhang präsent war,116 war fur Arndt die ganze Natur »voller wünderlicher Figuren, Zeichen und Bilder«, in denen sie sich zu erkennen gibt.117 Das Offenbarwerden der inneren Gestalt durch die äußere, das sich an allen Dingen (Mineralien, Pflanzen und Lebewesen) zeigt, entspricht der Struktur der Schöpfung. Signaturen, die nicht durch jede beliebige wahrnehmbare Qualität konstituiert werden, sondern durch die äußerlich sichtbare Form, sind Manifestationen einer göttlichen Schöpfungsidee. Der wahre Glaube ist ubiquitär, er vermag Gott auch in seiner Schöpfung wahrzunehmen. Mit einer für das Luthertum seiner Zeit ganz ungewöhnlichen Emphase stellte Arndt die bildhafte Selbstoffenbarung Gottes in seiner Schöpfung 113

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M. Chemnitius: Examen Concilii Tridentini. Hg. v. Eduard Preuss. Berolini 1861, pars quarta (1573), loc. II, sect. 4, c. 3, η. 11, S. 781b. Arndt: Ikonographie, c. 4, Bl. 24', bezieht sich auf die Formulierung Bezes: Acta colloquij Montis Belligartensis, S. 395 (dtsch. S. 708): »dicimus de Prophetis visionibus, quas idcirco minime Dominus servis suis exhibuit, vel ab illis describi voluit, ut alibi quam in verbo ab illis spectarentur, ubi minime res mutae sunt, quales sunt pictorum imagines.« Arndt: Ikonographia, c. 4, Bl. 22v; c. 10, Bl. 37"; c. 11, Bl. 4Γ-42', 44'. Zur intensiven Paracelsus-Rezeption Arndts vgl. insbesondere Edmund Weber: Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum als Beitrag zur protestantischen Irenik des 17. Jahrhunderts. Eine quellenkritische Untersuchung. Marburg 1969, bes. S. 108-167, und hier S. 116-140; Hans Schneider: Johann Arndt als Paracelsist. In: Neue Beiträge zur Paracelsus-Forschung. Hg. v. Peter Dilg u. Hartmut Rudolph. Stuttgart 1995, S. 89-110, hier S. 96ff. Arndt: Ikonographia, c. 9, Bl. 32 v -33'.

202 heraus, ohne dadurch allerdings zu einer Physikotheologie im strengen Sinn zu gelangen. Selbst später noch glaubte er sich an einem thematisch einschlägigen Ort, in der Vorrede des vierten Buches Vom wahren Christenthumb nämlich, dem »Liber naturae«, für seine Annahme rechtfertigen zu müssen, daß die Betrachtung der Weisheit Gottes in den Kreaturen zum Christentum gehört.118 Die auf das Bildwerk der Schöpfung gerichtete Andacht war bei Arndt noch keine unmittelbar auf die Natur gerichtete Andacht, eher Andacht mittels Naturallegorese, die nur dem möglich war, der Christus in seinem Herzen hat. Wahre Christen wissen, beteuerte er eifrig, daß »ihr Buch [...] Christus« ist, »der grosseste Bote unnd Legat Gottes«.119 Es war vor allem der Metaphernfundus der Bibel, der die Entzifferung der geschaffenen Dinge als Bilder Christi ermöglichte. Weit entfernt, fur eine unversöhnliche Gegenüberstellung von Menschenwerk und Gotteswerk zu plädieren, die für die reformierte Auffassung in der Bilderfrage so bezeichnend war, bevorzugte Arndt doch zweifellos die Naturbildnerei Gottes gegenüber der künstlichen Bildnerei des Menschen. Diese Präferenz ist vor allem auch an der Art und Weise ablesbar, in der Arndt der menschlichen Bildnerei den arbiträren Charakter zu nehmen suchte, indem er sie als einen natürlichen und damit notwendigen Vorgang charakterisierte. Den Gedanken der Memorialfunktion des Sichtbaren hatte Arndt nicht aufgegeben; aber die Bedeutung von Bildern erschöpfte sich für ihn nicht mehr in der Funktion, Wortinhalte nachträglich zu veranschaulichen. Mit dem stark betonten Konzept der natürlichen Bildvermitteltheit des Denkens und der Signaturenlehre ließ sich das Konzept der Adiaphorie der Bilder jedoch nur noch äußerlich verbinden und die Adiaphorie des Verhältnisses zu Bildern, also die subjektive Indifferenz, die Gedik mit einem impliziten Lutherzitat als innerlich distanzierten Gebrauch beschrieben hatte (»Bildniß setzen [...] nur von lust wegen, oder umb Schmuck willen an die Wende mahlen lassen, oder sonst brauchen«),120 nicht mehr überzeugend darstellen. Zwar gehörte es auch für Arndt zur Freiheit des christlichen Glaubens, daß er »Christum durch eusserlich ding bezeugen, auch alle eusserliche ding frey brauchen mag«; aber wie in diesem Kontext Bilder und deren Gebrauch frei und somit »kein nötig ding« sein sollten,121 wurde letztlich nicht recht klar. Allemal auffallend und erwähnenswert ist indes der Umstand, daß Arndt (wie auch Gedik) die bildvermittelten Zuwendungen des Menschen zur sinnlich erfahrbaren Welt nicht einmal mehr beiläufig im Horizont der Erbsündenlehre thematisierte.

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Arndt: Das vierdte Buch vom wahren Christenthumb, Liber Naturae. Wie das grosse Weltbuch der Natur nach christlicher Außlegung von Gott zeuget und zu Gott führet [...]. Magdeburg 1620, Bl. Aijv. Arndt: Vom wahren Christenthumb, Buch IV, Bl. Avr; Buch I, Kap. 17, S. 111. Gedik: Von Bildern und Altam, Bl. Iliv1, Kiv v , Lijv: »Denn was hindert mich ein Bild, wenn mein Hertz nicht dran hanget«; vgl. Luther: WA 10/11, S. 34. Arndt: Ikonographia, c. 4, Bl. 21 v ; c. 5, Bl. 27'.

203 1.7.

Bild, Tanz und Schauspiel

Die sachliche Art der Auseinandersetzung um Bilder und Bildgebrauch, die Johann Arndt gewählt hatte, blieb eine Ausnahme und das Thema unter Einbeziehung anderer Gegenstände wie Schauspiel und Tanz überwiegend ein Gegenstand der Kontroversliteratur. Die Stoßrichtung der lutherischen Polemik wechselte und konzentrierte sich entweder auf die reformierten >Adiaphorafresser< (Adiaphoromastiges)122 oder auf die Katholiken. Dabei bildete sich rasch eine eigene Topik von Zurückweisungsargumenten aus. So stand an erster Stelle die Beteuerung, daß die Aufmerksamkeit, die man all diesen äußerlichen Gegenständen schenke, eine geradezu erzwungene sei. Entsprechend behandelte Johannes Schröder (1572-1621) in seiner Apodixis theologica gemina de imaginibus (zuerst 1606) - ein Werk, das nicht allein Johann Gerhard sehr hoch schätzte und das er in seinen Loci theologici ausgiebig auswertete123 - das bildtheoretische Thema mit der Einschränkung, nicht an Bildern und bildhaften Zeichen an sich interessiert zu sein (de Imaginibus per sese, non [...] valde soliciti), sondern an der christlichen Freiheit und deren Wahrung im Umgang mit Bildern.124 Balthasar Meisner variierte dieses Argument nur unwesentlich, als er erklärte, seine Beschäftigung mit Bildern, Tanz und Schauspiel gelte ihnen nicht als besonderen Gegenständen, sondern sei veranlaßt durch die Beschränkungen, die die rigiden Calvinisten deren Gebrauch aufzuerlegen versuchten.125 Ein zweites Argument der Lutheraner, das einen hohen Stellenwert besaß, beruhte auf der Voraussetzung, daß das alttestamentliche Bilderverbot kein moralisches Verbot und im Neuen Testament folglich nicht schlechthin, sondern nur in einer bestimmten Hinsicht (κατά τι) zu verstehen sei, da anderenfalls auch alle anderen von Menschen angefertigten Bilder hätten vernichtet beziehungsweise verboten werden müssen. »Neque enim verba ilia [Exod. 20, 4] άπλως sunt accipienda. Alias non solum imagines in templis, sed et aliae quae122

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Meisner / Ernestus Stisser (Resp.): Collegii adiaphoristici disputatio quinta de exorcismo [...]. Wittebergae 1616, thes. 71, fol. C3r. - Den Ausdruck hatte zuvor bereits Mamphrasius im Titel seines Traktates verwendet. Vgl. J. Gerhard: Locorum theologicorum tomus quintus (zuerst 1610). Denuo edidit plurimisque animadversionibus auxit J. F. Cotta. Tubingae 1766, loc. XIII. de lege dei, § 62, S. 258a: »merito commendamus eruditissimum tractatum Jo. Schroederi de imaginibus an. 1606 editum, qui totam hanc de imaginibus controversiam copiosissime et perfectissime exposuit.« - Zu Schröder vgl. den informationsreichen Artikel von Theodor Mahlmann in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon. Begr. u. hg. v. Friedrich W. Bautz, fortgef. v. Traugott Bautz. Herzberg 1998, Bd. 14, S. 1428-1443. J. Schröder (Praes.) / Johann Kerfeld (Resp.): Apodixis theologica gemina de imaginibus, ad habendum, sed non ad colendum, Christano populo concessis. In: J. Schröder: Fasciculus controversiarum theologicarum, quae hoc seculo in ecclesia agitantur, Svinfurti in quibusdam conventibus scholasticis ministrorum ecclesiae, aliorumque eruditonun vironim, ad piam et placidam συμφιλολογίαν, mutuamque exercitationem propositamm. Giessae 1611, S. 390-519, hier S. 392. Meisner / Jacobus Rungius (Resp.): Collegii adiaphoristici disputatio tertia de imaginibus et earum inter christianos usu licito [...]. Wittebergae 1616, thes. 5, fol. A2V. - Meisner / Matthias Butschky (Resp.): Collegii adiaphoristici Calvinianis oppositi disputatio duodecima de choreis et comoediis [...]. Wittebergae 1618, thes. 5, fol. A2r/".

204 cunque essent tollendae«. Das Bilderverbot der ersten Tafel wurde nicht auf den Bildbesitz oder die Herstellung von Bildern (είκονοποιία), sondern auf deren Verehrung bezogen. Gestützt auf die traditionelle Lehre, daß das Wesen eines Bildes (ratio imaginis) nicht in einer bestimmten geistigen oder physischen Materialität, sondern in der Repräsentation besteht, konnte Schröder den Unterschied zwischen gemalten Bildern, sinnlichen Erkenntnisbildern (Wahrnehmungsbildern und Phantasmata) und inneren, geistigen Bildern (species spirituales; νοήματα) für belanglos erklären, da die Repräsentation in materiellen Bildern nicht geringer oder anderen Wesens sei als in geistigen.126 Mit der gleichen Strategie war es zuvor dem Oxforder Juristen Alberico Gentiii (15521608) gelungen,127 das Schauspiel, die Schauspieler und insgesamt die »simulatio personarum« auf der Bühne gegen juristische, vor allem jedoch gegen theologische Bedenken und Einwände der Puritaner als an sich untadelig zu rechtfertigen. Ohne den Adiaphorabegriff explizit zu gebrauchen, hatte er klargestellt, daß die Repräsentation, die das Wesen auch des Schauspiels ausmache, als solche indifferent sei und die auf ihr fußenden Künste daher von der Kritik gar nicht erreicht werden könnten (adversariae disputationes theologorum, aliorumve non ipsam histrioniae petunt essentiam, quae est repraesentatio, et simulatio personarum [...] Ipsa autem repraesentatio personarum non potest vituperari).128 Die reformierte Bilderlehre traf darüberhinaus drittens der Vorwurf der Ungereimtheit und auch der Vorwurf der Unglaubwürdigkeit. Als unglaubwürdig hatte Simon Gedik die reformierte Bilderlehre wegen ihrer inkonsequenten Handhabung kritisiert. »Drumb wenn je die Bilder allerdings und schlecht durchaus ein solcher greuel für Gott sind, wie sie menniglich bereden wollen, so solten sie dieselbige auch auff der Müntz verwerffen.« Genau dies geschehe jedoch selbst dann nicht, wenn das von Beze (nach eigener Aussage) so verabscheute Bild des gekreuzigten Christus darauf abgebildet ist. Vor allem gegen die Genfer Calvinisten bot Gedik seinen ganzen Sarkasmus auf: »wolte Gott, sie beteten nicht etwa dieselbigen [Münzen] oder dergleichen güldene und silberne Bildnuß an!«129 Als ungereimt hat Philipp Arnoldi (1582-1642), Theologieprofessor an der Universität Wittenberg, die reformierte Lehre bezeichnet, weil sie das Bilderverbot auf das Gotteshaus einschränkte. Wäre es ein moralisches Gebot, so folgerte Arnoldi, dann würde es ausnahmslose Geltung beanspruchen müssen, und zwar dergestalt, daß Gott selbst als Schöpfer der Natur schon da-

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Schröder / Kerfeld: Apodixis theologica gemina de imaginibus, S. 394, 403, 408. - Vgl. Meisner / Runge: Collegii adiaphoristici disp. ΠΙ, thes. 25, fol. Cl y . A. Gentiii stammte aus Italien, war seit 1580 in England und wurde 1581 von der Oxforder Universität aufgenommen. Albericus Gentiiis: Disputationes duae; I. de actoribus et spectatoribus fabularum non notandis; Π. de abusu mendacii. Hanoviae 1599, c. XI, S. 48f. - Die erste Disputation ist wiederabgedr. in: Thesaurus graecarum antiquitatum, contextus et designate ab Jacobo Gronovio. Vol. VIII. Lugduni-Batavorum 1699, coli. 1625-1680, hier col. 1648B/C. Gedik: Von Bildern und Altarn, Bl. Biv", Giij v -Giv r , Kivv (Anspielung auf eine Aussage von Beze im Colloquium Mompelgartense).

205 gegen verstoßen hätte und täglich dadurch dagegen verstieße, »daß er ein Bildnuß im Kelch, der den Communicanten gereicht wird, formiret und machet«.130 Dieses Argument der Lutheraner, mit der Annahme der Moralität des Bilderverbotes hätten nicht nur die artifiziellen, sondern auch alle natürlich erzeugten Schatten-, Spiegel- und Erkenntnisbilder fallen müssen, obwohl >Natur< nach alter philosophischer Lehre als »ordinaria Dei potestas« galt,131 wurde auf reformierter Seite als Nivellierung des Unterschiedes zwischen göttlicher Schöpfung und menschlichem Herstellen aufgefaßt. Mittels dieses Argumentes suchten die Lutheraner aber gerade die Differenz zwischen der menschlich-artifiziellen Bilderzeugung und der Naturbildnerei Gottes zu marginalisieren, um beide Bildbereiche der christlichen Freiheit zu öffnen. Diese Insistenz auf der >libertas in adiaphoris< mußte indes auch die naheliegende Frage provozieren, warum ihnen »denn so viel dran gelegen were, daß sie eben inn diesen dingen freyheit sucheten«.132 Die Frage warf Abraham Scultetus (1566-1624) in dem literarischen Streit auf, der unmittelbar auf die »Pragische Reformation«, den Bildersturm von 1619, folgte.133 Sein wichtigster Gegenspieler auf lutherischer Seite, Friedrich Balduin (1575-1627), hatte zuvor die calvinistischen Reformatoren aufgefordert, sie müßten aufgrund ihrer Lehre »auch ihr hirn und Phantasiam reformiren [...], das sie kein einiges bildnüß von Christo und seiner Creutzigung concipiren«, wenn sie von diesen Dingen lesen oder hören; statt dessen seien es in Wahrheit gerade die Calvinisten, die mit ihrem Hauptdogma von der doppelten Prädestination die Allmacht Gottes in ein Bild verwandeln, und zwar in das ungeheure, feindselige Bild eines unbarmherzigen, grausamen und blutdürstigen Tyrannen, das aus den Herzen zu reißen höchste Zeit sei.134 Scultetus konnte die Schlüssigkeit dieses Postulates zurückweisen, ohne daß er dafür die aristotelische Spezieslehre aufgeben mußte. Der Unterschied zwischen geistigen und materiellen Bildern war für Scultetus ein maßgeblicher; als Argument benutzte er ihn jedoch nur zusammen mit dem Unterschied zwischen natürlichen und artifiziell-willkürlichen, also durch Menschenhand geschaffenen Bildern, und zwar nach der psychologisch-gnoseologischen Formel: je geistiger desto weniger willkürlich. Die Spezies in den Augen würden »auff eine wunderliche, unaussprechliche weise gar geschwind per spiritus animales concipiret«, und die »Bildlein, damit wir etwas fassen, werden innerlich im Hertzen oder Gehirn formiert, die niemand sehen oder fühlen kan«; sie sind »subtil« und »fast einer

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Ph. Arnoldi: Caeremoniae lutheranae, das ist, ein christlicher, gründlicher Unterricht von allen furnembsten Caeremonien, so in der lutherischen preussischen Kirchen, in Verrichtung des Gottesdienstes, adhibirt werden [...]. Den calvinischen Caeremonienstürmem entgegengesetzt [...]. Königsberg 1616, c. 21, S. 136-138. Schröder / Kerfeld: Apodixis theologica gemina de imaginibus, S. 404—406. Scultetus: Vindiciae, oder gründtliche Rettung, S. 359. Scultetus war Hofprediger des Winterkönigs (Friedrich V.), Professor in Heidelberg und nahm 1619 an der Dordrechter Synode teil. F. Balduin: Gründlicher Gegenbericht auff Abrahami Sculteti vermeinten schrifftmessigen Bericht von Götzenbildern [...]. Sampt einem Bedencken von den Bildern, Herrn D. Lutheri [...] wider Andream Carlstadt schon vor 95. Jahren gestellet. Wittenberg 1620, Bl. Giv, Hiv"\

206 geistlichen Art«. Die Bilder in den Augen und die durch die vernünftige Seele formierten Bilder ließ Scultetus in dem Sinne »von Gott her« kommen, daß sie »von der Seelen, durch Gottes Ordnung formiret« werden; die Bildwerke hingegen sind »grob, hart, dicke, auß grober Mateij« und vor allem »ohn Gottes befehlich« von dem Werkmeister »nach seinem Willen unnd gutduncken, zugerichtet«.135 Aus dieser Überlegung speiste sich auch sein Gedanke, mit dem er sich und die übliche calvinistische Praxis gegen den Vorwurf der Inkonsequenz verteidigte: daß nämlich durchaus nicht alles, was in religiösen Dingen jemals zur Abgötterei mißbraucht wurde, also auch Himmel und Erde, zerstört werden müßte. Umgekehrt konnte er auf diesem Wege das topische Argument, Mißbrauch hebe rechten Brauch nicht auf, als ungültig bezeichnen »in denen dingen, welche nicht nötig, und doch gefehrlich sind«,136 also im Bereich des indifferenten Menschenwerkes. Den Lutheranern fiel es nicht sehr schwer, die korrespondierenden neutestamentlichen Gegenbeispiele für die Beibehaltung des Unnötigen trotz seines Mißbrauchs (Act. 16, 3; 21, 21 u. a.) anzuführen.137 Die Einwände, die darüberhinaus gegen die reformierte Regel, nur in an sich guten und notwendigen Dingen, nicht hingegen in Mitteldingen, hebe der Mißbrauch den Brauch nicht auf, erhoben wurden, stützten sich auf Vernunftprinzipien, insbesondere darauf, daß es ausschließlich in Mitteldingen, nicht jedoch in an sich guten Dingen einen Mißbrauch geben könne (niemand könne die Tugend mißbrauchen) und daß folglich die Regel, daß der Mißbrauch den Brauch nicht aufhebe, wenn sie denn überhaupt richtig sei, ausschließlich in Mitteldingen Geltung habe.138 Die Herstellung und den Gebrauch von Bildwerken und vergleichbaren Artefakten suchten die Lutheraner auf dem schon von Arndt eingeschlagenen Weg theoretisch abzusichern, indem sie die artifizielle Festlegung und Gestaltung des freien Restes, der zwischen Wort und äußerem Bild besteht, dem natürlichen Vorgang der inneren sinnlichen oder geistigen Bildkonzeption annäherten oder sogar gleichsetzten. Absicherung und Legitimation durch Anlehnung an Natur zu bewerkstelligen, war kein ganz neues Vorgehen. Verständlicherweise stand diese Option theoretischer Orientierung an einer nach aristotelisch-thomistischer Lehre verstandenen >Natur< zunächst eher der katholischen Seite offen.139 Aber mit der zuerst zögerlichen, seit dem frühen 17. Jahrhundert verstärkt ein135 136

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Scultetus: Vindiciae, oder gründliche Rettung, S. 81f., 246, 336f. Scultetus: Kurtzer aber schrifftmessiger Bericht von den Götzenbildern, Bl. Ci', Cijr; Scultetus: Vindiciae, oder gründtliche Rettung, S. 106, 113). Vgl. Balduin: Gründlicher Gegenbericht, Bl. Gij v . Vgl. Johann C. Dannhauer: Collegium decalogicum quo undeviginti disputationibus, decalogus sinaiticus explicatur, a depravationibus έτεροδοξίας vindicate, e controversiis et conscientiarum casibus, qui in quemvis locum incidunt, enodatur ac expeditur. Argentorati 1638, fol. B4r. - Die zweite, überarbeitete und sehr erweiterte Auflage des Dekalogkommentars erschien unter dem Titel: Deuteronomium Dannhauerianum, id est: Collegium Decalogicum [...]. Argentorati 1669. Vgl. Curiel: Lecturae seu quaestiones in D. Thomae Aquinatis Iam-IIae, q. 18, a. 9, S. 214aE: Parallelisierung von natürlichem und artifiziellem Wirken am Beispiel von Fabeln, Architektur und Malerei. - Vgl. auch Möller: Die Wandlungen des Kunstgedankens in der italienischen Kunsttheorie, S. 18.

207 setzenden Rehabilitierung von natürlicher Theologie und Metaphysik im Protestantismus140 konnten auch die Lutheraner diese Argumentationsmöglichkeit nutzen. Natur war das Prinzip, das jedem Ding seine eigentümliche Wirkungsweise gibt. Das natürliche Wirken wurde zum Leitfaden für das freie künstlerische Handeln, Willkür hingegen war ein menschliches Vermögen, das zumindest die Gefahr des Schlechten barg. In der Natur, die letztlich aber auch nur das Ergebnis von Kunst war, der Kunst Gottes nämlich, hatten alle Geschöpfe ihre Figuren, Formen und Bilder. Die calvinistische Auslegung des Bilderverbotes machte Natur und Offenbarung, beide voller Bilder, aber zum Greuel. Wenn menschliche Bilderzeugung nichts anderes ist als »Gott seine Kunst nachthun«, so hieß das für Balduin, daß sie nicht unrecht sein kann.141 Dies war keine ungeschickte Anwendung des rhetorischen >sequiimitariimago Edessenaimitatio naturae< daher unter die Adiaphora zu rechnen sei (imitatio ejusdem operis nuspiam interdicta legitur, ideo in adiaphoris censenda). Die Anfertigung, das Aufstellen und der Gebrauch von Bildern wurde zu einer der Freiheit und der Indifferenz überlassenen Sache (actus libertati et indifferentiae relictus),147 die ihren Platz im adiaphorischen Raum hatte.148

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siae et aulae Constantinopolitanae. Nunc primum studio J. Gretsero [...] fideliter latine versus [...]. Parisiis 1625, S. 307-363, hier S. 311. Gretser: Syntagma de imaginibus manu non factis, S. 322f., 333. Andreas Rivetus: Praelectiones pleniores in cap. XX Exodi. In quibus ita explicatur decalogus, ut casus conscientiae [...] discutiantur (1623). In: Ders.: Operum theologicorum [...] tomus primus exegeticus [...]. Roterodami 1651, S. 1254b. - Andre Rivet war reformierter Theologieprofessor in Leiden. Dannhauer: Collegium decalogicum, fol. A4', Bl v , B2V. Dannhauer: Collegium decalogicum, fol. A 4 \ Bl r , B2V, B3r/v.

209 Zwar war das Beweisziel der Lutheraner bei gleicher Frontstellung gegenüber den Reformierten ein anderes als das der Katholiken, führte aber - viertens - gleichfalls zur Übernahme der alten Unterscheidung zwischen Bild und Idol, die allerdings nicht wie auf katholischer Seite der Legitimierung des Bilderdienstes diente. Diese Unterscheidung war in den so genannten Libri Carolini vorgebildet, in denen Martin Chemnitz bereits die lutherische Position zwischen Bilderdienst und Bildersturm vertreten und bekräftigt sah.149 Unter Berufung auf den Autor dieser erst 1549 durch den Historiker Jean du Tillet (f 1570) in Paris erstmals veröffentlichten Bücher150 aus der Zeit der Frankfurter Synode (794) hob Johannes Schröder Bild und Idol voneinander ab, indem er der >imago< einen wesensmäßigen Bezug auf anderes, dem >idolum< eine natürliche Hinordnung auf sich selbst zuwies;151 »imago ad aliquid, idolum ad se ipsum dicatur«, hieß es schon in dem auf Geheiß Karls des Großen zum Bilderstreit geschriebenen Opus Caroli.152 In der >causa finalismateria< und nur am Rande in der >figuraHomiletisch< (ομιλητικός) heißt hier >geselligeutrapelia< benutzte Meisner >comitasArtes illiberales< zählenden Spielkünste in seiner Encyclopaedia keineswegs allein deshalb, um den universalen Anspruch seines Werkes einzulösen. Er wollte den aus der Antike übernommenen Ausdruck >artes illiberales< gegen das Mißverständnis in Schutz nehmen, despektierlich gemeint gewesen zu sein (non de illarum contemtu et despectione, sed de ipsarum cum liberalibus collatione intelligi debet). Geringschätzig auf diese zur großen Gattung indifferenter Handlungen gehörenden Spielkünste - wie etwa das tragische und das komische Schauspiel - zu schauen, hieß nun, »dona Dei contemnere«.165 Von hier aus war es übrigens nurmehr ein kleiner Schritt zu der dann von Christian Thomasius erhobenen praktizistischen Forderung, Daß ein jeder Mensch sein eigener Handwercksmann seyn solle und könne,166 weil Gott den Menschen auf die Erde setzte, »nicht daß er sie nur ansehen, sondern daß er sie bauen solle.«

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Voraussetzung im Verlust und der Historisierung des Kultobjektes liegen soll, wirklich, wie Belting suggeriert, exemplarisch in der Zeit der katholischen Reform die grundsätzlich neue Rolle der Kunst, mit der ihre alte, instrumentalistisch interpretierte Funktion endgültig außer Kraft gesetzt war, ablesen kann, oder ob diese >ornamentierende< Funktion nicht gerade umgekehrt unter veränderten Umständen an der vom Gemälde geleisteten Inszenierung des alten Kultbildes bestätigt wird, dürfte zumindest strittig sein. Nach Auskunft der zeitgenössischen Texte aus allen Lagern, die sich mit derartigen Fragen befaßten, spricht nicht viel fur Beltings Auslegung. Vgl. J. H. Aisted: Encyclopaedia Septem tomis distincta. 4 Bde. Mit einer Einleitung v. W. Schmidt-Biggemann. Stuttgart-Bad Cannstatt 1989-1990 (Nachdruck der Ausgabe Herbornae Nassoviorum 1630), Tomus VI, in quo artes mechanicas methodice digeruntur [...] lib. XXX, delineans Mechanologiam mathematicam, sect. 10, in qua delineatur Paedeutica [=ars bene ludendi]: Praef., coli. 1860, u. 1940a/b, 1948a-1949a. [Ch. Thomasius:] Daß ein jeder Mensch sein eigener Handwercksmann seyn solle und könne. In: Auserlesener Anmerckungen über allerhand wichtige Materien und Schriffien, Erster Theil. Franckfurt u. Leipzig 1704, 13. Anm., S. 276-338. - Ich gehe von Thomasius' Verfasserschaft aus. Die Auserlesenen Anmerckungen sind das deutsche Gegenstück zu den Observationes selectae, die Thomasius in den Jahren 1700-1706 zusammen mit dem Mediziner Georg Ernst Stahl und dem Philosophen und Theologen Johann Franz Buddeus herausgab.

213 Hierzu nun gehöret allerley Handarbeit mit mancherley Werckzeug. [...] Dieses [...] gehet alle Menschen an, denen Gott Hände gegeben, denn es wird mir niemand beweisen, daß Gott gewisse Menschen dazu erschaffen, daß sie allerley mit der Hand arbeiten und künsteln, andere aber, daß sie mit der Hand nicht mehr thun solten, als etwa sich [...] den Bissen ins Maul stecken u.d.gl. [...] Es würde auch ein Mensch wie der ander also thun, und immmerdar in der Handarbeit begriffen seyn, wenn nicht ihrer viele durch Verrückung der Ordnung Gottes, und Einfiihrung des Unterscheids der Menschen und Stände davon abgehalten würden.167 D i e allgemeine Begeisterung fur die v o n Thomasius so nachdrücklich empfohlene Heimwerkerei, die wir aus unseren Tagen kennen, wäre ihm w o h l , zumindest in der hier angesprochenen Beziehung, w i e die Wiederherstellung der Urstandsordnung vorgekommen, innerhalb derer die manuelle Arbeit j a n o c h nicht in viele spezialisierte Handwerksberufe differenziert war, sondern alle Menschen >proprio Marte< alles machten, bedarf es d o c h dazu, w i e Thomasius w e i ter lehrte, nicht viel, denn die »Hand die hämmern kan, die kan auch hauen, sägen, bohren, hobeln, zerreissen, z u s a m m e n setzen, und tausend andere D i n g e verrichten.« 1 6 8 B e i der Ausrichtung der Künste auf den N u t z e n kam auf lutherischer Seite freilich n o c h die »jucunditas« hinzu, der unbefangene maßvolle Genuß irdischer Freuden. D i e Verteidigung des Rechtes auf diesen Genuß g e g e n seine reformierten Verächter, die aus j e d e m M e n s c h e n am liebsten einen >rigiden Cato< gemacht hätten (qui adeo abhorrebat a rebus j o c o s i s , quique per totam vitam semel tantum risit, asinum videlicet c u m videret vesci carduis), war für viele Lutheraner gleichbedeutend mit der Verteidigung der christlichen Freiheit. D i e >jucunditas< bestand genauer in der >Belebung aller Kräfte< und nicht zuletzt im A u g e n - und Ohrenvergnügen, die künstlerische Betätigungen d e m M e n s c h e n gewährten und die Meisner anschaulich ausmalte: totus homo et totum hominis mira recreatione ludis istis recreatur: Ecce enim splendidum et rarissimum vestitum; perelegantes picturas, auro argentoque intexta vela, quibus parietes convestiuntur, et habent oculi, quo recreentur: Ecce dulcissimos Musicorum cantus, historias quae tractantur mirabiles, et habent aures, quo summe vivificantur et maxime reficiuntur: Ecce ornatissimos quos adhibent agentes affectus, et mira exinde existit voluntati et appetitui voluptas.169 [Der ganze Mensch und das Ganze des Menschen soll sich durch diese Spiele erholen und gleichsam neu geboren werden. Schau da, das glänzende und ungewöhnliche Gewand, die geschmackvollen Bilder, die mit Gold und Silber durchwebten Vorhänge, die die Wände bedecken. Da haben die Augen etwas, was sie erquickt. Und da, die lieblichsten Melodien der Musiker und die Geschichten, die Wunderbares erzählen. Da haben die Ohren etwas, was sie im höchsten Grade belebt und erfrischt. Schau da, die schönsten Leidenschaften, die die Schauspieler erregen; sie verschaffen dem Willen und dem Begehren einen wunderbaren Genuß.]

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[Thomasius:] Daß ein jeder Mensch sein eigener Handwercksmann seyn solle, § 2, S. 279f. [Thomasius:] Daß ein jeder Mensch sein eigener Handwercksmann seyn solle, § 5, S. 282; § 17, S. 302. Meisner / Butschky: Collegii adiaphoristici disp. XII, thes. 58, fol. B4'.

214 Ein beeindruckendes Zeugnis aus dem orthodoxen Luthertum für diese unbefangene Zuwendung zur sichtbaren Welt ist Dannhauers akademische Pfingstpredigt De spiritu sancto pictore aus dem Jahre 1650. Johann Arndts Gedanke, die ganze Natur sei voller wunderlicher Figuren und Zeichen, hat in der barokken Bilderfreudigkeit dieser Homilie eine Steigerung erfahren, die kaum mehr zu übertreffen sein dürfte: Quid denique delicatius figuris, quas eadem natura in speculo exprimit? Quid Iride solis refracti imagine, Thaumantis ideo filia dicta: quid effigie, quae liquido respondet ab aequore fontis? quid omni omnino speculo quo res proxime sita, comprehenditur, illustrius? effigies in mappa rei speciem refert, Icon in speculo rem ipsam repraesentat: illic adulatio servit, hic παρρησία regnat: illic dormit imago, hic vigilat: illic mortua jacet, frigit, riget; hic vivit, spirat: movetur te moto; rotato rotatur; ventilato ventilatur, recedente recedit, transeunte transit, procumbente procumbit, ambulante comes adhaeret: irridentem irridet, irascenti irascitur, percutientem repercussione remuneratur, confabulanti, si echo esset, confabulatura. De Oculo quid dicam vivo naturae speculo? quae pupulae charis, quae pingendi felicitas, quae celeritas, quae vis humoris crystallini, pellucidi, in id omnis colons experte ut omnes reciperet, ac bona fide redderet intellectui? quae specierum foecunditas, quibus aer ut seminibus ac sensuum illecebris impraegnatus, lacessit cernendi facultatem? Quae capacitas infiniti in termino; vasti corporis solaris in oculo; in pupilla totius qua patet universi; Turbaestis, qui hic assidetis, Auditores splendidissimi, centum estis viri et plures; ego unus: et tarnen in unius oculo omnes estis; uno oculi ictu omnes non solum capti sed et ex asse depicti: Ego unus in singulis vestrum oculis, quoties quoties depictus assideo, omnium quasi oculorum praeda, et singulorum indivisus aeque ac divisus cibus. Ite Dipnosophistae170 et negate multis corporibus in uno, ac uni in multis locis locum? Cur non possit reapse naturae conditor, quod reciproco specierum lusu natura potest? sunt hae deliciae stupendae; sed exiguae si ad officinam pictoriam mentis humanae conferatur: ubi imaginum aliunde illatarum, aliunde depictarum, aliarum ex aliis, aliarum ex re natarum abunde est. Uterum diceres intellectum humanum qui concipiat semina mille millena; edat saepe uno partu nisuque prolem multo numerosiorem illa commentitia, Margarethae HoIIandicae, quam ferunt tot uno partu enixam liberos, quot luces habet annus absolutus:171 prolem autem suo genitori quam similimam, prolem in memoriae stupendo sinu aliquandiu retentam post voce articulata, uti veste indutam, foras euntem.172

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Δειπνοσοφισταί (Gelehrtengastmahl) ist der Titel eines unvollständig erhaltenen Werkes von Athenaios (Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr.). Anspielung auf die Tochter von Florens IV. Graf von Holland (t nach 1234) und Gemahlin von Hermann Graf von Henneberg ( t 1290). Von ihr wird erzählt (vgl. ζ. B. Franciscus Sweertius: Selectae christiani orbis deliciae ex urbibus, templis, bibliothecis, et aliunde. Coloniae Agrippinae 1608, S. 531f., und Jodocus Sincerus: Itinerarium Galliae [...]. Genevae 1627, S. 330-332), daß eine arme Mutter von Zwillingen, die sie des Ehebruchs bezichtigt haben soll (Id [die Geburt von Zwillingen] per unum virum fieri non posse), ihr die Geburt so vieler Kinder wünschte, wie das Jahr Tage hat, was 1276, in ihrem 42. Lebensjahr, dann auch geschehen sei. Die 365 Kinder (nach einem anderen Bericht waren es nur 364) sollen zwar noch getauft worden, aber bald nach der Geburt zusammen mit der Mutter gestorben sein. Einer späteren Ausschmückung verdankt sich der Hinweis, die Kinder seien bei der Geburt so groß gewesen wie junge Hühner beim Ausschlüpfen aus der Schale. Indes, noch Johann Heinrich Zedier hielt den Hinweis für angezeigt, daß der historische Wahrheitsgehalt der durch ein Epitaphium in der Bernhardiner Abtei zu Loosduinen (in der Nähe Den Haags) bezeugten Begebenheit nicht völlig unumstritten sei. Dannhauer: Oratio pentecostalis anni Μ DC L. habita de spiritu sancto pictore. In: Ders.: Iconothetes christianus, adiaphorus, libertatis vindex, S. 69-95, hier S. 71 f.

215 [Was schließlich ist reizender als die Formen, die die Natur in einem Spiegel abbildet? Was reizender als Iris, die Göttin des Regenbogens; man nennt sie deshalb auch Tochter des Thaumas. Was ist reizender als das Spiegelbild, das auf einer bewegten Wasseroberfläche erscheint? Was ist überhaupt ausgezeichneter als jeder Spiegel, in dem eine unmittelbar vor ihm befindliche Sache erfaßt ist? Das Bild auf einem Blatt gibt die äußere Erscheinung einer Sache wieder, das Bild im Spiegel vergegenwärtigt die Sache selbst. Dort ist die Schmeichelei am Werk, hier herrscht die Freimütigkeit. Dort schläft das Bild, hier wacht es; dort liegt es tot darnieder, ist matt, starr; hier lebt es, atmet. Es bewegt sich, wenn man sich bewegt; dreht sich, wenn man sich dreht; schwingt umher, wenn man selbst umherschwingt, es geht mit einem zurück oder vorüber, fallt mit einem nieder und begleitet einen, wenn man umhergeht. Den Lachenden lacht es aus, dem Zornigen zürnt es, einen Schlagenden belohnt es mit einem Gegenschlag, dem traulich Plaudernden würde es, wäre es ein Echo, ebenso traulich antworten. Was soll ich vom Auge sagen, dem lebendigen Spiegel der Natur? Welche Grazie des Auges, welche Fruchtbarkeit und Schnelligkeit des Malens, welche Kraft der Kristallflüssigkeit und Durchsichtigkeit, von aller Farbe frei, um alle Farben aulhehmen zu können und getreu dem Intellekt zu übergeben? Welche Fruchtbarkeit an Bildern, mit denen die Luft wie mit Samen und Reizen der Sinne geschwängert ist; fordert sie nicht das Wahrnehmungsvermögen heraus? Obwohl das Auge selbst begrenzt ist - was für ein unendliches Aufnahmevermögen besitzt es doch, daß es den ungeheueren Sonnenball umfaßt und in der Pupille das Universum in seiner ganzen Ausdehnung Platz findet? Geht umher, edle Zuhörer, die ihr hier sitzt: Ihr seid zu hundert, ich nur einer. Und doch seid ihr alle im Auge eines einzigen; in einem Augenblick seid ihr alle nicht nur erfaßt, sondern auch auf das Genaueste abgemalt. Umgekehrt bin ich in jedem einzelnen von euren Augen, sooft ich nur abgemalt werde, gewissermaßen als Raub aller Augen, und zwar gleicherweise ungeteilte und geteilte Nahrung für alle. Kommt nur Deipnosophisten und leugnet die Möglichkeit, daß viele Körper an einem Ort und ein Körper an verschiedenen Orten Platz finden können. Warum vermag der Schöpfer der Natur nicht, was die Natur selbst mit dem reziproken Spiel von Bildem zu tun imstande ist? Sind dies bereits erstaunliche Spielereien, so sind sie doch gering, wenn man sie mit der Malerwerkstatt des menschlichen Geistes vergleicht, wo es einen Überfluß an von außen kommenden Bildern gibt. Die einen Bilder sind von anderen Bildem, die anderen von Dingen abgemalt. Als >uterus< bezeichnet man den menschlichen Intellekt, der viele tausend Samen aufnimmt; und oftmals gebiert er auf einmal und mit einer Anstrengung eine zahlreichere Nachkommenschaft als die erdichtete der Margareta von Holland, von der man erzählt, daß sie bei einer Geburt soviele Kinder zur Welt brachte, wie ein ganzes Jahr Tage hat. Dabei handelt sich um eine Nachkommenschaft, die ihrem Erzeuger zuhöchst ähnlich ist, die lange Zeit im erstaunlichen Inneren des Gedächtnisses aufbewahrt bleibt und dann in artikulierte Sprachausdrücke gekleidet nach außen tritt.]

Diese und Äußerungen vergleichbarer Art klingen ganz anders als die calvinistischen Warnungen vor den >fomenta libidinisSchule des Lasters< charakterisiert, die auf der Macht des Augen- und Ohrenvergnügens (aurium et oculorum voluptas

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sehe Textstücke: Traite de la Comedie et autres pieces d'un proces du theatre. Edition critique par Laurent Thirouin. Paris 1998. - Vgl. auch Nicole: Les imaginaires, et les visionnaires [...]. Cologne 1683, S. 253 (seconde partie, lettre I): »Un faiseur de Romans et un poete de theatre est un empoisonneur public, non des corps, mais des ames des fidelles, qui se doit regarder comme coupable d'une infinite d'homicides spirituels«. Rivet: Praelectiones pleniores in cap. XX Exodi, S. 1407a, 1409b. - Die Textpassage »De spectaculis theatralibus« aus dem Dekalogkommentar (S. 1409b-1415b) erschien auch separat in deutscher Übertragung als: Unterricht, von Comoedien und andern Schauspielen, aus dem Lateinischen ins Hochteutsche übersetzet. Cölln an der Spree 1674 (zuvor frz.: Instruction chrestienne, touchant les spectacles publics des Comoedis et Tragoedis [...]. La Haye 1639). M. Fumaroli: La querelle de la moralite du theatre au XVIIe siecle. In: Bulletin de la Societe frangaise de Philosophie 84 (1990), S. 65-97, hier S. 85.

217 ex aspectu ludorum) und anderer von ihr erregter Affekte fußt.176 Gestützt auf rechtliche und moralische Argumente war der schwäbische Jurist und Laientheologe Konrad Braun (1491-1563) ein halbes Jahrhundert zuvor zur gleichen Einschätzung des Theaters gekommen, das er wegen der inneren Verwandschaft zusammen mit der Malerei (ludi speciem quandam Imaginum habent) erörtert hatte.177 Weitere Beispiele für diese Lehrausrichtung ließen sich leicht beibringen. Daß das Theater in den De ludis icew'cw-Traktaten zusammen mit Institutionen wie Bordell (lupanaria) und Stierkampf (taurorum agitatio) behandelt wurde,178 war nicht die Ausnahme, sondern die Regel. In der »theatri licentia« vermuteten auch katholische Autoren kaum etwas anderes als ein »simulatisque et ludicris actionibus ad vitia vera informare«, in den gewöhnlichen Schauspielern Menschen, die ihr ganzes Tun nur nach den finanziellen Verdienstmöglichkeiten bemessen und für Geld ebenso skrupellos wie geschickt jedes »irritamentum libidinis« einsetzen (histriones cum studia omnia lucro metiantur, et ad quaestum omnia referant [...] omnes fraudes suscipiunt nulla honestatis cura).179 Es ist somit nicht weiter verwunderlich, daß es dem Reformierten Rivet 1623 leicht fiel, sich zustimmend auf den Jesuiten Mariana zu berufen. Aber trotz seines Verdammungsurteiles, dessen lange Tradition er gebührend herausstrich und ausfuhrlich kommentierte, verwarf Mariana nicht jede Art von Schauspiel, zumal nicht das für das menschliche Zusammenleben nützliche Theater als moralische Anstalt (commercio hominum inter se ludum esse utilem, atque adeo artem quae eo refertur concessam esse, neque histriones peccare, si finibus [...] honestatis se contineant, quamvis venales sint, et lucri causa artem exerceant);180 die pauschale Verurteilung der Schauspieler durch das Zivilrecht181 und das kanonische Recht182 wollte er daher ebensowenig teilen wie nach ihm der italienische Philosoph und Theologe Girolamo Fiorentini (1602-1678) in seiner Censura theatri.183 176

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Johannes Mariana, S.J.: De spectaculis liber singularis. In: J. Mariana: Tractatus VII. Coloniae Agrippinae 1609, tract. ΠΙ, c. 4, S. 135bB. - Der Theologe Mariana lehrte in Rom (1561) und Paris (1569); 1574 kehrte er nach Toledo zurück, wo er auch als Historiograph der Geschichte Spaniens bekannt wurde. Brunus: De imaginibus (1548), c. 17 (De sacris ludis et spectaculis Ecclesiae), S. 110, 115. Vgl. Mariana: De spectaculis liber singularis, tract. III, c. 4, S. 134aC; c. 16, S. 168aD176bA; c. 19, S. 176bB-181aA. Mariana: De spectaculis, c. 1, S. 128aC; c. 8, S. 143aC. Mariana: De spectaculis, c. 10, S. 150bC/D. Einige der klassischen und unterschiedslos von Vertretern aller Konfessionen stets herangezogenen Stellen im Römischen Recht über die >artes ludicrae< waren: Digesta, lib. III, tit. 2. De his, qui notantur infamia, L. 2, § 5. Ait praetor: qui in scenam prodierit; Codex, lib. XI, tit. 40. De spectaculis et scenicis, L. 4, § 1. Si qua in publicis portionibus; tit. 41. De expensis ludorum (Corpus iuris civilis a Dionysio Gothofredo J.C. recognitum. Editio quarta. Tomus I—II. Geneve 1625, torn. I, col. 187; tom. Π, coli. 784f.). Decretum Gratiani, pars I, dist. 33, can. 2. Maritum duarum (Clericum non ordinandum [...] qui [...] in scena lusisse dignoscitur); Decretum Gratiani, pars III, de consecr., dist. 2, can. 95. Histrionibus sacra non committantur mysteria; ebd., dist. 5, can. 37. Quibus spectaculis Clericus interesse non debet (Corpus juris canonici, coll. 110, 1198, 1253). Hieronymus Florentinius Lucensis, Congregationis Matris Dei: Comoedio-Crisis sive theatri contra theatrum censura coelestium, terrestrium, et infernorum linguis, continuatis ab

218 Auch der spanische Zisterziensermönch, Polyhistor, Philosoph und Kasuist Juan Caramuel y Lobkowitz (1606-1682) 184 hat sich von dieser Position in der Frage der Moralität des Theaters und der im Hintergrund dieser Frage stehenden Probleme (der Art und des Ausmaßes der Schädigung des Menschen durch die Erbsünde, der Nützlichkeit des Vergnügens und der Laiendisziplin) nicht nennenswert entfernt. Selbst Caramuel hat im Spektrum der Positionen, die in nachtridentinischer Zeit innerhalb der römischen Kirche gegenüber den durch die Renaissance wiedereingeführten weltlichen Vergnügungskünsten der Antike möglich waren, keineswegs die bemerkenswerte Lehrmeinung vertreten, die Fumaroli ihm zuspricht. In einer Reihe von erläuternden Anmerkungen zur neuen Schauspieltheorie seines Landsmannes Lope de Vega (1562-1635), dem Arte nuevo de hacer comedias en este tiempo (1609), hatte Caramuel die alte »recreation honnete« zu seiner Leitvorstellung erhoben, über die er nicht hinausgegangen ist.185 Die zur Behandlung geeigneten Materien (argumenta) schränkte er auf solche ein, die nicht gegen die guten Sitten verstoßen und zu tugendhaftem Handeln anleiten, und was er über die im Zusammenhang mit der Unterscheidung der »Historia realis« von der »Historia virtualis« stehende Abgrenzung der dichterischen Ausdrucksweise (fingere) vom »falsum dicere« und vom »mentiri«, über den Als-ob-Status der »fabula« und (an anderer Stelle) über das Sprechen der Dichter >ex hypothesi< in den von ihnen geschaffenen Bildern sagte,186 war durchaus nicht außergewöhnlich, vergleicht man es mit entsprechenden Aussagen im lutherischen Raum. Fumarolis Einschätzung ist indes, wie bereits angedeutet wurde, auch für die reformierte Position im 17. Jahrhundert revisions-, zumindest aber differenzierungsbedürftig. Dies zeigt ein Blick auf die einschlägige ΔΙΑΛΕΞΙΣ casuistica quinquepartita von Johannes Ludwig Fabricius (1632-1696) aus dem Jahre 1663.187 Unbestritten ist, daß Fabricius' Anschauung nicht einfach als repräsentativ für den reformierten Lehrbegriff angesehen werden darf; sie belegt jedoch, daß auch dieser Lehrbegriff (wie der katholische) nicht die in sich undifferenzierte Einheit war, als die er vermutlich aus Bequemlichkeit bis heute gern behandelt wird. Um zu einer ausgewogeneren Einschätzung zu gelangen, wird

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orbe condito saeculis, firmata. Lugduni 1675. - Fiorentinis Schrift ist zum überwiegenden Teil eine Sammlung, Zusammenstellung und Kommentierung von autoritativen Urteilen (aus der Bibel, von Kirchenvätern, Kasuisten und Moraltheologen und -philosophen) über das Theater und damit ähnlich eingerichtet wie William Prynnes Histrio-Mastix (1633), wenngleich sie im Ton und in den Thesen etwas moderater auftritt; sie erschien (in wesentlich kürzerer Form) zuerst 1637 in Viterbo. Zu Juan Caramuel vgl. Jacob Schmutz: Art. >Caramuel y Lobkowitz, Juanartes< zu rechnen. Es war gleichfalls Daille, der den Calvinisten zugute hielt, Vertreter einer im Vergleich zur patristischen sehr viel milderen Position in dieser Sache zu sein (quorum multo modestior est de toto hoc negotio sententia), indem diese nicht jeden Gebrauch abbildender Künste verwürfen, sondern allein den zu religiösen Zwecken. 197 Daß diese maßvolle Haltung sich aber keinesfalls auf die damals üblichen öffentlichen Schauspiele, deren Verfasser, die Schauspieler und Zuschauer erstrecken sollte, hatte Gisbert Voet für große Teile des reformierten Raumes verbindlich festgestellt und verkündet: »Nos [...] cum tota antiquitate, primisque Reformatoribus, et reformatis ecclesiis, praesertim in Gallia et Belgio universim actiones scenicas hodie usitatas improbamus«. 198 Für Voet bildete der Umstand, daß insbesondere heidnische Personen auf der Bühne gar nicht ohne die Darstellung moralisch verwerflicher Handlungen verkörpert werden könnten, aber nur einen Aspekt (Quia personae ethnicae ex antiquis historiis aut fabulis sustineri non 196 197

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Meisner / Butschky: Collegii adiaphoristici disp. XII, thes. 62-63, fol. B4V. Dallaeus: De imaginibus, lib. I, c. 6, S. 82, 86f., 94f., 102; vgl. lib. ΠΙ, c, 3, S. 279: »Quis vel ipsorum Protestantium adeo averso est ab imaginibus animo, qui non simili spectaculo [sc. barbarorum clade in cera expressa] gaudeat, non modo ob operis artificium, sed multo etiam magis ob argumenti pietatem? Pictoram enim artem in exprimendis Dei operibus occupari dignius, et justius est, quam in hominum simulandis nugis.« Gisbertus Voetius (Praes.) / Johannes Petrus Cupius (Resp.): De excelsis mundi ad VII. Decalogi praeceptum disputatio secunda, quae est de comoediis (1643). In: G. Voetius: Selectarum disputationum theologicarum, pars quarta [...]. Amstelodami 1667, S. 356-385, hier S. 369, 377f.

222 possunt, sine imitatione et expressione improborum factorum, et dictorum contra honestatem). Denn dem Übel hätte man nach seinem Verständnis nicht durch die Auffuhrung von Stücken rechtschaffenen Inhaltes begegnen können; im Gegenteil, eine fromme Person zu spielen und damit >pietas< vorzutäuschen zur Belustigung des Publikums, war für ihn die weitaus gravierendere Spielart der Verworfenheit (Quia ne quidem personae piae suscipi, et eorumque pia consilia, dicta, facta exprimi possunt, absque eorundem affectuum imitatione et sensu: Nefas enim est ludere in rebus piis, et ex iis carnalem oblectationem capere).199 Aus dem gleichen Grund hatte Voet die Legitimität des Gotteszweifels bestritten, selbst wenn dieser nur aus methodischen Gründen und versuchsweise erfolgt, weil er den Menschen - und sei es auch nur vorübergehend - in den Stand des Unglaubens setzt. Das genaue Pendant zu diesem Argument findet man in der rezeptionstheoretischen Überlegung, daß speziell bei der Romanlektüre der Fiktionscharakter kunstvoll dargestellter Affekte gerade nicht bewußt werden darf, wenn anders das Vergnügen nicht eingeschränkt oder ganz aufgehoben werden soll.200 Ein besonderes Problem für die Bühne stellte der KJeidertausch dar. Das biblische Verbot (Dt. 22, 5) des in den Schauspielen üblichen, wenn nicht sogar notwendigen Kleidertausches ließ aus reformierter Sicht eine Einstufung als adiaphorisch gewöhnlich nicht zu. Lutheraner hingegen bemühten sich, das Verbot in einem >guten Sinne< zu interpretieren, nämlich so, daß nur der Tausch in betrügerischer Absicht betroffen war, und diese sei im Theater eben nicht gegeben. Doch standen auch noch andere Optionen offen. Alberico Gentiii beispielsweise versuchte, das Verbot in einem übertragenen Sinn auszulegen,201 eine Möglichkeit, von der auch jüngere Reformierte wie etwa Schoock Gebrauch machten. Für den letzteren lag jedoch die eigentliche Gefahr gar nicht im Kleidertausch, sondern im vertraulich-geselligen Umgang der Geschlechter auf den Zuschauerrängen und der Bühne: Exemplum habet Jesuita Mariana in libro de Spectaculis; quum enim in Hispania esset histrio concinne Christum exhibere solitus, et foemina quae ordinario Magdalenam poenitentem repraesentabat, tarn arcta inter eos coaluit amicitia, ut aliquando in adulterio deprehensi fuerint.202 [Ein Beispiel nennt der Jesuit Mariana in seinem Buch über die Schauspiele: Zwischen einem Schauspieler, der, wie in Spanien üblich, die Rolle des Christus sehr gefällig spielte, und einer Frau, die gewöhnlich die Büßerin Magdalena darstellte, entwickelte sich eine so enge Freundschaft, daß die beiden einmal bei einem Ehebruch überrascht wurden.]

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Voetius / Cupius: De comoediis, S. 373. Vgl. ζ. B. Gotthard Heidegger: Mythoscopia Romantica, oder Discours von den so benanten Romans (1698), S. 71f. - Im Für-wahr-Halten des Gelesenen hatte Heidegger eine der zentralen Wirkungsbedingungen ausgemacht. Wenn man Romane »begirlich liset«, könne man nicht anders, »als das man alles wahr glaubet«. A. Gentiiis: Disp. I de actoribus et spectatoribus fabularum, S. 45f. (Gronov. VIII, coll. 1646E-1647A): »Ergo ego ad figuratam eius legis interpretationem descendi«. Schoockius: Exercitatio XXIX. De comicis et tragicis spectaculis, S. 512.

223 Johannes Ludwig Fabricius rechnete den Kleidertausch bereits umstandslos zu den Mitteldingen (vestium commutationi per se ac sua natura consideratae nihil inesse mali) und anerkannte nur noch drei echte Verurteilungsgründe: wenn der Kleidertausch aus Aberglauben erfolgt (qui ex idololatria aut superstitione aliqua sexum alium mentitur), aus Verweichlichung oder zu solcher fuhrt (ex effoeminata vivendi ratione) oder wenn sich daraus eine beständige Geschlechtervermischung ergibt (confusio perpetua sexus [...] ex quo occultis libidinibus [...] occasiones nascerentur). Im religiösen und politischen Raum verboten, wurde das Theater zum Ort, an dem die Kleiderindifferenz fur eine bestimmte Zeit erlaubt war (non nisi ad unam alteramve horulam in Theatro locum habeat).203 Bei dem lutherischen Juristen Elias August Stryk schließlich, der sich des Themas in der Zeit unmittelbar nach dem Hamburger Opernstreit annahm, erscheinen die genannten Einwände und alten Rechtsvorschriften nur mehr als anachronistisch oder vollends gegenstandslos: omnia haec, quae de infamia dici possunt, non juxta Leges Romanas praecise, sed juxta mores hodiernos dijudicanda esse, [...] honesta enim et inhonesta ex opinione loci et temporis praesentis sunt aestimanda.204 [Alles das, was man über die Infamie sagen kann, ist nicht genau nach dem Römischen Recht, sondern nach den heutigen Sitten zu beurteilen, [...] denn das Anständige und das Unanständige müssen nach der orts-und zeitüblichen Ansicht eingeschätzt werden.]

Wie zahlreichen anderen zeitgenössischen Autoren ging es Stryk um ein klar profiliertes Historisierungsprogramm, das heißt um Argumente, mit denen man geschichtlich Abstand gewinnt und dasjenige bestimmt, was der eigenen Zeit entspricht. Vornehmlich gestützt auf die ausführlich zitierten Gutachten der theologischen und juristischen Fakultäten der Universitäten Wittenberg und Rostock über die nomistisch begründete Adiaphorie der neueren »Singe-Spiele«,205 ließ Stryk keinen der üblicherweise gegen das Schauspiel und speziell gegen die Oper und die »Operistae« gerichteten Vorwürfe mehr gelten, und dies umso weniger, als ihm das menschliche Leben nichts anderes war als ein auf der 203 204

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Fabricius: De ludis scenicis, coll. 1744E, 1746E, 1747B/F, 1748C. Ε. A. Strykius (Praes.) / Georgius Bertuch (Resp.): Disputatio juridica de eo quod justum est, circa ludos scenicos operasque modernas, dictas vulgo Operen. Kiloni 1693, c. 3, n. 77, S. 51; vgl. c. 2, n. 61, S. 27 (hodie longe dispar ratio [...] nostrorum ludorum scenicorum). - Zum Hamburger Opernstreit vgl. auch Markus Vinzent: Von der Moralität des Nichtmoralischen. Die ethische Grundlage fiir die Ermöglichung der Hamburger Oper. In: Von Luther zu Bach: Bericht über die Tagung 22.-25. Sept. 1996 in Eisenach. Hg. v. Renate Steiger. Sinzig 1999, S. 197-231. Vier Bedencken fuhrnehmen theologischen und juristischen Facultäten, wie auch Herrn Doct. Johann Friederich Mayers [...], was doch von denen so genandten Operen zu halten. Franckfmt am Mayn 1693, separ. Pag. [nach S. 28], Bl. ΑΓ-Β3' (Gutachten der Theol. Fak. zu Wittenberg, Dez. 1687), B4'-Dl v (Gutachten Mayers, Sept. 1687), D2'-D4 V (Gutachten der Jurist. Fak. zu Wittenberg), El r -F3 r (Gutachten der Jurist, u. Theol. Fak. zu Rostock, Sept. 1687). - Die auf Ersuchen von Adrianus Warsenius, eines »Hamburgischen Operisten« (so Gottfried Vockerodt), angefertigten Gutachten waren weithin bekannt und genossen ein hohes Ansehen, wie der ausgiebige Gebrauch zeigt, der allenthalben von ihnen gemacht wurde.

224 Weltbühne gegebenes Schauspiel.206 Die strittigen Schauspielformen hob er hierarchisch von den >artes ludicrae< (Gauckelei) ab, der Kleidertausch, dessen Verbot in das kanonische und das zivile Recht Eingang gefunden hatte,207 erschien als harmloser, kurzzeitiger Kostümwechsel, der als bloße »Quasi-Nutznießung« von Kleidung (quasi ususfructus vestium) nicht unter das moralische Verbot fiel,208 und das Erheben eines Eintrittspreises war entsprechend der schon von Elmenhorst bekräftigten Ansicht nicht länger Streben nach »Gewinst« (quaestus), sondern wurde ganz pragmatisch als rechtmäßige und angemessene Aufwandsentschädigung verstanden.209 Elmenhorst hatte zuvor nicht versäumt hervorzuheben, daß die fraglichen poetischen und musikalischen Kompositionen sowie deren Inszenierung den Akteuren hohes artifizielles Können abverlangten und diese Personen seien, »qui sibi professionis finem in pecunia seu gloria non constituunt ac proponunt«. Es vertrug sich nicht mit der Aufwertung der Singspiele zu einer freien Kunst, diese berufsmäßig und für Geld, das heißt als Lebensunterhalt, auszuüben; die angesprochenen Künstler hatten »anderweit ihren Beruff« und konnten daher nicht als »otiosi, et ad alia in Republica inutiles Cives« kritisiert werden. Das Eintrittsgeld hatte nurmehr kompensatorische Funktion fur das »bey überflüssiger Zeit Auffgesetzte«.210 Vor dem Hintergrund der überlieferten Differenzierung zwischen dem Notwendigen und dem Indifferenten drängte es sich überdies nachgerade auf, das alte Konzept der in den »Neben-Stunden« entstandenen »Nebenwerke« in die Lehre von den Adiaphora aufzunehmen. Solche >literarischeKunst< am Beispiel des Theatergesanges ganz traditionell als Zweckform definiert, das Worumwillen (Ansehen, Geld) also dem Darumwillen (dem Werk) übergeordnet: multo esse praestantius, id propter quod aliquid facimus, quam idipsum quod facimus. [...] Qui ergo cantat vel cantare dicit, non ob aliud nisi ut laudetur a populo, vel omnino abs quovis homine, nonne judicat meliorem laudem illam esse quam cantum? [Dasjenige, um dessentwillen man etwas macht, ist viel vorzüglicher als dasjenige, was man macht. [...] Wenn also jemand aus keinem anderen Grunde singt oder zu singen behauptet als wegen der Anerkennung der Leute oder sogar nur eines beliebigen Menschen, ist derjenige nicht der Ansicht, daß diese Anerkennung besser ist als der Gesang?]

Unter Sängern und Schauspielern glaubte Augustinus keinen einzigen finden zu können, der seine Kunst nicht für Geld, also >um ihrer selbst willen< ausübte (Non enim mihi ullo modo videri potest de scena inveniri posse talem virum, qui suam artem propter seipsam, non propter extra posita commoda diligat).2'4 Indem Elmenhorst den Geldaspekt einfach fallen ließ, entstand der Eindruck, es sei schon bei Augustinus der Gedanke einer um ihrer selbst willen betriebenen Kunst zu finden. Diesem war es hingegen vielmehr um die Differenz zwischen dem >innerenäußeren< Zwecken gegangen (Ruhm, Gelderwerb durch musikalische Volksbelustigung), die sich beide außerhalb der Kunst befinden. Elmenhorst war es auf diese Weise jedoch möglich, zwei letztgültige Zweckintentionen, zum einen die Ehre Gottes und zum anderen die »Freude der Menschen« und »geziemende Ergötzung« einander zu koordinieren. Das Verlangen nach Anschauung schöner Dinge und die Lust, die 212

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B. Crusius: Exodus. Tragoedia sacra et nova [...]. Lipsiae 1605. - Crusius hatte sich in der Vorrede, fol. A3r, ungewöhnlich deutlich gegen die patristischen Verdammungen des antiken Schauspiels ausgesprochen: »eos [Cyprianus u. a.] nonnihil fuisse temerarios, atque propemodum condemnasse, quae [sc. die Dramen insbesondere von Sophokles, Plautus und Terenz] potius commendare debuissent«. Vgl. dazu Gotthardt Frühsorge: Der politische Körper. Zum Begriff des Politischen im 17. Jahrhundert und in den Romanen Christian Weises. Stuttgart 1974, bes. S. 131 f., 134. Frühsorge streifte den vorliegenden Zusammenhang nur, wenn er am Beispiel Christian Weises darauf aufmerksam machte, daß die Begriffe »lustige Erfindungen« (»lustige Bücher«), »Nebenstunden«, »Nebenwerke« und das »Überflüssige« in einem »gegenseitig aufschlußreichen Wortfeld« erscheinen, in dem das in betontem Gegensatz zum Unnützen stehende Überflüssige neben dem Notwendigen »weitgehend in seinem Selbstwert anerkannt« ist, und man sogar das »unausgesprochene Zugeständnis gewisser Zwecklosigkeit des Vergnügens an solcherart >inventiones«< heraushören kann. Die Adiaphorie, in die das ganze Thema offenkundig eingebettet ist, erkannte Frühsorge nicht und nahm daher an, es mit einer besonderen, innovativen Tendenz Weises zu tun zu haben. Augustinus: De musica libri sex, lib. 1, c. 6 (Cantores theatricos nescire musicam), § 12 (Opera omnia. Tomus primus. MPL 32, Parisiis 1877, coli. 1082-1194, hier coli. 1089f.).

226 sich als Wirkung dieser Anschauung einstellt, waren legitimiert, indem sie von selbst- und weltverfallener und also wider Gott gerichteter »böser Augen-Lust, Ohren- und Fleischeslust« abgehoben wurden: Was ein Mensch mit ehrlicher, züchtiger Begierde ansiehet, kan Lust (επιθυμία) genennet werden, durch gewisse Redens-Art, und solche Begierde ist eine nicht böse Lust: Also kan man einen schönen Menschen, einen lieben Menschen (I. Thess. II. v. 17) ein schön Gemählde, Perlen, [...] schöne Gebäude, Kunstwerke, und dergleichen mit guter Lust, ohne Sünde ansehen.215

Es dürfte historisch nicht verfehlt oder übertrieben sein, an dieser Stelle, an der Elmenhorst ausführlichst den »ohn-sündliche[n] Gebrauch des Zusehens und Zuhörens, der bey gegönneten Oper-Spielen gehalten wird«, beschrieb,216 vom leitenden Bemühen um die Abgrenzung interesseloser Anschauung zu sprechen. Auf Dauer waren jedoch alle angesprochenen Probleme nicht durchgreifend zu lösen, ohne die Sphäre der Darstellung, die auch bei ihren Verfechtern noch nicht >Fiktion< hieß, zu einem Raum eigenständiger Legitimität zu erheben, diesseits der theologisch-moralischen Gegensätze geboten/verboten beziehungsweise gut/böse, und jenseits der theoretischen Opposition wahr/falsch. Dabei ist an keine »Eigenwirklichkeit der Fiktion« in einem ontologischen Sinn gedacht, so wie es Erich Kleinschmidt verstanden zu haben scheint, das heißt an eine angeblich bereits von Aristoteles vorbereitete Grundlegung fur »eine realitätsentfernte Ausgestaltung des fiktiven Diskurses«,217 sondern an eine funktionale Eigenständigkeit. Alberico Gentiii hatte mit der klaren Abhebung des »honeste« beziehungsweise »inhoneste repraesentare« vom »repraesentare honesta« beziehungsweise »inhonesta« für die Einschränkung beziehungsweise Neutralisierung des zuerst genannten Gegensatzes eine wesentliche Voraussetzung geschaffen (Et quod magna sit differentia inter bonam, et bonorum repraesentationem, et quod bona repraesentatio esse quoque malorum possit).218 Dannhauer thematisierte den zweiten Gegensatz in einer Predigt über das dritte (nach Luther: das zweite) Gebot »von der aussag der Warheit« (d. h. »Du solt den Namen des Herrn nicht mißbrauchen«) im Rahmen einer Reflexion über Simulation und stellte klar: »Nicht ist meine Liebsten alle simulatio und Verstellung unrecht«. Als Beispiel für derartige Verstellungen führte er neben erlaubten Kriegslisten (und vergleichbaren Akten) vornehmlich das Schauspiel an. Das, was diese Kunst von Falschheit und Lüge abgrenzte, war deren Spielintention und das Agieren der Schauspieler im Modus des als-ob:

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Elmenhorst: Dramatologia antiquo-hodierna, S. 118, 125. Elmenhorst: Dramatologia antiquo-hodierna, S. 126. E. Kleinschmidt: Die Wirklichkeit der Literatur. Fiktionsbewußtsein und das Problem der ästhetischen Realität von Dichtung in der frühen Neuzeit. In: DVjs. 56 (1982), S. 174-197, hier S. 182f. - Es dürfte sich um eine mindestens mißverständliche Auslegung des Axioms handeln, die Dichtung stelle das nach den Regeln des Wahrscheinlichen oder Notwendigen Mögliche dar. Realistische Dichtung ist nach aristotelischem Verständnis um nichts weniger Dichtung als >realitätsentferntere< phantastische; und ebensowenig erfüllte sich für Aristoteles der Formalbegriff von Dichtung in Phantastik. Gentiiis: Disp. I. de actoribus et spectatoribus fabularum, S. 8 (Gronov. VIII, col. 1630B).

227 Deßgleichen wann auff dem theatro im spiel ein schlechter gesell einen Königlichen Habit anzeucht, und sich dergleichen stellt, als wer er König, der betreugt niemand per se, thut auch nichts wider sein angenommenes spiel intent, niemand ist under den zusehern, der da glaubete, es wäre ein rechter und warhaffier König: auff solche arth haben sich auch manchmalen die Engel in gestallt der Menschen und Jüngling verkleydet. 2 " Angesichts der verbreiteten Vorurteile über die Einschätzung der »simulatio« durch das theologische und theologisch bestimmte D e n k e n dürfte an dieser Stelle der H i n w e i s nicht unangebracht sein, daß über die Verstellung in der älteren Theologie, gleich welcher Konfession, überhaupt kaum j e m a l s die Vorstellung e n z u finden sind, die ihr v o n heutigen Kritikern aufgrund offenkundig unzureichender Quellenkenntnis gern unterstellt werden. 2 2 0 Allenfalls könnte man die Behauptung w a g e n , daß das orthodoxe Luthertum allmählich engeren Anschluß an die Lehrtradition gesucht hat, die im Katholizismus in dieser Frage stets die dominierende g e w e s e n sein dürfte. S o plädierte beispielsweise der spanische Jesuit Juan A z o r ( 1 5 3 5 - 1 6 0 3 ) , einer der bekanntesten der >MoralistaeTäuschung< eine Unwahrhafitigkeitsintention hinzukommt, die mit hermeneutischen Mitteln nicht durchschaubar ist.222 Für verdammungswürdig hielt er natürlich alle »Machiavellische politische renck« und die im Papsttum übliche, aber auch in der protestantischen Welt zumindest »in praxi« nicht unbekannte »aequivocations kunst«.223 Unterstützung für diese Argumentationslinie kam selbst aus dem reformierten Lager. So machte Fabricius in seiner Behandlung des >species malispecies< aufmerksam und unterschied drei mögliche Bedeutungen, von denen im Kontext seines apologetischen Bemühens die ersten beiden, »species mali« verstanden als >Art< beziehungsweise >Anschein des BösenDarstellung des Bösem zu verstehen, verschiebt die Gewichte, denn schließlich ist es etwas anderes, ein Laster darzustellen, als ein solches zu begehen (aliud est repraesentare vitia, aliud patrare [...]. Sedenim aliud est recitare aliorum dicta, aliud ex animo ea proferre). Fabricius beeilte sich, in gewohnter Weise die Notwendigkeit einer die Darstellung begleitenden Verurteilung des Bösen zu betonen, wie man es aus dem Schema >Tugendlohn und Sündenstrafe< kennt; aber das aus diesen Darstellungen resultierende Vergnügen war für ihn kein (und sei es ein heimliches) Vergnügen am Bösen, sondern ein reines Vergnügen an der Kunst der Darstellung als solcher (non ex vitiis ipsis, sed ex arte et dexteritate eorum qui ilia repraesentant). In einem weiteren Argumentationsschritt wiederholte er diese Bedeutungsunterscheidung für den Simulationsbegriff: Die mit der Lüge gleichgesetzte Simulation wäre zweifelsfrei durch den Dekalog verboten; aber als Repräsentation und nicht als »ars fallax« verstanden, war das Theater vom biblischen Verbot der Lüge nicht betroffen.224

222

223 224

Dannhauer: Catechismus Milch [...] erster Theil, S. 446: »Lugen ist es, wann man wider wissen unnd gewissen solche wort führet, auß welchen per se nothwendig, dieser und kein anderer verstand, nach gemeiner und rechtmessiger außlegung folgen kan, den auch verständige Leut anders nicht auffnemmen können«. Dannhauer: Catechismus Milch [...] erster Theil, S. 443-448. Fabricius: De ludis scenicis, coll. 1749B/C/E, 1751D, 1752A, 1753C.

229 1.8.

Liberias Christiana in poeticis

In poetischen und poetologischen Texten die Spuren der >libertas in adiaphoris< sowie deijenigen Postulate zu finden, an deren Erfüllung die Ausübung dieser Freiheit gebunden wurde, fallt nicht sonderlich schwer, kann doch ein Großteil der Romantheorie des 17. Jahrhunderts auf lutherischem Boden als angewandte Adiaphoralehre bezeichnet werden. Anhand einiger weniger Beispiele soll das kurz demonstriert werden. >DichtungGedicht< und verwandte Termini standen in den interimistischen Kontroversen in einem Kontext, der durch die Vorstellungen >Lügewillkürlich begründeter Gottesdienst bestimmt war. Diese Vorstellungen wurden selbst wiederum in Gedichtform gebracht, beispielsweise in dem Akrostichon Auf die Buchstaben des Interim, einem von zahllosen Spottgedichten auf den Entwurf Karls V. zur Beilegung des Religionsstreites (vgl. Abb. I).225 Die Möglichkeit, den Ausdruck >Gedicht< als Synonym von >Lüge< zu verwenden, blieb in der Sphäre der Dichtkunst erhalten, und nicht selten war diese Semantik vorherrschend. Dem Lutheraner Andreas Gryphius (1616-1664) war dieser Bedeutungszusammenhang keineswegs schon fremd geworden, daraufhat Albrecht Schöne zu recht aufmerksam gemacht.226 Gryphius stand vor dem Problem der Rechtfertigung des dichterischen Wortes angesichts irdischer Vergänglichkeit und Tod. Ist Dichtung als >Gedicht< nicht notwendig einbezogen in die Verdammnis all dessen, was der Reformierte Voet die »excelsa mundi« nannte? Die Antwort, die der unmittelbare Textzusammenhang über das Wort >Gedicht< in den Thränen über das Leiden Jesu Christi aus dem Jahre 1652 gab, ist jedenfalls unmißverständlich. Die Anklagen, welche die Juden vor dem Gericht des Pilatus gegen Jesus erhoben, heißen hier >Ihr Gedicht % umll / ρ INTE» R umb j» rliefert frommt «griffet» (rim 1 |t brumb frttd)tvon Papiftw/ Μ ι φ bifncFtafy&bettρ φ bcßßert. I l?r trobilnwrcft f