Über die Grenze: Zur Kulturpoetik der Geschlechter in Literatur und Kunst [1. Aufl.] 9783839404225

Das Buch versammelt interdisziplinäre Studien zur literarischen und medienästhetischen Inszenierung der Geschlechterdiff

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German Pages 384 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Räume, Zeichen, Mythen
Die Geometrie adligen Geschlechtertausches. Vormoderne Travestie im höfischen Raum des französischen Absolutismus am Beispiel des Abbé de Choisy
»La barbe ne fait pas l’homme«. Liebe und Geschlechtertausch in George Sands Drama ›Gabriel‹
›Singende Steine‹. Zur Verschränkung von Mythos und Geschichte in George Sands Landroman ›Jeanne‹
Inversion und Perversion
Zwittrige Engel. Androgynie und Hermaphroditismus in französischer Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
›Père-Version‹. Sexualität als Maske des Geschlechts in französischer Dekadenzliteratur
›Hommes-femmes‹ au féminin. Zu Colettes Dekonstruktion ›dritter Geschlechter‹
Gender, Genres und die Krise der Moderne
Maske und Symptom. Mythenverarbeitung und Privatmythologie bei Karoline von Günderrode
Hugo von Hofmannsthal und die ›multiple Persönlichkeit‹. Über eine Krisenfigur der literarischen Moderne
›Erkranken am Geschlecht‹. Zur Inszenierung des ›Mannweibs‹ in medizinischen und literarischen Diskursen der Zwanziger Jahre
Rhetorik der Performanz
Ballerina/Ballerino. Androgynie im Ballett
Nijinsky, der ›Gott des Tanzes‹ als ›Clown Gottes‹? Zur Geschichte eines homophilen Wieder(v)erkennens
Dinge sehen dich an. Die Melancholie des leeren Platzes in der metaphysischen Malerei
›Camp as Pop Can‹. Andy Warhol als Gesamtkunstwerk
Textnachweise
Abbildungsnachweise
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Über die Grenze: Zur Kulturpoetik der Geschlechter in Literatur und Kunst [1. Aufl.]
 9783839404225

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Über die Grenze. Zur Kulturpoetik der Geschlechter in Literatur und Kunst

2006-03-06 14-58-44 --- Projekt: T422.kumedi.runte.geschlechterpoetik / Dokument: FAX ID 0255109638232690|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 109638232698

Annette Runte (Apl. Prof. Dr.) lehrt Allgemeine und Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Sie ist Professeur des Universités und arbeitet derzeit am Centre de Recherches sur l’Autriche et l’Allemagne der Universität Rouen (Frankreich). Ihre Forschungsschwerpunkte sind vergleichende Literaturgeschichte und Literaturtheorie (vom 18. bis zum 21. Jahrhundert), Diskurstheorie, Psychoanalyse, Interkulturalität und »Gender Studies«.

2006-03-06 15-04-35 --- Projekt: T422.kumedi.runte.geschlechterpoetik / Dokument: FAX ID 0255109638584234|(S.

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) T00_02 vak.p 109638584242

Annette Runte Über die Grenze. Zur Kulturpoetik der Geschlechter in Literatur und Kunst

2006-03-06 14-58-45 --- Projekt: T422.kumedi.runte.geschlechterpoetik / Dokument: FAX ID 0255109638232690|(S.

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) T00_03 innentitel.p 109638232722

2006-03-06 14-58-45 --- Projekt: T422.kumedi.runte.geschlechterpoetik / Dokument: FAX ID 0255109638232690|(S.

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) vak 004.p 109638232730

Françoise Rétif in Freundschaft gewidmet

2006-03-06 14-58-45 --- Projekt: T422.kumedi.runte.geschlechterpoetik / Dokument: FAX ID 0255109638232690|(S.

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) T00_04 widmung.p 109638232802

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2006 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Projektmanagement: Andreas Hüllinghorst, Bielefeld Herstellung: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-422-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2006-03-06 14-58-45 --- Projekt: T422.kumedi.runte.geschlechterpoetik / Dokument: FAX ID 0255109638232690|(S.

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) T00_04 impressum.p 109638232834

Inhalt Vorwort 9

Räume, Zeichen, Mythen Die Geometrie adligen Geschlechtertausches. Vormoderne Travestie im höfischen Raum des französischen Absolutismus am Beispiel des Abbé de Choisy 23 »La barbe ne fait pas l’homme«. Liebe und Geschlechtertausch in George Sands Drama ›Gabriel‹ 51 ›Singende Steine‹. Zur Verschränkung von Mythos und Geschichte in George Sands Landroman ›Jeanne‹ 71

Inversion und Perversion Zwittrige Engel. Androgynie und Hermaphroditismus in französischer Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 97 ›Père-Version‹. Sexualität als Maske des Geschlechts in französischer Dekadenzliteratur 115

2006-03-06 14-58-46 --- Projekt: T422.kumedi.runte.geschlechterpoetik / Dokument: FAX ID 0255109638232690|(S.

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›Hommes-femmes‹ au féminin. Zu Colettes Dekonstruktion ›dritter Geschlechter‹ 139

Gender, Genres und die Krise der Moderne Maske und Symptom. Mythenverarbeitung und Privatmythologie bei Karoline von Günderrode 169 Hugo von Hofmannsthal und die ›multiple Persönlichkeit‹. Über eine Krisenfigur der literarischen Moderne 191 ›Erkranken am Geschlecht‹. Zur Inszenierung des ›Mannweibs‹ in medizinischen und literarischen Diskursen der Zwanziger Jahre 217

Rhetorik der Performanz Ballerina/Ballerino. Androgynie im Ballett 243 Nijinsky, der ›Gott des Tanzes‹ als ›Clown Gottes‹? Zur Geschichte eines homophilen Wieder(v)erkennens 281 Dinge sehen dich an. Die Melancholie des leeren Platzes in der metaphysischen Malerei 319 ›Camp as Pop Can‹. Andy Warhol als Gesamtkunstwerk 355 Textnachweise 379 Abbildungsnachweise 381

2006-03-06 14-58-46 --- Projekt: T422.kumedi.runte.geschlechterpoetik / Dokument: FAX ID 0255109638232690|(S.

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VORWORT

Vorwort »touchant la limite« (Jean-Luc Nancy) Das vorliegende Buch versammelt transdisziplinäre Studien zur literarischen und medienästhetischen Inszenierung der Geschlechterdifferenz vom Barockzeitalter bis zur Postmoderne, insbesondere im Vergleich deutsch- und französischsprachiger Kulturräume. Auf dem Hintergrund von Krise und Renormalisierung werden Phänomene der Grenzüberschreitung – von Travestie über Androgynie bis zur Transsexualität – unter diskurshistorischen und psychoanalytischen Aspekten dekonstruiert. Im Rahmen einer Kulturpoetik der Geschlechter, die rhetorische Konfigurationen und performative Prozesse kultureller Praktiken sozialgeschichtlich einzubetten erlaubt, geht es dabei um vor allem die grundlegenden Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Kunst und Wissen. Wenn Grenzen Einheiten überhaupt erst schaffen, indem sie räumliche, zeitliche oder begriffliche Trennungen vornehmen, bezeichnet ihre Überschreitung die Aufhebung derartiger Schranken, die etwa von territorialer Markierung bis zu ethischer Normierung reichen können. In der Tradition abendländischen Denkens entspricht die symbolische Grenze, die zwischen den Geschlechtern verläuft, der inneren Hierarchie einer metaphysischen Opposition1, die das Weibliche, wie die biblische Erzählung der Genesis bekundet, narrativ nachstellt und damit sekundarisiert2, d.h. auf den zweiten Platz verweist.3 Das Selbe konstituiert sich im Ausschluss des Anderen.4 Da Grenzziehung

1. Vgl. Jacques Derrida: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen«, in: Die Schrift und die Differenz, 2. Aufl., Frankfurt/ Main 1976, S. 422-443. 2. Vgl. dazu die Kritik an der Geschlechtsneutralität der Heideggerschen Fundamentalontologie (anhand ihrer Relektüre durch Emmanuel Lévinas) von Jacques Derrida: »Geschlecht: différence sexuelle, différence ontologique«, in: Psyché. Inventions de l’autre, Paris 1987, S. 387-395. 3. Vgl. Simone de Beauvoir: Le deuxième sexe, Paris 1949. 4. Vgl. z.B. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1973. 9

2006-03-06 14-58-46 --- Projekt: T422.kumedi.runte.geschlechterpoetik / Dokument: FAX ID 0255109638232690|(S.

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ÜBER DIE GRENZE

in soziologischer wie psychologischer Perspektive zur Möglichkeitsbedingung von Identitätsformation wird, erscheint Transgression als historistische »Grundfigur […] sozialen und individuellen Wandels«.5 Wenn Grenzübertretung die Grenze jedoch bloß verschöbe, was besagte dann eine Rede6 von geschlechtlicher Grenzüberschreitung, deren abendländische Vorkommnisse vom platonischen Mythos androgyner Kugelmenschen bis zu postmodernen ›gender benders‹ reichten? Und welchen heuristischen Gewinn verspräche die dekorative Metapher einer Kulturpoetik7 der Geschlechter für die vergleichende Lektüre derartiger Phänomene? Die komplexe kultur- und literaturwissenschaftliche Problematik, auf die der Buchtitel anspielt, kann an dieser Stelle nur bruchstückhaft skizziert werden, um in den Beiträgen des Bandes, deren Inhalt am Schluss des Vorworts resümiert ist, unter je spezifischen Gesichtspunkten ausführlich entfaltet und erörtert zu werden. Ähnlich wie der Begriff der ›Form‹, der alle möglichen Alltags- und Fachdiskurse durchquert und »im Spektrum zwischen diffusem umgangssprachlichen Gebrauch« einerseits und »exakter Formelhaftigkeit« andererseits »kaum systematisch« erfassbar erscheint, stellt auch jener der ›Grenze‹ sozusagen »eine abstrakte Kategorie für das Besondere«8 dar. Die französische Sprache, die drei Wörter für diesen deutschen Terminus kennt9, erhellt, dass sich in ihm die negative Bedeutung der Trennung bzw. Abgrenzung mit der positiven der Berührung bzw. des Angrenzens verschränkt.10 Kommt dem Grenzbegriff in Ni-

5. Alexandra Hausstein: »Grenzüberschreitung«, in: Ralf Schnell (Hg.): Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart. Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945, Stuttgart, Weimar 2000, S. 192f., hier S. 192. 6. Vgl. z.B. die Beiträge in polymorph (Hg.): (K)ein Geschlecht oder viele? Transgender in politischer Perspektive, Berlin 2002. 7. Unter diesem Titel erscheint seit geraumer Weile eine kulturhistorisch und kulturtheoretisch ausgerichtete Fachzeitschrift im Vandenhoeck & Ruprecht-Verlag (Göttingen). 8. Klaus Städtke: »Form. Zur Geschichte eines ästhetischen Grundbegriffs«, in: Ralph Kray/Lai Luehrs-Kaiser (Hg.): Geschlossene Formen, Würzburg 2005, S. 13-34, hier S. 13. Der moderne ästhetische Formbegriff, etwa des Russischen Formalismus, überschneidet sich semantisch mit jenem der Grenze (S. 23). 9. Nämlich (1) ›frontière‹ als territoriale Grenze, (2) ›limite‹ als abstrakte und (3) ›bord‹ als Rand (zwischen Innen und Außen) bzw. ›marge‹ im Sinne von Abstand oder auch Zwischenraum. 10. Im Anschluss an die ›Zweiachsentheorie‹ der (post)strukturalistischen Semiologie (Saussure – Jakobson – Lacan) könnte man ›Grenze‹ insofern als Metapher für das Zusammenspiel von metaphorischer Verdichtung (›ein Wort für das andere‹) und metonymischer Verschiebung (›ein Wort nach dem anderen‹) betrachten. 10

2006-03-06 14-58-46 --- Projekt: T422.kumedi.runte.geschlechterpoetik / Dokument: FAX ID 0255109638232690|(S.

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VORWORT

klas Luhmanns sozialwissenschaftlicher Theorie selbstreferentieller Systeme, die ebenso wie poststrukturalistische Denkansätze mit bewusstseinsphilosophischen Prämissen bricht, ein zentraler Stellenwert zu, weil Systembildung auf Grenzziehung (zwischen dem System und seiner Umwelt) beruht11, entsteht Individualität im »Konstitutionszusammenhang«12 einer »Interpenetration« sozialer und psychischer Systeme dadurch, dass beide »in das jeweils andere ihre […] Eigenkomplexität einbringen.«13 Luhmann, der davon ausgeht, dass »Selbstbeobachtung« »Reflexion im Sinne einer Thematisierung der Identität (in Differenz zu anderem)« ernötigt, um kommunikativ anschlussfähig zu werden, versteht Bewusstsein als paradoxe Einheit von Selbst- und Fremdreferenz.14 Wenn die Systemtheorie jedoch, im Gegensatz zu poststrukturalistischem Denken, Identität als differenzbildend erachtet statt Differenz als identitätsbildend, erschöpft sich die Geschichte bzw. Kontingenz autopoïetischer Selbstreproduktion in der Finalität ihrer Selbsterhaltung. Zudem bedingt der evolutionstheoretische Übersprung vom Leben aufs Soziale die Annahme einer gleichsam automatisch ›mitlaufenden‹ »Selbstbeschreibung«15, vom genetischen Code bis zur Metatheorie: Sinnprozesse sind Systemprozessen unterworfen.16 Ist die Geschlechterdifferenz als kommunikativer Code eine exklusive Binäropposition, die auf dem ›tertium non datur‹ eines ausgeschlossenen Dritten beruht, setzt sie als Unterscheidung eine Entscheidung voraus. Denn die unendliche Oszillation zwischen den Polen ihrer Zweiseitenstruktur wird nur durch eine einseitige Markierung zum Stillstand gebracht. Doch in der Hierarchisierung der Asymmetrie durch eine winzige »Präferenz« steckt »bereits«, wie Luhmann anmerkt, »die Entscheidung dieser Logik für den Mann.«17 Indem der

11. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1985, S. 25. Systeme sind strukturell an ihrer Umwelt, ohne die sie nicht existierten, orientiert und konstituieren sich durch »Erzeugung und Erhaltung einer Differenz zur Umwelt«, so dass Fremderhaltung zur Systemerhaltung wird (S. 35). 12. N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 295. 13. Ebd., S. 290. 14. Ebd., S. 495. 15. Ebd., S. 234. Vgl. Eva Meyer: Autobiographie der Schrift, Basel, Frankfurt/ Main 1989, S. 17. 16. Vgl. Albrecht Koschorke/Cornelia Vismann (Hg.): Widerstände der Systemtheorie. Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann, Berlin 1999. Dieser Sammelband enthüllt verdrängte literatur- und kulturtheoretische Fundamente der Soziologisierung von Literatur- und Kulturwissenschaft. 17. Niklas Luhmann: »Frauen, Männer und George Spencer Brown«, in: Zeitschrift für Soziologie 17 (1988), S. 47-71, hier S. 50. Vgl. dazu Annette Runte: »Die ›Frau ohne Eigenschaften‹ oder Niklas Luhmanns systemtheoretische Beobachtung der Geschlech11

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ÜBER DIE GRENZE

gewählte Oberbegriff sowohl die Unterscheidung als auch deren Elemente bezeichnet, garantiert die historisch effektuierte Universalisierung der Männlichkeit18 die Systemfunktionalität der Geschlechterdifferenz. Obwohl der systemtheoretische Ansatz das souveräne Subjekt der interaktionistischen Soziologie verabschiedet hat, ist er darauf angewiesen, Sprache als bloßes Kommunikationsmittel und symbolisch generalisierten Sinn19 zu begreifen. Philosophische und psychoanalytisch gewonnene Überlegungen haben sich gegen diese Instrumentalisierung gewehrt. »Dadurch daß er rinnt […], gewinnt der Diskurs seinen Sinn«, kalauert Jacques Lacan, denn »seine Wirkungen« seien »unmöglich zu berechnen«. »Die Spitze an Sinn« sei »das Rätsel«, und »Tragweite« habe »das Zeichen nur, weil es entziffert werden muß.«20 Indem sich das Subjekt bereits durch die Kluft zwischen Aussage und Äußerung als ein in der Sprache gespaltenes erweist21, geht die Grenze zwischen Eigenem und Fremden wie ein Riss durch es hindurch. Als Einschnitt einer symbolischen Kastration setzt der Mangel Begehren in Gang. Ergibt sich aus Lacans linguistischer Lesart der Freudschen Mythenfiktion des Ödipuskomplexes eine strukturelle Parallele zwischen dem Einbruch des väterlichen Dritten in die geschlossene Mutter-Kind-Dyade einerseits und der triangularisierenden Zeichenfunktion22, deren Selbstrückbezüglichkeit das Gesetz markiert, andererseits, bedeutet die identitätsstiftende Verwundung narzisstischen Totalitätsverlangens eine Anerkennung menschlicher Endlichkeit und damit auch geschlechtlicher Begrenzung. Eine quasi-psychotische Verwerfung des Symbolischen, das aus dem Realen wiederkehrt, ohne von dort aus vermittelt werden zu können, zeichnet jene post-modernen Utopien der Entgrenzung23, die vom

ter-Differenz«, in: Theresa Wobbe/Gesa Lindemann (Hg.), Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht, Frankfurt/Main 1994, S. 297-325. 18. Vgl. Friederike Hassauer-Roos: »Das Weib und die Idee der Menschlichkeit. Überlegungen zur neueren Geschichte der Diskurse über die Frau«, in: Bernard Cerquiglini/Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.): Der Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt/Main 1983, S. 421-449. 19. N.Luhmann: Soziale Systeme, S. 137. 20. Jacques Lacan: »Vorwort«, in: Schriften II. Ausgewählt und hg. von Norbert Haas, Olten, Freiburg i.Br. 1975, S. 7-11, hier S. 7. 21. Jacques Lacan: »Die Stellung des Unbewußten«, in: Schriften II. Ausgewählt und hg. von Norbert Haas, Olten, Freiburg i.Br. 1975, S. 205-231, hier S. 213. 22. Schon der Semiologe Charles Sander Peirce verwies darauf, dass die Relation zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem über die Vermittlung eines dritten Moments, des Referenten oder des Interpreten, geschieht. 23. Slavoj Zˇizˇek: Die Pest der Phantasmen. XMedia, Wien 1997, S. 117ff. Es erscheint mir nicht unbedingt kulturpessimistisch zu sein, im massenmedial mitbedingten 12

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VORWORT

Anspruch sexueller ›Befreiung‹ über die Forderung nach freier Geschlechtswahl bis zu radikalen Utopien des degendering voranschritten.24 Weit davon entfernt, ein analytischer Begriff zu sein, bleibt die multidiskursiv konstituierte Ordnungskategorie des Geschlechts signifikanter Effekt rhetorischer Verfahren, die deren Semantik auf imaginärer Ebene verändern, ohne ihren Binarismus symbolisch außer Kraft zu setzen. Ist die Geschlechterdifferenz, die inzwischen sämtliche Felder des Wissens durchkreuzt, mithin zu einer ›schwankenden Grenze‹ (Judith Butler) geworden, stellt sich die auch für den kulturellen Vergleich relevante Frage nach dem Nexus von gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und geschlechtlicher Entdifferenzierung.25 Denn die beweglichen Netzwerke sozialer Konstellationen und ästhetischer Konfigurationen sind Ergebnis (trans-)kultureller Produktions- und Zirkulationsprozesse.26 Als Teil des kulturellen Gedächtnisses27 und experimentelles Medium spielt Literatur dabei noch immer eine wichtige Rolle. Definiert man ›Kultur‹, der Luhmann den Systemstatus abspricht, im weitesten Sinne als Ensemble menschlicher Produktionen und Artikulationen, reduziert Lacan sie, in der konzeptuellen Gegenüberstellung mit Natur und Gesellschaft, »auf Sprache«28, denn jede Anthropologie stoße an die Grenze des sprechenden Subjekts. Ist das Schriftprimat der ›Gutenberg-Galaxis‹ (Norbert Bolz) inzwischen bekanntlich

Verlust des Imaginären, den auch Julia Kristeva bemerkt, das Indiz eines zunehmenden Realwerden des symbolischen Anderen zu sehen (S. 137). 24. Vgl. Annette Runte: Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität, München 1996, S. 499ff. 25. Ulrich Beck mutet die selbstreflexive, von ihm so genannte ›zweite Moderne‹ seltsam ›herrenlos‹ und geschlechtsneural an. 26. Vgl. Helga Mitterbauer/Katharina Scherke (Hg.): Ent-grenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart, Wien 2005. 27. Vgl. Aleida Assmann/Dietrich Hart (Hg.): Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt/Main 1991. 28. Jacques Lacan: »Das Drängen des Buchstaben im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud«, in: Schriften II. Ausgewählt und hg. von Norbert Haas, S. 15-61. hier S. 20. Der notorische Vorwurf gegenüber psychoanalytischem Denken, nämlich, dass es unhistorisch sei, verkennt die Versuche, Geschichte, aber auch Kultur ›anders‹ zu denken. Vgl. Jutta Prasse/Claus-Dieter Rath: Lacan und das Deutsche. Die Rückkehr der Psychoanalyse über den Rhein, Freiburg i.Br. 1994. Über religiöse Systeme errichten Kulturen etwa verschiedenartige individuelle und kollektive Verhältnisformen zu Schuld und Verdrängung, aber auch zu kulturellen Aufzeichnungsmodi, wie die Unterschiede zwischen Judentum und Christentum verdeutlichen. Die Mythenfiktion Freudscher Kulturtheorien ist noch heute diskussionswürdig, etwa in Bezug auf Thesen vom symbolischen Vaterfunktionsverlust (Mitscherlich, Lacan). 13

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ÜBER DIE GRENZE

einer medientechnologischen Pluralisierung gewichen, die man als »Kopräsenz« von Komplexität und Entlastung kennzeichnen könnte29, bestätigt nicht nur die globale Expansion elektronischer Popkultur, sondern auch die fortdauernde Attraktavität multi- und intermedialer Kunstformen diese aisthetische Diagnose. Geriert sich das Projekt der Moderne30 schon deswegen grenzüberschreitend, weil es auf die Optimierung des Möglichen abzielt, gibt seine reflexiv gesteigerte Ambivalenz einer ›Rhetorik der Doppelfiguren‹ (Gerhart von Graevenitz) statt, auf die sich Phantasmen der Spaltung, Vermischung und Identitätsauflösung projizieren ließen. Die geschlechtliche Übercodierung der europäischen Kulturkrise um 1900 und entsprechender Restabilisierungsversuche zeugt ebenso davon wie das durchgreifende ›engendering‹ der modernistischen Ästhetik.31 Unter epistemologischen Vorzeichen entspräche der geschlechtliche Paradigmenwechsel von der wesensphilosophisch oder anthropologisch fundierten Figur einer exklusiven Binäropposition zum positivistischen Kontinuum-Modell fließender Übergänge und infinitesimaler Zwischenstufen-Konstrukte durchaus dem sich allmählich durchsetzenden soziokulturellen Dispositiv des ›flexiblen Normalismus‹, den die Tendenz zur »mobile[n]« und »differenzierbare[n] Inklusion«32 charakterisiert. Die konstruktivistisch motivierte Dekonstruktion geschlechtlicher Identitäten33 geht heute mit deren alltagsweltlicher Nivellierung und scheinbar unbegrenztem Fluktuieren einher.34

29. K. Ludwig Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen einer kulturanthropologischen Medientheorie, Frankfurt/Main 1999, S. 43. 30. Vgl. zur Crux des Modernebegriffs Hans Ulrich Gumbrecht: »Kaskaden der Modernisierung«, in: Johannes Weiß (Hg.), Mehrdeutigkeiten der Moderne, Kassel 1998, S. 17-43, zur soziologischen Debatte Klaus Lichtblau: »Die Selbstunterscheidungen der Moderne«, in: ebd., S. 43-89. 31. Vgl. Urte Helduser: Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Moderne um 1900, Köln, Weimar, Wien 2005. 32. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1998, S. 146. 33. Paradebeispiel dafür wären etwa der analytische Ansatz und das politische Projekt Judith Butlers (Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main 1991). Sie greift den ›Phallozentrismus‹ Lacans an und versucht, die Entstehung und Veränderung geschlechtlicher Identitäten, die in psychoanalytischer Sicht unbewussten Identifizierungen entspringen, durch eine an Derridas Konzept differenzieller ›Iteration‹ angelehnte Konzeption einer diskursiven Produktion geschlechtlicher ›Performanzen‹ zu erklären. Dabei vernachlässigt sie nicht nur die phantasmatische Verankerung von Identifikationen, sondern leitet heterosexuelle Identität aus der melancholischen Verinnerlichung des verbotenen homosexuellen Liebesobjekts ab. Diese psychodynamische Genese der Normalität aus der Anomalie, die sich der Freudschen Melancholietheorie bedient, ba14

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VORWORT

Grenzenlos erscheint auch der Möglichkeitsraum einer poetischen Praxis. Wenn der literarische Text für Julia Kristeva kein Unbewusstes hat, weil er es als differentieller Bedeutungsprozess ist, muss Dichtung zwar auf die ›Wahrheit‹ eines analytischen Diskurses verzichten35, wird dafür aber auf dem Feld des Sagbaren entschädigt.36 In seiner ›Dialektik‹ zwischen sensorieller Öffnung und thetischer Schließung nähert sich Kristevas Textbegriff der prinzipiellen Offenheit des derridianischen Schriftkonzepts, dessen interpretative Endlosigkeit Lacan indes kritisierte. Die Deutung sei nicht für jeden Sinn offen, also keineswegs beliebige, sondern stets ›be-deutende‹ Deutung.37 Insofern die rhetorische Performativität der Sprache ›ursprünglich überträgt‹, wie Werner Hamacher es formuliert, eröffnet erst die Rede die Möglichkeit einer Wahrheit, die in ihrer Teilhabe an anderem liegt.38 Und die Literatur? Da das Poetische keine Sondersprache, sondern einen besonderen Einsatz sprachlicher Materialien und Verfahren darstellt, speist sich Dichtung nicht nur aus dem sozialen Interdiskurs und der intermedialen Transposition transtextueller Beziehungen39, sondern lebt von der unentscheidbaren Spannung zwischen Figuration und Defiguration, Denotativ und Performativ, zumindest ihrer dekonstruktiven Lesart40 gemäß. In welchem Verhältnis aber stünde Literatur zu Geschichte, das Ereignis zur Serie, die Singularität zur Gemeinschaft? Folgt eine vom New Historicism inspirierte ›Poetik der Kultur‹ dessen doppelter Vor-

siert jedoch auf der unhinterfragten Voraussetzung eines originären Begehrens des Gleichen, was Slavoj Zˇizˇek für einen ›Jungianismus à l’envers‹ erachtet. Butlers Meisterdiskurs einer sich auf Foucault berufenden Genealogie sozialer ›Zwangsheterosexualität‹, die Foucaults Konzeption der Produktivität der Macht mit damit unvereinbaren repressiven Herrschaftsmodellen legiert, trägt der konstitutiven Nachträglichkeit jedweder Rede, und damit auch der eigenen theoretischen, keinerlei Rechnung. 34. Vgl. Julika Funk: »Maske-Grenze-Geschlecht. Bemerkungen zur Lesbarkeit von Geschlechterdifferenz im kulturellen Gedächtnis der Moderne«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 72. Jg. (1998), Sonderheft, S. 193-212, hier S. 194. 35. Der poetische Text kenne »kein personifiziertes Übertragungsverhältnis«, da sein Empfänger der »Ort der Sprache selbst« sei, so Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt/Main 1978, S. 205. 36. J. Kristeva: Die Revolution, S. 70. 37. Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar. Buch XI (1964). Übers. von Norbert Haas, 2.Aufl., Olten/Freiburg i.Br. 1980, S. 263f. 38. Jean-Luc Nancy: La communauté désœuvrée, Paris 1986, S. 95f. 39. Vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/Main 1993. 40. Paul de Man: Allegorien des Lesens, Frankfurt/Main 1988. 15

2006-03-06 14-58-46 --- Projekt: T422.kumedi.runte.geschlechterpoetik / Dokument: FAX ID 0255109638232690|(S.

9- 20) T00_06 vorwort.p 109638232898

ÜBER DIE GRENZE

aussetzung einer unterstellten Wechselbeziehung zwischen der Geschichtlichkeit von Texten und der Textualität von Geschichte41, dürfte eine ›Kulturpoetik der Geschlechter‹, die genealogische Re-konstruktion mit der De-konstruktion ihrer Voraussetzungen irritierte, ihre eigene Literarizität, etwa in Form von Rhetorik, Narrativität oder Fiktionalität42, nicht verdrängen. Stand die moderne Monsterkunde sexuell-geschlechtlicher Abweichungen, deren Medikalisierung ihre Diskursivierung antrieb, in offenbarer Beziehung zur ›Schwarzen Romantik‹ (Mario Praz) und ihrer Ästhetik der Hässlichkeit43, entstammt die Figur der Entgrenzung jener geschlechtsspezifisch applizierten Analytik des Erhabenen44, dessen Momente des Formlosen, Paradoxen und Vermischten einige Affinität zum postmodernen Zeitgeist45 aufweisen. Gleichzeitig zog die popkulturelle Einebnung von ›high culture‹ und ›low culture‹ eine Ästhetisierung der Lebenswelten46 nach sich, die die »Innovationslogik der Moderne« banalisierte.47 Sollte das »utopische Ziel der historischen Avantgarde, die Differenz von Kunst und Leben aufzuheben«, heute »technisch realisiert und damit profanisiert worden«48 sein, würde diese Diagnose vordergründig mit jener einer Nivellierung der Geschlechtergrenzen übereinstimmen, die Peter Gorsen

41. Vgl. Stephen Greenblatt, Carlo Ginzburg, Umberto Eco usw. 42. »La limite historique et la limite théorique s’entrelacent«, stellt J. L. Nancy (La communauté, S. 63) fest. 43. So der Titel der Studie des Hegelianers Karl Rosenkranz (1853). 44. In Kants ›Analytik des Erhabenen‹ (Kritik der Urteilskraft, 1790) wird Form mit »Begrenzung«, Formlosigkeit mit »Unbegrenztheit« gleichgesetzt (Immanuel Kant: Werke in acht Bänden, hg. von Hugo Renner, Berlin 1904, 2.Bd, S. 71). Schiller macht aus dem rezeptionsästhetisch interessanten Mischaffekt einen Sieg der Vernunft über den Verstand: »Erhaben nennen wir ein Objekt, bei dessen Vorstellung unsere sinnliche Natur ihre Schranken, unsere vernünftige Natur aber ihre Überlegenheit, ihre Freiheit von Schranken fühlt […]. Nur als Sinnenwesen sind wir abhängig, als Vernunftwesen sind wir frei.« In: »Vom Erhabenen«, in: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert hg. von Peter-André Alt, Albert Meier und Wolfgang Riedel, Bd. V, München 2004, S. 489-512, hier S. 489. Die Projektion der ästhetischen Opposition von Schönem und Erhabenem auf das sittliche Verhältnis der Geschlechter, die sich beim vorkritischen Kant anbahnt, kulminiert bei Schiller in der Figur der ›schönen Seele‹, die Weiblichkeit zur Versöhnung von Sinnlichkeit und Vernunft aufruft. 45. Vgl. Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989. 46. Vgl. die Arbeiten von Wolfgang Welsch. 47. So Boris Groys (1992), zitiert in Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt/Main 2002, S. 13, Anm. 15. 48. E. Geulen: Das Ende, S. 13. 16

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VORWORT

schon mit den Jugendrevolten der 60er Jahre gekommen sah. Doch der theoretische Status dieser Parallele bleibt prekär. Weder lässt sich die Relation zwischen systemischer Aus- und Entdifferenzierung geschichtsphilosophisch interpretieren noch ästhetische Grenzüberschreitung bzw. Entgrenzung einsinnig auf geschlechtliche abbilden. Dass Weiblichkeit als »Figur« einer »Grenze«, die unter dekonstruktiven Vorzeichen »höchstens noch als Übergang«, »Dis- und Transkontexturalität«, problematisiert werden kann, zum »verschiebende[n] Moment«49 einer Berührung zwischen Ab- und Angrenzung avanciert, zeugt von ihrer schwierigen Positionierung in der symbolischen Ordnung. Ist das Trauma, als Antrieb historischer Ereignisse und Serialitäten, ein »nicht-darstellbare[r] Schnitt«, »ohne den die Artikulation nicht wäre«50, liegt das »›harte Gesetz der Grenze‹« als ›Signatur der Moderne‹51 im Herzen der Sprache. Die »ent-konstituierende« Kraft eines ironisch-parodistischen degendering52 kann ihm die autoritative Bedeutung nicht nehmen. Der vorliegende Band setzt sich auf dieser Basis mit der kulturellen Inszenierung der Geschlechterdifferenz in Literatur und Kunst auseinander, wobei er einer chronologischen Anordnung innerhalb seiner Themenkreise folgt. Zum Abschluss soll ein kurzer Überblick über die einzelnen Aufsätze gegeben werden. Die Memoiren des Abbé de Choisy (1644-1724), eines kirchlichen Würdenträgers aus der Epoche Ludwig XIV., dessen Historiograph er war, beleuchten nicht nur die Entstehung psychologischer Subjektivität aus der Differenz segregativer sozialer Räume, sondern auch die Geburt männlicher Travestie aus der höfischen Maskerade einer barocken Repräsentationskultur. Deren narzisstisches Zeichenspiel bringt die perverse Idylle ungleichen Geschlechtertausches hervor, den erst die libertinistische Literatur des 18.Jahrhunderts symmetrisiert. George Sands Thesendrama »Gabriel« (1840), ein hispanisierendes ›Mantel-& Degenstück‹, das während ihrer Liebesbeziehung zu Chopin entstand und das der große Prosaist Balzac sehr schätzte, verknüpft das bis ins Mittelalter zurückreichende Motiv gegengeschlechtlicher Erziehung aus Erbfolge-Gründen mit der vormodernen Topik der verkehrten Welt. Erscheint das melodramatische Opfer einer zweideutigen Protestfigur unter Einbezug biographischer Quellen im Zeichen einer androgynen Privatmythologie, verweist deren utopisches Potential ebenso auf die deutsche Frühromantik wie auf den französischen Frühsozialismus.

49. J. Funk: »Maske«, S. 203. 50. Marianne Schuller: Moderne. Verluste. Literarischer Prozeß und Wissen, Basel, Frankfurt/Main 1997, S. 97. 51. M. Schuller: Moderne, S. 113. 52. Judith Butler, in: Neue Rundschau 1993, S. 67. 17

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Der Landroman »Jeanne« (1844), der George Sand stilistisch zwischen ›weiblichem‹ Idealismus und ›männlichem‹ Realismus schwanken lässt, mythisiert Geschichte, indem er den Mythos historisiert. Eine zeitgenössisch reaktualisierte national getönte Keltenlegende wird matriarchalisch umgedeutet, der schon im Titel vorhandene Verweis auf die Ikone der Jungfrau von Orleans zur mariologisch verbrämten Reinheitsmetapher und Allegorie des weiblichen Naturzustandes vor dem Hintergrund einer frühkapitalistischen Gesellschaft. Anhand französischer Unterhaltungsromane und autobiographischer Dokumente aus dem 19. und frühen 20.Jahrhundert lässt sich die positivistische Wissenschaft vom Geschlecht als ein ›Wille zum Wissen‹ ausweisen, der den Ovid’schen Hermaphroditen-Mythos in narrativen Geständniszwang überführt, wie es etwa Lautréamont episch dramatisiert. Ist aus der Medizin um 1900 eine phantastische Literatur geworden, die im Rahmen des ›sexuellen Dispositivs‹ tragische Fallgeschichten, z.B. jene der durch Michel Foucault bekannt gewordenen Herculine Barbin, produziert, verkörpert die Zwitterfigur nach dem Ersten Weltkrieg die Ambivalenz eines geschlechtlichen Paradigmenwechsels. Die erotische Perversion romantischer Engelgestalten, deren motivisches Spektrum in der französischen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts vom mignonhaften Zwitter Hyacinthe de Latouches (1799) über Balzacs Swedenborg-Zitat (1834/1835) bis zum androgynen Mädchenpagen Théophile Gautiers (1835) reicht, unterhöhlt die durch diese geschlechtlichen ›Joker‹ gewährleistete symbolische Vermittlung zwischen den entzweiten Geschlechtern. In der französischen Dekadenzliteratur macht sich, wie ein Vergleich zwischen männlichen und weiblichen Autoren (Péladan vs. Rachilde) zeigt, eine geschlechtsspezifische Hierarchisierung der Androgynie bemerkbar. Steht Sexualität dabei im Dienste geschlechtlicher Transgression, geht die Entgrenzung mit einem »fading of the father« einher. Am Beispiel von Colettes essayistischem Schlüsselroman »Ces plaisirs ...« (1932), später erweitert zu »Le pur et l’impur« (1941), zeigt sich, dass die Literatur der klassischen Moderne, etwa bei Marcel Proust oder Virginia Woolf, die metaphysische Geschlechtsopposition sozusagen avant la lettre dekonstruierte. Colettes sensualistisches Schreiben durchkreuzt die subversiven Gesten homosexueller ›Sekten‹, indem es die mimetische Ökonomie der Minoritäten in ihren geschlechtsspezifischen Machteffekten inszeniert. Zwischen essentialistischen und konstruktivistischen Positionen lavierend, kommt eine Spur mütterlichen Begehrens buchstäblich zum Vorschein. Romantische Themen in klassizistischer Form präsentierend, hat sich Karoline von Günderrode (1780-1806) vor allem als Lyrikerin einen Namen gemacht. Das maskuline Pseudonym, an dem die Schriftstellerin festhielt, verselbständigte sich im Briefwechsel mit dem Ge18

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VORWORT

liebten Friedrich Creuzer, einem Heidelberger Altertumskundler, zur Personifikation ihrer männlichen Geschlechtsidentität auf dem legitimierenden Hintergrund des empfindsamen Freundschaftscodes. Nachdem Karoline unter der Maske »des Freundes« vergeblich versucht hatte, den verheirateten Professor für sich zu gewinnen, nahm sie sich das Leben. Günderrodes dramatisches Werk bezeugt indessen, in welchem Maße ihre matriarchalische Relektüre einer an Herder orientierten indisch-asiatischen Mythologie das dionysische Antikenbild Creuzers und damit auch Bachofens und Nietzsches vorprägte. Die Untersuchung von Dramenfragmenten aus dem Nachlass enthüllt den Zusammenhang zwischen weiblicher Autorschaft, Dilettantismus und der geschlechtlichen Überdeterminierung moderner Gattungspoetik. In seinem Romanfragment »Andreas oder die Vereinigten« (19071927), mit dem er Zeit seines Lebens befasst war, verarbeitet Hugo von Hofmannsthal, einer der prominentesten Vertreter der ›Wiener Moderne‹, die neu entdeckte Pathologie der ›multiplen Persönlichkeit‹, die als eine epochale Krisenfigur gelten darf. Im Gegensatz zum unheimlichen Doppelgänger der ›Schwarzen Romantik‹ (von Jean Paul bis zu E.T.A. Hoffmann) wird die traumatische Bewusstseinsspaltung nun von weiblicher Hysterie verkörpert, die sich dadurch in ein poetischpoetologisches Gleichnis verwandelt. Während die Vermännlichung emanzipierter ›Blaustrümpfe‹ im 19. Jahrhundert zum Politikum im Diskurskampf um das ›Geschlecht der Moderne‹ geworden war, blieb das noch immer aktuelle Phänomen der Transsexualität lange Zeit durch die Unsichtbarkeit des Frau-zuMann-Wechsels gezeichnet. Nur im Schauerroman eines Hanns Heinz Ewers (1929) wurde es als ›maskulinistisches‹ Damenopfer vorgestellt. Während die medizinische Schimäre des ›Mannweibs‹ um 1900 auch in expressionistischer Frauenliteratur (Bess Brenck-Kalischer) zur ephebischen ›Knäbin‹ mutiert, wird ihr im avantgardistischen Experiment (Else Lasker-Schüler) ein melancholischer Zug verliehen. An Heimito von Doderers frühem Romanversuch »Jutta Bamberger« (1923/1924) wird ersichtlich, in welchem Maße eine von ihrem Autor fetischisierte Fiktion zur metapoetischen Figur werden kann. Erhob Stéphane Mallarmé, der formal radikalste Vertreter des französischen Symbolismus, den Tanz in den Rang einer Schrift, wurde die Tänzerin zu deren Allegorie. ›Ballet is woman‹, verkündete George Balanchine noch Jahrzehnte später. Wenn Tanz nur metaphorisch eine Grammatik besitzt, verweist die choreographische Körpersprache auf eine Kulturpoetik der Geschlechter. Dem Aufstieg der romantischen Ballerina, die das Ideal ›der‹ Frau als gespaltene inkarniert, entspricht der Abstieg des Ballerino, der erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts die Bühne wieder beherrscht. Im Kontext einer ›Krise der Männlichkeit‹ wird er als sportlicher Virtuose (S. Lifar, J. Babilée) revirilisiert. Die literarischen Verarbeitungen dieser Korrespondenz (von Frank Wede19

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ÜBER DIE GRENZE

kind bis Günter Grass) schreiben Bann und Zwang des Balletts in den Nexus von Tod und Wiederholung ein. Die populäre Biographik Nijinskys (1889-1950), Startänzer der ›Ballets Russes‹, ist nicht nur auf seine homoerotische Beziehung zum Impresario Serge de Diaghilev fixiert, sondern tradiert die Legende von ›Genie & Wahnsinn‹. Trug Nijinskys Gattin kaum dazu bei, dieses Bild zu normalisieren, haben neuere psychiatrische Studien die Pathographie verwissenschaftlicht. Doch die jüngst veröffentlichten Tagebücher Nijinskys lassen sich zwar im Lichte psychoanalytischer Trauma-Theorien lesen, aber auch im Kontext der literarischen Avantgarde Russlands, auf die Nijinsky bereits eine choreographische Antwort gegeben hatte. Seit kurzem werden die Gebrüder Chirico, die beide bildnerische Tätigkeiten mit schriftstellerischen verbanden, einer ›anderen‹, häretischen Moderne zugerechnet, die sich zwischen Erbpflege und Innovation, Figuration und Abstraktion situiert. Giorgio de Chiricos ›metaphysische Malerei‹ (1909-1919) kündet nicht nur von der durch die Krise der europäischen Kultur bedingten Melancholie des Verlusts, sondern auch vom Paradox einer anthropomorphen Entmenschlichung, wie sie sich in seinen Gliederpuppen in mehrfacher Hinsicht manifestiert. Indem deren ornamentale Gestaltung den Augenpunkt der Zentralperspektive auf einen ›blinden Fleck‹ zusammenzieht, verknotet sich darin die in Chiricos poetischen Texten artikulierte mystische Erfahrung. Obwohl der Pop-Papst Andy Warhol im Kontext seiner berühmten New Yorker ›Factory‹ zum postromantischen Gesamtkunstwerk zu werden drohte, blieb sein multi-mediales Werk von der Ästhetik des Camp und der Popkultur, als Reaktion auf das Ende der Moderne, geprägt. Kommt die affichierte Indifferenz des homosexuellen Medienstars in seiner Simulation der Warenwelt zum Ausdruck, so setzt Warhols zentrale Technik der Seriegraphie gleichsam das differenztheoretische Konzept einer heterogenen Wiederholung in Szene. Die Affirmation der Leere maskiert eine melancholische Krypte, die sich in Warhols Umgebung, vor allem in der fatalen Symbiose mit seinem weiblichen ›Zwilling‹ Edie Sedgwick, reproduziert.

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Räume, Zeichen, Mythen

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DIE GEOMETRIE ADLIGEN GESCHLECHTERTAUSCHES

Die Geometrie adligen Geschlechtertausches. Vormoderne Travestie im höfischen Raum des französischen Absolutismus am Beispiel des Abbé de Choisy »Er schreibt zu viel und liest zu wenig.« (Sainte-Beuve) »Il faut bien qu’il y ait des ombres dans les tableaux.« (Bussy-Rabutin)

Die Geburt der Geschichte(n) aus dem Raum Im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts lässt sich eine vornehme Dame nicht lange bitten, während der Hochmesse von Saint-Médard in Paris die Kollekte abzuhalten sowie Hostien auszuteilen, und bereitet sich dafür »wie auf ein festliches Spektakel« vor1: »Ich ließ mir ein Kleid aus weißem China-Damast schneidern, das mit schwarzem Taft gefüttert und mit bunten Bändern verziert war, die meine geraffte Taille betonten […]. Meine Frisur war sehr modisch, eine prunkvolle Haube über einer gepuderten, mit Edelsteinen besetzten Perücke, unter welcher große diamantene Ohrringe […] hervorschauten. Außerdem benutzte ich ein gutes Dutzend Schönheits-Pflästerchen. – Ich habe sie immer geliebt und finde, daß nichts besser kleidet. – Schließlich legte ich ein seidenes Brusttuch an, das mein Dekolleté aber kaum verbarg […]. Nicht aus Eitelkeit möchte ich erwähnen, daß sich noch nie so viel Geld im Klingelbeutel fand wie an jenem Sonntag, als mir mein Lakai die Schleppe trug. […] Doch warf man mir vor, etwas frivol gewesen zu sein.«2 Der einzige Schönheitsfehler dieser überwältigenden Erscheinung liegt nämlich darin, ein junger tonsurierter Abbé zu sein, der in die Vorstadt

1. »Mémoires de l’abbé de Choisy habillé en femme«, in: Mémoires de l’Abbé de Choisy. Edition présentée et annotée par Georges Mongrédien, Paris 1966, S. 287-363, hier: S. 295 [übersetzt von A. R., wie alle folgenden Zitate]. 2. Ebd., S. 295f. 23

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gezogen ist, um sich abseits kritischer Blicke einer allmählichen Verweiblichung seiner Gestalt hinzugeben. Wie in einem umgekehrten Striptease enthüllt der weltliche Titularabt3 immer zahlreichere feminine Gewänder unter dem Priesterrock, indem er jede Woche ein paar Knöpfe mehr an seiner Soutane offen lässt.4 Die kirchlichen Autoritäten nehmen es gelassen hin und gestehen dem sonderbaren Ornat sogar Würde zu, aber das Volk gewöhnt sich an die selbsternannte »Madame de Sancy« nur mit einem spöttischen Gassenhauer, dessen erste Strophe lautet: »Sancy, au faubourg Saint-Marceau Est habillé comme une fille Il ne paraîtrait pas si beau S’il était encore en ville Il est aimable, il est galant: Il aura bientôt des amants.«

Sancy im Faubourg Saint-Marceau Ist wie eine Kokotte kostümiert Er schiene kaum so voller Glanz, wäre ihm das in der Stadt passiert Er ist liebenswürdig und galant: Bald hat er Liebhaber an der Hand.5

Diese Anekdote steht in den postum publizierten ›Memoiren des Abbé de Choisy, gekleidet als Frau‹, so der Titel, die sich aus vier, insgesamt siebzig Seiten langen Teilen zusammensetzen, der ›Geschichte der Comtesse des Barres‹ (1735 veröffentlicht), jener der eben erwähnten ›Madame de Sancy‹ (erst 1839 erschienen) und zwei kürzeren, wahrscheinlich zensurierten Episoden, den ›Liebschaften von Monsieur de Maulny‹ sowie den ›Verwicklungen des Abbé mit den kleinen Schauspielerinnen Montfleury und Mondory‹.6 François-Timoléon de Choisy, der von 1644 bis 1724 lebte und in seinem historiographischen Werk die Epoche Ludwigs XIV. festhielt, stammte aus einer angesehenen Familie, reiste bis nach Siam und wurde 1687 mit den Stimmen von Racine und Boileau in die Académie française gewählt. Seine kirchlichen Pfründe erlaubten ihm eine rege schriftstellerische Produktion, die neben einer elfbändigen Kirchengeschichte und diverser Erbauungsliteratur auch eine Reprise des galanten Schäferromans, ›Die Neue Astraea‹, umfasst. Sollte man diesen illustren Kirchenmann also für einen Libertin halten7, dem die Doppelmoral des Ancien

3. Von Saint-Denis nahe Dijon (seit 1663), später auch von anderen Abteien. 4. Mémoires, S. 291. 5. Erste Strophe des französischen Originals, zitiert nach Geneviève Reynes: L’abbé de Choisy ou l’ingénu libertin, Paris 1983, S. 157. 6. In dieser Vollständigkeit ist das autobiographische Werk erst 1966 erschienen. 7. So Jean Mélia: La Vie amoureuse de l’abbé de Choisy de l’académie française et doyen de cathédrale, Paris 1934, S. 19. Er erwähnt eine Reihe weiterer lasterhafter Kirchenmänner, z.B. die Abbés Bretin, Mangenot, de Grécourt und de Voisenon (S. 214ff.). 24

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Régime entgegenkam8, oder sogar für einen Vorläufer heutiger Fetischisten, wenn nicht gar Transsexueller?9 Derjenige, der drei oder vier verschiedene Existenzen gelebt zu haben vorgab10, wollte sich zumindest vom Verdacht der Sodomie befreien, wenn er betont: »Ich hatte etliche Verehrer, denen ich kleine Vergünstigungen erlaubte, aber niemals große! Man lobte meine Sittsamkeit.«11 Die Aktualität dieses Transvestiten des Grand Siècle, der noch Sainte-Beuve als ein Irrtum der Natur faszinierte12, liegt nicht nur darin, Weiblichkeit als Maskerade zu inszenieren, sondern den Grund dafür bereits in einer modern anmutenden ›mother-blame‹-Theorie zu suchen: »Nichts Seltsameres«, hebt seine Erinnerung an, »als eine Angewohnheit aus der Kindheit, man wird sie nicht mehr los: meine Mutter hat mich, direkt nach der Geburt, an weibliche Kleider gewöhnt, ich habe sie in meiner Jugend weitergetragen und sogar als Mädchen Theater gespielt.«13 Seltsam erscheint auch der autobiographische Rückblick auf ein Jahrhundert, das die Kindheit als eigenständiges Lebensalter erfand, dies aber zunächst nur an der Kleidung der Knaben markierte, und zwar ausgerechnet dadurch, dass man sie über das Schulalter hinaus wie Mädchen anzog, deren Gewänder ihrerseits denjenigen erwachsener Frauen glichen.14 Wenn kleine Jungen, insbesondere höherer Schich-

8. Eklatantes Beispiel für eine die Geschlechterordnung umstürzende Doppelmoral wäre etwa der Umgang des Vatikans mit Gesangskastraten: Offiziell war Entmannung eine Todsünde, aber nach vollendeter Tatsache übernahm man die Eunuchen in die Kirchenchöre. 9. Schon in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wird er von sexualwissenschaftlicher Seite als Transvestit identifiziert, z.B. in der Studie von Agnès Masson: Le travestissement. Essai de psycho-pathologie sexuelle, Paris 1935. Aber heutige Historiker bezweifeln, dass es sich bereits um einen ›Transsexuellen avant la lettre‹ gehandelt habe, so Vern Bullough: »Transsexualism in History«, in: Archives of Sexual Behaviour 4 (1975), S. 561-571, hier: S. 562. 10. Mémoires, S. 24f. 11. Ebd., S. 290. Auch wenn des Abtes Herz an einer Stelle seiner Memoiren zwischen einer Tänzerin und einem Grafen schwankt (S. 321), beweist dieser Vermerk keineswegs eine bisexuelle Orientierung, die im Arkanbereich eines höfischen Favoritensystems wohl hätte ausgelebt werden können. 12. Wolf Lepenies: Sainte-Beuve. Auf der Schwelle zur Moderne, München, Wien 1997, S. 254-261. 13. Mémoires, S. 289f. 14. So Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit, München 1998, 12. Aufl., S. 112ff.; das anfangs sogar mit der Soutane verglichene Kinderkleid sei »nichts anderes als das lange Gewand des Mittelalters« (S. 118), die »glatten Bänder am Rücken, die […] 25

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ten, lange Samtkleider und bestickte Schürzen, Spitzenkragen und Brokat-Häubchen trugen, konnte ihre Verkleidung als Mädchen nur noch aus einer Steigerungsform bestehen, etwa weiblicher Haartracht oder auffälligem Putz. So erwähnt Choisy, dass ihm seine Mutter die Ohrläppchen durchstoßen ließ, um daran diamantene Ohrgehänge zu befestigen. Die systematische Feminisierung des Philippe von Orléans, genannt Monsieur, die seine Kindheit gleichsam bis ins Erwachsenenalter verlängerte, war Teil einer politischen Erbfolgestrategie, die darin bestand, den jüngeren Bruder Ludwigs XIV. durch radikalen Bildungsentzug und äußerliche Verweiblichung15 als mögliche Konkurrenz des späteren Königs von vorneherein auszuschalten, – macchiavellistisch induzierte Travestie als dynastisches Sicherheitsventil. Choisys Mutter, Jeanne-Olympe de Bélesbat, eine charmante Intrigantin aus dem aufsteigenden Amtsadel, die in preziösen Salons verkehrt hatte, trug zu dieser Kapaunisierung bei, indem sie ihren jüngsten Sohn, den Spielgefährten des als Mädchen aufwachsenden Prinzen, aus Karrierekalkül ebenfalls verkleidete. Obwohl diese uns befremdende pädagogische Dressur, die wenigstens bei ›Monsieur‹ auch homosexuelle Effekte zeitigte, in der Halböffentlichkeit des Hofes keiner kleinfamilialen Symbiose gleichkam16, hat sie den späteren Ekklesiasten so stark geprägt,

Jungen wie Mädchen im 17. Jahrhundert kennzeichnen«, seien Überreste der luxuriösen Ärmelattrappen der Renaissance (S. 119). Für Knaben wurde dann das frühere Pagenkostüm mit kostbarem Wams und Pluderhosen zum »zeremoniellen Aufzug« (S. 120). Insofern folgte die Markierung der Kinderkleidung also zwei Prinzipien, nämlich einmal für diese Altersklasse zu ihrem »ausschließlichen Gebrauch Merkmale der alten Kleidung« zu erhalten (Archaismus des langen Gewands, Kinderhauben) und zum anderen die Jungenkleidung als »Verweiblichung« zu gestalten (S. 121). 15. Seine Mutter, die Regentin Anne d’Autriche, nannte ihn »ma petite fille«, nach Aussage ihrer Hofdame und Biographin, Madame de Motteville. Vgl. G. Reynes: L’abbé de Choisy, S. 23. 16. Auf die Reynes sie nach dem Klischee der modernen ›Transsexuellen-Mütter‹ zurückführen möchte. Vgl. dazu Annette Runte: Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität, München 1996, S. 144f. Vgl. zur allmählichen Herausbildung des Familiensinns in den bürgerlichen Schichten des 17. Jahrhunderts P. Ariès: Geschichte der Kindheit, S. 486ff. Gemäß Lloyd de Mause (Grundlagen der Psychohistorie, Frankfurt/ Main 1989) hatten »neue Formen der Kindererziehung«, die zunächst minoritär blieben und die Ariès auch auf institutionelle Prozesse wie Verschulung zurückführt, »moderne Persönlichkeitstypen zur Folge, die die traditionellen Gruppenphantasien veränderten« (S. 302). Besonders mit dem Phantasma nationaler Souveränität sei im Zeitalter des »paternalistischen Absolutismus« (S. 222) ein ›mütterlicher Raum‹ entstanden, der die archaischen Syndrome, z.B. feudalen ›Autismus‹, zu binden vermochte, indem er zu einer ›depressiven Position‹ verminderter Spaltung und Paranoia führte, die langfristig die Liebesheirat allererst ermöglicht hätte. 26

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dass er auch in seinen Ludwigs-Memoiren17 immer wieder auf diese persönliche Geschichte zurückkam, was Choisy bereits selbstironisch kommentierte: »Wenn ich über das Leben des Königs schreibe, so beschreibe ich dabei auch mein eigenes – schon um des Kontrastes willen. […] Man wird darüber lachen, daß meine Mutter mich bis zum achtzehnten Lebensjahr in Mädchenkleider steckte, aber man wird sie kaum dafür entschuldigen können. […] Sie liebte mich mehr als meine Brüder und ich war immer bei ihr.«18 Louis XIV et Monsieur enfants

Scherzt Wolf Lepenies mit Blick auf Sainte-Beuves Porträt des Abbé de Choisy über die Infantilität eines Greisenkindes, das – wie etwa der Kardinal de Rohan, genannt »il bambino« – noch in hohem Alter heim-

17. Vgl. zur Ludwigs-Biographik etwa Françoise Karro: »Entre Fronde et pouvoir personnel, le Moyen Age dans les ›Mémoires de Louis XIV‹ et chez ses contemporains«, in: Madeleine Bertaud/André Labertit (Hg.), De l’Estoile à Saint-Simon. Recherche sur la culture des mémorialistes au temps des trois premiers rois Bourbons. Actes de la Journée d’Etudes organisée le 22 mai 1992 par le centre de Philologie et de Littératures Romanes de l’Université de Strasbourg, Paris 1993, S. 51-76. 18. Mémoires, S. 25, 218. 27

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lich Frauengewänder getragen habe19, so verweist Marjorie Garber auf die beachtliche Bedeutung sozialer Räume für vormodernes Crossdressing, dessen Performativität durch die Signalwirkung einer strengeren Kleiderordnung erleichtert wurde. Doch Garbers kulturhistorischer Überblick vernachlässigt im Falle des Abbé de Choisy die intertextuelle Vernetzung biographischer Dokumente, deren Theatermetaphorik, eine »language of action«20, ihr indes auffällt. Als lebendes Bild eines stillgelegten Konflikts21 fügt sich die Allegorese der Perversion, wie sie die heutige Klinik entwirft, auf erstaunliche Weise in die spektakuläre Theatralik einer barocken Gesellschaft des Spektakels ein, deren personifiziertes königliches Zentrum die Machtkämpfe rivalisierender Gruppen mit räumlichen Strategien, gleichsam more geometrico, befriedet. In Versailles schlägt sich die symbolische Konfiguration absoluter Herrschaft in einem multimedialen Gesamtkunstwerk nieder, das von mythologischen Ikonen über die sinnbildliche Anordnung der Schloss- und Parkanlagen bis zur ornamentalen Choreographie höfischer Zeremonielle reicht. Auch wenn die »monarchistische Zentralisierung durch Richelieu und Ludwig XIV. […] eher politischer als sozialer Natur«22 gewesen sein sollte und die stände- bzw. milieuspezifische Gemeinschaft intakt gelassen hätte, zeigt die komplexe Entfaltung einer hochartifiziellen Repräsentationskultur jene Herausbildung eines metaphysischen Raums der Monarchie, von deren immanenter Spiritualisierung23 ihre emanatorische Fernwirkung zeugt.24 Der sakrale Körper des Königs scheint in ein zeichenhaftes topologisches Universum übersetzt. Wenn architektonische Räume aristokratische Kommunikations-

19. Nach Aussagen des Akademie-Historikers Abbé d’Olivet sowie d’Alemberts, der übrigens die Totenrede auf Choisy hielt. Vgl. W. Lepenies: Sainte-Beuve, S. 260f. 20. Marjorie Garber: Vested Interests. Cross-Dressing & Cultural Anxiety, New York, London 1992, S. 259. 21. So z.B. in ich-psychologischer Perspektive Robert Stoller: Perversion, New York 1975. Vgl. Jacques Lacan: Le Séminaire. Livre IV: La relation d’objet. 1956-1957. Texte établi par Jacques-Alain Miller, Paris 1994, S. 156ff. 22. P. Ariès: Geschichte der Kindheit, S. 517f. 23. Vgl. Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1994, 2. Aufl. Vgl. zur philosophischen Epistemologie Gilles Deleuze: Le pli. Leibniz et le baroque, Paris 1988, S. 111. Ist das Barock der ästhetische Versuch, die klassische Vernunft wiederherzustellen, so sein Grundzug nicht etwa, der Illusion zu verfallen, sondern etwas in ihr zu realisieren, ihr eine spirituelle Präsenz zu übermitteln, die das Zerstückelte wieder zusammenfügt (S. 170). 24. Vgl. Rudolf zur Lippe: Naturbeherrschung am Menschen, 2 Bde., Bd. II: Geometrisierung des Menschen und Repräsentation des Privaten im französischen Absolutismus, Frankfurt/Main 1981, 2. Aufl., S. 40, vgl. S. 336, 339ff. 28

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und Bewusstseinsformen verändern und Tanzschritte zum Beispiel Gartenwege abbilden können25, fragt es sich, ob das Auftauchen transvestitischer Memoiren und damit auch einer Memoiren-Travestie im 17. Jahrhundert nicht auf die allmähliche Ausdifferenzierung einer bürgerlichen Privatsphäre innerhalb der repräsentativen Öffentlichkeit26 verweist, die im Frankreich der klassischen Ära bereits ansatzweise zustande kam.27 Welche spezifischen Grenzüberschreitungen ermöglichte die Geschlechterordnung eines Schwellenjahrhunderts28, das schon Züge der Modernisierung trägt, etwa in der Krise der theologischen Vernunft29, der Entwicklung des Familiensinns oder der Individualisierung der Liebessemantik?30 Im Folgenden möchte ich mit einer symptomatischen Lektüre diskursanalytischer Befunde der kulturhistorisch relevanten Frage nachgehen, welchen imaginären, mentalen und fiktionalen Sphären die autobiographische Inszenierung eines Geschlechtertausches entspringt, dessen lebensgeschichtliche Verwirklichung an besondere soziale Räume und deren Durchlässigkeit gebunden war. Trugen idyllische oder utopische Textsorten, aber auch der immense Illusionsapparat der Opern- und Ballettaufführungen zu jener sozialisatorischen Veränderung aristokratischer Selbstdarstellung bei, die vor allem durch die funktionale Äquivalenz ostentativer Bühnen, wie etwa jener des Hofes, der Kirche oder des Theaters, in Gang kam, so zeugt der epochale Wechselbezug zwischen einer seit der Renaissance verschärften Geschlechterdebatte, der Querelle des femmes31, und der neuen poetologischen Diskussion um den ästhetischen Status der Kunst in der Querelle

25. Vgl. Jutta Voß: »Wege zum Wandeln, Wege zum Tanzen: Park und Parkett«, in: Semiotik 19 (1997), S. 65-80. 26. Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied, Berlin, 1971, 5. Aufl. 27. Philippe Ariès/Roger Chartier (Hg.), Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3: Von der Renaissance zur Aufklärung, Frankfurt/Main 1991, bes. Vorwort und Epilog. 28. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: »›Klassik ist Klassik, eine bewundernswerte Sicherheit des Nichts‹? oder: Funktionen der französischen Literatur des siebzehnten Jahrhunderts nach Siebzehnhundert«, in: Fritz Nies/Karlheinz Stierle (Hg.), Französische Klassik. Theorie, Literatur, Malerei, München 1985, S. 441-449. 29. G. Deleuze: Le pli, S. 92, 148. 30. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/ Main 1984, 4. Aufl., S. 71-119. 31. Vgl. Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 1997. Die europäische Querelle des Femmes. Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert. Hg. Gisela Bock/Margarete Zimmermann, Stuttgart 1997, insbesondere die begriffs- und forschungsgeschichtliche Einführung der Herausgeberinnen. 29

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des Anciens et des Modernes32 von der Vorläufigkeit einer ideologischen Balance, deren innere Spannungen, etwa zwischen Absolutismus und Universalismus, zur Verzeitlichung der Geschichte33 und zur Verselbständigung des kulturellen Systems führen sollte. In dem Maße, wie der epistemische Übergang zur binären Zeichenordnung34 die Emergenz einer selbstreferentiellen Beobachtung begünstigte, die das Individuum allerdings noch nicht zu singularisieren erlaubte35, bereitete der neuzeitliche Rationalismus die Ersetzung einer auf sprachbildlichen Ähnlichkeiten beruhenden Interpretation des Kosmos durch eine auf die begriffliche Urteilsfunktion gestützte Enzyklopädie der Welt vor, deren aufklärerische Durchsetzung der normativen und normalisierenden Institutionalisierung eines Zwei-Geschlechtersystems36 den Weg bereitete. Choisys berühmter Nachfolger, der Chevalier d’Eon de Beaumont, ein mit der Geheimdiplomatie Ludwig XV. betrauter Transvestit, wird im 18. Jahrhundert zum leidgeprüften Beispiel einer staatlichen Reglementierung des Privaten werden.

Soziale und imaginäre Räume: Ein vormoderner Transvestit als perverser Don Juan Die im »Königsmechanismus«37, d.h. bei der Entstehung einer monopolistischen Zentralgewalt, zustande kommende Interdependenz sozialer Kräfte setzt sich im höfischen Raum des paternalistischen Absolutismus als Ambivalenzstruktur einer auf Dauer gestellten Rivalität38 fort, die sich gleichsam unter den Augen des ubiquitär erscheinenden

32. Vgl. den Grundsatzartikel von Hans Robert Jauss: »Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität«, in: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/Main 1979, 6. Aufl., S. 11-67. 33. Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 1989, S. 17-107. 34. Nach Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/Main 1974, S. 78-114. 35. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3, Frankfurt/Main 1989, S. 186ff. 36. Vgl. Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/Main, New York 1992. 37. Nach Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt/Main 1982, 8. Aufl., Bd. 2, S. 222-279. 38. Vgl. etwa Walter Benjamin: Ursprung des bürgerlichen Trauerspiels, Frankfurt/Main 1993, 6. Aufl. Er spricht vom Januskopf zwischen strengster Disziplin im Inneren und skrupelloser Aktion nach außen (S. 78f.). 30

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Monarchen personifiziert.39 Kontrolle als Blickherrschaft und Rededisziplinierung ist dabei weniger Auswirkung einer repressiven Arkanpolitik denn Effekt eines selbstregulierten Präsenz- und Repräsentationszwangs, der zum ausweglosen Dilemma einer Unentscheidbarkeit zwischen Schein und Sein, Aufrichtigkeit und Täuschung führt. Racines Tragödie beleuchtet die grundlegende Beziehung einer fürchterlich alternativ gewordenen Welt zum Hass/Liebe-Dualismus höfischer Spiegelbeziehungen.40 Wie Reflexionen und Maximen, aber auch die Satire des Höflingswesens im damals beliebt werdenden Genre geselliger Porträts verdeutlichen, sind Heuchelei und Schmeichelei vorprogrammiert. Überleben hängt von Beobachtung und Mimikry ab. So geriert sich die adelige Person als neuzeitliches ›sub-iectum‹, ein im wahrsten Sinne des Wortes unterworfener Souverän. Roger Chartier fasst das Paradox der höfischen Logik darin zusammen, dass sich Auszeichnung mit feudaler Abhängigkeit verbindet und größter Abstand bei größter Nähe zu ertragen ist, wobei das Individuum gänzlich in seiner Darstellung aufgeht.41 Der in Versailles wie in einer »Bonbonniere« (Voltaire) kasernierte Adel verkörpert sozusagen die intrasubjektive Aggressivität der Selbstbeziehung inter-subjektiv, mit dem Vater-König als paranoidem Überich eines verallgemeinerten Spiegelstadiums. Wenn die Oberschicht die »innere Ordnung der Gesellschaft […] durch […] Ungleichheit«42 bestimmt, Gleichheit dagegen die Kommunikation innerhalb der Schichten regelt, lässt sich Stratifikation systemtheoretisch als eine Gleichheit im Rahmen von Ungleichheit erfassen, die die archaischere Segmentation, etwa nach Alter oder Geschlecht, an die Peripherie verweist. Daher verwundert es nicht, dass sogar eine fortschrittliche Philosophie wie der cartesianische Egalitarismus »die Frauenfrage bis zur Inegalitätskonsequenz verfolgte« und auch gebildete femmes d’esprit sich sozial anpassen mussten.43 Nach

39. L. de Mause beruft sich auf ich-psychologische Prämissen, die seine Einschätzung familiaristisch verzerren: »Ein absoluter König war ja vor allem ein idealisierter Vater, der die Trennung von der ambivalenten Mutter erlaubte, Entwicklung zuließ und alle Kinder gleich behandelte« (L. de Mause: Grundlagen, S. 222). 40. Roland Barthes: Sur Racine, Paris 1963, S. 45ff., 53, 71. 41. Roger Chartier: »Gesellschaftliche Figuration und Habitus. Norbert Elias und ›Die höfische Gesellschaft‹«, in: Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung, Berlin 1989, S. 37-58. 42. Claudio Baraldi: »Gesellschaftsdifferenzierung«, in: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Von Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi und Elena Esposito, Frankfurt/Main 1997, S. 67. 43. Gisela Bock: »Querelle du féminisme im 20. Jahrhundert: Gab es ›Feminismus‹ in Spätmittelalter und Früher Neuzeit? Eine historiographische Montage (Mit Texten von Beatrice Gottlieb u.a.)«, in: Bock/Zimmermann (Hg.), Querelle des Femmes, S. 341-373. 31

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Maßgabe höfischer Etikette bedeutet Affektmodellierung, Grenzen zwischen sozialen Räumen als Selbstbeschränkung zu verinnerlichen. Dem Abbé de Choisy gelingt dies nach dem Tod seiner Mutter nicht mehr. Er meint, »von niemandem behelligt« zu sein und überlässt sich ganz seiner Neigung, der Akkumulation weiblicher Zeichen auch außerhalb festlicher Freizonen. »Mit ein paar Ohrringen und Schönheitspflästerchen« zeigt er sich ausgerechnet im Salon von Madame de Lafayette, Verkünderin einer resignativen Psychologie der Geschlechter, die »als gute Freundin« ironisch bemerkt, »dies sei doch nicht die Mode der Männer«, er solle »sich lieber ganz als Frau zurechtmachen«. Der Jüngling, für den sich in dieser Szene eine mütterliche Initiation wiederholt, nimmt die Schelte wörtlich und zu seiner Entschuldigung: »Einer solchen Autorität folgend, ließ ich mir die Haare sofort wie eine Frau schneiden.«44 Obwohl das höfische Männerkostüm mit seinen prachtvoll verzierten Gewändern, figurbetonenden Seidenstrümpfen und Allongeperücken aus bürgerlicher Sicht als effeminiert galt45, gab es in der dekorativen Adelstracht ein festes Repertoire geschlechtsspezifischer Unterschiede, auf die die Travestie dann rekurrierte. Choisy debütiert zunächst als »Dame« auf ›Monsieurs‹ Karnevalsball, wo der Bruder des Königs im Frauenkostüm mit seinem Geliebten Menuett tanzt, doch bald verlässt der Abbé die Enklave der aristokratischen Spielkultur, um in weiblicher Aufmachung öffentlich durch Paris zu spazieren. Vertragen stratifizierte Gesellschaften Niklas Luhmann zufolge eine große Diskrepanz zwischen »Moral und Wirklichkeit«, weil sie »gegen ein Kennen bzw. Verkennen der Motive des anderen« relativ »unempfindlich sind«46, werden Abweichungen aber nur so lange übersehen, wie sie semantische Programme nicht irritieren, was in Choisys traumatischem Schlüsselerlebnis mit dem Hofmeister des Thronnachfolgers der Fall zu sein scheint. Denn wenn es sich bei Herrn de Montausier, der übrigens für Molières »Menschenfeind« Modell stand, um einen Extremfall preziöser Verschärfung galanter Codes handelt, so begegnet jemand, der vierzehn Jahre lang um seine Braut werben musste, im frivolen Abbé de Choisy der Karikatur seines weiblichen Ideals. Sarkastisch macht er den wagemutigen Narren auf seine männlichen Privilegien aufmerksam. Doch als der jansenistische Theaterverächter das »zwittrige Ungeheuer« bald darauf in der Opernloge des von ihm entzückten Prinzen vorfindet, entfährt es ihm: »Ich gebe zu, meine Dame oder mein Fräulein, dass Sie schön sind, aber in

44. Mémoires, S. 324. 45. Barbara Vinken: »Transvestie – Travestie. Mode und Geschlecht«, in: Jörg Huber/Martin Heller (Hg.), Inszenierung und Geltungsdrang, Zürich 1998, S. 57-77, hier: S. 62. 46. N. Luhmann: Gesellschaftsstruktur, S. 189. 32

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Wahrheit müssten Sie sich schämen, Frauenkleider zu tragen, Sie, die doch das Glück haben, nicht als Frau geboren zu sein. Gehen Sie, gehen Sie und verbergen Sie sich!«47 Dass die Ver/Warnung dieses »Spielverderbers«, wie ihn der Selbstbiograph nennt, als Be/Drohung verstanden wird, lässt die Auswirkung einer Krise erahnen. Choisy, dessen wirklicher Vater, als Kanzler Gaston d’Orléans und Provinzverwalter, meist abwesend war und zudem früh verstarb, wird hier vom Orte eines symbolischem Stellvertreters aus verworfen. Statt sich an den ihm beschiedenen Platz zu begeben, ergreift das Muttersöhnchen die Flucht nach vorn und begeht mit seiner heimlichen Selbstverbannung aufs Land, die die Strafe gleichsam vorwegnimmt, einen noch schlimmeren Tabubruch. Indem er unter falschem Namen, als reiche Witwe Madame des Barres, ein Schloss im Berry erwirbt, um dort, nach dem kompletten Austausch seines Dienerpersonals, inkognito ganz als Frau zu leben, wird aus dem zweideutigen Doppelspiel eine eindeutige, d.h. Echtheit vortäuschende Dis/Simulation: »keiner erkannte mich«.48 Das Exil, sonst Entfernung vom mondänen Geschehen in die Langeweile der Provinz, wird zum Gefilde eines abenteuerlichen Schelmenromans. Der dem Ortswechsel verdankte Identitätswechsel gelingt zunächst so gut, dass er zu einem komödiantisch geschilderten Heiratsantrag führt, den die vermeintliche Pariser Dame hochmütig ausschlägt. Im Falle des frühmodernen passing suggeriert und garantiert ein vielschichtiger »Zeremonialkörper«49 eine sofortige und unhinterfragte Echtheitswirkung: »Man hätte nie gedacht, dass ich keine Frau bin«. Choisy, der behauptet, er habe dank von der Mutter ererbter Salbenrezepte »so viel Busen bekommen wie eine Fünfzehnjährige«50, äußert weder religiöse noch rechtliche Bedenken. Nachdem er die euphorisierende Distinktion erlangt hat, während der Messe, diesem sozialen Begegnungsritual, als »feine Dame« tituliert worden zu sein, begibt sich ein nunmehr enthemmter »Wolf im Schafspelz« daran, junge Mädchen aus dem Landadel und dem gehobenem Bürgertum, die ihm von ihren Müttern gleichsam auf dem Präsentierteller überreicht werden, erotisch zu initiieren. Denn alle besseren Familien rivalisieren um die Gunst einer Mondänen, in die höfische Kunst des Gefallens eingeführt zu werden. So kann ein Transvestit, dessen weibliche Authentizität eigener Aussage gemäß nie ausdrücklich angezweifelt wird, gesellschaftliche Aufstiegswünsche zu

47. Mémoires, S. 326. 48. Ebd., S. 327. 49. Nach Jean Baudrillard: »Vom zeremoniellen zum geklonten Körper: Der Einbruch des Obszönen«, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt/Main 1982, S. 350-363. 50. Mémoires, S. 332. 33

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seinen Gunsten ausspielen. Scheinbar ahnungslos gibt sich bürgerlicher Ehrgeiz einer höfischen Farce hin, bei der er, aus blinder Nachahmung, mitspielen muss. So wagt niemand, die erhabene Position der dubiosen Erscheinung in Frage zu stellen. »Madame des Barres«, deren schrankenloser Exzess sich gleichsam negativ in ihrer Namenswahl spiegelt, bietet eine zweiwöchige Frisierlehre an, um sich dabei ungestört pubertierenden Schülerinnen widmen zu können, deren Reiz für sie in ihrer androgynen Jugendlichkeit liegt.51 Bei der Darstellung dieses erotomanen Unterfangens fallen zwei Momente auf: Zum einen verkehrt die Verführung, die in der Entjungferung gipfelt, die übliche aristokratische Mätressenwirtschaft, weil sie sich nur auf voreheliche Eskapaden und auf knabenhafte Objekte kapriziert. Zum anderen sind die eher euphemistisch als pornographisch beschriebenen Szenen in das Pastiche einer königlichen Bett-Zeremonie eingebunden, die vor den Augen der versammelten Nachbarschaft stattfindet.52 »›Kommen Sie, legen wir uns schlafen‹, sagte ich zu der Kleinen. Sie war schnell für die Nacht angekleidet und begab sich zu mir ins Bett. Herr und Frau Gaillot saßen daneben und erzählten uns eine Geschichte aus der Stadt. ›Kommen Sie näher, mein Kind!‹ gebot ich, ›geben Sie mir den Gutenachtkuß!‹ Ich nahm sie zwischen meine Arme, die rechte Hand auf ihrer Brust, unsere Beine ineinander verschlungen, und beugte mich über sie, um sie zu küssen. ›Sehen Sie, Frau Gaillot‹, scherzte ich, ›diese Undankbare?! Sie will mir meine Freundschaft nicht erwidern!‹ Unterdessen […] schenkte ich dem Mädchen solidere Freuden, so daß sie aufstöhnte. ›Ah, welche Lust!‹ – ›Sind Sie wieder aufgewacht, mein Fräulein?‹ fragte Herr Gaillot.«53 Der Betrüger, der das Gesetz umgeht, genießt diesen Betrug mehr als seine Lust, denn er hält es vor allem für »süß, die Augen des Publikums zu täuschen«.54 Voller Anzüglichkeit55 imitiert der Transvestit den königlichen Schautrieb, sich ›sehen zu lassen‹, ohne sich dabei mit den Augen des Anderen betrachten zu müssen.56 Im Zwielicht eines aus-

51. Zwar war die (biologische) Pubertät noch nicht erfunden, aber geschlechtliche »Ambiguität« wurde, z.B. in den Travestie-Plots der Barockromane, als »Merkmal der Adoleszenz« präsentiert. So P. Ariès: Geschichte der Kindheit, S. 87. 52. Im volkstümlichen Milieu gab es keine Intimität, das ›große Haus‹ war öffentlich, auch das »Zimmer blieb ein öffentlicher Ort«, sodass man die Vorhänge zuzog, um ins Bett zu gehen, gemeinhin auch mit Personen des eigenen Geschlechts. So P. Ariès: Geschichte der Kindheit, S. 543. 53. Mémoires, S. 345. 54. Ebd., S. 346. 55. In der Folklore wimmelte es von schlüpfrigen Bettszenen. Vgl. P. Ariès: Geschichte der Kindheit, S. 493. 56. Slavoj Zˇizˇek: »Metastasen des Begehrens. Von Wagner über Magritte zu Ridley 34

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schließlich aus der Sicht des Zeremonienmeisters erzählten CoucherRituals ist der Herr der Blicke aber zugleich die lachende Dritte im Wettbewerb um den Werterwerb zwischen Adel und Bürgertum, denn dessen neugewonnenes Prestige wird mit dem realen wie symbolischen Verlust seiner ›weiblichen‹ Unschuld bezahlt. Im historischen Kontext einer zunehmenden Moralisierung der Erziehung musste die erotische Verhätschelung junger Mädchen durch eine reife Dame anstößig wirken.57 Doch Macht und Ohnmacht sind klar verteilt. Als ein hilfloser Pfarrer die schockierende Schwankszene, zu der er als Augenzeuge aufgerufen wird, familiaristisch zu verharmlosen trachtet, indem er das geopferte Mädchen neckisch zur »kleinen Schwester« der »großen Dame« deklariert, überführt Choisy das sexuelle Vorspiel unter gezwungenem Beifall in ein zweideutiges Heiratsspiel, – von Kindesmissbrauch keine Rede: »Sie legte sich auf den Rücken, wusste sie doch schon, wie man es tun musste, und ich glitt über sie, um ihr einen langen Kuss zu geben, den wir von Zeit zu Zeit unterbrachen […]. ›Das ist meine kleine Frau‹, sagte ich zum Herrn Pfarrer, […] der lachend beipflichtete. – ›Und ich‹, sagte Herr Gaillot, ›werde für die Nachkommenschaft dieser Verbindung sorgen‹. […] Während sie sich amüsierten, taten wir dies auch. […] ›Die Komtesse ist also vermählt‹, bemerkte Frau Gaillot spitz. […] Am folgenden Tag kam mich Madame de la Grise, die Mutter der Kleinen, besuchen. ›Wie, mein guter Freund‹, rief sie lachend, ›Sie ehelichen meine Tochter, ohne es mir zu sagen?‹ – ›Wenigstens in guter Gesellschaft und in Gegenwart eines Priesters‹, antwortete ich ihr.«58 Folgen die pointierten Dialoge einer Rhetorik der Anspielung, die sich die Ent/Täuschung der Maxime versagt59, so steigert sich vestimentäre Travestie zu einer verbalen Maskierung, die den Abstand zwischen Tugend und Passion im Performativ des Impliziten zugleich ver- und enthüllt. Darin tut sich der namenlose Abgrund eines homosexuellen Subtexts auf, den ein Theater im Theater, die Rezitation von Corneilles Märtyrerdrama Polyeucte mit geschlechtsverkehrten Rollen60, spekulär

Scott«, in: Michael Wetzel/Herta Wolf (Hg.), Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten. München 1994, S. 249-273, bes. S. 266ff. Auf der Ebene des Triebes gibt es kein Alter Ego. 57. Vgl. P. Ariès: Geschichte der Kindheit, S. 187, 198f. 58. Mémoires, S. 347. 59. So Roland Barthes: »La Rochefoucauld: ›Réflexions ou Sentences et Maximes‹«, in: Le degré zéro de l’écriture suivi de Nouveaux essais critiques, Paris 1972, S. 69-89. Das frappierende ›Rede-Spektakel‹ der Maxime beruht auf dem binaristischen Prinzip (Antithese, Vergleich). 60. »Ich war eine gute Schauspielerin, das war mein erster Beruf«, sagt Choisy, in: Mémoires, S. 339. 35

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vertieft. Statt die stillschweigende Duldung sapphischer Laster dadurch zu erklären, dass sie den Druck alteuropäischer Vatergewalt61 ausgeglichen haben könnte62, wäre lesbische Unsichtbarkeit vielleicht eher auf die Diskontinuitäten einer Affekt-Artikulation zurückzuführen, die sich mit dem epochalen Umbruch des Liebescodes vom konstanten Ideal zur unbeständigen Passion verschärfte. Der einstige Kult der Perfektion, der sich im kreisförmigen Aufbau romanesker Labyrinthe, z.B. Honoré d’Urfés Astrée (1632) widerspiegelt63, wird zum fatalen Spiel mit Augentrug und Illusion.64 Doch Choisys Devise – ›den Müttern der Scherz und den Töchtern der Schmerz‹ – entbehrt kaum des Zynismus. So stimmt er der raschen Verheiratung seiner Lieblingsnymphe nicht nur deswegen zu, weil deren Entehrung kein Kavaliersdelikt darstellt, sondern weil er es inzwischen auf eine durchreisende Komödiantin abgesehen hat. »Eine nach der anderen«, lautet das Prinzip eines Lebemanns, der streitende Kandidatinnen mit dem salomonischen Spruch »Ich werde die nehmen, die mich mehr liebt« zum Freiwild kürt.65 Julia Kristeva zufolge ist Don Juan ein Eroberer ohne Objekt, der indes weiß, dass er keines hat und auch keines haben möchte.66 Seine dem zyklischen transvestitischen Wiederholungszwang ähnelnde ewige Jagd ist ein Selbstzweck, bei dem es jedoch um ein ›Können-Wollen‹ geht: Im Mittelpunkt steht der Phallus, und alle, die ihn nicht haben, unterstehen ihm als (seine) komplizenhafte(n) Opfer. Der barocken Inkarnation eines Potenzwunsches, den die steinerne Chiffre des Kommandanten, eines toten Vaters, ruiniert, entsprächen die Verstellungen des absolutistischen Fests, bei dem die elegante Maskerade im Mittelpunkt steht, aber nur unter Verweis auf ihren inszenierten Status.67 Für die Lust eines Souveräns, der aus seinem Leben ohne Innenleben ein Schauspiel macht, besteht Freiheit, die keineswegs Unabhängigkeit bedeutet, eben aus dem Spiel (im Spiel).

61. Vgl. Wolfgang Beutin: »›Vaterrecht ist ein weites Wort‹. Zur Konzeption der Mann-Frau-Beziehung von der Renaissance bis zur Aufklärung«, in: Thomas Kornbichler/Wolfgang Maaz (Hg.), Variatonen der Liebe. Historische Psychologie der Geschlechterbeziehung. Tübingen 1995, S. 234-248. 62. So G. Reynes: L’abbé de Choisy, S. 92f. 63. Vgl. Michel Zéraffa: »Raisons du cœur et raison de ›L’Astrée‹«, in: Michel Zéraffa/Didier Coste (Hg.), Le récit amoureux. Colloque de Cerisy, Seyssel 1984, S. 39-53. 64. Die fehlende Vermittlung zwischen Oberfläche und Wahrheit durchzieht Racines Werk. Dabei wird das Symbolische als Irreversibilität der Rede bewusst. 65. Mémoires, S. 337. 66. Julia Kristeva: Histoires d’amour, Paris 1983, S. 189. 67. Ebd., S. 193. 36

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Noch einmal: Kindfrauen und Mädchenpagen Nachdem die blutjunge Waise Rosélie, die der Abbé de Choisy einer Theatertruppe abkaufte und »als Amazone«68 ver/kleidete, von ihm schwanger geworden ist, begleitet er diese vorromantische Mignon als sein »kleines Fürstchen« nach Paris, damit sie dort heimlich sein Kind zur Welt bringe. Eine zeitlang »dachte [er] nur an sie und überhaupt nicht mehr daran, [sich] selber zu schmücken«.69 Obwohl trotzdem von väterlichen Gefühlen keine Rede ist, wird der Adelige seine Tochter später standesgemäß verheiraten, so wie er kurz nach ihrer Geburt deren Mutter wieder an ihren Ex-Geliebten freigibt. Verwaiste Vagantinnen, schlecht beleumdet wie das Theater70, werden von einer männlichen (Stief-)Mutter adoptiert, d.h. konsumiert. Doch nach ihrer Abschiebung in Konvenienz-Ehen71 rührt der hedonistische Transvestit sie nicht »mehr mit dem kleinen Finger« an, »konnte« er doch »verheiratete Frauen noch nie leiden«.72 Aufgrund dieser ödipal erscheinenden Abneigung gegen den Dritten im Bunde, sofern es sich nicht um ein Publikum handelt, könnte man den narzisstischen Furor, den Trennungen bei Choisy auslösen, auch als melancholische Introjektion eines Verlusts verstehen: »Ich dachte nur noch an mich und der Wunsch, schön zu sein, ergriff mich mit wahrer Wut.«73 So »jagt eine Leidenschaft die nächste«, aber was bleibt, klingt so modern wie seine psychologische Erläuterung: »ich wollte geliebt werden«.74 War Choisy schon im Winter 1670/1671 kurzfristig nach Paris zurückgekehrt, um das königlich dekretierte Scheitern der tragikomischen Mésalliance zwischen der Grande Mademoiselle, einer hysterisierten Jeanne d’Arc des Schwertadels, und ihrem nicht standesgemäßen Auserkorenen, Lauzun, aus nächster Nähe zu erleben, so ließ sich der kokette Abbé bald darauf am Rande der Stadt nieder, um sich dem Volk wieder als Frau zur Schau zu stellen, im Halbdunkel heimlicher Offenbarung. Dabei erleichterte die profane Verfügbarkeit sakraler Räume für aristokratische Selbstrepräsentation die Duldung seiner lu-

68. Mémoires, S. 356. 69. Ebd., S. 347. 70. Vgl. zum sozialen Status der Schauspielerin und zur kirchlichen Theater-Kritik insbesondere Renate Baader: »Sklavin-Sirene-Königin. Die unzeitgemäße Moderne im vorrevolutionären Frankreich«, in: Renate Möhrmann (Hg.), Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst, Frankfurt/Main 1989, S. 59-88. 71. In seinen Memoiren schildert Bussy-Rabutin die Verheiratung der Ex-Geliebten an andere als eine Art von Bestrafung! 72. Mémoires, S. 311. 73. Ebd., S. 359. 74. Ebd., S. 360. 37

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xuriösen Feminisierung zumindest für eine Weile. Obwohl der höfische Brauch so weit ging, dass sich in Versailles während der Wandlung in der Hl. Messe alle Gläubigen »gegen Ludwig XIV. verneigten«75, ließ sich sein Abglanz nicht ohne weiteres bis zur weibischen Parade übertreiben. Ist die Simulation des väterlichen Gesetzes bereits strukturlogisch mit (s)einer Feminisierung verbunden76, die sich in der Überlagerung von Priester- und Frauen-Robe signifikant zu verdichten scheint, wird imaginären Exzessen Einhalt geboten. Von seinen Vorgesetzten milde gemaßregelt77, übte Choisy Zurückhaltung bei der Dosierung seiner modischen Schönheitspflästerchen, die als schwarze Figuren auf weißem Fleisch emblematisch Eitelkeit wie Vergänglichkeit einer barocken Vanitas signalisierten.78 Bald aber brauchte der sich als fat bezeichnende vormoderne Dandy ohnehin wieder lebensechte Stellvertreterinnen seiner weiblichen ›persona‹, wie etwa die kleine Wäscherin Babet, die er als »Mademoiselle Dany« zu seinem hyperfemininen Spiegelbild79 stilisierte. Dass er sich mit diesen »Kindbräuten« avant la lettre80 im häuslichen Innenraum seines Stadtpalais, etwa vor eingeweihten Dienern oder unwissenden Lieferanten, brüstet, während er seine maskulinisierten »Gatten«, z.B. die Gerberstochter Charlotte, auch in der Öffentlichkeit des Theaters oder der Oper vorführt, weist auf die Innen/ Außen-Spaltung eines Exhibitionismus hin, die mit der Komplementarität zweier Objekttypen kongruiert. Materialisiert sich in der übertreibenden Steigerung der Feminität ein Ich-Ide-

75. R. zur Lippe: Naturbeherrschung, Bd. II, S. 25. 76. Julia Kristeva stellt die Hypothese auf, dass der Sonnenkönig, der psychohistorisch noch viel zu wenig erforscht sei, als Zentrum und Gesetz der Repräsentation jegliche Fremdheit, Exotik, Anomalie usw. zu absorbieren vermöge: »[…] l’étrangeté est pour les ›sujets‹, le souverain l’ignore, sachant la faire gérer. […] Le Roi-Soleil […] gomme l’inquiétante étrangeté et sa peur, pour déployer tout son être exclusivement dans la loi et le plaisir de l’apparat versaillais.« So Julia Kristeva: Etrangers à nousmêmes, Paris 1988, S. 281f. 77. Dies mag am freizügigeren Pariser Kontext oder sogar an der Künstlichkeit der Koketterie gelegen haben, denn 1675 wütete eine ›bataille du sein‹, und in vielen Predigten wurden sogar die Hochfrisuren gegeißelt. Doch der kirchlichen Prüderie stehen erotisch-libertine Strömungen gegenüber. Vgl. Pierre Darmon: Mythologie de la femme dans l’Ancienne France. XVIe-XVIIIe siècle, Paris 1983, S. 45. 78. Moralische Kritik an der Mode der »mouches« (wörtl.: »Fliegen«) bezog sich auf Beelzebub, den deus muscarum, Herr der Fliegen und Prinz der Dämonen. Vgl. P. Darmon: Mythologie, S. 45. 79. »Ich hatte lieber, dass sie geschmückt wurde, als dass ich mich schmückte«. Sie war »schön wie ein kleiner Engel«, beteuert Choisy (Mémoires, S. 314). 80. Vgl. Michael Wetzel: Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit, München 1999. 38

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al, so wiederholt der wechselseitige Rollentausch eine Mutterbeziehung, in der eine vermännlichte Tochter den (einst) verweiblichten Sohn darstellt. Doch Choisys geschlechtliche ›ars combinatoria‹ kennzeichnet eine libidinöse Überkreuzung, der gemäß sexueller Verkehr mit femininen Doppelgängerinnen einem eher asexuellen Kontakt zu ihrem vermännlichten Pendant gegenübersteht. Wenn der Abbé seinen Liebling Charlotte, in Beinkleider und Justeaucorps gesteckt81, nie kompromittiert haben will, dann vielleicht, um sich stattdessen einer ›trans-sexuellen‹ Halluzination hinzugeben. »Ich setzte ihr eine Perücke auf, um mir vorzustellen, dass sie ein Junge sei, sie hatte ihrerseits keine Mühe, in mir eine Frau zu sehen.«82 Obwohl in dieser verkehrten Spiegelung die imaginäre Dimension heterosexuellen Begehrens zum Vorschein kommt83, wird es dadurch im gleichen Zuge narzisstisch.

Selbstliebe und autobiographische Memoirenliteratur Die Memoirenliteratur des 17. Jahrhunderts gibt also bereits private Erlebnisräume wieder84, doch es ermangelt ihr an der potentiell problematischen Finalität eines Selbst- und Bewusstwerdungsprozesses. Zwar teilt sich das biographische Personal der Gattung bereits in Gewinner und Verlierer auf, d.h. dem (Selbst)Lob kontrastiert die An/ Klage85, aber noch den minoritären Krisenmemoiren86 fehlt sowohl der historische Gedanke individueller Entwicklung als auch die affektengagierte Betroffenheit eines Bekenntnisses im Sinne Rousseaus. Der monomanische Entwurf exklusiver Selbstreflexivität (Montaigne) wird von Bedenken untergraben, denn für Pascal etwa ist das Ich »hassenswert«, doch die Genese moderner Subjektivität ist an die diskursive Ausdifferenzierung eines Gedächtnisraums gebunden, auch wenn er

81. Zum ephebischen Pagenkostüm des 17. Jahrhunderts vgl. P. Ariès: Geschichte der Kindheit, S. 120. 82. Mémoires, S. 300f. 83. Nach Luhmann wendet sich der Liebescode im 17. Jahrhundert ins Imaginäre und paradoxiert sich um 1700. 84. Vgl. Madeleine Foisil: »Die Sprache der Dokumente und die Wahrnehmung des privaten Lebens«, in: Ariès/Chartier: Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3, S. 333-367; in den Familienchroniken gibt es weder ein Kindheits-Bewusstsein noch intime Details oder einen Körper mit sexuellen Geheimnissen (S. 356). 85. Z.B. in Madame de Lafayettes Henriette von England oder in Mademoiselle de Montpensiers Memoiren. 86. Vgl. Marie-Thérèse Hipp: Mythes et réalités. Enquête sur le roman et les mémoires (1660-1700), Paris 1976, S. 201. 39

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sich zunächst noch nicht auf sich selbst bezieht. In dem Maße, wie Erinnerung weder als Akt noch als Bedingungsmöglichkeit autobiographischen Schreibens thematisiert wird, liefert auch Choisys private Rückschau chronologisch ungeordnete Fragmente anekdotischer Vergegenwärtigung87, die ein demiurgischer Erzähler im Tonfall lockerer Reflexionen kommentiert. Das epochale Panorama seines historiographischen Werks bleibt ein zitatives Patchwork, geschrieben im einfachen und leichten Stile eines liebenswürdigen Moralisten, der kein akademischer Intellektueller war.88 Doch indem seine zwischen 1686 und 1719 verfassten Memoiren Historisches mit Intimem verquicken, nehmen sie an jenem Funktionswandel der Gattung teil, den man als deren ständische und geschlechtliche Entgrenzung89 begreifen könnte. Trotzdem blieb Choisys Schreibweise noch von stilistischen Traditionen bestimmt, nämlich ebenso von der hyperbolischen Antithetik und romanesken Topik des Preziösen wie von Sermonen in Predigermanier und einer abstrakten Schematik der Menschenkunde, wie man sie in den »Charakter«-Porträts von La Bruyère90 wiederfindet. Dieser Verteidiger der antiken Literatur hat Choisy, seinerseits Partisan des modernen Lagers, unter dem Namen »Arsène« als eitlen Ignoranten karikiert: »Vom höchsten Punkt seines Geistes aus betrachtet Arsène die Menschen und ist aufgrund so großer Entfernung über ihre Kleinheit entsetzt. Von Leuten umgeben […], die sich wechselseitig bewundern, glaubt er alle die Verdienste zu haben, die ihm niemals zukommen werden […]; er überlässt den gewöhnlichen Sterblichen das geregelte Leben und ist für seine Unbeständigkeit nur jenem Freundeskreis Rechenschaft schuldig, der ihn zum Idol erhebt. Denn nur seine Freunde wissen zu urteilen, zu denken, müssen schreiben; […] und da er nichts anderes lesen wird als sie, wird er sich auch nicht durch mein Porträt von ihm belehren lassen.«91 Ironischerweise reproduziert Choisys literarisches Selbstporträt La Bruyères Darstellungsweise, – eine Mischung aus Definition und Illus-

87. Insofern entspräche sie der Nationenbildung durch den Flächenstaat oder der performativen Ikonisierung des sakralen Körpers des Königs. Vgl. Walter Benjamins Bemerkungen zum Hof als Schlüssel des Weltgeschehens und zum Souverän als Repräsentanten der Geschichte (Ursprung des bürgerlichen Trauerspiels, S. 75). 88. G. Reynes: L’abbé de Choisy, S. 208. 89. So Hermann Kleber: Die französischen Mémoires. Geschichte einer literarischen Gattung von den Anfängen bis zum Zeitalter Ludwigs XIV, Berlin 1999, S. 26. 90. Vgl. M.-T. Hipp: Mythes et réalités, S. 111, sowie Roland Barthes: »La Bruyère«, in: Essais critiques, Paris 1964, S. 221-238. 91. Jean de La Bruyère (1688): Les Caractères de Théophraste traduits du Grec avec Les Caractères ou Les Mœurs de ce siècle, Paris 1965, S. 86f. [übersetzt von A. R.]. 40

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tration, die methodische Reflexion durch generalisierte Erfahrung ersetzt.92 »Obwohl ich das Mädchen liebte«, stellt der Abbé fest, »liebte ich mich selber noch mehr und dachte nur daran, den Menschen zu gefallen«.93 Selbstanalytisch greift er zu einem Sophismus und rechtfertigt seinen Narzissmus mit theologischen Argumenten, indem er christliche Diskurse eudämonistisch umfunktioniert. Demnach ergibt sich die travestierte Selbstliebe aus der Gottähnlichkeit und daher Gottgefälligkeit eines souveränen Egoisten, dessen Selbst-Bild die Aneignung fremder Zeichen rechtfertigt: »Ich habe darüber nachgedacht, woher mein seltsames Vergnügen rühren könnte. Hier das Ergebnis: Ist es Gott eigen, geliebt und verehrt zu werden, so erstrebt der Mensch, so weit es seine Schwäche gestattet, dasselbe. Da nun aber Liebe der Schönheit entspringt, die gemeinhin den Frauen zukommt, versuchen Männer, falls sie sich ausnahmsweise einmal schön finden, diese Züge durch weibliche Kunstfertigkeiten noch zu steigern. So empfinden auch sie den unaussprechlichen Genuss, geliebt zu werden […]. Denn wir lieben uns selbst stets mehr, als wir die anderen lieben.«94 Ließ die Humoralpathologie der Temperamente noch kein veränderungsfähiges Individuum zu, so setzte sich in der neuen Leitdifferenz ›plaisir/amour‹ (›Lust/Liebe‹) mit der Kategorie der Lust ein anthropologischer Grundbegriff durch, der moralischen Wertungen vorausgeht und der die »anfangs noch als problematisch empfundene Rückführung der Liebe auf Selbstliebe«95 normalisierte. Beschränkte sich der Abbé noch nicht auf die monarchische Devise des ›Weil es mir so gefällt‹, dann vielleicht deshalb, weil das seine Travestie nobilitierende Argument der Schönheit einen wichtigen Topos in der damaligen Geschlechterdebatte96 darstellte. Der junge Choisy lässt sich vor allem aus weiblicher Fremdperspektive als schön qualifizieren und schöpft daraus eine quasi-transsexuelle Evidenz: »›Ist das nicht eine schöne Dame?‹ fragte Madame d’Usson den Pfarrer. ›Ja, aber sie trägt eine Maske‹, erwiderte er. ›Nein, mein Herr‹, entgegnete ich, ›in Zukunft werde ich mich nie mehr anders kleiden […] und man wird mir nichts vorwerfen können.‹ […] denn seit ich Röcke trug« ergänzt das Erzähler-Ich, »glaubte ich wirklich, eine Frau zu sein.«97

92. 93. 94. 95. 96. 97.

M. T. Hipp: Mythes et réalités, S. 384. Mémoires, S. 298. Ebd., S. 292. N. Luhmann: Liebe als Passion, S. 105. Vgl. P. Darmon: Mythologie de la femme. Mémoires, S. 291, 293. 41

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Wie zur Bestätigung murmelt man kurz darauf im Hochamt: »Ist es denn wahr, dass dies ein Mann sein soll? Dann hat er aber (auch das) Recht, sich als Frau ausgeben zu wollen.«98 Deontologisch siegt der ästhetische Code (schön/hässlich) über den epistemischen (wahr/falsch), zumal ihre funktionale Ausdifferenzierung noch nicht vorangeschritten ist. Der schöne Schein beugt alle anderen Instanzen, sogar einen missbilligenden Onkel, der sich schließlich überzeugen lässt: »Du bist wahrhaftig schön. Ich werde Dich meine Nichte nennen.«99 Doch eine Beobachtung der Beobachtung, die als solche zur Skepsis neigt, gibt bereits die Kontextabhängigkeit der Toleranz als einen Effekt sozialer Räume zu bedenken: »Schön bin ich hier unter uns, aber nicht auf den Straßen der Stadt […]. Denn die Welt ist bösartig, und es ist so selten, einen Mann zu sehen, der eine Frau zu sein wünscht.«100

Utopische Mission, Zwittertum und Exotik Seit einer Glaubenskrise, von der ihn erst eine schwere Krankheit kurierte, legte der Abbé de Choisy keine Frauenkleider mehr an und führte ein eher frommes Leben. 1685 nahm er an einer zweijährigen Missionsreise nach Siam, dem heutigen Thailand, teil und schrieb eine Art Bordtagebuch, das ihn, 1687 erschienen, zum Mode-Autor machte. Er schildert die beschwerliche Schiffsfahrt, das Erlernen der fremden Sprache, die er so gut beherrschte wie Latein, und die merkwürdigen Sitten am Hofe des zu bekehrenden Königs Phra-Narai, dem alles gehörte, was seine Hände berührten, so dass die Jesuiten um ihre kostbaren astronomischen Instrumente bangten. Nachdem Choisy sich in eine pompöse Botschafterrolle gedrängt hatte, um einen Brief Ludwigs XIV. mit höfischer Etikette zu übergeben, ließ er sich am fremden Gestade innerhalb von vier Tagen zum Priester weihen, mit zwanzigjähriger Verspätung allerdings. In seinen Aufzeichnungen über den fernen Osten werden geschlechtliche oder sexuelle Bräuche überhaupt nicht erwähnt, so als habe die Exotik die Erotik verdrängt.101 Dabei mag Choisy die zeitgenössische Verbindung einer religiösen Häresie mit Spekulationen über ursprüngliche Androgynie vielleicht nicht entgangen sein. Aus der kolonialen Entdeckung außereuropäischer Völker war nämlich die sogenannte Präadamitenhypothese entstanden, die

98. Ebd., S. 296. 99. Ebd., S. 294. 100. Ebd., S. 293f. 101. François-Timoléon Abbé de Choisy: Journal du voyage de Siam fait en 1685 et 1686. Paris 1687: Sébastian Marbre-Cramoisy. Reprint: Paris s.d. (1930): Duchartre et Van Buggenhondt. 42

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besagt, dass es sich bei diesen Kreaturen um Menschen handeln müsse, die vor Adam geschaffen worden seien. Da man die ›glücklichen Wilden‹ in einem außergeschichtlichen Naturzustand ansiedelte, konnte dieser a-topische Ort zur beliebten Projektionsfläche literarischer Utopik und Sozialsatirik werden. In seinem 1676 publizierten Roman La terre australe connue102, stellt der ehemalige Franziskaner Gabriel de Foigny die hermaphroditischen »Australier« vor, deren Lebensweise aus der einfachen Umkehrung europäischer Sitten hervorgeht. Sie essen kein Fleisch, da sie Früchte im Überfluss haben, akkumulieren deswegen auch kein Eigentum, pflanzen sich sozusagen in Jungfernzeugung fort und führen Krieg nur gegen jene unvollkommenen »Halbmenschen«, die nicht doppelgeschlechtlich sind wie sie selber. Auf symbolischem Niveau führt die imaginäre Umkehrung zu einem semiologischen Kurzschluss, denn die Sprache der Australier beruht auf einer restlosen Übereinstimmung zwischen Zeichen und Referent, Wörtern und Dingen: »sobald sie ein Wort aussprechen, kennen sie die Natur der Sache, die es bedeutet«.103 So spiegeln die symmetrische Landschaftsgestaltung, für die sogar Berge abgetragen werden, und der radikale Egalitarismus zwischen den indes völlig gleichgeschalteten Individuen104 das auf Swedenborg vorverweisende Delirium eines engelhaften Ein/Verständnisses zwischen a-sexuellen Doppelgeschlechtern, die gleichsam von Staats wegen zur Selbst-Liebe verpflichtet werden. Bleibt ihre Fortpflanzung ein tabuisiertes Geheimnis, so wird die geographisch und anatomisch allegorisierte Frage nach dem Sinn geschlechtlicher Differenz im Experimentalraum der imaginären Reise identitätslogisch auf/gelöst, – aber nur um den Preis sexuellen Begehrens, das erst der Fremde, ein europäischer Schiffbrüchiger und zudem ein wirklicher, aber für die Australier ›falscher‹ Zwitter, als Spaltung einführt.105 Doch der androgyne Vorsprung jener, die der Erbsünde schon immer entronnen sind, beruht vor allem auf dem Fehlen der väterlichen Funktion, d.h. eines symbolischen Dritten. Im Gegensatz zum Naturrecht eines Ur- und Un-Menschentums, für das die »geschlechtliche Dichotomie in der Mannweiblichkeit aufgehoben ist«, besteht der

102. Gabriel de Foigny: La terre AUSTRALE CONNUE: c’est à dire La Description de ce pays inconnu jusqu’ici, de ses mœurs & de ses coûtumes. Par M. Sadeur […], Vannes 1676; 1704 anonym ins Deutsche übersetzt. Vgl. Achim Aurnhammer: Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur, Köln, Wien 1986, S. 142ff. 103. Zitiert in: Jean-Pierre Guicciardi: »Hermaphrodite et prolétaire«, in: Dixhuitième siècle 12 (1980), S. 49-77, hier: S. 53. 104. René Demoris: »L’utopie, Autre du roman: ›La Terre Australe connue ..‹ de G. de Foigny (1676)«, in: Revue des Sciences Humaines 155 (1974), S. 399-409. 105. So Georges Benrekassa: »Le statut du narrateur dans quelques textes dits utopiques«, in: Revue des Sciences Humaines 155 (1974), S. 379-395, hier: S. 390. 43

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Der Abbé de Choisy mit dem Botschafter von Ludwig XIV. vor dem König von Siam

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patriarchalische Sündenfall der »europäischen Feudalgesellschaft […] in hausväterlichen Besitzrechten«.106 Jacques Sadeur, Held des Romans und Sprachrohr des Autors, der aus der Fremde einen Blick auf das Eigene wagt, »musste also gestehen/dass diese grosse Herrschafft/welche der Mann über seine Frau hat/mehr von einer verhassten Tyranney/als rechtmäßigen Autorität herrühre«.107 Manifestiert sich australische Unschuld in einer Nacktheit, die Travestie vereitelt, weil sie jeden dem Blick aller anderen aussetzt, nimmt sie sich daher auch kaum als (ein) Mangel wahr.

Ein Feminist unter dem ›Gesetz der Mutter‹ Wenn die frühneuzeitliche Vorstellung der Repräsentation (der Repräsentation) von der »tiefen Unsichtbarkeit dessen, was man sieht«, sowie dessen, »der schaut«108, gekennzeichnet ist, insofern die darstellende Subjektivität dabei fehlt, bleibt ein Rest übrig, den erst die Transparenz der binären Zeichenökonomie beseitigt. Klassischer Selbstverdoppelung aber scheint bereits eine phallo(go)zentrische Asymmetrie eingeschrieben. Wenn Choisy z.B. behauptet, dass die Nichten des Kardinals Mazarin ihn in seiner Kindheit ihren Gespielinnen vorgezogen hätten, weil sie in dem als Mädchen verkleideten Jungen »trotz seiner Hauben, Schleifen und Röcke etwas Männliches« geahnt hätten109, so wurzelt seine maskuline Identität in einer Geschlechterhierarchie, die Mann-zu-Frau-Travestie nicht unbedingt als Aufstieg oder Mehrwert zu taxieren erlaubt. Wäre ein ›Weibmann‹, der im Kreise weltkluger Salondamen und amazonischer Fronde-Kämpferinnen aufwuchs, deswegen nicht auch als Produkt eines vormodernen Feminismus zu betrachten? In der Geschlechterdiskussion der klassischen Ära Frankreichs, die hauptsächlich um den Antagonismus von Schönheit und Bildung kreiste, richtete sich die feministische Kritik sowohl gegen die mittelalterlichen »Verfügungsmuster« kirchlicher Tugendtraktate als auch gegen den neoplatonischen Vollkommenheitskult der Renaissance.110 In den

106. A. Aurnhammer: Androgynie, S. 144. 107. Zitiert nach der anonymen Übersetzung ins Deutsche von 1704, in: ebd., S. 144. 108. J. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 43. 109. Nach G. Reynes: L’abbé de Choisy, S. 28. 110. Renate Baader: »Die verlorene weibliche Aufklärung – Die französische Salonkultur des 17. Jahrhunderts und ihre Autorinnen«, in: Hiltrud Gnüg/Renate Möhrmann (Hg.), Frauen. Literatur. Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt/Main 1989, S. 58-83, hier: S. 73. 45

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weiblichen Selbstporträts zeichnete sich ein neues Selbstwertgefühl ab. Mit dem »Mut zur kollektiven Hässlichkeit«111 betonten die adligen Damen ihre äußeren Mängel, wie Magerkeit oder Pockennarben, und bekannten sich sogar zur Melancholie. Während der preziöse Code unter Rückgriff auf die ritterliche Frauenverehrung eine »verzichtreiche Selbstbindung«112 des Mannes ausarbeitete, die mit der Ehe vereinbar blieb, richtete sich die Polemik des weiblichen Geburtsadels gegen jedwede Spielart einer die persönliche Autonomie gefährdenden Galanterie. Das antihöfische Aufrichtigkeitsgebot schließlich widersetzte sich einer paternalistischen Politik, die Frauen aus jeglicher Entscheidungsbildung ausschloss. Noch am Ende des Jahrhunderts jedoch konnten die üblichen Zwangsheiraten nur in verschlüsselter Form, etwa im eskapistischen Feenmärchen, angeprangert werden. Wenn Choisys Travestie die Idealisierung des Weiblichen narzisstisch kurzschließt113 und dabei junge Mädchen verbraucht, über die er in ihrer sozialen Ohnmacht hausväterlich verfügt, gibt es eine prästabilisierte Harmonie zwischen den Geschlechtern nur im Raum des Wunderbaren, d.h. des Unwahrscheinlichen. In Choisys zusammen mit Charles Perrault, dem Lagerführer der Modernen, verfassten Novelle114 La Marquise-Marquis de Banneville, die 1695 anonym im Mercure Galant veröffentlicht wurde115, besticht die reziproke Symmetrie einer Wunscherfüllung. Es handelt sich um die Geschichte eines jungen Mannes, der von seiner Mutter als Mädchen »Marianne« aufgezogen wurde und sich, zunächst ohne Wissen um sein wahres Geschlecht, in den schönen »Marquis de Bercour« verliebt, der ihn indes nicht heiraten kann, weil er, was er verheimlicht, eine Frau im Männerkostüm ist. Drängt ein böser Onkel seinen inzwischen über seine wahre Identität aufgeklärten Neffen dennoch zur Scheinehe, um ihn dadurch um sein Erbe zu prellen, geht alles gut aus, weil sich der Bräutigam der männlichen Braut nun seinerseits als Mädchen offenbart. Indem sich die normalen Geschlechter also wie magisch unter verkehrten Vorzeichen wiederfinden, deutet die Märchennovelle mit dieser Option bereits auf Sades Erzählung Augustine de Villeblanche oder das Strategem der

111. Ebd., S. 77. 112. Ebd., S. 81. 113. Was ihm in der Psychiatrie unseres Jahrhunderts die Diagnose der Liebesunfähigkeit eintrug. So etwa bei A. Masson: Le travestissement, S. 21. 114. Eigentlich eine kurze, einfache Prosaerzählung, denn von der Kategorie der Novelle hatten damals weder Autoren noch Poetologen eine klare Vorstellung. Nach Du Plaisir sollte sie möglichst kurz, überschaubar, realitätsnah und einfach sein. Vgl. M.-T. Hipp: Mythes et réalités, S. 52. 115. Hier: nach dem kommentierten Abdruck der Fassung von 1695 in: G. Reynes: L’abbé de Choisy, S. 293-311. 46

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Liebe116 hin, wo ein junger Bürger namens »Franville« ein lesbisches Adelsfräulein durch seine vorgetäuschte Homosexualität zur Ehe bekehrt. Sexuell-geschlechtliche Ergänzung ergibt sich erst nach und aufgrund wechselseitiger Symmetrisierung, aber bei Sade maskiert sich nur die männliche Seite, um damit zum Beweggrund zu werden. Aktiv übernimmt sie die neue, etwa schon bei Marivaux vorgezeichnete Rolle, sich in den Anderen einzufühlen, um eine vormoderne Taktik mit psychologischem Wissen anzureichern. Denn Begehren entspringt einer narzisstischen Kränkung, der bezeichnenderweise eine Illusion zugrundeliegt, weil das Desinteresse des Anderen nur vorgespielt ist, indem der angebliche Sodomit sich der vermeintlichen Sapphistin als Spiegel vorhält. Weiß der männliche Part dabei mehr als der weibliche, wird Weiblichkeit gleichsam zum Unbewussten. Mit der Abkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung erotisiert sich geschlechtliche Travestie gleichgeschlechtlich: Männer und Frauen treffen sich, – perverserweise sozusagen.117 Geht die raffinierte Dramaturgie der Sadeschen Erzählung über Choisys simplen Plot hinaus, da das Zusammenspiel von narrativer Aussage und dialogischem Kommentar De/Maskierung zum provisorischen Perspektive-Effekt relativiert, erweist sich damit performativ, dass die Lektüre äußerer Zeichen dem Einfühlungsvermögen unterliegt, die Verwechslungskomödie einem Bildungsroman.118 Die geometrische Statik der dem Mythenschema folgenden MärchenTravestie verweist jedoch auf die Rigidität eines GeschlechtertauschPhantasmas, das unter den Vorzeichen des Ancien Régime nur in der

116. Donatien Alphonse François, Marquis de Sade: »Augustine de Villeblanche ou le stratagème de l’amour«, in: Œuvres complètes. Edition définitive, Bd. 13, Paris 1973, S. 157-168. Die Novelle ist während der Bastille-Haft zwischen ca. 1785 und 1789 entstanden. 117. Nämlich auf dem Boden der Lust und realen Genießens. Vgl. zu Lacans ›Kant mit Sade‹-Lektüre insbesondere Monique David-Ménard: »Lacan mit Kant?«, in: HansDieter Gondek/Peter Widmer (Hg.), Ethik und Psychoanalyse. Vom kategorischen Imperativ zum Gesetz des Begehrens: Kant und Lacan, Frankfurt/Main 1994, S. 169-193. Als »Karikatur des kategorischen Imperativs« (S. 183) bestehe die »Ironie der Sadeschen Formulierung […] darin, die Äquivalenz eines jeden Subjekts mit jedem anderen oder noch die Symmetrie des ›Ich‹ und des ›Du‹ vorzutäuschen, während sie doch eine Dissymmetrie herstellt, da ein einziges Subjekt die Szenarien hervorruft, betritt und beherrscht, die alle anderen zu Objekten machen« (S. 182), und dies wäre wohl der Autor-Erzähler, also auch das totalitaristische Potential einer Text-Ökonomie. 118. Vgl. zur Unterhöhlung des zirkulären Geschichtsverständnisses durch ein lineares auch die Analyse der poetologischen Debatte bei H. R. Jauss: »Literarische Tradition«, S. 25ff. Die Konzeptualisierung einer irreversiblen Zeit (und unauslöschlichen Rede bei Racine!) läutete die Aufklärung ein. 47

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fiktiven Entgrenzung des biographischen Raums ausgelebt werden kann. In dem Maße, wie die offizielle Historiographie utopisch oder satirisch unterlaufen und Memoiren ihrerseits romanhaft wurden, avancierte die Lebenschronik vom absolutistischen Vehikel der Repräsentation zum verbürgerlichten Medium aufklärerischer Selbstreflexion119, – ein Prozess, der durch weibliche Autorschaft beschleunigt wurde.120 Choisys private Memoiren schreiben sich in diesen Übergang ein. So decken sie einen Untergrund des Ichs und der Gesellschaft auf, verdecken ihn aber wieder mit konventionellen Sicht- und Redeweisen. Neue, etwa psychologisierende Ideen, die Assoziationen oder Widersprüchen entspringen, verschwinden schnell hinter Stereotypen. Choisy bleibt sozusagen in einer alteuropäischen Spiegellogik gefangen, – der endlosen imaginären Oszillation zwischen zwei geschlechtlichen Positionen, die dem epistemologischen Paradigma korrespondiert. Denn die Ambiguisierung entspräche nicht nur der cartesianischen Neuerung, »Schein und Täuschung« als »Aspekte einer ontologisch konzipierten Welt« und gleichzeitig als »Ausgangspunkte für die Erfahrung von Transzendenz«121 zu erfassen, sondern auch dem zwischen Nominalismus und Realismus schwankenden Referenzbezug eines binarisierten Zeichens. Seine Transparenz errichtet paradoxerweise ein auswegloses Reich der Zweideutigkeit, dessen imaginärer Spiegelrivalität erst die bürgerliche Hermeneutik der Mehrdeutigkeit einen tieferen Sinn schenken wird, wenn adelige Willkürmacht sich in die Logik des Geistes oder des Marktes übersetzt. Choisys Selbstporträt, weder bloßes Relikt des Schäferromans noch Vorgriff auf eine ›Dialektik der Aufklärung‹, – Casanova mit de Sade gelesen –, ist schon deswegen ein Diskurs des Übergangs, weil die Figur des skandalösen ›Weibmanns‹ bereits auf jene sozialpolitische Übercodierung geschlechtlicher Kategorien verweist, die noch im zwanzigsten Jahrhundert als kritische Figur einer optimistisch oder pessimistisch erachteten ›Feminisierung der Kultur‹ auftritt. Der im

119. Erste Indizien dafür wären etwa die Welle von Memoiren, die im Umkreis der Fronde persönliches Scheitern thematisierten, oder die Tendenz zum affektengagierten Porträt (Mademoiselle de Montpensier) und zur Krisen-Biographie. Beschäftigte sich die poetologische Debatte mit Wahrheit und Wahrhaftigkeit, so bekunden die großen Abstände zwischen Abfassungs- und Publikationsdaten (meist nach dem Tod des Autors und jenem Ludwigs XIV.) eine gewisse Zensurierung authentischer subjektiver Lebenszeugnisse. Vgl. M.-T. Hipp: Mythes et réalités. 120. So H. Kleber: Die französischen Mémoires, S. 26, 303, der das Genre der verbürgerlichten Lebenschronik mit Marguerite de Navarre und ihrem ›human interest‹-Fokus beginnen lässt. 121. N. Luhmann: Liebe als Passion, S. 329. 48

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Bündnis von Weiblichkeit und Perversion122 angezeigte Verlust der symbolischen (Vater-)Funktion ließe sich psychoanalytisch als die im kollektiven Imaginären vonstatten gehende Ersetzung des väterlichen Gesetzes durch ein mütterliches begreifen.123 Entspringt die seelenlose Äußerlichkeit der absolutistischen Person ihrem globalen Spannungsfeld hierarchischer Spiegelbeziehungen, so Choisys fetischistischer Narzissmus dessen lokaler Reduktion in der Harmonie eines rein weiblichen Milieus. Damit ist aber auch die Geschlechterdifferenz, eine durch Kniffe und Tricks fabrizierbare optische Täuschung, ihrer substantiellen Alterität beraubt. Als konstruierte ›Frau‹ kann sich das ewige Kind die souveräne Illusion der Übertretung leisten, deren Bluff den gelehrten Vielschreiber zu seinem eigenen Kalauer macht: »Ich habe«, soll Choisy über sein elfbändiges Hauptwerk gesagt haben, »diese Kirchengeschichte, Gott sei Dank, abgeschlossen, nun kann ich sie endlich studieren.«124 Mit ironischer Bescheidenheit, die sich für die ›feminine‹ Nivellierung einer ehrwürdigen Gattung durch geschwätzige »Bagatellen« entschuldigt, widmet der Abbé seinen maskierten Meisterdiskurs bezeichnenderweise jener Madame de Lambert, die mit ihrer Alteritätsauffassung der Geschlechter die weibliche Sonderanthropologie in den modernen Wissenschaften vom Menschen mitvorzubereiten half.125

Kurzer Ausblick: Geschlechter-Normalismus Choisys berühmterer Nachfolger, der Chevalier d’Eon de Beaumont, der als Spion Ludwigs XV. dessen Außenpolitik zur Zeit des Siebenjährigen Krieges erheblich mitgestaltete126, wird im 18. Jahrhundert ein-

122. Vgl. die allerdings erst mit der Romantik beginnende psychoanalytisch-literarhistorische Studie von Paul-Laurent Assoun: Le pervers et la femme, Paris 1989. 123. So Thanos Lipowatz: »Das Ethische und das Politische: Fragen an die Psychoanalyse«, in: Gondek/Widmer (Hg.), Ethik und Pychoanalyse, S. 79-93, hier: S. 83: »Die Verabsolutierung der Positivität des sexuellen Genießens führt zur Perversion […], in der das Subjekt sich mit dem Begehren des Andern (der Mutter) imaginär identifiziert und glaubt, es zu seinem Lustinstrument machen zu können; gleichzeitig provoziert das Subjekt das Gesetz, dessen Übertretung zur Lustquelle wird (Verleugnung des Gesetzes). Das Gesetz bekommt hier die Form: ›Du sollst genießen!‹, und das ist die Formel für den Totalitarismus.« 124. Zitiert nach J. Mélia: La vie amoureuse, S. 210. 125. Vgl. Lieselotte Steinbrügge: Das moralische Geschlecht. Theorien und literarische Entwürfe über die Natur der Frau in der französischen Aufklärung, Stuttgart 1992, 2. Aufl., S. 28ff. 126. Vgl. dazu die Studie des Historikers Gary Kates: Monsieur d’Eon ist eine Frau. 49

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fach per königlichem Dekret gesellschaftlich zur Frau gemacht, obwohl ihm sein Verlangen nach geschlechtlicher Alternanz derlei Eindeutigkeit völlig versagt. Einst selbstherrlicher Held, wird der Mann-zuFrau-Transvestit der Aufklärung, die das Zwei-Geschlechter-Modell127 universalisiert, zu einer ›verfolgten Unschuld‹, deren gefühlsreiches Innenleben allenfalls literarische Phantasien inspiriert.128 D’Eons autobiographische Schriften, die nur als Manuskript vorliegen, laufen auf einen geschlechtsphilosophischen Messianismus frühsozialistischer Couleur129 hinaus, der dem weiblichen Prinzip die Aufgabe einer Rettung der Menschheit zuerteilt. Die vormoderne Symbolisierung des Imaginären, erste Langzeitetappe kultureller ›Vergeschlechtlichung‹, verkehrt sich in der Moderne gleichsam zu einem Imaginärwerden des Symbolischen.130 Auf dem Weg vom barocken zum psychologischen Menschenbild aber offenbart sich bereits jene Leere unter den Masken, die fortan von der biologischen Wissenschaft aufgefüllt werden wird. Ihr oblag es im Falle d’Eons, die anatomische Wahrheit (s)eines Geschlechts erst post mortem zu entdecken, was im Zeitalter der Gentechnik einer gewissen Tragikomik nicht entbehrt.

Die Geschichte einer Intrige, Hamburg 1996, in der bislang unberücksichtigtes Quellenmaterial aufgearbeitet werden konnte. 127. Am Beispiel des Zwittertums vgl. A. Runte: Biographische Operationen, S. 466ff. 128. Z.B. den präromantischen Rokoko-Roman Die Liebesabenteuer des Chevalier de Faublas von Jean-Baptiste Louvet de Couvray (1787ff.). 129. Vgl. G. Kates: Monsieur d’Eon, S. 320ff. 130. Vgl. A. Runte: Biographische Operationen, S. 670ff. 50

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»LA BARBE NE FAIT PAS L’HOMME«

»La barbe ne fait pas l’homme«. Liebe und Geschlechtertausch in George Sands Drama ›Gabriel‹ »[…] celui qui l’épousera pourra se flatter d’avoir une femme bien trempée, un homme, enfin.« (Eugène Labiche)1 Kann man Männer zu Menschen machen, indem man Frauen zu Männern macht? Diese Frage, die noch Christa Wolf bewegte2, hat im 19. Jahrhundert anscheinend auch jene französische Autorin mit dem männlichen Pseudonym beschäftigt, die bisher wohl vor allem als Transvestitin bzw. als ›Hosenrolle‹ in die Literaturgeschichte einging. Bereits der Untertitel von George Sands kaum bekanntem Stück Gabriel. Roman dialogué, das im Frühjahr 1839 entstand, verweist auf sein gleichsam ambiges Genre, auf die textuellen wie sexuellen Zwischenräume, in denen sich dieser Roman in Dialogform ansiedelt. Der verwickelte Inhalt eines an triviale Mantel- und Degenstücke erinnernden Melodrams lässt sich jedoch im Hinblick auf die Geschlechterproblematik rasch zusammenfassen: Im provinziellen Italien einer vorrevolutionären Epoche, einem unspezifischen Niemandsland, wächst ein verwaistes adeliges Mädchen – dem Wunsch seines Großvaters entsprechend – als Junge auf, um später dessen Erbe anzutreten. Das künstliche Zwittergeschöpf, geboren aus genealogischer Willkür, erhält den Namen des Erzengels der Verkündigung. Als der mündig gewordene Gabriel erfährt, dass er in Wirklichkeit eine Frau ist, aber trotzdem den ihm auferlegten männlichen Part weiterspielen soll, um der zu Unrecht bevorzugten väterlichen Linie zur Vorherrschaft zu

1. Eugène Labiche/Marc Michel: Monsieur votre fille. Comédie mêlée de chant, en un acte. Théâtre contemporain illustré. 561e et 562e Livraison, Paris 1855, S. 3. 2. Vgl. Christa Wolf: »Selbstversuch. Ein Traktat«, in: Sarah Kirsch/Irmtraud Morgner/Christa Wolf: Geschlechtertausch. Drei Geschichten über die Umwandlung der Verhältnisse. Mit einem Nachwort von Wolfgang Emmerich, Darmstadt, Neuwied 1980. 51

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verhelfen, begibt sich der falsche Enkel heimlich auf die Suche nach dem eigentlich Erbberechtigten, seinem Vetter Astolphe, der sich unverzüglich in den hübschen, feminin wirkenden Cousin verliebt. Nachdem sich dessen wahres Geschlecht durch Zufall enthüllt hat, leben die beiden Geschwisterkinder unerkannt in wilder Ehe zusammen, mit ›Gabrielle‹, deren Name nur im Schriftbild die weibliche Form annimmt, als einer zukünftigen Erbin. Zunächst wird die märchenhafte Liebesidylle dadurch bedroht, dass der Wildfang sich den weiblichen Rollenklischees der Mutter Astolphes nicht beugt, dann aber wird sie, nach dem Rückzug des Paars in ein einsames Landhaus, durch männliches Macht- und Besitzstreben zerstört. Astolphes exzessive Eifersucht geht nämlich allmählich in den Wunsch über, seine Geliebte zur richtigen Frau zu machen, d.h. (wieder) dem patriarchalischen Gesetz zu unterwerfen. Unter männlicher Maske flieht Gabriel nach Rom, wo ihn ein Häscher seines Großvaters ermordet. Zuvor aber muss der in der Stadt Umherirrende noch die Untreue des weitergeliebten Astolphe mit der Kurtisane Faustina erleben und sein nunmehr selbstgewähltes Fremdgeschlecht im Duell verteidigen. Und erst post mortem erfüllt sich sein inzwischen einziges Verlangen, für immer und ewig als Mann zu gelten, da die schöne Leiche ihr »schreckliches Geheimnis« (der) Weiblichkeit mit ins Grab nehmen darf. Ein romantisches Damenopfer? Der feministische Protest avant la lettre scheint tragisch enden zu müssen. Stofflich knüpft dieses stereotypisierende Thesendrama offensichtlich an die traditionsreiche Literarisierung der gegengeschlechtlichen Erziehung aus Erbfolgegründen an3, aber George Sand benutzt die bekannte Topik der verkehrten Welt implizit dazu, das Überdauern patriarchalischer Momente beim Übergang vom vormodernen Allianzprinzip zum Affektprinzip der bürgerlichen Familie in ein kritisches Licht zu rücken, was die Behandlung der Liebesthematik in ihrem frühen Romanwerk bereits ankündigt. Bedenkt man, dass die tragisch gewordene Figur der als Mann verkleideten Frau im Laufe des 19. Jahrhunderts wieder an Bedeutung verlor4, wäre das nie aufgeführte Lesedrama indes ein kurioses Relikt. Doch schon der Namen der titelgebenden Hauptfigur, der auf den einzigen weiblichen Erzengel der christlichen Offenbarung deutet, verweist auf eine diskursive Vernet-

3. Etwa von Heldris de Cornuälles Roman de Silence (Mitte des 12. Jahrhunderts) über das jakobäische Theater oder Molière bis zu Wielands Novelle ohne Titel (1805) usw. Vgl. Gertrud Lehnert: Maskeraden und Metamorphosen. Als Männer verkleidete Frauen in der Literatur, Würzburg 1994, S. 161-242, sowie Annette Runte: Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität, München 1996, S. 339-360. 4. G. Lehnert: Maskeraden, S. 160. 52

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zung, die über motivische Reihenbildung hinausgeht. Auf Handlungsebene verschränken sich in diesem Stück drei Modalitäten der Travestie derart miteinander, dass sich die symbolische Vermännlichung der Heldin, als tragische Apotheose des schwachen Geschlechts, ebenso auf das vorprogrammierte Dilemma romantischer Liebe5 wie auch auf zeitgenössische politische Androgynie-Utopien6 beziehen lässt. Im Folgenden soll daher erörtert werden, ob und inwiefern George Sands in den fiktiven Raum versetztes »pädagogisches Experiment«7, das beiläufig Rousseaus berühmtes Erziehungsprojekt zu karikieren scheint, nicht allein als vielschichtige Chiffrierung des weiblichen Bildungsprozesses unter patriarchalischen Vorzeichen gelesen werden könnte, sondern auch als symptomatischer Niederschlag eines epochalen geschlechtlichen Paradigmenwechsels. Gabriel, – im Frühjahr 1839 nach dem desaströsen, mit Chopin verbrachten Winter auf Mallorca in einem Marseiller Hotelzimmer geschrieben – steht geschlechtersemantisch in enger Beziehung zu seinen romantischen Vorläufern, die wie Hyacinthe de Latouches historischer Roman Fragoletta (1829) oder Balzacs philosophische Allegorie Séraphîta (1834/1835) eine hermaphroditische bzw. angelische Doppelgeschlechtlichkeit entfalten, ohne bereits jene ironische Selbst(rück)bezüglichkeit zu erlangen, die Théophile Gautiers ästhetizistischer Aufgriff androgyner Muster in Mademoiselle de Maupin (1835) durchschimmern lässt. George Sand, die bei aller ontisch vorausgesetzten Verschiedenheit der Geschlechter ethisch auf ihrer Gleichwertigkeit beharrt, vermag die sich daraus ergebenden Widersprüche zwischen Natur und Kultur, Narzissmus und Begehren, indes nur aporetisch aufzuheben, durch einen offenen Schluss sozusagen.

Die Waise ihres Geschlechts Mit dem Konflikt zwischen Ancien Régime und Bürgertum, ›Herz versus Kalkül‹, beginnt die handlungsintern exponierte Vorgeschichte in einem dem Fünfakter vorangehenden Prolog. Der achtzigjährige Prinz von Bramante8 will nach jahrelanger Abwesenheit vom Abt Chiava-

5. Vgl. dazu Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/Main 1984, 4. Aufl., S. 163-183. 6. Etwa aus dem Umkreis der Frühsozialisten, insbesondere der Saint-Simonisten, denen George Sand bekanntlich nahe stand. 7. Gisela Schlientz: ›Ich liebe also bin ich‹. Leben und Werk von George Sand, München 1989, S. 152. 8. In dessen ans edle Mannweib »Bradamante« erinnernden Namen vielleicht die Ariost-Lektüre der kleinen Aurore Dupin (v)erklingt. 53

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ri9, dem Hofmeister, wissen, ob ihm die Dressur seiner heranwachsenden Enkelin zum jungen Seigneur gelungen ist, und muss durch ein belauschtes Gespräch erfahren, dass der ahnungslose Zögling nicht nur spontan die Partei seines Geburtsgeschlechts ergreift, sondern nachts zuvor sogar davon geträumt hat, selbst eine Frau zu sein, was ja ironischerweise der Fall ist. Dabei evoziert und denunziert die Metapher vom »Engel in Ketten«, die offensichtlich auf das romantisch verklärte Geschlecht anspielt, ideologiekritisch die lebens- und weltgeschichtliche Versklavung der weiblichen Hälfte der Menschheit: »J’étais une femme; car tout à coup mes ailes se sont engourdies, […] et j’avais au cou une lourde chaîne dont le poids m’entraînait vers l’abîme« (S. 4). »Ich war eine Frau; denn meine Flügel sind erlahmt […], und ich trug eine schwere Kette am Hals, die mich in den Abgrund hinunterzog.«10 In krassem Gegensatz zu klassischen Vorlagen, von Molières Liebeszwist (1656) bis hin zu Wielands Novelle ohne Titel (1805), nimmt das weibliche Manipulationsobjekt seine Instrumentalisierung nicht einfach hin, sondern rebelliert intuitiv gegen das väterliche Gesetz einer Güterzirkulation, die Frauen als Subjekte ausschließt: »Je dis que cette transmission d’héritage de mâle en mâle est une loi fâcheuse, injuste peut-être […] forcer les pères à détester leurs filles, faire rougir les mères d’avoir donné le jour à des enfants de leur sexe […]. Sans doute je pouvais naître femme, et alors adieu la fortune et l’amour de mes parents! J’eusse été une créature maudite, et […] j’expierais […] au fond d’un cloître le crime de ma naissance« (S. 6). »Ich meine, daß diese männliche Erbfolge ein ärgerliches Gesetz ist, ungerecht vielleicht […], denn es zwingt die Väter dazu, ihre Töchter zu verabscheuen, die Mütter, zu erröten, nur weil sie ein Kind ihres eigenen Geschlechts zur Welt brachten […]. Ohne Zweifel hätte ich als Frau geboren werden können, na dann, adieu Vermögen und adieu elterliche Liebe! Aus mir wäre eine verfluchte Kreatur geworden, und ich würde das Verbrechen meiner Geburt in der Tiefe eines Klosters sühnen.« Obwohl der Gegensatz zwischen Allianzpolitik und affektorientierter Verbindung, um deren normative Relevanz sich der Prinz, als Repräsentant aristokratischer Sitten, und der auf das Naturgesetz des Ge-

9. Die signifikante Assoziation zum satirischen Magazin der 1830er Jahre, Charivari, das George Sand kannte, liegt nahe. 10. George Sand (1840): »Gabriel. Roman dialogué«, in: Œuvres Complètes, Bd. 7, Paris 1854, S. 1-48, fortan im Fließtext mit der Seitenzahl angegeben [sämtliche Zitate sind von A. R. übersetzt]. 54

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fühls pochende Hauslehrer, als Vertreter des Bürgertums, am Beispiel väterlicher Liebe streiten, freilich auch biographisch lesbar wäre, dient diese Ausgangskonstellation des bürgerlichen Trauerspiels der dramatischen Konstitutierung einer mehrschichtigen Konfliktstruktur, die die soziale, historische mit der geschlechtlichen, universalen Bedeutungsebene verbindet. Adeliges Strategem steht bürgerlicher Authentizität, Liebe dem Egoismus gegenüber wie männliches Machtstreben weiblicher Humanität. Thematisch verknüpft George Sand die alte Tragödie der Feindschaft zwischen zwei Geschlechtern im genealogischen wie sexuellen Sinne11 mit einer romantischen Androgynie-Utopie, die als Travestie des Selben im Anderen beim Tod des Weiblichen endet. Wenn es ausgerechnet der Mord an einem Raufbold in einem Wirtshaushändel ist, der den in die männliche Welt initiierten Gabriel für seinen sozial deklassierten Vetter Astolphe zum absoluten Objekt der Begierde macht, so deswegen, weil sich in dieser nivellierten ritterlichen Feuerprobe, frei nach Schiller oder Friedrich Schlegel, männliche Stärke mit weiblicher Anmut verbindet. Der ihren libertinistischen Reiz ersetzende androgyne Mehrwert der Travestie verstärkt aber nur das manichäistische Phantasma von Hure und Heiliger, hier inkarniert durch Astolphes angestammte Geliebte Faustina und ihr Gegenbild Gabriel. »Il me fait illusion«, so der im Bohème-Milieu situierte Cousin über den neuen Verwandten: »Je voudrais avoir une maîtresse qui lui ressemblât« (S. 12), d.h. »er täuscht meine Sinne, ich hätte gern eine Geliebte, die ihm gliche«. Mit der wunderbaren Erfüllung dieses Wunsches12 durch bloßen Voyeurismus setzt wieder jene geläufige Verwechslungs-Intrigue ein, die George Sands Tragikomödie in die Nähe populärer Farcen aus der Commedia dell’arte-Tradition rückt. Nachdem der Geck Astolphe sämtliche Kokotten auf den als Dame maskierten Cherubim eifersüchtig und alle Dandies in ihn verliebt gemacht hat, was zu mancherlei Täuschungen und Enttäuschungen führt, enthüllt sich ihm die nackte Wahrheit seines Engels wortwörtlich im deus ex

11. Von Shakespeares Romeo und Julia bis zu Heinrich von Kleists Die Familie Schroffenstein. 12. Die wie ein Echo literarischer Wunscherfüllung wirkt, etwa in Ovids Mythos von Iphis und Ianthe oder in Ariosts Renaissance-Epos Orlando Furioso anklingt, wenn Bradamante anscheinend ins ›bessere Geschlecht‹ verwandelt ist: »Le par veder, ch’l ciel l’abbia concesso/Bradamante cangiata in miglior sesso« (Lodovico Ariost: Orlando Furioso, Venedig 1730, 25. Gesang, 42. Stanze, S. 287). Männliche homoerotische Begierden werden historisch erst später laut. So verleiht Astolphe dem magischen Denken analytische Kräfte: »à force de désirer que tu le devinsses par miracle, j’arrivai à deviner que tu l’étais en réalité« (G. Sand: Gabriel, S. 31), d.h. »in dem Maße, wie ich wünschte, daß du durch ein Wunder [eine Frau] würdest, gelang es mir zu erahnen, dass du es in Wirklichkeit [schon] warst«. 55

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machina einer Entkleidungsszene. Die anschließende quasi-inzestuöse Romanze wird aber nicht nur durch die Eifersucht des männlichen Partners gestört, sondern vor allem durch (s)einen Versuch einer geschlechtlichen Normalisierung ›Gabrielles‹, die, nunmehr in Rock und mit feminisiertem Vornamen, nicht als angel of the house, sondern weiterhin als ein Mann, d.h. wie ein Mensch, behandelt werden will: »Je n’ai pas cessé d’être ton frère et ton ami en devenant ta compagne et ton amante. […] tu ne trouves pas de plus grand éloge à me faire que de m’attribuer les qualités de ton sexe; et pourtant tu voudrais souvent me rabaisser à la faiblesse du mien! Sois donc logique!« (S. 27, 30) »Ich habe nicht aufgehört, dein Bruder und dein Freund zu sein, als ich deine Gefährtin und deine Geliebte wurde. […] Du könntest mir kein größeres Lob spenden, als mir die Eigenschaften deines Geschlechts zuzuschreiben; und dennoch würdest du mich oft gern zur Schwäche meines eigenen herabwürdigen! Sei doch logisch!« George Sands emanzipatorische Abrechnung mit den unerfüllten Gleichheitspostulaten der Französischen Revolution13 reagiert bereits auf jenes kulturgeschichtliche Dispositiv eines ›Geschlechts der Moderne‹, das sich durch den umfassenden Prozess einer Ent-Universalisierung des Männlichen charakterisieren ließe.14 Obwohl George Sand in der Nachfolge einer Olympe de Gouges, aber implizit und auf literarischem Terrain, die Einlösung der radikalen politischen Ideen auch für die Geschlechter fordert, leistet sie gleichsam einer egalitaristischen Umschrift rousseauistischer Ergänzungstheorien Vorschub. Aber geht es im Dialogroman Gabriel um die Anerkennung möglicher Andersartigkeit? Das von Balzac mit Shakespeares Dramen verglichene Stück15 steht sozusagen auf der Schwelle zwischen romantisch ver-

13. Vgl. z.B. Friederike J. Hassauer-Roos: »Das Weib und die Idee der Menschheit. Überlegungen zur neueren Geschichte der Diskurse über die Frau«, in: Bernard Cerquiglini/Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.), Der Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt/Main 1983, S. 421-445. 14. Vgl. wissenshistorisch Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, Frankfurt/Main, New York 1991; sozialhistorisch Ute Frevert: ›Mann und Weib, Weib und Mann‹. Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995. 15. Balzac, der George Sand vor ihrer Reise nach Mallorca im Winter 1838/1839, d.h. also vor der Niederschrift dieses Stücks, zum ersten Mal in Nohant besucht hatte und für den sie 1840, als er Direktor des Théâtre Français war, das Stück Cosima (mit Marie Dorval in der Hauptrolle) produzierte, schrieb ihr im Brief vom 18.7.1842 über Gabriel: »Je suis dans le ravissement, c’est une pièce de Shakespeare, et je ne comprends pas que vous n’ayez pas mis cela en scène« (zitiert in: Thierry Bodin: »Balzac et Sand: 56

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brämter Wesensphilosophie und deren konstruktivistischer Unterhöhlung. Die Protagonistin ist zwar ein Kunstprodukt, das die Erzeugbarkeit eines Oberflächen-Geschlechts beweist, aber unter dieser Fassade verbirgt sich ein wahres Tiefen-Geschlecht, als Grenze kultureller Determination. Wenn Gabriel sich nach dem Scheitern der Liebesutopie für seine geschlechtliche Freiheit schlägt, kämpft er damit nicht unbedingt gegen seine weibliche Natur. Willentliche Vermännlichung entspringt einer narzisstischen Kränkung, die – im Kontrast zur Amazonenlegende – als Verstümmelung beklagt wird: »[…] il veut me traiter comme elles! […] et, pour preuve de ses droits à la fortune et à la puissance, dévoiler à tous les regards ce sein de femme que lui seul a vu palpiter! […] Je me refuse à ce dernier outrage, et, plutôt que d’en subir l’affront, je déchirerai cette poitrine, je mutilerai ce sein jusqu’à le rendre un objet d’horreur […] et nul ne sourira à l’aspect de ma nudité« (S. 46). »[…] er will mich wie sie [die Frauen] behandeln! […] und um seine Anrechte auf das Geld und die Macht zu beweisen, allen Blicken diesen weiblichen Busen enthüllen, den nur er wallen sah! […] Ich verweigere mich dieser letzten Beleidigung und statt sie zu erdulden, werde ich diese Brust verstümmeln, bis sie zu einem Gegenstand des Entsetzens geworden ist […], und niemand wird mehr über den Anblick meiner Nacktheit lächeln«. Als einer melancholischen Amazone gebührt dem Pseudo-Mann, der sich nun ganz romantisch nach dem Tode sehnt, eine symbolische Anerkennung, die er jedoch nur als Tote(r) zu erhalten vermag und selbst im Tode noch mit der Verdrängung des Weiblichen, des Körpers, bezahlt. So einigen sich Lehrer und Geliebter ›Gabriel(le)s‹, als sie sich an ihrem Leichnam treffen, ganz männerbündisch mit dem Mörder auf ein verschwiegenes Verschweigen: »Il faut soustraire cette dépouille sacrée aux outrages du public […] et nous ne la quitterons que quand nous aurons caché ce secret qui lui fut si cher« (S. 48). »Man muss diese heiligen Überreste der Verhöhnung durch den Pöbel entziehen […], und wir werden sie erst verlassen, wenn wir das Geheimnis, das ihr so teuer war, verborgen haben«. Stellenweise langatmig und sentimental, steht George Sands epigo-

histoire d’une amitié«, in: Présence de George Sand 13 (1982), S. 4-22, hier: S. 17), d.h. »Ich bin begeistert, das ist ein Stück von Shakespeare, und ich verstehe nicht, dass sie es nicht haben aufführen lassen«. Darauf antwortet Sand am 24.7.1842: »[…] es war doch nicht mehr als recht und billig (nicht gegen Gabrielle, sondern gegen mich), so lieb an mich zu denken« (zitiert in: George Sand: Nimm Deinen Mut in beide Hände. Briefe. Übersetzt und herausgegeben von Annedore Haberl, München 1990, S. 187). 57

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nal wirkendes Prosadrama im Zeichen einer romantischen Theaterreform, die Gattungs-Vermischung, offene Formen und den Einbezug volkstümlicher Helden16 zur Bedingung eines politisch engagierten poetischen Realismus macht. Doch nicht nur der Maler Delacroix, ein Freund George Sands, kritisierte an ihrem dramatischen Werk den »Mangel an Komposition«: »Der Anfang ist stets anregend und verspricht Interesse, die Mitte […] zieht sich hin mit der, wie sie glaubt, Entwicklung der Charaktere, die doch nur Mittel zum Vorantreiben der Handlung sind.«17

Dreifaltige Travestie: Der Engel als Überfrau Gabriel ist weder bloßes Aktionsstück noch psychologisches Drama, sondern ein als Gedankenexperiment verkleidetes feministisches Thesenstück avant la lettre, an dem die Un/Möglichkeit einer emanzipierten heterosexuellen Partnerschaft, d.h. im damaligen Kontext: der harmonischen Vereinbarkeit von weiblicher Selbständigkeit und romantischer Liebe, durchgespielt wird. In ihm bündeln sich disparate Stränge abendländischer Geschlechtertausch-Literatur zu einem neuen Sinnkomplex. Dabei wird der genealogische Aufhänger zum roten Faden einer Patriarchatskritik, die sich auf das kleinfamiliäre Stadium der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft beziehen lässt. ›Männlicher Machtwille siegt über weibliche Liebe‹, könnte man die moderne Botschaft resümieren. Doch in der sukzessive gesteigerten Travestie der Heldin verdichten sich altbekannte fiktionale Szenarien zu einem quasi-dialektischen Schema, dessen syntagmatischer Dreischritt psycho- wie sozialsystemisch symptomatisch erscheint: Der ungewollten und unbewussten (Frau-zu-›Mann‹-)Erziehung im anderen Geschlecht, die als aristokratische Perversion der bürgerlichen ›Frau Mutter‹ eine reale, ökonomische Funktion erfüllt, indem sie männlicher Erbfolge weibliche Substitute implementiert, folgt eine bewusste, aber dennoch fremdbestimmte (Frau-zu-›Mann‹-zu-›Frau‹-) Maskerade, deren imaginäre homoerotische Bedeutung geschlechtlicher Ambivalenz entspringt, bevor die selbstgewählte männliche Maskierung in einer finalen (Frau-zu-›Mann‹-zu-›Frau‹-zu ›Mann‹-)Trans-

16. Schon in der sehr erfolgreichen Molière-Vorlage Le dépit amoureux (1656), einer ernsten Komödie mit unwahrscheinlicher Handlung und mechanischer Lösung, gibt es keine Entwicklung (der Handlung oder der Personen) aus innerer Logik heraus, sondern Szenen werden äußeren Imperativen gemäß lose aneinandergereiht. 17. Zitiert in: Gisela Schlientz: George Sand. Leben und Werk in Texten und Bildern, Frankfurt/Main 1987, S. 240. 58

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formation die traditionelle Ordnung der Geschlechter mit einer symbolischen Geste aufhebt, die dem Weiblichen auf dem Wege seiner Dissimulation männliche Anerkennung verschafft. Nur wenn DIE Frau im Tod verschwindet, kann sie zum Menschen werden, lautet das resignative Fazit.18 Dabei erhält die konstruktivistische Parabel19 einen essentialistischen Hintersinn. Die schöne Seele Gabriel(le)s, die »weibliche Natur ihres Geistes«20, scheut vor Machtstreben und Gewalt zurück. Die einzige Spur ihres männlichen Bildungsromans bleibt das Streben nach Unabhängigkeit21 als geschlechtsspezifische Paraphrase einer revolutionären Losung. Wie sich im pathetischen Schluss an der Sakralisierung des Ausnahmewesens zeigt, wird die maskuline Anmaßung weder lächerlich gemacht noch, wie bei Wieland, psychologisiert, wenn es, beinahe im Vorgriff auf späteres Zwitter-Lamento, heißt: »[…] étrange et malheureuse créature, unique sur la terre« (S. 6), »seltsames und unglückliches Geschöpf, einzig auf Erden«. Im Nexus von Wissen und Begehren entsteht das Bewusstsein einer Unmöglichkeit, die die doppelgeschlechtliche Fülle, »la bravoure dans une organisation délicate« (S. 12), bereits resignativ bricht.22 Insofern schlägt Sands Figurine gleichsam eine Brücke zwischen Balzacs theosophisch inspiriertem Erzengel, der das irdische Paar (wieder-)vereint, und den ortlosen Hermaphroditen eines Hyacinthe de Latouche oder eines Lautréamont, deren christgleiche Erlöserrolle23 dahinschwindet, wie es sich in Balzacs Artikel über Fragoletta bereits andeutet: »Faites poser devant vous cet être inexprimable, qui n’a pas de sexe complet, et dans le cœur duquel luttent la timidité d’une femme et l’énergie d’un homme, qui aime la sœur, est aimé du frère, et ne peut rien rendre ni à l’une ni à l’autre, […] jetez sur ces […] figures de la passion à pleine main, torturez ces trois cœurs […]; puis, ne pouvant trou-

18. Vgl. bes. Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1994, 2. Aufl. 19. G. Lehnert vermerkt, dass die Erziehung eines Mädchens als Knaben in der historischen Realität kaum anzutreffen ist. 20. G. Sand: Gabriel, S. 6. 21. So der Kommentar des Hofmeisters, der behauptet »La femme... sera toujours femme« (S. 29), d.h. »Die Frau wird immer Frau bleiben« – »[…] on a voulu que j’en fisse un homme; je n’ai que trop bien réussi. Jamais il ne souffrira un maître« (S. 36), d.h. »[…] man hat gewünscht, daß ich aus ihr einen Mann mache; mir ist es mehr als gut gelungen. Niemals wird er einen Herrn über sich ertragen.« 22. Insofern könnte Travestie zu einer paradoxen Metapher des Weiblich(en)-Kastrierten werden, wie Béatrice Didier es für Sands Romanwerk, besonders den ConsueloKomplex, konstatiert. Bétarice Didier: L’Ecriture-Femme, Paris 1981, S. 159. 23. Noch bei Sand schreit der Mörder Gabriels: »J’ai tué […] mon Jésus!« (S. 48). 59

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ver de baume à ces indicibles souffrances, élevez ce malheur à son comble, imaginez un dernier, un épouvantable sacrifice […] et vous aurez créé un chef-d’œuvre.« 24 »Stellen Sie sich dieses unaussprechliche Wesen vor, das kein vollständiges Geschlecht besitzt und in dem die Schüchternheit einer Frau mit der Energie eines Mannes streitet, das die Schwester liebt und vom Bruder begehrt wird, aber allen beiden nichts zu erwidern vermag […], verleihen Sie diesen Figuren nun möglichst viel Leidenschaft, foltern Sie ihre Herzen […], und, wenn Sie keinen Balsam für deren unsägliche Leiden finden konnten, steigern Sie das Unglück zu seinem Höhepunkt, imaginieren Sie ein letztes, schreckliches Opfer, – dann werden Sie ein Meisterwerk geschaffen haben.« Wenn der Tod Fragolettas, die eigentlich »Camille« heißt, in Gabriel gleichsam pathetisch zitiert25, George Sand aber von Balzac, dem Leser Latouches, in seinem Schlüsselroman Béatrix als »Camille Maupin« (alias »Félicité des Touches«, sic!) zum erhabenen AutorinnenMonster fiktionalisiert wird26, kurz bevor die historische Referenz dieses die Werke durchquerenden Patronyms, nämlich eine Hosen tragende und sich duellierende Opernsängerin aus dem 17. Jahrhundert, in Théophile Gautiers ästhetizistischem Roman-Manifest Mademoiselle de Maupin (1835)27 als sexuell zweideutige Hauptfigur auftritt, dann fragt es sich, ob diese signifikante Spur innerhalb eines noch viel weiter reichenden intertextuellen Netzes28 lediglich darauf verwiese, dass eine romantische Liebesreligion »aus der ›femme passion‹, der leiden-

24. Zitiert in: Frédéric Ségu: Hyacinthe de Latouche 1785-1851, Paris 1931, S. 410. 25. Vom Klostertopos bis zum sakralen Leichnam, den der Sterbende selber statt ins Meer in den Tiber versenkt sehen möchte: »Ecoute! ... je ne veux pas que mon corps soit insulté par les passants […] jette-moi dans l’eau ...« (S. 47). Biographisch hatte George Sand mit Hyacinthe de Latouche enge Kontakte, war es doch der republikanische Journalist und Verleger, der sie Anfang der 1830er Jahre im Metier angelernt hatte. 26. Balzac schrieb Béatrix nach dem achttägigen Aufenthalt in Nohant im Sommer 1838. »Camille Maupin«, die an George Sand gemahnende Hauptfigur, »wurde«, so der Erzähler, »im Hinblick auf das Mannhafte ihres Werks eine lange Zeit hindurch tatsächlich für einen Mann gehalten. Jedermann kennt heute die zwei Bände ihrer ersten Theaterstücke, die in der Art Shakespeares oder Lope de Vegas geschrieben, jedoch zur Aufführung nicht geeignet sind«. Honoré de Balzac: Béatrix, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 86. 27. Vgl. dazu Joseph Savalle: Travestis, métamorphoses, dédoublements. Essai sur l’œuvre romanesque de Théophile Gautier, Paris 1981. 28. Vgl. Lucienne Frappier-Mazur: »Balzac et l’androgyne. Personnages, symboles et métaphores androgynes dans ›La Comédie humaine‹«, in: L’Année Balzacienne 1973, S. 235-277. 60

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schaftlichen Frau, die ›femme de passion‹, die Schmerzensfrau«29, destilliert hat. Vielmehr könnte Gabriel auch vom epochalen Schicksal eines ›fading of gender‹30 zeugen, das den Widerspruch zwischen Politik und Begehren ins Dilemma narzisstischer Selbstgenügsamkeit transponiert. Einerseits ergreift nämlich Balzacs Swedenborg-Engel »Séraphîtus/ Séraphîta«, das spiritualisierte Vexierbild der Doppelgeschlechtlichkeit, bereits feministisch Partei fürs weibliche Geschlecht31, andererseits stilisiert sich das ephebische passing woman Gabriel entgegen der herkömmlichen Gleichsetzung von Weiblichkeit mit Sinnlichkeit, wie sie in Gautiers Rokoko-Zitat wieder auftaucht, zur reinen, asexuellen Schimäre. »[…] tu crois que la chasteté m’est si pénible«, d.h. »glaubst, du, daß die Keuschheit mich so peinigt?«, entgegnet Gabriels innerer Monolog einem Großvater, dessen Zynismus darin besteht, den Pseudo-Enkel zur Nonne zu machen: »ton supplice sera d’ignorer à quel point mon âme est plus chaste« (S. 7)32, »deine Strafe wird sein, nie zu wissen, wie unglaublich keusch meine Seele ist«. Das androgyne Vollbild einer heterogenen Synthese scheint, zumindest im französischen Literaturraum, im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer Fusion des Homogenen zu regredieren33, in deren mittlere Etappe der zunächst ins Paar integrierte und dann wieder aus ihm herauskatapultierte34 (weibliche) Engel35 fallen könnte. Indem George Sand aber

29. So die ansonsten luzide Gabriel-Analyse bei G. Schlientz: George Sand, S. 153. 30. Vgl. dazu Annette Runte: »Père-version. Sexualität als Maske des Geschlechts in der französischen Dekadenzliteratur«, in: Elfi Bettinger/Julika Funk (Hg.), Maskeraden. Geschlechterdifferenz in der literarischen Inszenierung, Berlin 1995, S. 254-273. 31. »Messieurs, fussions-nous à l’agonie, nous devons encore vous sourire! Vous appeler cela, je crois, régner. Les pauvres femmes! je les plains. Dites-moi, vous les abandonnez quand elles vieillissent, elles n’ont donc ni cœur ni âme?« Honoré de Balzac: »Séraphîta«, in: La Comédie humaine, Bd. 7, Paris 1966, S. 325-375, hier: S. 335. »Meine Herren, lägen wir im Sterben, wir müssten Ihnen noch zulächeln! Sie nennen das, glaube ich, herrschen. Die armen Frauen! Ich bedauere sie. Sagen Sie mir doch, Sie verlassen sie, wenn sie alt werden, haben die Frauen denn weder Herz noch Seele?« 32. In weiblicher Maskerade erscheint Gabriel dann wie eine Madonna bzw. im Stil der romantischen Ballerina (schlichtes Kleid aus weißer Seide, Krone aus weißen Rosen, Schwanenfeder-Umhang), kurz als Idealfrau in Astolphes Augen: »J’ai […] dans le cœur une femme idéale! Et c’est une femme qui te ressemble« (S. 18). »In meinem Herzen habe ich eine Idealfrau! Und es ist eine Frau, die dir ähnelt«. 33. Vgl. dazu Frédéric Monneyron: L’androgyne décadent. Mythe, figure, fantasmes, Grenoble 1996. Lucienne Frappier-Mazur macht das Scheitern von 1789 für regressive Utopien verantwortlich in: »Code romantique et résurgences du féminin dans ›La Comtesse de Rudolstadt‹ (›Consuelo‹)«, in: Didier Coste/Michel Zéraffa (Hg.), Le récit amoureux. Colloque de Cerisy, Seyssel 1984, S. 53-70. 34. ›Gabrielle‹ heißt der weibliche Teil von Balzacs androgynem Paar Etienne und 61

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den Engelkult ihrer romantischen Dichterkollegen, die Apotheose des Ideals im Tod, als ein totes Ideal enthüllt, wirft sie die Frage auf, ob und inwiefern dieses ›Sehnsuchtsbild‹36 Symbolisches imaginär ersetzt. In ihrer wahrscheinlich geraume Zeit vor Gabriel entstandenen lyrischen Prosaskizze An den Engel ohne Namen (A l’Ange sans Nom) richtet sich ein weibliches Sprecher-Ich werbend, klagend und lobpreisend an eine christliche Ikone, die als erotisiertes androgynes Wesen auch Wünsche nach Verweiblichung des Männlichen anklingen lässt: »Qu’un ange est beau le matin avec ses cheveux flottants! Pourquoi les hommes n’ont-ils pas de longs cheveux? […] Ange silencieux, mettez votre main fraîche sur mon épaule, elle est chaude d’amour, mais aucun homme n’y a posé sa bouche: votre haleine parfumée, vos cheveux humides peuvent seuls la rafraîchir. Quelles fleurs avez-vous sur le front […]? Des fleurs […] plus belles qu’aucune femme de la terre. Ces parfums sont enivrants, mon ange, répandez-les sur moi, effeuillez sur moi votre couronne humide.« 37 »Wie schön ein Engel ist am Morgen mit seinen fließenden Haaren! Warum haben Männer keine langen Haare? […] Stiller Engel, lege Deine kühle Hand auf meine Schulter, sie ist warm vor Liebe, aber kein Mann wird seinen Mund darauf drücken: Dein duftender Atem, Deine feuchten Haare allein können ihr Kühlung verschaffen. Welche Blumen hast Du an der Stirn? […] Schönere als irgendeine Frau auf der Erde sie hätte. Ihr Duft ist berauschend, mein Engel, verströme ihn über mich, entblättere über mir Deine feuchte Krone.« Der in seiner präraffaelitischen Schönheit eher feminin gezeichnete Engel besitzt weder Namen noch Sprache. Weit entfernt von Swedenborgs deliranter Allegorie einer absoluten Sinn-Transparenz, in der

Gabrielle in L’enfant maudit, einer »fusion dans une parfaite égalité«, einer »divinisation réciproque«, so L. Frappier-Mazur: Code romantique, S. 270. 35. Gautiers Mademoiselle de Maupin, wo sich die sinnliche Transvestitin in einem keuschen Mädchenpagen, einer kindlichen ›Mignon‹-Figur, verdoppelt, verschiebt das (Ver-)Schließen der romantischen Spaltung (des Weiblichen) wieder ins Unendliche einer ›progressiven Universalpoesie‹ (Friedrich Schlegel). Voll abgründiger Ironie wird hier ein ebenso facettenreiches wie unabschließbares Doppelspiel ästhetisch-erotischer Verführung inszeniert, in dem das Geschlecht selber zum Kunstwerk aufsteigt. Dem postromantischen ästhetizistischen Anti-Realismus geht es dabei aber nicht mehr um die ›Wahrheit des Geschlechts‹: Natur ist nur noch und ausschließlich als Kunst genießbar. 36. Vgl. Gislinde Seybert: Die unmögliche Emanzipation der Gefühle. Literatursoziologische und psychoanalytische Untersuchungen zu George Sand und Balzac, Frankfurt/Main 1982. 37. George Sand: »Sketches and hints«, in: Œuvres autobiographiques. Texte établi, présenté et annoté par Georges Lubin, Paris 1971, Bd. 2, S. 617f. 62

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sich Bezeichnendes und Bezeichnetes differenzlos decken38, steht das euphorisierende Schweigen dieser angelischen Schimäre für ein reines, sprach-loses Genießen, das mit dem Realen des Körpers zusammenfällt: »Vous qui n’avez pas de nom, venez vous asseoir à mon chevet. Vous ne parlez aucune langue, vous ne vous révélez par aucun mot. Que je vous aime ainsi, et que je vous comprends bien! […] Mon ange, c’est assez. Je mourrais« (S. 617). »Du, der Du keinen Namen hast, komm, setz Dich an mein Bett. Du sprichst keine Sprache, Du gibst Dich mit keinem Worte preis. Wie ich Dich so liebe und wie gut ich Dich verstehe! […] Mein Engel, es ist genug. Ich würde sterben.« Obwohl dieser »halluzinatorische Text«, der in elegisch-hymnischen Tönen an die Grenzen des Sagbaren rührt39, ebenso als Verschlüsselung eines sapphischen Begehrens wie einer onanistischen Szene gelesen werden könnte, scheint das preziös stilisierte Tableau einer emblematischen Visite in der Morgenröte auch auf die geschlechtliche Asymmetrie einer Idealbildung hinzudeuten, die die Autorin mit aufgerufenen, aber ausgesparten Concetti ihrer leisen Ironie unterwirft. Die etwa auch im Kult der romantischen Ballerina, dieses Flugtraums in Weiß, überhöhte und spiritualisierte weibliche Engelhaftigkeit erscheint hier als Defizit des Prosaisch-Männlichen, das weder Subjekt noch Objekt der Träume ist: »Adieu, le jour grandit, partez vite, mon trésor, que personne ne vous voie, car on vous volerait à moi et je serais obligée de me donner aux hommes. Adieu, laisse-moi baiser ton cou de neige et ton front où brille une étoile, donne-moi une plume de ton aile pour que je garde une preuve de ton passage, un souvenir de mon ivresse. Pourquoi les hommes n’ont-ils pas des ailes pour venir le soir, pour s’envoler le matin? J’aime mieux le duvet du chardon qu’un homme; on souffle sur l’un et il se perd dans le vague de l’air, l’autre ne se subtilise et ne s’évapore par aucun procédé. Ange du matin, partez donc« (S. 617f.). »Adieu, der Tag naht heran, verschwinde schnell, mein Schatz, daß niemand Dich sieht, denn man würde mich Dir nehmen und ich wäre darauf angewiesen, mich den Menschen [Männern] hinzugeben. Adieu, laß mich Deinen schneeweißen Hals küssen und Deine Stirn, auf der ein Stern glänzt, gib mir eine Feder Deines Flügels, damit ich einen Beweis dafür habe, daß Du hier warst, ein Andenken an meinen Rausch. Warum haben die Menschen [Männer] keine Flügel, um am Abend zu kommen und am Morgen wieder wegzu-

38. Vgl. Jacques Borel: Séraphîta et le mysticisme balzacien, Paris 1967. 39. Man könnte an symbolistische Texte, vor allem Rimbauds, denken, etwa L’Epoux infernal. 63

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fliegen? Ich mag lieber die Wolle einer Distel als einen Mann; man bläst auf die Blume und sie zerstäubt in der Luft, während der andere sich nicht aus dem Staube macht und durch kein Mittel verflüchtigen lässt. Engel des Morgens, so verschwinde doch!« Wiewohl sich Anklänge ans gelebte Programm freier Liebe mit aggressiven Tönen mischen, endet dieses assoziative Fragment nicht mit jener irrealisierenden Himmelfahrt, die als Verklärung im Jenseits das Diesseits normativer Normalisierung übergibt, wie noch in Balzacs spiritualistischem Engel-Roman. Mit einer kühnen Blumenmetapher, die romantischen Träumen das Leben ausbläst, aktiviert Sands lyrischer Text ein Flugsymbol, das den weiblichen Engel als imaginären Phallus beflügelt. Wäre er nicht schon insofern Symbol einer ›Über-Frau‹?

Pater in filio, filius in matre: Corambé, der be-namte Engel Fühlt sich der »plötzlich weibliche Gabriel in seiner Geschlechtsidentität verletzt«, so bleibt er Gisela Schlientz gemäß »zerrissen von der Geschlechterspaltung«. In ihr vollziehe sich »das Gegenteil« einer »androgynen«40 Vereinigung. Obwohl George Sand in ihrem Vorwort von 1854 mit Nachdruck betont, dass diese Figur eine reine Erfindung sei, kann man gerade aufgrund solcher (Ver-)Leugnung nicht umhin, frappierende Ähnlichkeiten ›Gabriel(le)s‹ mit jener geschlechtlich schillernden Phantasiegestalt »Corambé« festzustellen, die Aurore Dupin während ihrer Mädchenzeit wie ein Freund oder eine Schwester begleitete und der sie einst einen quasi-religiösen Kult widmete.41 In ihrer Autobiographie schreibt George Sand, dass sie »seit frühester Kindheit […] das Bedürfnis« gehegt habe, sich eine poetische »innere Welt« zu schaffen, die sie der unerträglichen Wirklichkeit einer Halbwaise entrückte, um die sich Mutter und Großmutter, die sie beide liebte(n), stritten: »Corambé gestaltete sich ganz von selbst in meinem Gehirn. Er war rein und barmherzig wie Jesus und strahlend schön wie Gabriel [sic!], aber er empfing auch etwas von der Grazie der Nymphen und der Poesie des Orpheus. Er hatte also weniger strenge Formen als der Gott der Christen und war geistiger als die Götter Homers; auch musste er sich zuweilen, um vollkommen zu werden, in eine Frau verwandeln, denn das, was ich […] am besten verstanden hatte, war eine Frau, war meine Mutter. Er erschien mir also oft

40. G. Schlientz: George Sand, S. 151. 41. B. Didier: L’Ecriture-Femme, S. 198: »Et la romancière confie qu’au milieu […] de ses premiers succès littéraires elle gardait une nostalgie, non tant pour ce héros que pour la liberté totale […] l’imagination au pouvoir«. 64

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als Weib – er gehörte, mit einem Worte, zu keinem Geschlechte und nahm alle möglichen verschiedenen Gestalten an.«42 Handelt es sich bei diesem Privatmythos, der christliche Bilderwelten mit antiken Sagen kreuzt, nur um das geläufige Phantasma einer ›imaginären Zweitperson‹43, welche in ihrer Ambiguität vielleicht auch die als Bastardisierung empfundene und über Generationen reichende Standesvermischung der Dupin-Sippschaft konnotierte? Die Bedeutung dieses proteushaften Wesens, um das sich ein eschatologisches Epos entspinnt44, scheint schon deswegen über die spontane, kindlich-naive Abbildung eines ›Familienromans‹ hinauszugehen, weil ihm seine Schöpferin, für die »Corambé« wohl auch zur phantasmatischen Matrize ihres Schreibens wurde45, nachträglich jedweden tieferen Sinn abspricht:

42. George Sand: Geschichte meines Lebens. Auswahl aus ihrem autobiographischen Werk. Hg. von Renate Wiggershaus, Frankfurt/Main 1978, S. 73, 76. 43. Dazu gibt es frühe psychoanalytische Untersuchungen, z.B. Philip L. Harriman: »Some Imaginary Companions of Older Subjects«, in: American Journal of Orthopsychiatry 7 (1937), S. 368-370, oder Lauretta Bender/B. Frank Vogel: »Imaginary Companions of Children«, in: American Journal of Orthopsychiatry 11 (1941), S. 56-65. 44. Auf der Suche nach »Irrtümer[n] und Schwächen«, die Corambés »Vollkommenheit« etwas menschlicher machen würden, »fand« Aurore »Duldsamkeit und Güte« und unterwarf die Phantasieperson nun »eine[r] Reihe von Prüfungen, Leiden, Verfolgungen und Martern«, einer christlichen Passionsgeschichte sozusagen. »Ich teilte das Ganze in Bücher oder Gesänge, je nach den verschiedenen Phasen im Menschenleben meines Ideals, das, sobald es die Erde berührte, die Gestalt eines Mannes oder Weibes annahm. Zuweilen verlängerte auch der höchste und allmächtige Gott, dessen himmlischer Statthalter über das Reich des Geistes er auf Erden war, seine Verbannung unter die Menschen, um die übergroße Liebe und Barmherzigkeit zu strafen, die er für uns hatte.« In jedem dieser Tausenden von Gesängen »gruppierte sich um Corambé eine Welt von neuen Figuren. Sie waren alle gut, allerdings gab es auch schlechte, aber man sah sie niemals […], und ihre Bosheit und Torheit wurde nur durch Gemälde des Unglücks und der Verzweiflung bemerkbar. Corambé tröstete und half ohne Aufhören. Ich sah ihn in herrlichen Gegenden, umgeben von melancholischen und zarten Wesen, die sein Wort und sein Gesang entzückte, wie er die Erzählung ihrer Leiden anhörte und sie durch die Tugend zum Glücke führte« (G. Sand: Geschichte meines Lebens, S. 77). Der aufklärerische Hintergrund dieser eudämonistischen Ethik, die an den jungen Kleist (vor der Kantkrise) erinnert, könnte auf die damalige Erziehung Aurores durch die Großmutter, eine Voltaire-Anhängerin, zurückgehen. 45. Didier zufolge wäre das Schreiben als Geldverdienst mütterlich konnotiert, weil Aurore Dudevant mit der Wahl des Berufsschriftstellertums sozusagen die Nachfolge ihrer zur Erwerbstätigkeit gezwungenen Mutter antritt. Trotzdem scheitern die sehr frühen Schreibversuche, die Sand im Alter von 12 Jahren unternimmt, nicht nur an der 65

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»Und siehe da, wenn ich nachts träumte, erschien mir eine Gestalt und ein Name. Der Name hatte, soviel ich weiß, keine Bedeutung; er war eine zufällige Vereinigung von Silben, wie sie sich im Traume bildet. Mein Phantasiegebilde hieß Corambé und hat diesen Namen behalten. Er gab den Titel meines Romans und wurde der Gott meiner Religion.«46 George Sand aber gibt in dieser kurzen Passage bereits die entscheidenden Stichworte, die es erlauben, den hochsymbolischen Beginn ihres »poetischen« wie »sittlichen Lebens«47 auf Freuds bekannte Ableitung der dichterischen Produktion aus dem neurotischen Tagtraum zu beziehen, der seinerseits das normale kindliche Spiel ersetze. Vor allem in den »egozentrischen Erzählungen« anspruchsloserer Unterhaltungsliteratur, welche die Welt in Gut und Böse scheidet, stehe »Seine Majestät das Ich«48 als Held und/oder Beobachter im Mittelpunkt eines psychologischen Romans, der den konfliktuösen Schauplatz der Autorenseele darstelle, ohne dass dem Dichter die Quelle seiner Intuition bewusst werden müsse. Damit aber scheint die Freudsche Rede selber jenem Repräsentationalismus zu verfallen, den sie in ihrer biographisch-hermeneutischen Literaturtheorie, ohne Rücksicht auf kulturelle bzw. mediale Bedingungsmöglichkeiten von Fiktionalität und Ästhetizität, noch in der Gleichsetzung des Tagtraums mit dem Nachttraum verficht. Folgen beide Illusionsgebilde auch einer Logik des Begehrens, so erscheint deren substitutives Szenario doch in den wunscherfüllenden Luftschlössern weit weniger verrätselt als im unendlichen Rebus einer Ent-Stellung, der sich kein End-Signifikat mehr zuordnen lässt, wenn das Unbewusste, worauf Lacans Rückkehr zu Freud insistiert, wie eine Sprache strukturiert ist. Statt Corambé flugs die Funktion eines Übergangsobjekts zuzuschreiben, das die Trennung von der Mutter erleichterte, sollte man eher auf signifikante Spuren dieser zweifellos symptomatischen Konfiguration achten, deren narra-

konstitutiven Differenz zwischen dem Vorgestellten und seiner schriftlichen Wiedergabe, sondern auch an einer Kritik der Mutter an pedantischen Briefen der jungen Tochter, die nun darauf verzichtet, ihre »Welt der Phantasien«, deren sie weiterhin bedurfte, auszuformulieren. Während sich aber die aufgeklärte Großmutter, ganz Rationalistin im Stil des 18. Jahrhunderts, schon der Phantasietätigkeit als solcher widersetzte, ließ die Mutter dem Kind wenigstens diesen fiktiven Raum. So auch Philippe Berthier: »Corambé: Interprétation d’un mythe«, in: Simone Vierne (Hg), George Sand, Paris 1983, S. 7-20, hier: S. 10. 46. G. Sand: Geschichte meines Lebens, S. 76. 47. Ebd., S. 76. 48. Sigmund Freud: »Der Dichter und das Phantasieren«, in: Studienausgabe, Bd. X (Bildende Kunst und Literatur), hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Frankfurt/Main 1969, S. 169-179, hier: S. 176. 66

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tive Kohärenz ein anscheinend unsinniger Eigenname signiert. Hat ›Corambé‹ keinen Sinn, weil er, sie, es kein Geschlecht besitzt49? Psychoanalytische Interpretationen haben den drei Silben Vernunft zurückerstattet, so z.B. Helene Deutsch, die in der Verbindung des lateinischen »coram«, d.h. »in Gegenwart von«, und des Buchstaben »b«, den die kleine Aurore nicht aussprechen wollte, deren Suche nach dem verlorenen Vater erkennt.50 Andere (Ein-)Schnitte ins lexikalische Material spekulieren darüber, ob die Kombination von »cor«51, d.h. »Herz«, und »ambo«, d.h. »zwei«, nicht auf eine als unio mystica repräsentierte elterliche Urszene hinwiese, in der die Tochter gar den Platz des Vaters einnimmt.52 Stellt ›Corambé‹, der »alle Attribute geistiger und körperlicher Schönheit«, »die Gabe der Beredsamkeit und den allmächtigen Reiz der Künste«53 besitzt, zudem ein Idealich dar54, löst sich dieses angebliche Fusions-Phantasma ausgerechnet in dem Moment in Nichts auf, als die väterliche Großmutter ihre verhasste Schwiegertochter, Aurores geliebte leibliche Mutter, zur liederlichen Schlampe macht. Falls diese berühmte traumatisierende Szene, in der »jedes Wort […] den Tod« gab und die »innerlich eine große Brandwunde«55 hinterließ, nicht nur einer ungeheuren narzisstischen Kränkung56, sondern der Urszene einer die Sexualität, d.h. (Geschlechter-)Differenz einführenden Kastration vom Orte des Dritten gleichkäme, dann stellt sich die Frage, ob Corambés symptomatisches Verschwinden nicht in Gabriel, dessen Engelsnamen57 Sand autobiographisch ja in einem Zuge mit ihm nennt, wiederauferstanden, d.h. sublimiert worden wäre. »Mein Roman war zu Ende. Corambé blieb stumm«58, berichtet George Sand später unter ihrem männlichen Pseudonym, in dem sich ja auch die väterliche Heimat, das Berry oder Berrichon, und ein femininer, mütterlicher Geliebter, Jules Sandeau,

49. So B. Didier: Ecriture-Femme, S. 200. 50. Zit. nach P. Berthier: Corambé, S. 11, Anm. 3. 51. Warum dann nicht auch die französische Homophonie mit ›corps‹ berücksichtigen? 52. So P. Berthier: Corambé, S. 11. 53. G. Sand: Geschichte meines Lebens, S. 76. 54. P. Berthier: Cormabé, S. 15. 55. G. Sand: Geschichte meines Lebens, S. 80f. 56. Ebd., S. 81f.: »ich liebte mich selbst nicht mehr«. 57. Werkgenetisch scheint diese Namenswahl freilich auch mit Balzacs erwähntem, thematisch affinen Vorläufer Séraphîta zu tun zu haben, so wie das Patronym des Prinzen von Bramant fast auf eine verstümmelte Form der Ariostschen »Bradamante« verweisen könnte. 58. G. Sand: Geschichte meines Lebens, S. 71. 67

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ihr erster und letzter Ko-Autor, verquicken.59 Denn »solange« sie »leb[t]e«, heißt es an anderer Stelle, habe »sich beständig ein Roman« in ihrem »Kopfe entwickelt«.60 Doch wäre das Psychodrama Gabriel deswegen einer bloßen Tagtraum-Bühne zuzuschlagen? »[…] je voulais faire le propre roman de ma vie et n’en être pas le personnage réel, mais le personnage pensant et analysant«61, d.h. »ich wollte den Roman meines Lebens schaffen und darin keine reale Person sein, sondern ein denkender und analysierender Beobachter«, erinnert sich George Sand. Wenn der biographische Pakt, den die Autorin mit sich selber schloss, darauf abzielte, die fundamentale Spaltung des sprechenden Subjekts durch einen ganz dem cartesianischen Rationalismus verpflichteten selbstanalytischen Kommentar zu schließen, so verdeutlicht schon die interdiskursive Überdeterminierung des ›Corambé-Gabriel‹-Komplexes die Grenze eines solchen souveränen Meta-Diskurses. Die hermetisch-mystische Verankerung romantischer Androgynie-Konzepte, wie sie in die feministischen, besser: ›fusionistischen‹62 Ausläufer der frühsozialistischen Doktrin eingingen, markiert indes einen sozial- und kulturgeschichtlich zu verzeichnenden Vaterfunktionsverlust63, dessen symbiotische Folgen sich im Primat des mütterlich konnotierten Fusionellen bemerkbar machen. Insofern birgt die politisch wie sozialphilosophisch ubiquitäre androgyne Erlöserfigur64 ein ›vereinigtes Elternobjekt‹, das die familiaristische Reformulierung der Dreifaltigkeit65 als ein weiteres Indiz für das Symbolischwerden

59. B. Didier (Ecriture-Femme) hält das von Hyacinthe de Latouche kreierte literarische Pseudonym auch aufgrund autobiographischer Bemerkungen für androgyn, redet Sand doch in Bezug auf Indiana von sich als dem ›armen Poeten, der seine Muse heiratet‹ oder davon, dass sie »à la fois père et mère de famille« gewesen sei (zit. 203f.). 60. G. Sand: Geschichte meines Lebens, S. 72. 61. Zitiert in: B. Didier: Ecriture-Femme, S. 207. 62. Vgl. die materialreiche Studie von Alan J. L. Busst: »The Image of the androgyne in the nineteenth century«, in: Ian Fletcher (Hg.), Romantic Mythologies, New York 1967, S. 1-95, bes. S. 36. 63. Vgl. dazu die Analysen zur deutschen Literatur der klassisch-romantischen Epoche von Friedrich A. Kittler: Dichter. Mutter. Kind, München 1991. 64. Etwa bei Ballanche oder Pierre Leroux (1831ff.), dessen »curious blend of transcendental idealism and social mysticism« (Alan J. L. Busst : The Image, S. 28) George Sand anzog. Es steht dem katholischen Mystizismus des jungen Balzac nicht fern. Vgl. dazu Patrick Houque: Eve, Eros, Elohim. La femme, l’érotisme, le sacré, Paris 1982. 65. So etwa auch in geheimbündlerischen Kürzeln wie bei Louis-Jean-Baptiste de Tourreil: »Map« = »MèrAmour-Père« (zit. in: Alan J. L. Busst: The Image, S. 36). Der »androgynous Pope of the Saint-Simonians«, der Bildhauer Ganneau, redete – fast infantil – vom »Mapah«, dessen Ankunft er für den 15. August 1838, dem ersten Tag der »Evadian Era«, vorhersagte (S. 31). 68

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des Imaginären66 auswiese. Wenn in der esoterischen Liebesreligion romantischer Naturphilosophien, von Franz von Baader bis zu Prosper Enfantin, das weibliche Prinzip dazu prädestiniert ist, die Menschheit zu ihrer ursprünglichen androgynen Ganzheit zurückzuführen67, dann erscheint die fast wahnhaft anmutende Übercodierung des Politischen durch eine religiös übersetzte Geschlechtersemantik, wie sie sich im Saint-Simonismus als vergebliches Warten auf den weiblichen Messias zeigt, als ambivalenter Effekt einer familiengeschichtlichen Wende: Die paradoxe Geburt des Vaters aus dem Sohne soll sich im Schoß einer vergötterten irdischen Mutter vollziehen, die das Kind in dem Maße begehrt, wie dieses den (abwesenden) Vater ersehnt68, als imaginären Ersatz sozusagen. Dieser Nivellierung des väterlichen Gesetzes, die sich zumindest in Frankreich noch am Fin de siècle auch im trivialen Feuilletonroman bemerkbar macht69, kann im zeitgenössischen Schwank des Boulevardtheaters immerhin eine Komik abgerungen werden, die auf Kosten aller Beteiligten geht, indem die Mutter verdrängt wird. So heißt es etwa in Labiches Geschlechtertausch-Komödie Monsieur votre fille von 1855 im Gespräch zwischen einem Ex-Kavalleristen und nunmehrigen Schokoladenfabrikanten, der seine Tochter »Bradamante« (sic) als Knaben erziehen ließ, und dem von ihr völlig

66. Vgl. Julia Kristeva: La révolution du langage poétique. L’avantgarde à la fin du XIXe siècle (Lautréamont et Mallarmé), Paris 1974. 67. In welchem Maße George Sands Werk daran beteiligt ist, zeigt eine kritische Notiz des Hegel-Schülers Karl Rosenkranz in seiner Ästhetik der Hässlichkeit (1853), die zwar das Interessantheits-Kriterium der nachhegelianischen Ästhetik einführt, sich aber gegen Extreme verwahrt: »Die Kunst darf nicht von der Individualisierung lassen […]. Sie soll das Wesen, aber sie soll es als konkrete Erscheinung darstellen. Das Allgemeine als Allgemeines ist Sache der Wissenschaft, nicht der Kunst. Diese muss sich daher vor Verallgemeinerungen hüten, welche die Individualität absorbieren. In der […] Gräfin von Rudolstadt, namentlich aber im Epiloge, ist George Sand z.B. dieser an sich edlen, aber künstlerischen Verzerrung verfallen. Consuelo als Zingara und ihr Mann als Trismegistos werden endlich zu den reinen Menschen, zu den Menschen als solchen« (Leipzig 1990, S. 325). 68. Franz von Baader: »Eros und Androgyne. Zur Philosophie der Liebe und Ehe«, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hg.), Erotische Philosophie. Aus den Schriften Franz von Baaders, Frankfurt/Main 1991, S. 123-161, hier: S. 144. 69. Dort verzeichnen Hans-Jörg Neuschäfer, Dorothee Fritz-El Ahmad und KlausPeter Walter (Der französische Feuilletonroman. Die Entstehung der Serienliteratur im Medium der Tageszeitung, Darmstadt 1986) in ihrer großangelegten Studie die Übernahme der Protagonistenrolle durch Frauen, die als ›gardiennes du foyer‹ oft zu christgleichen Märtyrer-Figuren werden (S. 226) und angesichts charakter-, aber auch machtloser schwacher Männer der Familie als Oberhaupt vorstehen in einer Art von gewaltfreiem »Maternalismus« (S. 247). 69

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eingeschüchterten und auch sonst recht unmännlich wirkenden Heiratskandidaten »Doucinet«: – »Drôle de petit gamin! […] C’est votre fils? – Comment! mais c’est elle! votre fiancée! – Ah! bah! c’est monsieur votre fille. […] – Oui … je crois que j’épouserai là un bien brave garçon.«70

– »Lustiger Bursche! […] Ihr Sohn? – Wie bitte? Das ist Ihre Verlobte! – Ah, also Ihr Herr Tochter! […] – Ja … ich glaube ich werde einen anständigen Kerl heiraten.«

70. E. Labiche/M. Michel: Monsieur votre Fille, S. 4f. Vgl. zum Schwank-Schema, seinen Themen und Figuren Volker Klotz: »Diagnostische Bemerkungen zum Bühnenschwank am Beispiel von Labiche, Feydeau, Schönthan, Arnold/Bach und anderen«, in: Annamaria Rucktäschel/Hans Dieter Zimmermann (Hg.), Trivialliteratur, München 1976, S. 205-230. 70

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›SINGENDE STEINE‹

›Singende Steine‹. Zur Verschränkung von Mythos und Geschichte in George Sands Landroman ›Jeanne‹ »Nur entsexualisiert war für eine Frau Freiheit möglich.« (Gisela Schlientz)1 »[…] plus on lève les pierres, moins on trouve.« (George Sand)2

Mythos, Geschichte und Geschlechterdifferenz Mit ihrem Schwenk von der reflexiven Prosa des Frühwerks, das besonders durch seine Ehekritik provozierte, zum volkstümlichen Landroman der vierziger Jahre gab die vom Jungen Deutschland verehrte Ausnahme-Schriftstellerin George Sand keineswegs einer Flucht in die Idylle statt, wie es etwa Julian Schmidt, der Programmatiker des bürgerlichen Realismus, meinte, wenn er die einstige femme fatale zur Schülerin Rousseaus verharmlost, die voller Naivität die Natur belausche.3 Die mythisierte Rückkehr einer vermeintlich Bekehrten zum ländlichen Genre, das der ›guten Dame von Nohant‹ schließlich Eingang in den schulischen Kanon verschaffte, erweist sich bei genauerer Hinsicht als Phantasma einer Art von Gartenlauben-Rezeption. Denn mit Jeanne (1844), einem der ersten ›romans champêtres‹, die weder Sands romantische Inspiration noch ihr demokratisches Engagement verhehlen, scheint der Erziehungsprozess des Mannes durch die Frau4

1. Gisela Schlientz: »George Sand: Eros und Maskerade. Rollentausch und weibliche Autorschaft«, in: Gisela Schlientz/Gislinde Seybert (Hg.), George Sand – Jenseits des Identischen/au-delà de l’identique, Bielefeld 2000, S. 43-68, hier: S. 49. 2. In: George Sand (1844): Jeanne. Présentation de Georges Lubin, Paris 1995, nach der Ausgabe von 1852 bei J. Hetzel und Victor Lecou, S. 31. 3. So vor allem in »Die Reaction in der deutschen Poesie«, in: Grenzbote 1 (1851), zitiert nach Kerstin Wiedemann: Zwischen Irritation und Faszination. George Sand und ihre deutsche Leserschaft im 19. Jahrhundert, Tübingen 2003, S. 191f. 4. Gislinde Seybert: »George Sands Landromane zwischen keltischer Mythologie 71

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zu beginnen, wenn auch nur um den Preis eines Jungfrauen-Opfers. Da das keltische Hirtenmädchen Jeanne zwar gewisse Affinitäten zur französischen Nationalheldin Jeanne d’Arc aufweist, aber im Gegensatz zu ihr keinerlei patriotische Mission erfüllt, soll den Parallelen des Landromans zum Jungfrau von Orleans-Stoff5 hier nicht weiter nachgegangen werden. Stattdessen möchte ich den Akzent auf die narrative Mythisierung einer Geschlechter-Geschichte legen. Der bei George Sand strukturbildende Reinheitstopos wirft ein Licht auf den Zusammenhang von Identität und Alterität, Eigenem und Anderem. Insofern die Dichterin keltische Zeichen in christlichen Sinn übersetzt und umgekehrt, nimmt sie einer archaischen Kultur, die in diesem Roman eine zentrale Rolle spielt, einen Teil ihrer Fremdheit. Obwohl Reinheit Derrida zufolge stets Effekt konstitutiver Unreinheit, Ansteckung oder Vermischung, ist, wird die in Jeanne zum Programm erhobene kulturelle und genealogische ›Bastardisierung‹, wie sie Sands eigene Herkunft kennzeichnet, durch eine identifikatorische Geste, die sich im dualistischen Rahmen metaphysischer Oppositionen bewegt, wieder unterlaufen. Diskurshistorisch fällt auf, dass auch zeitgenössische Schriftstellerkollegen George Sand nach einem dichotomen Muster abwerteten und entweder ihre Themen, so etwa Heinrich Heine, oder aber ihren Stil, so z.B. Victor Hugo, bemängelten.6 Die französische Autorin spaltete die Geister aber nicht nur in ästhetischer, sondern vor allem in politischer Hinsicht. Während der literarische Vormärz ihre angeblich libertinen Frauenfiguren goutierte und ihren späteren Sozialromane als politisch engagierte Literatur sah, wurde George Sand von konser-

und christlicher Mystik«, unveröff. Ms., S. 9. Auszug in: Blindflug 3, Hannover, o.J., S. 78-80. 5. Nachdem Jules Michelet die Prozess-Akten herausgegeben hatte, soll George Sand, die auch von Goethe und Schiller beeinflusst war, einen Jeanne d’Arc-Roman geplant haben. Dieses romantische Projekt verwirklichte dann aber Marie d’Agoult, und zwar als Drama mit dem Titel »Jeanne Darc«, das nie aufgeführt wurde. 1856 wurde es unter ihrem Pseudonym Daniel Stern bei Calmann-Lévy in Paris veröffentlicht. Die Autorin thematisiert darin eine christgleiche Passion, in der aber weiblicher Innerlichkeit über die ›Rhetorik der Stimmen‹ eine besondere Rolle zukommt. Diese Hinweise verdanke ich Laura Colombo (Milano) und Renate Karst-Matausch (Heidelberg). 6. Vgl. zu Heines Äußerung von 1854: K. Wiedemann: Zwischen Irritation und Faszination, S. 68f. Victor Hugo äußerte sich ungefähr gleichzeitig im gegenteiligen Sinne, und zwar in Bezug auf die beiden Landromane Jeanne und François le Champi (1847), die er für überbewertet erachtete: »Tout cela m’ a paru bien au-dessus de sa réputation«. »Non, Mme Sand, dont j’admire le grand esprit et le grand cœur, ne sait pas écrire.« Zitiert von Jean-Marc Hovasse: »Victor Hugo, une amitié née de l’exile«, in: Magazine Littéraire 431 (2004), S. 38f., hier: S. 39. 72

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vativer Seite her als gefährliches Beispiel weiblicher Emanzipation angeführt.7 Theodor Mundts positives Urteil über die Eigenart einer Prosa, die eine sozialkritische Analyse aus femininer Perspektive darbiete, verdeutlicht, in welchem Maße George Sand diesseits wie jenseits des Rheins zwischen die damaligen Fronten von Autonomieästhetik und Tendenzliteratur geriet, besonders hinsichtlich ihrer Vorbildfunktion für schreibende Frauen. Während sich Annette von DrosteHülshoff nach ihren ersten lyrischen Erfolgen dezidiert von ›Blaustrümpfen‹ distanzierte, feierte eine Radikalfeministin wie Louise Aston (1846) George Sand weiterhin als Ikone der femme libre8, jener »freien« Frau, gegen die Proudhon als »Hure von Babylon« zu polemisieren pflegte.9 Die im Landroman Jeanne (1844) dargestellte Protagonistin steht gleichsam für deren Gegenteil, denn sie vereint Keuschheit und Freiheit. Lobte Marie d’Agoult den Jeanne-Roman noch lange nach ihrem Bruch mit George Sand10, reagierte Honoré de Balzac, der gute Kamerad der Autorin, eher zwiespältig. Der Verfasserin machte er zwar Komplimente für ihr ›erhabenes Meisterwerk‹, aber gegenüber seiner Geliebten Madame Hanska schränkte er tadelnd ein: »[…] c’est d’une perfection, le personnage, s’entend, car il y a bien des ridiculités; c’est mal composé, les accessoires sont (quelques-uns) indignes de cette magnifique page. Le paysage est touché de main de maître.«11

7. In Deutschland, wo es nach 1833 keine Zweifel mehr über die geschlechtliche Identität der Autorin gab, wurde George Sand entweder misogyn karikiert oder idealisierend überhöht. Aber Varnhagen von Ense verglich sie mit Rahel, und Heinrich Laube pries sie in seinen Frauenbilder[n] (1845). Karl Gutzkow, der die Autorin auch ästhetisch schätzte, wandte sich dann, z.T. durch die Zensur bedingt, von der angeblichen SaintSimonistin wieder ab. Doch da es keine größere Kritikerin der frühsozialistischen Frauenemanzipation, im Sinne einer Befreiung der Sinne, gab als Sand, fallen die Verkennungen im deutsch-französischen Kulturtransfer ins Auge. Die inzwischen entradikalisierten Nachfolger des Jungen Deutschland verübelten George Sand zudem, dass sie sich in den 1840er Jahren unter dem Einfluss der Lehre Pierre Leroux’ von den Junghegelianern vereinnahmen ließ (vgl. Arnold Ruge: George Sand und die Tendenzpoesie, 1844). Vgl. K. Wiedemann: Zwischen Irritation und Faszination, S. 97ff. 8. Vgl. dazu K. Wiedemann: Zwischen Irritation und Faszination, S. 237ff., bes. S. 265ff. 9. G. Schlientz: George Sand, S. 60. 10. 1844 schrieb sie an François Ponsard: »Mme Sand a fait un roman que j’aime beaucoup, qui n’a eu qu’un demi-succès«. Zitiert in: Marie d’Agoult/George Sand: Correspondance. Edition établie, présentée et annotée par Charles F. Dupêchez, Paris 2001, S. 269. 11. Zitiert im Vorwort von Georges Lubin zu G. Sand: Jeanne, s.p. 73

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»Die Figur ist natürlich perfekt, aber es gibt vielerlei Lächerliches; der Roman ist schlecht komponiert, manche Nebensächlichkeiten sind dieser großartigen Schreibweise nicht würdig. Aber die Landschaften stammen von Meisterhand.«12 George Sand übte denn auch in ihrem Vorwort zur Neuauflage (1852) des Werkes, in dem sie ihre Romantheorie in nuce präsentiert, harsche Selbstkritik: »[…] le but du roman, c’est de peindre l’homme; et, qu’on le prenne dans un milieu ou dans l’autre, […] en lutte contre un monde intérieur qui l’agite, ou contre un monde extérieur qui le sécoue, c’est toujours l’homme en proie à toutes les émotions et toutes les chances de la vie. Jeanne est une première tentative […]. Cette vierge gauloise, ce type d’Holbein, ou de Jeanne d’Arc ignorée, qui se confondaient dans ma pensée, j’essayai d’en faire une création développée et complète. Mais je ne réussis point.« 13 »[…] Ziel dieses Romans ist, den Menschen als solchen darzustellen; und es ist gleichgültig, ob man ihn in dieses oder jenes Milieu hineinstellt […], ob man ihn im Kampf gegen die äußere Welt oder gegen sich selbst schildert, es ist immer der Mensch, um den es geht, als Opfer seiner Gefühle und Spielball seiner Lebensumstände. Jeanne bedeutet einen ersten Versuch. […] Diese gallische Jungfrau, dieser Typus, der an Holbein erinnert oder an eine ungeahnte Jeanne d’Arc, – zwei Bilder, die sich in meiner Vorstellung vermischen – ich habe versucht, daraus eine vollkommene Schöpfung zu machen, aber es ist mir keineswegs gelungen.« Nimmt Sands Mimesisgebot, das die Seelenanalyse dem Ereignisbericht gleichstellt, gleichsam das psychische Modell Freuds vorweg, dem gemäß sich das Ich ebenso sehr gegen seine Triebnatur wie gegen die feindliche Welt behaupten muss, betrachtet sie ihr neues Experiment des roman champêtre zudem als Versuch, die Gegenwart in einer mythisierten Vergangenheit zu spiegeln, wie es der in Mode gekommene historische Roman nach dem Muster Walter Scotts oder die romantische Historiographie Jules Michelets auf ihre Weise taten.14 Hatte die erzählende Geschichtsschreibung in der Nachfolge eines Herder mit der

12. Diese und alle folgenden Übersetzungen von A. R. 13. George Sand, Notice (1852), in: G. Sand: Jeanne, S. 3. 14. Wichtig werden dabei nicht nur »Stimme, Perspektive und emplotment« bzw. Verfabelung, sondern auch rhetorische Verfahren, ohne hier gleich Hayden Whites Fundamentaltropen ins Spiel bringen zu müssen. Vgl. dazu Stephan Jaeger: »Erzähltheorie und Geschichtswissenschaft«, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hg.), Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier 2002, S. 237-265. Narrativität kann als Diskursform betrachtet werden, transzendiert aber historische Diskursformationen als quasi-transzendentales Schema. 74

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historistischen Schule (Ranke, Droysen, usw.) des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht, blieb die von ihr allerdings noch unreflektierte Texthaftigkeit der Geschichte lange von den Mustern des goethezeitlichen Erbes15, insbesondere jenen des die Wirklichkeit idealisierenden poetischen Realismus16, geprägt. Im Stil einer plaudernden Historie17, die Sagen und Legenden in ihre Geschichtsfiktionen einfließen lässt18, bedient sich auch der Sandsche Landroman mythischer Stoffe, als ob es sich um historische Quellen handelte. Obwohl die damit erstrebte wechselseitige Erhellung von Literatur und Geschichte darauf abzielt, Wirkliches von Möglichem zu unterscheiden19, bleibt ihr erzählerisches Zusammenspiel paradoxerweise auf die Überschreitung dieser Grenze angewiesen und rückt Sands romantisierenden Realismus in die Nähe des Mythos, einer Denkform, die man mit dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan als topologisches Scharnier zwischen Imaginärem und Symbolischem betrachten könnte. Lacan hält der geschlossenen Struktur des Mythos die Offenheit sprachlicher Bedeutungsprozesse entgegen und seiner universalen Übersetzbarkeit die kontingente Rede der Wahrheit des Subjekts.20 Gerade deswegen aber stifte der Mythos einen Signifikanten für die Unmöglichkeit des Ein-Eindeutigen.21 George Sand symbolisiert die

15. So Daniel Fulda: »Die Texte der Geschichte. Zur Poetik modernen historischen Denkens«, in: Goethezeitportal. Vgl. http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/ fulda_texte.pdf vom 05.05.2005. 16. Im deutschsprachigen Literaturraum unterscheidet man zwischen bürgerlichem Realismus, der auf Wirklichkeitsnähe bzw. -treue abhebt (z.B. Gustav Freytag), und poetischem Realismus, der eine poetisch überhöhte Realität (etwa Gottfried Keller, Adalbert Stifter) schafft. 17. Fulda führt die Prominenz der Erzählfunktion in der Geschichtsschreibung darauf zurück, dass sie, als Antwort auf den historischen Bruch von 1789, die durchtrennte Verbindung von Tradition und Gegenwart wieder gekittet hätte. 18. So betonte die romantische Geschichtsschreibung des frühen 19. Jahrhunderts in Frankreich und England besonders stark das subjektive Moment und ließ die Gegenwart sich in der Vergangenheit spiegeln. Vgl. S. Jaeger: Erzähltheorie, S. 247f. 19. Vgl. zur Differenzierung von ästhetischer und erkenntnistheoretischer Problematik Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Eine systemtheoretische Analyse, Opladen 1995. 20. Vgl. Jacques Lacan: »Radiophonie«, in: Autres Ecrits, Paris 2001, S. 403-449, hier: S. 412f.: »le mythe […] n’opère ni de métaphore ni même d’aucune métonymie. Il ne condense pas, il explique. Il ne déplace pas, il loge.« [Hervorhebungen von A. R.]. 21. Jacques Lacan: »Interventions sur l’exposé de Claude Lévi-Strauss: ›Sur les rapports entre la mythologie et le réel‹«, in: Bulletin de la Société Française de Philosophie XLVIII (1956), S. 113ff. 75

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Nachbarschaft von Poesie und Mythos im räumlichen Nebeneinander von moderner Zivilisation und deren uralten Wurzeln: »La France est pleine […] de ces contrastes entre la civilisation moderne et la barbarie antique, sur des zones de terrain qui ne sont séparées parfois l’une de l’autre que par un ruisseau ou par un buisson.«22 »Frankreich ist voll […] von diesen Gegensätzen zwischen moderner Zivilisation und antiker Barbarei, die in der Landschaft manchmal nur durch einen Bach oder einen Busch voneinander getrennt sind.« Indem George Sand die Geschichte in der Gegenwart ›anwesen‹ lässt, unterstellt sie, dass sich die Moderne selbst zu entziffern vermag. Diesem geschichtsphilosophischen Konzept entspricht die narrative Poetik des Landromans. In der Romanheldin Jeanne, deren Gestalt Holbeins Mädchenfiguren nachgebildet ist, sind Ursprung und Ziel emblematisch kurzgeschlossen: »La vierge d’Holbein m’avait toujours frappée comme un type mystérieux où je ne pouvais voir qu’une fille des champs rêveuse, sévère et simple: la candeur infinie de l’âme, par conséquent un sentiment profond dans une méditation vague, où les idées ne se formulent point.«23 »Holbeins Jungfrauen hatten mich immer schon beeindruckt durch ihren geheimnisvollen Zug, in dem ich das träumende Mädchen der Felder, streng und einfach, wiedererkannte: die unendliche Unschuld ihrer Seele, und infolgedessen das tiefe Gefühl einer unbestimmten Meditation, wo keine Ideen formuliert werden.« Warum aber sollte es einer Dichterin, die sich von der Malerei, einer genuin abbildenden Kunst, inspirieren ließ, nicht gelungen sein, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu versöhnen? Sands Selbstvorwurf, bloß einen Roman der Kontraste zustande gebracht zu haben, birgt trotz der ironischen Untertöne eine ernstzunehmende Frage, jene nach dem literarischen Stil24 nämlich, den sie in der Metapher des künstlerischen Mediums problematisiert: »Mon propre style, ma phrase me gênait. […] Il me semblait que je barbouillais d’huile

22. In: G. Sand: Notice, S. 2. 23. Ebd., S. 2. 24. Die Kritik an Sands Stil erfolgt vor allem durch die Modernisten, die ihr ›konventionelle Flüssigkeit‹ (Baudelaire), Formlosigkeit (Flaubert, Henry James) und banale Unoriginalität vorhalten. Vgl. Eric Bordas, »Le salut par le style«, in: Magazine Littéraire 431 (2004), S. 48. 76

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[…] les peintures sèches, […] naives et plates des maîtres primitifs, que je cherchais à faire du relief sur une figure étrusque, que je traduisais Homère en rébus, […] que je profanais le nu antique avec des draperies modernes.«25 »Mein eigener Stil, mein Satzbau störten mich. […] Es schien mir, dass ich die trockenen, naiven Fresken der alten Meister mit Öl beschmierte, etruskischen Wandgemälden Relief verleihen wollte oder Homer in einen Rebus übersetzte, […], dass ich antike Nacktheit durch moderne Draperien profanierte.« Selbstkritik äußert sich in den Bildern einer überkommenen Querelle, um den Dilettantismus der Nachahmung nicht nur als künstlerisches Epigonentum26, sondern als historisch gewagten Anachronismus zu denunzieren. Definiert Vilem Flusser Kitsch als ›recycling‹, handelt es sich auch hier um eine Wiederaufbereitung. Dabei steht der Echtheit der Vorlage ihre verfälschende Aneignung gegenüber. Fresken mit Öl zu verunstalten oder antike Statuen zu drapieren, zeugt von jener reproduktiven Annäherung, die gewisse Affinitäten zu einem weiblich konnotierten Idealismus besitzt. »Vous cherchez l’homme tel qu’il devrait être«, legt George Sand später Balzac in den Mund, »moi, je le prends tel qu’il est; […] nous avons raison tous deux. Ces deux chemins conduisent au même but […] Idéalisez dans […] le beau, c’est un travail de femme.«27 »Sie suchen den Menschen, wie er sein sollte, abzuschildern, ich nehme ihn, wie er ist. [Doch] wir haben beide recht. Die beiden Wege führen zum selben Ziel. […] Idealisieren und verschönern Sie nur! Das ist Frauensache.« Die geschlechtlich codierte Ergänzung zwischen weiblichem Illusionsund männlichem Desillusionsrealismus entspringt jedoch einer metaphysischen Szene der Repräsentation, die von der restlosen ›Wiedergabe‹ des Bezeichneten im Zeichen ausgeht und dabei Defigurationen, Sinnverlust wie Sinnüberschuss, ausschließt. Wenn Madame Idéalisme als fabulierende Vorläuferin eines objektiveren Monsieur Réalisme28 be-

25. G. Sand: Notice, S. 3. 26. Vgl. den poetologischen Beitrag des jungen Goethe: »Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil« (1789), in: Johann Wolfgang von Goethe, Werke (Hamburger Ausgabe), Bd. 12 (Schriften zur Kunst und Literatur. Maximen und Reflexionen), Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Hans Joachim Schrimpf, München 1988, S. 30-34. 27. Zit. in: Damien Zanone: »Un idéalisme critique«, in: Magazine littéraire (431) 2004, S. 46-48, hier: S. 47. 28. Diese schöne Formulierung wird bei Zanone zitiert. Was die Diktatur des Tat77

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trachtet wird, verweist die geschichtsphilosophische Grundierung dieses gut zusammen passenden literarischen Paares, in dem man noch die reife George Sand als Mentorin des jüngeren Flaubert erkennt, auf eine hierarchische Asymmetrie.29 Während nämlich der Realismus als angeblich historisch höhere Stufe seine Formen dadurch gewinnt, dass er sich am Idealismus abarbeitet, gilt das umgekehrte keineswegs. Doch genügt es kaum, die Positionen einfach zu vertauschen30, denn damit bleibt das mimetische Modell unangetastet.31 Wenn Sand auf Balzacs Übertreibung, sie entwerfe das Epos der Menschheit, antwortete, dass sie stattdessen lieber den menschlichen Roman schaffen wolle, darf man davon ausgehen, dass es ihr eher um eine humanitäre Botschaft als um die formale Weiterentwicklung des realistischen Modells zu tun war, wie immer dessen gnoseologisch bzw. ontologisch schwieriger Status sich ästhetisch auch materialisierte. Daher ließen sich Sands harmonisierende Prozeduren, etwa nobilitierende Symbole und Bildzitate, auch als eine Form von »sekundärer Bearbeitung« im Sinne Freuds verstehen. Ob die Optimistin deswegen zu einer Ideologin ihrer

sächlichen angeht, so forderten schon Keller und Hebbel (1863) das ›Recht auf Unwahrscheinlichkeit‹. 29. So Naomi Schor: George Sand and Idealism, New York 1993. 30. Denn »la configuration de la production romanesque selon la dichotomie (alliance et confrontation) entre idéalisme et réalisme a l’inconvénient d’apprécier l’un et l’autre selon un enjeu qui est avant tout de représentation« [Hervorhebungen von A. R.]. Dem gemäß diene der Idealismus dem Realismus nur als Negativfolie, aber nicht umgekehrt. So D. Zanone: Un idéalisme critique, S. 49. 31. Als Grundlagenbegriffe der Literaturtheorie wie der Philosophie gehören die Begriffe des Realismus bzw. Idealismus zu den analytisch prekären Konzepten. Wenn man Fiktion als Anweisung zur Konstruktion semantischer Komplexe aus den Interrelationen zwischen Wissenssystemen und Text-Instruktionen versteht, erhalten die Begriffe ihr rezeptionsästhetisches Gewicht, das sich mit der modernen Pluralisierung der Leserschaften noch vergrößert. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: »Lebenswelt als Fiktion/Sprachspiele als Antifiktion. Über Funktionen des realistsichen Romans in Frankreich und Spanien«, in: Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hg.), Funktionen des Fiktiven. Poetik und Hermeneutik, Bd. X, München 1983, S. 239-277. Geht man mit Niklas Luhmann davon aus, dass geschlossene Bewusstseinssysteme nur über Kommunikation miteinander verkehren können, zielen literarische Techniken des Realismus auf ›synreferentielle‹ (Peter Heijl) Maximierungen, d.h. ein größtmögliches Wieder(v)erkennen des Selben im Anderen, das dann mit Kategorien wie ›wirklichkeitsnah‹, ›lebensecht‹ (authentisch) usw. ratifiziert wird. Diesem Illusionsrealismus steht ein ›Desillusions-Realismus‹ gegenüber, der von der Warte einer Ästhetik der Negativität (Th. W. Adorno, K. H. Bohrer) aus gesehen sicher auf Flaubert zuträfe und dessen ästhetizistische Beschränkung konzeptuell und politisch dann spätestens von Brecht wieder in Frage gestellt würde. 78

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Epoche wird, die der Utopie Vorrang vor der Analyse gebe, sei dahingestellt. Daher möchte ich mich nun auf die Frage konzentrieren, wie sich in einem Landroman, der Mythos und Geschichtlichkeit auf sinnträchtige Weise verschränkt, die Geschlechterdifferenz als Differenz der Kulturen artikuliert. Dabei richtet sich meine Aufmerksamkeit auf das Wechselspiel narrativer und rhetorischer Verfahren, das mythische Antinomien unterläuft, dabei aber das Begehren im Ruf nach den ›Müttern‹32 zum Verstummen bringt. Dieser folgenreichen imaginären Fixierung entspricht eine sich in geologischen Sinnbildern vollziehende Allegorese melancholischer Versteinerung, die das Signifikat wahrer Liebe im Jenseits des Geschlechtlichen fundiert.

Virgo und Virago In Jeanne schlägt sich die Geschlechterdifferenz sozusagen genealogisch nieder, im konfliktuösen Aufeinandertreffen einer matriarchalischen Kultur mit dem nachrevolutionären ›Bürgerkönigtum‹. Die aktantielle Grundstruktur des Romans entfaltet sich ausgehend vom semantisch produktiven Gegensatz zwischen a-historischem Mythos und patriarchalisch initiierter Geschichte. Dabei wird das Phantasma reiner Weiblichkeit durch die synkretistische Engführung von keltischer Überlieferung und christlicher Mystik einer unterschwellig paradoxen Vorgeschichtlichkeit zugeordnet, welche gerade aufgrund ihres prä-historischen Status zeitlos in der Geschichte weiterwirkt. Die grundlegende Nachträglichkeit der Geschichte(n), die sich im Plot des Romans reflektiert, käme der psychoanalytisch konzipierten performativen Struktur des Traumas gleich. Da das traumatische Ereignis nicht erinnerbar ist, äußert es sich nur verschoben in seinen Wirkungen, welche semantisch als deformierte betrachtet werden müssen. Obgleich die Gedächtnisproblematik in Jeanne einen großen Stellenwert erhält, bleibt der Prozess des Erinnerns unproblematisch. Es wird davon ausgegangen, dass man die fernste Vergangenheit anhand ihrer Zeichen und Spuren eindeutig zu entschlüsseln vermag, wenn auch mit jener Verzögerung, wie sie dem ›analytischen Genre‹ eignet, ob als Tragödie oder Kriminalroman. So lässt sich die unwahrscheinliche Fabel des Landromans in wenigen Sätzen zusammenfassen: Nachdem drei junge Männer, die in der unwegsamen Gebirgslandschaft der Creuze den keltischen Goldschatz suchen, einer blutjungen Hirtin, die sie eingeschlafen auf einem Find-

32. Vgl. dazu Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800-1900, 3., vollständig überarbeitete Neuauflage, München 1995, S. 37ff. 79

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ling antreffen und mit der Göttin Velleda vergleichen, drei Münzen in die Hand gedrückt haben, erkennt der adelige Jüngling Guillaume de Boussac in dem Mädchen, dem er drei Jahre später alleine in dessen entlegenem Heimatdorf wiederbegegnet, seine frühere Milchschwester wieder. Doch deren Mutter Tula, seine einstige Amme, verstirbt vor seinen Augen, bevor Guillaume das Unrecht, das seine Familie ihr antat, wieder gutzumachen vermag. Nachdem Jeanne die mütterliche Leiche aus ihrer brennenden Hütte gerettet hat, bewahrt der ritterliche Beschützer die arme Waise nicht nur vor den unsittlichen Plänen ihrer bösen Tante, sondern auch vor den Nachstellungen eines libertinen Nebenbuhlers, des bürgerlichen Advokaten Léon Marsillat. Auf Anraten des Pfarrers nimmt der junge Baron Jeanne als Bedienstete ins Schloss seiner Mutter auf, erkrankt aber aus unerfüllter Liebe zu ihr an Melancholie und geht deswegen mit seinem Freund, dem reichen Engländer Sir Arthur Harley, ein Jahr auf Reisen. Inzwischen wird Jeanne wider Willen zur Konkurrentin von Töchtern wohlhabender Familien auf dem Heiratsmarkt. Obwohl Intriguen gegen sie scheitern, bleibt ihre Lage ausweglos. Als verfolgte Unschuld ist Jeanne von drei Bewerbern umstellt, die sie alle ablehnt, weil sie ihrer Mutter, wie sich am Schluss herausstellt, ein Keuschheitsgelübde ablegte. Es geht darauf zurück, dass sie die drei Geldstücke, die sie einst beim Erwachen vorfand, für einen heiligen Feenzauber hielt. Bevor die keltische ›Jeanne d‹Arc’33 den Folgen eines fatalen Fenstersprungs erliegt, mit dem sie sich, zunächst scheinbar unverletzt, aus sexueller Bedrängnis befreite, bekennt sie sich zu ihrem Reinheitsschwur. George Sands die ›Oral History‹ vorwegnehmende Einsicht, dass die Geschichte der unteren Schichten nicht in Büchern aufgezeichnet sei34, sondern sich im magisch-symbolischen Gehalt vermeintlich abergläubischer Volkserzählungen, den légendes rustiques, niederschlägt, steht in enger Verbindung zur Inszenierung der Geschlechterverhältnisse. Denn im keltentümelnden Landroman verläuft die Grenze zwischen Männlichem und Weiblichem entlang einer Schranke der Alphabetisierung. Jeannes Identität ergibt sich daraus, dass sie ihre Gedanken nicht zu formulieren vermag: »Du moment où elle sait lire et écrire, elle […] est autre«35, d.h. »von dem Augenblick an, wo sie lesen und schreiben kann, ist sie (ein/e) ander/e/s«. Indem das Fehlen einer

33. Es ist interessant, dass die keltische Johanna, die einer engen Mutter-Symbiose entspringt, sich mit dem Schwur auch symbolisch dem ›mütterlichen Gesetz‹ verpflichtet. In Marie d’Agoults Stück Jeanne Darc hat Jeanne keine Mutter mehr, ist also Halbwaise. 34. Vgl. G. Sand: Jeanne, S. 87: »la tradition orale est l’histoire omise dans les livres et conservée dans les symboles du peuple«. 35. G. Sand: Notice, S. 2. 80

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grundlegenden Kulturtechnik zum ontologisierten Existenzvorteil nobilitiert wird, zieht die geschlechtsspezifische Schriftkompetenz die Grenze zwischen weiblicher Natur und männlicher Kultur, verklärter Vorzeit und rousseauistisch abgewerteter Moderne. Die ungebildete Kreatur36 wird zur nostalgischen Synekdoche einer mütterlichen Erde, die den phallisierten Pflug nicht erträgt: »une lande inculte […] où la charrue n’a jamais passé […] où l’homme semble encore conserver son type gaulois et ses croyances fantastiques«, d.h. »ein unkultiviertes Brachland, wo die Menschen noch ihren gallischen Typus und ihre abergläubischen Phantasien bewahrt haben«. Die hieroglyphischen Spuren dieser im zeitgenössischen Alltag verborgenen Inseln einer »erste[n] abendländische[n] Zivilisation« (2) 37, vermag nur ein seherischer Dichter zu entziffern: »Dans les montagnes de la Creuse, […], au milieu du site le plus pauvre, le plus triste, le plus désert qui soit en France, […], vous examinerez ces roches disposées dans un certain ordre mystérieux, et assises, par masses énormes, sur de moindres pierres où elles se tiennent depuis une trentaine de siècles dans un équilibre inaltérable. Une seule s’est laissée choir sous les coups des premières populations chrétiennes, ou sous l’effet du vent d’hiver« (5). »In den Bergen der Creuse, […], mitten in der ärmsten, trostlosesten und verlassensten Gegend, die es in Frankreich gibt, findet man jene Felsmassive vor, die von einer geheimnisvollen Anordnung zeugen. Obwohl die großen, schweren Steine auf den kleineren, leichteren aufruhen, halten sich diese Gebilde seit dreitausend Jahren in einem unumstürzlichen Gleichgewicht. Ein einziger Stein ist gefallen, unter der Einwirkung der ersten christlichen Bevölkerung dieses Landstrichs oder unter den Schlägen der Winterstürme«. Die Verschriftlichung einer schriftlosen Vorgeschichte, die diese zur Kenntlichkeit ent-stellt, könnte auch als Metapher weiblicher Autorschaft gelesen werden, insofern sie sich als ›Echokammer‹ (Barthes) ihrer männlichen Tradition konstituiert. Die Ausnahme, die George Sand selbst als Exempel statuiert38, kehrt im steinernen Emblem der Heldin wieder, einem gefallenen Menhir, der ihr märtyrerhaftes Selbstopfer markiert. Sands privatmythologische Überdetermination der Keltenkunde zeigt sich vor allem daran, dass sie einer grausamen Krieger-

36. So widmet George Sand ihren Roman einer weisen alten Spinnerin, die die Buchstaben nicht kennt. 37. Fortan werden die Seitenzahlen der benutzten Ausgabe in Klammern zitiert. 38. George Sand: »Lettres d’un Voyageur«, in: Œuvres autobiographiques, hg. von Georges Lubin, Paris 1970, Bd. 2, S. 633-943, hier: S. 661ff., S. 872f. 81

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kultur friedliche matriarchalische Züge39 verleiht.40 Indem sich das Christentum als barbarisch entlarvt, kommt die Menschlichkeit der Heiden dadurch umso prägnanter zum Vorschein. Während ihrer 800jährigen Geschichte, die den ganzen europäischen Raum überspannte, hatten sich die legendären Kelten, die keine einheitliche Gesellschaft, sondern ein Ensemble heterogener Stämme und Migrationen bildeten, der Aufzeichnung ihrer Traditionen und Gebräuche41 entzogen, die, abgesehen von einigen antiken Zeugnissen42, erst als bereits christianisierte überliefert wurden.43 Das keltische Phänomen, das die zeitgenössischen Literaten und Archäologen faszinierte44 und Wissenschaft und Popkultur heute noch beschäftigt45, war also von vorneherein ein synkretistisches Palimpsest. Doch Sand normalisiert die ›Ent-stellung‹ infolge vielfacher Überschreibung zur ewigen Präsenz einer Vergan-

39. Im Brief an den Kritiker Nisard (Lettre XII, S. 940) wird ihr privater Keltinnen-Mythos deutlich: »Dans les siècles de foi […], l’abnégation et la patience étaient des vertus qu’il fallait recommander par-dessus tout à des femmes récemment sorties des autels druidiques, […] et du conseil de guerre où leurs époux les avaient peut-être un peu trop laissées s’immiscer«. 40. Obwohl die nationale Keltenforschung erst unter Napoleon III. (1852-1870) begann, dem es darum ging, mit der Erinnerung an den ruhmreichen Kampf der Gallier gegen die Römer das Selbstbewusstsein einer durch den Wiener Kongress gedemütigten Nation zu heben, hatte George Sand Zugang zu romantischer Geschichtsforschung und literarisierten Mythen, wie etwa dem Ossian, von dessen Lektüre sie in ihrer Autobiographie berichtet. 41. Vgl. z.B. Maurice Meuleau: Les Celtes en Europe, Rennes 2004, darin auch weitere Literaturangaben; Helmut Birkhan: Kelten – Celts. Bilder ihrer Kultur, Wien 1999. 42. So etwa bei Herodot, Polybios, Strabon, Plinius d.Ä., Titus Livius, vor allem natürlich Gaius Julius Cäsar, De bello gallico. 43. Hatte Bodmer, einer der Schweizer Kontrahenten Gottscheds, schon Anfang des 18. Jahrhunderts die nordischen Mythen entdeckt, suchte der romantische Altertumsforscher Friedrich Creuzer die Ursprünge der abendländischen Mythologie nicht nur in Asien, sondern auch bei den Kelten. Dass sie fortan wie die Germanen auch zum Thema nationaler Identitätssuche wurden, ist kaum verwunderlich. 44. Der christliche Romantiker Chateaubriand befasste sich intensiv mit den Kelten, aber auch Leroux, mit dem George Sand in den 40er Jahren journalistisch zusammenarbeitete, war an den ›filiations judéo-chrétiennes‹ des Keltentums sehr interessiert. Diese Hinweise verdanke ich Béatrice Didier. 45. Zum neuen Millenium gab es auch in Deutschland etliche Ausstellungen über die Kelten. An der Universität Leipzig besteht eine Forschungsstelle unter Leitung von Sabine Rieckhoff, Professorin für Ur- und Frühgeschichte. Die popkulturellen Wirkungen zeigten sich nicht nur in den Asterix-Comics, sondern auch in den Harry Potter-Fortsetzungsromanen. 82

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genheit, die nicht mehr überliefert, sondern inkorporiert erscheint, eingeschrieben in den weiblichen Körper. So setzt sich die Schäferin Jeanne, als Wiedergängerin der Druiden-Priesterin46 Velléda (10), vornehmlich aus Bildungszitaten zusammen. Die »créature rustique« (250) und »froide Galathée« (295) wird als »Isis gauloise« (190) zwar mit so unterschiedlichen griechischen Göttinnen wie Juno, Hebe oder Pallas Athene (250) verglichen, verkörpert aber vor allem jene keuschen Gestalten, die ihre eigene Phantasie zu freudschen Mischpersonen verdichtet. »Jeanne d’Arc dont elle ne savait pas le nom entier, mais qu’ elle appelait la belle Jeanne […], était peut-être pour elle une fade ou une druidesse« (282), d.h. »Jeanne d’Arc, deren vollständigen Namen sie nicht einmal kannte, die sie aber die schöne Johanna nannte, war für sie vielleicht eine Fee oder eine Druidin«. Der Spekulation eines auktorialen Kommentars, der sich in der Tradition des 18. Jahrhunderts oftmals in die Erzählung einmischt, geht die Autorität aufgeklärten Wissens voraus: »Jeanne était une radicaliste païenne. La vierge Marie et la grand’ fade se confondaient étrangement dans l’imagination poétiquement sauvage de la bergère« (192), d.h. »Jeanne war eine radikale Heidin. In der poetischen Phantasie der Schäferin verschmolz die Jungfrau Maria auf seltsame Weise mit der Großen Fee.« Sands sensualistischem Deismus widerspricht es nicht, dass sich das keltische Zeichen in christlichen Sinn übersetzt, Religion in Literatur. »C’était un être exceptionnel, se rattachant, comme j’ai dit, à un type rare qui n’a pas été étudié, mais qui existe, et qui semble appartenir au règne d’Astrée« (192), d.h. »Sie war ein außergewöhnliches Wesen, ein Typus, der zwar nicht erforscht worden ist, aber existiert und der zum Reiche der Astrée zu gehören scheint«. Im Stichwort einer barocken Maskierung, die nach Foucault auf die Episteme der Analogie zurückverweist47, manifestiert sich ein romantisierendes Applikationsverfahren, das sich die Überlieferung selbst erfindet, ungeachtet des textuellen und historischen Status seiner Quellen. Doch paradigmatische Beliebigkeit gewinnt syntagmatisch eine symptomatisch anmutende Logik. Mit dem Einbruch des Männlichen, das die statische Szene einer wüsten, aber zugleich ›sprechenden‹ Dolmenlandschaft betritt, beginnt nicht nur die Ordnung der Geschichtlichkeit, sondern

46. Vgl. z.B. Miranda Green: Les druides, Paris 1997. Man weiß nicht, ob es bei den Kelten überhaupt Priesterinnen gab. Überliefert ist nur ein druidischer Diplomat, der mit Cäsar verhandelte. Selbst die keltischen Göttinnen (wie Brigit) wirken als ›TöchterGattinnen‹ oberster Götter eher wie patriarchalische Konstrukte. 47. Vgl. dazu Michel Zéraffa: »Raison du cœur et raison de l’›Astrée‹«, in: Michel Zéraffa/Didier Coste (Hg.), Le récit amoureux. Colloque de Cérisy 1982, Paris 1984, S. 39-53. 83

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auch die Dynamik der Geschichte im narrativen Sinne. 1816, also ein Jahr nach dem Wiener Kongress, dem entscheidenden Datum der politischen Restauration, suchen drei junge phantasievolle Freunde zum Scherz nach jenem Schatz, der in der poetisierten Gestalt einer schlummernden Kindsbraut wie eine Evidenz vor ihren Augen liegt, und zwar auf einem Stein: »elle prit à son insu une pose incroyablement gracieuse« (12), d.h. »sie nahm, ohne es zu merken, eine unglaublich graziöse Haltung ein«. Flugs kürt männliches Begehren die engelhafte Erscheinung, die der Urzeit die Morphologie der Kindheit verleiht, zum Gegenstand positivistischer Wissenschaft. Die ›reine Rasse‹ der Kelten, die sich im Laufe der Geschichte nie verändert habe, nimmt jedoch mit den rhetorischen Figuren, die den argumentativen Diskurs durchkreuzen, die Physiognomie eines Vexierbilds an, das in den Augen der Erzählinstanz in genialischer Zweideutigkeit zwischen dem Klassisch-Antiken und dem Romantisch-Christlichen oszilliert. »[…] nous croirions […] que le pur sang de la race gauloise primitive s’est conservée jusqu’à nos jours sans mélange, dans quelques tribus rustiques de nos provinces centrales. La dormeuse était donc blanche comme l’aster des prés et rosée comme la fleur de l’églantier. […] Ses traits admirables […] comme celui des statues antiques. Les lignes les plus pures et un calme angélique« (13). »[…] wir würden glauben, dass das reine Blut der ursprünglichen gallischen Rasse sich bis in unsere Tage unvermischt erhalten hat in einigen ländlichen Stämmen unserer zentralen Provinzen. Die Schläferin war weiß wie eine Wiesenaster und rosafarben wie die Blüte der Heckenrose. […] Ihre bewundernswerten Züge [ähnelten] denjenigen antiker Statuen, reinste Linien und eine engelhafte Ruhe«. Da George Sands Mischtechnik hauptsächlich aus der Kombination von Mythenversatzstücken mit den bekannten Bildern aus der mystischen Tradition besteht, läge die Disparatheit ihres Schreibens vielleicht auch darin, dass sie eine idealträchtige romantische Topik oft derart unvermittelt mit realistischer Narration, etwa bei der Milieuzeichnung oder Dialogführung, verbindet, dass die Stilbrüche deutlich sichtbar bleiben. Auf semantischer Ebene befördert diese disharmonische Doppelung eine grundlegende Ambivalenz. Denn von der Virgo ist es – ganz buchstäblich – zur Virago nicht weit. Nicht nur verkehrt eine Autorin, die sich gern »homme de lettres« nannte, auch im Roman die stereotypen Geschlechterrollen, indem männliche Aktivität von weiblicher Passivität übertrumpft wird, sondern kürt ihre Heldin zur messianischen Retterin, deren Reich aber immer schon angekommen und daher melancholisch erstarrt48 ist.

48. Die in Sands privaten Aufzeichnungen redundante Erwähnung melancholi84

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Magische Dreifaltigkeit und ein verschlossener Muttermund Der triadischen Konstellation dreier Bewerber, die unterschiedliche Gesellschaftsschichten und epochale Tendenzen verkörpern, korrespondiert eine dreistufige Geschichtsteleologie, deren rousseauistischem Prätext entsprechend die Natur nach ihrer Entfremdung in der Kultur wieder zum Ursprung zurückkehrt.49 Doch die sinnbildliche Wiederaufnahme der magischen Dreizahl in den Dingrequisiten (Geldstücke, Metalle) sowie im dreifachen Gelübde eines offiziösen Sprechakts verdeutlicht, dass der soziale Raum sozusagen im mythischen implodiert. Dabei wird die symbolische Differentialität signifikanter Bedeutungsprozesse in einem imaginären Ornament fixiert. Die drei Freier verkörpern drei Zeiten, drei Klassen und drei Wertvorstellungen: der durch seine troubadourische Liebe hysterisierte Guillaume de Boussac50 den Adel des Ancien Régime, der zynische Rechtsanwalt Léon Marsillat das libertine Bürgertum und schließlich der englische Millionär Sir Arthur Harley einen wohltäterisch gebremsten Kapitalismus.51 Ironischerweise wünschen diese drei männlichen Feen ihrem weiblichen Findling jeweils jenen Gatten, der aus der Extrapolation ihres eigenen Charakters hervorgeht, ›einen reichen und starken Beschützer‹ (Boussac), ›einen feurigen Liebhaber‹ (Marsillat) sowie einen ›guten und redlichen Ehemann‹ (Harley). Dem Zufallsfund eines idealen Objekts begegnen die jungen Herren mit der Gegengabe des Geldes, ohne zu ahnen, dass es sich in Jeannes Händen zum Machtmitttel über ihr Schicksal verwandeln wird. Die Erbin der keltischen Tradition schwört nämlich im Namen ihrer Mutter den metallischen Substituten ab, indem sie sie durch moralische Gebote ersetzt: Armut gegen Gold, Keuschheit statt des verdächtigen Silberlings und Demut für das profane Kupferstück (317). Dieser Schwur, den die Protagonistin erst auf dem Sterbebett enthüllt, verursacht zwar ihren frühen Tod, wird aber gerade dadurch zur Bedingungsmöglichkeit männlicher Sublimation. Indem die sterbende Jungfrau, wie Balzacs androgyner Erzengel Séra-

scher Zustände und Krisen wäre daher eventuell auch aufschlussreich für die romaninterne Psychologisierung. 49. Vgl. dieses rousseauistische Modell bei Schiller (Über naive und sentimentalische Dichtung, 1795). 50. Das Schloss Boussac, das Sand kurz vor der Niederschrift des Romans besuchte, liegt in der Creuze, auf der Grenze zum Berry. Von den Engländern im 100-jährigen Krieg zerstört, hat es Jean de Brosse, ein Kompagon Jeanne d’Arcs zwischen 1420 und 1430 wieder aufbauen lassen. Prosper Mérimée bemerkte dort 1841 die sechs berühmten Tapisserien der Dame mit dem Einhorn. 51. Die Konstellation einer Frau zwischen drei Männern kommt schon in Lélia vor und ist bei George Sand werkübergreifend. 85

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phîta/Séraphîtus noch rasch die Ehe des heterosexuellen Idealpaars stiftet, wird ihr Verzicht auf den geliebten Engländer (352) zugunsten ihrer Busenfreundin Marie, Guillaumes Schwester, zum Paradigma der Entsagung, mit dem sie als leeres Zentrum der Macht über das Leben aller beteiligten Männer entscheidet. Ist der Keltensaga in Sands Landroman ein mädchenhaftes Gesicht und eine mütterliche Stimme verliehen, scheint sie damit jene Polarisierung der Geschlechtscharaktere zu bestätigen, die mit der Trennung von Familie und Erwerbsleben, Öffentlichkeit und Privatsphäre, im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft einherging. Steigt Weiblichkeit im rousseauistischen Diskurs zum Geheimnis einer romantisierbaren Natur auf, die ihrerseits zunehmend verweiblicht erscheint, wird sie dadurch gleichzeitig zur stummen Quelle männlicher Kultur. Diese ideologische Recodierung der Geschlechter, die sich ebenso gegen die Salondame des Ancien Régime wie gegen die Gelehrte der Aufklärung richtet und weiblicher Autorschaft eigentlich skeptisch gegenüberstehen müsste, entspricht der metatextuellen Verknüpfung von Oralkultur und romantischer Musikalisierung, wie sie sich auch in Sands Text bemerkbar macht. Das immer schon verlorene Objekt, das die tote Mutter bedeutet, wird erinnert in einer von der Muttersprache verdrängten keltischen Sprache. So erkennt Guillaume die Heimat seiner Amme an deren archaischer Mundart wieder: »Ce patois qu’il avait oublié, il se souvenait maintenant de l’avoir parlé avec sa nourrice avant de parler français« (32), d.h. »Er erinnerte sich plötzlich daran, diesen Dialekt, den er vergessen hatte, mit seiner Amme gesprochen zu haben«. Wenn George Sand Wörter und Redensarten erfindet, die einen klanglichen Kompromiss zwischen Hochsprache und lokalem Idiom bilden, wobei sie etwa »pastoure« für »bergère« einsetzt, aber nicht »fumelle« für »femelle«52, zeigt sich darin zwar der künstliche Charakter jeder natürlichen Sprache, aber nur, um als archaischer re-naturalisiert zu werden. Entsprechend psychologisiert Sand den Mythos durch die affektgeladene Inszenierung einer Mutter-Tochter-Symbiose (110f.), die Freud später für die unerforschte ›mykenische Vorzeit‹ weiblicher Subjektivität halten wird. So wird Jeanne zur Deckerinnerung einer Matriarchin, deren Leib sie vor dem Verbrennen bewahrt53, wobei sie

52. Vgl. Pierre Salomon/Jean Mallion: »Présentation«, in: George Sand, La Mare au Diable. François le Champi, Paris 1956, S. 179-197, hier: S. 190. 53. Hier gemahnt sie an Kleists Käthchen, indem sie die Feuerprobe besteht. Eine spätere motivische Parallele ergibt sich durch den ›Jungfernsprung‹. Vgl. Annette Runte: »Text – Bild – Schrift. Zur Rhetorik der Geschlechter in Kleists ›Käthchen von Heilbronn‹«, in: Marianne Schuller/Nikolaus Müller-Schöll (Hg.), Kleist lesen, Bielefeld 2003, S. 117-142. Die Affinität Pierre Leroux’, Sands damaligem Mentor, zum Mesmeris86

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›SINGENDE STEINE‹

dabei in der Hochsprache ausruft: »Je ne veux pas que ma mère ait son pauvre corps brûlé comme un meuble de la maison« (97), d.h. »Ich möchte nicht, dass der arme Leib meiner Mutter wie ein Möbelstück verbrannt wird«. Im Unterschied zu Kleists Käthchen von Heilbronn besteht sie ihre Feuerprobe nicht unter der Ägide eines väterlichen Gesetzes. Als Jeanne den mütterlichen Leichnam auf dem heiligen Stein von Ep-Nell aufbahrt, preist der Erzähler sie in christlich anmutenden Bildern als »unbefleckte Rose« und »Spiegel der Reinheit« (107). Der Körper der Mutter, der sein Mahnmal im steinernen Denkmal erhält, muss zum Singen gebracht werden, damit er nicht zum Felsen eines unmöglichen Realen54 erstarrt.

Versteinerungen Obwohl sich Jeanne als Zofe bei einem höfischen Maskenspiel in eine Marquise verkleiden ließ, bleibt sie das unverführbare Hirtenmädchen, das sie von Anfang an war. Ihre Person, die sich im Gegensatz zu den anderen Romanfiguren nicht entwickelt, gerät deswegen zum quasi-religiösen Heiligenbild: »[…] sous un arbre, rêvant d’Ep-Nell, de sa mère, des grandes bruyères où elle faisait pâturer ses chèvres, et des bonnes fades qui veillaient sur elle« (180), d.h. »[…] unter einem Baum träumte sie von Ep-Nell, ihrer Mutter und der Heide, wo sie die Schafe hütete und die guten Feen über sie wachten«.55 Als ihre Freundin Marie Jeanne darüber aufklärt, dass es nicht Zauberinnen, sondern männliche Verehrer waren, die einst die mysteriösen Geschenke für sie hinterließen, will sie von dieser »kalten Wahrheit« nichts wissen und beharrt schon deswegen auf ihrem (Aber-)Glauben, weil er von ihrer Mutter stammt: »Je ne peux pas dire que ce soit faux, ma mère y croyait« (229), d.h. »Ich kann nicht sagen, dass es falsch ist, denn meine Mutter glaubte daran«. Dem Spiritualismus einer »unmenschlichen Schäferin« (237) steht im V. Kapitel – mit dem anspielungsreichen Titel »Die Gelehrsamkeit eines Landpfarrers« (68) – jedoch der Rationalis-

mus bekunden manche Stellen in George Sands »Entretiens Journaliers«, etwa vom Dezember 1840, in: Œuvres autobiographiques, Bd. 2, S. 979-1018, hier: S. 1007-1009. 54. Im Sinne der Lacanschen Topologie, die die differentielle Ordnung des Symbolischen vom imaginären Register (der Bilder) unterscheidet und dabei die dritte Dimension, das nicht mit der Realität zu verwechselnde Reale, in den Rang einer transzendentalphilosophischen Grenze erhebt. Es deutet auf das Unsagbare, ebenso auf den Tod wie auf das stumme Genießen. 55. Klanglich erinnert der Name des heiligen Opfersteins Ep-Nell an die Bildchen von Epinal, den Inbegriff sentimentaler Heiligenbildchen in Frankreich. 87

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ÜBER DIE GRENZE

mus eines katholischen Geistlichen gegenüber, der in Jeannes Heimatdorf seiner aufgeklärten Neugierde nachgeht. So ist der von Voltaire geprägte Nachfolger christlicher Missionare ethnologisch jenen Kelten auf der Spur, deren moderne Nachfahren er seelsorgerisch betreut. In einem Dialog mit dem Baron, Guillaume de Boussac, präsentiert er aber nicht nur sein positives Wissen, sondern zeigt auch Respekt vor einer anderen Kultur, deren Nebeneinander von weißer und schwarzer Magie der Spaltung des romantischen Frauenbildes entspricht. »Il y a ici deux espèces de sorcellerie: une qui est la mauvaise, […] toutes les méchantes magiciennes qui donnent de mauvais conseils aux filles […]. Au contraire, les femmes qui ont la connaissance, comme on les appelle ici, qui guérissent les malades, […], ces bonnes femmes-là, quoique entâchées d’erreurs, sont pieuses d’intentions et tout à fait inoffensives. Elles ont seulement un peu d’entêtement pour leurs prières d’Ep-Nell et leur trou-aux-fades, situé du même côté. Telle était la pauvre Tula [qui descend] de la druidesse Tulla vel Turica, dont vous avez pu reconnaître le temple à son emplacement et à ses fondations à double enceinte sur notre montagne.« (79) »Es gibt zwei Arten von Hexerei: eine bösartige […], alle bösen Magierinnen, die jungen Mädchen schlechte Ratschläge erteilen […], und dann, ganz im Gegensatz dazu, diejenigen Frauen, die das Wissen besitzen, wie man sie hier nennt, die Kranke heilen, […]; diese Frauen, wiewohl noch von Irrtümern befallen, haben fromme Absichten und sind ganz und gar harmlos. Sie sind nur etwas verstockt, was ihre Gebete zu Ep-Nell und dem Feenloch angeht, das auf der selben Seite [wie das Steinmassiv Ep-Nell, A. R.] liegt. So etwa war die arme Tula, die von der Druidin Tulla oder Turica abstammt und deren Tempel Sie auf unserem Berg an seinem Fundament und den doppelten Ringwällen erkennen konnten.« Jeanne, die ihren Verehrer Guillaume zeitweilig von seinen psychosomatischen Störungen heilt, wird als Abkömmling jener hohen Linie identifiziert, der die Steinlandschaft ein Denkmal setzt. Wirft der Erzähler dem Priester vor, die Kelten mit ihren gallischen Eroberern zu verwechseln56, so tendiert die Verfasserin ihrerseits dazu, das Keltische kontrafaktisch in die viel ältere Steinzeit zu verlegen. Verweist die zentrale Gesteinssymbolik allerdings auf keltische Opfer- und Grabstätten, chiffriert sie darüber hinaus das Mütterlich-Körperliche, d.h. die materielle Bedingungsmöglichkeit eines kulturellen Gedächtnisses. Die geologische Topographie einer in ihrer Öde erhabenen Landschaft fungiert insofern auch, dem literarischen Vorbild der Romantik gemäß, als metapoetisches Gleichnis der Stimm- und Gesichtsgebung. Denn

56. »Le curé de Tull se conformait apparemment à l’habitude que les Romains nous ont laissée jusqu’à présent de confondre les Gaulois, nos véritables aieux, avec les Celtes conquérants, de race toute différente« (77, Anm. 1). 88

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›SINGENDE STEINE‹

aus den Findlingen werden, in der parabolischen Rede des Pfarrers, ›singende Steine‹: »[…] des pierres-levées […] curieuses […]. Il y en a une dont l’équilibre est bien plus admirable que celui du grand champignon du mont Barlot. Elle est si artistiquement soutenue, que le moindre vent l’agite, et pour peu que l’air soit seulement un peu vif, elle rend en tremblant et en grinçant sur son support, un son particulier qui ne manque pas de charme, et qui m’expliquerait assez la voix mystérieuse de l’idole de Memnon au lever du soleil« (77). »Die hoch aufgerichteten Steine […], ganz erstaunlich. […] Ihr vollständiges Gleichgewicht ist noch bewundernswerter als jenes des großen Pilzes vom Berg Barlot. [Diese Steingruppe] wird auf so kunstvolle Weise gestützt, dass sie den geringsten Windzug, der durch sie hindurchgeht, zitternd [wie eine Harfe, A. R.] und auf ihrer Unterlage quietschend wiedergibt, zumal dann, wenn die Luft etwas bewegt ist. Daraus geht ein besonderes zauberhaftes Tönen hervor, das auch die geheimnisvolle Stimme des Memnon-Kolosses bei Sonnenaufgang erklären könnte.« Obwohl diese kunstvolle Assemblage in ihrem prekären Gleichgewicht wie eine versteckte Anspielung auf das klassische Ganzheitsideal einer goethezeitlichen Ästhetik wirkt, errichtet sie als steinerne Äolsharfe auch ein Monument für die Autorin George Sand57, der kein Geringerer als Flaubert viel Sensibilität für den Zeitgeist bescheinigte. Der Wind, der durch die aufgeschichteten Steine weht, genügt, um dem Gebilde klagende Töne zu entlocken. Die damals sehr geläufige Memnon-Reminiszenz58 deutet auf die romantische Tendenz hin, die Rhetorik der Verbildlichung metapoetisch, d.h. etwa mittels narrativer Verfahren, zu artikulieren, wie Bettine Menke am Beispiel der literarischen Inszenierung des Echos gezeigt hat.59 Während die Prosopopoiia, die als sprechen machende Figur indes selber stumm bleibt, die Verlebendigung des toten Buchstabens in der Stimme fingiert, eröffnet die Allegorie, als Figur der Schriftlichkeit, die Dimension der Kontingenz bzw. Endlichkeit im Hiatus einer Willkür zwischen Bedeutendem

57. Im Briefwechsel mit Flaubert gebraucht sie öfter diesen Vergleich mit einer alten Äolsharfe: »[…] l’extase complète par le cœur, l’esprit et les sens […]. Il n’en faut pas davantage aux instruments de notre vibration. Le vent continuel des petits appétits les briserait«, so im Brief vom 30.11.1866, in: Gustave Flaubert/George Sand: Correspondance. Texte édité, préfacé et annoté par Alphonse Jacobs, Paris 1981, S. 103-105, hier: S. 104. 58. Zum Beispiel nicht nur bei Romantikern (Clemens Brentano, Bettine von Arnim), sondern auch noch in den Geistlichen Gedichten der Annette von Droste-Hülshoff. 59. Bettine Menke: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000. 89

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ÜBER DIE GRENZE

und Bedeutung.60 Sie stellt sozusagen den Abgrund des Realen aus, den die metaphorische Übertragung, die bereits für Flaubert problematisch zu werden begann, verdeckt. Sands idealistischer Realismus scheint die romantische Selbstallegorisierung der Referentialisierung jedoch verbildlichend zu entschärfen. Das Ensemble der heiligen Steine, in dem ein Element das andere stützt, symbolisiert dabei, diesseits transzendentalpoetischer Höhenflüge, George Sands politisches Ideal einer solidarischen Volksgemeinschaft. In den letzten Worten der keltischen Demokratin Jeanne leuchtet bereits ökologisches Gedankengut auf: »Il y a un trésor dans la terre. Il n’est à personne, il est à tout le monde« (355), d.h. »In der Erde gibt es einen Schatz, der für alle da ist«.61 Noch der rationalistische Pfarrer demonstriert volkstümliche Weisheit an einem Stein: »La pierre d’Ep-Nell est beaucoup plus harmonieuse, car son chant est presque continuel, et nos pauvres paysans veulent qu’il y ait là-dedans un esprit enfermé qui raconte le passé et prédit l’avenir, en pleurant sur le présent.« (77) »Der Stein von Ep-Nell ist viel harmonischer, denn sein Gesang tönt fast ohne Unterbrechung, und unsere armen Bauern meinen, dass darin ein Geist eingeschlossen ist, der die Vergangenheit erzählt, die Zukunft voraussagt und die Gegenwart beweint«. Erst im Geist des Steins also, den bäuerlicher Aberglaube auf das Wesentliche reduziert, werden Geschichtlichkeit und Erzählung performativ in ihrer grundlegenden Zeitlichkeit erfasst und dabei zugleich auf die mythische Vorgeschichte bezogen. Indem den drei Phasen eines linearen Zeitkonzepts und den drei literarischen Genres, wie sie etwa Schiller konzipierte62, drei illokutionäre Kräfte zugeordnet werden, geht daraus eine die Geschichte transzendierende Botschaft hervor. Lässt sich die Vergangenheit idyllisch erzählen und die Zukunft utopisch voraussagen, so die Gegenwart nur elegisch beklagen. Der Landroman, der von Sentimental Novel und Schauerroman profitierte, mündet in Zeitkritik. Doch sein negatives Potential, das im zitierten Aphorismus sprichwörtlich mitschwingt, setzt voraus, dass der Mythos mit-

60. Vgl. Anselm Haverkamp/Bettine Menke: »Allegorie«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bänden, Bd. 1, Stuttgart, Weimar 2000. 61. Vgl. Renate Karst-Matausch: »›La nature s’en va‹. Auf den Spuren einer Naturforscherin und Ökologin«, in: G. Schlientz/G. Seybert (Hg.), George Sand, S. 249-280. 62. Vgl. Friedrich von Schiller (1795), »Über naive und sentimentalische Dichtung«, in: Sämtliche Werke in 5 Bänden, hg. von Peter-André Alt, Albert Meier und Wolfgang Riedel, Bd. V (Erzählungen und theoretische Schriften, hg. von Wolfgang Riedel), München, Wien 2004, S. 694-781. 90

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›SINGENDE STEINE‹

hilfe seiner erzählerischen Befriedung63 zur unmöglichen Vorgeschichte einer Geschichte wird, in der er immer schon wirkt. Damit aber würde die seit der Französischen Revolution ins Bewusstsein gerückte Geschichtlichkeit der Welt64 selbst als moderner Mythos entlarvt, der die Unmöglichkeit der Natur/Kultur-Differenz signifikant besiegelt. Als Romantikerin wehrt sich George Sand gegen ein männliches Wissensbegehren, das das weibliche Geheimnis zu enthüllen trachtet. Als Realistin ist sie ihm selbst auf der Spur, im zwittrigen Medium eines überzeitlichen Zeitromans, der für sie die höchste Gattung darstellt.65 So trägt die Dialektik zwischen historisiertem Mythos und mythisierter Historie zu einer metaleptischen66 Selbsterzeugung der Reinheit bei, deren melancholisches Erstarren, auch unter biographischen Aspekten, traumatisch fundiert ist.67

Reinheitsgebote Wenn Jeannes freiwilliger Sturz aus dem Fenster einer Schlossruine gänzlich der Beschreibung entzogen und nur in seinen Folgen dargestellt wird, deutet dies auf die konstitutive Nachträglichkeit des Traumas hin, als einer historischen Zäsur, die die Geschichte auslöscht. Das märchenhafte Motiv des ›Jungfernsprungs‹, mit dem die Flucht vor dem teuflischen Verführer endet, geht in der europäischen Folklore nicht immer mit einem Wunder aus.68 Auch hier trügt es. Zunächst

63. Vgl. Kai van Eikels: Zeitlektüren. Ansätze zu einer Kybernetik der Erzählung, Würzburg 2002, S. 453. 64. Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 1979, S. 76ff. 65. »Je ne fais pas de romans de l’Histoire, j’écris des romans dans l’Histoire«, provozierte George Sand, zitiert in: einem Interview von Michelle Perrot, Magazine littéraire (431) 2004, S. 25. 66. Die Metalepse ist eine Trope, die voraussetzt, was sie erst auf rhetorischem Wege produziert. 67. Ins Gewicht fielen bei George Sand der frühe Tod des Vaters und die spannungsreiche Beziehung zu ihren ›zwei Müttern‹, der Mutter und der Großmutter, die völlig verschiedene Milieus repräsentierten und unterschiedliche Lebensentwürfe realisierten. Die Großmutter bezeichnete dem Kind gegenüber die leichtlebige Mutter als femme perdue, ein stigmatisierender Ausdruck, der sich dem kleinen Mädchen gleichsam einbrannte. 68. In der Steiermärkischen Sage der Anna von Gösting geht die Geschichte schlecht aus, in der Kärntner Sage von Hochosterwitz gut, ebenso in der Lausitzer Sage, die das Wunderbare betont. Es gibt übrigens zahlreiche Mönchs-Versionen, in denen der Mönch den Teufel repräsentiert. 91

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ÜBER DIE GRENZE

finden die Retter die Jungfrau verwirrt an einer Quelle sitzen; sie kann sich an nichts erinnern. Wenig später verscheidet sie in der Pose einer Johanna von Orléans und ähnelt in ihrer ekstatischen Versteinerung vollends jenen Madonnenstatuen des Canova, mit denen sie zuvor bereits verglichen wurde69: »[…] pâle comme la vierge d’albâtre qui recevait sa prière, les yeux ouverts et comme décolorés, […] le corps raide« (351), d.h. »[…] bleich wie die Jungfrau aus Alabaster, die ihr Gebet empfing, die farblosen Augen weit offen, der Körper steif«. Nur um den Preis einer phallisierenden (Ab-)Tötung wird das weibliche zum besseren Geschlecht: »Sie ist ein Engel« (197). Als reine Natur erhebt sich die Frau, die es nach Lacan nicht gibt, zum transzendentalen Signifikanten bzw. narzisstisch besetzbaren Phallus. Die logozentrische Ursprungsmythe stellt sich als unmögliche Selbstpräsenz der Stimme der Mutter heraus, die alles weitere Sprechen und Schreiben bedingt, aber nur dann ermöglicht, wenn man sie symbolisch getötet, d.h. sich von ihr (ab)getrennt hat.70 Dass Sand in Jeanne ihr mehrstimmiges Schreiben am Schluss wieder aufgibt, hat Henry James als Formlosigkeit empfunden. Der vermeintlichen Unwahrscheinlichkeit ihrer Romanhandlungen, die sich allein einer übertriebenen Plausibilität verdanke, nämlich dem generalisierten deus-ex-machina-Prinzip, entspräche die mangelnde Individualität ihrer übermäßig typisierten Figuren: »La narration est trop égale, trop diserte. […] On reproche […] justement, à ses romans le manque de vie des personnages dont aucun ne tient debout. [Ils] sont vagues dans les contours et déficients dans les détails. […] le discours galant est toujours présent.«71 »Ihre Erzählweise ist zugleich zu gleichmäßig und zu geschwätzig. […] Man wirft ihren Romanen zu Recht vor, dass ihre Personen des Lebens ermangeln und keine von ihnen wirklich ›steht‹. [Sie] sind vage in den Umrissen und mangelhaft im Detail. […] Sands Hang zur galanten Redeweise ist immer gegenwärtig.« Lag Sands Differenz zum Modernismus darin, die Umweltreferenz der Literatur vor der Systemreferenz72 zu privilegieren, zumal sie mit Pi-

69. Jeanne wird verschiedentlich mit den klassizistischen Marienstatuen des Canova (18. Jh.) verglichen. 70. Vgl. dazu Julia Kristeva: Histoires d’amour, Paris 1983. 71. Henry James: George Sand. Préface de Diane de Margerie, Paris 2004, S. 18ff., 43. 72. Vgl. G. Plumpe: Epochen moderner Literatur, S. 20ff. Vgl. Bétarice Didier: »Un ›grand fleuve d’Amérique‹: L’abondance comme facteur de renouvellement«, in: G. Schlientz/G. Seybert (Hg.), George Sand, S. 15-26, hier: S. 21: »son art évolue vers une 92

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erre Leroux73 an der sozialen und politischen Funktion der Dichtung festhielt, kann man sich zwar daran stoßen, dass George Sand im hier untersuchten Landroman ästhetisch einer formalen Schließung den Vorzug gab, aber es ist nicht zu übersehen, dass sie innerhalb dieses Rahmens eine neue und bis heute aktuelle Problematik eröffnete, jene der Conditio femina nämlich, die George Sand bereits als Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern, als eine Art von Doppelmoral74, entlarvte.75 Diese damals nicht sehr verbreitete Erkenntnis bedingt vielleicht auch das Pathos eines Wahrheitsdiskurses76, dem Flaubert mit ebenso ironischen wie erotischen Untertönen antwortete: »A propos d’archéologie celtique, j’ai publié […] une assez bonne blague sur les pierres branlantes«, d.h. »Was die keltische Archäologie betrifft, so habe ich […] einen ganz guten Witz über die sich reibenden [populär: sich masturbierenden, A. R.] Steine veröffentlicht.«77 Sollte man da nicht eher dem jungen Gottfried Keller zustimmen, wenn er in den letzten Zeilen eines Widmungsgedichtes an George Sand schreibt: »Es ist dein Herz ein Spiegel/Von Erdduft überhaucht,/ darein Gott oft beschaulich/Und tief sein Auge taucht«78?

forme de réalisme très personnel: le roman dit champêtre offrant un tableau très concret et souvent sombre de la campagne«. 73. Vgl. Jacques Viard: »Pierre Leroux, George Sand und Balzac«, in: G. Schlientz/G. Seybert (Hg.), George Sand, S. 289-317. 74. »Toutes les unions possibles seront intolérables tant qu’il y aura dans la coûtume une indulgence illimitée pour les erreurs d’un sexe, […] pour réprimer et condamner celles de l’autre« (G. Sand: Lettre XII, S. 942). Vgl. G. Sand: »Entretiens journaliers«, S. 988ff. 75. Insofern wäre Henry James’ Allergie gegen weibliche Autorschaft ebenso mit zu berücksichtigen wie seine Aversion gegen das bekenntnishafte Genre, wenn er sagt: »Une optimiste ›doublée‹ […] d’une romancière ne fait pas une moraliste«, d.h. »Eine Optimistin plus eine Romanschriftstellerin ergibt noch keine Moralistin«, in: H. James: George Sand, S. 56. 76. »Le poète élève la voix et dit aux hommes des vérités qui les irritent« (G. Sand: Lettre IX, S. 873). 77. In einem Brief an George Sand vom 22.09.1866, in: Gustave Flaubert: Correspondance. Choix et présentation de Bernard Masson, Paris 1998, S. 490f. 78. Zitiert in: K. Wiedemann: Zwischen Irritation und Faszination, S. 123f., hier: S. 123. 93

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Inversion und Perversion

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ZWITTRIGE ENGEL

Zwittrige Engel. Androgynie und Hermaphroditismus in französischer Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Im zweiten Gesang seines blasphemischen Prosagedichts Les Chants de Maldoror (1868/1869) lässt Lautréamont einen schlummernden Hermaphroditen, der das Gras, auf dem er ruht, mit seinen Tränen benetzt hat, von maskierten Schergen ergreifen, die ihn ins Irrenhaus bringen sollen. Doch vor dem Geheimnis eines Märtyrers, der zu ihnen wie mit Engelszungen spricht, weichen sie voller Verehrung zurück. Etwas Erhabenes, dem bereits dekadente Züge eignen, entzieht sich der Gewalt der Vernunft. »Là, dans un bosquet entouré de fleurs, dort l’hermaphrodite, profondément assoupi sur le gazon, mouillé de ses pleurs. […] Ses traits expriment l’énergie la plus virile en même temps que la grâce d’une vierge céleste. Rien ne paraît naturel en lui […]. Fatigué de la vie […], le désespoir a gagné son âme […]. On le prend généralement pour un fou. Un jour, quatre hommes masqués […] se jetèrent sur lui et […] ils lui dirent qu’il se dirigeât sans délai […] à Bicêtre. Il se mit à sourire en recevant les coups, et leur parla avec tant de sentiment [et] d’intelligence sur beaucoup de sciences humaines […] et sur les destinées de l’humanité […] que ses gardiens […] délièrent ses membres brisés […] et s’éloignèrent, avec des marques de vénération qui ne s’accorde pas ordinairement aux hommes.«1 »Dort, in einem Wäldchen, von Blumen umsäumt, schläft der Hermaphrodit, tief eingeschlummert auf dem von seinen Tränen benetzten Rasen. […] Seine Züge drücken die männlichste Kraft und zugleich die Anmut einer himmlischen Jungfrau aus. Nichts erscheint natürlich in ihm […]. Er ist vom Leben ermüdet […], Verzweiflung hat seine Seele ergriffen […]. Man pflegt ihn für einen Verrückten zu halten. Eines Tages stürzten sich vier maskierte Männer auf ihn […] und befahlen ihm, sich unverzügliche ins Irrenhaus

1. Lautréamont [i.e. Isidore Ducasse]: Les Chants de Maldoror, Paris 1985, S. 60. 97

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ÜBER DIE GRENZE

von Bicêtre zu begeben […]. Er lächelte, als sie ihn schlugen, und sprach zu ihnen mit so viel Klugheit und Feingefühl über mancherlei Wissenschaften und Schicksale der Menschheit […], dass seine Wächter ihm […] die zerschlagenen Gliedmaßen wieder losbanden […] und sich von ihm entfernten, mit Zeichen der Hochachtung, die man den Menschen gewöhnlich nicht entgegenbringt.«2 In einer Szene, die ironischerweise an die Bibelstelle von Jesus und den Schriftgelehrten erinnert, verbindet sich die ästhetische Degradierung der abendländischen Androgyniemythe mit einer Beschwörung der neuen Wissenschaften vom Menschen. Positivistischer Entzauberung antwortet indes die Resakralisierung einer nunmehr von Melancholie gezeichneten Doppelpotenz. Im literarischen Imaginären des 19. Jahrhunderts ist die platonische Totalitätsidee einer vollkommenen Synthese der Geschlechter zur Leere und Sterilität des ne-uter, der Weder/noch-Paradoxie eines Neutrums, herabgesunken. Mit diesem ›Geschlechterschwund‹ fallen die lebensmüden Kunstgeschöpfe in den ewigen Schlaf des Endymion, um ihre Wahrheit vor einem Wissen zu hüten.3 Noch in symbolistischer Lyrik (v)erklingt ihr Echo: »L’Hermaphrodite nu, le front ceint de jasmin/Epuise ses yeux verts dans un rêve sans fin.«4 »Der nackte Zwitter, die Stirn mit Jasmin bekränzt/ Erschöpft seine grünen Augen in einem endlosen Traum«. Während Ungenügen ästhetizistisch noch Übermenschentum anzeigt, demonstriert das wohl erste Selbstzeugnis eines Zwitters, das man ausgerechnet im Erscheinungsjahr seines romantischen Abgesangs5 fand, wie ein medizinisch erzwungener Geschlechtswechsel zum Selbstmord führt. Herculine Adelaïde Barbin (1838-1868), genannt »Alexina«, endet, nachdem sie aus ihrem weiblichen Dasein verbannt wurde, im Abgrund der Geschlechtslosigkeit: »Und jetzt allein! […] für immer! Verlassen, geächtet inmitten meiner Brüder! Aber was sage ich! Habe ich

2. Diese Übersetzung und alle folgenden von A. R. 3. »Dors […] dors toujours«, d.h. »Schlafe, schlafe immer«, fleht die unbestimmbare Erzählerstimme bei Lautréamont: Les Chants, S. 59f. 4. Albert Samain: »L’hermaphrodite«, in: Œuvres Choisies, Paris 1930, S. 71. 5. Nach Julia Kristeva (La révolution du langage poétique. L’avantgarde à la fin du XIXe siècle (Lautréamont et Mallarmé), Paris 1974, S. 465ff.) revoltiert Lautréamonts Schrift gegen das väterliche Gesetz, indem sie die Figur des pater familias auch in jener des thetischen Sinnsubjekts angreift, das sich im Kampf mit dem Anderen irrealisiert und fragmentiert (S. 513ff.). Die phallische Verdrängung des Weiblichen, die dabei zum Zuge komme, finde ihre Gestalt jedoch in einem satanischen Mörder-Sohn wieder, dessen zwittrige Ambivalenz auf mütterliches Konto geht: »elle m’a rendu eunuque, cette infâme« (zitiert S. 472), d.h. »sie hat mich zum Eunuchen gemacht, die Niederträchtige«. Darin klingt Voltaires bekannter Hetzspruch gegen die Kirche an: »Ecrasez l’infâme!« 98

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das Recht, jene um mich so zu nennen? Nein, das habe ich nicht.«6 Die Ambivalenz des Zwittertums, von der die Dämonisierung des Monsters ebenso zeugt wie seine Vergöttlichung, entspringt einer realen Ortlosigkeit: »Geh, Verfluchter […]! Die Welt, die du anrufst, war nicht für dich geschaffen. Und du warst nicht für sie geschaffen. [Dein Schmerz] gehört dort nicht hin. Er verkehrt alle Gesetze der Natur und der Menschen. Der Hort der Familie ist dir verschlossen. Dein Leben selbst ist ein Skandal, vor dem die Jungfrau, der scheue Jüngling erröten würden.«7 Man kann dieses unter dokumentarischem Zeichen antretende »Diskursfragment« als »Manifest einer modernen Wissenschaft vom Geschlecht«8 lesen, in dem sich mehrere Redepraxen überlagern. Wurde das hermaphroditische Chaos, das traditionelle Methoden der Geschlechtsbestimmung verunsicherte, seit der frühen Neuzeit mit epistemischen Sonderverfahren bewältigt, die die monsterkundliche Semiologie nach Maßgabe eines ›Ein-Geschlechter-Modells‹ (Thomas Laqueur) umzuschreiben erlaubte, so bedingte der sich allmählich durchsetzende Geschlechterbinarismus, der den funktionalen Erfordernissen der bürgerlichen Gesellschaft entsprach, eine aufklärerische Entzifferung des ›wahren‹ Geschlechts, die körperliche Abweichungen vom kulturellen Dualismus einfach verleugnete.9 Erst mit der Verwissenschaftlichung der medizinischen Anthropologie tauchten die Zwitter wieder auf und ließen sich nun sogar in echte und scheinbare unterscheiden. Damit wurde die Anatomie wieder »zum Schicksal und eröffnet[e] ein Feld, auf dem das Verhältnis von Neigungen, sozialem, juristischem und (körperlichem) Geschlecht« unter den Vorzeichen moderner Biopolitik »nicht länger gleichgültig blieb«.10 Der Diskursexplosion des ›sexuellen Dispositivs‹ (Michel Foucault) war aber auch die kategoriale Normalisierung und reformerische Entpathologisierung eines psycho-physischen Hermaphroditismus zu verdanken, dessen darwinistische Metapher menschlichen Urzwittertums sämtliche sexu-

6. Herculine Barbin, genannt Alexina B.: »Meine Erinnerungen«, in: Wolfgang Schäffner/Joseph Vogl (Hg.), Herculine Barbin. Michel Foucault, Über Hermaphrodismus, Frankfurt/Main 1998, S. 19-127, hier: S. 111. 7. Ebd., S. 111. 8. Wolfgang Schäffner/Joseph Vogl: »Nachwort«, in: Wolfgang Schäffner/Joseph Vogl (Hg.), Herculine Barbin. Michel Foucault, Über Hermaphrodismus, Frankfurt/Main 1998, S. 215-247, hier: S. 216f. 9. Vgl. Annette Runte: Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität, München 1996, S. 469ff. 10. W. Schäffner/J. Vogl: »Nachwort«, S. 221. 99

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ell-geschlechtlichen Mischformen bzw. Zwischenstufen miteinander verband. Dieser Paradigmenwechsel drückte sich vor allem in der französischen Unterhaltungsliteratur des Fin-de-Siècle aus, die sich narrativ und semantisch von wirklichen Fällen anregen ließ. Dass ein angeblich männlicher Pseudohermaphrodit wie Barbin in rein weiblichem Milieu lebte, bevor sein Geschlecht enthüllt wurde, macht Skandal wie Ironie der späteren Zwitterromane aus. Im Unterschied zu Herculine, die zwar Ovids Metamorphosen las, aber die körperlichen Symptome ihres Zustands, etwa das Ausbleiben der Regelblutung, ebenso verdrängte wie ihre Nachfolgerinnen, spricht die ›Stimme der Natur‹ in neuerer Literatur ausdrücklich durch eine Pseudo-Homosexualität, die meist als moralische Prüfung erlebt wird. Zwittertum erschien auch dann noch wie eine transvestitische Tarnung, als es längst vom Ruch des Lasters befreit war. So ist die moderne Zwitter-Vita von Tragik gezeichnet, denn ein unwissendes Subjekt wird ›unschuldig schuldig‹ und verliert zudem seine Identität in der nachträglichen Verkehrung sämtlicher lebensgeschichtlicher Bedeutungen. Die intertextuelle Verarbeitung eines Paradoxes der Eindeutigkeit (in) der Zweideutigkeit verweist in ihrer symptomatischen Verschränkung von Sexualität und Geschlecht – so meine These – auf jene sozialgeschichtlich zu verzeichnende ›Feminisierung der Kultur‹, der eine Ent-Universalisierung des Mann-Menschlichen entspräche.11 Aber auch unter diskursanalytischen Aspekten wird eine Zwitterfiktion, die an der ästhetischen Inszenierung des Androgynen beteiligt war, geschlechterhistorisch relevant. Die realistische Rhetorik der Repräsentation, die die sinnfixierte Unterhaltungsliteratur beherrscht, naturalisiert kollektive Phantasmen vor allem dadurch, daß sie eine traditionsreiche Emblematik mit moderner medizinischer Ikonik auflädt. Obwohl Cuisins Zwittergeschichte von 1820 noch an aufklärerische Debatten anschließt, deuten Ansätze eines positivistischen Naturverständnisses bereits auf den sexualwissenschaftlichen Serienroman des späten 19. Jahrhunderts hin, dessen dekadent getönte Degenerationslegende nach dem Ersten Weltkrieg einer hedonistischen Re-Ästhetisierung des romantischen Helden im narzisstischen Zwitter weicht. Als Allegorie eines soldatischen Selbstopfers wird das zweideutige Schicksal geschlechtlichen Invalidentums andererseits auch zum Sinnbild patriotischer Männlichkeit. Im autobiographischen Schlüsselroman einer lesbischen Autorin von 1930 ist Zwei- bzw. Zwiegeschlechtlichkeit nicht nur Chiffre homosexuellen Künstlertums, sondern vor allem der erzählerische Motor für eine androgyne Lösung des epochalen Geschlechterkampfes. In einer Zeit, wo sich die genetisch orientierte

11. Vgl. Hannelore Bublitz (Hg.), Das Geschlecht der Moderne. Genealogie und Archäologie der Geschlechterdifferenz, Frankfurt/Main, New York 1998. 100

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Zwitterforschung in Deutschland bereits rassistisch codierte, diente der literarische Hermaphrodit in Frankreich noch einer emanzipationsbeflissenen, wenn auch u.U. wertkonservativen Zivilisationskritik. Muss man unter der heutigen Voraussetzung eines mehrebigen Geschlechtsbegriffs bereits auf biologischem Niveau zwischen dem chromosomalen, dem gonadalen Keimdrüsen- und dem morphologischen Geschlecht der äußeren Organe differenzieren12, designiert der klinische Sammelbegriff der Intersexualität sämtliche, wiewohl verschiedenartig verursachbaren Diskrepanzen zwischen einer genetischen Tiefenstruktur und ihren anatomisch-physiologischen Manifestationen. Sind derartige Widersprüche, etwa zwischen primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen, lange Zeit schwer diagnostizierbar geblieben, zumal es ambivalente Übergangsformen, z.B. zwischen Makro-Klitoris und Mikro-Penis13, gibt, so war es vor der molekularbiologischen Entdeckung der Zellkernstrukturen ohnehin unmöglich, das unbestimmte Geschlecht szientistisch korrekt zu bestimmen. Als unfassbare Abweichung der Natur von sich selbst wird es zu Anfang des 19. Jahrhunderts noch seinem zuweilen abenteuerlichen Schicksal überlassen, wie bei Philippe Cuisin (1777-1845), einem vielseitigen Literaten der Restaurationsepoche, der in den napoleonischen Kriegen mitkämpfte.14 In seinem Roman Clémentine, orphéline et androgyne ou les Caprices de la nature et de la fortune (1820)15 gelingt es einem schiffbrüchigen Waisenkind, dessen Zwitterhaftigkeit von vorneherein feststeht, nach vielen Irrungen seine verlorene Mutter, ein reiches Erbe und einen Gatten zu finden. Die Erzählweise dieser unwahrscheinlichen Geschichte orientiert sich zwar noch an den Konventionen des 18. Jahrhunderts, nimmt mit ihren moralphilosophischen und naturgeschichtlichen Kommentaren aber bereits sexualwissenschaftliche Thesenromane vorweg. Als Metapher ihrer Autorschaft bestätigt fiktive Herausgeberschaft die Authentizität eines biographischen Zufallsfunds16:

12. Vgl. Norbert Bischof/Holger Preuschoft (Hg.), Geschlechtsunterschiede. Entstehung und Entwicklung, München 1980. 13. Gilbert-Dreyfus: Les intersexualités, Paris 1972, S. 35. 14. Philippe Cuisin verfasste bis in die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts rd. ein Dutzend Bücher, deren thematisches Spektrum von Biographik über Zeitgeschichte und Milieustudien bis zu phantastischen Romanen reicht. Als Napoleon-Kritiker stand er frühromantischen Kreisen um Chateaubriand nahe. Er glorifizierte die als Männer verkleideten Barrikaden-Kämpferinnen der Julirevolution in: Les Barricades Immortelles du peuple de Paris […], Paris 1830, S. 382ff. 15. Philippe Cuisin: Clémentine, orphéline et androgyne ou les Caprices de la nature et de la fortune, Paris 1820, 2 Bde. 16. Die satirische Utopie »La terre AUSTRALE CONNUE […]« von Gabriel de Foigny 101

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»Ce Monsieur ou cette Dame, comme l’on voudra, s’étant plu à faire un journal de sa vie […] ces Mémoires Postumes ont été imprimés sans aucune altération, si ce n’est […] l’arrangement et le coloris que réclamaient […] des matériaux généralement informes.« 17 »Diesem Herrn bzw. dieser Dame, wenn man so will, beliebte es, ein Tagebuch zu führen […], diese Memoiren sind nach seinem bzw. ihrem Tod gedruckt worden, ohne den Text zu verändern, mit Ausnahme der ein wenig verworrenen, formlosen Stellen, die einer besseren Anordnung und einer anschaulicheren Darstellung bedurften.« Die stilistische Glättung eines Originals, dessen Hybridcharakter der Natur seines verstorbenen Verfassers entspricht, lässt die nach dem Muster hispanisierender Mantel- und Degenstücke bestandenen, aber libertinistisch ausgemalten Proben, denen die Heldin als verfolgte Unschuld ausgeliefert ist, mit ›deus ex machina‹-Tricks in einem resignativ gedämpften ›happy end‹ ausgehen. Die vermeintliche Confessio macht aus dem sensationellen Lebens- einen stereotypen Liebesroman, bei dem die Frage nach der Herkunft jene nach dem Geschlecht noch verdrängt. Die schöne Clémentine, von einem Priester dem Meer entrissen, in das man die Monster in der Antike noch versenkte, wird von einem Arzt adoptiert, mit dessen Tochter sie sich anfreundet. Doch tribadische Anspielungen verflüchtigen sich in einem heterosexuellen Aktionsroman, in dem die Gefahr der Blutschande im Zentrum steht.18 Von einem unbekannten Retter, in Wahrheit ihrem Bruder, ein zweites Mal aus den Fluten gezogen, wird die tapfere »Amazone«19 kurz vor der Trauung mit ihm durch einen geheimnisvollen Warnschrei vor dem Inzest bewahrt. Die natürliche Grenzüberschreitung des Zwittertums bedroht also auch jenes kulturelle Tabu, das die genealogische mit der sexuellen Dimension verknüpft. Doch die Tugend einer Heldenjung-

(Vannes 1676) verbindet ihr Hermaphroditen-Symbol nicht nur mit dem SchiffsbruchMotiv, sondern auch mit dieser später psychologisierten Authentifizierung eines fremden Dokuments. 17. P. Cuisin: Clémentine, Bd. 1, xxiiijf. 18. Seit Chateaubriand ein obsessionelles Thema der Romantik. 19. Die schwermütige Hermaphroditin soll durch einen Bootsausflug zerstreut werden und kostümiert sich dafür in einer »toilette semi-amazone […] la toque de velours ornée d’une plume blanche sur le front, une légère cravache à la main« (P. Cuisin: Clémentine, Bd. 1, S. 60), d.h. in einem »halb-amazonischen Gewand […], die Samtmütze an der Stirnseite mit einer weißen Feder verziert, eine dünne Peitsche in der Hand«. Später wird Clémentine im Liede ihres Verehrers mit einer Ritterin verglichen: »O, Guerrière intrépide […] Amazone surtout, signalant son courage/ […] un sein nu, l’œil brûlant« (ebd., S. 90), d.h. »O, unerschrockene Kriegerin […], furchtlose Amazone/ […], eine Brust entblößt, brennenden Auges«. 102

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frau20, die männliche Leidenschaft mit weiblicher Hingabe vereint, besteht in der Sublimation ihrer Lust. Die von aufklärerischer Kirchenkritik befreite Klosteridylle dient jedoch nicht allein dazu, dem keuschen Hermaphroditen die »Krone einer doppelten Jungfräulichkeit«21 zu verleihen, sondern ihn seine verschollene Mutter wiederfinden zu lassen.22 Letztere löst das geschlechtliche Rätsel, indem sie eine Schuld eingesteht, die es mit vormodernen Zeugungstheorien zu erklären erlaubt. Ein Ehebruch, den sie während ihrer Schwangerschaft in der Phantasie mit einem persischen Diplomaten beging, habe der Tochter nicht nur orientalische Züge, sondern auch männliche Spuren eingeprägt, so dass sie ebenso stolz wie zweifelsfrei feststellt: »je mis au monde un superbe hermaphrodite«23, d.h. »ich brachte einen prächtigen Zwitter zur Welt«. Das dergestalt nobilitierte Opfer mütterlicher Ein-Bildung verklärt sich im Triebverzicht24, aber für den Autor-Erzähler ist das Problem damit keineswegs geklärt. Cuisins epigonaler Roman, dem ein Motto aus Vergils Aeneis vorangeht25, hat mit der ga-

20. Dabei könnte der Voltaire-Anhänger Cuisin seine zwittrige »Löwin« auch nach dem Vorbild des damals europaweit bekannten Chevalier d’Eon (1728-1810) modelliert haben, der Realfiktion eines in politische Machtkämpfe verstrickten Transvestiten, der sich u.a. durch öffentliches Schaufechten hervortat und über dessen Geschlecht, das erst post mortem als männliches verifiziert wurde, zu Lebzeiten Wetten angestellt wurden. Vgl. Gary Kates: Monsieur d’Eon ist eine Frau. Die Geschichte einer Intrige, Hamburg 1996. 21. P. Cuisin: Clémentine, Bd. 2, S. 19. 22. Die Erkennungsszene nach dem Muster des hellenistischen Romans ist ein zentrales Element zeitgenössischer Schauerromane. 23. P. Cuisin: Clémentine, Bd. 2, S. 166f. 24. Die ›weiße Ehe‹ mit dem »Marquis de Santa-Colomba« findet im Namen des Heiligen Geistes ihr Emblem in der »Chapelle de Mnemosyne«, d.h. der Kapelle der Göttin des Gedächtnisses (ebd., S. 212). 25. »Cette gomme d’une vierge a le sein ravissant« (Dieses Abbild einer Jungfrau mit entzückendem Busen). »Cette femme, l’œil fier d’un bel adolescent« (Diese Frau mit dem stolzen Auge eines schönen Jünglings). »Fille et garçon, l’amour lui prodigua ses charmes« (Mädchen oder Junge, von Amor mit Reizen verwöhnt). »Aux bois elle est Diane, et Mars au sein des armes« (Im Hain ist sie Diane, und Mars unter den Bewaffneten). »Et dans tout son éclat déploie aux yeux surpris« (Und in all ihrem Glanz enthüllt sie dem verwunderten Blick). »La valeur d’un héros et les traits de Cypris« (Die Tüchtigkeit eines Helden unter den Zügen der Cypris) Vorangestelltes Motto in P. Cuisin: Clémentine, Bd. 1, s.p. 103

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lanten Hermaphroditen-Literatur26 des Ancien Régime ästhetisch wie epistemologisch gebrochen. Im Vorwort wird das Zwittertum, dessen Thematisierung den Übergang des Kunst-Codes zum modernen Interessantheits-Kriterium anzeigt, beiläufig zum Indiz für eine durch weibliche Autorschaft27 verstörte männliche28, die ihre verlorene Virilität durch die empirische Bezugnahme auf harte Fakten statt auf romanhaft-romantische Fiktionen wiederzugewinnen versucht: »je pensais […] en femme, et j’écrivais en homme«29, d.h. »ich dachte als Frau, aber ich schrieb als Mann«. Dass sich das Realismuspostulat auch im Leben(s)-Roman durch Fingieren erfüllt, wird dadurch überspielt, dass die zwittrige Realität ohnehin fiktiv erscheint: »Mélange vraiment inconcevable, tu seras toujours le désespoir de tous les faiseurs de descriptions; et le peintre et le poète se sont à peine emparés d’un lyre et d’un pinceau, qu’ils le brisent aussitôt, de dépit de ne pouvoir saisir au passage cette mobilité de traits qui fait de toi, au même instant, une nymphe enchanteresse et un superbe Hippolyte.« 30 »Unfassbare Mischung, du wirst die Verfasser [anatomischer] Beschreibung immer zur Verzweiflung bringen, und kaum dass der Maler und der Dichter sich ihrer Leier bzw. ihres Pinsels bemächtigt haben, zerbrechen sie ihr Werkzeug auch schon wieder, aus Ärger darüber, die Beweglichkeit deiner Züge nicht erfassen zu können, die aus dir im selben Moment eine bezaubernde Nymphe und einen herrlichen Hippolyt machen.« Semantisch charakterisiert sich das hermaphroditische Paradox, dessen Doppelperspektivik das mimetische Prinzip labilisiert, durch die zweideutige Verbindung libidinöser Überfülle mit prokreativem Nichts. Obwohl die Möglichkeit des Lasters – wie in den Kastraten-Traktaten des Ancien Régime31 – auf der skandalösen Unmöglichkeit der Fortpflanzung beruht, ist ein potentieller Casanova zum Spielball einer in-

26. Vgl. z.B. Sieur de Chavigny (1683): La Galante Hermaphrodite. Amsterdam, dt.: Nachricht von der lustigen Vermählung einer schönen Hermaphroditin (1749). 27. Cuisin bezieht sich auf Mme. de Staël, deren Roman Corinne, ou L’Italie (1807) mehrfach zitiert wird, um das Liebesverhältnis zwischen Clémentine und ihrem Bruder mit der ›Oswald/Corinne‹-Beziehung zu vergleichen. 28. Symptomatisch dafür wäre auch Balzacs »Camille Maupin« (Béatrix), die einen hochsymbolischen Namen hat. Der androgyne Chiasmus zwischen Autoren, Autorinnen und ihren androgynen Gestalten bestünde darin, dass weibliches Künstlertum männlicher Mutterschaft gleichkäme. »Camille«, ein herber »Bacchus«, verzichtet auf den jungen, femininen Verehrer, indem sie sich klösterlich zurückzieht. 29. P. Cuisin: Clémentine, Bd. 1, S. ij. 30. Ebd., S. xvijf. 31. Z.B. Charles Ancillon (1707): Traité des eunuques, hg. von Dominique Fernandez, Paris 1978. 104

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konsistenten Natur geworden: »Homme et femme, me disait le destin; et ni l’un ni l’autre, criait à son tour la nature humiliée et révoltée de ses propres écarts«32, d.h. »›Mann und Frau‹, sagte mir mein Schicksal, und ›weder das eine noch das andere‹, schrie ihrerseits die Natur, gedemütigt und aufgebracht angesichts ihrer Abweichungen von sich selbst«. Die christgleiche Passion eines unnützen Ungeheuers, »[cumulant] sur sa tête toutes les calamités des deux sexes, n’appartenant en définitif à aucun«33, das »das Elend beider Geschlechter in sich vereint, ohne einem bestimmten anzugehören«, und das wie Herculine Barbin durch ein Niemandsland irrt, lässt das Vorwort vor Fragen überquellen, die die epistemische Verwandlung des metaphysischen in einen empirischen Naturbegriff begleiten: »Pourquoi donc la nature, comme honteuse de […] ses égarements, se met-elle elle-même ici dans l’impossibilité de se reproduire?«34 »Warum aber bringt sich die Natur, die sich ihrer Verirrungen schämt, hier selbst in den Stand, sich nicht mehr fortpflanzen zu können?« So fällt die Suche nach Gründen in poetische Taxonomien zurück: »Jardin délicieux orné de fleurs rares et toutes nouvelles, vous offrez au philosophe botaniste […] de doubles prémices aussi extraordinaires que piquantes. […] Ainsi, bel hermaphrodite […] rose superbe, apprends-nous […] pourquoi ton visage […], nouveau caméléon, présenta simultanément […] toutes les nuances des deux sexes?« 35 »Lieblicher Garten, voller seltener und ganz neuer Blumen, Ihr schenkt dem philosophischen Botaniker […] eine doppelte, ebenso ungewöhnliche wie pikante Voraussetzung. […] Sage uns deshalb, schöner Hermaphrodit, prächtige Rose, warum dein Gesicht, neues Chamäleon, gleichzeitig die Züge beider Geschlechter trägt?« Im späten 18. Jahrhundert spielend, liefert der Roman nur eine Karikatur wissenschaftlicher Bemächtigung. Der Arzt, der an die Stelle des Seelenheilers tritt, vermag, in der Enzyklopädie nachschlagend, nur tautologische Definitionen zu geben36, d.h. lediglich Totes zu archivieren. In seinem »amphithéâtre de dissection«37, d.h. seinem »anatomischen Museum«, befindet sich das Skelett eines obduzierten Hermaphroditen, dessen Knochen freilich nichts über sein Geschlecht verraten. Doch das lebendige Exemplar betrachtet ihn als seine »Zwillingsschwester«, beklagt es sich doch inzwischen selber, vom ausgestoßenen

32. 33. 34. 35. 36. 37.

P. Cuisin: Clémentine, Bd. 2, S. 3. P. Cuisin: Clémentine, Bd. 1, S. 6f. Ebd., S. xiv. Ebd., S. vj. Ebd., S. 22: »[…] est androgyne qui réunit les deux sexes«. Ebd., S. 22. 105

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Individuum zum begehrten Objekt, zumindest der Wissenschaft, geworden zu sein: »Rebut des hommes, je deviens pour les esprits simples un objet de prophétique terreur, et pour les esprits éclairés, une machine à profondes méditations«38, »von den Menschen zurückgestoßen, wurde ich für die einfachen Leute zum Gegenstand prophetischen Schreckens, regte die aufgeklärten Geister aber zu tiefgründigen Überlegungen an«. Mit der Ursachenforschung entsteht ein Geständniszwang, zu dessen Anwalt sich ausgerechnet die gelehrte Arzttochter macht: »elle conserva l’indiscrète envie de pénétrer (sic) le mystère […] avec des manières vraiment inquisitoriales«39, d.h. »sie behielt die indiskrete Lust, mein Geheimnis […] mit wahrhaft inquisitorischen Methoden zu durchdringen«. Noch keine bête d’aveu, ist die Betroffene einer benennenden Macht unterworfen, die sich in der Figurenrede auf komische Weise verwörtlicht. Der Hermaphrodit, von einem belauschten Gespräch nur die Endsilbe »-dite«40 aufschnappend, die, signifikant verstümmelt, seinen Zustand bezeichnen soll, reagiert auf ihr gleichlautendes Wiederauftauchen im Imperativ des Geständnisses (»dites, dites, vous avez sur le cœur un secret!« »Sagen Sie doch, Sie verbergen ein Geheimnis!«) mit einer Nervenkrise: »A ces mots dites, tous mes sens frissonnèrent«41, d.h. »Bei diesen Worten, dites, begann alles in mir zu zittern«. Als Partikel eines Spezialdiskurses evoziert der Fachterminus die Willkür einer Zeichenmaterialität, der sich jene Gleichlautung verdankt, die im ›Ver-hör-en‹ auf groteske Weise Wissen mit Gewalt verdichtet.42 Die Verinnerlichung geschlechtlicher Stellen und Titel, wie sie Julia Kristeva anhand des um 1800 erschienenen Travestie-Romans Les amours du Chevalier de Faublas (1787-1790) analysiert43, schließt ein psychisches Drama ein, das beim romantischen Zwit-

38. Ebd., S. 26. 39. Ebd., S. 39. 40. Diese Endsilbe, die im Französischen Lehnwörter aus dem Altgriechischen markiert, ist als solche nichtssagend, phonetisch lautet sie aber mit »dites« gleich, d.h. »sagt« bzw. »sagen Sie«, der zweiten Person Plural des Verbs »dire« (sagen). 41. P. Cuisin: Clémentine, Bd. 1, S. 36. 42. Ausgerechnet ein jüdischer Arzt, »Stareindorff«, möchte »Clémentine« im Namen renommierter Akademien als »un des plus beaux phénomènes« (ebd., S. 116), als »eines der schönsten Phänomene«, ausstellen, was sie empört zurückweist: »Je ne m’appartiens plus; je suis la propriété bizarre des savans« (ebd., S. 118), d.h. »Ich gehöre mir selbst nicht mehr, ich bin das seltsame Eigentum der Gelehrten«. Dabei geht es weniger um einen freak show-Kommerz als um die wissenschaftliche Sehenswürdigkeit damaliger Zwitter. Rudolf Virchows Star-Patientin Katharina Hohmann bereiste, gleichsam mit Fahrtenbuch, ganz Europa. 43. Julia Kristeva: Die neuen Leiden der Seele, Hamburg 1994, S. 165ff. 106

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ter, Prototyp des gezeichneten Helden, zu jenem (Selbst-)Mord treibt, vor dem Cuisins Exempel noch ausdrücklich warnt. Mit seinem historischen Roman von 1829 hat der republikanische Journalist Hyacinthe de Latouche dem bisexuellen Zwitter »Camille«, von Balzac zum asexuellen Erzengel geläutert, jenes tragische Ende beschert, das seine Ausweglosigkeit besiegelt. »Fragoletta«, so der Kosename, stirbt zwar noch nicht von eigener Hand, aber, als Ex-Geliebte eines quasi-inzestuösen Geschwisterpaars, im Duell. Die Uneindeutigkeit dieser Mignon-Gestalt, die ihre Herkunft einem Sakrileg verdankt, überdauert in ihrer sterblichen Hülle, die vom Mönchs- in ein Nonnenkloster überführt wird.44 Mit der Medikalisierung der mythisch-allegorischen Figur wuchs auch die Sensibilität für die psychische Situation der Intersexe. Ambroise Tardieu, der Barbins Erinnerungen 1874 erstmals publizierte, betont die »verhängnisvollen seelischen Folgen, die eine irrtümliche« Geschlechtsbestimmung nach sich ziehen kann. Doch der Gerichtsmediziner täuscht sich, wenn er glaubt, daß »keine Romandichtung« die ›traurige‹ und zudem wahre Geschichte »übertrifft«45, institutionalisierte sich der psychopathologische Diskurs doch gleichermaßen als seriöse Fachliteratur wie als sensationalistische Fiktion, so dass man von einer umfassenden Wechselbeziehung zwischen Lebens- und Fallgeschichten ausgehen muss. Nicht nur übernahm die romanhafte Wissenschaft ihre Kategorien von der schönen Literatur, die Belletristik ihrerseits saugte gierig den von Forensik und Psychiatrie angesammelten Stoff in sich auf. So zeigt etwa das Beispiel Zola, »welch ungeheueres fiktionales ›Potential‹ in den ›reinen Beobachtungen‹« der offiziellen Pathographie »enthalten ist«.46 Armand Dubarry, ein auf sexuelle Absonderlichkeiten spezialisierter Erfolgsautor, nahm 1890 sogar ein zehnbändiges Werk unter dem Titel Les déséquilibrés de l’amour in Auftrag. In seinem vielgelesenen Zwitterroman L’hermaphrodite (1892), der innerhalb von sechs Jahren 21 Auflagen erlebte, glaubte Michel Foucault, Herculine Barbins Geschichte zu erkennen. Sie ist jedoch durch ein journalistisches Patchwork entstellt, das pikareske Elemente des exotischen Abenteuerromans mit populärwissenschaftlichen Exkursen und paternalistischer Sozialkritik mischt.47 In medizinischer Hinsicht beruft sich Dubarry

44. Hyacinthe de Latouche (1829): Fragoletta ou Paris et Naples en 1799, Paris 1983. 45. Zitiert in: W. Schäffner/J. Vogl: Herculine Barbin, S. 175f. 46. Ursula Link-Heer: »Über den Anteil der Fiktionalität an der Psychopathologie des 19. Jahrhunderts«, in: Lili. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 51/52 (1987), S. 280-302, hier: S. 283. 47. Erfreuten sich exotische Abenteuerromane seit 1860 großer Beliebtheit, so 107

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auf die damals vor allem von der naturalistischen Schule aufgegriffene Degenerationstheorie, die seinen Zwitter, als Resultat wie Opfer sexuellen Missbrauchs, zum stigmatisierten Vertreter (s)eines entarteten Milieus macht. »Brigitte Lambert« entspringt der Vergewaltigung ihrer Mutter durch einen Zuhälter, »La Terreur de la Villette«, »Terror der Villette« gerufen, der am Tage der Geburt seiner Tochter guillotiniert wird. Schlägt sich in der körperlichen Anomalie des Kindes elterliches Fehlverhalten nieder, dann nur noch als fataler evolutionistischer Unfall.48 Der antihomosexuelle Diskurs der fiktiven Autobiographie bemüht zunächst traditionelle Kloster- und Pensionatsklischees49, um das lesbische Verlangen nachträglich als natürlichen Trieb eines fälschlicherweise als Mädchen aufgezogenen männlichen Scheinzwitters zu legitimieren. Brigitte, die sich mit Schuldgefühlen in andere Frauen verliebt, wird selber ausschließlich von Männern begehrt. Während einer Südamerika-Reise voller phantastischer Episoden, die von der Begegnung mit schamanischen Indianern über Attacken blutsaugender Fledermäuse bis zur Robinsonade im Urwald reichen, muss sich die zwittrige Jungfrau mehrfach anal vergewaltigen lassen. Am Ende bringt sich eine moralisch Tadellose um, weil ihr paradoxerweise nur noch die Alternative des Bordells bliebe. Auf der Folie zeitgenössischer Dekadenzliteratur zeichnen sich neben dem für sexuell-geschlechtliche Devianz beliebten Waisentopos noch zwei weitere rekurrente Elemente späterer Zwitterromane ab. Geht die synekdochische Einbettung sexuellen Erwachens in einer dramatischen Gewitterszene womöglich auf Barbins Erinnerungen50 zurück, so findet sich der allegorische Vergleich des Zwitterleibs mit einer Statue bereits im romantischen Roman.51 Während de Latouches Camille beim Anblick des

sind Stilmischungen für die französischen Populärromane des ausgehenden 19. Jahrhunderts typisch. Vgl. Jörg Neuschäfer u.a.: Der französische Feuilletonroman. Die Entstehung der Serienliteratur im Medium der Tageszeitung, Darmstadt 1986, und Marc Angenot: Le cru et le faisandé. Sexe discours social et littérature à la Belle Epoque, Brüssel 1986. 48. Etwa im Sinne der darwinistischen Auslegung der Entartung bei Morel (1857). Vgl. Katrin Schmersahl: Medizin und Geschlecht. Zur Konstruktion der Kategorie Geschlecht im medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts, Opladen 1998, S. 48ff. 49. Vgl. Marie-Jo Bonnet: Un choix sans équivoque. Recherches historiques sur les relations amoureuses entre les femmes XVe – XIXe siècle, Paris 1981. 50. Vgl. Armand Dubarry (1892): L’hermaphrodite, Paris 1898, 21. Auflage, S. 278: »le tonnerre gronda […]. En dix secondes je fus à son côté, et […] le bruit de l’orage me protegéant, je la […] baisai, enivrée«, d.h. »der Donner rollte […]. In zehn Sekunden war ich an ihrer Seite und küsste sie wie im Rausch, während der Lärm des Gewitters mich vor Entdeckung schützte.« 51. H. de Latouche: Fragoletta, S. 50ff. 108

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Hermaphroditen von Polyclet in Grübeln verfällt, entdeckt Brigitte das Geschlecht etwas prosaischer an nackten Park-Bildsäulen: »Plus perplexe, je m’attachai à pénétrer le mystère, et en traversant les jardins publics, je reluquai les statues de marbre. […] Evidemment je ne ressemblais pas au commun des jeunes filles; j’étais une créature inférieure, mal bâtie, destinée à être un objet de répulsion, de dérision, à végéter.«52 »Noch verblüffter, beharrte ich darauf, das Geheimnis zu lüften, und als ich die öffentlichen Parkanlagen durchquerte, warf ich begehrliche Blicke auf die Marmorstatuen. […] In der Tat glich ich keinem normalen jungen Mädchen; ich war eine niedere Kreatur, schlecht gebaut, dazu bestimmt, ein Gegenstand des Ekels und des Spottes zu werden, dahin zu vegetieren.« Die gynäkologische Fehldiagnose einer Minderwertigen, die man als ›weiblich‹ klassifiziert, weil man sie für eine Prostituierte hält, wird gleichsam erst durch ihren (Selbst-)Mord korrigierbar, denn bei der Autopsie finden sich die fehlenden »männlichen Attribute« im Körperinneren.53 Spiegelt sich die »anatomische Topologie […] in der Topographie des Sozialen«54 wider, so erleidet ein proletarisierter Märtyrer aber schon zu Lebzeiten nicht nur sexuelle Tantalusqualen, sondern auch die narzisstische Demütigung eines Verzichts auf Fortpflanzung, an den die natalistische Botschaft tendenziös anknüpft55: »C’est en examinant ce souffre-douleur que l’on comprend mieux la prépondérance de ce qui, en nous, tient à la perpétuation de l’espèce, et à la volupté que la Providence a attaché à cette fonction hiératique«56, d.h. »Die Untersuchung dieses leidenden Geschöpfes lässt uns besser das Übergewicht dessen verstehen, das uns an die Fortpflanzung der Gattung bindet, und die Wollust, die die Vorsehung mit dieser ehrwürdigen Aufgabe verbindet.« Obwohl Spezialisten wie Emile Laurent der vermeintlichen Trieb-

52. A. Dubarry: L’hermaphrodite, S. 33f. 53. Ebd., S. 313. 54. W. Schäffner/J. Vogl: Herculine Barbin, S. 244. 55. Wie etwa Jane de la Vaudère [i.e. Mme. Crapez] ist Dubarry Anti-Malthusianer. Mit Les femmes eunuques (1899) griff er vielleicht auf den Fortsetzungsroman Les demisexes (1897) der Figaro-Literatin zurück, in dem junge Frauen denunziert werden, die sich aus hedonistischen Gründen sterilisieren lassen. Noch 1904 meinte Paul Möbius: »In Paris sollen sich jährlich Tausende von Weibern castrieren lassen, um kein Kind zu bekommen« (zit. in: K. Schmersahl: Medizin und Geschlecht, S. 322). 56. A. Dubarry: L’hermaphrodite, S. IIf. 109

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haftigkeit von Hermaphroditen57 noch um 1900 einen pathologischen Anstrich verliehen, verweist ihre sensualistische Darstellung in französischer Unterhaltungsliteratur nach dem Ersten Weltkrieg weniger auf die sexuelle Problematik denn auf ein Dilemma zwischen den Geschlechtern. Im selben Jahr wie Victor Marguerittes epochemachender Bestseller La garçonne (1922)58, erschien Fortuné Paillots amüsante Zwitterparabel Amant ou maîtresse? ou l’androgyne perplexe, in der das Androgyniemotiv zum Ehegleichnis regrediert. Ein verfleischlichter Seraphin verführt Cousin und Cousine, um mit ihnen fortan in einer märchenhaften ménage à trois zu leben. Die Waise mit dem bisexuellen Vornamen »Claude« wurde nämlich bloß deswegen als Mädchen aufgezogen, um sie vom Militärdienst zu befreien. Körperlich und seelisch aber besitzt sie beide Geschlechter in perfekter Harmonie.59 Gleich zu Anfang verdichten sich ästhetizistische und dekadente Zitate zur zeitlosen Idylle. An einem schwülen Sommernachmittag entkleidet sich eine ephebische Schönheit im abgedunkelten Salon eines leeren Hauses allein vor dem Spiegel: »C’était le désir de revoir entière son image heureuse de jeunesse, de svelte beauté et d’élégance; et aussi d’interroger la glace sur le mystère […] de sa personne. […] Le monde tient toute monstruosité pour […] honteuse. Pourtant, il existe de jolis monstres.«60 »Es war der Wunsch, ihre ganze Erscheinung zu betrachten, glückliches Bild der Jugend, der schlanken Schönheit und Eleganz; aber auch der Wunsch, den Spiegel nach dem Geheimnis ihrer Person zu befragen. […] Die Welt hält jede Monstrosität für schändlich. Doch gibt es auch hübsche Monster.« Heiter ersteht der heidnische Hermaphrodit als selbstgenügsamer Narziss im Garten Eden der Belle Epoque. Das eingefrorene Lächeln der Gioconda auf den Lippen, weiß die »colonne de marbre rose, […] veiné de bleu«61, d.h. die »Säule aus rosa Marmor, von blauen Venen durchzogen«, nichts über ihre eigene Anatomie, bevor sie sich bei einem

57. Emile Laurent: Les Bisexués, Gynécomastes et Hermaphrodites, Paris 1894, S. 206. Vgl. S. 215. 58. Erster Band einer Trilogie über die moderne Partnerschaft, von dem bis 1929 über eine Million Exemplare verkauft wurden und den schätzungsweise ein Viertel der französischen Bevölkerung gelesen hatte. Zensiert wurde nicht nur die sexuelle, sondern auch die sozio-ökonomische Autonomie eines neuen Frauenleitbildes. 59. Fortuné Paillot: Amant ou maîtresse? ou l’androgyne perplexe, Paris 1922, S. 12. Vgl. S. 8. 60. Ebd., S. 11. 61. Ebd., S. 13. 110

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Louvre-Besuch stolz mit dem Kunstwerk des liegenden Hermaphroditen62 identifiziert63. Mit kurzem Rock, modischem Bob-Schnitt und Topfhut erotisiert ein Zwitter in Gestalt der ›Neuen Frau‹ ein versnobtes Paar der jeunesse dorée, d.h. der verwöhnten Upper class-Jugend. Bedeutet »jouer les Maupins«64, also Théophile Gautiers legendärer Romanfigur Fräulein Maupin nachzueifern, zuerst die Gattin und dann den Gatten zu beglücken, geriert sich der feminine Joker dabei zwar lesbisch, aber keineswegs schwul. Geduldet wird lediglich sapphische Pikanterie. Mit seinem 1925 erschienenen Roman Herma? knüpft Georges Finaud, Invalide aus dem Ersten Weltkrieg65, an das Genre patriotischer Veteranenliteratur an, um aus seinem Frau-zu-Mann-Zwitter einen Frontkämpfer zu machen, der sein Leben dem Vaterlande schenkt. Invalidität wird zur Metapher für Intersexualität. Die Halbwaise »Jeanne«, von ihrer Mutter aus Erbgründen als Mädchen erzogen, wird später von ihrem eigenen Bruder, der zufälligerweise Arzt ist, als männlicher Scheinzwitter66 entlarvt. Seit ihrer Pensionatszeit in die Tochter eines Advokaten verliebt, gelingt es »Jean«, inzwischen Kunstmaler, auch nach seiner Personenstandsänderung nicht, sie zu heiraten, da der Vater sich ihrer Verbindung mit einem Bohémien widersetzt, dessen sozialer Status den geschlechtlichen gleichsam reflektiert. Während seine Braut ins Kloster geht, zieht der Hermaphrodit in den Krieg, wo er durch seinen Tod einem Familienvater das Leben rettet. Das erbauliche Buch endet mit dem Blut & Boden-Appell an soldatische Zeugungskraft: »La Nature veut! […] La race se perpétue […] Homme! Tu ne peux renier ni te dérober aux exigences de ton origine, de ton sexe, de ta force, de ta sève ardente«67, d.h.: »Die Natur will es! […] Die Rasse pflanzt sich fort […] Mensch [Mann]! Du kannst weder verzichten noch dich der Verpflichtung deiner Herkunft entziehen, deines Geschlechts, deiner Stärke, deiner brennenden Säfte«. Während der von Maurice Barrès geschätzte Literat aus dem Zwitter einen heterosexuellen Don Juan macht, stilisiert Lucie DelarueMardrus, eine der weniger bekannten Rive Gauche-Autorinnen der Zwanziger Jahre68, ihren Hermaphroditen wieder zum asexuellen En-

62. Ebd., S. 137. 63. Ebd., S. 146. 64. Ebd., S. 242. 65. Georges Finaud: Herma? Roman. Préface de Thierry-Sandre, Paris 1925, S. 11. 66. Ebd., S. 55: »hypospadias périnéal«. 67. Ebd., S. 220. 68. Vgl. über sie z.B. ihre Freundin Natalie Clifford Barney: Souvenirs indiscrets, Paris 1960, S. 147-187. Die Vielschreiberin verfasste u.a. eine Monographie über Oscar Wilde (1929), aber auch sapphische Gedichte, z.T. abgedruckt in Claudine Brécourt-Vil111

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gel. In ihrem Milieuroman L’ange et les pervers (1930)69 leistet sich der/die adlige Waise »Mario(n) de Valdeclare« nicht nur ein Doppelleben, indem er/sie zwischen schwulen und lesbischen Salons hin und her laviert, sondern auch die unerhörteste ›Perversion‹, nämlich sexuelle Abstinenz, bei der sich Melancholie und Narzissmus die Waage halten. Ein trauriges Neutrum »sans sexe défini«70, »ohne bestimmtes Geschlecht«, doch von Männern und Frauen gleichermaßen begehrt, verlangt selber nach »nichts und niemanden«71, bis die Gleichgültigkeit dieser knabenhaften »Sphinx« unbestimmten Geschlechts, die ein »Glück ohne Menschen«72 erstrebt, von jenem Kind unbestimmter Herkunft erschüttert wird, das eventuell sogar ihr eigenes sein könnte. Denn als Mario(n) der Freundin »Laurette Wells«, hinter der sich Natalie Barney verbirgt, beim Wiedergewinn einer Ex-Geliebten hilft, verliebt diese sich in den geschlechtlichen Doppelspion und wird dann von einem Unbekannten schwanger, dessen Identität offen bleibt. Später adoptiert der also auch in Frage kommende Trickster den gemeinsamen Sohn mit den zweideutigen Worten: »Mon amour maternel sera toujours un peu mâle«73, d.h. »Meine mütterliche Liebe wird immer ein bisschen männlich sein«. So verspottet ein gespaltener Androgyn, gleichzeitig Symptom und Beobachter (s)einer Epoche, deren egoistischen Zeitgeist, indem er zwischen den bösen, falschen und den guten, wahren Hermaphroditen unterscheidet, – nach Maßgabe humanisierender Elternschaft: »Vous […] êtes des œufs clairs, […] des œufs stériles […], ça m’amuse de voir dans Paris des femmes qui font les hommes et les hommes qui font les femmes, parce que, les faux hermaphrodites, il n’y a rien de plus rigolo sur terre!«74 »Ihr seid […] unbefruchtete Eier, […] sterile Eier […], das ist amüsant in Paris Frauen

lars: Écrire d’amour. Anthologie de textes érotiques féminins (1799-1984), Paris 1985, S. 239-241. Vgl. zu den lesbischen Zirkeln der damaligen (Exil-)Autorinnen und ihrer Allianzen z.B. Shari Benstock: Women of the Left Bank, Austin 1986; Alexandra Busch: Ladies of Fashion. Djuna Barnes, Natalie Barney und das Paris der 20er Jahre, Bielefeld 1989; Andrea Weiss: Paris war eine Frau. Die Frauen von der Left Bank, Dortmund 1996. 69. Lucie Delarue-Mardrus geht in Mes mémoires (Paris 1938, S. 144) kurz auf den biographischen Gehalt ein, wobei sie sich selber »le rôle insexué de l’ange«, d.h. die geschlechtlich undifferenzierte bzw. asexuelle Rolle des Engels, zuschreibt. 70. Lucie Delarue-Mardrus: L’ange et les pervers, Paris 1930, S. 46. 71. Ebd., S. 17: »Elle n’aime rien et personne«. 72. Ebd., S. 24. Vgl. S. 10f., 34. 73. Ebd., S. 155. 74. Ebd., S. 34. 112

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zu sehen, die sich wie Männer geben und Männer, die sich wie Frauen gebärden, denn es gibt nichts Lächerlicheres auf Erden als diese falschen Zwitter.« Wie in der anti-dekadenten Zivilisationskritik wird Fortpflanzung, auf die Homosexuelle damals weitgehend verzichteten, zu jenem konservativen Wert, den Androgyne mit Normalen teilen. Doch die Pointe lautet: pater semper incertus est, der Vater ist nicht zu identifizieren, was in der Ära heutiger Biotechnologien längst nicht mehr stimmt. In der modernen französischen (Unterhaltungs-)Literatur fungiert die Zwitterkonfiguration nicht nur als imaginäres Drittes, Zeichen wie Kompensativ einer kulturellen Krise75, sondern sie operiert auch auf symbolischer Ebene. Wenn nämlich das Hermaphroditische den konstitutiven Rest bzw. Überschuss des Geschlechterbinarismus inszeniert, verdeutlicht der Übergang einer romantischen Vollstufe zur dekadenten Schwundstufe die scheiternde Integration eines (imaginären) Anderen.76 Auf der Folie eines umfassenderen fading of gender transformiert sich die idealisierbare Unmöglichkeit der Geschlechterbeziehung zum modernistischen Phantasma einer phallizistischen Überschreitung der Differenz. Bei Cuisin findet man nicht nur den Amazonentopos der Ausnahmefrau, deren symmetrisch verdoppelte Geschlechtspotenz der mithin ent-mythisierte Zwitter renaturalisiert, sondern bereits jene spiritualistische Resignation, die die männlich konnotierte republikanische Tugend mit christlich getöntem Feminismus versöhnt. Als unerträgliches Realwerden des Geschlechtsunterschieds mündet die Medikalisierung des Monströsen ins morbide Imaginäre von Statik und Sterilität. Der bei Lautréamont negativierte angélisme wird schon bei de Latouche in jene zwittrige Kindfrau verlagert, die die aporetische Apotheose der ›Frau-Mutter‹ bildet.77 So ließe sich mutmaßen, daß das Übergewicht literarischer Frau-zu-Mann-Geschlechtswechsel im frühen 20. Jahrhundert mit jener Erosion der bürgerlichen Geschlechter zusammenhängt, für die sich bereits viele Spuren im 19. Jahrhundert finden lassen. Wenn die femme moderne, als eine Art von no man-Woman, unterschwellig auch eine vom Krieg kastrierte Männlichkeit re-

75. Vgl. Frédéric Monneyron: L’androgyne décadent. Mythe, figure, fantasmes, Grenoble 1996, S. 77. 76. Vgl. ausführlich zu Rachilde und Péladan Annette Runte: »›Père-version‹. Sexualität als Maske des Geschlechts in der französischen Dekadenzliteratur«, in: Elfi Bettinger/Julika Funk (Hg.), Maskeraden. Geschlechterdifferenz in der literarischen Inszenierung, Berlin 1995, S. 254-273. 77. Vgl. dazu am Beispiel des romantischen Balletts in Frankreich: Annette Runte: »Ballerina/Ballerino. Androgynie im Ballett«, in: Ulla Bock/Dorothee Alfermann (Hg.), Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 1999, Stuttgart, Weimar 1999, S. 95-118. 113

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präsentiert78, dann bekundet der verwaiste (männliche) Pseudo-Zwitter, der in den Zwanziger Jahren die Defizite beider Geschlechter inkarniert, jenen symbolischen Vaterfunktionsverlust, den die Allianz von Perversion und Feminisierung79 als eine ›Gesetzwerdung des Imaginären‹80 reflektiert.

78. So die These von Mary Louise Roberts: Civilization without Sexes. Reconstructing Gender in Postwar France, 1917-1927, Chicago, London 1994. Vgl. Annelise Maugue: L’identité masculine en crise au tournant du siècle, Paris 1987. 79. Nach M. L. Roberts (Civilization, S. 55ff., 72, 133f.) signalisierte die ideologische Zäsur des Ersten Weltkriegs auch den Beginn einer feministischen Epoche, zumindest in Frankreich. 80. Vgl. aus Lacanscher Sicht Paul-Laurent Assoun: Le pervers et la femme, Paris 1989. 114

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›PÈRE-VERSION‹

›Père-Version‹. Sexualität als Maske des Geschlechts in französischer Dekadenzliteratur Sexe très noble et qui défies la chair; Sexe très calme et qui endors les nerfs [en quête; Sexe très caressant qui nous baises à l’âme; Los à toi, Androgyne!1 (Joséphin Sâr Péladan)

Edles Geschlecht, das das Fleisch [herausfordert; Stilles Geschlecht, das die [suchenden Nerven beruhigt; Zärtliches Geschlecht, das uns die Seele [küsst; Heil dir, Androgyn!2

›Fading of gender‹ Die frivole Leichtigkeit höfischen Geschlechtertausches weicht in der bürgerlichen Gesellschaft, die dieses Privileg zum Krankheitsetikett macht, einer pathetischen Schwere. Das Geschlecht hat den tiefe(re)n Sinn bekommen, dass sich die neue Innerlichkeit des Subjekts auf ihn stützen kann und jede Überschreitung seiner Bedeutungen weiteren Sinn erzeugt. Zwischen den alten Polen von Natur und Vernunft, Spiritualität und Leiblichkeit, errichtet die positivistische Sexualwissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts bekanntlich jenes breite Spektrum sexuell-geschlechtlicher Zwischenstufen, deren psycho-physisch codierte »Mischungsverhältnisse oder Unterschiedsunterschiede«3 potentiell unendliche Kombinationsmöglichkeiten für die Ausdifferenzierung moderner Identitäten eröffnen. Der frühneuzeitliche

1. Joséphin Sâr Péladan: »Hymne à l’Androgyne«, in: De l’androgyne, Paris 1910, S. 89-96, hier: S. 93 und S. 96. 2. Diese wie alle folgenden Übersetzungen aus dem Französischen von A. R. 3. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800. 1900. München 1985, 3., vollst. überarb. Aufl., S. 356. 115

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›Trickster‹, der strategischen Geschlechtertausch wie einfühlende Verdoppelung erlaubte, ist im romantischen Dispositiv gleichsam verinnerlicht worden. Transvestiten und Zwillinge sind in der Literatur des französischen romantisme zum idealischen Androgyn verschmolzen, bevor die darwinistische Nivellierung des hermaphroditischen Mysteriums durch das Konzept der konstitutionellen Bisexualität die literarische Neutralisierung seines hermetischen Symbolpotentials beschließen sollte. Erst in dem Moment, wo der mithin realistisch gezeichnete Zwitter zu allerlei sexuellen Perversionen befähigt schien, ging aus dem nunmehr profanisierten Geheimnis seiner Doppelpersönlichkeit die pathologische Variante einer geschlechtlichen Persönlichkeitsspaltung hervor, welche übrigens die Phänomenologie eines ›Trans-Sexualismus‹ im weitesten Sinne einleitete.4 Ist der durch vorübergehenden Platzwechsel und analogische Spiegelung ermöglichte Transfer geschlechtlicher Substanzen also epochenübergreifend tendenziell dem Ideal einer intrasubjektiven Totalisierung beider Geschlechtsprinzipien gewichen, so zerfällt diese Versöhnungsutopie auf der Folie dekadenten Endzeitbewusstseins5 in pessimistisch stimmende Disharmonie. Die dem Wechselspiel sexualwissenschaftlicher und literarischer Diskurse entsprungenen ›Mannweiber‹ und ›Weibmänner‹ sind wieder auseinanderdividiert und in ein hierarchisches Verhältnis getreten, in dem ihre sexuelle Beziehung unmöglich erscheint. Mit der Frauenemanzipation hat die Figur der Gynander6 das symbolische Prestige der edlen Ritterin, etwa der Renaissance-Epik, verspielt; in ihrem literarischen Gegenstück aber, dem dekadenten Androgyn, läutert sich der Ephebe zum innerweltlichen Engel. So reproduziert diese in der Fin de siècle-Literatur virulente Asymmetrie7 die verlorengegangene Polarisierung der Geschlechter als intrapsychische Opposition und hätte damit vielleicht das in die Krise geratene Subjekt restabilisiert, allerdings um den Preis einer narzisstischen Psycho-Ökonomie. Die androygne Restauration des Geschlechterverhältnisses kommt nur unter der paradoxen Bedingung wollüstiger Keuschheit (bzw. keuscher Wollust)

4. Vgl. dazu ausführlich Annette Runte: Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität, München 1996. 5. K. Ludwig Pfeiffer: »Fin de Siècle und Endzeitbewußtsein«, in: Manfred Pfister/Bernd Schulte-Middelich (Hg.), Die Nineties, München 1983, S. 35-52. 6. Zeittypischer, bei Péladan beliebter Ausdruck für maskulin wirkende bzw. stilisierte Frauen als begriffliches Pendant zum ephebisch konnotierten ›Androgyn‹. Es fasst die Asymmetrie der Bewertung in einer Symmetrie der Bezeichnung und verschwand bald wieder aus dem literarischen Diskurs. 7. Vgl. Frédéric Monneyron: L’imaginaire androgyne d’Honoré Balzac à Virginia Woolf, Paris 1987, Microfiche (Habilitationsschrift). Inzwischen in Kurzfassung erschienen unter dem Titel: L’androgyne décadent. Mythe, figure, fantasmes, Grenoble 1996. 116

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›PÈRE-VERSION‹

zustande und führt daher zu einer Reidealisierung der gerade erst in ihrer Sinnlichkeit befreiten Geschlechtsliebe als einer konstitutiv geschlechtsbezogenen. Im sexuellen Dispositiv8 steht Sexualität plötzlich im Dienste eines rückzuerobernden Geschlechts. Aus der Lust libertinistischer Verbots-Überschreitung ist die Lust nihilistischer Gebots-Verweigerung, etwa der Fortpflanzung, geworden. Nicht Sexualität, sondern der geschlechtliche Dualismus wird zur Erbschuld einer Kränkung. Dennoch können die betont zerebralen, etwa identifikatorischen Abweichungen und Verkehrungen, durch den Einsatz familiaristischer Muster, wie z.B. ehelichen Rollentausches, imaginär wieder renormalisiert werden. Die transvestitisch produzierten (Partner-)Spiegelungen der Vormoderne, die im romantischen Doppelgänger zwar unheimlich, aber im romantischen Androgyn wieder idealisch geworden sind, haben sich nunmehr in narzisstische (Selbst-)Verhältnisse mit psychologischer Tiefendimension verwandelt. Die Wunde geschlechtlicher Spaltung schließt sich durch (gegen-)geschlechtliche Identifikation. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern die in französischer Dekadenzliteratur zu verzeichnende Tendenz, Sexualität zur Maske des eigentlichen Faszinosums Geschlecht werden zu lassen, mit dem Schwund geschlechtlicher Polarisierung und einem kulturhistorisch vielfach vermerkten Vaterfunktionsverlust zusammenhängen könnte: Père-version, – ›Vater-Version‹ –, als topologischer Effekt einer symbolischen Restrukturierung, die man vielleicht als imaginäre Gesetzwerdung des Imaginären bezeichnen darf. Wenn bei Lacan ›Maskerade‹ zur ironischen Metapher dafür wird, daß es eine ontologische Fundierung, d.h. ein Sein der Geschlechter, nicht gibt, sondern nur den Schein des Phallus-›Habens‹ bzw. -›Seins‹, wird damit die Symmetrie oder Komplementarität der Geschlechter ebenso ausgeschlossen wie die im Schein/Sein-Dualismus vorausgesetzte Latenz einer Tiefenebene.9 Ihres metaphysischen Bezugs enthoben, wird die Kategorie der Maske, als Synonym der Metapher, d.h. des Symptoms, hier auf ihre diskursanalytische Relevanz beschränkt. Am Beispiel jener dekadenten Motivkomplexe, deren ›geschlechterarchäologische‹ Bedeutung bisher gern übersehen wurde, sollen einige Aspekte dieser sexuellen Recodierung des Geschlechtlichen, die die geschlechtliche Codierung des Sexuellen historisch bereits einbegreift, stärker beleuchtet werden. Dabei dürften neben der transvestitischen Fortsetzung triangulärer Paarbildungs-Szenarien und der horizontalen Genealogie sexueller

8. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/ Main 1983. 9. Jacques Lacan: »Die Bedeutung des Phallus«, in: Schriften II, Olten, Freiburg i.Br. 1975, S. 119-133. 117

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ÜBER DIE GRENZE

Abweichungen insbesondere die die Liebe rettende Idealisierungskapazität eines sozusagen geschlechtlich orientierten Geschlechtertausches in den Vordergrund rücken. An zwei so gegensätzlichen Literaten wie Joséphin Péladan, einem ebenso skurrilen wie missionarischen Idealisten, und Rachilde, einer ideologisch schillernden Vielschreiberin, die beide lange vergessen blieben, lässt sich zeigen, daß der psychopathologisch überdeterminierte populärliterarische Diskurskomplex der Androgynie, welcher um 1900 so verschiedene Referentiale wie Homo- und Bisexualität, männliche Effeminiertheit oder weibliche Emanzipation bezeichnete, die subjektstabilisierenden Sinnstrategien einer Neuordnung der Geschlechterverhältnisse gleichsam verdichtet. Die idealische Aufladung der ästhetizistisch entleerten und symbolistisch verrätselten Geschlechtersynthese in der Fin de Siècle-Literatur, eine Art Aushöhlung romantischer Totalitätsphantasien, könnte also auch auf jenen epochalen Krisenhorizont bezogen werden, den man gemeinhin mit dem Verlust ideologischer Großsysteme und dem Empirischwerden des Subjekts charakterisiert.10

Devianzbekenntnis als Serienroman So wenig sich im französischen Kontext dekadenter Endzeit-Pessimismus dem Fortschrittsglauben, etwa der Sozialutopisten, schroff entgegensetzen lässt11, so wenig kann man »die literarische Entwicklung am Fin de siècle, die unter den Titeletiketten von Ästhetizismus und Décadence steht«, »in strikter« Opposition zum Naturalismus »mit seiner Wissenschaftsbezogenheit« begreifen, haben doch beide Strömungen an einem »nervenmedizinisch determinierten Interdiskurs« teil, der die

10. Ursula Link-Heer verweist auf die epistemologische Situation einer auch für die Humanwissenschaften relevanten »Durchsetzung des Normalitäts-Dispositivs als entscheidender Instanz zur gesamtkulturellen Regulierung. Das Normale aber konstituierte sich durch detaillierte Vermessung und Kartographierung der Devianzen. Moderne Literatur wurde mehr und mehr ein revoltierendes Komplementärunternehmen zu dieser Kartographierung, eine forcierte Entdeckungsreise in die Psychopathia sexualis«. Vgl. »Wird Androgynie normal? Zur Entfaltung imaginierter Geschlechtlichkeit zwischen zwei Fins de Siècle«, in: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie, 27 (1992), S. 46-49, hier: S. 48. Im Folgenden wird sich erweisen, in welchem Maße das mit dem »Morbiden und Pathologischen« (S. 48) eng verbundene Androgyne der Dekadenzliteratur seine eigene Re-Normalisierung hervorzutreiben vermag. 11. Wolfgang Drost: »›Du progrès à rebours‹. Fortschrittsglauben und Dekadenzbewußtsein im 19. Jahrhundert: Das Beispiel Frankreich«, in: Wolfgang Drost (Hg.), Fortschrittsglauben und Dekadenzbewußtsein im Europa des 19. Jahrhunderts. Literatur – Kunst – Kulturgeschichte, Heidelberg 1986, S. 13-29. 118

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›PÈRE-VERSION‹

thematische Fokalisierung und »ästhetische Positivierung des Pathologischen« überhaupt erst gestattet.12 Verstand Mario Praz die Dekadenzliteratur in seiner wegweisenden motivgeschichtlichen Studie als ›Nachtseite der Romantik‹, die Äußerung ihrer Untergrund-Strömungen13, ist dieser Befund, was die sexuell-geschlechtliche Gemengelage angeht, allerdings im europäischen Vergleich zu relativieren.14 In Frankreich darf nicht nur eine untergründige Sade-Rezeption als Vorgeschichte der literarischen Dekadenz gelten. Dort verband sich exaltierter Wagnerismus mit einem literarisierten ›Nervendiskurs‹, dessen sexualpathologische Thematik (post)romantische Linien fortsetzte.15 Die ästheti(zisti)sche Stilisierung dieses Gemischs, die sich in der Höhenkamm-Belletristik abzeichnete16, konnte vom realistischen Feuilletonroman auch wieder rückgängig gemacht werden.17 Die populären wie esoterischen französischen Dekadenzromane, die hier ein-

12. Ursula Link-Heer: »Das Pathologische als Faszination. Zur vor-freudianischen Semiotik der Nervenkrankheiten am Beispiel der Rougon-Macquart von Zola«, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse, 17/18 (985) S. 268-286, hier: S. 277, sowie: »›Le mal a marché trop vite‹. Fortschritts- und Dekadenzbewußtsein im Spiegel des Nervositäts-Syndroms«, in: W. Drost: Fortschrittsglauben, S. 45-67, hier: S. 61. 13. Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik, München 1970, 2 Bde. 14. Vgl. Jens Malte Fischer: Fin de siècle. Kommentar zu einer Epoche, München 1978. 15. Vgl. Josef Theisen: Die Dichtung des französischen Symbolismus, Darmstadt 1974, sowie insbesondere Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle, Berlin, New York 1973. Ihm gemäß stand Wagner nicht nur »als Vermittler zwischen dem ›romantischen Mythos‹ und der ›symbolistischen Dichtungstheorie‹« (S. 54), sondern sein Werk bot auch inhaltlich ein sexuell-geschlechtliches Mythen-Reservoir für die Dekadenz-Literatur, besonders in der Kombination sexueller Grenzüberschreitung mit Keuschheitsmystik. Vgl. zu dieser Einschätzung eines schief »Hermaphroditenkult« genannten Motivverbunds schon Marion Luckow: Die Homosexualität in der literarischen Tradition. Studien zu den Romanen von Genet, Stuttgart 1962, S. 6-29. 16. Einen Überblick über die Themenverflechtung gibt z.B. Jean Pierrot: L’imaginaire décadent. 1880-1900, Paris 1977. Koppen (Dekadenter Wagnerismus), der ›Dekadenz‹ als Attitüde definiert, bemerkt, dass sie etwa ab 1885 zu einem europäischen Schlagwort wurde. Ein Jahr zuvor war die Bibel der Dekadenz und des europäischen Ästhetizismus erschienen, nämlich Joris-Karl Huysmans’ berühmter Roman A Rebours. Vgl. zur literarischen Bewegung z.B. Noël Richard: Le mouvement décadent. Dandys, Esthètes et Quintessents, Paris 1968. 17. Vgl. dazu Hans-Jörg Neuschäfer/Dorothee Fritz-El Ahmad/Klaus-Peter Walter: Der französische Feuilletonroman. Die Entstehung der Serienliteratur im Medium der Tageszeitung, Darmstadt 1986. 119

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bezogen werden, inszenieren sexuelle und/oder geschlechtliche Identitätskrisen, die herkömmliche Lebensformen auch in gewöhnlichen Alltagswelten (z.B. des provinziellen Kleinbürgertums) in Frage stellen. Während die avantgardistische Moderne mit hochartifiziellen Transpositionen traditioneller Geschlechtersemantiken operiert, verwertet die auf Sinn und Kohärenz abzielende ›Signifikatsliteratur‹18 alte literarische und neue wissenschaftliche Themenkomplexe, deren kategoriale Kombinations- und narrative Varianzmöglichkeiten das Geschlechtssubjekt zu problematisieren, aber auch auf identifikatorischem Wege zu restabilisieren erlauben. Das Genre des Feuilletonromans in der Nachfolge Eugène Sues drängte sich der unterhaltsamen Inszenierung des reichen Spektrums sexuell-geschlechtlicher Anomalien förmlich auf.19 Für die Inszenierung individueller Abweichungen bot sich die Gattung des realistischen Bildungsromans mit naturalistischen Versatzstücken, z.B. Vererbungs- und Milieutheorien, ebenso an wie das Sittengemälde im Stil des Balzacschen Gesellschaftsromans. Beide auf ihre groben Raster reduzierten Modelle liefen in der einfachen Form eines journalistischen Diskurses von Kasus und Exempel zusammen, der die mediale Konkurrenz zwischen Literatur und Presse gleichsam kurzschloss.20 Trotz der Serienförmigkeit dieser Hybrid-Genres thematisch motivierter Fortsetzungsromane, die sich bei Joséphin Péladan dann zum hochsymbolischen Zyklus zusammenschließen, bleiben die

18. Nach Kittlers globaler Unterscheidung zwischen einer modernistischen ›Signifikantenliteratur‹, deren Verfahren auf die Medienmaterialität der Schrift abzielen, und einer inhaltsbezogenen Literatur, die mit eher traditionellen Mitteln imaginäre Sinneffekte stiftet. Insbesondere triviale französische Unterhaltungsprosa des Fin de Siècle, die sich oft unter hochsymbolischen (Serien-)Titeln ankündigt, wirkt wie ein interdiskursiver Flickenteppich, auf dem sich medizinische, psychologische, sexologische Diskurse mit ästhetisch-philosophischen, religiös-okkulten und politischen überlagern. Vgl. z.B. Catulle Mendès: Lesbia, Paris 1886; Rachilde (i.e. Marguerite Eymery): Monsieur Vénus. Avec une préface de Maurice Barrès, Paris 1977; dies.: Madame Adonis, Paris 1888; Armand Dubarry: Le fétichiste, Paris 1896; Jane De la Vaudère (i.e. Mme. Crapez): Les demi-sexes, Paris 1897; dies.: Les Androgynes. Roman passionel, Paris 1903; Félicien Champsaur: Lulu. Roman clownesque illustré, Paris 1895; Jean Lombard: Byzance, Paris 1890 usw. 19. Armand Dubarry schrieb in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Reihe von Romanen für die bei Chamuel (Paris) erscheinende Buchserie Les déséquilibrés de l’amour [Die in der Liebe aus dem Gleichgewicht Gebrachten] in denen er die sexualwissenschaftliche Taxonomie (z.B. Richard von Krafft-Ebings) in Geschichten aussponn, z.B. Les femmes eunuques, Paris 1899, 11. Aufl. 20. Viele dekadente Unterhaltungsromane werden zunächst als Zeitungsromane publiziert. In Gestus und Tonfall sind sie journalistischer Geschwätzigkeit und kommentatorischem Besserwissen angepasst. 120

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›PÈRE-VERSION‹

in ihnen geschilderten Devianzkarrieren jedoch stereotypisierte Einzelfall-Geschichten voll sinnträchtiger Botschaften, deren Finalität einer vom Erzähler kommentierten Argumentationslogik entspricht, die, insbesondere auf dem Gebiet der Geschlechtersemantik, neue szientistische Erkenntnisse in überholte metaphysische Rahmen integriert.21 Die extrem gesteigerte Sensibilität für Sexuell-Geschlechtliches artikuliert sich als eine Paradoxstruktur, die bei Péladan wie bei Rachilde zum Symptom einer re-idealisierenden Tendenz wird. Wechselseitige Metaphorisierungen interdiskursiv heterogener Kategorien und Konstrukte, wie z.B. Androgynie, Zwittertum, Homo- und Bisexualität, Travestie oder Geschlechtertausch, verweisen überdies auf die beginnende Erosion des Körper/Seele-Dualismus, dessen idealistische Rettung später von der lebensphilosophischen Opposition eingeholt und rassistisch übercodiert werden wird. Nutzen insbesondere Autorinnen, wie z.B. Rachilde, den Einbruch des Krankheitsdiskurses in die Comédie humaine22 als ein imaginäres Experimentierfeld, etwa für emanzipatorisch inspirierte Rollentausch-Szenarien, liegt ihr Hauptimpetus allerdings in der Resubstantialisierung der nunmehr exzentrisch gewordenen geschlechtlich-sexuellen Identitätspotentiale und deren Reintegration in kleinbürgerliche Rahmen.

Dekadente Perversion(en) romantischer Androgynie Die allegorische Spiegelung von idealer Liebe und Geschlechtertausch wird im »romantisme« zwar ironisch gebrochen, aber zugleich mit einer metaphysischen Letztfundierung versehen. Wie der galante Celadon aus der frühen Barockliteratur oder Marivaux’ Figuren vom Ende des 17. Jahrhunderts, die Honoré d’Urfés Lektion bereits psychologisierten, werden die Androgyne der romantischen Trilogie, Fragoletta, Séraphîta und Mademoiselle de Maupin23, zu ihrem eigenen gegengeschlechtlichen

21. Catulle Mendès macht daraus z.B. einen Schauerroman: ›Méphistophéla‹ (Paris 1890), in dem eine morphiumsüchtige lesbische Mutter, die ihre in eine Pflegefamilie abgeschobene Tochter inzestuös begehrt, die schon als Kind hysterisch werdende Frucht der ›genetisch ungünstigen‹ Verbindung eines tatarischen Frankenstein-Monsters mit einem frühreifen Mädchenpagen darstellt. 22. Lesbische Nervenschwäche bei Adolphe Belot (1870), männliche Hysterie bei Péladan (1891), hereditäre Minderwertigkeit bei Catulle Mendès (1890). 23. So sollen hier drei Romane der französischen Romantik betitelt werden, deren thematische Ähnlichkeit nicht allein entstehungsgeschichtlich begründet werden kann: Hyacinthe de Latouche (1799): Fragoletta ou Paris et Naples en 1799, Paris 1983; Honoré de Balzac (1834/1835): »Séraphîta«, in: La Comédie humaine, Bd. 9/10 (Etudes 121

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Doppelgänger mit Liebesauftrag, doch die sukzessive Inszenierung einer unauflösbaren Doppelgeschlechtlichkeit bestimmt sie selber bloß zu unfruchtbaren Boten zwischen den Geschlechtern. Während das Zwittergeschöpf des republikanischen Publizisten Hyacinthe De Latouche noch tragisch durch Selbstmord endet, entschwindet Balzacs androgyner Erzengel nach verrichteter Mission wieder in himmlische Höhen.24 De Latouches Fragoletta stilisiert sich nicht nur zu ihrem angeblichen Zwillingsbruder, um wahre Gefühle zu erkunden wie Marivaux’ Fausse Suivante, die ›falsche Dienerin‹, oder um als junger Herr eine libertinistisch codierte Bisexualität auszuleben wie ihre Nachfolgerin Fräulein Maupin, sondern vor allem deswegen, weil sie das erhaben-schreckliche Geheimnis ihres körperlichen Hermaphroditismus zu verbergen strebt, so daß es sich erst im und mit dem Tod des Subjekts enthüllt. Dieser ironischen Antwort auf die aufklärerische Suche nach der Wahrheit des Geschlechts, dessen Monstrosität zur Möglichkeitsbedingung späterer Wahrhaftigkeiten wird, folgt Balzacs mystische Variante einer Wiedergutmachung der Spaltung der Figuren durch die handlungsstrukturelle Verdoppelung. Sein philosophischer Roman, dessen dichotomes Decorum (Tag/Nacht, Norden/Süden, Frühjahr/ Winter) den Rahmen bildet für androgyne Symmetrie und Reziprozität, folgt mit der Wiedervereinigung des idealen bürgerlichen Liebespaars (Wilfrid & Minna) durch einen schamanischen Erzengel, Schimäre reziproker Idealisierung der Geschlechter, einer frühromantischen Lesart der theosophischen Lehre Swedenborgs. Die spirituelle Unio mystica mit dem androgynen Seraphin wird zur quasi-initiatorischen Bedingung einer in ihrer Sinnlichkeit vergeistigten Geschlechtsliebe.25 Die übergeschlechtliche ›Trans-Sexualität‹ Séraphîtas, die ihre Gestalt der jeweiligen Fremdperspektive entsprechend wechselt, verweist nicht nur auf spätere literarische Halluzinationen von Geschlechtswechsel, sondern auch bereits auf die idealbildende Funktion geschlechtlicher

philosophiques), Paris 1966; Théophile Gautier (1835): Mademoiselle de Maupin, Paris 1976. 24. Hier wäre in Balzacs philosophischem Remake theosophischer Mystik des frühen 18. Jahrhunderts der Einfluss der optimistischen Androgynie-Modelle zeitgenössischer Sozialutopisten zu untersuchen. Vgl. Alan J. L. Busst: »The Image of the Androgyne in the 19th Century«, in: Ian Fletcher (Hg.), Romantic Mythologies, London 1967, S. 1-95. 25. Vgl. Balzac: Séraphîta, S. 252: »Ainsi l’androgyne est le fruit d’une idéalisation mutuelle par laquelle Minna projette sur l’aimé l’image masculine parfaite de Séraphîtus, tout comme Wilfrid fait de Séraphîta la féminité magnifiée de Minna«, d.h. »So ist das Androgyne eine Frucht wechselseitiger Idealisierung, dergemäß Minna das Bild androgyner Vollkommenheit auf Séraphîtus projiziert, so wie Wilfried aus Séraphîta die überhöhte Weiblichkeit Minnas macht«. 122

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›PÈRE-VERSION‹

Mimikry. So erklärt und gebietet der zwischen vollendeter Männlichkeit und vollendeter Weiblichkeit oszillierende Engel den beiden von ihm Gebannten: »[…] vous m’aimez pour vous et non pour moi […] le ciel vous a destinés l’un à l’autre.«26 In Balzacs Roman laufen die parallelen Schicksale der komplementär um ein göttliches Wesen bemühten Geliebten auf die Versöhnung des durch die Geschlechter-Polarisierung entzweiten Paares hinaus.27 Eine verweltlichte Fassung dieses asexuellen ›Geschlechts der Engel‹, Test und Vorbild irdischer Geschlechter, bietet hingegen Théophile Gautiers ästhetizistisches Amazonen-Zitat in Form einer rokokohaft stilisierten Hosenrolle.28 Wird die Travestie der libertinistischen Heldin hier wieder als perspektivischer Effekt inszeniert, so diesmal im mehrstimmigen Genre eines Briefromans, mithilfe dessen sich die Wissensdifferenz der Figuren auch humoristisch nutzen lässt. Wenn Maupin als boy actor Shakespeares Rosalind spielt, sorgt das Zitat einer potenzierten Theater-Travestie für eine mise-en-abîme-Struktur29, die das Leben selber zur Travestie macht. Wenn die Hauptfigur daher am Schluss in die Fiktion der Fiktion entschwindet, verliert die romantische Botschaft ihr Pathos ironischerweise auf postalischem Wege: Aimez-vous tous deux en souvenir de moi, que vous avez aimée l’un et l’autre, et dites vous quelquefois mon nom dans un baiser. […] Si cela vous désole trop de me perdre, brûlez cette lettre, qui est la seule preuve que vous m’ayez eue, et que vous croirez avoir fait un beau rêve.30 Liebt euch in Erinnerung an mich, die ihr mich geliebt habt, der eine wie die andere, und sagt euch manchmal meinen Namen bei einem Kuss. […] Wenn es euch zu sehr betrüben sollte, mich zu verlieren, verbrennt doch einfach diesen Brief, der der einzige Beweis dafür ist, dass ihr mich (gekannt) habt, und ihr werdet glauben, es sei einfach ein schöner Traum gewesen.

26. Ebd., S. 35. 27. Als Reaktion auf die bürgerliche Polarisierung der Geschlechtscharaktere (Karin Hausen) wird das alteuropäische hermaphroditische Ehegleichnis im Medium allgemeiner Subjektivität wieder in Kraft gesetzt. Vgl. Jacques Borel: Séraphîta et le mysticisme balzacien, Paris 1967, S. 129-311. 28. Fräulein Maupin ist nicht nur einer Schauspielerin, Maupin d’Aubigny (16731707), nachgebildet, die Männerrollen übernahm und sich lesbische Eskapaden leistete, sondern spielt auch auf George Sand an. Vgl. Joseph Savalle: Travestis. Métamorphoses. Dédoublements. Essai sur l’œuvre romanesque de Théophile Gautier, Paris 1981, 57ff. 29. Vgl. André Targe: »›Last Scene of All‹ ...«, in: Europe. Revue littéraire mensuelle, 57 (1979), S. 141-147. 30. T. Gautier: Mademoiselle de Maupin, S. 375. 123

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Das transvestitische Stadium forschenden Werbens ist mithin durch eine androgyne Instanz ersetzt, welche als symbolisch kastrierende Korrektur eines bereits formierten Paares wirkt, die diesem einen imaginären Projektionsschirm hinterlässt.31 Die traditionsreiche Verankerung geschlechtlicher Travestie in triangulären Beziehungsstrukturen, in denen das travestierte Element bestimmte narrative Ebenen verdoppelt, deutet also auf den signifikanten Einsatz des Geschlechtertausches für die (Re-)Organisation heterosexueller Beziehungen, nämlich die Bildung oder Störung eines Duals durch einen geliebten Rivalen, dessen Zweigeschlechtlichkeit (und Gleichaltrigkeit) das ödipale Imaginäre zu vereiteln scheint. Phantasmatisch entspräche das romantische Generationsmodell des heterosexuellen Liebespaares somit der geschwisterlichen Genealogie perverser Lebensläufe in der dekadenten Unterhaltungsliteratur. Die Vorherrschaft freundschaftlicher Triangel vor hierarchischen Familienbeziehungen in den GeschlechtertauschGeschichten der Jahrhundertwende wird durch die oftmals mystifizierte Origo sexueller Außenseiter genealogisch noch verstärkt. Viele androgyne oder invertierte literarische Figuren des 19. Jahrhunderts sind bereits (Halb)Waisen oder Findelkinder und insofern als ›verfolgte Unschuld‹ der Welt ausgeliefert. Doch für die sozusagen laterale Ableitung der Perversionen spielt die Heimatlosigkeit der Abweichler vielleicht sogar eine geringere Rolle als die reiche Ikonographie geschlechtsüberschreitender und verschwisternder Familienähnlichkeiten.32 In der Dekadenzliteratur hat sich demnach eine mehrfache Destabilisierung der romantischen Androgynie vollzogen. Die die Geschlechterpolarität scheinbar zersetzende sexuelle Ausdifferenzierung, die aus der qualitativen Dichotomie ein quantitatives Kontinuum macht, geht mit einer psycho(patho)logisch intensivierten Beobachtung des eigenen Geschlechtsbewusstseins und seiner normativen Selbstkontrolle einher. Gerade dadurch ist der familiäre Innenraum durchlässig geworden für öffentliche Laster. Ferner kündigt sich die virtuelle Perversion bei-

31. Insofern wäre es wohl zu einseitig, die doppelte Isotopie, die dieses Schema zumindest temporär bietet, lediglich als literarisches Kompensativ unterdrückter Homosexualität zu betrachten. Vgl. Isabelle de Courtivron: »Weak Men and Fatal Women: The Sand Image«, in: George Stambolian/Elaine Marks (Hg.), Homosexualities and French Literature. Cultural Contexts, Critical Texts, Ithaca, London 1979, S. 210-227. 32. In Charles Algernon Swinburnes »Lesbia Brandon« (1864), einer Inszenierung perverser Transitivität auf der Basis von Travestie und unterschwelligem Geschwister-Inzest, wird der Bruder nur als Ebenbild seiner Schwester von deren lesbischer Freundin, die er liebt, geduldet, wenn auch nicht wiedergeliebt. Dieser Roman greift die Kernkonstellation von Balzacs Erzählung »Das Mädchen mit den Goldaugen« auf. Vgl. dazu Barbara Johnson, in: Vinken. 124

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der Geschlechter an. Obwohl das traditionell eher tolerierte, da phallische Werte inkarnierende Mannweib sein Prestige an den bis dahin außerhalb karnevalesker oder höfischer Enklaven eher diffamierten Weibmann abtritt, duldet die Dekadenzliteratur ihn lediglich in der narzisstischen Version androgyner Jugendlichkeit.33

Androgyn und Gynander: ›Noli me tangere, sorore‹34 Im Vergleich zur abgewerteten lesbischen Virago erhält der asexuelle Ephebe bei Joséphin Péladan35 den Alleinvertretungsanspruch für die Verkörperung eines geschlechtsneutral formulierten platonischen Perfektionsideals: »L’art a créé un être surnaturel, l’androgyne, auprès duquel Vénus disparaît«, d.h. »die Kunst hat ein übernatürliches Wesen, das Androgyne, geschaffen, das Venus in den Schatten stellt«.36 In seiner ästhetischen Programmschrift De l’androgyne37 präsentiert der gelehrte Literat seine geschichtsphilosophische Mythologie als epocha-

33. F. Monneyron (L’imaginaire androgyne, S. 319) differenziert die Asymmetrie der semsynthetischen Prozesse mithilfe der Kategorien geschlechtlicher Dominanzen und Subdominanzen: »L’effémination des formes masculines, dans la mesure où elle n’est pas trop accentuée, ne gomme pas l’essence virile du corps. […] l’éphèbe efféminé […] est la réunion en un seul corps d’une essence masculine et d’une forme féminine […]. Par contre, il semble qu’il en aille autrement pour une femme qui présente une masculinité évidente. […] Elle n’est plus saisie comme être féminin car […] la forme masculine ne s’ajoute plus à l’essence féminine mais, au contraire, la nie.« D.h. »Wenn die Verweiblichung männlicher Formen nicht zu stark betont ist, verwischt sie den wesentlich virilen Charakterzug des Körpers keineswegs. […]. Der effeminierte Jüngling vereinigt in seinem Leib also das männliche Wesen mit weiblichen Zügen. […] Dagegen scheint es sich mit der vermännlichten Frau gänzlich anders zu verhalten. Sie wird nicht mehr als weiblich wahrgenommen, die männliche Form fügt sich dem weiblichen Wesen nicht hinzu, sondern negiert es.« 34. Joséphin Péladan: A Cœur Perdu, Paris 1888, S. 42. 35. Auf Péladans hochinteressante Biographie, die in sein Romanwerk einfließt, kann hier ebensowenig eingegangen werden wie auf seine prominente Stellung in der Dekadenzbewegung. Der Pariser Kunstbohème galt der ehemalige Jesuitenzögling, der mit dem Okkultismus liebäugelte, als ein Original, dessen Leben zum Gesamtkunstwerk wurde. Er liebte es z.B., sich im assyrischen Kostüm zu präsentieren. Vgl. M. Praz: Liebe, Tod und Teufel, 1. Bd., S. 279ff.; Gert Mattenklott: Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George, Frankfurt/Main 1985, S. 90ff., 142ff.; Paul Courant: »Un initié naturel: Péladan«, in: A Rebours. Numéro spécial (›Des mystes symbolistes d’Albert Mérat au sâr Péladan‹), 33 (1985), S. 13-21. 36. Joséphin Péladan: Comment on devient fée. Erotique. Paris 1892, S. 305. 37. Joséphin Péladan: De l’androgyne, Paris 1910. 125

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le Degradierung eines Androgynie-Ideals, der er mit einer Wiederaufwertung der Transzendenz zu begegnen versucht. ›Androgynie‹ ist Ursprung und Telos der Kunst, freilich eher auf der Ebene der Sinneffekte denn auf jener signifikanter Verfahren. In der »Wissenschaft von der Liebe«, der wagnerianisch tönenden Erotologie Platons, mit der Péladan seine ethisch-ästhetische Bilanz zieht, wird Androgynie als Sinnbild wie Höhepunkt singularisierender Individualisierung begriffen: Un androgyne peut être également Tristan ou Yseult; son caractère distinctif consiste dans un désir de perfection. Il apporte dans le péché une idée, qui est presque un idéal, une idée de lui-même […] qui oblige à sentimentaliser son instinct et à spiritualiser son sentiment. […] L’androgynisme est le plus haut point de l’individualisme: […] disposition singulière à l’idéal. Il n’y a pas d’homme-espèce pour l’androgyne, dont l’orgueil reste invincible. […] Le problème de l’androgyne ne dépend pas de deux qualités, mais de leur unification.38 Ein Androgyn kann genau so gut Tristan oder Isolde sein, sein unterscheidendes Merkmal liegt allein im Vollkommenheitsstreben. Er verleiht der Sünde eine Idee, die fast an ein Ideal heranreicht, eine Idee seiner selbst […], die dazu verpflichtet, den Instinkt gefühlvoll zu machen und sein Gefühl zu vergeistigen […]. Das Streben nach Androgynie ist der höchste Individualismus: […] einzigartige Befähigung zum Ideal. Es gibt keinen Gattungs-Menschen für den Androgyn, dessen Stolz unbesiegbar bleibt […]. Das Problem des Androgynen hängt nicht von zwei Qualitäten [wie männlich und weiblich, A. R.] ab, sondern von ihrer Vereinigung. Wurzel des geschlechtlichen Übels ist ein gnostischer Dualismus, der Mangel und Begehren einführt, bekämpft wird eine symbolische Kastration, die aus dem häretischen Paradies des Adam Kadmon vertrieb. Der Androgyn wird zum narzisstischen Asketen. L’homme dédoublé donne naissance au binaire: il n’y plus d’androgyne, complet, tranquille, parfait; […] l’être intermédiaire […], un démon, un diable, c’est donc Eros […], le Désir […]. Nous sommes incomplets, parce que nous avons un sexe; il nous faut l’autre, et l’amour nous le donne.39 Der verdoppelte [i.e. vergeschlechtlichte, A. R.] Mensch gebiert erst das Binäre: es gibt dann kein vollständiges, in sich ruhendes, perfektes Androgynes mehr; […] das Zwischenwesen, ein Dämon, ein Teufel, das also ist Eros […], das Begehren […]. Wir sind

38. Joséphin Péladan: Amphithéâtre des Sciences mortes. La Science de l’Amour. Paris 1911, S. 119,128, 136. 39. Ebd., S. 96, 138. 126

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›PÈRE-VERSION‹

unvollständig, weil wir ein Geschlecht haben; daher brauchen wir das andere, und die Liebe gibt es uns. Péladans katholizistische Lesart des platonischen Gastmahls kürt abstinente Liebe zum Katalysator des Androgynen, weil sie den im Sexualakt virulenten Geschlechterdualismus zu verdrängen vermag. Weder Travestie noch Homoerotik oder gar eine bisexuelle Praxis, sondern die Vereinigung zweier potentiell zweigeschlechtlicher Seelen, die von der Sinnlichkeit Abstand nimmt, erzeugt – statt Nachwuchs – jene psychische Androgynie, für die Péladan den Ehrentitel eines ›dritten Geschlechts‹ reserviert: Qu’on n’oublie pas que le sexe est triple, et qu’il nous manque autant au cerveau et au cœur qu’au corps. […] si l’androgyne véritable résulte de la rencontre de deux êtres potentiellement bisexués, leur unification aboutira à un troisième sexe.40 Dass man nicht vergisst, dass das Geschlecht dreifach ist und uns seiner ebenso im Geist wie im Herzen und im Körper ermangelt. […] wenn der wahre Androgyn aus der Begegnung zweier potentiell bisexueller [d.h. zweigeschlechtlicher, A. R.] Wesen hervorgeht, führt ihre Vereinigung zu einem dritten Geschlecht. Wird der szientistische Anspruch konstitutioneller Bisexualität im Körper/Geist/Seele-Triplet spekulativ zurückgenommen, so verweist die Vergeschlechtlichung des abendländischen Substanzendualismus bereits auf das psychologische Phänomen einer Geschlechtsidentität, die Péladan zum quasi-transsexuellen Paradox verrätselt: »L’âme d’un être n’est pas forcément du même sexe que son corps: je ne dis point qu’elle soit de l’autre«41, d.h. »die Seele hat nicht unbedingt dasselbe Geschlecht wie der Körper, womit ich aber nicht sagen will, dass sie dann das andere Geschlecht besitzt«. Um in den narzisstischen Genuss androgyner Vollkommenheit zu erlangen, bedarf es nicht allein des Sexualverzichts, sondern auch, wie in den Thesenromanen des 21bändigen Zyklus La Décadence Latine (1884ff.) demonstriert, der stets von außen gefährdeten Unschuld der Phantasie. Zwischen Gnadenstand und Sündenfall schiebt sich ein in seiner Wirkkraft magisch verabsolutiertes Imaginäres, das auf der konstitutiven Spaltung zwischen Wahrnehmung und Vorstellung, Wissen und Realität42, beruht. Den

40. Ebd., S. 138. 41. J. Péladan: L’amphithéâtre, S. 111. 42. So die jugendliche Heldin: »[…] je suis plus perverse que vous, puisque je connais tout le vice et n’en ai aucun«, d.h. »ich bin perverser als Sie, denn ich kenne alle Laster und habe selber keines«. Joséphin Péladan (1884): Le vice suprême, Paris 1979, S. 71. 127

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ÜBER DIE GRENZE

dekadenten Typus, Konglomerat von Renaissance-Klischees43, charakterisieren narzisstische Gleichgültigkkeit und affektive Kälte44, ein indes fragiler Schutzschirm gegen erotische Reize. Da der Prozess sexueller Läuterung, den jeder Thesenroman an einem anderen Beispiel demonstriert, bei beiden Geschlechtern über eine Feminisierung des Maskulinen verläuft, stellt die Vermännlichung des Weiblichen bloß noch deren moralisches Negativ dar. Konnte schon eine gewisse Ausprägung der (früh)romantischen Androgynie-Utopie als eine Selbstprojektion des männlichen Ideals gelten45, so verpflichtet Péladan sie ausdrücklich auf das antikisierende Modell mädchenhaften Jünglingtums. Seine sublimatorische Auffassung von androgyner Vervollkommnung, die physiognomisch auf die phänotypische Geschlechtslosigkeit46 der Vorpubertät fixiert bleibt, wird im Romanwerk der Décadence Latine (S. 1884ff.) narrativ entfaltet. Jeder Band dieses SittenFreskos nimmt sich ein anderes Thema vor, das das Lebens- und Liebesprogramm der Androgynie zu konkretisieren erlaubt.47 Im achten Buch (L’Androgyne, 1891) seines Riesen-Epos inszeniert Péladan die (psychische) Vergewaltigung eines ephebischen Jesuitenzöglings durch ein bretonisches Bauernmädchen. Hatte »Samas«, der ideale Androgyn, den homoerotischen Versuchungen des Internatslebens widerstanden, findet er seinen symbolischen Tod in der Berührung mit Sexualität, die hier körperliche Geschlechtsreife wie sexuelles Erwachen

43. Als nobilitierendes Etikett bedeutet Dekadenz in Péladans Geschichtsmythologie und im Kontext der Nietzsche-Mode um 1900 den Sieg der apollinischen Antike (klassisches Griechenland) über deren dionysische ›Perversion‹ (spätrömische Kaiserzeit). 44. Einer »Leonora d’Este«, der emblematischen Fortsetzung des berühmten Florentiner Geschlechts im 19. Jahrhundert (J. Péladan: Le vice, S. 65), kann auch pornographische Literatur nichts anhaben: »Cette bestiale ardeur n’éveillait rien dans ses sens délicats et raffinés de décadente. […] confirmée dans la rareté de son caractère, […] sa supériorité s’augmente de tout ce qui la dissemble des autres« (S. 31). »Diese bestialische Hitze stachelte die feinen und raffinierten Sinne einer Dekadenten nicht an. […] bestätigt in der Seltenheit ihres Charakters, […] vergrößert sich ihre Überlegenheit durch alles, was sie von anderen unterscheidet.« Dekadenz wäre also eine Art von überspitzter Singularisierung. 45. Vgl. Susanne Amrain: ›My Soul’s Body‹. Zur Psychogenese von Frauenbildern in der englischen Dichtung des 19. Jahrhunderts, Köln 1984. 46. G. Mattenklott spricht vom Moment der geschlechtlichen Unentschiedenheit. Wenn körperliche Geschlechtsmerkmale, als sichtbare Zeichen des verabscheuten Dualismus, zum Inbegriff unästhetischer Unvollkommenheit werden, dürfen sie allenfalls angedeutet sein. 47. In den Einzelhandlungen kehren bestimmte Figuren (z.B. die berühmte ›Gynander‹ »Stella de Senanques« oder die androgynen Führer »Mérodack« und »Tammuz«) aus früheren Romanen wieder, und schon die Romantitel sind hochsymbolisch. 128

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›PÈRE-VERSION‹

konnotiert: »L’androgyne n’existe qu’à l’état vierge: à la première affirmation du sexe, il se résout au mâle et au féminin«48, d.h. »das Androgyne existiert nur im jungfräulichen Zustand, beim ersten Anzeichen der Geschlechtswerdung, löst er sich in Männliches und Weibliches auf«. Aus eigener Schuld dagegen verfällt die Gynander, die im gleichnamigen Anschlussband (1892) auftaucht, den Zerstreuungen einer lesbischen Unterwelt, deren Herrscherin vom femininen Rosenkreuzer »Tammuz«, Péladans babylonisch verbrämtem Alter Ego49, durch die sexuelle Verweigerung des Mannes zur reinen Liebesfähigkeit erlöst wird. Mit Weiningers Trauma50 in Wagnerianischen Träumen scheint Péladans Konfiguration die symbolische Struktur der lacanschen Geschlechterkonzeption imaginär zu maskieren: Wenn man das Andere nur unter der Bedingung geschlechtlich sein kann, dass man darauf verzichtet, es sexuell zu haben, wird eine signifikante Positionierung auf ihre phantasmatische Dimension reduziert. Doppelgeschlechtlichkeit bedeutet dann die Chance einer inerten Ambiguität des Einen (Geburts-)Geschlechts.51 L’androgyne, lui, n’est pas un monstre composite, il a l’un ou l’autre sexe; il s’appelle Achille ou Jeanne d’Arc, […] Mignon ou Chérubin. […] Pendant toute la première jeunesse, on le reconnaît à quelque chose de garçonnier chez des filles et de féminin chez les garçons: dès que le sein gonfle ou dès que la lèvre s’ombre, l’extériorité se range à l’aspect sexuel commun. Précisément à l’heure où le caractère visible disparaît, l’âme […] commence à se dualiser.52 Der Androgyn ist kein zusammengesetztes Ungeheuer, er hat ein Geschlecht oder das andere; er nennt sich Achill oder Jeanne d’Arc, […] Mignon oder Cherubim. […] In ihrer ersten Jugendlichkeit, kann man etwas Jungenhaftes bei Mädchen und etwas Mädchenhaftes bei Jungen erkennen: doch sobald die Brust schwillt oder die Lippe sich mit Bartflaum überzieht, ordnet sich das Äußere dem allgemeinen geschlechtlichen Aspekt un-

48. Joséphin Péladan: L’androgyne, Paris 1891, S. 38. 49. »[…] si tendre que la plus douce des femmes«, »so zärtlich wie die Sanfteste der Frauen« (J. Péladan: La vertu suprême, Paris 1900, S. 31). 50. Sexualverweigerung des einzig der Individualität fähigen Mannes gegenüber einer in bewusstloser Sinnlichkeit aufgehenden Weiblichkeit wird auch Otto Weininger empfehlen. Péladan antizipiert sein Frauenbild (»la communion passionnée de l’esprit restera toujours inconnue à la femme«, d.h. »die passionierte Vereinigung der Geister wird Frauen immer unbekannt bleiben«, ebd., S. 204) und fragt sich: »Tammuz-femme peut-elle exister?« »Kann es einen weiblichen Tammuz geben?« (ebd., S. 43). 51. So J. Péladan: Initiation sentimentale, Paris 1887, S. 8: »L’homme n’est pas un duel, mais bien un singulier à double polarisation«. 52. J. Péladan: L’amphithéâtre, S. 111. 129

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ter. Genau in dem Moment, wo der sichtbare Charakter verschwindet, beginnt die Seele sich zu spalten. In dem Maße, wie Androgynie auf die Präsenz einer gegengeschlechtlichen Subdominante reduziert wird, was man heute etwa als männliche bzw. weibliche Anteile eines Individuums bezeichnen würde, erscheint sie aber auch wieder als ein androzentrisches Macht- und Hierarchieverhältnis. Der männliche Part bleibt Initiator und Gewinner der Askese. So zwingt der Künstler »Nébo« seine Gattin »Paule de Riazan«, zum ehelichen Zölibat, um sie dadurch zur Sublimation zu erziehen. Wenn der spirituelle Mann seine Geliebte geistig befruchtet, kann sich diese ’höchste Aristokratie der Sinne’ auch im Beischlaf materialisieren. Doch der gemeinsame »Astralkörper« der Gatten bleibt von Voluptas bedroht: »[…] à la moindre surdose, le spasme couperait le câbla organique; du mutuel tremplin de nos cœurs, nos âmes jailliraient dans la mort«53, d.h. »bei der geringsten Überdosis zerschnitte ein orgastischer Krampf das organische Band; vom gemeinsamen Springboden unserer Herzen sprängen wir in den Tod«. Der männliche Androgyn jedenfalls ist in die Position eines narzisstischen Gottes gerückt, wenn er zum Schluss triumphiert: »Je suis encore le Maître […], ANTEROSROI«54, »ich bin noch immer Meister […], der KÖNIG ANTEROS«. Péladans blasphemische Moment55 besteht jedoch vor allem darin, dass der selbsternannte katholische Rosenkreuzer den sexuellen Lapsus des Begehrens mit nihilistischer Verve im ontologischen Sündenfall des Geschlechterdualismus fundiert. Androgynie spielt also bei Péladan eine Doppelrolle, deren Symptomstatus interessanter erscheint als ihre Abwehrfunktion.56

53. J. Péladan: A cœur perdu, S. 363. Vgl. S. 82, 107. 54. Ebd., S. 43. 55. Vgl. Patrick Besnier: »Péladan. Un décadent contre la décadence«, in: L’esprit de décadence, hg. vom Institut de Lettres de l’Université de Nantes, Paris 1980, S. 8188. Für Péladan sei Androgynie nicht nur eine metaphysische Figur und ein ästhetischer Schlüsselbegriff, sondern auch ein Oppositionskonzept. 56. Im zeitgenössischen Kontext sexualwissenschaftlicher Debatten um ›Uranismus‹ (Karl Heinrich Ulrichs) oder ›Konträrsexualität‹ (C. von Westphal) möchte Péladan die päderastischen Konnotationen platonischer Liebe gern neoplatonisch abdämpfen. »Les Grecs crurent plus simple de charneliser [!] l’amitié, que d’amiticier la chair« (J. Péladan: L’amphithéâtre, S. 132), heißt es in preziösen Neologismen, dann aber im Klartext: »La perversité contredit, charnellement à la polarisation des sexes; moralement à l’harmonie qui est la loi des âmes; et spirituellement à la charité« (ebd., S. 277). »Die Griechen glaubten, dass es einfacher sei, die Freundschaft fleischlich auszulegen als das Fleisch in Freundschaft zu verbinden«. »Die Perversion widerspricht auf leiblicher Ebene 130

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›PÈRE-VERSION‹

Asymmetrie des Ideals: (Homo-)Sexualität als Maske des (Anderen) Geschlechts Im zweiten Septenat der Décadence Latine antwortet der Sakralisierung des Androgyn eine Dämonisierung der Gynander. Wie bei Belot, Mendès oder Rachilde wird das Sapphische der Kurtisanen-Literatur in einen psychopathologischen Diskurs überführt, den man, geht es um weibliche Perversionen, gern mit Phantastischem versetzt.57 Die medizinische Maskulinisierung der Tribadinnen, die gleichgeschlechtliches Verlangen heterosexuell zu begründen erlaubt, schürt eine moralische Verurteilung des Mannweibs, die sich auch religiöser oder okkulter Diskurse bedient. Während Péladans jungfräulicher Liebling in phallizistischer Einheitlichkeit die Stelle des höchsten Ideals besetzt, ist die Gynander in zwei prosaische Typen aufgespalten, von deren sexologisch codierter Ätiologie ihre androgyne Kapazität abhängt. Péladans schwülstige Predigt stürzt dabei in die skurrile Nacherzählung medizinischer Fallgeschichten ab. Im Schlussband der Romanserie, dessen Titel (La vertu suprême) wie ein Echo auf den Anfangsband (Le vice suprême) anmutet, steigt die werkverklammernde Figur des Rosenkreuzer-Missionars »Tammuz« in die dantesken Höllenkreise einer lesbischen Subkultur hinab. Dort beherrschen eher aktive Wildfänge, »Schülerseelen« in Jungmädchenkörpern, ihre passiven ›Weibchen‹. Hebt Péladan auch den ephebischen Charme der Knaben-Imitatorinnen hervor, entlarvt er unter der männlichen Maske sogleich das unerträgliche Weib, besonders bei jenen Femme fatale-Mutationen wie der »Comtesse Fantôme«, die lesbischen Sadismus praktizieren.58 Ganz im Einklang mit den Thesen der zeitgenössischen Sexologie (z.B. Richard von Krafft-Ebings) erscheint die angeborene ›Inversion‹ unheilbarer als das erworbene ›Laster‹: »Les natives, garçonnières dès l’enfance, jouent le rôle positif en l’aberration, obéïssant à un idéal faussé et aussi insensuelles qu’insexuelles, des garçons avortés en femme, des âmes de lycéens en des corps féminins […]. Les devenues, normales pendant l’enfance, jouent encore par la suite le rôle passif et féminin en l’aberration, obéïssant celles-là, à une fausse innervation et simplement ennemies de l’homme par inaccomodation de la vibration voluptueuse, âmes féminines en des corps également féminins, mais rebelles à

der Polarisierung der Geschlechter, auf moralischer der Harmonie, die das Gesetz der Seelen ist, und auf geistiger der Barmherzigkeit«. 57. Mendès (1890) nimmt Horror-Stoffe auf, Péladan (1900) märchenhafte ›Fantasy‹ vom Schlage des ›Fliegenden Holländers‹, Rachilde (1888) Hexen-Topoi. 58. Vgl. Monneyron (1987), S. 274ff., 392ff. 131

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l’orgasme sexuel, […] demandant chez […] l’amoureux une intelligence raisonné de clavier féminin et son contrepoint.59 Diejenigen, deren Neigung angeboren ist und die von Kindheit an burschikos erscheinen, spielen bei dieser Verirrung die aktive [leitende] Rolle, indem sie einem verfälschten Ideal gehorchen und ebenso unsinnlich wie asexuell sind, halbe Jungen, Pennälerseelen in Frauenkörpern. […] Diejenigen Frauen, die, zunächst normal, pervers geworden sind, spielen dann auch weiterhin die passive und feminine Rolle, indem sie falschen Reizen folgten und einfach deswegen zu Feindinnen der Männer wurden, weil ihre Sinnesschwingungen nicht mit den männlichen übereinstimmten, weibliche Seelen in gleichermaßen weiblichen Körpern, aber dem sexuellen Orgasmus abhold, […] verlangen sie von ihrem Liebhaber […] ein besonderes Feingefühl für die weibliche Tonleiter und deren Kontrapunkt«. Der Autor-Erzähler-Held einer literarischen Wunschbiographie, die die Wesensphilosophie der Geschlechter stellenweise bereits mit einer modernen Phänomenologie der Transsexualität verknüpft, wird sämtliche Lesbierinnen60 ironischerweise in dem Moment zur Askese bekehren, wenn sie keine mehr sind, nämlich dann, wenn sie das Männliche wieder zu begehren beginnen.61 »La femme androgyne«, heißt es fast zynisch, »ne pratique qu’un art, celui de l’amour«62, »die androgyne Frau praktiziert nur eine einzige Kunst, jene der Liebe«.

Weibliche Dandies und ›Objekt-Mann‹ Die schon im Dandytum beschlossene Abwertung eines traditionell mit Weiblichkeit gleichgesetzten Natürlichen gegenüber dem Künstlerisch-Künstlichen macht die narzisstischen Untertöne ästhetizistischer

59. Zit. in: ebd., S. 368. 60. Ihre Gemeinsamkeit liegt in einer traumatischen Erfahrung. Der Wildfang »Simzerla Roussalsky« ist z.B. eine nervöse Reaktionsbildung auf sexuellen Missbrauch in der frühen Kindheit: »[…] par vengeance nerveuse au viol qui commença sa vie familiale« (zit. in: F. Monneyron: L’imginaire, S. 388). Feminine Lesbierinnen haben die bräutliche Entjungferung nicht verkraftet (vgl. Mendes: Méphistophéla, Paris 1890, aber auch das Pamphlet ›Homme-femme‹ von Alexandre Dumas fils, Paris 1872). Péladans Therapie ist jene des Softies zu Suffragetten-Zeiten: Er plädiert für verständnisvoll-zärtliche Gatten. 61. In dem Maße, wie die Gynander als sexuelle Usurpatorin (so bei Swinburne, Belot, Mendès, Rachilde usw.) vernichtet werden muss, weil ihr die Schuld am Verlust der väterlichen Ordnung gegeben wird, mehren sich auch die Rettungsversuche. 62. Zit. in: F. Monneyron: L’imaginaire, S. 464. 132

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›PÈRE-VERSION‹

Misogynie unüberhörbar. Eine Dekadenz-Autorin wie Rachilde63 scheint den Spieß umzudrehen, wenn sie den in seiner ›natürlichen Feminität‹ naturalisierten Epheben (»Jacques« alias »Jaja«), »ein gut gebauter Bursche, […] aber frisch und rosig wie ein Mädchen«, »ein schöner Kerl […] dessen Seele weiblichen Instinkts sich in der körperlichen Hülle getäuscht hatte«64, zum proletarisierten Manipulationsobjekt einer aristokratischen Domina (»Raoule de Vénérande«) herabwürdigt, die weder lesbisch noch feministisch sein möchte. Snobistisch erklärt die Heldin: »[…] être Sappho, ce serait être tout le monde! Mon éducation m’interdit le crime des pensionnaires et les défauts de la prostituée«65, »sapphisch zu sein, das wäre wie jede[r] zu sein, nämlich gewöhnlich! Meine Erziehung verbietet mir das Laster von Pensionats-Schülerinnen und die Charakterfehler der Prostituierten«. Im Gegensatz zum Mädchenpagen (»Fragoletta«, »Maupin«, usw.) ist »Raoule« sadistisch, im Unterschied zur Femme fatale aber maskulin stilisiert und an femininen Männern interessiert, denen sie im Unterschied zur Kokotte indes gefährlich wird. In elegantem maskulinen Outfit zur weiblichen Version des Dandy stilisiert, macht diese Domina den ihr sozial unterlegenen jungen Mann dadurch zum Weib66, daß sie ihn als ihre Haremsdame67 und spätere ›Gattin‹ im Boudoir gefangenhält, aber zugleich zur Asexualität zwingt.68 Mit diesem double bind

63. Rachilde (i.e. Marguerite Eymery), die eine ›tomboy‹-Kindheit erlebte, sich später aber vom Suffragettentum absetzte und zeitweilig nationalistischen Neigungen erlag, war Mitherausgeberin der Zeitschrift Mercure de France und eine beliebte Unterhaltungsschriftstellerin. Vgl. Claude Dauphiné: Rachilde. Femme de lettres 1900, Paris 1985. 64. Rachilde: Monsieur Vénus, S. 33, 89f. 65. Ebd., S. 85. 66. Paraphrasen dieser Travestie: »[le faire] oublier son sexe«, »[le] féminiser«, »étouffer [le mâle] en lui« (ebd., S. 108): »ihn sein Geschlecht vergessen lassen«, »ihn verweiblichen«, »den Mann in ihm ersticken«. 67. Dies entspricht dem Orientalismus der Zeit, den die bisexuelle Lucie DelarueMardrus sinnfällig veranschaulicht, verheiratet mit dem ägyptischen Orientalisten Mardrus, der 1001 Nacht ins Französische übersetzte. 68. Charles Grivel meint, dass der Negativierung der Sexualität die Ambiguisierung des Geschlechts entspreche: »Mais c’est la première fois […] que le corps existe pour le sexe et que cette sexualité, négative et improductive, s’accomplit […] sans plaisir aucun: le corps rachildien est un corps neutre […]. Son sexe n’est ni rôle ni fonction, c’est un signe qui échappe. […] Il est bien moins un organe que le signifinant […] du coprs en tant que tel. […] Le sexe est celui de l’autre«. Charles Grivel: »Rachilde, envers de deux, enfer de deux. Réponses«, in: Mireille Calle (Hg.), Du féminin, Sainte-Foy (Québec) 1992, S. 185-202, hier: S. 191. 133

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nähert sich die skandalöse Umkehrung der androgynen Hierarchie69 jedoch implizit wieder der diese Asymmetrie überhaupt erst fundierenden idealistischen Basis. Wird »Herr Venus« durch die Suggestivkraft der Rolle und die erlittenen Demütigungen zum passiven Homosexuellen70, der sich dem Ex-Geliebten seiner Herrin hingibt, um von ihm dann, auf ihren heimlichen Befehl hin im Duell getötet zu werden, dient seine ausgestopfte Leiche noch als schaurige Reliquie jener Idolatrie, die ihn zu Lebzeiten sein Geschlecht vergessen lassen wollte.71 Das bei Péladan vergeistigte Ideal materialisiert sich bei Rachilde in einer perversen Eigendynamik, deren sexuelle Komponente das Liebespathos satirisch unterläuft, um schließlich doch im passionellen Melodram zu enden. Ist in Péladans Thesenromanen einer als Sittengeschichte travestierten Geschlechter-Ethik und Geschlechts-Ästhetik ein sozial ortloser Bohémien Führer zum androgynen Heil, so übernimmt bei Rachilde deklassierter weiblicher Adel72 die mithin egoistisch gewordene Aufgabe, das eigene Begehren im Ideal nicht ersterben zu lassen. So erklärt die frivole Heldin: »›J’ai voulu l’impossible ... Je le possède […] C’est-à dire non, je ne le posséderai jamais! …‹«73 »›Ich wollte das Unmögliche ... nun habe ich es, nein ich werde es niemals besitzen!‹« Rachildes weiblichem Pygmalion, diesem »Christoph Kolumbus der Liebe«74, werden die phantasmatische Qualität des Objekts und die morbide Unabschließbarkeit des Begehrens mit tödlicher Konsequenz bewusst. Das Geschlechterverhältnis ist, trotz aller Verzichte und Verkehrungen, also auch in der ›Signifikatsliteratur‹ unmöglich geworden.

69. »Raoule« resümiert ihr Motto: »[…] que de nous deux, le plus homme c’est toujours moi« (Rachilde: Monsieur Vénus, S. 99), »dass von uns beiden ich immer noch am meisten Mann bin«. 70. »On l’avait fait si fille que la folie du vice prenait des dimensions du tétanos« (ebd., S. 220), »man hatte ein solches Mädchen aus ihm gemacht, dass das verrückte Laster zu einer fürchterlichen Krankheit wurde«. 71. Insofern erscheint es verfehlt, die Umkehrung geschlechtlicher Machtrelationen auf eine feministische Revolte festzuschreiben, die erotische Literatur zu sapphischen Zwecken umfunktioniert hätte. Vgl. Lucienne Frappier-Mazur: »Conversion et subversion dans le roman érotique féminin (1799-1901)«, in: Romantisme, 59 (1988), S. 107-119. 72. Diese intertextuelle Differenz könnte man als eine Metapher für die kulturhistorischen Schicksale des ›absteigenden Mannweibs‹ und des im Gegensatz dazu ›aufsteigenden Weibmanns‹ betrachten. 73. Rachilde: Monsieur Vénus, S. 89. 74. Ebd., S. 88. 134

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›PÈRE-VERSION‹

›Finis latinorum‹ oder die ›vaterlose Gesellschaft‹75 In dem Maße, wie sich die androgyne Engelfigur76 dem Eunuchen nähert, wird das apollinisch befriedete Geschlechterverhältnis77 zum sterilen Selbstverhältnis, das bei Péladan nicht von ungefähr als leere Spiegelung zweier Spiegel erscheint: Comme deux miroirs échangeant leurs reflets, ces êtres qui ont commencé à se désirer voluptueusement, se désireront moralement, et ce sera une nouvelle volupté; et quand ils ne seront qu’une âme, ils auront encore à connaître une troisième ivresse, la possession spirituelle.78 Wie zwei sich spiegelnde Spiegel, werden diese Wesen, die sich leiblich zu begehren begannen, sich moralisch begehren, und das wird eine neue Art von Wollust sein, und wenn sie nur noch eine Seele wären, hätten sie noch einen dritten Rausch zu kosten: den spirituellen Besitz. Der Akzent dieser Zweigeschlechtlichkeit des Gleichen liegt auf einer narzisstisch konnotierten Selbstgenügsamkeit79, deren paradoxer De-

75. Vgl. zu Péladans geschichtsphilosophischer und politischer Konzeption Michèle Besnard-Coursodon: »Nimroud ou Orphée: Joséphin Péladan et la société décadente«, in: Romantisme, 42 (1983), S. 119-136. Vgl. Péladan (L’amphithéâtre), der durchaus zeitgeistgemäß der Mediokrität der demokratischen Massengesellschaft den elitären Geistesadel, dem protestantischen Bürger den katholisch-mystischen ›SeherKünstler‹ gegenüberstelle, habe unablässig die apokalyptischen Konsequenzen des Verlusts einer ›väterlichen Ordnung‹ angeprangert: »Dieu est mort […]: une société d’où est évacué le Père – peuple sans chef, corps sans tête, est […] décadente, vouée à l’Apocalypse. Tel est le sens du FINIS LATINORUM qui termine ›Le Vice suprême‹« (S. 122). »Gott ist tot in einer Gesellschaft, aus der der Vater vertrieben wurde – Volk ohne Führer, Körper ohne Haupt, ist sie […] dekadent, der Apokalypse geweiht. Das ist der Sinn von FINIS LATINORUM, das mit dem ›Höchsten Laster‹ endet.« 76. Die im Vergleich zur Gynander, die als Pseudo-Frau wie als Pseudo-Mann hässlich erscheint, wenigstens ästhetischer Verklärung fähig bleibt. Nur die Ähnlichkeit mit dem dekadenten Renaissance-Jüngling gibt Frauen die ästhetische Würde der präraffaelitischen Ikonen zurück. Vgl. Séverine Jouve: Les Décadents. Bréviaire fin de siècle, Paris 1989, S. 99-101. 77. Vgl. Nelly Emont: »Le mythe de l’androgyne dans la littérature décadente française«, in: Jean Libis (Hg.), Le mythe de l’androgyne, Paris 1980, S. 229-249. 78. Joséphin Péladan: Erotologie de Platon (1909), zit. in: G. Mattenklott: Bilderdienst, S. 148. 79. Auch Félicien Champsaur fasst Androgynie in Régina Sandri als spirituelle Spiegelrelation: »[…] nos cerveaux seuls en face, nous nous entendrons toujours […] Mais pour les sens? Nous nous entendrons jamais« (zit. in: M. Praz: Liebe und Tod, 135

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ÜBER DIE GRENZE

fensivcharakter die Sehnsucht nach der Metonymie des Verlangens artikuliert. In Jean Lorrains Roman Très russe (1886) ahnt »Mme. Livitnoff«, daß Keuschheit das Verlangen mobil hält; in Thédore de Wyzewas »Valbert« unterwirft der Protagonist seine Ehe von vorneherein einem Keuschheitsgelübde.80 Bei Péladan konstituiert sich wahre Androgynie als imaginäres Drittes81 nur dadurch, dass sich bereits geistig androgyn Eingestellte platonisch lieben. Das Begehren des Begehrens erfordert den Ausschluss von Fremdheit, besonders als radikaler Alterität. Insofern könnte man vielleicht sagen, dass der romantischen Verdrängung der Geschlechterdifferenz in der vollen Gestalt einer symmetrischen Synthese, die dem Phantasma der phallischen Mutter entspräche, ihre dekadente Verwerfung gefolgt ist, d.h. die paranoide Einebnung einer banalisierten Antinomie durch infinitesimale Ver/ Mischung oder unendlichen Aufschub. Die symbolische Lücke der Nicht-Affirmation füllt die imaginäre Kaskade82 sexuell-geschlechtlicher Zwischenstufen, literarisierende Gedankenflucht eines taxonomischen Wahnsystems. Geschlechtsidentität wird zum metaphorischen Substitut einer sublimatorisch erstarrten Differenzbewegung, zur substantialisierenden Besetzung eines arithmetisch gewonnenen Zwischenraumes, der auch den Abstand zum Anderen gewährt. Die symbolische Geschlechterdifferenz ist ins Imaginäre des Subjekts verlegt. Dafür spräche auch Péladans kulturkritisch eingebettetes Lamento83 über die Kluft zwischen realer und symbolischer Vaterfunktion: »Le plus grand crime qu’un homme puisse commettre après l’homicide, c’est la procréation, sans volonté absolue de paternité.«84 »Das größte Verbrechen, das ein Mann gleich nach dem Mord begehen kann, ist dasjenige der Fortpflanzung, ohne absoluten Willen zur Vaterschaft«. Wiewohl

S. 48). »Allein unsere Gehirne, die sich gegenüberstehen, so werden wir uns immer verstehen […] Aber, was die Sinnlichkeit anbelangt, werden wir uns niemals verstehen«. 80. Jean Lorrain (i.e. Paul Duval): Très russe, Paris 1886, und Thédore de Wyzewa: Valbert, Paris 1893. 81. Im Gegensatz zur These über Travestie als symbolischem Dritten der Geschlechterdifferenz. Vgl. Marjorie Garber: Verhüllte Interessen. Transvestitismus und kulturelle Angst, Frankfurt/Main 1993. 82. Vgl. Jacques Lacan: »Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht«, in: Schriften II. Olten/Freiburg i.Br. 1975, S. 61-119. 83. »La suprême laideur, c’est la démocratie. La suprême mechanceté, c’est le militarisme. La suprême barbarie, c’est le progrès. […] Nous ne croyons ni au Progrès ni au Salut.« Daher die Maxime: »Ne fornique ni ne vote« (zit. im Vorwort zu J. Péladan: Le vice, S. 14, Anm. 2 u. S. 4, Anm. 16). »Das höchste Hässliche, das ist die Demokratie. Die höchste Bosheit, der Militarismus. Die höchste Barbarei, der Fortschritt. […] Wir glauben weder an den Fortschritt noch ans Heil.« »Wer nicht ›vögelt‹, wählt auch nicht.« 84. J. Péladan: L’amphithéâtre, S. 323. 136

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›PÈRE-VERSION‹

das fading of gender einem fading of the father geschuldet sein könnte85, soll sich der vielzitierte Topos der ›vaterlosen Gesellschaft‹ hier nicht auf eine sozialpsychologische Diagnose beziehen86, sondern auf die strukturelle Transformation der Geschlechterverhältnisse. So stünde das dekadente Programm einer Feminisierung der Kultur, das später bekanntlich die männerbündische Reaktion aktivierte, im Zeichen einer historischen Neuverteilung geschlechtlicher (Re)Produktion, die sich auf der Ebene kultureller Codierung durch den Übergang von der hausväterlichen Initiation (der ›family of generation‹) zur mütterlichen Primärsozialisation (der Kleinfamilie) charakterisieren ließe. Wenn die symbiotische Herstellung moderner Subjektivität die Instanz des Gesetzes, als Repräsentanz der Alterität des Symbolischen, auf die Ambivalenz eines (stark-schwachen) ›imaginären Vaters‹ reduziert, sind dem kindlichen Narzissmus keine Grenzen mehr gesetzt. Doch die Mutterbindung führt nur insofern zur »Kultur der realen Perversion«87, als sie nicht symbolisiert zu werden vermag.88 Auch in der dekadenten Signifikatsliteratur stößt man auf jenes Repräsentationsverbot mütterlicher Lust, das Julia Kristeva für die modernistische Avantgarde verzeichnet.89 Die Elternlosigkeit dekadenter Außenseiter imponiert durch die gleichsam insistierende Abwesenheit einer nostalgisch verschobenen Mutterfigur, die sich als perverse Komplizin, phallischer Fetisch oder hysterisiertes Selbst manifestiert.90 Daher lässt sich im dekadenten Credo der Spiritualisierung des Körpers eine Allianz der Perversion mit dem Weiblichen ausmachen.91 Während vermännlichte Frauen im literarischen Phantasma durch die asketische Politik der Priester-Junggesellen zum neutralisierten Weib annulliert werden, dürfen ihre idealen Kontrastgestalten des femininen Epheben und der

85. Zumal sich die ›Krise der Geschlechter‹ seit der Jahrhundertwende als eine ›Krise der Männlichkeit‹ artikuliert. Vgl. Annelise Maugue: L’identité masculine en crise. Au tournant du siècle 1871-1914, Paris 1987. 86. Wie z.B. bei Alexander Mitscherlich (1963): Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, München, Zürich 1973. 87. Friedrich A. Kittler: Dichter. Mutter. Kind, München 1991, S. 208. 88. Luce Irigaray und Julia Kristeva treffen sich darin, den symbolischen Muttermord zur Grundbedingung, zur verdrängten Infrastruktur, der ›phallogozentrischen Ordnung‹ zu machen. 89. Julia Kristeva: La révolution du langage poétique. L’avantgarde à la fin du XIXe siècle (Lautréamont et Mallarmé), Paris 1974. 90. Wenn der Narzissmus mütterlichen Begehrens in der »mutterzentrierte[n] Kernfamilie« (F. Kittler: Dichter, S. 214) der Grund dafür ist, dass die Objektliebe des Kindes narzisstisch bleibt (ebd., S. 158, 178, 242), ist das Selbst »gar kein Selbst, sondern die Mutter im Unbewußten« (ebd., S. 208). 91. Paul-Laurent Assoun: Le pervers et la femme, Paris 1989, S. VIIIf. 137

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ÜBER DIE GRENZE

männlichen Kokotte sich einer quasi-sexuellen, geschlechtlichen Identitätslust hingeben, die als Genuss eines ›Phallus-Seins‹ Lacan zufolge die weibliche wie die psychotische Position charakterisiert.

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›HOMMES-FEMMES‹ AU FÉMININ

›Hommes-femmes‹ au féminin. Zu Colettes Dekonstruktion ›dritter Geschlechter‹ »Je n’ai jamais, jamais désiré écrire.« (Colette)1 »Le désir, pur désir impur, est l’appel à franchir la distance, appel à mourir en commun par la séparation.« (Maurice Blanchot)2

Traurige Freuden Kaum hatte die Provinzlerin Colette, als ›ghostwriter‹ ihres Gatten Willy, dieses skrupellosen3 Romanfabrikanten4, mit der Claudine-Figur5 einen neuen literarischen Typus geschaffen6, wurde die Gestalt des lasziv unschuldigen jungen Mädchens zur Modeerscheinung der Belle Epoque. Als medienwirksames Echo auf die verstaubte Pensionatsliteratur7 geriet die Buchheldin vor allem durch die spektakulären Theaterdarbietungen der algerischen Variété-Künstlerin Polaire ins Rampenlicht.8 Nachdem der Impresario Willy die Schauspielerin und

1. Zitiert in: Hortense Dufour: Colette. La vagabonde assise, Monaco 2000, S. 121. 2. Maurice Blanchot: L’écriture du désastre, Paris 1980, S. 50f. 3. ›Nicht die Literatur, sondern die Kopie gebührt unserer Epoche‹, soll der Kolporteur Willy gesagt haben. 4. Vgl. Ursula Link-Heer: »Willy und Colette in Bayreuth«, in: Annegret Fauser/ Manuela Schwarz (Hg.), Von Wagner zum Wagnérisme. Musik, Literatur, Kunst und Politik, Leipzig 1999, S. 485-510, bes. S. 488ff. 5. Vgl. Danielle Deltel: »›Assise en face de moi-même‹: Naissance d’une écriture de soi«, in: Cahiers Colette 15 (1993), S. 55-69. 6. Colette: Mes apprentissages (1936), Paris 1949, S. 65f. 7. Rachilde sagte später über Adolphe Belots Roman ›Mademoiselle Giraud, ma femme‹ (1870), der die lesbische Sucht einer Ehefrau im Mädchenpensionat beginnen lässt: »[C’est] le roman-père de tous les romans de cet ordre«, d.h. »das ist der VaterRoman aller Romane dieser Sorte« zit. in: Nicole Albert: Saphisme et décadence dans Paris fin-de-siècle, Paris 2005, S. 12. [Diese Übersetzung und alle Folgenden von A. R., falls nicht anders angegeben.] 8. Berühmt war ihre Taillenweite von 42 cm. Dass es inmitten der Fauna bunt139

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ÜBER DIE GRENZE

seine eigene Frau dem ›Tout Paris‹ im Zwillings-Look vorgeführt hatte, befreite sich die heimliche Autorin aus dem Boulevardschwank erotischer Dreiecke, indem sie mit ihrer lesbischen Geliebten, der Marquise de Morny, geschiedene Belbeuf, kurz »Missy« genannt, selbst auf die Bühne stieg. In Rêve d’Egypte (1906) verkörperte Colette eine Mumie, die vom Ägyptologen »Yssim«, evidentes Anagramm Missys, durch einen öffentlichen Zungenkuss zum Leben erweckt wird. Dass eine Grossnichte Napoleons die Provokation als Herrenimitator so weit trieb, Music-Hall-Plakate mit ihrem Adelswappen zu schmücken, entfachte den Skandal. Erst nach der Lösung von Missy, die bis zu ihrem Tod als Mann lebte, ergriff Colette die Feder unter eigenem Namen.9 Das väterliche Patronym des Capitaine Colette, zufälligerweise ein weiblicher Vorname, verdrängte den ehelichen Sozius.10 Handelt Chéri (1920), jener Roman, mit dem Colette ihren schriftstellerischen Durchbruch erlangte, von der fatalen Passion eines schönen Gigolo für eine alternde Kurtisane, geht das literarisch vorbelastete Fantasma eines imaginären Mutter-Sohn-Inzests11 seiner lebensgeschichtlichen Verwirklichung voraus.12 Obwohl dieses ›acting out‹ geschlechtliche Hierarchien bereits verkehrt, mag sich die Autorin auch mit dem Kindmann identifiziert haben13, als Reaktion auf ihre einstige Rivalität zum

scheckiger Perversionen, wie sie etwa René Crevel parodierte, auch Wespentaillen-Fetischismus gab, belegt die zeitgenössische psychiatrische Studie von Agnès Masson: Le travestissement. Essai de psycho-pathologie sexuelle, Paris 1935, S. 77. 9. Erstmals beim Roman Le blé en herbe (1923). 10. Ursula Link-Heer: »Colette (1873-1954)«, in: Alexandra Busch/Dirck Linck (Hg.), Frauenliebe. Männerliebe. Eine lesbisch-schwule Literaturgeschichte in Porträts, Stuttgart, Weimar 1997, S. 128-132. 11. Von Racines Phädra über Stendhal (Le Rouge et le Noir) und Flaubert (L’éducation sentimentale) bis zur dekadenten Unterhaltungsliteratur. Der 1884 verbotene Erstlingsroman Monsieur Vénus der bald sehr erfolgreichen Vielschreiberin Rachilde (i.e. Marguerite Eymerey), die Colette gut kannte, handelt von einem weiblichen Dandy, ›der‹ einen hübschen armen Jüngling zu seiner Haremsdame macht, um ihn dann aus Eifersucht umzubringen und durch eine Wachspuppe zu ersetzen. Bei Colette bringt sich Chèri im Folgeband (La fin de Chéri, 1926) selbst um. 12. Gemeint ist die kurz danach beginnende sexuelle Liebschaft Colettes zu ihrem Stiefsohn Bertrand de Jouvenel. Vgl. Julia Kristeva: Le génie féminin. Tome III. Colette, Paris 2002, S. 76: »Le fantasme a […] précédé à l’acte«, d.h. »das Fantasma ist […] dem Akt vorausgegangen«. Kristeva sieht in der umgekehrten Lolita (S. 73) einen inzestuösen Wunsch am Werk. 13. So Mieke Bal: »Insconsciences de Chéri – Chéri existe-t-il?«, in: Bernard Bray (Hg.), Colette, nouvelles approches critiques. Actes du Colloque de Sarrebruck (22-23 juin 1984), Paris 1986, S. 15-27. 140

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›HOMMES-FEMMES‹ AU FÉMININ

älteren Bruder um die ausschließliche Liebe der vergötterten Mutter Sido.14 Nachdem Colette etliche Spielarten moderner Sexualität durchquert hat, scheint sie selbst keinem Geschlecht mehr anzugehören15, nicht zuletzt aufgrund ihres gern als ›hermaphroditisch‹ deklarierten Schreibens.16 »La figure voilée d’une femme fine, désabusée, savante en tromperie, en délicatesse, convient au seuil de ce livre qui tristement parlera du plaisir«, schreibt Colette zu Anfang ihres Buches Ces plaisirs …«17 »Die Gestalt einer zierlichen Frau, die ihre Illusionen verloren hat, aber wissend bleibt in Täuschung und Zartgefühl, steht zu Recht auf der Schwelle eines Buches, das traurig von der Lust zu sprechen wird.« Mit dieser emblematischen Figur ist neben der geheimnisvollen Charlotte, der reifen Liebhaberin eines Jünglings, vielleicht die Schrift selbst gemeint. Bei der 1932 veröffentlichten Porträtsammlung, die zuweilen essaystisch wirkt, handelt es sich weniger um Konterfeis berühmter Zeitgenossen, wie sie Colette in Trait pour Trait18 vorlegte, vielmehr um szenisch-anekdotische Skizzen hetero- und homosexueller Liebe aus weiblicher Sicht. Die offene Form eines diskontinuierlichen Nebeneinanders von dialogisierter Erzählung und kommentatorischer Reflexion erweckt den Eindruck ineinander verwobener Gedanken, Beobachtungen und Erinnerungen, die aber nicht etwa assoziativ, sondern argumentativ und rhetorisch miteinander verknüpft sind. Maurice Goudeket, Colettes dritter Ehemann, hält dieses Werk für ihr »schwierigste[s]«19, spricht es doch, wie die Verfasserin tiefsinnig bemerkt, nur »traurig von der Lust«.20 Ein Meisterstück, das zunächst Le

14. So Colette in La Naissance du jour (1928). Vgl. Michel del Castillo: Colette, une certaine France, Paris 1999, S. 60. 15. J. Kristeva: Le génie féminin, S. 83. 16. Pierre Kyria: »L’écriture hermaphrodite«, in: Magazine littéraire, 266 (1989), S. 36f. 17. Colette: »Le pur et l’impur« (1941), in: Œuvres. Edition publiée sous la direction de Claude Pichois, Bd. III, Paris 1991 [Pléïade-Ausgabe], S. 533-653, hier: S. 566. Der Titel heißt in der deutschen Übersetzung Diese Freuden (übers. von Maria Dessauer, Frankfurt/Main 1993), aber bedeutet auch ›diese Lüste‹ oder ›diese Genüsse‹. 18. Vgl. Francine Dugast-Portes: »L’art du portrait dans Trait pour Trait«, in: Cahiers Colette, 15 (1993), S. 149-164. 19. Maurice Goudeket: Colette, Hamburg, Wien 1957, S. 87. 20. »[…] ce livre qui tristement parlera du plaisir«, in Colette: Le pur et l’impur, S. 566. 141

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ÜBER DIE GRENZE

Fourbe, der Betrüger, heißen sollte, wird zehn Jahre später in Le pur et l’impur (1941)21 umgetauft. Die moralischen Untertöne des Titels weist die Autorin mit belanglosen, aber symptomatischen Vorlieben ab22: »S’il me fallait justifier un tel changement, je ne trouverais qu’un goût vif pour des sonorités cristallines, une certaine antipathie pour les points de suspension«23, d.h. »wenn ich eine solche Veränderung rechtfertigen sollte, dann allein mit meiner lebhaften Vorliebe für kristalline Klänge und einer gewissen Antipathie gegen Auslassungspünktchen«. Beide Fassungen aber, die sich kaum unterscheiden, handeln von jenen verbotenen Lüsten, in denen sich das Reine und das Unreine schon immer vermischt hat. Noch nachträglich ironisiert das hybride Gebilde die Zweideutigkeit einer grundlegenden kulturellen Semantik, jener der Geschlechterdifferenz. Wenn Kristeva Colette, als ›Sonnenschwester der Hysterika‹, in die Reihe der weiblichen Genies des 20. Jahrhunderts aufnimmt, dann deswegen, weil sie ein neues Alphabet erfunden habe, »l’interpénétration de la langue et du monde«24, die wechselseitige Durchdringung von Sprache und Welt. Mit dieser blumigen Metapher ist eine Verschränkung von Sinn und Sinnlichkeit gemeint, die Kristeva bereits ihrer Proust-Lektüre zugrundelegte. Dort heißt es zum Chiasmus von Wahrnehmung und Erinnerung: »La chair est plénitude de cette incomplétude que m’impose la sensation.«25 Wird Lacans Primat einer symbolischen Ordnung, das die imaginäre Dimension vernachlässigt26, durch die Annahme einer multi-sensoriellen Einbettung bedeutungsbildender Strukturen, dieser ›materiellen Gallerte‹ (Ursula Link-Heer) signifikanter Prozesse, wettgemacht, steht dem verkennenden Ich der Psychoanalyse ein Subjekt der Textpraxis gegenüber, das seine Negativität performativ austrägt. Auf der Grenze zwischen Somatischem und Psychischem wirksam, untersteht das Pulsionelle zwar den Setzungen und Verwerfungen des Wiederholungstriebs, kehrt aber im Gegenzug als sinnliche Materialität in die begriffliche Architektur zurück, – daher

21. Auf Deutsch: Das Reine und das Unreine. 22. Ebd., S. 90. 23. Colette: »Le pur et l’impur«, S. 551. 24. J. Kristeva: Le génie féminin, S. 15. 25. J. Kristeva: Le temps sensible. Proust et l’expérience littéraire, Paris 1994, S. 335. »Das Fleisch ist Fülle dieser Unvollständigkeit, die mir die Wahrnehmung auferlegt«. 26. Ebd., S. 281. Freud habe dagegen das Unbewusste als Aufzeichnungssystem für endogene und exogene Wahrnehmungsreize verstanden, die Spuren hinterlassen (ebd., S. 285), was dann zur »identification primäre« mit dem ›imaginären Vater‹ (vor dem Lacanschen Spiegelstadium) führe. Vgl. dazu Julia Kristeva: »L’abjet d’amour«, in: Cahiers Confrontation 6 (1981), S. 123-167. 142

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›HOMMES-FEMMES‹ AU FÉMININ

auch Kristevas im Vergleich zu Freud lustbetontere Vorstellung von Sublimation. Die ›Dialektik‹ einer asymmetrischen Verdoppelung der signifikanten Praxis durch die Spannung eines ins Semiotische eingeschriebenen Symbolischen und eines wieder im Symbolischen hervorbrechenden Semiotischen unterläuft den phallogozentrischen Primat der Metonymie und macht das Subjekt zum exzentrischen Ort des Kampfes und der Übergänge.27 Jede Erfahrung aber ist – Husserl gemäß – gerade insofern transzendent, als sie ihren Sinn aus der erlebten Immanenz des Bewusstseins erhält.28 In dem Maße, wie Kristeva aus ihrer Kritik an den bewusstseinsphilosophischen Voraussetzungen der Phänomenologie die Konsequenz eines epistemologischen Credos zieht, das auf der unhintergehbaren Gleichursprünglichkeit von Biologischem und Zeichenhaftem29 beruht, gelangt sie zu einer sensusalistischen Poetik des Imaginären, die Colettes Stil als »imprégnation entre la chair du monde et la langue française«30, im Sinne einer »Imprägnierung des Fleisches der Welt durch die französische Sprache«, versteht. Wenn die »fiktionale[n] Einbildungskraft«31 den libidinösen Status der geschilderten Grenzüberschreitungen in der Schwebe hält, schreibt Colettes Legierung von Erfahrenem und Erfundenem darin dennoch, so meine These, die Asymmetrie der Geschlechterdifferenz fort. Im Folgenden sollen die von der Belle Epoque bis zu den Années Folles virulenten Metaphern eines ›dritten Geschlechts‹ als Aufhänger für die Frage dienen, inwiefern Colettes performative Erzählweise epochentypische Denkfiguren, wie sie sich insbesondere aus den engen Wechselbeziehungen zwischen literarischen und medizinischen Diskursen ergeben, aufgreift und umfunktioniert. Nachdem sich Ursula Link-

27. J. Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt/Main 1978, S. 35, 49, 60ff., 91, 157. 28. Vgl. René Schérer: »Husserl, die Phänomenologie und ihre Entfaltung«, in: François Châtelet (Hg.), Geschichte der Philosophie. Bd. VI. Die Philosophie im Zeitalter von Industrie und Wissenschaft, Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1975, S. 236-266, hier: S. 250. 29. J. Kristeva: Le génie féminin, S. 546: »toujours déjà biologie-et-sens«, d.h. »immer schon Biologie-und-Sinn«. Dieser aporetischen Doppelung helfen auch die Bindestriche nicht. 30. Ebd., S. 424. An anderer Stelle ist man an die Euphorie und den Kitsch früher Versuche ›weiblichen Schreibens‹ erinnert, wenn es etwa heißt: »faire l’amour à l’Etre« (S. 427), »Liebe machen mit dem Sein«. 31. Ursula Link-Heer: »Männerliebe – gesehen von Colette«, in: Gerhard Härle (Hg.), Grenzüberschreitungen. Friedenspädagogik. Geschlechter-Diskurs. Literatur – Sprache – Didaktik. Festschrift für Wolfgang Popp zum 60. Geburtstag, Essen 1995, S. 327-338, hier: S. 329. 143

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ÜBER DIE GRENZE

Heer Colettes Konzeption der »Männerliebe« gewidmet und dabei die Diskrepanz zwischen Sodom und Gomorrha ebenso sensitiv wie überzeugend herausgearbeitet hat32, möchte ich mich hier auf die Darstellung der Frauenliebe konzentrieren, um zu ermitteln, mithilfe welcher narrativen und rhetorischen Verfahren Facetten weib-weiblichen Begehrens inszeniert werden. Im kulturhistorischen Kontext einer geschlechtlich übercodierten Krise der Moderne, die sich auch unter dem Aspekt einer allmählichen Durchsetzung des ›flexiblen Normalismus‹ (Jürgen Link) betrachten ließe, erweist sich Colettes »hermaphrodisme mental«, ihr ›geistiges Zwittertum‹, als (meta)poetische Metapher für die Metamorphosen einer Singularität.

Dritte Geschlechter: Sexuelle Perversion und geschlechtliche Inversion Hatte Colette wahrscheinlich schon um die Jahrhundertwende Zugang zu Krafft-Ebings Psychopathia sexualis, einem populären Pionierwerk der Sexualwissenschaft, dessen ständig erweitertes Spektrum sexuellgeschlechtlicher Abweichungen von »Effeminatio« und »Viraginität« über »Eviratio« und »Defeminatio« bis zu »Transmutatio sexus« und »psychosexualer Hermaphrodisie« reicht33, prägte erst der berühmte Sexualreformer Magnus Hirschfeld, dessen Studien 1908 ins Französische übersetzt wurden34, die Kategorie eines ›dritten Geschlechts‹.35 Dieser weniger exotische Sammelbegriff umfasst ein mehrebiges Kontinuum geschlechtlicher Abstufungen, die sich aus den möglichen Kombinationen physischer wie psychischer Charakteristika eines als idealtypisch gefassten Männlichen und Weiblichen ergeben. Obwohl Hirschfeld seine »Zwischenstufentheorie« nur als heuristisches Eintei-

32. Ebd., S. 329. 33. Vgl. Annette Runte: Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität, München 1996, S. 90ff. 34. Magnus Hirschfeld: Les homosexuels de Berlin: le troisième sexe, Paris 1908, zitiert in: Julius Edwin Rivers: Proust and the Art of Love. The Aesthetics of Sexuality in the Life, Times, and Art of Marcel Proust, New York 1980, S. 140f. 35. Sie kommt bei Krafft-Ebing nicht vor, weil sie zu metaphorisch ist, stattdessen greifen sie Betroffenen-Bekenntnisse und Unterhaltungsromane gierig auf, zumindest im deutschen Sprachraum. Vgl. Oskar Schumann-Arndt (Hg.), Wir vom Dritten Geschlecht. Lebensbeichte eines Entarteten. Nach den Aufzeichnungen eines Selbstmörders. Mit einem Anhang Die neusten Rätsel der psychopathischen Anomalien, Leipzig 1908; Aimée Duc [i.e. Minna Wettstein-Adelt]: Sind es Frauen? Roman über das dritte Geschlecht (1901), Berlin 1976. 144

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›HOMMES-FEMMES‹ AU FÉMININ

lungsprinzip36 begriff, blieb das positivistische Modell im normativen Essentialismus des traditionellen Geschlechterdualismus37 befangen. In der Rhetorik sexologischer Diskurse wurde die additive Kategorie eines ›troisième sexe‹, das Erweiterungen keineswegs ausschloss38, ebenso durch die ältere Formel einer weiblichen Seele im männlichen Körper (oder umgekehrt) ersetzt wie durch mythische oder naturgeschichtliche Referenzen, etwa auf den platonischen Androgyn, Ovids Hermaphroditen oder die darwinistische Urzwitter-Schimäre. Gemeinsam ist den zahlreichen Neologismen, wie an Péladans Terminus »gynandre« ersichtlich, die tendenziöse semantische Motiviertheit etymologischer Ableitung wie metaphorischer Neuschöpfung. Wurde der Ausdruck des dritten Geschlechts im französischen Kulturraum eher durch antikisierende Äquivalente verdrängt, musste er Colette, die ihn als solchen kaum benutzte, spätestens mit Willys Publikation Le troisième sexe (1927), einer satirischen Glosse über die deutsche Sexualreformbewegung39, bekannt geworden sein. Schon 1910 bediente sich der Literat Octave Uzanne in seiner Sittenstudie Parisiennes de ce temps dieses Reizworts, um Emanzipation als Entweiblichung zu denunzieren: »[…] elles se déféminisent sans se viriliser, inaugurant un troisième sexe.«40 Antifeministische Tiraden beziehen es auch auf weibliche Autorschaft oder Erwerbstätigkeit, wie etwa bei Marcelle Tinayre, die eine »femme de lettre« für eine contradictio in adjecto hält41,

36. Das wahnhafte Moment einer Gedankenflucht kommt darin zum Vorschein, dass Hirschfeld eine Unzahl von Ordnungstabellen für die mehrebige Verkoppelung dichotomer Geschlechtsfaktoren aufstellt und rechnerisch durchspielt, dass es mit zunehmender Subkategorisierung des Geschlechtsbegriffs so viele Mischungen geben müsse wie Menschen auf der Erde. Jedes Individuum bildete dann seine eigene Zwischenstufe. 37. Vgl. A. Runte: Biographische Operationen, S. 94ff. 38. So sind bei Victor Hoffmann: Das Vierte Geschlecht, Barmen 1901, misogyne Junggesellen im Visier. 39. Willy [i.e. Henry Gauthier-Villars]: Le troisiéme sexe, Paris 1928. Im Vorwort beklagt der rassistische Anthroposoph Louis Estève die »pandémie androgynomane« (S. 11), d.h. die »androgynomane Pandemie« als Verirrung romantischer Liebe. Missionarische Botschaft beider Autoren ist ein maskulinistisches Bekenntnis zur Heterosexualität. Mit der Formel »l’ersatz d’amour ne vaut pas la femme« (S. 27), d.h. »der Liebesersatz kann die Frauen nicht aufwiegen«, wird dem männlichen ›Gattungsgenie‹ gehuldigt (S. 19). Ist Deutschland für Willy, der sich in »Sodom-sur-Spree« herumtreibt, das Land des Lasters, macht er dessen Vorväter auch in Frankreich aus: Die »chefs de file« reichen von Rousseau bis zu Proust (S. 124). 40. Zit. in: N. Albert: Saphisme, S. 133. 41. »On dirait un troisième sexe«, zit. in: ebd., S. 146. 145

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ÜBER DIE GRENZE

oder bei Rachilde, die die neue Berufssparte der ›sténo-dactylo‹42, d.h. der ›Tippsen‹, dem Geschlecht der Arbeitsbienen43 zuweist. Wurde Zwittertum in der romantischen Literatur zu androgyner Vollkommenheit verklärt44, sank die symbolistisch verrätselte Chiffre45 im dekadenten Unterhaltungsroman46 zum grotesken Zerrbild geschlechtlicher Entdifferenzierung herab, wie die Häufung privativer Partikel unterstreicht. »Ni hommes ni femmes, tous en culottes«47, »weder Frauen noch Männer, alle in Hosen«, ereifert sich ein Chronist: »L’hermaphrodite! C’est-à-dire l’être qui n’est ni mâle ni femelle, ne sait lequel des deux sexes choisir, et finit par se les octroyer tous deux«48, d.h. »Der Hermaphrodit! Ein Wesen, das weder männlich noch weiblich ist, nicht weiss, für welches Geschlecht es sich entscheiden soll und schließlich damit endet, sich beide aufzuoktroyieren«. Nicole Albert bemerkt dazu in ihrer reichen diskurs- und begriffsgeschichtlichen Studie: »Produit d’une société à la dérive, l’hermaphrodite perd son statut éthéré pour devenir le symbole de l’abolition des sexes qui menace de toutes parts«49, d.h. »Ergebnis einer Gesellschaft, mit der es

42. Vgl. Walter Benjamin: »Soll die Frau am politischen Leben teilnehmen? Dagegen: Die Dichterin Colette«, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. IV.1 (hg. von Tillmann Rexroth), Frankfurt/Main 1991, S. 492496. 43. Rachilde: Pourquoi je ne suis pas féministe, Paris 1928, S. 12: »celui des fourmis travailleuses«. 44. Im Umkreis des französischen romantisme wäre dabei etwa an Hyacinthe de Latouches Fragoletta ou Paris et Naples en 1799 zu denken sowie an Balzacs frühen auf Swedenborg verweisenden ›roman philosophique‹ Séraphîta (1834/35). Vgl. A. Runte: Biographische Operationen, S. 677ff. 45. Vgl. etwa symbolistische Aufgriffe bei Albert Samain oder Renée Vivien. 46. So Marc Angenot: Le cru et le faisandé. Sexe, discours et littérature à la Belle Epoque, Brüssel 1986, S. 118: »Ce picaresque fin-de-siècle construit un paradigme du Moderne comme déterritorialisation radicale, […] perte d’identité. La société moderne, faisandé, immorale, cynique est un mundus inversus, de fange sur lequel le narrateur promène, en commode alibi, sa philosophie désabusée.« D.h. »Dieser Picaro 1900 errichtet ein Paradigma des Modernen als radikaler Deterritorialisierung, […] als Identitätsverlust. Die moderne Gesellschaft, unmoralisch, zynisch, mit dem gewissen ›haut goût‹ der Dekadenz, ist eine verkehrte Welt, ein Sumpf, auf dem der Erzähler, mit bequemem Alibi, seine blasierte Philosophie spazieren führt«. 47. John Grand-Carteret (1899), zit. in: N. Albert: Saphisme, S. 136. 48. John-Grand-Carteret (1899), zit. in: ebd., S. 151. 49. N. Albert: Le saphisme, S. 147. Jean Lorrain (Madame de Larmaille, féministe. Quatre femmes en pièces, Paris 1904) greift dieses Etikett in seiner Polemik gegen die dekadente Vielschreiberin Jane de la Vaudère (i.e. Mme. Crapez), die er als »Mme. de La Crapaudière«, d.h. als ideologisches ›Schwein‹ (crapule), »des livres antiphysiques« ver146

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bergab geht, verliert der Hermaphrodit seinen ätherischen Rang, um zum Symbol einer Abschaffung der Geschlechter zu werden, die die Gesellschaft von allen Seiten her bedroht«. Als Schein phallischen Habens oder Seins50 wird Transvestitentum also zum Indiz einer Kategorienkrise der Geschlechterordnung. Noch in L’Etoile Vesper (1946) beklagt Colette die tragische Ver(w)irrung einer Dis/Simulation geschlechtlicher Zeichen: »Comme c’est triste, ces chiffons à dentelles sur des cuisses noires de poils […] Et ces pauvres figures de faux hommes […], ces essais avortés […]. Leur roman est encore plus triste. Car ils ont […] leur espoir, leur désastre. […] De combien d’hésitations leur aspect est-il le fruit? […] un désordre, un pêle-mêle vestimentaire, qui assume une signification tragique.«51 »Wie traurig ist das, Spitzenröckchen über schwarz behaarten Beinen, […] und diese armseligen Gestalten falscher Männer, […] diese gescheiterten Versuche […]. Ihr Lebensroman ist noch trauriger. Denn sie besitzen […] ihre besondere Art der Hoffnung, des Unglücks. […] Eine Unordnung, ein Gemisch aus Kleidungsstücken, das eine tragische Bedeutung trägt.« Colette potenziert transvestitische Ent/Täuschung, indem ihr die von Cocteau gefeierte Trapezkünstlerin Barbette52 als natürlicher Mann ironischerweise noch unechter vorkommt denn als künstliche Frau: »la mystérieuse statue de Barbette-homme me sembla plus […] menteuse […] que l’apothéose désespérée de Barbette-femme«,53 d.h. »die geheimnisvolle Statue von Barbette als Mann schien mir noch […] lügenhafter […] als die verzweifelte Verklärung der Barbette als Frau«. Sexuelle Perversion, die in der buntscheckigen Fauna klinischer Taxonomie vom Sadomasochismus bis zum Zopf- oder Handschuh-Fetischismus reicht54, und geschlechtliche Inversion, d.h. ein der Anatomie nicht entsprechendes psychisches Zugehörigkeitsgefühl, wie es Transsexuelle noch heute offiziell kennzeichnet, drohen in heterogene

fassen lässt (zit. in: ebd., S. 287, Anm. 85). »Jean Lorrain prend pour cible ses consœurs et ébauche le portrait vitriolé d’une certaine Mme de Larmaille, féministe, lesbienne et bas-bleu qui goûte la tenue cycliste et publie des romans scandaleux aux accents pervers dont le dernier s’intitule Hermaphrodites« (ebd., S. 132). 50. So nach Lacans Paraphrase sexueller Positionierung: Marjorie Garber: Verhüllte Interessen. Transvestitismus und kulturelle Angst, Frankfurt/Main 1993. 51. Colette: L’Etoile Vesper (1946), Paris 1950, S. 74. 52. Ebd., S. 72f. 53. Jean Cocteau: »Le numéro Barbette« (1926), hg. von Jacques Damase, Paris 1980. 54. Satirisch karikiert hat dies René Crevel: Etes-vous fou? (1929), Paris 1981. 147

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Vielheit zu zersplittern.55 Ihre androgyne Synthese56 aber untersteht weiterhin der geschlechtlichen Machthierarchie, wie sie sich etwa in Péladans apodiktischer Abwertung des Mannweibs gegenüber dem Weibmann zeigt. Zu Recht kommentiert Frédéric Monneyron: »[…] la forme masculine ne s’ajoute pas à l’essence féminine, mais, au contraire, la nie«57, d.h. »die männliche Form fügt sich dem weiblichen Wesen nicht hinzu, sondern leugnet es sogar«. In dem Maße, wie sich das platonische Ideal wieder sexualisiert, fällt es einem pathologischen Narzissmus anheim, den vor allem die Trivialliteratur aufs Korn nimmt. In Jane de la Vaudères Feuilletonroman Les androgynes (1908) tummeln sich effeminierte Lustboys und lesbische Viragines um einen tuntigen Meister, die burleske Personifikation eines »Androgyne divin qui doit se suffire à lui-même«58, d.h. einer »göttlichen Mannweiblichkeit, die sich sich selbst genügen muss«. So führt die selbstreferentielle Schwundform semantischer Vereinigung zur ideologischen Neutralisierung: »[…] la mode a inventé l’insexué féminin«, les »rivaux des éphèbes«59, d.h. »die Mode hat das ungeschlechtlich Weibliche«, den »Rivalen des Jünglings, eingeführt«. Dagegen evoziert das Kompositum homme(s)-femme(s), ›MannFrauen‹, das schon Balzac für Päderasten verwandte60 und das Proust

55. In Natalie Clifford Barneys verschlüsseltem Nachruf auf Renée Vivien (The one who is legion, or A. D.’s After-Life, 1930) wird eine Selbstmörderin als hermaphroditischer Engel wiedergeboren, der den Geschlechterkampf dadurch überwindet, dass er die Kohorten männlicher und weiblicher Iche vereint. 56. Vgl. Achim Aurnhammer: Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur, Köln, Wien 1986. 57. Frédéric Monneyron: L’androgyne décadent. Mythe, figure, fantasmes, Grenoble 1996, S. 70. 58. Jane de la Vaudère [i.e. Mme. Crapez]: Les Androgynes. Roman passionel, Paris 1908, S. 69. 59. Rachilde: Pourquoi, S. 50. Auch bei Ménalkas werden die Opfer der Sexualreform als »insexuel« und »frigide« verspottet. Vgl. Ménalkas [i.e. Suzanne de Callias]: Erna, jeune fille de Berlin, Paris 1931, S. 161. Und Rachilde kommeniert scherzend die Annullation zweier Frauentypen: »Ni de la race des femelles […], ni de la race des courtisanes […], je me contente de demeurer reporter, c’est-à-dire neutre« (S. 84). »Weder von der Rasse der Weibchen […] noch jener der Kurtisanen […], begnüge ich mich damit Reporter zu bleiben, d.h. neutral!« 60. In Splendeurs et misères des courtisanes (1847), zit. in: N. Albert: Saphisme, S. 116. Bald war damit aber auch geschlechtliche Maskerade gemeint. So ist die Biographie eines historischen passing man, der sein Leben im 19. Jahrhundert unerkannt als Frau verbrachte, unter diesem Titel erschienen. Vgl. G. Moussoir: L’homme-femme. Mademoiselle Jenny Savalette de Lange, Paris 1902. 148

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zum Oszillieren brachte61, eine traditionelle Reihenfolge62, die Colette einfach umdreht, wenn sie eine vulgäre Vertreterin des ›Paris-Lesbos‹ zur »femme-homme«63, zum ›Frau-Mann‹, erklärt. In den 20er Jahren steht dieses Oxymoron bereits im Plural, weil die Kompromissfigur der garçonne, die als vermeintliche Kameradin des Mannes in den Schoß der Familie zurückkehrt64, sich nicht nur durch junggesellenhafte Libertinage auszeichnet65, sondern auch durch ihre paarbildende Vorliebe fürs eigene Geschlecht.66 Ironisch setzt Colette die männliche Konnotation dieses Etiketts67 mit einem versteckten weiblichen Selbsthass gleich: »Non que je me sentisse misogyne mais garçonnière.«68 So wehrt sie sich auch entschieden gegen jede Neutralisierung der Unterschiede. »Welch scheußliches Wort ›unisexuelles‹!« bekennt

61. Ursula Link-Heer: »Geschlechtspalimpseste. Die ›hommes-femmes‹ bei Marcel Proust«, in: kultuRRevolution, 9 (1985), S. 63-66. 62. 1872 gab Alexandre Dumas (fils) eine Streitschrift für die Jungfräulichkeit der Bräute unter dem Titel Homme-femme heraus. 63. Colette: Le pur et l’impur, Paris 1971, S. 76. Vorher findet sich der Terminus bei Dr. J. Gérard: La Grande Névrose (1889) und die Abwandlung »femme hommée« bei John Grand-Carteret: La femme en culotte (1899), zit. in: N. Albert: Saphisme, S. 141. 64. Vgl. die gleichnamige Roman-Trilogie der Brüder Margueritte, deren erster, 1921 erschienener Band einen politischen Skandal auslöste. Zum Kontext der französischen Nachkriegszeit und zu den geschlechterpolitischen und -ideologischen Folgen des Ersten Weltkriegs, insbesondere der Gleichsetzung des melancholischen Kriegsveteranen mit seiner frivolen Karikatur in Gestalt der ›garçonne‹ vgl. Mary Louise Roberts: Civilization without Sexes. Reconstructing Gender in Postwar France 1917-1927, Chicago, London 1994. 65. Dass sie zur Zielscheibe maskulinistischer Angriffe wird, erstaunt kaum. Drieu de la Rochelle, Brasillach oder auch ein gemäßigterer Abel Hermant, Mitglied der Académie Française, ließen sich insbesondere an der intellektuellen, ökonomisch unabhängigen Junggesellin aus, wie sie etwa Madeleine Pelletier (La femme vierge, 1933) darstellt. 66. Rachilde: Pourquoi, S. 57. 67. Willy (Le troisième sexe, S. 218) gibt ihm sogar einen päderastischen Beigeschmack: »Ce qu’un ’pédéro’ admettra encore le plus facilement, c’est une jeune femme à la ligne garçonnière, à la nuque rasée, qui se comporte en sa compagnie comme un […] copain«, d.h. »Was ein Schwuler noch am leichtesten akzeptiert, ist eine junge Frau mit knabenhafter Figur und ausrasiertem Nacken, die sich in seiner Gesellschaft wie ein […] guter Kumpel benimmt«. Wie sehr er sich darin irrt, zeigt Colettes Anekdote von »May«, einer jungen Frau, die den Schwulen »Once more« nachahmt (Colette: Le pur et l’impur, S. 635ff.). Ihre Performance wird von ihren homosexuellen Freunden durch den Vergleich mit dem Music Hall-Star Gaby Deslys (i.e. Gabrielle Claire, 1881-1920) nicht nur lächerlich gemacht, sondern hasserfüllt unterbrochen und attackiert. 68. Colette, L’entrave, zit. in: M. del Castillo: Colette, S. 216. 149

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sie während der Niederschrift von Ces plaisirs …, »als gäbe es nur ein einziges Kapitel«.69 Die Einfalt ›reiner‹ Antithesen und ihrer nominalistischen bzw. idealistischen (Auf-)Lösungen wird bei Colette einer ›unreinen‹ Doppelung weichen.

Gomorrha, revisited: Ein poetischer Detektivroman? Weniger an den »vies imaginaires« eines Marcel Schwob als am damals neuen Genre der ›réportage vécu‹ orientiert, fängt Le pur et l’impur wie eine jener beliebten Sozialrecherchen an, die ein marginales Milieu quasi-ethnographisch erkunden.70 So ist die mit Colette befreundete Journalistin Maryse Choisy 1929 als verkleideter Mann auf den Berg Athos vorgedrungen, um die Lebensformen jener griechischen Mönche zu erkunden, die kein weibliches Geschöpf auf ihrer Insel dulden, nicht einmal als Haustier.71 Demgegenüber lieferte Willys Mitarbeiterin Ménalkas eine unter banaleren Umständen zustandegekommene Satire über Hirschfelds Berliner Institut. Colettes Pastiche dieser neusachlichen Gattung lässt deren Objektivitätsansprüche fallen und verzeichnet den unterstellten Realismus ins Poetische. Ihren kaleidoskopischen Text-Mäander aus Skizzen und Impressionen, die sich überschneiden, verschieben und widersprechen72, strukturiert eine dialogische Bewegung »d’échos complices, d’aveux sensuels et de méditations fu-

69. Zit. in: Jacques Dupont, »Notice« (S. 1501-1511) zum Text der Pléïade-Ausgabe, aus einem Brief an Marguerite Moreno, S. 1505: »’Il faudra que tu me dises ce que tu penses de ce que j’écris en ce moment sur les ›unisexuelles‹, – quel affreux mot! […] Chapitre unique/›il n’ya pas d’unisexuelles‹«, d.h. »Du müsstest mir unbedingt sagen, was du von dem hältst, was ich im Augenblick über die ›Unisexuellen‹ schreibe – welch furchtbares Wort! […] Einziges Kapitel/›es gibt keine Unisexuellen‹«. Dieser Ausdruck für Homosexualität, den Colette hier im Sinne der ›Eingeschlechtlichkeit‹ (vgl. die Einheitsmode der 70er Jahre, genannt: ›Unisex‹) gebraucht, geht bereits auf Fourier zurück. Claude Courouve: Vocabulaire de l’homosexualité masculine, Paris 1985, S. 217221. 70. Ein Vorläufer war René Schwaeblé: Les détraqués de Paris. Etude des mœurs contemporaines, Paris 1909. Dieses Genre blühte in den 20er Jahren als eine Art französischer Amerikanisierung. Vgl. Antoine Coullet-Tessier: Toche parmi les femmes, Paris 1931; Ménalkas [i.e. Suzanne de Callias]: Erna, jeune fille de Berlin, Paris 1931. 71. Vgl. Maryse Choisy: Un mois chez les hommes, Paris 1929; dies.: Un mois chez les filles, Paris 1928; dies.: L’amour dans les prisons, Paris 1930; usw. 72. Den Vorläufer für diese Art zu schreiben sieht U. Link-Heer (»Männerliebe«, S. 331) in Prousts Archäologie der Erinnerung, seinem Romanzyklus A la recherche du temps perdu. 150

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gaces«73, d.h. »komplizenhafter Echo-Effekte, sinnenfroher Geständnisse und flüchtiger Betrachtungen«, deren begriffliche Undeutlichkeit und bildliches Verschwimmen beabsichtigt wirken. Obwohl sich die zwanglose »Folge ganz unterschiedlicher Sprechweisen«, z.B. Erinnerungen oder Gesprächsaufzeichnungen74, wie ein ornamentales Rankenwerk75 ausnimmt, lässt sie sich von narrativen und kompositorischen Prinzipien leiten. Zum einen ist das Erzählerich, im Unterschied zu Proust, mit der Autorin identisch76, zum anderen fächert sich die thematische Diversität in eine Fülle miteinander verflochtener oder ineinander verschachtelter Szenen und Anekdoten auf, deren roter Faden sich allein aus der Kontinuität einer gedanklichen Reflexion ergibt.77 Zudem stützt sich das récit auf ein Gitter von Analogien, etwa in Form von Parallelen oder Verdoppelungen78, sowie Kontrasten, deren Gegensätzlichkeit zuweilen bis zum Paradox getrieben wird. Doch statt binärer Oppositionen kommen Verfahren der Inversion79, der non-disjunktiven Vereinigung antithetischer Positionen80 oder zirkulärer81

73. J. Kristeva: Le génie féminin, S. 399. 74. U. Link-Heer: »Männerliebe«, S. 330. 75. Unterschied schon P. Kyria (»L’écriture hermaphrodite«, S. 37) einen »exaltierten musikalischen Stil« von einem »trocken lapidaren«, so unterscheidet J. Kristeva (Le génie féminin, S. 141) zwei Schreibweisen im Werk Colettes, die eine »en vrilles«, d.h. in schraubenförmig gedrehten Ranken, die andere romanhaft, aber mit unterbrochenen Linien (z.B. in Chéri, 1920). Von stilistischer Warte aus ist immer wieder auf die Kombination von lexikalischem Reichtum, nüchterner Syntax und sinnlicher Detailbeschreibung bzw. Bilderfülle hingewiesen worden. Nicht umsonst war Balzacs Realismus Colettes großes Vorbild (vgl. J. Kristeva, Le génie féminin, S. 479ff.). So vermeidet sie rigoros dekadente Katachresen wie bei J. de la Vaudère (Les Androgynes, S. 198): »[…] ils pouvaient gonfler ›esthétiquement‹ le champignon vénéneux de leur âme«, d.h. »sie konnten auf ›ästhetische‹ Manier den Giftpilz ihrer Seele aufblasen«. 76. U. Link-Heer: »Männerliebe«, S. 331. 77. So jedenfalls nach Meinung der Pléïade-Herausgeber. Vgl. J. Dupont: Notice, S. 1508f. 78. Für Mieke Bal sind Verdoppelungsstrukturen neben zahlreichen Spiegelszenen und -motiven auch deshalb wichtig, weil sie sich bei Colette in der Erzählhaltung widerspiegeln, etwa in indirekter Fokalisierung. Vgl. M. Bal: Inconsciences, S. 22. 79. Am Beispiel des Don Juan »Damien« hat U. Link-Heer (»Männerliebe«) beeindruckend »die Inversion« einer »heterosexuellen Verwerfung in eine (beidseitig) homosexuelle Akzeptanz« (S. 336) gezeigt. Die »Bewegung einer permanenten Inversion und Simulation« habe »große Ähnlichkeiten mit der von Proust entwickelten Schreibweise« (S. 337). 80. Vgl. Danielle Deltel: »Le scandale soufflé: Le pardoxe dans l’écriture de Colette«, in: B. Bray (Hg.), Colette, S. 151-167; sie verweist auf thematische Oppositionen, »qu’ils soient logiquement des contraires ou simplement empiriquement distants« 151

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Schleifen im Sinne eines re-entry zum Zuge. So beruhen die vielfach hervorgehobenen Effekte semantischer Ambiguität82 auf der ironischen Dekonstruktion narrativer Ambivalenz. Le pur et l’impur präsentiert also nicht nur eine »Galerie der NonKonformisten«83 in einer Reihe sich wiederholender, zurücknehmender oder gar versandender Vergleiche, sondern die schematische Anordnung des Textes ähnelt sozusagen der Entfaltung einer Blüte, deren sich enthüllende Blätter einander im Kreis gegenüberstehen. Der anfänglichen Thematisierung heterosexueller Diskordanz84 folgt im längeren Mittelteil eine Expedition zu homosexuellen Archipelen, wobei das zuletzt aufgesuchte Sodom das Schlusskapitel vorbereitet, einen poetischen Abgesang auf die endlose Annäherung fluktuierender Geschlechter. Indem sich die Problematik der Perversion fast unmerklich auf jene der Inversion verschiebt, die sexuellen mit geschlechtlichem Sinn verdichtet, käme Colettes sinnliches Erzählen, voller Bilder, Brüche und Abschweifungen, sozusagen einer sekundären Bearbeitung im Freudschen Sinne85 gleich. Entspricht die hysterische Frigidität86 der reifen Dame Charlotte, die ihrem jungen Geliebten barmherzig Lust vortäuscht, der erotischen Frustration eines Don Juan, den die angebliche weibliche Unersättlich-

(S. 152), Kipp-Momente und Oxymora, z.B.: »mon brillant, mon allègre père nourissait la tristesse des amputés« (zit. S. 157), d.h. »mein brillanter und fröhlicher Vater nährte die Traurigkeit der Amputierten«. Die antithetischen Themen führten zur Umkehrung der Situation, die Vereinigung konträrer Pole zum Oxymoron. 81. Vgl. dazu Catherine Rahmani-Malle: »Colette en son miroir«, in: Cahiers Colette 15 (1993), S. 70-84: Die Erzähler seien durch Nebenfiguren verdoppelt, die eine Spiegelfunktion übernähmen, so dass sich »konfliktuelle Zwillingspaare« ergäben. Als syntagmatische Konsequenz könnte man vielleicht die zirkulären Strukturen der regressiven Rückkehr an den Ausgangspunkt (Chéri-Serie) oder der Reproduktion einer Opposition im Inneren eines ihrer Termini betrachten. 82. So etwa Michèle Sarde: Colette libre et entravée, Paris 1978, S. 253ff., die Ambiguisierung besonders für Le pur et l’impur konstatiert. 83. Henri Bidou (1932), zit. in: J. Dupont: »Notice«, S. 1509: »une galérie de quelques personnages non conformistes«. 84. Die an Lacans Diktum von der unmöglichen Geschlechtsbeziehung (»il n’y a pas de rapport sexuel«) gemahnen könnte. 85. Colette hat Freud wahrscheinlich nicht gelesen und die Psychoanalyse tendenziell abgelehnt. 86. So J. Kristeva: Le génie féminin, S. 403ff. Die barmherzige Täuschung gilt einem emotional abhängigen Narziss »d’une passivité féminine au-delà de sa castration« (S. 404), d.h. »von einer weiblichen Passivität jenseits der Kastration«. Aber evoziert er nicht den ›succubus‹ der Hysterikerin, die einen gebrochenen Meister sucht? Oder hätte er die Meisterposition nie erreicht? 152

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›HOMMES-FEMMES‹ AU FÉMININ

keit87 traumatisiert88, wird die damit verbundene narzisstische Verwundung in eine Logik der Gabe eingebunden, deren nicht-reziproken Charakter Colette ent-stellt. Auf Damiens89 selbstsüchtige Frage, ob ihm seine Geliebten die Mühe überhaupt vergolten hätten, erwidert die Ich-Erzählerin sarkastisch: »Ce qu’elles vous ont donné? Mais, je pense, leur douleur. Vous n’êtes pas si mal payé!« (581)90 »Was die Frauen Ihnen geschenkt haben? Aber ihren Schmerz, denke ich. Sie sind nicht schlecht bezahlt worden!« Wenn statt des realen Genießens also ein Leid(en) eingehandelt wird, das seinen Erzeuger belohnen soll, gibt es keine symbolischen Äquivalente mehr. Don Juan, der den Frauen vorwirft, ihn zum Meister zu machen, zeigt seine Unfähigkeit zu lieben, wenn er darauf beharrt, das Geschenkte im Tausch zuzurückzuerhalten (581). Im Gegensatz dazu ist lesbisches Verlangen von vorneherein durch den Widersinn markiert, das (realiter) geben zu wollen, was man nicht hat91, nämlich den Phallus. Erklärt diese unbewusste Geste, warum die sich maskulin gebenden Frauen jenes Geschlecht nachäffen, das sie als Sexualobjekt verabscheuen, schlachtet der ideologische Diskurs den Widerspruch lediglich aus: »[Elles] s’affublent [de vêtements masculins] pour se donner l’illusion de ce que précisément [elles] méprisent«92, d.h. »sie staffieren sich mit männlichen Kleidungsstücken aus, […] um sich einzubilden, das zu sein, was sie doch gerade verachten«. Obwohl sich die vermännlichten Lesbierinnen im »orgueil de donner le plaisir« (592), im »hochmütigen Stolz, Lust zu schenken«, einrichten, der sie jeder Würde beraubt, lässt Colette ausgerechnet die Pariser Päpstin sapphischer Sekten ein Unbehagen an dieser Spenderrolle äußern, und zwar auf merkwürdig indirekte Weise.

87. Dieses alte Vorurteil mittelalterlicher Couleur tradiert auch Rachilde (Pourquoi, S. 50): »[…] la volupté n’est que femelle! […] c’est là toute l’infériorité de leur sexe«, »die Wollust ist einzig weiblich! […] Das macht die Unterlegenheit ihres Geschlechts aus«. 88. Diese These erscheint mir problematisch, denn zum einen essentialisiert Kristeva damit die weibliche Begehrensposition, und sei es im Anschluss an Colette, zum anderen überliest sie den Zynismus des impotenten Mannes, den Frauen die Schuld daran zu geben, dass er stets ihr Meister ist. Diese Rationalisierung einer phallizistischen Allüre kann man aber nicht unbedingt auf die männliche Angst vor Verweiblichung zurückführen (S. 410-412). 89. Im Signifikanten seines Namens, »Damien«, birgt der melancholische Don Juan die ›Dame‹ wie in einer Krypta. 90. Colette: »Le pur et l’impur«, in: Œuvres, Bd. III (Pléïade-Ausgabe), S. 581. Fortan werden die Seitenzahlen dieser Ausgabe in Klammern hinter die Zitate gesetzt. 91. Jacques Lacan: »Leitsätze für einen Kongreß über weibliche Sexualität« (1958), in: Schriften III, Olten, Freiburg i.Br. 1980, S. 221-237. 92. J. de la Vaudère: Les androgynes, S. 219. 153

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ÜBER DIE GRENZE

Im Gespräch mit der Ich-Erzählerin verrätselt die Chevalière, hinter der sich Nathalie Barney wie Missy verbergen, ihren spleen zu einer symptomatischen Synekdoche, nämlich im blasierten Urteil über mittelalterliche Bilder von Christi Geburt, auf deren Goldgrund sie selbst metaphorisch en miniature figuriert. »Je suis d’avis, dit-elle, que dans les Nativités anciennes, le portrait du ›donateur‹ tient beaucoup trop de place dans le tableau …« (595). »Ich bin der Meinung, sagte sie, dass auf den alten Bildern von Christi Geburt das Porträt des Stifters viel zu viel Platz erhält …«. Der materielle Gönner katapultiert sich aus dem Bild der ›Heiligen Familie‹ mit gespielter Bescheidenheit heraus, weil er als Lustspender darüber steht. Doch die blasphemische Sakralisierung lesbischer Idyllen, die Rachilde als ›petits ménages de Lesbos‹, ›kleine lesbische Haushalte‹, lächerlich machte, spielt ebenso auf deren konstitutive Ambivalenz wie auf die ausweglose Statik symbiotischer Beziehungen an. Schon in der Opiumhöhle der Anfangsszene übertönen die vorgetäuschten Lustschreie der Hysterikerin das leise Gemurmel eines weiblichen Paares, das bald über seinem Liebesgeflüster einschläft, »le ventre de l’une moulé à la croupe de l’autre, comme des cuillers dans le tiroir à argenterie« (556), d.h. »der Bauch der einen am Rücken der anderen wie zwei Silberlöffel in der Schublade«. Statuarisch erstarrt wirkt auch die Chevalière, »pâle à la manière de certains marbres romains« (591), »blass wie römischer Marmor«, obgleich sie beständiger Zweisamkeit abhold ist. Nach einem Ausflug in die morbide Welt der anorektischen Dichterin Renée Vivien, Barneys kurzzeitiger Geliebter, nimmt Colette ihr zentrales Thema homosexueller Mimesis des Heterosexuellen wieder auf, um mit einer humoristischen Anekdote zu demonstrieren, wie »traurig« (611) ein lesbischer Haushalt zu enden vermag. Am Beispiel quasi-ehelichen Despotismus wird die zwanghafte Übertreibung der Männerrolle zum Beweis eines scherzhaften Triumphes darüber.93 Denn die von der hypervirilen Lucienne tyrannisierte

93. Auch Maryse Choisy kritisiert in ihren Sozialreportagen die »femme qui ›singe‹ l’homme« (»die Frau, die Männer nachäfft«) und deklariert die Beziehungen, die sie eingeht, als »liaison la plus tyrannique«, d.h. als »tyrannischste Verbindung«. Zit. in: Nicole Albert: »Dames seules«, in: Cahiers Gai. Kitsch. Camp, 23 (1993), S. 53, hier: S. 31. Welcher Unterschied aber zur pathologisierenden Dämonisierung der vermännlichten Lesbierin, etwa in Rachildes Madame Adonis (Paris 1888), wo es heißt: »[…] une crânerie féline qui lui faisait pardonner son nez en bec d’aigle, sa lèvre relevée par un rictus mauvais, ses yeux mis-clos et sombres, resemblant à des yeux de chatte hystérique« (S. 165f.), d.h. »[…] eine katzenhafte Kühnheit, die einen ihre adlerförmig gebogene Nase, ihre von krampfhaftem Zucken hochgezogene Lippe und ihre dunklen, halbgeschlossenen Augen, die an jene einer hysterischen Katze erinnerten, vergessen ließen« (Übersetzung von A. R.). 154

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›HOMMES-FEMMES‹ AU FÉMININ

Loulou trifft die trans-sexuelle Anmaßung im Kern, wenn sie ihrer Partnerin mit gespielter Naivität vorwirft, dass sie »nicht einmal gegen eine Wand pinkeln könne« (613). Indem Loulou den lächerlichen kleinen Unterschied als ihren gemeinsamen Mangel exponiert, demütigt sie Lucienne nicht allein, sondern entlarvt ihre moralische Schwäche im textlichen Rückverweis auf jene paradoxen psychischen Folgen der Vermännlichung, die die Ich-Erzählerin am eigenen Leibe erfuhr. »Que j’étais donc timorée, que j’étais femme sous ma chevelure sacrifiée, quand je singeais le garçon« (590). »Wie verängstigt, wie weibchenhaft war ich unter meiner geopferten Haarpracht, als ich die Jungen nachahmte.«94 Die unterschwellig insistierende Frage, ob sich zwei Frauen überhaupt zu genügen vermögen, führt zur impliziten Gendertheorie Colettes. Hat sich im Übergang von der Bohème-Satire zur Ehe-Karikatur erwiesen, wie schnell eine non-konformistische Revolte95 in konventionelle Normanpassung96 umkippt, kommen nach der Dekonstruktion der butch/femme-Stereotype97 nunmehr die nicht minder problematischen Beziehungen zwischen weiblich identifizierten Frauenliebhaberinnen98 ins Visier. Die kontrastreiche Parallele zwischen zwei maskulin stilisierten Lesbierinnen (des 4. und des 6. Abschnitts) verschränkt

94. Schon Willy (Le troisième sexe, S. 217) sah die Quintessenz der ›garçonne‹ darin, den Mann nachzuäffen. 95. Vgl. Lucienne Frappier-Mazur: »Convention et subversion dans le roman érotique féminin (1799-1901)«, in: Romantisme, 59 (1988), S. 107-119: »Le lesbianisme prend le sens d’un refus de la domination masculine« (S. 113), d.h. »lesbische Liebe erhält den Sinn einer Verweigerung männlicher Herrschaft«, doch von den meisten Autorinnen früher Frauenromane würden die soziopolitischen Machtrelationen noch verkannt: »elles ne font qu’en inverser la structure, sans la décentrer: […] elles mettent très rarement en question l’idée que l’érotisme se fonde avant tout sur des rapports de pouvoir« (S. 116), d.h. »sie kehren die Struktur bloß um, ohne sie zu dezentrieren […], sehr selten stellen sie die Idee in Frage, dass Erotik sich vor allem auf Machtbeziehungen begründet«. 96. J. Kristeva (Le génie féminin, S. 407f.) potenziert die analytischen Kategorien noch einmal, indem sie sie auf sich selbst anwendet: die Chevalière sei eine der ›reinsten‹ Mischungen von ›rein‹ und ›unrein‹, weil sie nur durch misslingende Performanz scheitere. Unreiner sei ihr Alter Ego, die Baronne de la Berche (aus Chéri), eine alte Frau mit männlichem Gesicht, die ihre lesbische ›Monströsität‹ erhaben trage. 97. Vgl. Julika Funk: »›Butch & Femme‹. Original oder Kopie? Ver-Führung zu einer lesbischen Ikonologie«, in: Gerhard Härle/Wolfgang Popp/Annette Runte (Hg.), Ikonen des Begehrens. Bildsprachen der männlichen und weiblichen Homosexualität in Literatur und Kunst, Stuttgart 1997, S. 41-63. 98. Nach einer Formel von Jill Johnston. 155

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ÜBER DIE GRENZE

sich mit jener zwischen der mädchenhaften Poetin Renée Vivien (5. Abschnitt) und den legendären Ladies of Llangollen (7. Abschnitt), dem Idealbild romantischer Freundschaft, zum Chiasmus zweier Varianten von Frauenliebe, die Kristeva auch in psychoanalytischer Perspektive voneinander unterscheidet. Während Colette die ätherische99 Gestalt der Alkoholikerin Vivien100 durch ihre ›maliziösen Kindereien‹ einführt101, um sie in der obskuren Höhle ihrer orientalisch ausstaffierten Wohnung satirisch in den Blick zu nehmen, zeichnet sie den Widerspruch zwischen Viviens spiritualistischer Lyrik102 und der morbiden Haltlosigkeit ihrer polymorphen Lüste103: »Elle donnait tout, et sans cesse: les bracelets sur ses bras s’ouvraient, le collier glissait de son cou de victime…Elle semblait s’effeuiller. Son corps ployant refusait tout relief de chair. […] Je me souviens que la belle humeur de Renée, rieuse, vive, […] m’attrista comme celle des enfants aveugles […]. Elle se nourrissait d’une cuillerée de riz, d’un fruit, surtout d’alcool […] j’affrontais chez Renée, l’air qui, comme une eau épaisse, retardait mes pas, l’odeur de l’encens, des fleurs […]. C’est peu de dire que j’y suffoquais d’obscurité. J’y devenais intolérante, […] sans lasser la patience de l’ange filiforme qui vouait, aux bouddhas, des offrandes […]. Un jour, […] j’eus la nausée de tant de parfums funèbres et je voulais ouvrir une fenêtre: la fenêtre était clouée.« (601)

99. »Son long corps sans épaisseur, penché, portait comme un lourd pavot la tête et les cheveux dorés, et de grands chapeaux chancelants« (599), d.h. »ihr lang aufgeschossener Körper ohne materielle Dichte, trug, wie eine schwere Mohnblüte, den Kopf mit den goldenen Haaren und großen schwankenden Hüten«. Der Mohn-Vergleich verweist wieder auf den Suchtcharakter der Perversion, der bei Vivien auch als Alkoholismus erscheint. Vgl. zur beliebten Motivkopplung von Sucht und Perversion in der U-Literatur der Années Folles z.B. Tita Legrand: Confession d’une opiomane, Paris 1925. 100. Vgl. Karla Jay: The Amazone and the Page. Nathalie Clifford Barney and Renée Vivien, Bloomington (Indianapolis) 1988. 101. »Je possède encore une trentaine de lettres que m’écrivit Pauline Tarn«, i.e. Renée Vivien. »Si je publiais la correspondance d’un poète qui ne cessa de se réclamer de Lesbos, elle n’étonnerait que par sa puérilité. J’insiste sur cet enfantillage très particulier, hors de propos, faudrait-il écrire: hors de la sincérité?« (S. 598). »Ich besitze noch ungefähr 30 Briefe, die Pauline Tarn mir schrieb. Wenn ich die Korrespondenz einer Dichterin, die sich unablässig auf Lesbos berief, veröffentlichte, würde sie lediglich durch ihre Unreife erstaunen. Ich beharre auf dieser ganz besonderen Art des Kindischen, die unpassend war, oder sollte man schreiben: außerhalb jeder Aufrichtigkeit?« 102. Vgl. Marie-Ange Bartholomot-Bessou: L’imaginaire du féminin dans l’œuvre de Renée Vivien, Clermont-Ferrand 2005. 103. Vgl. Jean-Paul Goujon: ›Tes Blessures sont plus douces que leurs caresses‹: Vie de Renée Vivien, Paris 1986. 156

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›HOMMES-FEMMES‹ AU FÉMININ

»Sie gab alles, und dies ohne Unterlass: die Armbänder öffneten sich auf ihren Armen, die Kette rutschte von ihrem Hals, dem Hals eines Opfers…Sie schien sich zu entblättern. Ihr biegsamer, nachgebender Körper verweigerte jedes fleischliche Relief. […] Ich erinnere mich daran, dass mich die gute Laune von Renée, lachend, lebendig, […] traurig stimmte wie jene blinder Kinder […]. Sie ernährte sich von einem Löffel Reis, einer Frucht, vor allem von Alkohol […]. Bei Renée schlug mir die Stubenluft wie schweres Wasser entgegen, verlangsamte meine Schritte, dieser Geruch von Weihrauch und Blumen […]. Gelinde gesagt, erstickte ich dort gleichsam vor Dunkelheit. Ich wurde bei ihr unduldsam, […] ohne die Geduld eines mädchenhaften Engels zu ermüden, der seinen Buddhas Gaben […] darbot. Eines Tages, […] wurde mir übel von den Verwesungsgerüchen, und ich wollte ein Fenster öffnen: das Fenster war zugenagelt.« Eingeschlossen ins Museum ihrer Neurosen, dessen Preziosität an Des Esseintes erinnert, leugnet der präraffaelitisch anmutende androgyne Engel sein Unglück unter einer zweideutigen Maske heidnischer Heiterkeit: »›Renée, est-ce que vous êtes heureuse?‹ Renée rougit, sourit, puis brusquement se guinda: ›Mais, bien sûr, mon pethit Coletthe. Pourquoi voudriez-vous que je ne sois pas heureuse?‹ […] Sa manière de parler de l’amour physique était un peu celle des petites filles qu’on forme pour la débauche: innocente et crue. […] Renée ne quittait pas le ton du tranquille papotage […]. Lorsque derrière le poète qui chante la pâleur des amantes, les sanglots et les aubes désolées, j’entrevis paraître […] l’ombre libertine de ›Mme Combien-de-fois‹, […] je dis à Renée que certaines libertés de propos lui allaient comme un haut-de-forme à un singe…« (606f.) »›Renée, sind Sie glücklich?‹ Renée errötete, lächelte, dann plusterte sie sich brüsk auf: ›Aber sicher, meine kleine Coletthe. Warum wollen Sie, dass ich nicht glücklich bin?‹ […] Ihre Art und Weise, von körperlicher Liebe zu reden, war diejenige kleiner Mädchen, die man zur Ausschweifung erzieht: unschuldig und deftig. […] Renée verließ dabei nie den Ton ruhigen Schwatzens […]. Als ich hinter einer Dichterin, die die Blässe der Liebenden, die Schluchzer und die Morgenröten der Verzweiflung besingt, […] den Schatten einer Libertine hervorlugen sah, […] sagte ich zu Renée, dass ihr manche freizügigen Bemerkungen so gut zu Gesicht stünden wie ein Zylinder einem Affen …« Die Inkohärenz eines ästhetizistischen Gesamtkunstwerks, dem Maurras die verspätete Baudelaire-Nachfolge vorwarf104, deuten aber nicht

104. Zit. in: Jean-Paul Goujon: »Renée Vivien et Colette«, in: Cahiers Colette, 15 (1993), S. 20-34, hier: S. 24. Vivien »appartenait à un monde à la fois artificiel et dépassé, celui des esthètes et des décadents« (S. 24), d.h. »Vivien gehörte zu einer zugleich künstlichen und überholten Welt, jener der Ästheten und Dekadenten«. Vgl. auch Charles Maurras (N. Albert: Saphisme, S. 43). Willy karikierte sie in »A bâtons rompus« (Le Rire, 1909), zit. in: ebd., S. 33, Anm. 26. Vgl. zur literaturgeschichtlichen Einord157

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ÜBER DIE GRENZE

nur darauf, dass Dekadenz105 die Nachtseite des Symbolismus darstellt. Zwar huldigte Vivien, die von antiker Mythologie faszinierte SaphoÜbersetzerin106, ihrem neuromantischen Todeskult mit der frivolen Hybris107 eines Oscar Wilde, aber gleichzeitig feminisierte sie das männlich dominierte Androgynie-Ideal der Epoche, indem sie weibliche Virginität mit heroischer Virilität gleichsetzte.108 Trotzdem trägt lesbische Weltflucht auch bei der fatalen Kindfrau jene melancholischen Züge, die Colette bereits in der narzisstischen Starre der Männlichkeits-Imitation wahrnahm. In Viviens autobiographischem Schlüsselroman Une femme m’apparut (1904) klagt ihr dem Renaissance-Fundus entnommenes Alter Ego, »San Giovanni«109: »[…] je m’enivrais mortellement de la merveilleuse tristesse […]. Je portais au cœur une mélancolie fébrile«110, d.h. »ich berauschte mich tödlich an dieser wunderbaren Traurigkeit […]. Ich trug eine fieberhafte Melancholie im Herzen«. Als ›fille mal aimée‹ von ihrer Mutter verstoßen, verbirgt Renée hinter ihrer Weigerung zu essen111, einen quasi-transsexuellen Hass auf den vergeschlechtlichten Körper: »Depuis ma plus fraîche jeunesse, je ne songeais qu’à détruire mon corps au profit de mon âme. […] Nul tourment n’est comparable à celui d’une âme qui hait le corps qu’elle habite.«112 »Seit frühester Jugend dachte ich nur daran, meinen

nung Bettina Rommel: »Amazonenwünsche. Fin de siècle – Fin de sexe?«,in: kultuRRevolution, 9 (1985), S. 57-60. 105. F. Monneyron: L’androgyne décadent, S. 77: »L’androgyne décadent […] est à la fois réaction contre les mœurs de l’époque et ultime caution de ces mœurs«, d.h. »Der dekadente Androgyn […] ist gleichzeitig eine Reaktion gegen die Sitten der Epoche und die letzte Garantie für eben diese Sitten«. Insofern ist die Fin de Siècle-Literatur von einem unvermeidlichen »Doppelsinn« gezeichnet, einer doppeldeutigen Ambivalenz (vgl. M. Angenot: Le cru et le faisandé, S. 102). 106. Vgl. dazu N. Albert: Saphisme, S. 43ff. 107. An der Barney teilhat, wenn sie auf ihre Selbstgenügsamkeit pocht, als »amant-maîtresse de soi-même« (zit. in: ebd., S. 213), d.h. »als Geliebte[r] ihrer selbst«. 108. So Shari Benstock: Femmes de la Rive Gauche. Paris 1900-1940, Paris 1987, S. 293ff. 109. Dessen Referenz auf Leonardo da Vincis androgyne Gestalten natürlich auf den Renaissance-Kult des Ästhetizismus wie der Dekadenz, von Walter Pater bis zu d’Annunzio oder Heinrich Mann, verweist. 110. Renée Vivien: Une femme m’apparut, Paris 1977, S. 29. 111. Nicht zu essen, bedeutet nach Lacan aber auch, das ›Nichts‹ zu essen, d.h. sich mit einer Speise zufrieden zu geben, die man sich nur selbst geben kann. Vgl. Christine Milner: »L’oralité de Colette, une image inversée de l’anorexie«, d.h. »die orale Gier Colettes ist ein Umkehrbild der Anorexie«, in: B. Bray (Hg.), Colette, S. 45-55. 112. Zit. in: J.-P. Goujon: »Renée Vivien«, S. 27. 158

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Körper zugunsten meiner Seele zu zerstören. […] Keine Qual kommt derjenigen einer Seele gleich, die den von ihr bewohnten Leib hasst«. Warum kann lesbische Liebe, die doch den weiblichen Körper verherrlicht, nicht vor dieser Feindlichkeit retten? Bereits beim Auftakt ihres Nachsinnens über die Ladies of Llangollen, deren eingeschobene Idylle das Vivien-Epos förmlich spaltet, spekuliert Colette über die auf ihrer anatomischen Ähnlichkeit basierende imaginäre Spiegelrelation zwischen zwei Frauen. Trotz der Wollust, die sie berge, sei sie zu unauflösbarer Sinnlichkeit verdammt. Wenn Colette die darin ausgedrückte innere Sinn- und Ziellosigkeit dieser Beziehung behauptet, bindet sie Begehren an eine Alterität, deren phänomenologischer Zug ontologisiert zu werden droht.113 »Qu’il me déplaît de palper froidement une création aussi fragile, et de tout menacée: un couple amoureux de femmes! […] Où prendraient-elles le sens de l’avenir, ces deux amies qui, à tout instant, le défont et le nient, qui n’envisagent ni commencement ni fin, ni changement ni solitude, ne respirent l’air qu’à deux, ne vont, le bras sur le bras, que d’un air accordé? […] Deux femmes absorbées l’une en l’autre ne craignent, n’imaginent pas plus la séparation qu’elles la supportent. La pudeur qui sépare deux amants […] ne se glisse guère entre deux corps jumeaux, pareillement affligés, voués aux mêmes soins, aux mêmes chastetés fatidiques… Une femme s’émerveille, s’attendrit de ressembler à une femme aimée, et s’apitoie […] Miracles de faiblesse […] Ce n’est point de la passion qu’éclôt la fidélité de deux femmes, mais à la faveur d’une sorte de parenté. […] L’étroite ressemblance assure même la volupté. […] C’est cette sensualité sans résolution et sans exigences […], ce sont ces délices de la présence constante et de l’habitude qui engendrent et excusent la fidélité.« (615-618) »Wie es mir missfällt, eine so zerbrechliche und von allen Seiten bedrohte Kreation wie ein Paar sich liebender Frauen kalt zu betasten! […] Woher nähmen sie denn den Sinn für die Zukunft, diese beiden Freundinnen, die ihn in jedem Augenblick auflösen und verneinen, die weder Anfang noch Ende, weder Veränderung noch Einsamkeit in Betracht ziehen, die die Luft nur zu zweit einatmen, nur mit der Miene des Einverständnisses Arm in Arm daherschreiten? […] Zwei Frauen, eine in die andere versunken, befürchten und imaginieren ihre Trennung ebensowenig, wie sie sie ertragen. Die Scham, die Liebende gewöhnlich voneinander trennt, […] schiebt sich kaum zwischen zwei zwillingshafte Körper, die auf ähnliche Weise vom Schmerz heimgesucht und mit den gleichen Mitteln gepflegt werden, denselben schicksalhaften Keuschheiten ausgeliefert […] Eine Frau ist entzückt und gerührt davon, einer geliebten Frau zu gleichen, und empfindet Mitleid […] Wunder der Schwäche […]. Die Treue zweier Frauen erwächst keineswegs aus der

113. Daher könnte man sich an die Geschlechterphilosophie Luce Irigarays erinnert fühlen, die hier allerdings nur poetisch vorgefühlt wird. Vgl. dazu Annette Runte: Kultur-Natur-Differenz in der feministischen Diskussion in Frankreich, 2. Aufl., Frankfurt/ Main 1989. 159

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ÜBER DIE GRENZE

Leidenschaft, sondern aus der Gunst einer Art von Verwandtschaft. […] Die große Ähnlichkeit sichert sogar die Wollust. […] Es ist diese Sinnlichkeit ohne (Auf-)Lösung und ohnre Forderungen […], es sind die Wonnen der beständigen Anwesenheit und der Gewohnheit, die die Treue hervorrufen und entschuldigen.« Trotz ihrer möglichen Konstanz erachtet Colette die sapphische Symbiose, deren barocke Schilderung sich des Hyperbaton und subordinierender Häufung bedient, für inakzeptabel, da ihre Treue nicht nur auf der Allianz zweier Schwächen, sondern auf der narzisstisch getönten Illusion der Gleichheit beruhe. Charakterisiert Kristeva die defensive Homosexualität als einen depressiven Rückzug vor der männlichen Welt, den eine Trivialautorin wie Jane de la Vaudère schon vor Colette mit ähnlichen Worten beschrieb114, stellt sie ihr eine positive ›endogene‹ Variante gegenüber, die aus der frühen Mutter-Tochter-Beziehung hervorgeht.115 Bis zu einem gewissen Grade zeugen die Ladies of Llangollen von dieser »mère-version«, einer ›Mutter-Version‹, mit der sich Colettes Betrachtung, die männlichen Voyeurismus116 durchkreuzt, der Vergangenheit zuwendet. »Peut-être cet amour qu’on dit outrageant […] sous la condition qu’on le gouverne avec une sévérité invisible, qu’on le nourrisse de peu, qu’il vive à tâtons et sans but et que sa fleur unique soit une confiance telle que l’autre amour ne puisse ni la sonder, ni la comprendre, mais seulement l’envier, – telle que par sa grâce un demi-siècle coule comme a day of sweetly enjoyed retirement. Je copie ces mots, cent fois tombés sous la plume de Lady Eleanor Butler« (618). »Vielleicht ist es diese Liebe, die man für empörend hält […], die bewirkt, dass, – unter der Bedingung, sie mit unsichtbarer Strenge zu leiten, sie unterzuernähren, sie nur tastend und ziellos leben zu lassen und im gegenseitigen Vertrauen jene einzigartige Blüte zu kultivieren, die die andere [d.h. heterosexuelle] Liebe weder sondieren noch begreifen noch auch nur beneiden kann – diese Liebe zum Gleichen, die also bewirkt, dass kraft ihrer ein halbes Jahrhundert vorüberzieht wie ein einziger Tag süßen Rückzugs von der Welt. So jedenfalls die von mir hier zitierten, hundertfach aus der Feder geflossenen Worte der Lady Eleanor Butler.«

114. Jane de la Vaudère: Les demi-sexes, Paris 1897, S. 19f.: »[…] les femmes s’aiment en haine des hommes, pas autrement. L’amour entre femmes est plus commode, plus durable, moins decevant. Les femmes s’aiment mieux«, d.h. »Frauen lieben sich im Hass der Männer, nicht anders. Die Liebe zwischen Frauen ist bequemer, haltbarer, weniger enttäuschend. Frauen lieben sich besser«. 115. J. Kristeva: Le génie féminin, S. 351ff. 116. Der sich noch in Pierre Louÿs’ lyrischem Sappho-Pastiche bemerkbar macht. Vgl. Marie-Jo Bonnet: Un choix sans équivoque. Recherches historiques sur les relations amoureuses entre les femmes XVe – XIXe siècle, Paris 1981. 160

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›HOMMES-FEMMES‹ AU FÉMININ

Im Jahre 1778 liefen Eleanor Butler (1739-1829) und ihre Schülerin Sarah Ponsonby (1755-1831), deren Altersunterschied so groß war wie derjenige zwischen Léa und Chéri, als Männer verkleidet von ihren Familien fort, um sich in einem walisischen Dorf niederzulassen, wo sie ein beschauliches Leben in trauter Zweisamkeit führten und aufgrund ihrer Bildung allgemeine Anerkennung genossen.117 Colette, die aus dem Tagebuch Butlers zitiert118, reagiert auf die bis heute unbeantwortete Frage nach der sexuellen Komponente dieser Beziehung mit einer ironischen Spitze gegen den heuchlerischen Bekenntniszwang: »Que les honnêtes gens ont donc de peine à croire à l’innocence!« (625) »Wie schwer es anständigen Leuten fällt, an die Unschuld zu glauben!« Viel wichtiger ist ihr, dass ein Paar ›alter Jungfern‹ die Parodie heterosexueller Beziehungen vermied, »supprim[a]nt le stage d’un faux hymen, atteign[a]nt le refuge du sommeil à deux, de la veille à deux, de la nocturne angoisse à deux…« (626), d.h. »indem sie die Phase einer falschen Hochzeitsnacht einfach ausließen und den Unterschlupf des gemeinsamen Schlafes, gemeinsamen Wachens und gemeinsamer nächtlicher Ängste fanden …« Die in rousseauistischer Naturliebe geteilte Innerlichkeit einer zuweilen exaltierten Seelengemeinschaft steht der affichierten Exzentrik Viviens gegenüber, aber vielleicht nicht unbedingt entgegen.119 So erscheint es bezeichnend, dass die Differenzqualität ›reiner‹ Frauenfreundschaften in ihrer emotionalen Gleichgültigkeit gegenüber Männern liegt, eine unendliche In-differenz, die zur gleichgültigen Unendlichkeit mutiert, wenn sie vorgibt, den Tod zu vergessen, und gerade dadurch an ihn gemahnt. Colette zitiert Eleanor Butlers Notiz: »Notre infini était tellement pur que je n’avais même pas pensé à la mort«120, d.h. »unser Unendliches war derart rein, dass ich nicht einmal an den Tod gedacht hatte.« Ohne hier auf Kristevas komplexe Analyse der titelgebenden Rein-

117. Lilian Faderman: Surpassing the Love of Men. Romantic Friendship and Love Between Women from the Renaissance to the Present, London 1976, vergleicht sie mit »protestant nuns« (S. 122), die dem »ideal of female passionlessness« (S. 123) zugleich entsprachen und widersprachen. Insofern ist bezeichnend, dass sie die damalige Presse sogleich zum heterosexuellen Paar stilisiert: »Miss Butler is tall and masculine«, »a sportsman«, Miss Ponsonby »on the contrary, is polite and effeminate [sic], fair and beautiful« (General Evening Post vom 24.07.1790, zit. in: ebd., S. 124). 118. Als Quelle Colettes nennt die Pléïade-Ausgabe (S. 1563) das damals auf Englisch erschienene Buch von G. H. Bell (Hg.), The Hamwood Papers of the Ladies of Llangollen, London 1930. 119. »Je t’aime d’être faible« (»Ich liebe dich dafür, schwach zu sein«), heißt es in einem Gedicht Viviens (zit. in: K. Jay: The Amazone, S. 56), worauf Barney zu antworten scheint: »And chastely cover my words with veils« (zit. in: ebd., S. 58). 120. Zit. in: J. Kristeva: Le génie féminin, S. 399f. 161

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ÜBER DIE GRENZE

heitssemantik einzugehen, die sie mit poetischen Möglichkeitsräumen verknüpft121, wäre daher zu bedenken, dass auch dem »calme climat sentimental«122, dem »ruhigen Gefühlsklima« lesbischer Idyllen ein Mangel eingeschrieben ist, der es zumindest irritiert. Dies lässt sich bei Colette vor allem an (auto-)biographischen Spuren feststellen. Nicht von ungefähr artikuliert die von ihrer eigenen Mutter verworfene Missy die unmögliche Nostalgie eines schon immer verlorenen Objekts: »Ce qui me manque ne se trouve pas en le cherchant«.123 »Was mir fehlt, findet man nicht, indem man es sucht.« Mit dieser doppelten Negation drückt Missy genau jenes (Ver)Fehlen aus, das das lesbische Begehren ihrer Partnerin anstachelt: »Tu me donneras la volupté, penchée sur moi, les yeux pleins d’une anxiété maternelle, toi qui cherches, à travers ton amie passionnée, l’enfant que tu n’as pas eu.«124 »Du wirst mich wollüstig machen, über mich gebeugt, mit Augen voller mütterlicher Besorgnis, du, die du in deiner leidenschaftlichen Freundin jenes Kind suchst, das du nicht gehabt hast.«. Wird Missys Blick auf die andere Frau jene Mütterlichkeit zugeschrieben, die sie doch verweigert, positioniert sich Colette an der Stelle des unmöglichen Kindes, das Missy nie gehabt haben würde. Der verdrehten Syntax entspricht eine Logik des Irrealen. Dass Lacan das Objekt als Verfehlen begreift, findet hier seinen Sinn. So stößt Dekonstruktion vielleicht auf den ›Felsen‹ der Kastration, der im Falle Colettes Sido hieße. Denn »minet chéri«, die »liebe Schmusekatze«, unterliegt im Konkurrenzkampf um die mythisierte Mutter dem von ihr höher eingestuften Phallus125, »beauté«

121. J. Kristeva: Le génie féminin, S. 351ff.; sie sieht in der Llangollen-Beziehung eine Schwesterlichkeit nach dem Muster der Mutter-Tochter-Symbiose verwirklicht, »au temps zéro de la différenciation« (S. 413), d.h. »am Nullpunkt der Unterscheidungen«. Daher auch die Vorbehalte der Mme. de Genlis gegen derlei quasi-mystische »Exaltation«. Doch die regressive, klösterliche Weltflucht kommt, Kristeva zufolge, Colettes Pantheismus entgegen (S. 414). Es gehe hier um das archaische Band des kleinen Mädchens zur Brust der Mutter, die den Kern einer ›endogenen‹ Homosexualität ausmache, die Colette für unschuldig hält, nämlich das »dévoilement du désir entre la fille et la mère« (S. 414), d.h. die »Entschleierung des Begehrens zwischen Mutter und Tochter«. Dies entspräche Freuds zeitgleicher Entdeckung, dass die Bisexualität bei Frauen stärker ausgeprägt sei als bei Männern. Schon durch ihren Naturkult und die Gärtnerei mussten die ›Ladies‹ Colette an Sido erinnern. 122. Zit. in: ebd., S. 355. 123. Zit. in: ebd., S. 410. 124. Colette: »Nuit blanche«, in: Les Vrilles de la vigne, zit. in: Claude Pichois: »Le texte de Colette. A propos de l’édition de la Bibliothèque de la Pléïade«, in: B. Bray (Hg.), Colette, S. 55-59, hier: S. 55. 125. Marcelle Biolley-Godino (L’homme-objet chez Colette, Paris 1972, S. 40) re162

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›HOMMES-FEMMES‹ AU FÉMININ

(»Schönheit«) gerufen, vor dessen Perfektion die Tochter resigniert: »Ce nom n’était pas pour moi«, d.h. »dieser Name war nicht für mich«. Sido aber gibt offen zu: »[…] ce un je ne pourrais pas me passer le voir«126, d.h. »dieser eine, ich konnte es mir nicht verkneifen, ihn zu sehen«. Quasi-psychotisch spricht sich das mütterliche Unbewusste in den drei Signifikanten eines zutiefst zweideutigen Satzes aus: »Je le suis«127, welcher beides sagt: ›Ich folge ihm‹ und ›Ich bin er‹. So sekundiert Sido ihre Tochter nicht nur, sondern sekundarisiert sie auch: »[…] tu m’aimes, mais tu es une fille, une bête femelle, ma pareille et ma rivale. Lui, j’ai toujours été sans rivale dans son cœur,«128 d.h. »du liebst mich, aber du bist ein Mädchen, ein dummes Weibchen, mein Ebenbild und meine Rivalin. Er, ich war immer konkurrenzlos in seinem Herzen«. Noch Colettes Erinnerung daran ist von der verstiegenen Rede gebannt, in der die Trope der Hypallage dominiert, d.h. der Vertauschung von Ursache und Wirkung: »Me voici contrainte, pour le renouer à moi, de rechercher le temps où ma mère rêvait dramatiquement au long de l’adolescence de son fils aîné, […] le séducteur«129, d.h. »So sah ich mich gezwungen, um es/ihn an mich rückzubinden, jene Zeit aufzusuchen, als meine Mutter während seiner Jugend dramatisch von ihrem ältesten Sohn träumte, […] dem Verführer«. Insofern scheint die archaische Verankerung endogener Homosexualität samt der von ihr freigesetzten sublimatorischen Lust vom väterlichen Gesetz umrahmt. Obwohl der Capitaine Colette das Paradebeispiel eines schwachen, mehr durch seine Fixierung auf Sido130 als durch die Beinamputation131 feminisierten Vaters darstellt, erhält der Name eines »écrivain sans œuvre«132, eines »Schriftstellers ohne Werk«, symbolisches Gewicht. Wenn der Versager seinen Platz der Tochter überlässt, die ihrer eigenen Tochter, der abgeschobenen »Bel Gazou«, d.h. »schö-

duziert diese quasi-ödipale Konkurrenz auf eine moralische Schuld: »[…] la mère, rivale coupable de s’être laissée doublement séduire«. 126. Zit. in: J. Kristeva: Le génie féminin, S. 199 (Hervorhebung von A. R.). 127. Zit. in: M. del Castillo: Colette, S. 62. 128. Zit. in: ebd., S. 66. 129. Colette: La naissance du jour, zit. in: ebd., S. 60. 130. Die stolz verkündet: »C’est son amour pour moi qui a annihilé, une à une, toutes ses belles facultés«, d.h. »Es ist seine Liebe zu mir, die alle seine wundervollen Fähigkeiten, eine nach der anderen, zerstörte«, in Colette: La naissance, zit. in: M. del Castillo: Colette, S. 115. 131. Deren Verdrängung jedoch verleugnet wird: »Nous n’avions presque pas conscience qu’il lui manquait […] une jambe«, d.h. »Wir waren uns fast nicht mehr darüber gewahr, dass ihm ein Bein fehlte«, in Colette: Sido, Paris 1930, zit. in: M. del Castillo: Colette, S. 69. 132. Zit. in: J. Kristeva: Le génie féminin, S. 255. 163

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ÜBER DIE GRENZE

ne Rede«, den vom Vater verliehenen Spitznamen vererbt, darf sie sich fragen: »D’où vient ce nom, et pourquoi mon père me l’a donné autrefois?«133 »Woher kommt dieser Name, und warum hat ihn mir mein Vater damals gegeben?« Die Antwort ist nicht einfach, besteht sie doch aus ihrem ganzen Werk: »J’eppelle, en moi, ce qui est l’apport de mon père, ce qui est la part maternelle«134, d.h. »ich buchstabiere, in mir, das, was von meinem Vater herrührt, und das, was von der Mutter kommt«. So ist die Geschlechterdifferenz der Lektüre einer buchstäblichen Differenz anheimgestellt, der echolalischen Allegorie einer signifikanten Asymmetrie, jener nämlich zwischen der Stütze eines väterlichen apport, jenes leicht obszönen ›Hafens‹ (le port = Hafen / le porc = Schwein), und dem mütterlichen Teil, la part, der sowohl die individuelle Außenseiterposition Sidos, ihre emanzipierte Situation apart, als auch den Schmuck und den Schutz (se parer = sich putzen; pare-choc = Stoßstange), den sie schenkt, phonetisch mit anklingen lässt. Wenn Colette das Gesetz durch eine Regel ersetzt, jene der (Schreib)Arbeit, die von allem heilt135, zeigt sich in obsessioneller Abwehr jener melancholische Rest136, den die Ich-Erzählerin von Le Pur et l’Impur im Gespräch mit der Freundin Marguerite Moreno auch deren »virilité spirituelle« (587), ihrer »geistigen Männlichkeit«, zuschreibt: »Anxieux et voilé, jamais nu, l’androgyne erre, s’étonne, mendie tout bas […]. Il lui reste sa demi-pareille, la femme. Il lui reste surtout le droit, même le devoir, de ne jamais être heureux. Jovial, c’est un monstre« (596), d.h. »ängstlich und verschleiert, niemals nackt, irrt das Androgyne umher, erstaunt sich, bettelt ganz unten […]. Es bleibt ihm seine Halb-Gleiche, die Frau. Vor allem aber bleibt ihm das Recht, vielmehr die Pflicht, niemals glücklich zu sein. Jovial ist es ein Ungeheuer.« So wird der Tod zum Witz, in dem das Andere im Echo desselben verklingt. »La mort«, kalauert sie, »ne m’intéresse pas, la mienne non plus«137, d.h. »der Tod interessiert mich nicht, meiner auch nicht«. Hat Colette den vergeschlechtlichten Substanzendualismus ›dritter Geschlechter‹ durch die Entkoppelung körperlicher und seelischer Zeichen längst verabschiedet, gelangt sie auf dem ›empirischen‹ Wege fantasmatisch überbestimmter Beobachtung zu der konstruktivistisch

133. Zit. in: ebd., S. 134. Colette: Sido, zit. in: ebd., S. 33. 135. »La règle guérit de tout«, zit. in: J. Kristeva: Le génie féminin, S. 331. 136. Insofern wäre die Sublimation, die Kristeva als »voyage entre le senti et le dit«, »les sens et le sens« (S. 406), d.h. als »Reise zwischen dem Gefühlten und dem Gesagten, den Sinnen und dem Sinn«, definiert, nicht nur die Rückseite der Transgression (ebd., S. 238). Um sich mit dem Polymorph-Perversen zu versöhnen, so Kristeva, bedürfe es aber des Durchgangs durch die traurigen Anomalien (S. 417). 137. Zit. in: H. Dufour: Colette, S. 35. 164

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›HOMMES-FEMMES‹ AU FÉMININ

anmutenden Einsicht, dass der universelle ›geschlechtliche Schwindel‹ in seiner metaphorischen Fassung transvestitischer Täuschung nur von der eigenen Geschlechtskaste enttarnt zu werden vermag. Die metapoetische Parallele zwischen Geschlecht und Schrift führt zur Paradoxie einer ethischen Verunreinigung durch ästhetische Vereindeutigung.138 Indem Colette geschlechtliche Egalitäts- und Alteritätsmodelle hinter sich lässt und Mythen der Devianz dekonstruiert, entwirft sie eine sensualistische Utopie panerotischen Schreibens, dessen »hermaphrodisme mental« (586), d.h. »geistiges Zwittertum«, einem ›mütterlichen Gesetz‹ entspringt, das sich im Namen des Vaters verziffert. Ihr textuelles Palimpsest lässt Vergeschlechtlichung auch dort am Werk sein, wo sich Übertragung als Überschreitung geriert, um nicht zu sagen: ›outet‹.

138. Insofern wäre Colettes Stil, ad hoc gesagt, weniger Verfahren romantischer Entgrenzung als Resultat eines sich rhetorisch bzw. tropisch auswirkenden ›Übersprungs‹ von einer textuellen Ebene zur anderen. Hat sich bereits der von Colette hoch geschätzte Proust im letzten Band seiner Recherche du temps perdu gegen einen filmischen Realismus gewandt, der von der subjektiven Realität von Autor wie Leser entfremde, so erweisen sich Colettes vermeintlich objektive Beobachtungen als heteroklite Assoziations- und Erinnerungsmodule. Dabei spielen ironische Operationen eine Hauptrolle. Die Kombination einer ideologisch aufgeladenen Alltagssprache mit dichterischer Bildlichkeit, die die konstruktivistische Erosion des geschlechtlichen Essentialismus heimlich allegorisiert, geht einher mit erzähl- bzw. argumentationsstrategischen Verfahren, die im gröbsten Fall bewirken, dass sich zitierte Sentenzen gegen die Konventionen, denen sie selbst entstammen, richten. Eine genauere Analyse von Colettes ›postmodernen‹ Operationen, z.B. inszenierter Ver- und Entwörtlichungsprozeduren, bei denen spezifische Elemente auf anderem Niveau als unübersetzte Fremdkörper verfremdend wieder aufgegriffen werden, muss hier Desiderat bleiben. 165

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Gender, Genres und die Krise der Moderne

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MASKE UND SYMPTOM

Maske und Symptom. Mythenverarbeitung und Privatmythologie bei Karoline von Günderrode »Die Dame Mythologie hat viele Ritter gefunden.« (Johann Gottfried Herder)1

Deutsche Sappho2 »Gestern las ich Ossians Darthula und es wirkte so angenehm auf mich; der alte Wunsch einen Heldentod zu sterben ergriff mich mit groser Heftigkeit […]. Warum ward ich kein Mann! ich habe keinen Sinn für weibliche Tugenden, für Weiberglükseligkeit«3, schrieb die zwanzigjährige Karoline von Günderrode im Jahre 1801 einer Freundin. Seit ihrer feministischen Wiederentdeckung durch Christa Wolf ist jene Dichterin der Goethezeit, die in ihrem Werk »ein immenses mythologisches Wissen«4 verarbeitete, selbst zum Mythos geworden, nicht zuletzt aufgrund ihres tragischen Schicksals. Dem deutschen Kleinadel entstammend, verbrachte die belesene Autodidaktin, die trotz ihrer Kontakte zum Brentano-Kreis5 und zur Heidelberger Hochromantik6

1. Johann Gottfried Herder: »Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten«, in: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787, hg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher, Frankfurt/Main 1985 (Dt. Klassiker Vlg., Bd. 4), S. 149-215, hier: S. 174. 2. So Friedhelm Kemp: Karoline von Günderode, Lorch-Württemberg 1947, S. 68. 3. Brief an Gunda Brentano vom 29.08.1801, in: Karoline von Günderrode: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien. Historisch-kritische Ausgabe, 3 Bde., hg. von Walter Morgenthaler, Basel, Frankfurt/Main 1990-1991, Bd. III, S. 70. 4. Annette Simonis: »›Das verschleierte Bild‹. Mythopoetik und Geschlechterrollen bei Karoline von Günderrode«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 73, 2 (1999), S. 254-278, hier: S. 254. 5. Vgl. dazu die Rowohlt-Monographie von Helene M. Kastinger Riley. 6. Vgl. dazu Gabriele Brandstetter: »›Die Welt mit lachendem Mut umwälzen‹ – 169

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ÜBER DIE GRENZE

eine Außenseiterin blieb, ihr kurzes Leben in einem evangelischen Damenstift, da ihre Mutter nach dem frühen Tod des Gatten das Erbteil der Kinder aufzehrte.7 Um 1800 verband Karoline eine enge Freundschaft mit Bettine Brentano, deren späteres Briefbuch Die Günderode (1840) den darin erinnerten Dialog des ungleichen weiblichen Dioskurenpaars ironisch dekonstruiert.8 Zum Bruch zwischen beiden kam es durch Günderrodes Faszination für den verheirateten Heidelberger Altphilologen Friedrich Creuzer (1771-1858), der sich indes nicht zu einer Scheidung entschließen konnte. Reproduziert die unglückliche Passion das erotische Dreieck, das Karoline mit dem Juristen Carl von Savigny und seiner Braut Gunda Brentano bildete, endet sie nunmehr tödlich. Creuzers fatales Schwanken zwischen Norm und Neigung, vor allem aber sein plötzlicher krankheitsbedingter Rückzug, haben bekanntlich zum spektakulären Selbstmord eines Stiftsfräuleins geführt, das damit nicht nur dem romantischen Todeskult huldigte. Wenn Günderrodes origineller Briefstil, Karl Heinz Bohrer zufolge, die Zerrissenheit des modernen Subjekts ähnlich radikal artikuliert wie Kleist, wird der emphatische Selbstbezug in den affektiv entscheidenden Korrespondenzen durch eine Chiffre verstört, die ihn zugleich allegorisiert. Hatte Karolines symbolische (Selbst)Inszenierung als »der Freund« sie im Savigny-Briefwechsel bereits sexuell neutralisiert9, zumal sie den Ehrentitel identifikatorisch genoss10, wurde er in der

Frauen im Umkreis der Heidelberger Romantik«, in: Friedrich Strack (Hg.), Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800, Stuttgart 1987, S. 282-300, bes. S. 285ff. 7. Nach dem Tod dreier Schwestern, führten die verbleibenden Geschwister ab 1802 einen Prozess gegen die Mutter, die sich mit einem Hofmeister liiert hatte. 8. Vgl. dazu Marianne Schuller: »Dialogisches Schreiben. Zum literarischen Umfeld Rahel Levin Varnhagens«, in: Barbara Hahn/Ursula Isselstein (Hg.), Rahel Levin Varnhagen. Die Wiederentdeckung einer Schriftstellerin, Göttingen 1987, S. 173-185, bes. S. 178-181. 9. Karoline bietet dem unerreichbaren Savigny diesen Status geradezu an, als Zeichen männlicher Freundschaft nachempfundener Empfindsamkeit, die sie indes desexualisiert: »[…] ich werde Ihnen einst angehören wie ein Freund oder wie eine Schwester« (Brief vom Juli 1803), in: Brigitte Weissenborn: Ich sende dir ein zärtliches Pfand. Die Briefe der Karoline von Günderrode, Frankfurt/Main, Leipzig 1992, S. 102. Mit Verspätung geht Savigny darauf ein: »Ich wollte Ihnen dagen, daß es entsetzlich unnatürlich zugehen müßte, wenn wir beide nicht sehr genaue Freunde werden sollten.« (Brief vom 14.12.1803, in: ebd., S. 108). Karoline antwortet begeistert einen Tag später: »Recht, so innig hat mich Ihr Brief gefreut und das Begegnen unserer Gedanken; daß die Natur uns zu Freunden bestimmt hat […]. Vergessen Sie nur nicht, lieber Savigny, daß ich nun Ihr Freund bin, denn es macht mich gar zu froh« (in: ebd., S. 110f.). 10. Da Günderrode den platonischen Code jedoch immer wieder erotisch unter170

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MASKE UND SYMPTOM

Creuzer-Beziehung zum Codewort für eine verbotene Liebe11, die bald kaum noch zu verheimlichen war. Aus der paradoxen Position einschließenden Ausschlusses ist ›die‹ »Poesie«, wie Creuzer sie gern nannte, nicht zuletzt als Dichterin zum obskuren Objekt der Begierde avanciert. In dem Maße, wie sich die rhetorische Figur eines namenlosen Seelenfreundes zu einem imaginären Alter Ego verselbständigte, das Creuzer, der ›Fromme‹, gleichsam homoerotisch zu besetzen vermochte, erhält die Maske einer Autorin, die ihre maskulinen Pseudonyme (»Tian«, »Jon«) auch nach deren Enthüllung weiter benutzt, ein narrativiertes Eigenleben. »Der Freund war eben bei mir«, schreibt Karoline am 1. Mai 1806, »er war sehr lebendig« und »sagte er habe im Morgenschlummer von Eusebio«, d.h. Creuzer, »geträumt, wie er ganz mit ihm vereint gewesen und […] durch reizende Täler und waldige Hügel gewandelt sei in seeliger Liebe und Freiheit«.12 Will sich der von Amt und Familie bedrängte Professor diesen Gefährten »nicht nehmen lassen«, wenn er Karoline etwa um die »Erlaubnis« bittet, »ihn bald wieder zu sehen«13, herrscht auf der Gegenseite dieses transvestitischen Spiels melancholischer Ernst. Eine »heroische Seele« droht sich in »Liebesweichheit« aufzulösen, obwohl der »Gegenstand«14 ihrer Sehnsucht unerreichbar bleibt. Das dem männlichen Freundschaftsmodell nachempfundene Phantasma gipfelt im Projekt der Günderrode, ihrem Idol gegebenenfalls in Männerkleidung nach Russland zu folgen15, und verweist auf den kompensatorischen Tagtraum

läuft, etwa mit der suggestiven Widmung ihres Schlüsselgedichts Der Kuß im Traume, ruft Savigny sie immer wieder zur Ordnung zurück: »Liebes Günderrödchen, […] Sie [sind] jetzt gewiß nicht mehr bloß mein Freund, sondern auch unser Freund […]. Sie haben angefangen zu fühlen, was Sie sonst nur für meinen Irrtum hielten, daß zwei unter uns dreien eins sind« (Brief vom 28.12.1803, in: ebd., S. 112). Das demokratische Triangel wird also dezidiert hierarchisiert. 11. Spontan bezeichnet Creuzer Günderrode, nachdem er sie im August 1804 kennengelernt hat, als »liebes, liebes Mädchen« (in: ebd., 160), dann personifiziert er sie stellvertretend durch ihr selbstgewähltes männliches Pseudonym »Tian« (Okt. 1804, in: ebd., S. 166), apostrophiert sie als »Heilige« und »einfältige Magd« (20.10.1804, in: ebd., S. 171, 173), als »Jungfrau«, die er allerdings bereits mit Schillers ›Johanna‹ vergleicht (25.12.1804, in: ebd., S. 191), als »magische Zauberin« (21.03.1805, in: ebd., S. 203), bevor er auf ihre Selbstbezeichnung (27.04.1805 und 29.04.1805, in: ebd., S. 216f.) eingeht. 12. In: ebd., S. 309f. 13. Brief vom 12.04.1806, in: ebd., S. 304. 14. Karoline von Günderrode an Clemens Brentano, Brief vom 27.04.2005, in: ebd., S. 216. 15. »[…] denken Sie doch an Rußland und Ihren alten Plan […] Der Freund hat mir gesagt, wenn dieser Krieg ihm und seinen Wünschen gefährlich werden sollte, so 171

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ÜBER DIE GRENZE

eines gleichsam trans-geschlechtlichen Wunsches, dessen mythopoetische Verwandlungen ihr schriftstellerisches Œuvre durchqueren.16 Dem in die Schrift transponierten Status eines Dritten, Rest oder Überschuss einer Liebesrelation, entspräche die ästhetische Ambiguität einer poetischen Zwischenposition. Statt Günderrodes schmales, aber vielfältiges Werk unter geistesgeschichtlichen oder stiltypologischen Aspekten17 aporetisch zwischen klassizistischer Form und frühromantischer Motivik18 oszillieren zu lassen19, könnte man die Interferenz literarischer, philosophischer und mythologischer Prätexte in diskursanalytischer Perspektive als eine symbolische Verarbeitung kulturhistorischer Ereignisse und Tendenzen begreifen, deren kontingente Spuren sich insbesondere in Günderrodes Mythenadaptation bemerkbar machen.20 Deshalb möchte ich im Folgenden den Verfahren einer mythopoetischen Überschreibung der Geschlechterdifferenz nachgehen, die als metaphorische ›Umschreibung‹ einer privatmythologischen Übertragung21, auch im psychoanalytischen Sinne, gelesen werden könnte. Auf dem sozialhistorischen Hintergrund einer bürgerlichen Polarisierung der Geschlechtscharaktere und der schwierigen Durchsetzung weiblicher Autorschaft sollen Günderrodes dramatische

wollte er Dir bewußt Kleidung anziehn, entlaufen und bei Ihnen Bedienter werden« (15.09.1805), in: ebd., S. 239f. 16. Auf die These, dass die Antizipation ästhetischen Modernismus’ sich eher in den Briefen als in dichterischer Textualität vollziehe, kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, Frankfurt/Main 1989, S. 13, 127. 17. Vgl. Helga Dormann: »Die Karoline von Günderrode-Forschung 1945-1995. Ein Bericht«, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik, 6 (1996), S. 227-248, hier: S. 240ff. 18. Vgl. noch die erste neuere Werkmonographie von Margarete Lazarowicz: Karoline von Günderrode. Porträt einer Fremden, Frankfurt/Main, Bern, New York 1986, S. 256ff. 19. Vgl. aber Lucia Maria Licher: ›Mein Leben in einer bleibenden Form aussprechen‹. Umrisse einer Ästhetik im Werk Karoline von Günderrodes (1780-1806), Heidelberg 1996. Die Verfasserin ordnet Günderrode der Frühromantik zu, obwohl es schwierig ist, Indizien für die Applikation eines transzendentalpoetischen Programms zu finden. Das Kriterium des ›poeta vates‹ (S. 22) reicht dafür ebenso wenig aus wie dasjenige einer sensualistischen Ästhetik (S. 30). 20. 1996 meinte H. Dormann noch, dass der »Bearbeitung griechischer, nordischer, altpersischer, orientalischer und indischer Mythen« keine programmatisch-poetologische Untersuchung gewidmet worden sei (ebd., S. 239). 21. Die nach Freud zwar auf Szenen imaginären Wieder(v)erkennens durch den Analysanden beruht, von Lacan aber in der Gegenübertragung des Analytikers, diesem ›sujet supposé savoir‹, verankert wird, dessen analaytisches Begehren als solches in Frage gestellt werden müsse. 172

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MASKE UND SYMPTOM

Texte, die von der Forschung eher vernachlässigt wurden22, dabei exemplarisch ins Zentrum rücken. Unter der Voraussetzung, dass das Mythische als abendländische ›Denkgewohnheit‹ eine Brücke zwischen symbolischer Ordnung und imaginärem Register schlägt, weil die Variabilität seiner geschlossenen Strukturen23 eine signifikante Orientierung sprachlicher Offenheit erlaubt, stellt sich die Frage, ob Günderrodes auffälliger Rückgriff auf orientalische Versatzstücke patriarchalische Mythentraditionen destabilisiert.

Satirische Mythen-Travestie: Die Geburt »Tians« In die soziale Einöde eines Damenstifts abgeschoben, beweist schon die 18-jährige mit ersten Schreibexperimenten Jean Paul’schen Humor. Ihre Geschichte der schönen und edlen Nympfe Kalipso, »in der Manier des alten heidnischen Dichters […] Homeros« abgefasst, stellt eine satirische Mythentravestie dar, die die ›Götter Griechenlands‹ als utilitaristische Bildvorlagen entlarvt. Das unbeholfene Scherzgedicht in Knittelversen und zuweilen vulgärer »Diktion« (mit »hessischem Dialekteinschlag«24) parodiert aber nicht nur eine pathetische Klassikerrezeption25, sondern auch deren Geschlechtsrollen-Repertoire. So errettet die Nymphe »Tillina« Odysseus’ Sohn vor einem Raubtier: »Komt ein Tiger und will Telemach töden/Der wird bleich, zittert und spricht,/ Tillina ach verlasse mich nicht« (I, 409). Siegreich übernimmt sie den Speer. Als sie zur Strafe dafür in ein »Wasservieh«, d.h. eine Sirene, verwandelt wird, indem sie dem Schützling Mentors ins Meer nachspringt, greift ihre Freundin Kalypso ein, wenn auch mit unreinem Reim: »Mentor, schreit sie, hat dich der Verstand verlassen/Glaubst du mir zu drehen solche Nasen,/[Stein und Sand]/Wirft sie nach Mentors Kopf, / Doch sie verfehlt den guten Tropf« (I, 410f.). Obzwar Karoline die Gestalt der »Lenette« aus dem Siebenkäs für ein »ganz gemeines Weib« hält, »unfähig groß zu denken und zu fühlen«26, verzerrt sie auch das heroische Frauenideal zur Burleske. Sozialkritischer motiviert erscheint demgegenüber Günderrodes Farce Der Kanonenschlag oder Das Gastmahl des Tantalus (1800/1), ein Zweiakter, der den feudalabso-

22. Vgl. H. Dormann: Die Karoline von Günderrode-Forschung, S. 243. 23. Vgl. Jacques Lacan: »Radiophonie«, in: Autres Ecrits, Paris 2001, S. 403-449, bes. 412f. 24. M. Lazarowicz: Karoline von Günderrode, S. 52f. 25. Etwa i.S. des konservativen Altphilologen und Weimar-Freundes Voß, des Kontrahenten Hölderlins wie Creuzers. 26. Zit. in: M. Lazarowicz: Karoline von Günderrode, S. 48. 173

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lutistischen Hof deutscher Provenienz in seiner Spießigkeit entlarvt.27 Psychologisch wird die »verdamte Langweil« (I, 413) als Antrieb kleinherrscherlicher Willkür denunziert, aber auch der untertänige Bürger verspottet, der sich vergebens um Aufstieg bemüht. Dem konterrevolutionären Jupiter, dessen intrigante Gattin französische Lebensart imitiert, entfährt eine Tirade gegen die Tagespresse: JUNO: Fi donc! Wer wird sich ennuiren?/Monsieur sollten sich wissen zu amüsieren/ Jouer, causer und gewählte Lektüre.– JUPITER: Merkur hat schon Zeitung gelesen/Ma foi! kehrt mans zusamen mit Besen /Kein kluges Wort vom Bonapart,/Seinem Wohlleben, und frecher Hoffart […] Vom deutschen Kaiser, der gleich Alexandern/(Doch rückwärts nur) die Welt will durchwandern (I, 413). Dass Günderrode ein Jahr zuvor in ihrem Gedicht Buonaparte in Egypten »den Einzug der Europäer in Nordafrika« bejubelt, verdankt sich nicht allein einer Journaille, die das innenpolitische Ablenkungsmanöver des Ägyptenfeldzugs (1799) zur Heldensage nobilitiert28, sondern den projektiven Effekten einer durch Herder vermittelten spinozistisch angehauchten Ägyptomanie29: »Wer ruft der Vorwelt/Tage zurück? wer reiset Hüll’ und Ketten vom Bilde/Jener Jsis, die der Vergangenheit Räthsel / Dasteht, ein Denkmal vergessener Weisheit der Urwelt?/[…] Bonaparte ist’s […]/Zeiget dem erschlaften Jahrhunderte römische Kraft« (I, 369). Wirkte sich Herders androgyne Lesart der Schöpfungsgeschichte, Annette Simonis zufolge, auf Günderrodes mariologische Lektüre des Sinnbildes von der verschleierten Göttin zu Saïs aus30, so verdeutlicht sich die pantheistische Tönung des »altägyptische[n]«31 Mythos32 in der Geschichte eines Braminen (1803), die Sophie von La

27. Angeregt evtl. durch Lenzens Tantalus, ein Dramolet auf dem Olymp (K. v. Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. I, S. 412-421. Im Folgenden werden die Bandzahlen (in römischen Ziffern) und die Seitenzahlen (in arabischen Ziffern) dieser Ausgabe den Zitaten in Klammern nachgestellt. 28. Gerhart von Graevenitz: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit, Stuttgart 1987, S. 171ff. 29. Günderrode hatte sich schon als junges Mädchen von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) begeistern lassen, wo Ägypten (im 12. Buch) allerdings als Kindheitsstadium der Menschheit erscheint. Vgl. Johann Gottfried Herder: Idées pour la philosophie de l’histoire de l’humanité. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hg. von Max Rouché, Paris 1962, S. 194ff. 30. A. Simonis (»Das verschleierte Bild«, S. 273ff.) belegt das mit Nachlass-Gedichten wie »Das Fest des Maien« und »An meine Heilige«. 31. Ebd., S. 262. 32. J. G. Herder bewertet die ägyptische Schrift als armseligen »Kindesversuch 174

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MASKE UND SYMPTOM

Roche herausgab. In dieser Erzählung sehnt sich ein Europäer, dessen Vater, ein protestantischer Kaufmann, sozusagen aus ›innerweltlicher Askese‹ zum Islam übergetreten war, nach einem ›anderen‹ Asien (I, 306), jenem utopischen Indien nämlich33, auf das Günderrode frühromantische Ideale einer ›Neuen Mythologie‹ samt Schellings ›Weltseele‹ abzubilden trachtete.34 Des Tempels zu Saïs gedenkend, enthüllt sich dem europäischen Eingeweihten, dass alle Religionen samt der »Hindu heilige[n] Mythen« (I, 309) Origo und Telos in einer als zyklisches Werden präsentierten ›natura naturans et naturata‹ finden, deren »ewige(s) Leben« (I, 310) die Individuierungen, die es zeitigt, zu sakralisieren gebietet, denn »jeder Einzelne« sei »heilig« (I, 310). Günderrodes poetisierte Emanationslehre aus teilweise unvereinbaren, naturund identitätsphilosophischen35 Teilelementen36, zielt jedoch auf ein ganzheitliches Menschenbild. Im Rahmen ihrer spekulativen ›Semsynthesen‹ schreitet die Dichterin vom Mythen-Imitat zur ›freien Nach-

des menschlichen Verstandes« (Idées, S. 210) und stellt die chinesischen Ideogramme weit über sie. »Der Weg zur wissenschaftlichen Literatur war ihnen durch die Hieroglypen versperrt und so musste sich ihre Aufmerksamkeit desto mehr auf sinnliche Dinge richten« (ebd., S. 212). 33. Im 11. Buch verklärt Herder »Indostan« (Idées, S. 116): »Unläugbar ists […], dasz die Bramanen ihrem Volk eine Sanftmuth, Höflichkeit, Mäszigung und Keuschheit ausgebildet […] haben«. Obwohl er den »gesunden Verstand« und »gutmüthigen Charakter« dieses Volkes lobt, kritisiert er ihre »tiefe[n] Ergebenheit ans ewige Schicksal« (S. 190), ein »Glaube, der den Menschen wie in einen Abgrund wirft« (S. 192), und stellt ihm implizit seinen spinozistisch veredelten Deismus gegenüber. 34. Vgl. Helga Dormann: Die Kunst des inneren Sinns. Mythisierung der inneren und äußeren Natur im Werk Karoline von Günderrodes, Würzburg 2004. Die Vf. hält die Spekulation um den »inneren Sinn«, das menschliche Erkenntnisorgan des Göttlichen, für einen Beitrag zu Friedrich Schlegels Neue[r] Mythologie und die »naturmythologische Dichtung« nicht für eine Applikation Schellings (S. 16), weil Günderrode einen spiritualistischen Trieb veranschlage. Wenn man mit Manfred Frank die frühromantische Dichtung nicht für eine Anwendung, sondern für eine Dekonstruktion der idealistischen Philosophie halte, eine symbolisch-mythologische Kompensation ihrer Undarstellbarkeit, so sei die von Schlegel und Novalis erstrebte Synthese von Naturphilosophie und Poesie deswegen auch nicht inhaltlich, etwa durch die Erfindung neuer Mythen, zu bestimmen, sondern allein auf Verfahrensebene (S. 42ff.). Ob dagegen das Kreislauf-Modell, das mit der neuplatonischen Emanationslehre verbunden ist (S. 191), dem spinozistischen Pantheismus prinzipiell widerspricht (S. 173), sei angezweifelt. 35. Vgl. dazu auch Wolfgang Westphal: Karoline von Günderrode und Naturdenken um 1800, Essen 1993. 36. Man kann darin Einflüsse von Shaftesbury, Hemsterhuis, Mesmer usw. entdecken. Explizite Verweise auf Herder, Novalis, Schelling oder Hölderlin ergeben sich allerdings aus Studienbüchern, Briefwechseln oder sogar Widmungsgedichten. 175

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ÜBER DIE GRENZE

bildung‹37 voran, auch wenn sie sich dabei zunächst noch auf ein antikisierendes Rokoko-Pastiche stützt. Im anakreontischen Dialog zwischen »Violetta« und »Narziss«, Wandel und Treue (1802)38, den Bettine in ihr Briefbuch aufnahm, wird aus der tändelnden Konversation, im Verlaufe derer ein männlicher Schmetterling die weibliche Blume belehrt, dass »Liebe […] nur wandlen, nicht vergehen« (I, 37) möchte, eine Hymne auf soghafte Entgrenzung: Ich liebe Menschen nicht, und nicht die Dinge, Ihr Schönes nur, und bin mir so getreu, Ja Untreu’ an mir selbst wär andre Treue, […]. In ew’gen Kreisen drehen sich die Horen; Die Sterne wandeln ohne festen Stand, Der Bach enteilt der Quelle, kehrt nicht wieder Der Strom des Lebens woget auf und nieder Und reisset mich in seinen Wirbeln fort. […] Lebend’ger Wandel! buntes, reges Streben! O Strom! In dich ergießt sich all mein Leben! Dir stürz ich zu! Vergesse Land und Port! (I, 38f.) Weit entfernt von der Ovidschen Vorlage, löst sich platonisierender Narzissmus im Strudel einer Alleinheit auf, die auch ein Indiz für den epochalen Wechsel des Liebescodes39, von der Passion zur Paradoxie40, darstellt. Singularisierung artikuliert sich ironischerweise als Entgrenzung, so etwa auch im zeitgleichen41 Ein apokalyptisches Fragment, wo es heißt: »ich schien mir nicht mehr ich, und doch mehr als sonst ich, meine Gränzen konnte ich nicht mehr finden […] es ist Eins und Alles […] nicht Körper und Geist geschieden […], Zeit und Ewigkeit zugleich, […] sichtbar und unsichtbar, bleibend im Wandel, ein unendliches Leben« (I, 54). Doch im philosophischen Gedicht Der

37. Vgl. Herders Essay vom neuern Gebrauch der Mythologie (1767). 38. K. v. Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. I, S. 36-40. 39. Nach Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/Main 1984. 40. Dies wäre gleichsam eine Perversion Luhmanns mithilfe von Novalis’ Wahlspruch (›die Liebe lieben‹) und Lacans Begehrenskonzept. Vgl. zur Liebeskonzeption bei Novalis z.B. Regula Fankhauser: Des Dichters Sophia. Weiblichkeitsentwürfe im Werk von Novalis, Köln, Wien 1997. 41. Diese Lebensepoche ist von einer intensiven Schelling-Lektüre geprägt. 176

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MASKE UND SYMPTOM

Adept erschauert ein Weiser aus dem »Indier Lande« (I, 49) bereits vor der nihilistischen Denkfigur ewiger Wiederkehr, der er die existentielle Endlichkeit entgegenhält: »Nachdem er oft den Kreis gesehen/Den immer die Natur gemacht, / Ergreiffen Schauder seine Seele, / Denn Alles kehrt wie Tag und Nacht. […] Nichts Ew’ges kann der Mensch ertragen, / Und wohl ihm, wenn er auch vergeht.« (I, 50f.) Als Günderrode ihr erstes Buch, die Gedichte und Phantasien (1804) unter dem Pseudonym »Tian« veröffentlicht, was sie vor negativen Rezensionen und einem zweideutigen Lob Goethes nicht schützt42, wird sie in Bettines überschwenglicher Grußadresse als »Lieber Günther« apostrophiert. Die spielerische Verstümmelung des Patronyms zeigt den prekären Status weiblicher Autorschaft an, die im Weimarer Umfeld unter Dilettantismusverdacht steht. Clemens, der die Konkurrentin später herabwürdigt, begeistert sich am auktorialen Geschlechtertausch: »Wenn Sie mir vertrauen wollen, daß Sie Tian sind, will ich Ihnen vertrauen, wer ich […] durch Tian bin […], von Tian will ich singen«.43 Karoline aber, die ihm erwidert, sie wolle nichts als »ihr Leben in einer bleibenden Form aus[zu]sprechen«44, hatte sich bereits selbst in anderem besungen.

Heroische Nachdichtung: Heldinnen-Opfer Unter dem Einfluss Herders wandte sich Günderrode um 1800 jenem empfindsamen Ossianismus45 zu, dessen bardische Gesänge Klopstock

42. Dokumentiert sind die Verrisse aus Kotzebues Zeitschrift Der Freymüthige, doch »Goethe, dessen Urteil damals alles galt, schrieb am 28. April 1804 über die ›Gedichte und Phantasien‹ und die Rezension in der ›Jenaischen Allgemeinen Zeitung‹ an Eichstädt: ›Diese Gedichte sind wirklich eine seltsame Erscheinung und die Recension brauchbar‹ […]. Charlotte von Stein berichtete ihrem Sohn in einem Brief vom 10. August 1806: […] ›Ich war erstaunt über den Reichtum der Gedanken bei den schönen Versen, und Goethe fand es auch‹ […]«, zit. in: M. Lazarowicz: Karoline von Günderrode, S. 139. Da sich Goethe aber zu jener Zeit noch stärker als Schiller gegen weiblichen Dilettantismus verwahrte, dem in der Praxis oft großmütig eine Nische eingeräumt wurde (vgl. Sophie Mereau, Amalie von Imhoff), sollte das Lob vielleicht eher skeptisch stimmen. 43. Brief vom 01.05.1804, in: B. Weissenborn (Hg.), »›Ich sende Dir‹«, S. 134. Bald darauf (02.06.1804) tadelt er zwar ihren Hang zu Abstrakta als gelehrte ›Perücke‹, aber preist das rokokohafte Rollengedicht, indem er dessen Schluss verdrängt: »vor allem leuchtet Wandel und Treue hervor, es ist ein Gedicht, das des größten Künstlers würdig ist. Ihre Prosa ist klar, gedrängt und bescheiden« (in: ebd., S. 143). 44. Brief vom 10.06.1804, in: ebd., S. 151. 45. Der Ossianismus war schon in den 1870er Jahren zur Mode geworden, wie die 177

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durch ihre metrische Gesetzlosigkeit fesselten.46 ›Frei‹ waren an Günderrodes Epos Darthula nach Ossian (1801/1802)47 nicht einmal die Rhythmen, und inhaltlich orientierte es sich an der deutschen Prosaübersetzung einer schottischen Dichtung, deren volkspoetische Authentizität längst bezweifelt wurde.48 Herder, der die Ossiansche »Geisterwelt« der homerischen »Körperwelt« entgegenstellt, preist die »hohe Einfalt« des fiktiven Dichters, den er als »lyrisch-epische[n]«49 qualifiziert. Seine Welt nimmt sich zugleich simpler und empfindsamer aus als etwa jene echter nordischer Heldensagen50: »Darthula«, die »Erste der Mädchen«, flieht vor dem Feind ihres Landes. Nachdem ihr Vater ermordet wurde (I, 14), fühlt sich ›Colla’s schöne Tochter‹ zur Kriegerin geboren: »Vater! Ich will deiner würdig seyn,/In des Stahles Treffen werd’ ich gehen« (I, 15). Als ihre Brüder in der Schlacht erliegen, fällt auch sie, um sich mit ihrem Geliebten im Tode zu vereinen: »Da rauscht ein Pfeil, getroffen/Sinkt sie und ihr Schild stürzt vor sie hin./ Wie des Schnees Säule sank sie nieder./Ueber Ethas schlummernden Gebieter,/Spreiten sich die dunklen Lokken hin« (I, 16f.).51 Günderrodes ›Kopie ohne Original‹, die das ›Damenopfer‹52 zum präraffaelitisch anmutenden ›tableau vivant‹ ästhetisiert, entzieht das im

Sturm & Drang-Literatur zeigt, der ›Ossian‹ wird als Pflichtlektüre Liebender zitiert, etwa in Goethes Die Leiden des jungen Werther (1774). 46. Vgl. Kevin Hilliard: »Klopstock in den Jahren 1764 bis 1770: Metrische Erfindung und die Wiedergeburt der Dichtung aus dem Geiste des Eislaufs«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 1989, S. 145-185, hier: S. 168f. 47. K. v. Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. I, S. 11-18. 48. Im Wortlaut angelehnt an Edmund von Harolds Prosaübersetzung Die Gedichte Ossian’s eines alten celtischen Helden und Barden, 2 Bde., Düsseldorf 1775, S. 160-201. Heute weiß man, daß der Schotte Macpherson nicht der Überlieferer, sondern kongeniale Schöpfer ›Ossians‹ war. 49. Johann Gottfried Herder: »Homer und Ossian«, in: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792-1800, hg. von Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt/Main 1985, S. 29-49, hier: S. 72, 80. 50. Man denke nur an die komplizierten Intrigen der Nibelungensage, die Geschlechter und Generationen umgreifen. 51. Die Vorlage erotisiert den Tod noch expliziter: »Dem Arm Darthula’s entstürzte ihr Schild. Ihr schneeweißer Busen erscheint […] aber mit Blute befleckt. […] sie fiel auf den gefallenen Nathos […]! Weit über sein Antlitz spreitet sich ihr Haar, ihr Blut mengt sich rundum zusammen« (zit. in: K. v. Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. III, S. 73). 52. Vgl. Elisabeth Bronfen (Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1994), die es für einen Grundzug der europäischen Romantik hält, das Weibliche nur als Totes zu ästhetisieren und es in dieser semiotischen Sublimation insofern dem Symbolischen gleichzusetzen, – als dessen imaginäre Reduktion, wie Julia Kristeva es für die modernistischen Avantgarden behauptet. 178

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Tod erotisierte Weibliche jedoch sexueller Passivierung. Die junge Günderrode53 entwirft ihre ›männlichen Heroinen‹ nach Schillerschem Muster.54 »Mich dürstet nach Kampf, mein Muth jauchzt der Gefahr entgegen«55, frohlockt Mora, die für ihren königlichen Liebhaber im Zweikampf stirbt. Wenn im Naturkind die Renaissance-Ritterin aufersteht56, könnte man darin einen Beleg für Gerhart von Graevenitz’ These von der durch die christlich-klassizistische Tradition verdrängten patristischen Platonisierung des Heidnischen sehen, das die Romantik wiederbelebte.57 Ebenso wichtig erscheint mir hier, dass Günderrodes Heroisierung des Männlichen, dessen romantisches Pendant sich in Schlegels Idealisierung des Weiblichen findet, die dichterische Phantasie genauso beherrscht wie die persönliche. Der willkommene Freund58, das männliche ›Alter Ego‹, das nicht in erster Linie ein Pseudonym bedient, wird zum »schizoiden Doppel«.59 Realität und Traum verschwimmen, mythische und historische Gestalten gehen wechselseitig ineinander über.60 Wenn Creuzer Karolines Liebe zu

53. Bettine von Arnim begreift dies psychobiographisch als literarische Kompensation realer Ohnmacht, wenn sie Günderrode sagen lässt: »[…] ich habe mir einen Plan gemacht zu einer Tragödie, die hohen spartanischen Frauen studier ich jetzt. Wenn ich nicht heldenmütig sein kann und immer krank bin an Zaudern und Zagen, so will ich zum wenigsten meine Seele ganz mit jenem Heroismus erfüllen, [der] mir […] so schmerzhaft mangelt, und […] woher sich alles Melancholische in mir erzeugt« (zit. in: M. Lazarowicz: Karoline von Günderrode, S. 365). 54. »Mein ist der Helm«, ruft Johanna von Orléans, von der ein Menzel meinte, Schiller habe jungfräuliche »Unschuld mit jeder herrlichen Entfaltung ächter Männlichkeit zu paaren gewußt«. »Jeder kriegerische Jüngling« sei Pendant seiner Jeanne d’Arc. Zit. in: Hannelore Schlaffer: »Kriegerische Engel. Wie Mädchen im Heldengetümmel zu Männern werden«, in: Die Zeit vom 05.01.2005, S. 35. 55. Zit. in: M. Lazarowicz: Karoline von Günderrode, S. 112. 56. Vgl. Annette Runte: Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität, München 1996, S. 642-670. 57. G. von Graevenitz: Mythos, S. Xff. 58. Der »süße, liebe, herrliche Freund« in Creuzers Brief vom 13.05.1806, zit. in: B. Weissenborn (Hg.), Ich sende Dir, S. 316. 59. Christian Schärf: »Artistische Ironie und die Fremdheit der Seele. Zur ästhetischen Disposition in der Frühromantik bei Friedrich Schlegel und Karoline von Günderrode«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 3 (1998), S. 433-463, hier: S. 450. 60. In Günderrodes Brief (01.05.1806) über den erotischen Nachttraum heißt es zuvor hyperbolisch: »Ist ein solcher Traum nicht mehr wert, als ein Jahr meines Lebens […] ich wollte für solchen Preis meinen Kopf auf den Henkerblock legen […]. Doch genug vom Freund. Lieber, liebster Freund, solche Freude habe ich heute gehabt vom Empfang Deines Buchs« (zit. in: B. Weissenborn (Hg.), Ich sende dir, S. 310). 179

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ihm mit dem Großmut des Glaukos vergleicht, der seine »goldene Waffenrüstung« gegen die »eherne« des Diomedes eintauscht61, spinnt er ihre fixe Idee fort, bis in den grammatikalischen Vollzug seiner Rede hinein: »Aber so bin ich, ich hab’ keinen Willen mehr, wenn er begehret«.62 Daher hegt Creuzers Gattin wohl nicht zu Unrecht Zweifel an der »Fähigkeit« ihrer Gegenspielerin, »als Frau zu leben«.63 Der Professor und die Poetin aber ergänzen sich auf andere Weise, als wechselseitige Idealbilder. Für die Dichterin befand er sich am Ort des Wissens, für den Akademiker verkörperte sie dessen Überwindung quasimystisch.

Tyrannenmord als Patriarchenmord? Günderrode, deren Lyrik und Prosa ästhetisch innovativer wirken als ihre dramatischen Versuche, hat nicht nur die männliche Erzähl-Perspektive bevorzugt64 und ihre Frauenfreundschaften in Lehrer-Schüler-Verhältnisse transformiert65, sondern zuweilen auch das Ge-

61. Brief vom 21.03.1805 (in: ebd., S. 205). 62. Brief Creuzers vom 09.05.1805 (in: ebd., S. 226). 63. Brief Creuzers vom 13.09.1805 (in: ebd., S. 235). Und Karoline bittet: »ich will alles tun, was Sie wollen, wenn nur Sie den Freund nicht verkennen, haben Sie ihn, seit er Sie liebt, nicht immer gehorsam demütig Ihnen ergeben gefunden«? (Brief vom 15.09.1805, in: ebd., S. 241). Die Freundestopik floriert übrigens in zunehmendem Maße auch in den Briefwechseln mit ihren Freundinnen. Sogar ein gemeinsamer Brief von Creuzer und seiner Frau schmeichelt: »Der Freund zwingt ja durch siegende Güte und Liebenswürdigkeit alle Herzen, ihm zu huldigen« (Brief vom 20.12.1805, in: ebd., S. 290). Creuzer holt sogar wichtige Informationen bei Karoline kurz nach einem Besuch in diesem Code ein, obwohl die Zeit drängt: »Was hatte er für ein Kleid an? […] Seien Sie doch barmherzig und bitten Sie ihn um Erlaubnis, ihn bald wieder zu sehen. Sie vermögen ja alles über ihn« (Brief vom 12.04.1806, in: ebd., S. 304). Auch besteht er darauf, dass bei einer Begegnung mit ihr ›der Freund‹ mit von der Partie sein solle, er dürfe »nicht fehlen« (27.04.1805, in: ebd., S. 218), was wie ein transvestitisches Zeremoniell wirkt. Dann wieder: »Vergib mir Geliebtester« (18.05.1806, in: ebd., S. 218). Oder als handle es sich um die ›imaginäre Zweitperson‹ einer kindlichen Psyche: »Nicht wahr, der Freund will nicht wieder so phantasieren wie in dem lateinischen Blatt?« (12.06. 1806, in: ebd., S. 327). 64. Vgl. Der Traurende und die Elfen, Die Pilger, Geschichte eines Braminen, An Eusebio, Der Knabe und das Vergismeinnicht, Des Knaben Morgengruß, in: K. von Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. I. 65. Z.B. Die Manen, Der Adept, Briefe zweier Freunde. Der homoerotische Untergrund dieser Bünde zwischen geistig und geschlechtlich Gleichen kommt am drastischsten in der Ballade Piedro (1805) zum Ausdruck, wo der Titelheld seinen sterbenden Riva180

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schlecht des lyrischen Ich verwischt, wie z.B. im Gedicht Die Einzige (1806), das ursprünglich ›Der Einzige‹ hieß: »Wie ist ganz mein Sinn befangen,/Einer, Einer anzuhangen;/Diese Eine zu umfangen,/Treibt mich einzig nur Verlangen« (I, 326). Die Geschlechterdifferenz, die buchstäblich an einer Letter hängt (›Eine/r‹), fällt bei Günderrodes Dramenfiguren hingegen eher holzschnittartig aus. Ihre frühen Geschichtsdramen66, die »trivial, plagiathaft« und kompositorisch »unfertig« wirken, weil sie »einer normativen Gattungspoetik widersprechen«67, rekurrieren auf vormittelalterliche Sagen und eine unbestimmte Antike. Sowohl im Fragment Hildgund (1805) als auch in der dramatischen Skizze Nikator (*1804, 1806) geht es um den im epochalen Kontext der Französischen Revolution oft thematisierten Tyrannenmord.68 Insbesondere bei Autorinnen69 macht sich der durch die revolutionären Ereignisse bedingte Schwenk von »tugendhafte[n]« zu heroischen Heldinnen70 bemerkbar, nicht zuletzt inspiriert durch die Ermordung Marats.71 Günderrode verlegt diese Transgression in eine historisch kaum konkretisierte und politisch kaum aktualisierbare qua-

len, den er getötet, mehr begehrt als die Geliebte, für die er kämpfte. Mit einem Kuss will er ihn ins Leben zurückrufen. 66. Vgl. Susanne Kord: Ein Blick hinter die Kulissen. Deutschsprachige Dramatikerinnen im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1992. Als Gegenstück zur Tragödie dürfen historische Dramen deswegen gelten, weil sie ihren Protagonisten »Einfluß auf ihr Schicksal«, »Handlungs- und Entscheidungsfreiheit« (S. 228) gestatten. Andererseits greift das Schicksal als externe Macht ins Geschehen ein (vgl. Schillers Braut von Messina, Zacharias Werner, Franz Grillparzer). 67. Dagmar von Hoff: »Dramatische Weiblichkeitsmuster zur Zeit der Französischen Revolution: Dramen von deutschsprachigen Autorinnen um 1800«, in: Inge Stephan/Sigrid Weigel (Hg.), Die Marseillaise der Weiber. Frauen, die Französische Revolution und ihre Rezeption, Hamburg 1989, S. 74-88, hier: S. 74. 68. Mit der welthistorischen Zäsur der Französischen Revolution (vgl. Goethe, Friedrich Schlegel) historisiert sich nicht nur die Zeiterfahrung, sondern es bildet sich auch ein neues Paradigma von »Ereignis und Aufbruch«, damit aber auch eine neue »Ikonographie des Weiblichen« (Dagmar von Hoff: Dramen des Weiblichen. Deutsche Dramatikerinnen um 1800, Opladen 1989, S. 75), die weibliche Ersatzembleme, wie z.B. Amazonen und Vernunftgöttinnen, phantasmatisch zu besetzen erlaubt. 69. Vgl. dazu die wegweisenden Studien von Dagmar von Hoff (ebd.), die sich auf bekanntere und Mainstream-Schriftstellerinnen stützt, und Anne Fleig: HandlungsSpiel-Räume. Dramen von Autorinnen im Theater des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Würzburg 1999, die sich auch auf die große Zahl z.T. anonymer ›Zweckliteratinnen‹ zwischen 1770 und 1800 bezieht, die für die Bühne schrieben (58 Originaldramen). 70. D. v. Hoff: Dramatische, S. 74. 71. Vgl. die anonym publizierte Revolutionstragödie Charlotte Corday (1804) der Hamburger Senatorengattin Christine Westphalen. 181

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si-mythische Vergangenheit.72 Ihr Lesedrama Hildgund73, das die Waltharius-mit der Attila-Sage74 verschränkt, »formuliert den Handlungsanspruch von Frauen, ohne die Tat selbst im Drama in Szene zu setzen«.75 Die Titelheldin, Tochter des Burgunderfürsten Herrich, mit ihrem Verlobten Walther von Aquitanien aus hunnischer Gefangenschaft entflohen, verlässt ihn, um Attila zu ehelichen, allerdings mit dem heimlichen Vorsatz, ihn umzubringen: Schon zuckt mein Dolch, bald wird das große Opfer bluten, Das, Herrscher einer Welt, ein schwaches Weib besiegt. Die starke Kette, die Millionen bindet, Die mächtige Feder springt, die einen Erdball drückt (I, 101). Doch ausgerechnet vor dieser Akion bricht das Stück ab. Obwohl der Attila-Stoff auf dem Hintergrund der Befreiungskriege beliebt war76, gab es für die Darstellung der befreienden Tat durch Frauenhand noch Hemmschwellen77, nicht jedoch für jenen emanzipatorischen Diskurs, den Günderrode ihrer Ausnahme-Frau78 in den Mund legt: Wie herrlich ist der Mann, sein Schicksal bildet er, Nach eigener Kräfte Maas ist sein Gesetz am Ziele, Des Weibes Schicksal, ach! ruht nicht in eigner Hand! Bald folget sie der Noth, bald strenger Sitte Wille, Kann man sich dem entziehn, was Uebermacht befiehlt? (I, 98) Die Einsicht in ein hierarchisches Geschlechterverhältnis79 kapituliert

72. Der Stoff ist historisch verbürgt als Ermordung des Hunnenkönigs durch seine Gemahlin Ildiko in der Hochzeitsnacht (453 n.Ch.). Vgl. M. Lazarowicz: Karoline von Günderrode, S. 140. 73. K. v. Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. I, S. 87-103. 74. Vorlage war der Roman Attila, König der Hunnen von Ignaz Aurelius Feßler (Breslau 1794). Vgl. K. von Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. III, S. 236. 75. D. v. Hoff: Dramatische, S. 81. 76. Barbara Becker-Cantarino: Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche – Werke – Wirkung, München 2000, S. 212. 77. In Christine Westphalens Drama sticht Corday zwar zu, aber hinter einem Vorhang sozusagen, in einem imaginären Kabinett. Die tabuisierte Tat ist aus dem Blickfeld der Zuschauer gerückt (D. v. Hoff: Dramatische, S. 83). 78. Die natürlich wieder die seit der Antike bestehende Tradition der ›illustren Frauen‹ (z.B. Jacobus Bergomensis), aber auch die seit der Renaissance wütende ›Querelle des femmes‹ ins Gedächtnis rufen. 79. Diese Einsicht entspricht eher einer Olympe de Gouges und ihren egalitaristischen Vorgängerinnen im 17. Jahrhundert. 182

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jedoch vor der Determinationskraft gesellschaftlicher Verhältnisse. Als fernes Echo der biblischen Judith reflektiert die ›Jungfrau ohne Waffen‹ über ihr Schicksal, um sich dadurch noch mehr von sich selbst zu entfremden. Mit Nikator80 begibt sich Gündrrode auf sichereres Terrain, bleibt das Stück doch in der normativen »Geschlechterkonstellation befangen«.81 Ergibt sich sein dramatischer Konflikt daraus, dass Nikator, »Feldherr« des Partherkönigs Egestis, sich nach seinem Sieg über dessen Bruder in die Tochter des Getöteten verliebt, auf die sein Herr ebenfalls Anspruch erhebt, muss »Adonia« als ›verfolgte Unschuld‹ so lange ausharren, bis der Geliebte den asiatischen Despoten erdolcht. Wenn Egestis glaubt, Herrscher der Welt zu sein, legitimiert seine zerstörerische Gier (I, 285), die vor Inzest nicht zurückschreckt (I, 300), den Königsmord. Obwohl das Drama, das Creuzer als »Ganze[s]« sehr befriedigt, offen endet, ist die bedrohte Weiblichkeit sich selbst gleich geblieben. Adonias Natur besteht aus ihrer Liebe: »Dich liebet meine Seele/Seit jenem Tag, da ich zuerst Dich sah./[…]/So liebt’ ich Dich, so wird es ewig bleiben,/denn ich bin ewig meine Liebe selbst« (I, 289).

Orientalische Familiendramen: Rückkehr zu den Müttern ›im Namen des Vaters‹ Der mythische Imaginationsraum der beiden nächsten Dramen, die ich abschließend in den Blick nehmen möchte, verdeutlicht, in welchem Maße Günderrode die im damaligen Zeitgeist liegende synkretistische »Synthese«82 von orientalischer Mythologie und »neuerer Naturphilosophie«83 familiaristisch recodierte. Dies stellt die Annahme, dass

80. K. v. Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. I, S. 276-303. Wie Hildgund ist auch Nikator vor der Begegnung mit Creuzer geschrieben worden. 81. D. v. Hoff: Dramatische, S. 79. 82. Um 1800 werden Mythos und Topos »synonym«, »ohne jede historisch-hermeneutische Perspektive« werden auf Helden die »mythologische[n] Repertoire[s] eines Lokals gehäuft« (G. v. Graevenitz: Mythos, S. 191). Denn Mythographie ist im Verlaufe des 18. Jahrhunderts zum »Spezialfall der Topik« (S. 291) geworden. Aus dem enzyklopädischen Konglomerat von »Synkretismen und Kompromissen« entstand nämlich »die topische Metabasis aus Bildtheologie und antiquarischem Inventar« (S. 87). Die Extreme diskursiver Ordnungsstrategien sind einerseits extensional (z.B. Benjamin Hederichs Gründliches mythologisches Lexikon, 1770), andererseits intensional (z.B. Schellings Philosophie der Mythologie). 83. A. Simonis: Das verschleierte Bild, S. 261. Diese Synthese wurde etwa vom Kantianer Karl Leonhard Reinhold vertreten. Simonis hält die »ägyptische Mythologie« nicht bloß für eine »esoterische Randerscheinung«, sondern für ein entscheidendes Mo183

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ÜBER DIE GRENZE

Creuzers Bachofen und Nietzsche vorwegnehmende anti-klassische Antikenrezeption84 seiner Auseinandersetzung mit Günderrodes poetischer Mythentransformation entsprang, in ein neues Licht. Die von »mythische[r] Einheitsstifung« und aufklärerischer »Ursprungssuche«85 geprägte Ableitung86 orphischer Mysterien aus dem indischen Dionysoskult87 wird von Günderrode nämlich nicht allein mariologisch übercodiert88, sondern dadurch erst ins Matriarchalische gewendet.89

ment der Genese der romantischen Naturphilosophie (S. 256). Nach Jan Assmann verbirgt sich hinter der aufklärerischen Ägyptomanie, wie sie noch in Mozarts Zauberflöte erklingt, die »Suche nach dem Ursprung des Christentums im Orient, den Wurzeln des eigenen monotheistischen Glaubens im antiken Polytheismus« (S. 258). 84. Die ihm selbstredend etliche Feinde verschuf, wie etwa Voß, der eine polemische ›Anti-Symbolik‹ schrieb. Mit seiner »bahnbrechende[n] Abhandlung Dionysus (Heidelberg 1808/1809)« habe Creuzer sich den »Zorn« Goethes zugezogen, so Manfred Frank: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, 1. Teil, Frankfurt/ Main 1982, S. 88. 85. A. Simonis: Das verschleierte Bild, S. 258. 86. Sie war auch von Herder rhapsodisch inspiriert worden. Vgl. Johann Gottfried Herder: »Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten«, in: Schriften zur Literatur, S. 149-215: Bei den Griechen seien die »Götter der Aegypter […] schöne dichterische Wesen« geworden, »sie warfen überflüssigen Putz und alles schwere Gerät ab und zeigten sich, wie Mutter Natur sie geschaffen, nackt, in schöner menschlicher Bildung« und »Handlung« (S. 174). Vgl. dazu Tino Markworth: »Unterwegs zum Historismus. Der Wandel des geschichtsphilosophischen Denkens Herders von 1771 bis 1773«, in: Martin Bollacher (Hg.), Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur, Würzburg 1994, S. 51-61, hier: S. 58: »Geschichte wird als göttliche Erziehung interpretiert […]. Die Entwicklung begann in Asien und geht dann über Griechenland und Rom nach Europa«. 87. Friedrich Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen. Im Auszuge von Georg Heinrich Moser. Mit einer Übersicht der Geschichte des Heidenthums im nördlichen Europa von Franz Joseph Mone, Leipzig, Darmstadt 1822 (Carl Wilhelm Leske), wo der »Indische[n] Ursprung der Dionysischen Religion« (S. 580) behauptet wird. Dionysos war der Osiris der Ägypter und der Schiwa der Inder (S. 584f.). Am Beispiel der Ceres zeigt Creuzer, dass die »Identität« von Göttern verschiedener Kulturen »nicht bloß Hypothese der Theoretiker« sei, »sondern Thatsache im Cultus alter Religionen« (S. 776). »In dieser Einheit barbarischer Gottheiten ist aber die Quelle jener Vielheit zu suchen, die den Griechen und Römer so reich an Göttern machte« (S. 778). »Auch auf die ältere, mit dem Aegyptischen verwandte, Lehrart der Griechen, besonders auf die Pythagoreer und ihre Symbole, richteten Forscher« daher »ihre Aufmerksamkeit«: »wir finden in den Orphischen […] Institutionen die Grundzüge Aegyptischer Priesterverfassung wieder« (S. 85ff.). 88. A. Simonis: Das verschleierte Bild, S. 265f., 272ff. 89. Herder zeichnet dies zwar mit der androgynen Figur seiner »Schöpfergottheit« 184

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Werden damit aber »Katholizismus und Islam […] zu Namen des poetischen Entwurfs einer möglichen säkularen Heilsgeschichte«, wie Lucia Licher meint?90 Im Zweiakter Udohla (1805) ist der Topos des Widerstands durch jenen geschwisterlicher Liebe in den Schatten gedrängt. Dabei wird das positive Bild des Islams91, das Günderrode in ihren Mahomed-Dichtungen zeichnet92, schon dadurch verstört, dass sich die Herrschaft der Mongolen über die Inder wie eine Art von außereuropäischem Kolonialismus geriert. Doch die dominante Kultur erweist sich als von der dominierten ›angesteckt‹, denn der barbarische »Sultan« verfeinert sich in »Hindostan«. Seine Neigung zu diesem archaischen Paradies drückt sich jedoch in einem Inzestbegehren93 aus. Bezeichnenderweise verstößt sein Wunsch, die eigene Schwester (»Nerissa«) zu heiraten, die in vero Tochter seines ärgsten Feindes ist, aber nur gegen islamische, nicht gegen hinduistische Prinzipien. So verurteilt ihn der Groß-Vezier (»Mangu«): »Er liebt, was er nicht sollte,/Dem Jünger Muhameds ge-

(ebd., S. 264) in der Älteste[n] Urkunde des Menschengeschlechts vor (»Doppelgeschlechtige« »Allgebärer und Allgebärerin«: »Phtas war Mann und Weib, Neitha war Weib und Mann«, zit. in: ebd., S. 264), aber er gibt dabei, so Simonis, den Vorrang noch nicht dem Weiblichen, wie Günderrode es mit der »jungfräulichen Muttergottheit« (S. 266) tut. »Die ägyptische Mythologie« sei zu einer derartigen mutterrechtlichen Uminterpretation schon »deshalb geeignet« gewesen, »weil die Geschlechterkategorie in ihr sowie im hermetischen Diskurs der Spätantike«, durch den sie an die europäische Neuzeit vermittelt wurde, »ambivalent und schillernd war« (S. 267). »Günderrode übernimmt […] das Schema der Herderschen Kosmogonie«, hebt aber deren inhärente »Symmetrie« und Balance auf, »um das bestehende Gleichgewicht zugunsten des Weiblichen zu verschieben« (S. 269). 90. Lucia Maria Licher: »’Siehe! Glaube! Thue!« Die poetische Konfession der Karoline von Günderrode, Oldenburg 1998, S. 8. 91. Vgl. dazu Ingeborg H. Solbrig: »Die orientalische Muse Meletes. Zu den Mohammed-Dichtungen Karoline von Günderrodes«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergessellschaft 1989, S. 299-322. Die »Neubewertung des Islam« (S. 305) im Kontext aufklärerisch-humanistischer Toleranzideale (Lessing, Herder, Goethe) habe Günderrode, die Mohammed-Biographien und Koran-Übersetzungen las (S. 311f.), dazu geführt, ihrer »Mahomed-Figur christliche Züge zu verleihen« (S. 319). Das Gedicht Mahomeds Traum in der Wüste stelle »die mystische Erleuchtung des auserwählten Individuums nicht nur im Rahmen des Islam, sondern der christlichen Gedankenwelt pietistischer Prägung dar« (S. 321). 92. Dies lässt sich eben keineswegs für das Werk verallgemeinern, wie Licher (»Siehe!«, S. 38) es tut. Günderrode entscheide sich für den Islam als Einheit von aufklärerischer Utopie und romantischer Liebesmystik, während Schlegel zu Indien und Novalis zum katholischen Mittelalter neigten. 93. Vgl. dazu Dagmar von Hoffs Studien. 185

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ziemt es nicht/Die Blutsverwandte […] Sich zu vermählen«. Ein fanatischer Derwisch pflichtet ihm bei: »solche That ist wider Gott und Recht«. Doch der Hindu (»Sino«), der darin nur »das Seltene«, sozusagen poetisch Interessante, sieht, korrigiert diese Ansicht kulturrelativistisch: »Was du Verbrechen schiltst, sieh! das erlaubet/Dem Hindu Brama’s heiliges Gesetz« (I, 205f.). Liegt die Wahrheit des heidnischen Polytheismus in der Überschreitung der Geschlechtergrenzen, wurzelt das endogame Verlangen aus islamischer Perspektive in hinduistischer Dekadenz: DERWISCH: Schon viele Jahre herrschen die Mongolen In Hindostan, und waren stets bemüht Zu Männern dieses weiche Volk zu bilden, Allein unmünd’ge Kinder bleiben sie. […] Verführung droht uns von der Hindu Volk […] Und sucht uns von der Tugend Sieges-Bahn Zu seiner trägen Üppigkeit zu locken. MANGU: Es hat die Sonne Hindostan besiegt […] Drum sank es hin in der Entnervung Arme; […] Und Weiblichkeit lullt ihn in tiefen Schlummer, Die alte Überwinderinn der Welt (I, 207-209). Unter implizitem Rekurs auf Montesquieu und Herder94, demonstriert die Gleichsetzung des ›Primitiven‹ mit dem Kindlich-Weiblichen die geschlechtliche Überdocierung jener ideologischen Opposition, die die Handlung in Gang hält. Vordergründig besteht sie aus sukzessiver Ent/ Täuschung. Als Udohla, der Bruder Nerissas, dem Tryannen die Unterwerfungsbotschaft seines Stammes überbringt, muss er erfahren, dass sein Vater, den er damit erretten wollte, bereits geköpft wurde (I, 215). Nachdem sich die angebliche Schwester des Sultans öffentlich als eine andere, nämlich Ewana (I, 229), enthüllt hat, erfüllt der gerührte Patriarch den Geschwistern die Bitte, gemeinsam »nach Bengalen« ziehen zu dürfen (I, 231). Erst entsagende Humanität nach dem Muster der Goethe’schen Iphigenie ermöglicht die Rückkehr in eine Heimat, die zwar als ›Wiege der Götter‹ verklärt wird (I, 223), aber trotz des in ihr herrschenden ›Gesetzes des Herzens‹ nicht etwa einem mütterlichen Prinzip, sondern dem verlorenen Vater verpflichtet ist, den beide Kinder im Paradiese suchen. Nerissa will die »große Vorwelt« »wieder

94. Von Voltaire über Montesquieu bis zu kirchlicher Moraltheologie. 186

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schauen«, als »jenes Felsens stille Kluft/In der [sie] mit [ihrem] Vater lange verborgen/In einsamer Betrachung gelebt« (I, 225) hat. Zeichnet sich in Udohla also die Spur eines durch die Recodierung der bürgerlichen Kleinfamilie bedingten symbolischen Vaterfunktionsverlustes95 ab, beleuchtet dies auch die aktantielle Spaltung der VaterImago in einen bösen Patriarchen und einen guten quasi-mütterlichen Erzieher. Wird die familiäre Struktur im Dreiakter Magie und Schicksal (1805)96 bereits psychologisiert, tritt ihre prägende Kraft gerade deswegen sichtbar hervor. Der Fatalismus des Unbewussten, das hier als Un-ge-wusstes erscheint, erlaubt jedoch kein Happy End mehr. Das Stück, vage in der griechischen Antike situiert97, beginnt mit einem Vater-Sohn-Konflikt, verlagert die Schuld jedoch am Ende auf die Mutter, die in Günderrodes Dramen98 ansonsten abwesend bleibt.99 Nachdem der Magier Alkmenes seinem in sich zerrissenen Sohn Ligares die Initiation in die Mysterien der Isis verweigert hat (I, 234f.), tötet der Zurückgewiesene seinen Halbbruder Timandras, weil er von Ladikä wiedergeliebt wird, deren Gunst er selbst gern besäße. Als sie sich ihm nach dem Rivalenmord erst recht verweigert, klagt er sie des Seelenmordes an: »Du hast mich zehnfach, tausendfach gemordet,/Nicht nur mein Leben, meine Tugend auch« (I, 269). Indem Günderrode das Verbrechen psychologisch motiviert, fällt die Schuld (I, 241) aber letztlich auf die Figur der Mutter zurück, und zwar im Rahmen einer recht modern anmutenden ›mother blame‹-Theorie. Der vernachlässigte

95. Vgl. dazu Friedrich Kittler: Dichter. Mutter. Kind, München 1991. 96. K. v. Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. I, S. 232-276. Schillers Braut von Messina (1803) könnte gleichsam als literarhistorisches Verbindungsglied gedient haben, denn es thematisiert den Inzest im Rahmen der neu inaugurierten Gattung des Schicksalsdramas. 97. Nach B. Becker-Cantarino (Schriftstellerinnen, S. 213) durch die »antik-orientalischen Personennamen« im »zeitlosen, symbolischen Raum des Ostens«. 98. Für das bürgerliche Trauerspiel (Lessing, Schiller usw.) hat man seit langem die Absenz (bzw. Schwäche) der Mutterfigur(en) vermerkt. Anne Fleig (Handlungs-SpielRäume) widerspricht diesem Befund für die zahlreichen zwischen 1770 und 1800 von Frauen verfassten Dramen verschiedenster (Sub-)Genres (z.B. Familiendrama oder -gemälde), für die die Gattungsgrenzen noch ziemlich fließend seien. Autorinnen haben nicht nur zahlreichere Frauenrollen geschaffen und damit eine weibliche Perspektive eingeführt, sondern auch die Muttergestalt fokussiert. Dabei ging die Tendenz von einem zunächst ambivalenten Mutterbild zu Mutteridealen hin. Auch wird die Vaterfigur kritisch hinterfragt, teilweise sogar seine Macht angeprangert und die Struktur familiärer Gewalt hinter dem Tugenddiskurs aufgedeckt. 99. Dies mag durch die männliche Identifikation der Autorin biographisch mitbedingt sein, lässt sich aber nicht ausschließlich aus der maskulinen Metaphorisierung weiblicher Positionen erklären. 187

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Sohn kann die Fragen, die ihm seine ehebrecherische Erzeugerin Cassandra als einem Fremden stellt, nur negativ beantworten: »Hat keine Mutter liebend dich gepflegt?/Kein treues Auge in dein Aug’ geblickt?«/ »die Mutter selbst hat mich verrathen,/Verlassend ihren Sohn, als Säugling noch« (I, 272f.).100 Des »Schicksals Wille«, der ihn zum lebenden »Todte[n]« (I, 275) werden ließ, wäre unter den Vorzeichen einer ›Nachtseite der Vernunft‹101 als libidinös fundierte Familiendynamik lesbar. Im Drama, scheitert die paternalistische Weitergabe des Erbes an einer Mutter-Kind-Symbiose, die stets zum Scheitern verurteilt (ist), als Mangel wie als Überschuss. Creuzer, der die »Grundidee« und die »organische[r] Ganzheit« (III, 148) des Stücks in höchsten Tönen lobte102, riet Günderrode trotzdem vom Genre des historischen Dramas ab. Denn er hielt ihre Begabung für eher »mystisch« denn »plastisch« (I, 144). Obwohl diese Dichotomie an Wilhelm von Humboldts Kategorisierung geschlechtsspezifischer Gattungen erinnert, entstammt sie Creuzers Symbol- und Mythoskonzeption, in der der feminine Orient übrigens als ›symbolisch-mystisch‹, der virile Okzident als ›syllogistisch-mythisch‹ erscheint.103 Denn das »mystische Symbol« sei bestrebt, »Alles [auf einmal zu] sagen« und werde dadurch »räthselhaft«, während es dem »plastische[n]«, das sich auf der »Mittellinie zwischen Natur und Geist« bewege, gelänge, das Göttliche darzustellen.104 Den raumzeitlichen Kriterien von Lessings Laokoon105 entsprechend, trennt Creuzer die durch figurative Simultaneität bedingte Performanzqualität des Symbols, das zugleich signifi-

100. Biographisch ließe sich dieses Thema an Günderrodes eigene Geschichte anknüpfen, da sie den Vater, an dem sie sehr hing, im Kindesalter verlor, und von ihrer kalten Mutter, die sie nicht liebte, in ein Stift abgeschoben wurde. Karoline aber mit Ligares gleichzusetzen, wie Becker-Cantarino (Schriftstellerinnen, S. 216) es tut, indem sie in diesem Namen die Koseform »Lina« und »g« für das Patronym entdeckt, überzeugt kaum. 101. Vgl. etwa Daniel Gotthilf Heinrich Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, Dresden 1808. Karoline von Günderrode war mit dem Magnetismus über einen Hanauer Pfarrer vertraut geworden. 102. Wiewohl er sich gegenüber Karolines Freundin Lisette Nees von Esenbeck kritischer äußert (20.04.1805), die ihrerseits den »Wechsel der schauderhaftesten Scenen mit den tändelsten Spielen« und die »eintönig[n] Jamben« (K. v. Günderrode: Sämtliche Werke, Bd. III, S. 150) moniert. 103. Vgl. Tzvetan Todorov: Théories du symbole, Paris 1977, S. 254f. 104. F. Creuzer: Symbolik und Mythologie, S. 25f. 105. Aber auch der performanztheoretischen Unterscheidung Ulrich Gaiers zwischen ›magisch-substantialem‹ Ritual (Kultus) und »mythisch-polarer« Struktur folgend (vgl. M. Frank: Der kommende Gott, S. 87), wobei man einräumen sollte, dass etwa Ernst Cassirer und Hans Blumenberg nicht scharf zwischen diesen beiden Ordnungen trennen. 188

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MASKE UND SYMPTOM

ziert und ist, von der narrativen Sukzessivität des Mythos106, die als Bedingungsmöglichkeit der Repräsentation gilt. Als Idee, die im Symbol zum Bild wird, das erst der Mythos107 deutend entfaltet, ist das mystische Symbol in seiner instantanen Totalität108 jedoch der eigentliche Ausdruck des Unendlichen, Unbegrenzten und Unsagbaren. Liegt Creuzers anerkanntes Verdienst darin, die Zeitlichkeit in die Zeichentheorie eingeführt zu haben109, käme es der Günderrode jedenfalls zu, an der menschlichen Endlichkeit festzuhalten, wie sie es in Adonis Todtenfeyer, ihrer Replik auf Creuzers Sonett Adonis Tod (1806), pathetisch verkündet: »Wehe! daß der Gott auf Erden/sterblich mußt gebohren werden!/[…] Dauer ist nicht zu erwerben,/Wandeln ist unendlich Sterben« (I, 321). Daher, so ließe sich vermuten, schlägt ihre apollinische Liebe auch nie in bacchantische Ekstase110 oder eine Regression zu den Müttern um, während Creuzers mythologische Summa zur Pietà erstarrt: »Im Leid ereignet sich die Vermenschlichung der Göttin, im Tod die Vergöttlichung des Mannes.«111 Da Günderrode dem Menschen ein »dreyfaches, tierisch-sinnliches, menschlich-geistiges und göttlichseelisches Leben«112, zugestand, erstaunt es kaum, dass eine ihrer Freundinnen, Lisette Nees van Esenbeck, dieses Modell in einem Nekrolog auf die Vita seiner Schöpferin appliziert und damit deren gespaltene Seele mythopoetisch (v)erklärt113: »In der Herrschaft der ers-

106. F. Creuzer: Symbolik und Mythologie, S. 89. 107. Vgl. auch Friedrich Creuzer: Die historische Kunst der Griechen in ihrer Entstehung und Fortbildung, Leipzig 1803: »Bild und Symbol vertreten die Stelle von Begriff und Beweis« (S. 6). Versteht Creuzer den Mythos schon 1803, also vor der Begegnung mit Karoline, als »eigentliche Heldensage, Sagen von der Abkunft und den Thaten der Götter, Schiffermährchen aus der wunderbaren Ferne« (S. 23) usw., betont er immer wieder die historische ›Ader‹ der griechischen Naturpoesie, die auch gattungsgenetisch bedeutsam wird. »Das Epos empfing diesen ganzen Reichthum vom Mythos, und gab den verschiedensten Elementen seines Inhaltes schöne menschliche Gestalt. […] Die Heldenthat und die Heldensage war[en] die Bedingung gewesen, unter der [denen] die Kunst der Erzählung und Darstellung überhaupt werden konnte« (S. 16f.). 108. T. Todorov: Théories, S. 89: »ce qui signifie et est à la fois«. 109. Ebd., S. 254: »la contribution originale de Creuzer, c’est de relier au couple symbole-allégorie la catégorie du temps«, was auf Walter Benjamin vorverweise (S. 256). 110. Vgl. H. Dormann: Die Kunst des inneren Sinns, S. 83. 111. Zit. in: ebd., S. 217. 112. In Die Geschichte eines Braminen (1803). Diese Trias folgt einer neuplatonischen Tradition, die in der romantischen Esoterik (etwa bei Franz von Baader oder Fabvre d’Olivet) wieder auflebt. 113. »In diesem Spiel, daß Lina oft sich und ihre Zustände als die eines dritten schildert, liegt mir ein tiefer Sinn: es gibt uns die Spaltung in ihrer Seele, das immer tätige Vermögen der Reflexion, sich von sich selbst zu trennen, im Bilde wieder. Ihre 189

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ten Seele war sie Weib und insofern modernes Wesen, in der zweiten Mann und lebte im Antiken. In der dritten lag die Tendenz zur Ausgleichung beider in das rein Menschliche«.114

Darstellung ihrer drei Seelen ist sehr wahr. Die Einheit dieser drei Gestalten wäre die Liebe gewesen« (undatierter Brief an Susanne von Heyden), zit. in: B. Weissenborn (Hg.), Ich sende dir, S. 350. 114. Ebd., S. 350. 190

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HUGO VON HOFMANNSTHAL UND DIE ›MULTIPLE PERSÖNLICHKEIT‹

Hugo von Hofmannsthal und die ›multiple Persönlichkeit‹. Über eine Krisenfigur der literarischen Moderne »Wir haben kein Bewusstsein über den Augenblick hinaus, weil jede unserer Seelen nur einen Augenblick lebt. […] Mein Ich von gestern geht mich so wenig an wie das Ich Napoleons oder Goethes.« (Hugo von Hofmannsthal)1

Spaltung – Verdoppelung – Vervielfältigung »Wir haben nichts als ein sentimentales Gedächtnis, einen gelähmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung«, umschrieb der junge Hofmannsthal seine Diagnose der Moderne als Ära einer obsessiven »Analyse des Lebens« und ästhetizistischer »Flucht vor dem Leben«.2 In seinem postum publizierten Romanfragment Andreas oder die Vereinigten (1907-1927) inszeniert er das sensationelle Phänomen der Bewusstseinsspaltung in Form einer Verdoppelung, deren psychopathologisch beschriebene Dynamik sich in den reduplizierenden Verfahren dieses Textes, eines Konvoluts aus Skizzen und Notizen, niederschlägt. Die dissoziierte Persönlichkeit hat sich seitdem zur ›multiplen‹ vervielfältigt. Mit diesem Begriff bezeichnet der klinische Diskurs ein Krankheitsbild, das sich durch die Zersplitterung eines Individuums in verschiedenartige Bewusstseinszustände charakterisiert, die die Kontinuität und Kohärenz seiner persönlichen Identität gefährden. Dass diese Ich-Partikel seit dem 19. Jahrhundert von Medizin und Literatur als Personen dargestellt wurden, ist das eigentlich Befremdliche. Die Rede von nacheinander oder simultan auftretenden personae,

1. Zit. in: Gabriele Inacker: Antinomische Strukturen im Werk Hugo von Hofmannsthals, Göppingen 1973, S. 91. 2. Hugo von Hofmannsthal: »Gabriele d’Annunzio« (1894), in: Reden und Aufsätze I. 1891-1913, hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt/ Main 1979, S. 174-184, hier: S. 174f., 176. 191

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die sich nicht unbedingt kennen, aber die Kontrolle über das Verhalten übernehmen, folgt einer Rhetorik der Personifikation, die sich im Unterschied zur soziologischen Rollenmetaphorik auf nicht mehr steuerbare Prozesse bezieht. Während Freud das Auftauchen verselbständigter Ich-Elemente als Ausdruck eines normalen Konflikts unvereinbarer Identifizierungen verstand3, begreifen psychiatrische Ansätze die psychotische Identitätsstörung als Abwehr traumatischer Erinnerungen durch Abspaltung.4 Dass die Usurpatoren des Ich eigene Namen, Charaktere und Geschichten erhalten, verleiht dieser novellesk anmutenden Vermenschlichung von Imagines und Affekten ihr dramatisches Potential.5 Zeigt die medizinhistorische Genealogie eines Syndroms, von dem überwiegend Frauen betroffen sind, dessen Entstehung aus dem Nexus von Hypnose und Hysterie6, erregten die ›Alterationen der Persönlichkeit‹ (Binet) um 1900 großes Aufsehen und faszinierten die Populärkultur, von Schauerromanen à la Jekyll/Hyde bis zum expressionistischen Film.7 Während man die unheimliche ›Selbanderheit‹8 durch psychische Automatismen zu rationalisieren trachtete, wurden die Kranken derweil zu Imitationsgenies, die gleichsam in fremden Zungen zu reden begannen. Théodore Flournoys berühmter Fall der Hélène Smith (1899), die als indische Prinzessin ein »fantastisches Sanskritoid« schrieb9, verdeutlicht, in welchem Maße Individualität von Diskursivität bestimmt ist. Insofern teilen die Multiplen

3. Sigmund Freud: »Das Ich und das Es«, in: Studienausgabe, hg. von Alexander Mitscherlich u.a., Bd. 3, Frankfurt/Main 1975, S. 273-330, hier: S. 298. 4. Vgl. die Aufsätze von Tilo Held und Janice Haaken in Christina von Braun/Gabriele Dietze (Hg.), Multiple Persönlichkeit. Krankheit, Medium oder Metapher? Frankfurt/Main 1999. 5. Bekenntnisse Betroffener zeugen noch heute auf fast groteske Weise davon. Vgl. Liz Bijnsdorp: Die 147 Personen, die ich bin. Drama und Heilung einer multiplen Persönlichkeit, Stuttgart 1996. 6. Ian Hacking: Multiple Persönlichkeit. Zur Geschichte der Seele in der Moderne, München 1996. 7. Vgl. Stefan Andriopoulos: »Kinematographie und Hypnose«, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 8 (2000), 215-247. Vgl. auch: Heinz Hiebler: »›... mit Worten (Farben) ausdrücken, was sich im Leben in tausend anderen Medien komplex äußert‹. Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne«, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 10 (2002), S. 89181. 8. Renate Lachmann: »›Doppelgängerei‹ (Gogol, Dostojevskij, Nabokov)«, in: Manfred Frank/Anselm Haverkamp (Hg.), Individualität, Poetik und Hermeneutik, Bd. XIII, München 1988, S. 421-440. 9. Ursula Link-Heer: »Doppelgänger und multiple Persönlichkeiten. Eine Faszination der Jahrhundertwende«, in: arcadia. Zeitschrift für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 31 (1996), S. 273-296, hier: S. 287. 192

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ihre Beeinflussbarkeit mit jenen Dichtern der Moderne, die sich – wie Proust oder Hofmannsthal – der Form des Pastiche, d.h. der virtuosen Anverwandlung fremder Stile, bedienen, deren manieristischer Zug die Irritation des Selben durch das Andere kundtut. Da Alterität, Pluralismus und Simulation zur Signatur der Moderne gehören, könnte man die historische Ko-Emergenz und kulturelle Konfiguration von multipler Persönlichkeit, Pastiche und Manier mit Ursula Link-Heer als eine Kompensation gesellschaftlicher Ausdifferenzierung auf dem Wege ästhetischer Entdifferenzierung betrachten.10 Auch in transkultureller Hinsicht erscheint die »Rhetorik der Doppelfiguren«, von Dialektik über Ambivalenz bis zur Paradoxie, als »bildhafte Pathosformel« einer janusköpfigen Moderne.11 Versuchte Hofmannsthal die epochalen Spannungen durch eine Vermittlung zwischen Tradition und Innovation zu bewältigen, tendiert seine aisthetische Poetik des Gedächtnisses12 dazu, widersprüchliche Zeittendenzen im Rahmen einer an Einheits- und Ganzheitsprinzipien orientierten Lebensphilosophie zu integrieren. »Solve et coagula«, lautet die alchemistische Devise13 des Andreas-Projekts, das sich in den Zwanziger Jahren mit kulturpolitischer Programmatik auflud. Bei der Betrachtung von Hofmannsthals literarischer Verarbeitung der ›Zweiseelenkrankheit‹ soll hier die Geschlechterdifferenz ins Zent-

10. So Ursula Link-Heer: »Pastiches und multiple Persönlichkeiten als Kulturmodell an zwei Jahrhundertwenden«, in: Vittoria Borsò/Björn Goldammer (Hg.), Moderne(n) der Jahrhundertwenden. Spuren der Moderne(n) in Kunst, Literatur und Philosophie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2000, S. 245-259, hier: S. 253. 11. Gerhart von Graevenitz: »Einleitung«, in: Konzepte der Moderne. Germanistische Symposien. Berichtsbände, XX, Stuttgart, Weimar 1999, S. 1-19, hier: S. 9. 12. Nach Gerhard Neumann: »›Kunst des Nicht-lesens‹. Hofmannsthals Ästhetik des Flüssigen«, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 4 (1996), S. 227-260. 13. Vgl. Manfred Pape: »Aurea Catena Homeri. Die Rosenkreuzer-Quelle der ›Allomatik‹ in Hofmannsthals Andreas«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 49 (1975), S. 680-693. Versteht man ›Alchemie‹ als Verwandlung von Substanzen in einen anderen Zustand, erhält sie in der abendländischen Tradition den Sinn einer vergeistigenden Läuterung. Hofmannsthal stützte sich vor allem auf das Buch von Ferdinand Maack: Zweimal gestorben. Die Geschichte eines Rosenkreuzers aus dem 18. Jahrhundert. Nach urkundlichen Quellen mit literarischen Belegen und einer Abhandlung über vergangene und gegenwärtige Rosenkreuzerei (1912), das auch Querverbindungen zur anthroposophischen Bewegung Rudolf Steiners erlaubt. Diesem Werk entnahm Hofmannsthal den von Maack geprägten Terminus des Allomatischen (vgl. »Ad me ipsum«), der die Herkunft des Eigenen aus dem Anderen bezeichnet, die Abhängigkeit des Selbst von der Welt, wobei sich beide in ständiger Veränderung befinden (ebd., S. 680-684). 193

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rum rücken. Kann man die im Frühwerk virulente Analogie zwischen Narzissmus und Ästhetizismus als Indiz einer epochalen Krise der Männlichkeit ansehen, wäre die palimpsestartige Fort- und Umschreibung romantischer Spaltung im Andreas-Fragment nicht nur unter poetisch-poetologischen Aspekten interessant, sondern auch auf dem Hintergrund eines subjekt- wie geschlechterhistorisch relevanten epistemologischen Paradigmenwechsels von Alteritäts- zu Kontinuummodellen. An der ›Ruine‹ (Le Rider) eines Bildungsromans soll gezeigt werden, wie die Semantik geschlechtlicher Asymmetrie die Rhetorik der Dezentrierung überdeterminiert. Da sich in der sprachlichen Doppelbewegung von De- und Refiguration (auch) deren Kontingenz artikuliert, wird die diskursanalytische durch eine symptomatische Lektüre ergänzt.

Ästhetizismus, Narzissmus und ›Krise der Männlichkeit‹ Ästhetizistischer Selbstgenuss, der im Märchen der 672. Nacht (1895) die Funktion dekadenter Kunst als Stimmungsstimulanz zitiert, ließe sich nicht nur als Rückfall in eine präödipale Präexistenz14, sondern auch als (meta)poetische Allegorie eines Selbst-Begehrens im Zeichen des Todes lesen. Dabei verweist die Fülle visueller Metaphern auf eine narzisstische Sackgasse. Ornamental verschlungene Figuren der Verdoppelung und Verzweigung geben einer Spaltung statt, die Selbstbespiegelung verstört. Sich nicht sehen zu sehen, eröffnet phänomenologisch jene Kluft, die dem unhintergehbaren Hiatus von Äußerung und Aussage entspräche. So ist der Besitz der Bilder durch den Blick bedroht. Indem sich der Kaufmannssohn von den »Augen seiner vier Diener«15 verfolgt fühlt, sieht er die Welt nicht mehr, sondern wird von ihr gesehen. Daher bleibt er im hypnotischen Dual einer Bildwirkung gefangen, deren Ambivalenz als weiblich erscheint:

14. Unter Präexistenz, einem dem Japankundler Lafcadio Hearn entlehnten Begriff, versteht Hofmannsthal eine präreflexive Einheit von Individuum und Welt, eine Art von ›magischer‹ Unmittelbarkeit, die die Trennung von Dingen und Zeichen noch nicht kennt. Daher lässt sich die Annahme eines vorbewussten Erlebniszustandes, den die impressionistische Stimmungskultur nachempfindet, zum psychoanalytischen Modell des Präödipalen in Beziehung setzen. Vgl. Waltraud Wiethölter: Hofmannsthal oder die Geometrie des Subjekts. Psychostrukturelle und ikonographische Studien zum Prosawerk, Tübingen 1990, S. 30ff. 15. Hugo von Hofmannsthal: »Das Märchen der 672. Nacht«, in: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen, hg. von Bernd Schoeller, Frankfurt/Main 1979, S. 45-64, hier: S. 49. 194

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Einmal erblickte er die Größere [Dienerin] in einem Spiegel; sie ging durch ein erhöhtes Nebenzimmer: […] sie trug in jedem Arm eine schwere […] indische Gottheit aus dunkler Bronze. Die verzierten Füße der Figuren hielt sie in der hohlen Hand, von der Hüfte bis an die Schläfe reichten ihr die […] Göttinnen und lehnten mit ihrer toten Schwere an den lebendig zarten Schultern; die […] Köpfe aber mit dem bösen Mund von Schlangen […] bewegten sich neben den atmenden Wangen […]. Eigentlich aber schien sie nicht an [ihnen] feierlich zu tragen, sondern an der Schönheit ihres eigenen Hauptes aus lebendigem […] Gold, zwei große gewölbte Schnecken zu beiden Seiten der lichten Stirn, wie eine Königin im Kriege.16 Dass dem Jüngling eine Ikone des anderen Geschlechts im Zwielicht einer Nachbarschaft von Körper und Kunst aus einem schräg gestellten Spiegel wie »aus der Tiefe« der Jahre »entgegen«17 kommt, spielt an auf die Last eines historistischen Erbes, mit dem die chthonische Amazone in der Manier Gustave Moreaus befrachtet ist. Doch der Ästhet vermag sie nicht zu begehren. Sprachlos umgeben von vier Augenpaaren, die kein Elternpaar ersetzen, ist die symbolische Anerkennung im Bild stillgestellt. Die Spiegelszene, in der die Grenzen zwischen Wahrnehmung und Vorstellung verschwimmen, wiederholt sich in der Reitergeschichte (1898), einer an Kleist gemahnenden Novelle.18 Die Allmachtsillusion, der Wachtmeister Lerch erliegt, als er die besiegte Stadt in seiner Phantasie wie ein Weib einnimmt, wird zur Bewusstseinstrübung. Auf dem Schlachtfeld reitet ihm plötzlich seine eigene Gestalt wie ein Spiegelreflex entgegen. Nachdem der Soldat die Attacke seines Phantoms an einem wirklichen Feind pariert hat, wiederholt sich die Konfrontation als eine solche mit dem Gesetz, vertreten durch einen effeminierten Vorgesetzten, dessen »verschleierte[r] Blick«19 seinem starren im Augen-Duell standhält. Wenn Rüdiger Steinlein die »Narziss-Ästheten«20 der Wiener Moderne als Gegenbilder hegemonialer Männlichkeit21 bewertet, begrün-

16. Ebd., S. 50f. 17. Ebd., S. 50. 18. Vgl. zur Intertextualität Jacques Le Rider: »La ›Reitergeschichte‹ de Hugo von Hofmannsthal. Eléments d’interprétation«, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 3 (1995), S. 215249. 19. Hugo von Hofmannsthal: »Reitergeschichte«, in: Erzählungen, S. 121-132, hier: S. 131. 20. Rüdiger Steinlein: »Ästhetizismus und Männlichkeitskrise. Hugo von Hofmannsthal und die Wiener Moderne«, in: Claudia Benthien/Inge Stephan (Hg.), Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln, Wien 2003, S. 154-178, hier: S. 161. 21. Vgl. dazu Walter Erhart: »Mann ohne Maske? Der Mythos des Narziss und die Theorie der Männlichkeit«, in: Benthien/Stephan (Hg.), Männlichkeit, S. 60-81. 195

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det er ihre Abkehr von der (Hetero-)Sexualität aus der »Abwehr der Frau als […] Triebwesen«.22 Die dafür bemühte Ätiologie einer scheiternden Abtrennung von der Mutter beruht jedoch auf der Fiktion eines autonomen Selbst, das Lacan als imaginären Effekt ausweist. Denn das der Identifikation mit dem Spiegelbild entspringende Ich des Selbstbewusstseins beruht auf einer spekulären Dialektik, die es vom Orte des Anderen aus als entfremdetes konstituiert.23 In der Ambivalenz des Wieder(v)erkennens bleibt die Beziehung zwischen dem Ich und »Seinesgleichen« in einer intra- wie intersubjektiven Aggressivität befangen24, deren ausweglose Zirkularität erst durch die das Subjekt transzendierende Ordnung des Symbolischen aufgebrochen wird.

Dissoziation und Wiener Moderne Als psychischer Raum einer Innerlichkeit hat sich die moderne Subjektform im anthropologischen Dualismus von Natur und Vernunft eingerichtet, dessen Aporetik Jean Paul in der Figur spekulativer Selbstidentität satirisch aufs Korn nimmt, wenn er Fichtes absolutes Ich25 mit dem empirischen verwechselt: »Da sah Leibgeber in den Spiegel: ›Fast sollt ich mich doppelt sehen, wenn nicht dreifach […]; einer von mir muss gestorben sein, der drinnen oder der draußen.‹«26 Zu einer endlosen Reihe von Spiegeln mutiert, stürzt das romantische Subjekt in den wahnhaften Abgrund seiner selbst, den E. T. A. Hoffmann etwa an der Verquickung von Identitätsprädikat und Singularisierung27 demonstriert, wenn er den potenzierten Doppelgänger ausrufen lässt: »Ich konnte mich selbst nicht wieder finden! […] Ich bin

22. R. Steinlein: Ästhetizismus, S. 169. 23. Vgl. Friedrich A. Kittler: »›Das Phantom unseres Ich‹ und die Literaturpsychologie: E. T. A. Hoffmann – Freud – Lacan«, in: ders./Horst Turk (Hg.), Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt/Main 1977, S. 139-166, hier: S. 153. 24. Ebd., S. 153. 25. Vgl. dazu Dieter Henrich: »›Identität‹ – Begriffe, Probleme, Grenzen«, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hg.), Identität, München 1979, S. 133-187. Fichtes Satz von der Identität als »oberste[m] Grundsatz allen Denkens« (S. 142) bleibe vage, weil er nicht auf dem Feld der formalen Logik formuliert wurde. 26. Jean Paul: Siebenkäs. Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs, Frankfurt/Main 1987, S. 542. 27. Es geht um den Unterschied zwischen »Aussagen über die Existenz von Einzelnem« (D. Henrich, S. 168) und »Identitätsaussagen« mithilfe »sortierender Prädikate« (S. 170). 196

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nicht das, was ich scheine, und scheine das nicht, was ich bin, mir selbst ein unerklärliches Rätsel, bin ich entzweit mit meinem Ich!«28 Verliert sich ursprüngliche Einheit in der Oszillation von Selbst- und Fremdreferenz, kehrt mit der Nachtseite der Vernunft deren Verdrängtes wieder.29 Verdoppeln die Humanwissenschaften den Menschen zu einer empirisch-transzendentalen Doublette30, hat die Psychoanalyse dieses Dilemma auf das Feld der Sprache verschoben, deren Differenzbewegung keinen Endsinn mehr verspricht. So gelang es Freud mit der Ersetzung der Hypnose durch die Redekur, die hysterische »Dissociation«31 als eine symptomatisch ›ent-stellte‹ »Symbolisierung«32 zu begreifen.33 Massenpsychologisch relevant, wurde Depersonalisierung wahrnehmungspsychologisch entmystifiziert. Seit Ernst Machs monistischer Konzeption eines Kontinuums zwischen Außen- und Innenwelt, hat sich das ›unrettbare Ich‹ ohnehin in einen impressionistischen Fluss wechselnder Vorstellungskomplexe, Empfindungswerte und Assoziationsketten aufgelöst.34 So wird die Frage, ob sich in der »Doppelgänger-Figur eine Ursprungspersönlichkeit dividiert« oder »multipli-

28. E. T. A. Hoffmann: Die Elixiere des Teufels. Nachgelassene Papiere des Bruders Medardus eines Kapuziners, Stuttgart 2000, S. 63. 29. Vgl. Freuds berühmten Aufsatz »Das Unheimliche«. 30. Nach Michel Foucault. Hofmannsthal formulierte: »Die Seele ist unerschöpflich, weil sie zugleich Beobachter und Objekt ist«, zit. in: H. Jürgen Meyer-Wendt: Der frühe Hofmannsthal und die Gedankenwelt Nietzsches, Heidelberg 1973, S. 51f. 31. Vgl. Sigmund Freud/Josef Breuer: Studien über Hysterie, Frankfurt/Main 1970, S. 36. 32. Ebd., S. 143. 33. Jacques Lacan definiert die hypnotische Suggestion, die von der psychologischen Schule Hippolyte Bernheims auch für Verbrechen verantwortlich gemacht wurde (vgl. S. Andriopoulos: »Kinematographie«, S. 216), als eine Identifikation ohne symbolische Vermittlung. Vgl. Gérard Miller: »Exercices lacaniens sur le discours du maître et l’hypnose«, in: Gérard Duprat (Hg.), Analyse de l’idéologie, Paris 1980, S. 85-100, sowie: G. Miller: Hypnose. Mode d’emploi, Paris 2002. 34. Vgl. Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende, Tübingen 1993, S. 335-353. William James, der die späteren sozialpsychologischen Identitätstheorien George Herbert Meads und Erik Eriksons beeinflusste, formulierte: »Thus the identity found by the I in its me is only a loosely construed thing. […] Resemblance among the parts of a continuum of feelings […] constitutes the […] ›personal identity‹ which we feel. There is no other identity than this in the stream of consciousness.« Zitiert in: Tim Mehigan: »Robert Musil, Ernst Mach und das Problem der Kausalität«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, LXXXI (1997), S. 264-287, hier: S. 266. 197

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ziert«35, höchstens zum semantischen Problem. Da sich das Subjekt als ein in der Sprache gespaltenes erweist, ist Verdoppelung (nur) die Form dieser Spaltung. Warum aber sind es vornehmlich Frauen, die auf der Schwelle zur Emanzipation plötzlich im Plural stehen? Wenn sich essentialistische Alterität zu quantitativer Gradabstufung nivelliert, sind geschlechtlicher Kombination und Vermischung keine Grenzen gesetzt. Achim Aurnhammer hält Hofmannsthals weibliche Doppelfigur insofern für eine Chiffre moderner Androgynie.36

Puzzle oder Palimpsest: Hofmannsthals Andreas-Fragment als Pastiche eines Fallromans? Kurz vor dem Abbruch des Andreas-Projekts, an dem er von 1907 bis 1927 arbeitete, betonte Hofmannsthal, dass dessen »Hauptmotiv, die gespaltene Natur der Frau«, alles »symbolisch zusammen«37 halte. Die Forschungsgeschichte folgt ihm darin. Der erste Herausgeber, Jakob Wassermann, sieht im »Problem des doppelten Ich«38 den Schlüssel für eine »Vieldeutigkeit«, die sämtliche Elemente »in endlose Beziehungen zueinander setzt«.39 Rührt der Rätselcharakter bereits aus der ›offenen Form‹40 eines Prosafragments, dessen Hunderte Seiten undatierter Notizen aus lose verbundenen Entwürfen und Einfällen, Sentenzen oder Stichworten, bestehen, verdichtet fortlaufende Ergänzung das vielschichtige Netz expliziter und impliziter intertextueller Bezüge. So werden Jung-Stilling oder Karl Philipp Moritz fast wörtlich aufgeru-

35. Birgit Fröhler: Seelenspiegel und Schatten-Ich. Doppelgängermotiv und Anthropologie in der Literatur der deutschen Romantik, Marburg 2004, S. 14. 36. Vgl. Achim Aurnhammer: Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur, Köln, Wien 1986. Er sieht in der weiblichen Doppelfigur des AndreasFragments, die er für ein »Grundmotiv« hält, keine gespaltene Persönlichkeit, sondern die u.a. von Gabriele d’Annunzios »Favola d’Ermafrodito« (im Roman Il piacere, 1889) inspirierte Chiffre für eine »hermaphroditische Überwindung der Entzweiung« (S. 246). 37. Hugo von Hofmannsthal: »Andreas«, in: Sämtliche Werke, Bd. XXX, aus dem Nachlass hg. von Manfred Pape, Frankfurt/Main 1982, S. 7-221. Dieser Ausgabe sind im laufenden Text die Angaben der Notizen (N) und Seitenzahlen entnommen, die hinter den Zitaten in Klammern stehen. 38. Zit. in: Hofmannsthal-Jahrbuch 7 (1999), S. 131. 39. Manfred Pape: »Entstehung und Misslingen von Hofmannsthals Andreas. Mit unbekannten Notizen«, in: Etudes Germaniques, 32, 4 (1977), S. 420-437, hier: S. 420. 40. Achim Aurnhammer: »Hofmannsthals Andreas. Das Fragment als Erzählform zwischen Tradition und Moderne«, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 7 (1999), S. 275-296, hier: S. 284ff. 198

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fen, die Maskeraden des Venedig-Komplexes zitieren die Commedia dell’Arte wie die Memoiren Casanovas, das Wunderbare ist im Anklang an Ariost von Schillers ›Geistersehern‹ inspiriert, und die Kryptik der Rosenkreuzer allgegenwärtig. Ohne auf die Fülle literarischer, wissenschaftlicher und historischer Referenzen, die sich in diesem Hypertext41 verknüpfen, einzugehen, möchte ich mich auf einen eher vernachlässigten Aspekt der literarischen Umsetzung medizinischen Wissens konzentrieren, nämlich auf die Insistenz einer psychiatrischen Fallstudie in einem sich dekonstruierenden Bildungsroman. Wenn Hofmannsthals Pastiche von den Kompromissen einer gemäßigten Moderne markiert ist, dann auf eine Weise, die phantasmatisch bestimmt wirkt. Vorlagen werden oft derart eklektizistisch verarbeitet, dass schräge Effekte entstehen.42 Für die anachronistische Rückprojektion multipler Persönlichkeiten ins 18. Jahrhundert fällt das kaum ins Gewicht, weil ihr der historische Kontext primär als Kulisse43 dient, metapoetisch aber auch als Anknüpfungspunkt an die Problematik des psychologischen Romans. Der »präzisen Unschärfe«44 ver(w)irrter Zitate45 entspricht die argumentative Schwäche rhetorischer Syllogistik. Die Wahrheit ist »unsagbar« geworden, aber man kann sie im Stil ausdrücken.46 Hofmannsthals souveränes Epigonentum, das Traditionen aufnimmt, ohne an sie gebunden zu sein47, führt zur kata-

41. Gérard Genette versteht unter ›Hypertextualität‹ bekanntlich abgeleitete Texte ›zweiten Grades‹, die andere Texte zitieren und/oder transformieren. Vgl. G. Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/Main 1993, S. 290ff. 42. Christoph König: »Traditionen, Traditionen«, in: Austriaca. Cahiers Universitaires d’information sur l’Autriche, 37 (1993), S. 101-123, hier: S. 108. 43. Maria Theresias Legende beschränkt sich etwa darauf, dass sie wilde Pferde zähmt und Schwäne kocht. 44. C. König: Traditionen, S. 108. 45. Sucht man dekadente Vorlagen für die groteske Rache eines beleidigten Freiers, dem Papagei seiner Verehrten vor deren Augen den Kopf abzubeißen, wird man vielleicht bei Nietzsche fündig, dessen ›Artisten-Ästhetik‹ Hofmannsthal schätzte. Im III. Teil des ›Zarathustra‹ beißt ein Hirt der Schlange des Ressentiments ihr Haupt ab, um zum Verwandelten zu werden, der das Leben lachend bejaht. Vgl. Paul Bishop/R. H. Stephenson: »Zarathustras Evangelium des Schönen. Nietzsche und die klassische Weimarer Ästhetik«, in: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft, 32 (2001), S. 1-27, hier: S. 12. Im Andreas-Fragment würde die philosophische Parabel nicht nur profaniert, sondern durch die verstümmelnde Reduktion auf ein einziges spektakuläres Bild gleichsam zur Unkenntlichkeit entstellt. 46. Christoph König: Hofmannsthal. Ein moderner Dichter unter den Philologen, Göttingen 2001, S. 10ff. 47. Friedbert Aspetsberger (Der Historismmus und die Folgen. Studien zur Literatur in unserem Jahrhundert, Frankfurt/Main 1987) bewundert mit Martin Stern, wie 199

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ÜBER DIE GRENZE

chretischen »Stilverdrehungsmanier«.48 Ist der Status mancher paratextueller Passagen ihrer parataktischen Anordnung wegen schwer zu ermitteln, bleiben die »Ordnungsmuster« und »Verknüpfungsregeln«49 indes durchschaubar, weil sich die Entfaltung einer aktantiellen Basisstruktur an ihrem zentralen Thema, nämlich verdoppelnder Spaltung, orientiert. Daher kann sich die Diskursanalyse an semantischen Isotopien und narrativen Konfigurationen ausrichten.50 Unter Verzicht auf die textgenetische Erläuterung eines Prosaprojekts, das als Reisetagebuch (1907-1912)51 begann und über den erratischen Block eines Entwicklungsromans (1912-1913)52 zu diversen Plänen für historisch-politische Generationen-Sagas (1921-1927) führte53, lässt sich der Plot des kontinuierlichen Textteils von 1912/13 rasch resümieren. Im Jahre 1778 begibt sich Andreas von Ferschengelder, ein junger Mann aus niederem Adel auf eine Bildungsreise, die ihn von Wien nach Venedig führt. Von seinem Bedienten Gotthelf betrogen, verliebt er sich auf einem Kärntner Bauerngut in das Mädchen Romana, das er bald verlassen muss. In Venedig bei einer verarmten Adelsfamilie un-

Hofmannsthal »ohne historisches Formenrepertoire« zu »vollendet gestalteten Werken« gelangt (zit. in: ebd., S. 36). Stil wäre somit eine Fähigkeit zu erben (S. 58). 48. So der Dichter, zit. in: Manfred Hoppe: Literatentum, Magie und Mystik, Berlin 1968, S. 24. Ein Beispiel für stilistische Manierismen wäre etwa die Kennzeichnung des weiblichen Doppelwesens als »durchtränkt von der Atmosphäre der in Geheimniszustand erhobenen Selbstheit« (N 70, S. 104). 49. W. Wiethölter: Hofmannsthal, S. 252. 50. Vgl. Annette Runte: »Narrativität und Geschlechtlichkeit. Trügerische Idyllen bei Hofmannsthal, Doderer, Böcklin und de Chirico«, in: Lesarten der Geschlechterdifferenz. Studien zur Literatur der Moderne, Bielefeld 2005, S. 109-143, bes. S. 112ff. 51. Gemeint ist das in der Ich-Form verfasste »Reisetagebuch des Herrn N.« (1907), das bereits den Venedig-Plot andeutet. Unabhängig davon war im selben Jahr bereits die »Vita des Herrn von Ferschengelder« (1907) entstanden, die ursprünglich in die Briefe des Zurückgekehrten (1907) eingefügt werden sollte und vom faunischen Onkel Leopold handelt. Bis 1912 heißt Andreas ebenfalls »Leopold«. Vgl. dazu M. Pape: Entstehung, S. 420ff. 52. Nun entsteht der Textteil »Die Dame mit dem Hündchen« (1912), dessen alternativer Titel »Die wunderbare Freundin« wieder fallen gelassen wurde. 1912 folgte der Roman auch noch einer chronologischen Einteilung, auf die dann zugunsten eingeblendeter Erinnerungen verzichtet wird. 53. Hofmannsthal bot sogar Stammbäume für die Hauptfiguren seines »familienund epochengeschichtlich weitverzweigten« Romans an. Doch die »genealogische Zersplitterung«, »die Erfindung immer neuer Figuren« und die mehrfachen Verschiebungen des historischen Kontexts hätten zum Verfall des Projekts geführt. Vgl. Manfred Pape: »Die Vita des Herrn von Ferschengelder«, in: Etudes Germaniques, 37, 1 (1982), S. 2534, hier: S. 31f. 200

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HUGO VON HOFMANNSTHAL UND DIE ›MULTIPLE PERSÖNLICHKEIT‹

tergebracht, deren Tochter Nina sich als Lotteriepreis anbietet, begegnet er dem Malteserritter Sacromozo, seinem geistigen Führer, sowie dessen spanischer Freundin. Gemessen am klassischen Bildungsroman, der den Integrationsprozeß des männlichen Individuums in die bürgerliche Gesellschaft54 darstellt, verwischt der frühe Romantorso nicht nur die Grenzen zwischen äußerer und innerer Geschichte55, sondern unterwirft den an frühkindlichen Erinnerungen leidenden Hysteriker56, Opfer familiärer Sozialisation, immer neuen Traumatisierungen. Anton Reisers Melancholie ist einer Schize57 gewichen: »Andres 2 Hälften die auseinanderklaffen« (N 53). Im Vergleich zu Wilhelm Meister58 bleibt die Wunde jedoch offen, und die neuplatonisch mystifizierte Initiation durch einen zwiespältigen59 Mentor60, dessen Briefe im Winde verflattern, verharrt in der Unentscheidbarkeit zwischen Gespräch und Monolog. Der

54. Vgl. Wilhelm Voßkamp: »Der Bildungsroman als literarisch-soziale Institution. Begriffs- und funktionsgeschichtliche Überlegungen zum deutschen Bildungsroman am Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts«, in: Christian Wagenknecht (Hg.), Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der DFG. Würzburg 1986, Stuttgart 1988, S. 337-356. 55. Nach dem Vorbild des psychologischen Romans, für den Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser (1780-1790) den Prototypen schuf. Vgl. dazu Hans Joachim Schrimpf: Karl Philipp Moritz, Stuttgart 1980, S. 49-56. Der gleichnamige Protagonist tritt übrigens in Hofmannsthals polyhistorischem Romanplan als Hofmeister auf. In den Notizen zu einer anderen Vorstufe wird »Andres« unter der Überschrift »Jung-Stilling« als Hypochonder präsentiert: »Andres war in einen Zustand geraten, der nichts erfreuliches hatte. Der Gedanke an die Heimat vergellte ihm das Hier […]. Das Brot schmeckte ihm nicht. […] Gefühl der Ohnmacht. […] Neid gegen alle Menschen. Hypochondrie. Wachsende Unlust an Menschen. Zuviel Menschen. Er hätte sie wollen von sich wegstreifen« (N 55, S. 34). In den frühen Aufzeichnungen nennt Hoffmannsthal seinen Protagonisten noch »Andres«, bevor er den Namen durch die hochdeutsche Version ersetzt. 56. Vgl. W. Wiethölter (Hofmannsthal), die von der »imaginäre[n] Vernichtung des Sohnes« (S. 123) durch eine »lähmende[n] Mutterbindung« (S. 234) spricht. 57. Vgl. Hofmannsthal: Andreas, S. 53f., 71, 181. In einer Vorstufe (unter dem Titel »Jung-Stilling«) wird »Andres« noch als Hypochonder dargestellt, später heißt eine Hofmeister-Figur »Anton Reiser«. 58. Aus dem Hofmannsthal kurz vor der Niederschrift des zusammenhängenden Romanteils wörtlich zitiert (ebd., S. 31). 59. Vgl. ebd., S. 141, 174, 188. 60. »Wenn er von mystischen Gegenständen spricht, […] ist er offen, der Vereinigung zugänglich, rein menschlich, von sich mitteilend, […]. Wenn er sich in gewöhnlichen Verhältnissen findet, ist er durch Höflichkeit völlig abgesondert – undenkbar, dass er zu […] erreichen wäre« (ebd., S. 110). 201

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ÜBER DIE GRENZE

Mystiker Sacramozo61, in dessen an Stefan George gemahnender Gestalt sich weitere Freunde des Autors, z.B. Rudolf Kassner und Rudolf Pannwitz, verdichten, übe eine ebenso »coercitive« wie »inducierende« »Kraft« aus. Hypnotisierend wirkt vor allem das »Doppelte seiner Natur« (S. 110). Ist der Name »Andres«62 ein Anagramm von ›anders‹, dessen griechische Etymologie ironischerweise auf eine Männlichkeit anspielt, derer es dem Helden ermangelt, wird nicht nur ein Anderer, sondern Anderes mitaufgerufen. In der Topographie63 einer Seelenlandschaft scheitert Menschwerdung an der Zweideutigkeit der Welt. Zu Recht betont Erika Tunner die Parallelen zwischen Venedig und Wien: »un même goût pour les faux-semblants, les simulations, les apparences.«64 Die semiotische Nicht-Disjunktion, die Kristeva zufolge das Genre des neuzeitlichen Romans kennzeichnet65, verkörpert sich im anderen Geschlecht. »Er wollte zu ihr, da war sie verschwunden. Verzweifelnd stürzte er in den Wald, da kam sie ihm entgegen […] Was bist du denn für eine rief er […] staunend […]. So eine halt sagt sie und hält ihm den Mund hin. Nein so eine – ruft sie wie er sie umfassen will und schlägt mit dem Rechen nach ihm.« (S. 73) Während die ursprüngliche Einheitlichkeit Romanas zum zweideutigen Traumbild wird, realisiert sich die kulturelle Dichotomisierung des

61. In den Entwürfen der Zwanziger Jahre wird er mitunter »Sagredo« genannt. 62. Wenn »Andres« auch nur die abgeschliffene österreichische Lautung des Vornamens »Andreas« wäre, der auf das griechische Wort für Mann (andros) verweist, schwingt sozusagen ›and-e-res‹ mit, etwa Rimbauds vielzitiertes Diktum ›Ich ist ein Anderer‹. Das Fremde wird als imaginäres Alter Ego evoziert. 63. Hofmannsthal habe seinen unvollendeten Roman mit einem »Erde, Himmel und Hölle umfassenden Netz verglichen«, sich also an einem »geschlossenen« poetischen Kosmos orientiert (W. Wiethölter: Hofmannsthal, S. 236). Das signifikante »Ideogramm« einer ›Quadratur des Kreises‹, sinnfällig in der durch die hermeneutische Formanalyse herauskristallisierten strukturellen Interferenz von Andreas- und Malteserkreuz (S. 237), evoziert Wiethölter gemäß eine »Vereinigung« bzw. »Erneuerung«, die ausbleibt, obwohl der Roman um die doppelte männliche Mittlergestalt (Andreas-Sacromozo) zentriert sei, die das ›chymische Werk‹ hätte vollbringen sollen. 64. Erika Tunner: »Marcel Brion et Hugo von Hofmannsthal. ›Seul le poète comprend le poète‹«, in: Carrefours de rencontres. De Stefan Zweig à Christa Wolf. Les littératures allemandes et autrichiennes du XXe siècle, Paris 2004, S. 57-67, hier: S. 63. 65. Julia Kristeva: Le texte du roman, Paris 1970, S. 34ff., hat die Schreibweise des ›modernen Romans‹, die sich mit der neuzeitlichen Zeichenökonomie durchsetzt, als Ambivalenz (»oui-non«) einer Nicht-Disjunktion definiert, die die Figuren der Täuschung und Verdoppelung (S. 57) einführt. Im Unterschied zur tabuisierten Tradition des Karnevalesken schließe diese »positivité douteuse« (S. 45) das radikal Andere aus. 202

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HUGO VON HOFMANNSTHAL UND DIE ›MULTIPLE PERSÖNLICHKEIT‹

Weiblichen in der Alternanz von »Maria« und »Mariquita«, den verschiedenen Aggregatzuständen ein und derselben Person. Die Romanfigur stellt sich, besonders im Paratext, als bloße Redefigur aus. Evoziert die Paradoxie der Stimm- und Gesichtsgebung, die das weibliche Double entfaltet, Friedrich Schlegels allegorische Gleichsetzung der Frau mit dem Roman, trägt ihn die Kindsbraut »Roman/a« bereits im Namen. So wie die mythische Genealogie vom faunischen Patriarchat66 zum homoerotischen Männerbund67 verläuft, wird die Ökonomie des ›Großen Hauses‹, verziffert im Kastell Finazzer68, von der symbiotischen Kleinfamilie abgelöst, die hier allerdings pervertiert werden muss, um als ideale zu erscheinen. Ähnlich Goethes Mignon entstammt Romana Finazzer einem Bruder/Schwester-Inzest, der sich zum Urbild platonischer Liebe veredelt. Im Elternpaar verdoppelt sich das Wahre, Schöne und Gute auf gleichsam ›a-sexuelle‹, ungeschlechtliche Weise, zumindest aus Andreas’ Sicht, der Bauer und Bäuerin eines Abends unfreiwillig belauscht, da seine Gaststube nur durch eine dünne Schrankwand von ihrem Schlafzimmer getrennt ist. Was er vernimmt, ist ein wechselseitiges Eingeständnis ewiger Zuneigung, das sich durch seine echolalisch synkopierte Symmetrie auszeichnet. Der Gatte bekennt, ihm sei die Gattin »alleweil die Gleiche, nein vielmehr die Liebere – und keine Stund noch hätt es ihn gereut diese achtzehn Jahre –

66. Vgl. Dieter Hornig: »Hofmannsthal romancier: Andréas«, in: Austriaca 37 (1993), S. 85-101, bes. S. 89ff. 67. Vgl. die Notizen aus den 20er Jahren, wo das Band zwischen Mentor und Schüler sich auf der Folie männerbündischer Traditionen, vom Rittertum über die Freimaurerei bis zum George-Kreis (S. 161) aufrollt. In späten Notizen steht ein Verweis auf den »Berg Athos« (S. 163) allerdings kommentarlos neben einem solchen auf Prousts bekannte Figur des effeminierten Homosexuellen, den Baron de Charlus (S. 161). 68. Dabei spielt die Symbolik der Zahl Vier meines Erachtens eine herausragende Rolle. Das Kastell Finazzer, Sinnbild einer inneren Festung, ist ein stattliches viereckiges »Gehöft«: »ums Ganze lief eine steinerne Mauer […], an jeder Ecke ein Turm, […] darüber ein Wappenschild«. Es ist der »Herrensitz« von Romanas Vater, eines hochgewachsenen Apoll, »dem Anschein nach an die Vierzig, dabei schlank und mit einem schönen Gesicht« (S. 53). Romanas Großvater, der Adlerjäger, welcher sich viermal verheiratete, hing noch im Alter an vier Kirchenleitern über einem Abgrund, um einen Horst auszurauben (S. 53). Statt des väterlichen Gesetzes ödipaler Triangularisierung, wird der vierte Platz, jener des toten Vaters, der die symbolische Ordnung (als Ersatz der lebendigen Sache durch das tote Zeichen) begründet, von der Freudsche Mythenfiktion eines ›Urvaters‹ eingenommrn, der das Reale des Genießens verkörpert. Die alchemistische ›Quadratur des Kreises‹, an der das Romanprojekt scheitert, bestünde insofern in einem Verzicht auf jene Vermittlung, der es obläge, das Wuchern imaginärer Verdoppelung, wie sie sich in der Paarung Gespaltener (Andreas/Malteser, Maria/Mariquita usw.) äußert, aufzuhalten. 203

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So auch sie; keine Stund noch; ihr sei nur um ihn – und gab seine schöne Stimme zurück: ihm sei nur um sie« (S. 61). Kontrastiert das Paradies eines ›anderen Zustands‹, in dem die Zeit aufgehoben und alles (sich) gleich zu bleiben scheint, mit menschlicher Vergänglichkeit, wie es in Andreas’ Vergleich zwischen Romanas Eltern und den seinigen verdüsternd aufscheint, wird Endlichkeit melancholisch an eine Sprachfunktion geknüpft, die die Gefahr narzisstischer Entleerung in sich birgt, sobald die affektive Rede zum konventionellen Diskurs erstarrt: »[…] dazwischen aber hörte er seine Eltern reden, die waren freilich älter [und] dem Tod so viel näher, abgelebt ist es bei jedem Wort, als könnt’s auch ungeredet bleiben, eine Red und eine Gegenred und das wahre Leben vorbei« (S. 61). Doch die Wunde einer Spaltung des Subjekts in der Sprache, die der Alltagsdialog verdeckt, indem er sie auf zwei Sprechpositionen verteilt, schließt sich sogleich wieder zu einem idyllischen Genre-Bild, das die Anekdote des gemeinsamen Todes zweier greiser Eheleute zur Metapher symbiotischer Eintracht verklärt. So »seien doch die zwei alten […] glücklich zu preisen, die der angeschwollene Schwarzbach im April mitgenommen habe zusammen seien sie auf einer Bettstatt dahin geschwommen«, sich an den Händen haltend, »und mitsammen hätt sies in den Tobel hinuntergerissen und ihr weißes Haar hätt geleuchtet wie Silber unter den Weiden« (S. 61). Noch im auffälligen Zug zum Binnenreim (»mitgenommen« – »geschwommen«, »zusammen« – »mitsammen«) tut sich ein Harmoniebedürfnis kund, dessen Erfüllung die Reminiszenz einer Urszene vereitelt. Dass sie sich nachträglich als Wiederholung eines fiktiven Ursprungs ausnimmt, verstellt eine monströse Synekdoche. Das Verlangen des »Gleiche[n]« (S. 61) verdrängt ödipale Schuld in die Tiersymbolik zweier ebenso peinlicher wie komplexer Deckerinnerungen. »Er sank in einen wüsten Traum und aus einem in den anderen; alle Demütigungen, die er je im Leben erfahren hatte, alles Peinliche und Ängstigende war zusammengekommen, durch alle schiefen und queren Situationen seines Kindes- und Knabenlebens mußte er wieder hindurch. Dabei floh Romana vor ihm, in seltsamen halb bäurischen halb städtischen Kleidern, bloßfüßig unterm schwarz gefältelten Brocatrock; und es war in Wien, in der menschenbelebten Spiegelgasse, ganz nahe dem Haus seiner Eltern. Angstvoll mußte er ihr nach und mußte doch dies Nacheilen wieder ängstlich verbergen. Sie drängte sich durch die Menschen durch und wandte ihm ihr Gesicht zu, das hölzern und verzogen war. Wie sie weiterhastete, waren ihr die Kleider unordentlich vom Leib gerissen. Auf einmal verschwand sie in einem Durchhaus […] und hier blieb ihm keine schreckliche Begegnung erspart. Ein Blick, den er als Knabe gefürchtet hatte wie keinen zweiten, der Blick seines ersten Katecheten, schoß durch ihn hindurch und die gefürchtete kleine feiste Hand faßte ihn an, das widerwärtige Gesicht eines Knaben der ihm in dämmernder Abendstunde erzählt hatte was er nicht hören wollte preßte sich gegen seine Wange und wie er diese mit Anstrengung zur Seite schob lag vor der Tür durch [die] er Romana nach mußte […] die Katze, der er einmal mit einer Wagendeichsel das 204

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Rückgrat abgeschlagen hat und die so lange nicht hatte sterben können: So war sie noch nicht gestorben nach so vielen Jahren! Er sieht […] der Mutter Gesicht schlaffer und immer bleicher werden. Kriechend mit gebrochenem Kreuz wie eine Schlange kommt sie ihm entgegen und er fürchtet über alles ihre Miene, wenn sie ihn ansieht […]. Er muß sich durch den Wandschrank winden, der voll von den Kleidern der Eltern ist, immer gräßlicher schreit es drinnen […] ihm war als habe er etwas Schweres begangen und nun komme alles ans Licht.« (S. 64f.) Wirkt diese Albtraum-Szene, in der sich psychische Prozesse zur labyrinthischen Stadtlandschaft verräumlichen, wie eine literarische Adaptation der Freudschen Theorie des Unbewussten, die Hofmannsthal gut kannte69, so produziert die Serie sekundär bearbeiteter, d.h. ver(sinn)bildlichter Verdichtungen und Verschiebungen eine konstitutive Unentscheidbarkeit zwischen sexuellen und symbiotischen Wünschen. Das narzisstische Subjekt, bezeichnenderweise in der »Spiegelgasse« beheimatet, verfehlt zwar das Objekt seiner Begierde, aber wehrt auch homoerotische Versuchungen ab. Sein Vergehen verwörtlicht sich, ganz nach hysterischem Muster: Das Kreuz, das der Junge zwei lieben Haustieren brach, die Eltern-Imagines darstellen, muss er nun als Schuldbewusstsein mit sich schleppen. Sieht Andreas in der Katze, der er einst das »Rückgrat« zerschlug, seine eigene Mutter als Mischfigur »mit […] hündische[m] Gesicht« (S. 64f.) wie eine gefährliche verführerische »Schlange« auf ihn zukriechen, kündet sich im kleinen »Hündlein«, das er auf ähnliche Weise totschlug (S. 71), bereits der King Charles-Hund an, der zum Emblem einer semantischen Schnittmenge der weiblichen Doppelfigur »Maria/Mariquita« werden wird. Vorher aber muss ein Verbrechen verdrängt werden, an dem Andreas in Gestalt seines teuflischen Bedienten nur indirekt teilhat, für das er jedoch die Verantwortung trägt. Um fliehen zu können, hat Gotthelf den Hofhund vergiftet, was in seinem jungen Herrn ein schlechtes Gewissen wachruft: »Ihm war so heimlich so wohnlich wie nie in seinem Leben. Er sah auf den rückwärtigen Hof hinaus, über dem Stall hing der Vollmond es war eine spiegelhelle Nacht, der Hund stand mitten im Licht, er hielt den Kopf sonderbar ganz schief, drehte sich in dieser Stellung immerfort um sich selber: es war als erduldete das Tier ein großes Leiden« (S. 62). »Ihm kam kein anderer Gedanke als ein quälender. Er sah sich als zwölfjährigen Knaben, sah [daß] das Hündlein das ihm zugelaufen war, ihm auf Schritt und Tritt folgte. […] Er schmähte es eine niedrige und feile Creatur unter der Schmähung kam es näher […]: ihm war da habe er den Fuß gehoben und traf das Rückgrat von oben mit dem Schuhabsatz. Ihm war – das Hündlein gab einen kurzen Schmerzenslaut und knickte zusammen,

69. Vgl. dazu Bernd Urban: Hofmannsthal, Freud und die Psychoanlyse. Quellenkundliche Untersuchungen, Frankfurt/Main u.a. 1978. 205

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aber es wedelte ihm zu. Er drehte sich jäh um und ging weg, das Hündlein kroch ihm nach, das Kreuz war gebrochen, trotzdem schob es sich seinem Herrn nach wie eine Schlange. Er blieb endlich stehen da heftete das Hündlein seinen Blick auf ihn und verschied wedelnd. Ihm war unsicher ob ers gethan hatte oder nicht; aber es kommt aus ihm« (S. 71). Das traumatische Ereignis auf dem Finazzer-Hof bewirkt eine in ihrem Wahrheitswert unentscheidbare Erinnerung, die dem gegenwärtigen Handeln nachträglich den Status einer Wiederholung verleiht. Der naive Candide erahnt die symptomatische Bedeutung rätselhafter Zeichen, ohne deren geheime Logik entziffern zu können: »Zwischen ihm und dem todten Hund war was, er wußte nur nicht was, so auch zwischen ihm und Gotthelf […], andererseits zwischen dem Hofhund und jenem andern das lief alles so hin und her, daraus spann sich eine Welt, die hinter der Wirklichen war« (S. 72). Indem der Hund zum signifikanten Codewort eines unfassbaren Nexus geworden ist, der in mimetischer Lesart den psychischen Konflikt des (Anti-)Helden markiert, gleichzeitig aber die epischen Themenstränge von Spaltung und Verdoppelung verknotet, macht die Traum-Frau daraus, ohne es zu wissen, einen gleichsam Freudschen Kalauer70: »In seinem Traum […] schien die Sonne, er gieng tiefer und tiefer in einen hohen Wald hinein, und fand Romana. Der Wald leuchtete je tiefer je mehr, im Mittelsten wo alles am dunkelsten und leuchtendsten war fand er sie sitzen auf einer kleinen Inselwiese, die von leuchtendem Wasser umronnen war. Sie war im Heu eingeschlafen, die Sichel und der Rechen lagen nahe bei ihr. Als er über das Wasser stieg saß sie auf und sah ihn an, aber fremd. Er rief sie an: Romana siehst du mich, so leer ging ihr Blick. O ja, freilich sagte sie mit einem sonderbaren Blick, weißt Du ich weiß nicht wo der Hund begraben liegt ihm war seltsam er mußte lachen über ihre Rede so witzig schien sie ihm.« (S. 72f.) Die »Wahrheit« (S. 73) eines Unbewussten, das, wie die Oxymora anzeigen, keine Widersprüche kennt, spricht sich aus im Witz, der auf die Frage nach dem Sinn ins Leere geht. Im Kurzschluss zwischen Sprichwort und Referenz wird die grundlegende Doppelung von Wörtlichem und Figurativem performativ, Romana aber, als Bild- und Stimmgebung des Signifikanten, zum imaginären Fluchtpunkt. So erhält die ›unio mystica‹ mit dem Ideal, »dem innerste[n] Kern verketteter Geschehnisse«71 (N 314), Züge psychotischen Genießens:

70. Lacan wurde nicht müde, zu betonen, dass das Symptom ein Kalauer ist, in dem sich die grundlegende Zweideutigkeit der Sprache offenbart. Vgl. Jacques Lacan: »Funktion und Feld der Sprache und des Sprechens in der Psychoanalyse«, in: Schriften I, Olten, Freiburg i.Br. 1973, S. 71-171, hier: S. 109. 71. Vgl. zur mystischen Tendenz modernistischer Literatur Martina Wagner-Egel206

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HUGO VON HOFMANNSTHAL UND DIE ›MULTIPLE PERSÖNLICHKEIT‹

»Andres war zumut wie noch nie in der Natur, ihm war als wäre dies mit einem Schlag aus ihm selber hervorgestiegen: diese Macht dies Empordrängen, diese Reinheit zu oberst. […] Jede Verdunkelung, jede Stockung wich von ihm. Er ahnte, daß sein Blick, von hoch genug, alle Getrennten vereinigt und daß die Einsamkeit nur eine Täuschung ist. Er hatte Romana überall – er konnte sie in sich nehmen, wo er wollte. Jener Berg, der vor ihm aufstieg und dem Himmel entgegen pfeilerte, war ihm ein Bruder und mehr als ein Bruder; wie jener in gewaltigen Räumen das zarte Reh hegte, mit Schattenkühle es deckte, mit bläulichem Dunkel es vor dem Verfolger barg, so lebte in ihm Romana. Er sah in sich hinein und sah Romana niederknien und beten: sie bog ihre Knie wie das Reh wenn es sich zur Ruh bettet, die zarten Ständer kreuzt und die Geberde war ihm unsagbar. Kreise lösten sich ab. Er betete mit ihr und wie er hinübersah war er gewahr daß der Berg nichts anderes war als sein Gebet. Eine unsagbare Sicherheit fiel ihn an: es war der glücklichste Augenblick seines Lebens.« (S. 76) In dem Maße, wie sich die Innenwelt zur Außenwelt entgrenzt und das ekstatische Ich sich als ihr göttlicher Urheber erlebt, kann das Subjekt auf die Präsenz seines Liebesgegenstandes verzichten. Es erfährt ihn nicht nur als imaginär, Ausgeburt seines Begehrens; vielmehr ist das singuläre Objekt, auf das Andreas fixiert war, einem unsagbaren ›Ding‹ gewichen, Statthalter einer Leere. In diesem verwandelten72 Zustand erscheint es Andreas, als sei er immer schon mit Romane vereinigt gewesen, er braucht sie nicht mehr zu besitzen. Eichendorffs Namensgeberin73, die dämonische Amazone, die sich als Sinnbild romantischen Leerlaufs wie ein Feuerwerk selbst in die Luft jagt, ist damit ins Übersinnliche verzeichnet, die Spaltung aber nicht überwunden. Denn ihre Rhetorik kehrt im zusammenhängenden Textteil und in den Notizen wie eine imaginäre Überflutung zurück. Sie wird durch einen bislang eher unterschätzten medizinischen Prätext sogar dramatisch auf die Spitze getrieben. Richard Alewyn74, und Gotthart Wunberg75 haben dem Buch des Bostoner Psychiaters Morton Prince (1854-1929), »The Dissociation of

haaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, München 1989. 72. Die Verwandlungstopik geht auf die alchemistische Lehre zurück, die sich mit mystischen Diskurstraditionen vermischt und zuweilen auch vitalistisch auflädt. 73. Die Gräfin Romana aus Joseph von Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart (1815) findet ihre motivische Vorlage in der »Gräfin G.« aus Clemens Brentanos ›verwildertem‹ Roman Godwi, oder das steinerne Bild der Mutter (1800). 74. Richard Alewyn: Hugo von Hofmannsthal, 4., abermals vermehrte Aufl., Göttingen 1967, S. 128-167. 75. Gotthard Wunberg: Der frühe Hofmannsthal. Schizophrenie als dichterische Struktur, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1965, S. 27, 33, 40. 207

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a Personality« (1906)76 das zum psychopathologischen Klassiker wurde, hermeneutische Bedeutung beigemessen, weil es Hofmannsthal wahrscheinlich sogar den Anstoß zu seinem Romanprojekt gab.77 Die populäre Fallstudie über eine Krankenschwester, die sich während ihrer hypnotischen Behandlung (1898-1904) in vier verschiedene Personen aufspaltete, besteht aus einer Anamnese »after the manner of a biography« (S. 11), dem Protokoll der therapeutischen Sitzungen sowie autobiographischen Aufzeichnungen der Patientin (S. 367ff.), die einen Vergleich beider Perspektiven erlauben. Obwohl Prince ›sekundäre Persönlichkeiten‹ als Niederschlag psychodynamischer Prozesse78 begreift, nährt sich sein theoretischer Diskurs von alltäglichen und literarischen Metaphern. So vergleicht er das fragmentierte Selbst mit zerbrechendem Glas, dessen Angriffsfläche sich vergrößere (S. 23). Der Kampf mythisierter Akteure (»The Saint, The Woman, The Devil«) wird zum Boulevardtheater-Schwank: Der Shakespeare’sche Puck »Sally« spielt (sich selbst) schalkhafte Streiche und wehrt sich wie besessen dagegen, weghypnotisiert zu werden. Siegt bei der Teufelsaustreibung79 der Wille des Meisters80, fusioniert er – auf der Jagd nach dem ›wahren‹ Selbst – die sozial angepaßteren Teilpersonen: »We had pieced together the débris of a personality into a whole« (S. 405). Obwohl Prince die autobiographischen Informationen, zu denen er seine Patientin anregt, anfangs kurz zusammenfasst, übersieht der ärztliche Kommentar, was im Bekenntnis der Miss Beauchamp, einem polyphonen ›Sandwich‹-Diskurs aus den Stimmen verschiedener personae, hervorsticht, – deren Verwerfung durch eine Mutter, die ihre Tochter nur deswegen ablehnt, weil sie dem Vater ähnelt.

76. Morton Prince: The Dissociation of a Personality. A Biographical Study in Abnormal Psychology, New York, London, Bombay 1906. Dem Reprint (New York 1992) sind die Seitenangaben im Fließtext entnommen. 77. Er las das Buch Anfang 1907, angeregt durch Marie von Thurn & Taxis. Damals ging dieser Fall durch die Presse und wurde zum Broadway-Stück. 78. »The synthesis of the original consciousness known as the personal ego is broken up«. »By breaking up of the original personality at different moments along different lines of cleavage, there may be formed several different secondary personalities« (ebd., S. 3). 79. »You shall never again have the power to influence« (ebd., S. 138), befiehlt der Hypnose-Arzt der unerwünschten Person. Seine Devise lautet: »A normal self must be able to adjust itself […] to its environment« (S. 233). So fällt er das Todesurteil: »the resurrection of the Real Miss B is through the death of Sally« (S. 524). 80. »It was a battle of wills. […] I recognized that one or the other must be the master« (ebd., S. 493f.). 208

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»Her mother exhibited a great dislike to her, and for no other reason, apparently, excepting that the child resembled her father in looks. […] On the other hand, she herself idealized her mother, bestowing upon her almost morbid affection; and believing […] that her mother’s lack of affection was due to her own imperfections (S. 12). C. [i.e. Miss B.] was […] shy, nervous, and imaginative – terrified by the appearance of her father, but worshipping[…] her mother, who did not however care for her and paid her slight attention (S. 374). [Her] whole life, all her thought and action and feeling, centred about her mother. She believed that God wanted her to save mamma from some dreadful fate, and that in order to do this she must, before the day should come, have attained a certain ideal state […] spiritually. […] This impossible ideal haunted us day and night« (S. 376). »Mamma was very ill for a long time before she died, and during this time C. [i.e. Miss B.] did all sorts of absurd things so that I [i.e. Sally] did not know what she was thinking about. […] mamma […] never wanted C. near her after we grew older. She didn’t even want to see her, but was always saying, ›Keep out of my sight‹« (S. 386f.). ›Geh mir aus den Augen‹, lautet das zerstückelnde Verdikt einer Mutter, deren frühen Tod sich die Tochter zur Last legt. Ihr religiöser Verfolgungswahn tritt zunächst zurück hinter ihrer Liebe zum Hauslehrer William Jones, einer positiven Ersatzfigur, »sent as a sort of heavenly messenger to reassure her about mamma« (S. 388): »He used to sympathize so heartily and give such amusing advice, never questioning anything. […] She dreamed of devoting her life to him […], he was the second divinity to whom she did reverence, mamma having been the first« (S. 392). Doch als Miss B. später in einer Sturmnacht plötzlich das Gesicht ihres Geliebten, der sie inzwischen verlassen hat, wie ein Phantom vor ihrem hochgelegenen Fenster wahrnimmt, was sich als schlechter Scherz aufklärt, beginnt ihre »Desintegration«81: »In 1893 Miss Beauchamp was a nurse in a hospital […]. One night, while in the nurse’s sitting-room conversing with a friend, Miss K., she was startled, upon looking up, to see a face at the window. It was the face of her old friend, William Jones, a man whom with the idealism of girlhood she worshipped as a being of a superior order. He was much older than she, cultivated, and the embodiement of the spiritual and the ideal. At first Miss Beauchamp thought the face a hallucination, but […] seeing that it was a real person, she hastily […] went down to the door where she met Jones. It transpired that he had stopped over […] and wandered up to the hospital. Seeing a ladder (which had been left by workmen) leaning against the building, he had, in a spirit of fun, climbed up and looked into the window. […] it did give her a violent shock. The surroundings, too, were dramatic. It was night, and pitch dark. A storm was passing over, and great peals of thunder and flashes of lightning heightened the emotional effect. […] Miss

81. Vgl. die Wiedergabe der vom Arzt angeregten autobiographischen Aufzeichnungen (M. Prince: The Dissociation, S. 367ff.) im Unterschied zu seinem eigenen Resümé (S. 12ff.). 209

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Beauchamp returned to her duties much agitated. […] She had ›gone to sleep‹ on that eventful night […] and had changed to B I.« (S. 214-216) Die verworfene Spiegelszene, die das Subjekt gespenstisch aus dem Realen ereilt, travestiert Hofmannsthal an entscheidender Stelle. Ist Maria-Mariquita im Romantorso eine hysterische »Halbnärrin«, die »entweder krank im Bett« oder betend auf den »Knien« (S. 83) liegt, begegnet sie Andreas folglich zweimal. In einer einsamen Kapelle eines entlegenen Stadtteils von Venedig erblickt er anstelle der bedrückten Beterin, die er eben noch als Kranke stöhnend auf sich zukommen sah, am selben Ort plötzlich »eine andere Person«, die ihn, »dem Altar den Rücken« (S. 87) kehrend, frivol anschaut.82 »In ihrem Anzug unterschied sich diese Person nicht allzusehr von der früheren welche sich mit einer fast unbegreiflichen Schnelle und Lautlosigkeit entfernt haben mußte. Auch die Neue trug sich in den gleichen bescheidenen dunklen Farben […]. Aber diese hier hatte kein Kopftuch; ihr schwarzes Haar hing in Locken zu Seiten des Gesichtes.« (S. 88) In dem Maße, wie etwas »Freches und fast Kindisches« in ihr »Gehabe[n]« eindringt (S. 88) und sie ihm mit aufgelöstem Haar, »verhaltenem Lachen« und fliegenden Röcken wie ein »verkleidete[r] junge[r] Mann« vorkommt, scheint ihm das »Betragen« der inzwischen spurlos Verschwundenen »völlig dirnenhaft« (S. 89). Doch die hysterische Selbstbeobachtung der Hysterie wird selbst haltlos. Nachdem Andres kurz nach dem merkwürdigen Erlebnis in einen abgeschiedenen Hof eingetreten ist, der ihn durch seine mittägliche Stille und Statik bezaubert, wird sein Genuss bukolischer Reize durch ein völlig unverhofftes Ereignis verstört. Denn plötzlich bricht etwa (über ihn/m) herein und blickt ihm von oben, aus einem Loch im Rebendach, ein bacchantisches »Gesicht« entgegen, das sich flugs in ein himmlisches verwandelt: »An einer Stelle war eine Lücke, groß genug um ein Kind durchklettern zu lassen, von hier aus fiel der Abglanz des strahlenden Droben herein und die schönen Formen der Weinblätter zeichneten sich scharf auf dem Ziegelboden ab. Der nicht große Raum, halb Saal halb Garten war erfüllt von lauer Wärme und Traubenduft und tiefer Stille, daß man das ruhelose Hüpfen des Vogels hörte, der unbekümmert um Andreas Hinzutreten von einer Sprosse zur anderen sprang. Plötzlich fuhr der zutraulich[e] Vogel in jähem Schreck gegen eine Seite seines Käfi[g]s: die Tragbalken wankten, das Rebendach schüt-

82. Die Beterin ist, angesichts ihrer späteren Ambiguisierung, zwar der verkleideten Nonne aus Casanovas Memoiren und Rousseaus venezianischer Kurtisane nachgebildet, findet aber auch eine Vorlage in Schillers Pseudo-›Griechin‹ aus den Geistersehern (1789). 210

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terte die Öffnung hatte sich verfinstert und es blickte in Manneshöhe über Andres Kopf ein menschliches Gesicht herein: schwarze Augen in denen das Weiße blitzend hervortrat starrten von oben in seinen erschrockenen Blick, ein Mund halboffen vor Anstrengung Erregung, dunkle Locken drangen zu einer Seite zwischen den Trauben herab, das ganze blasse Gesicht drückte eine wilde Gespanntheit aus und eine augenblicklich fast kindisch unverhohlene Befriedigung, der Körper lag irgendwie über dem Lattendach, […]. Nun veränderte sich der Ausdruck des Gesichtes in einer rätselhaften Weise: mit einer unendlichen Teilnahme, ja Liebe ruhten die Augen auf Andres.« (S. 90) Eine Hand mit blutigen Fingerspitzen »drang durch das Blattwerk, als wolle sie […] sein Haar streicheln«, bis sich der »leichte Körper« mit dem Schrei »ich falle« wieder »über die Mauer« zurückschwang, in jenes phantasmatische Nirgendwo, aus dem er kam. Denn den magischen Ort, an dem Andreas sich wähnte, gibt es in Wirklichkeit nicht83, er wird zur Allegorie des Poetischen. Wenn der enttäuschte Held erkennt, »daß er das Entscheidende an dem was er erlebt hatte, nicht zu erzählen verstand« (S. 91), ließe sich diese Verlustbilanz auch als metapoetische Reflexion über den unsagbaren Grund des Schreibens lesen. Miss Beauchamps unheimliche Vision aber kehrt, ins irreale Licht einer dionysischen Idylle getaucht, unter geschlechtlich verkehrten Vorzeichen als Rebus wieder: So wie ein nicht symbolisierbares Alter Ego die Kranke zu Tode erschreckte, fühlt Andres, »er werde sich nie über« das »Geheimnis« des ›kletternden Mannweibs‹ »beruhigen können« (S. 91). In beiden Fällen wird die halluzinatorische Spiegelszene vom Ort des Anderen aus unterbrochen. In der traumatischen Nachträglichkeit des Affekts manifestiert sich das verlorene Objekt im (Ver-)Fehlen einer Differenz84, jener von Trennung und Vereinigung. Indem Hofmannsthal von den vier durchnumerierten personae der Fallstudie nur zwei übrigbehält, reduziert er die klinische Komplexität auf die Ambivalenz des Weiblichen85 im paradoxen Selbstverhältnis: »Die Dame und die Cocotte sind […] Spaltungen ein und derselben Person: die sich gegenseitig trucs spielen« (N 4, S. 10). Dieses PrinceZitat bildet den anekdotischen Grundstock einer Serie mehr oder weniger schematisierter Dualismen. MI wird zur »Christin mit mystischen

83. Ein venezianischer Begleiter, indes dubioser Führer durch das Labyrinth, der Maler und Kuppler Zorzi, klärt ihn auf: »das Haus hat keinen Hof, hier stößt ihm eine Feuermauer entgegen, dahinter fließt der Canal, daran grenzt der Garten eines Redemptoristenklosters« (S. 91). 84. Noch in »Gedanken an Romana«, meint Andres, »das Verlorene in der Lotterie zu gewinnen« (N 42) und baue sich vier Luftschlösser mit allen vier Frauen (Romana, Nina, Maria/Mariquita). 85. Dabei ist die romantische Dichotomie von ›Madonna vs. Hure‹ um 1900 bekanntlich jener von ›Femme fatale/Femme fragile‹ gewichen. 211

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Molinistischen penchants«, MII bleibt »Heidin« (S. 11). Während MI sogar mit Anwesenden brieflich verkehrt (S. 16f.), »schreibt« MII »nie« (S. 18). Je weiter sich die Imagination vom Stoff der Fallgeschichte entfernt, desto asymmetrischer artikuliert sich die Opposition86: Eignet Mariquita z.B. »etwas actives, gliedermännisches« (N 16), sinnt Maria darauf, sich im Selbstmord »ganz« zu zerstören (N 17). MI singularisiert sich durch Geist, MII im Leib: An letzterer »ist es jedes körperliche Detail was einzig und ewig scheint. Das Knie, die Hüfte. Das Lächeln. […] ihr Denken selbst ist ganz Pantomime, ganz potentielle Erotik, […] sie buhlt immerfort und mit allem was sie umgiebt« (N 25). Wird die Gleichsetzung von Weiblichkeit mit Schauspielerei, die in Nietzsches Diktum von der Wahrheit des Scheins in der Täuschung gipfelt87, um 1900 ontologisch festgeschrieben88, sinkt die Frau zum ›reinen Geschlechtswesen‹ ab. Hofmannsthal spielt mit diesem Oxymoron, wenn er die rokokohafte Kippfigur von »Beharren« und »Wechsel« (S. 19)89 ironisch in treuer Hörigkeit legiert: »Durch einen kleinen kurzathmigen […] Hund namens Fidèle […] hängen MI und MII zusammen« (N 25). Während ein Dingrequisit die weibliche Beziehung verlötet90, bleibt die immaterielle Operation91 ein maskulines Privileg. Insofern wird weibliche Spaltung stets aus exklusiv männlicher und nie aus weiblicher Perspektive geschildert: »Einmal während BI zu ihm und dem Malteser spricht […], verliert sie sich: das andere Gesicht tritt hervor –

86. »Mariquita […] hasst« Maria, »sieht alles Unvollkommene an ihr« (S. 9), später äußert sich die Hassliebe in einer Spiegelrelation (S. 104). 87. In der Vorrede zur 2. Auflage von Die Fröhliche Wissenschaft. La gaya scienza (1887). Diese Diskurstradition beginnt mit Rousseau, der in der als weiblich designierten und mit Weiblichkeit assoziierten Rhetorik eine Gefahr für die männliche Identität sieht, während die Frühromantik das Weibliche als Anderes zu poetisieren beginnt. 88. Bei Georg Simmel (»Weibliche Kultur«, 1802) anders als bei Otto Weininger (Geschlecht und Charakter, 1903). 89. Vgl. Katharina Mommsen: Hofmannsthal und Fontane, Bern u.a. 1978, die Fontanes Cécile im Andreas-Fragment wiederfindet und dabei das Hundesymbol zum Hauptargument macht. 90. Man denke an Kafkas fast zeitgleichen Kommentar über die Verdichtung literarischer Figuren in seiner Erzählung »Das Urteil« (1912): »Der Freund ist die Verbindung zwischen Vater und Sohn, er ist ihre größte Gemeinsamkeit« (Eintrag vom 11.2.1913, in: Tagebücher 1910-1923, Frankfurt/Main 1992, S. 217). In der Freund-Figur figuriert sich die Beziehungsqualität zwischen den Opponenten. 91. »Operieren« i.S. der Rosenkreuzer bedeutet die »Verwandlung zur Vollkommenheit« (M. Pape: Aurea, S. 691). Doch hier geht es um die (vor-)dialektische Synthese von Widersprüchen auf höherer Stufe. Als Antipode des egozentrischen (ich-bezogenen) Andreas dient der ›allomatische‹, auf den Anderen bezogene Malteser als Katalysator dieses Prozesses. 212

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sie spricht in einem ganz anderen Ton, ihre Augen schwimmen, ein feuriger Blick trifft Andreas« (N 37). Entpuppt sich die Männerphantasie als erotisches Phantasma (N 29), wird der Chiasmus von Versinnlichung und Vergeistigung zum Gleichnis für eine Vereinigung92 nach totalisierendem Motto: »für jeden geht es um das Eins-werden mit sich selber« (N 101). Doch auf Andreas’ Frage »Werd ich Dich ganz haben?« kalauert ein weiblicher Dämon: »Ganz und noch eine dazu« (N 116). Angesichts eines unintegrierbaren weiblichen Überschusses mündet das ästhetische Programm in ein ideologisches: »Die eigentliche anzustrebende Vereinigung ist die von Andreas und Romana« (N 384).

Vaterfunktionsverlust und das (Ent-)Gleiten des Signifikanten Der literarischen Überschreibung einer medizinischen Pathographie, die das Telos der Heilung auf eine Ganzheitsutopie überträgt, um damit der krisenhaften »Dissoziation der Epoche«93 zu begegnen, »entgleitet« ein Rest, der, wie Hofmannsthal weiß, »nur an den Worten haftet«.94 Sein Versuch, Spaltung auf Verdoppelung zu verkürzen, um damit der Vermehrung Einhalt zu gebieten, stützt sich auf eine Ökonomie des Gleichen. Gerade insofern lässt sich die Krise des modernen Subjekts auch als eine solche der Geschlechter lesen. Deutlich wird dies am Ausschluss des Weiblichen aus dem mönchischen Bund. Mentor und Adept beglückwünschen sich dazu, »nie eine Frau berührt« (N 35) zu haben. Elitär verzichtet ein George nachempfundener Dichterpriester auf leibliche Nachkommen (N 228), und die »mystische Liebe zum Kind« (N 63) bewahrt sich im okkultierten Werk, – nicht ohne Widersprüche. Wird weibliche »Duplicität« (N247)95 einerseits aus der

92. Unter der Prämisse einer metaphysischen Alteritätstheorie, die an den magischen Idealismus des in den Notizen häufig zitierten Novalis gemahnt, vollzieht sich Vereinigung als Aufhebung hierarchisierender Polarisierung mittels Wechselwirkung. 93. M. Pape: Entstehung, S. 432: »an die Stelle einer Dissoziation der Person tritt die Dissoziation einer Epoche«. Beklagt Hofmannsthal schon in den Jugendbriefen, dass ihm die »Unmittelbarkeit des Erlebens« fehle (»Ich sehe mir selbst leben zu« und »zitiere fortwährend […] mich selbst und andere«, zit. in: Corinna Jäger-Trees: Aspekte der Dekadenz in Hugo von Hofmannsthals Dramen und Erzählungen des Frühwerks, Bern, Stuttgart 1988, S. 50), konzediert er sich im ersten d’Annunzio-Essay eine »unheimliche Gabe der Selbstverdoppelung« (zit. in: G. Inacker: Antinomische Strukturen, S. 111). 94. Zit. in: Heike Grundmann: ›Mein Leben zu erleben wie ein Buch‹. Hermeneutik des Erinnerns bei Hugo von Hofmannsthal, Würzburg 2003, S. 145. 95. Dafür stellt Hofmannsthal drei Modelle zur Verfügung, zunächst dasjenige der Hysterie, indem er Breuers »Anna O.« implizit aufruft, ohne der Komplexität der Fallge213

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männlichen Verwerfung von Stammhaltern (N 189) abgeleitet (N 306, 366), adoptiert der Malteser seinen Schüler andererseits als »›Sohn ohne Mutter‹« (N 189). Während die patriarchalische Genealogie also ins Imaginäre abgleitet, verwandelt sich Rivalität in Freundschaft, – zwischen Männern. Indem sich im Selbstzeugungstopos sexuell neutralisierter ›Junggesellenmaschinen‹ die Spur eines symbolischen Vaterfunktionsverlusts96 abzeichnet97, erscheint der Andreas-Komplex in seiner Spannung von Spaltung und Verdoppelung, Original und Kopie, Individuum und Geschlecht, als Paradigma moderner Verluste. Nachdem die narzisstische Spiegelbeziehung spekulärer ›Ent/Täuschung‹ (Märchen der 672. Nacht) im Doppelgänger (Reitergeschichte) tödlich erstarrt ist, bleibt dem aporetischen Selbstverhältnis von Spaltung und Verdoppelung (Andreas-Fragment) nur noch ein mystisches Re-entry übrig, die Introjektion der Trennung als Vereinigung. Im Gegensatz zur frühromantischen Transzendentalpoesie, die die von ihr ausgestellten Aporien – von Endlichem und Unendlichem, Referentsetzung und Figuration, Metapher und Allegorie – ins Transzendentale verschiebt, vollzieht sich die neuromantische Immanenzierung der ästhetischen Moderne als eine (selbstbezügliche) Paradoxierung, die zu infinitesimaler Ausdifferenzierung neigt. Seines programmatischen Charakters entbehrend, zeugt Hofmannsthals assoziatives Fragment98 von der hybriden Kontingenz eines von historischen Diskursen angsteckten Phantasmas.

schichte und der aus ihr resultierenden Konversionstheorie Rechnung zu tragen. Es heißt lediglich lakonisch: »Seelenleiden« nach Pflege des ungeliebten Mannes, Tod des Kindes, Untreue des Geliebten (N 39). Das zweite Modell verweist auf eine ›double bind‹-Relation, auf die »Unlogik in der Behandlung«, die Marias »Mann ihr zuteil werden lässt« (N 306). Das dritte nähert sich der Trauma-Hypothese, im Verweis auf den »Schreck«, den das Kind erlitt, als es »von der bösen Schwester« »in den Katakomben stehen gelassen« wurde (N 366). 96. Vgl. vor allem aus psychohistorischer Sicht Paul Federn (1919), Lacan (1938), Alexander Mitscherlich (1963). 97. Dieser Befund korrespondiert mit neueren Lesarten des Chandos-Briefes. Vgl. Rudolf Helmstetter: »Entwendet. Hofmannsthals ›Chandos-Brief‹, die Rezeptionsgeschichte und die Sprachkrise«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 3 (2003), S. 446-481. Vgl. auch Clemens Pornschlegel, der das Phantasma einer »omnipotenten Sprache« am Werk sieht, in der »Symbolisches und Reales deckungsgleich wären«, in: »Bildungsindividualismus und Reichsidee. Zur Kritik der politischen Moderne bei Hugo von Hofmannsthal«, in: G. von Graevenitz (Hg.), Konzepte der Moderne, S. 251-268, hier: S. 258. 98. Wenn Genette zwei Modi von ›Unvollendung‹ unterscheidet, oszilliert sie bei Hofmannsthal zwischen ihnen, nämlich zwischen ›Unabschließbarkeit‹ und ›Unerschöpfbarkeit‹. Im Falle des Andreas-Fragments ergibt sich daraus eine offene Netzstruktur, 214

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Äußert sich das epochale Trauma der Koinzidenz von Krisen- und Immanenzbewusstsein bei Hofmannsthals Versuch mit der epischen Großform just in jener imaginären Überflutung, intertextuellen Zerstreuung und unabschließbaren Fragmentarik99, die der Roman eigentlich überwinden sollte, wäre zu fragen, warum ihm die Re-semiotisierung des kulturellen Gedächtnisses in anderen Genres besser gelang. Literarische Wiederholung wäre daher nicht nur ein Ritual, das traumatische Ereignisse zu bewältigen erlaubte100, sondern auch die symptomatische Verschiebung einer Problematik, – und sei es im Aufschub.101

d.h., die fortschreitende Ausdifferenzierung wirkt in dem Maße (wieder) entdifferenzierend, wie Ergänzungen die Konzeption irritieren oder Ausarbeitungen ersetzten, m.a.W. Akkumulation die Komplexität nicht unbedingt steigert. Vgl. dazu Ursula Link-Heer: »Fragment und Roman. Notizen zu Proust und Musil«, in Arlette Camion u.a.: Über das Fragment/Du fragment, Heidelberg 1999, S. 85-125: Während Musil den Möglichkeitsraum seines unvollendeten Romans von der Reflexion des Schreibprozesses abschottet, so bezieht Proust diese Reflexion konstitutiv ein, indem er den Schreib- und Erinnerungsprozess selbst zu einem zentralen Thema macht. Bei Hofmannsthal hingegen klingt ästhetische Selbstreflexion nur implizit, in poetischer Übertragung an. 99. Die nicht allein als Mimesis der amöbenhaften Identitäts-Fluktuation fiktiver Figuren gelten dürfte. Vgl. Matthias Mayer: »Zwischen Ethik und Ästhetik. Zum Fragmentarischen im Werk Hugo von Hofmannsthals«, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 3 (1995), S. 251-273. 100. Bernhard Neuhoff: »Ritual und Trauma. Eine Konstellation der Moderne bei Benjamin, Freud und Hofmannsthal«, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 10 (2002), S. 183-213, hier: S. 185. 101. Das historistische Archiv verliert sich in einem Labyrinth. »Dans Andréas, Hofmannsthal avait ouvert l’espace schizoïde et ›hainamoureux‹ du sujet moderne sous le masque du récit historique et l’a refermé«, meint D. Hornig: Hofmannsthal, S. 97. 215

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›ERKRANKEN AM GESCHLECHT‹

›Erkranken am Geschlecht‹. Zur Inszenierung des ›Mannweibs‹ in medizinischen und literarischen Diskursen der Zwanziger Jahre »Qui nous tiendra pour les femmes? Mais les femmes.« (Colette)

Identität als Krankheit Vor geraumer Weile erklärte ein Chirurg im deutschen Fernsehen, dass Transsexualität die »einzige psychische Erkrankung« sei, die »operativ heilbar« wäre.1 Seit sich die Weltgesundheitsorganisation des schon im 19. Jahrhundert auftauchenden ›Geschlechtsumwandlungswahns‹ angenommen hat, ist die ›dauerhafte Überzeugung‹ eines ansonsten normalen Individuums, ›eigentlich dem anderen Geschlecht anzugehören‹, zum offiziellen nosologischen Kriterium geworden. Medizinische Therapie und juristische Personenstandsänderung nehmen also eine Patientenrede ernst, um sie gewissermaßen mit auszuagieren. Zeigt die Geschichte der Psychopathia sexualis, wie eine Inkongruenz zwischen sozial zugewiesenem Geschlecht und psychischer Selbstwahrnehmung zur Krankheit werden kann, führt ein psychoanalytisches Denken, das das Subjekt in seinem Verhältnis zum sprachlichen Signifikanten begreift, Geschlechtsidentitätsstörungen weder auf kognitive Fehlleistungen noch auf symbiotische Prägungen zurück. Das seltsame Verlangen nach einem Geschlechtswechsel wird als phantasmatische Auswirkung einer in ihrer grundlegenden Nachträglichkeit paradoxen Traumatisierung lesbar.2 Denn Transsexuelle wollen

1. Zit. in: Annette Runte: Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität, München 1996, S. 16. 2. Im Sinne einer sich selbst entzogenen Zäsur, die undarstellbar bleibt. Vgl. Georg Christoph Tholen: »Anamnesen des Undarstellbaren. Zum Widerstreit um das Ver217

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immer schon jenes Geschlecht gewesen sein, das sie noch nicht sind, weswegen sich medizinische wie biographische Operationen als strukturell unabschließbar erweisen. Kehrt die Verwerfung der symbolischen Geschlechterdifferenz als wahnhafter Wunsch nach realer Kastration wieder, verwörtlicht sich diese Grenzziehung im stummen Akt eines Ein/Schnitts, um dessen Vorher/Nachher-Achse sich die Konstitution einer imaginären Neorealität dreht.3 Die kodifizierte Prozedur der medizinisch-juridischen ›Geschlechtskorrektur‹ verdeutlicht den performativen Status identitätsbildender Prozesse, von der Anrufung im neuen Namen und dem Wechsel des grammatischen Geschlechts über die Umgestaltung des äußeren Habitus bis hin zur Rollenanpassung.4 Der gestalthaften Vereindeutigung auf dem Wege einer irreparablen morphologischen Angleichung, deren kastrative Konnotation indes Phantasmen von Mangel und Fülle verdichtet, stellt sich postmodernes gender b(l)ending, als ein identitätsauflösendes Spiel mit Medien, Zeichen und Zitaten5 entgegen. Waum legen sich transgenderists dann weiterhin unters Messer legen? »I wollt im Stehe piesle könne«, spottet Fritz, früher »Gudrun«, den sein geschlechtlicher Essentialismus auch nach erfolgter Transformation fast in den Selbstmord trieb: »Frau kann er nicht sein und Mann wird er nie werden«6, lautet der journalistische Kommentar. Befremdlicherweise wächst die Zahl weiblicher Operations-Kandidatinnen unter kulturellen Bedingungen, die ihnen eine immer weitreichendere Vermännlichung in äußerer Erscheinung und Lebensstil gestatten. Geschichte und Geschichten irritieren sich. Historisch tauchte das transsexuelle Phänomen um 1900 im Kontext jenes Paradigmenwechsels der Moderne auf, der die geschlechtliche Polarisierung der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ten-

gessen(e)«, in: Georg Christoph Tholen/Elisabeth Weber (Hg.), Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997, S. 225-239. Vgl. zum Lacan’schen Erklärungsmodell der transsexuellen Psychose aus der Verwerfung A. Runte: Biographische Operationen, S. 184ff. 3. Vgl. dazu Annette Runte: »Transsexualismus in der Lacan-Schule«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 39 (1985), S. 830-862. 4. Soziologischer Konstruktivismus geht von einer interaktiven Wechselwirkung zwischen Geschlechtsdarstellung und -wahrnehmung aus. Vgl. Stefan Hirschauer: Die soziale Konstruktion der Transsexualität. Über die Medizin und den Geschlechtswechsel, Frankfurt/Main 1993. 5. Kate Bornstein: My Gender Workbook. How to become a real man, a real woman, the real you, or something else entirely, New York 1998. 6. Fritz Z.: »I wollt im Stehe piesle könne«, in: Holde-Barbara Ulrich/Thomas Karsten (Hg.), Messer im Traum. Transsexuelle in Deutschland, Tübingen 1994, S. 85-95, hier: S. 92. 218

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denziell abschwächte. Parallel zum allmählichen Eintritt von Frauen in Universität, Beruf und Politik wich die exklusive Binäropposition der Geschlechterdifferenz den inklusiven Strategien einer ›flexiblen Normalisierung‹7, die sexuell-geschlechtliche Abweichungen als angeborene oder erworbene Spielarten der menschlichen Natur zu integrieren erlaubte. Der im Namen des dritten Geschlechts, eines tertium datur, beschlossene Einschluss des Ausgeschlossenen wurde jedoch von der zeitgenössischen Modernekritik als eine Feminisierung der Kultur8 denunziert. Um 1900 spricht Karl Kraus von einem »vaginalen«, Thomas Mann von einem »puerilen, femininen« Zeitalter. Da sich auch Transsexualität zunächst dominant als männliches Begehren nach Verweiblichung artikulierte, möchte ich anhand medizinischer und literarischer Diskurse der 20er Jahre den Inszenierungen seines Gegenstücks nachgehen, der Trope der ›Vermännlichung‹ und ihrer auch im Hinblick auf weibliche Autorschaft relevanten Topik des Platzwechsels.

Pathologisierung der ›Mannweib‹-Schimäre Das altmodische Oxymoron des Mannweibs war nicht immer ein pejorativer Ausdruck für soziale oder sexuelle Usurpation. Noch in der Biedermeier-Epoche galt der spätere »Weibskerl« als ehrenhafte »Mannjungfer«, deren »Schüchternheit« sich in »männliche Sicherheit« verwandle, »wo es Noth thut«9, beim Barrikadenkampf etwa. Erst mit

7. Vgl. Jügen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1998, S. 373ff. Vgl. dazu Annette Runte: »Zwischenstufen, Häufungskurven, Drehpunkt- und Pfadwegmodelle. Über moderne Topographien geschlechtlicher Devianz und ihre ›trans-sexuelle‹ Normalisierung«, in: Ute Gerhard/Jürgen Link/Ernst Schulte-Holtey (Hg.), Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartografie politischsozialer Landschaften, Heidelberg 2001, S. 265-293. 8. Vgl. die Lektüre des Walter Benjamin’schen Konzepts einer auf Baudelaire zurückgehenden ästhetischen Moderne durch Christine Buci-Glucksmann: La raison baroque. De Baudelaire à Benjamin, Paris 1984. Aus der Sichtweise einer an Michel Foucaults Diskurstheorie orientierten Soziologie: Hannelore Bublitz (Hg.), Das Geschlecht der Moderne. Genealogie und Archäologie der Geschlechterdifferenz, Frankfurt/Main, New York 1998. 9. Julien Joseph Virey (1827): »Das Weib. Physiologisch, moralisch u. literarisch«, zit. in: Katrin Schmersahl: Medizin und Geschlecht. Zur Konstruktion der Kategorie Geschlecht im medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts, Opladen 1998, S. 163. Vgl. S. 157ff. Ähnlich wie der französische Moralphysiologe dachten auch Gottfried Jörg/Heinrich Gottlieb Tzschirner: Die Ehe aus dem Gesichtspunkt der Natur, der Moral und der Kirche betrachtet, Leipzig 1919. 219

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dem Einsatz einer weiblichen Sonderanthropologie10, deren Determinismus den geschlechtlichen Charakter aus Organen ableitet, die zum Sinnbild ihrer gesellschaftlichen Funktion werden, beginnt der medizinische Diskurs, Viragines abzuwerten, indem er ihnen männliche Attribute zuschrieb, die sich aus der Negation der Weiblichkeit ergaben, wie z.B. in folgendem Zitat des berühmten Arztes Rudolf Virchow: »Das Weib ist eben Weib durch seine Generationsdrüse. Alle (seine) Eigenthümlichkeiten (sind) nur eine Dependenz des Eierstockes. Man nehme (ihn) hinweg, und das Mannweib in seiner häßlichsten Halbheit, den groben Formen, den starken Knochen, dem Schnurrbart, der rauhen Stimme, der flachen Brust, dem mißgünstigen, selbstsüchtigen Gemüt und dem scharfen Urteil steht vor uns.«11 Die Physiognomie eines Zwitters, gepaart mit männlichem Egoismus und Verstand, wird im Rahmen einer darwinistischen Natur-Geschichte der Menschheit zum Schreckbild eines evolutionären Rückschritts, den man im revolutionären Fortschritt der Frauenemanzipation am Werk sieht. Da »höhere Gesittung« zur »immer bestimmteren Unterscheidung von Mann und Frau« führe, so das ideologische Echo rousseauistischer Wesensphilosophie, sei Egalitarismus schlicht reaktionär.12 Unter Rückgriff auf alteuropäische Genre-Bilder einer ›verkehrten Welt‹, in der sich die Nostalgie einer festen Kleiderordnung mit der Denunziation eitler Mode legiert, wird die gelehrte Mimesis, etwa in Form eines George Sand-Pastiches, karikiert. »Wir sehen nicht bloß in Paris, sondern auch in norddeutschen Städten […] Damen in Männerrock und Hosen, mit Sporen und Reitpeitsche, die wogende Feder auf dem Hut, die brennende Cigarre im Mund durch die Straßen stolzieren und in den Bierstuben zechen.«13 Ähnliche Empörung machte sich schon früher laut, wenn auch im Predigerton und unter Berufung auf die Bibel: »For since the daies of Adam women were never so Masculine […] in their genders and whole generations, from Mother to the youngest daughter, Masculine in Numbers, from

10. K. Schmersahl: Medizin, S. 158ff. 11. Rudolf Virchow (1862), zit. in: ebd., S. 168. 12. So Wilhelm Heinrich Riehl: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik (Die Familie), 1858, zit. in: K. Schmersahl: Medizin, S. 173. 13. W. H. Riehl, zit. in: ebd., S. 177. 220

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one to multitudes; Masculine in Case, even from the head to the foot; Masculine in Moode, from bold speech, to impudent action.«14 Redundant sind nicht die Argumente, sondern jener nominalistische Katalog zeichenhafter Korrespondenzen, der sich in die diagnostischen Symptomlisten der Sexualwissenschaft übersetzt, um ausdrucksphilosophisch fundierte Entsprechungen zwischen Äußerem und Innerem, Individuum und Gattung, Wort und Tat zu postulieren. Während das jakobäische Pamphlet auf die semiotische Codierung der puritanischen Familie abzielte, bemühten sich nationalistische Diskurse nach 1848 um die Eindämmung des politischen Vormärz-Feminismus: »Die weiblichen Demagogen sind gebildete […] Blaustrümpfe, die ihr Geschlecht verläugnen […]. Eine Frau, die an die Gleichstellung […] denkt, muß bereits sehr viele confuse Bücher gelesen haben. Von selber verfällt eine deutsche Frau nicht auf den Gedanken der ›Emancipation‹.«15 Ohne ausführlicher auf eine abendländische Ikonologie des Mannweibs einzugehen, die etwa von der hagiographischen Märtyrerin über die pikareske Vagabundin bis zur romantischen Künstlerin reichte, wäre festzuhalten, dass die Errichtung einer modernen Geschlechterordnung seit der Aufklärung mit der sozial- und biopolitisch motivierten Konstruktion klarer Geschlechtsgrenzen einherging, die es epistemisch ermöglichte, körperlichen Hermaphroditismus vom höfisch-libertären Spiel mit Travestie, aber auch von jener hochstaplerischen Praxis eines passing16 zu unterscheiden, d.h. jenes ›Durchgehens‹ im anderen Geschlecht, dessen Doppelsinn von täuschender Mimikry und panischer Rollenflucht die Populärkultur bis heute fasziniert.17 Obwohl sich die relative Toleranz gegenüber passing women einer abendländischen Wertehierarchie verdankte, dergemäß Vermännlichung Vervollkommnung bedeutete, wurde die Geschlechtswahl im Vernunftszeitalter individueller Verfügungsgewalt enthoben. Der Fall der »Chevalière d’Eon«, eines als Frau verkleideten Spions im Dienste aristokratischer Geheimpolitik, demonstriert, wie schnell Geschlechts-

14. »Hic Mulier« (1620), zit. in: A. Runte: Biographische Operationen, S. 352, Anm. 3. 15. W. H. Riehl (1858), zit. in: K. Schmersahl: Medizin, S. 178. 16. Vgl. Rudolf M. Dekker/Lotte C. van de Pol: The Tradition of Female Transvestism in Early Modern Europe, Houndsmill (Basingstoke) 1989. 17. Vgl. Patricia Duncker: James Miranda Barry, Berlin 1999, die literarisierte Biographie einer Engländerin, die um 1800 als britischer Kolonialarzt eine Art von ›männlicher Florence Nightingale‹ inkarnierte und deren Geschlecht erst post mortem aufgedeckt wurde. 221

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wechsel zu einer Staatsaffäre ausarten konnte. Dem Kavalleristen, der nach jahrelanger Maskerade auf seinen angestammten Platz zurückkehren wollte, wurde per königlichem Dekret befohlen, die Komödie bis ans Lebensende weiterzuspielen. Es rettete ihn die Französische Revolution. Das weitgehende Fehlen derartiger passing men in der bürgerlichen Alltagswelt aber ist Indiz einer patriarchalischen Machtstruktur, die – nach dem Ende des Königtums – den phallischen Maßstab der Differenz, das mithin zum Allgemeinmenschlichen universalisierte männliche Geschlecht, symbolisch aufrecht erhielt. So errichtete sich auch weibliche Autorschaft in Signatur wie genealogischer Fundierung metaphorisch über (den) männliche(n) Signifikanten.18 Das verspätete Auftauchen des tabuisierten ›Weibmanns‹ aber fiel bereits mit seiner medizinischen Erfassung zusammen. Im ›sexuellen Dispositiv‹ (Michel Foucault) des 19. Jahrhunderts wich die sporadische gerichtsmedizinische Verfolgung des Lasters, etwa jenes »homo mollis« namens Süßkind Blank, der »sein Haar in Locken legte« und sich »Busen und Hüften« ausstopfte19, einer intensiven sexualmedizinischen Suche nach krankhaften (An-)Zeichen, etwa bei jenen ›Conträrsexuellen‹, denen man zunächst Schwachsinn, dann aber Nervosität und Drüsenstörungen, Degeneration oder die falschen Gene attestierte. Entsprechend wurde aus der ritterlichen Amazone20 ein bemitleidenswertes ›Mannweib‹, eine arme Verwandte der schillernden Hysterika21 sozusagen, mit der sie jenen weiblich konnotierten Mangel teilt, den sie in ›männlichen Protest‹22 umsetzt. Doch im Gegensatz zum maskulinisierenden Meisterdiskurs stellt sich in hysterischer Rede die Frage nach dem Wesen der Weiblichkeit. Wurde die Nivellierung geschlechtlicher Unterschiede von kulturkritischen Diskursen der Jahrhundertwende als Indiz eines zivilisatorischen Niedergangs angeprangert, bediente sich die anti-feministische Agitation des wilhelminischen Konservativismus gern populärer Agententheorien:

18. Barbara Hahn: Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen, Frankfurt/Main 1991, S. 20ff. 19. Vgl. A. Runte: Biographische Operationen, S. 359f. 20. Vgl. Annette Runte: »Zwittrige Engel. Androgynie und Hermaphroditismus in französischer Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts«, in: Dirk Naguschewski/ Sabine Schrader (Hg.), Sehen. Lesen. Begehren. Homosexualität in französischer Literatur und Kultur, Berlin 2001, S. 46-67. 21. So bei Wilhelm Stekel (Die Geschlechtskälte der Frau, Berlin, Wien 1920), der das Freud’sche Unbewusste mimetisch als Inversion des Bewusstseins interpretiert und die Hysterikerin zur Rebellin stilisiert. 22. Von Alfred Adlers individualpsychologischer Begründung weiblicher Minderwertigkeitskomplexe bis zur feministischen Auslegung des ›Penisneids‹ als Neid auf soziale Privilegien von Männern in der patriarchalischen Gesellschaft (Karen Horney). 222

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»Das deutsche Reich ist effeminiert, von oben bis unten herrscht eine eklige Weiberwirtschaft, die […] Männer ihrer Manneswürde entkleidet. […] Der Feminismus hat […] das Weib zur abgefeimten Intrigantin, Stellenjägerin und Allerweltshure gemacht, die kühl lächelnd über gebrochene Männerexistenzen hinwegschreitet.« 23 1899 heißt es in Reinhold Günthers Kulturgeschichte der Liebe: »Wir können […] in der absoluten Emanzipation der Frau […] nur eine Steigerung der sexuellen Unempfindlichkeit des Weibes und […] eine Potenzierung der bereits bestehenden Effeminatio des Mannes erblicken. Das Weib […] wird sicherlich der grausamste Despot des Mannes sein.«24 Begründete man die Verschwörung der Frauen durch ihre sexuell-geschlechtliche Entartung, um sie damit noch moralisch zu belasten25, eignete sich die Mannweib-Schimäre gleichzeitig dazu, lesbische Beziehungen auf ein heterosexuelles Schema (z.B. von ›Männin‹ und Opfer) zu bringen.26 In dem Maße jedoch, wie idealisierende Mythologisierung diffamierender Pathologisierung Platz macht27, vervielfältigen sich auch die Varietäten der klinischen Kasuistik und Terminologie.

Die Theorie der Zwischenstufen Obwohl die Verführungs-, Milieu- und Erziehungstheorien der spätaufklärerischen Erfahrungsseelenkunde allmählich durch positivistische Krankheits- bzw. Veranlagungs-Konzepte ersetzt worden waren, ließ die systematische Unterscheidung zwischen sexueller Perversion und geschlechtlicher Inversion auf sich warten. »Eine weibliche Seele

23. Zit. in: K. Schmersahl, Medizin, S. 328. 24. Zit. in: ebd., S. 328. 25. Vgl. Hanna Hacker: Frauen und Freundinnen. Studien zur ›weiblichen Homosexualität‹ am Beispiel Österreich 1870-1938, Weinheim, Basel 1987. 26. So ein gewisser Dr. de Jonge, rheinischer Nationalliberaler und Mitglied des Bundes gegen Frauenemanzipation (1914), zit. in: K. Schmersahl: Medizin, S. 340. 27. Susanne Regener: »Bartfrauen. Fotografien zwischen Jahrmarkt und Psychiatrie«, in: Annette Keck/Nicolas Pethes (Hg.), Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen, Bielefeld 2001, S. 81-97. »Die Darstellungen von Bartfrauen zeichnen sich dadurch aus, daß nicht die Männerrolle eingenommen wird, sondern im Gegenteil gerade die besonders weibliche Kleidung, Gestik, Haartracht ins Bild gesetzt wird. Die ikonischen Zeichen der Bartfrauenfotografien zeigen zwischen Sexualwissenschaft und Jahrmarkt eine enge Beziehung« (S. 92). Doch versuche die Medizin, ihren »eigenen diskursiven Raum der Fotografie zu begründen« (S. 94). 223

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im männlichen Körper« (und umgekehrt) hieß 1869 die anschauliche Formel für Homosexualität28, deren narrativ-rhetorisches Potential heute von ›transsexuellen Diskursen‹ ausgeschöpft wird. Indem die naturwissenschaftlich orientierte Sexualforschung die spekulativen Prämissen des cartesianischen Substanzendualismus ins szientistische Theorem einer konstitutionellen Bisexualität29, d.h. eines ursprünglichen Zwittertums aller Lebewesen, übersetzte, das Onto- und Phylogenese zu homologisieren erlaubte, gelang es ihr nicht nur, physische und psychische Anomalien entstehungsgeschichtlich zu normalisieren, sondern auch, semiologische Korrespondenzen zwischen Körper und Seele aufzustellen. Die sich daraus ergebenden Korrelationen, etwa zwischen Physiognomie, sexuellen Neigungen, geschlechtlicher Rollenperformanz oder geistigen Interessen, wurden, ohne Rücksicht auf die Heterogenität dieser Parameter, unterstellten Abweichungsgraden gemäß quantifiziert, etwa in Form von Stufenskalen. Das taxonomische Tabellensystem des berühmten Sexualforschers und Reformers Magnus Hirschfeld (1918) ist ein mehrschichtiges Spektrum, das sich zwischen normativen geschlechtlichen Idealtypen erstreckt und dessen miteinander kombinierbare Ebenen aus primären, sekundären, tertiären, usw. Geschlechtsmerkmalen bestehen, zu denen etwa auch die Denktätigkeit zählt. Bei diesem Recycling alter Ideologeme in neuen Rastern kommt es zu Kuriosa, die schon deswegen journalistisches Interesse wecken müssen, weil sie der medizinische Diskurs bereits wie Schlagzeilen formuliert, z.B. »angeblicher Vater dreier Kinder stellt sich nach seinem Tode als Frau heraus«, »Eine als Frau lebende Person mit nachgewiesenen Samenzellen«, »Bertha wünscht als Berthold […] eingesegnet zu werden«, »Ein Vater schlägt seine Tochter, die in Wirklichkeit ein Sohn ist, wegen ihres jungenhaften Benehmens«, »Ein Mädchen, das an Stelle ihres Bruders ins Feld will«, usw. Liegt die Aporie des algebraischen Ordnungszwangs darin, dass es bei zunehmender Subkategorisierung tendenziell so viele (Misch-)Typen gibt wie sie verkörpernde Individuen, die Aus-differenzierung also ent-differenzierend wirkt, enthüllt sie zudem die Historizität eines projektiven ärztlichen Blicks. Das ›Mannweib 1900‹ kennzeichnen die heute geschlechtsunspezifischen Gewohnheiten des Rauchens, Trinkens, Turnens oder Philosophierens. Die von Betroffenen übernommene, aber auch parodierte Willkür der Einteilungsprinzipien tut sich z.B. darin kund, dass die darstellerische Leistung einer Frau, den »Eindruck eines

28. Nach Karl Heinrich Ulrichs (1869). Vgl. A. Runte: Biographische Operationen, S. 83ff., 208ff. 29. Diesem Theorem hingen nicht nur jene an, die seine Urheber (Wilhelm Fliess, Sigmund Freud, Otto Weininger, Hermann Swoboda) zu sein vorgaben, es war Bestandteil eines in monistischen Ideologien (Haeckel) vulgarisierten Darwinismus. 224

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in Damenkleidern steckenden Mannes«30 zu machen, im Expertensystem unter verschiedene diagostische Rubriken (»Defeminatio«, »Viraginität«, »Gynandrie«) fällt. Unter welche aber fiele ein fetischistischer Zopfabschneider, den der französische Romancier Armand Dubarry um 1900 zum Helden eines ›sexualwissenenschaftlichen Romans‹ erkürt? Das plurale tantum des dritten Geschlechts ergibt sich aus der Kategorisierung von »Mischungsverhältnissen und Unterschiedsunterschieden«31, die lebens- und fallgeschichtlicher Fiktion entspringen. Otto Weininger, dessen misogyne und antisemitische Streitschrift Geschlecht und Charakter (1903) in ganz Europa Furore machte32, normalisierte die geschlechtlichen Zwischenstufen wieder, indem er sie zur anthropologischen Norm erhob. Vor allem aber restaurierte er die Hierarchie der Geschlechter als Asymmetrie ihrer Pervertierung. Ihm zufolge kann nämlich auch das »männlichste Femininum […] kaum mehr« als 50% Maskulinität erreichen.33 »Die Frau kann nie zum Manne werden.«34 Hingegen können sogar extreme Mannweiber, wenn sie nur auf geschlechtlich komplementär proportionierte Weibmänner stoßen, zum Ausgleich einer aus der Balance geratenen Gattung beitragen. Denn wenn sich z.B. »3/4 M, also 1/4 W« mit seinem »besten sexuellen« Gegenstück, nämlich »1/4 M, also 3/4 W«, paart, bleibt das geschlechtliche Gleichgewicht erhalten. Doch das darin anklingende Gesetz Schopenhauers von der Anziehung der Gegensätze, derer sich ein blinder Wille, etwa durch die List der Schönheit, bediene, um seiner inerten Reproduktionsfinalität zu gehorchen35, unterstellt eine Polarisierungspotenz, deren Überzeugungskraft mit dem monistischen Siegeszug schwindet.36 Um 1900 scheint die Wahrheit

30. Richard von Krafft-Ebing (1912): Psychopathia sexualis, München 1984. Vgl. A. Runte: Biographische Operationen, S. 90ff. 31. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800.1900, München 1985, S. 356. 32. Vgl. Jacques Le Rider: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus, Wien, München 1985. 33. Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, München 1980. 34. Ebd., S. 241. 35. Arthur Schopenhauer (1818): Über die Weiber. Mit einem Vorwort von Friederike Hassauer, Zürich 1986. Getreu dem chemischen Gesetz einer Attraktion der Gegensätze (S. 78f.), bestimmt der komplementäre »Grad« von »Mannheit« oder »Weiblichkeit« (S. 79) den Liebesinstinkt. So sorgt der Schönheitssinn, der dem Geschlechtstrieb vorsteht (S. 61) dafür, dass Unvollkommenheiten ausgeglichen werden, und zwar im Sinn einer »Erhaltung des Typus der Gattung« (S. 62). 36. Vgl. zur monistischen Umschrift der romantischen Naturphilosophie Susanne Omran: »›Das monistische Jahrhundert‹. Wissenschaftsreligion, Geschlechterpolitik und sexuelle Ethik der Auslese um 1900«, in: metis, 9 (2000), S. 30-48, hier: S. 36ff. 225

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des Geschlechts verloren zu sein und das Verfließen seiner symbolischen Grenzen nur durch jenen Schnitt ins Reale des Körpers zu stoppen, der das eindeutige Differenzkriterium auf experimentellem Wege wiederherstellt.37 Mit ihren bahnbrechenden Kastrations- und Drüsentransplantationsversuchen gelingt es der Wiener Steinach-Schule noch vor dem Ersten Weltkrieg, eine hormonale Begründung sexuellgeschlechtlicher Differenzierung zu liefern, die allerdings schon bald danach mit einer genetischen konkurrierte. Experimente an Tieren, deren Reaktionen (wie z.B. Brut- und Begattungsverhalten) man vermenschlichte, wurden auf Menschen übertragen, um die Macht der Körpersäfte zu beweisen. Wenn entmannte Männer, denen man Eierstöcke einzupflanzte, dadurch feminierten, wie es hieß, und sterilisierte Frauen aufgrund von Hodenübertragung maskulierten, ging die symbolische Ordnung im Binarismus der Gameten unter. Das zoophile Imaginäre leistete einer Naturalisierung des Sozialen Vorschub, dessen eugenische Bemächtigung schauerromantische Phantasien beflügelte. Doch fehlte es nicht an freiwilligen Versuchskaninchen. Beim medikalisierten Geschlechtswechsel pofitierten Biologie und Medizin vom »androgynen Wahn« eines ›Präsidenten Schreber‹. Freud, dem es um die unbewussten Prozesse der Subjektbildung ging, hat der Sexualwissenschaft Paroli geboten. Machte er schon 1905 geltend, dass »Inversion und somatischer Heraphroditismus […] unabhängig voneinander«38 seien, entkräftete er Anfang der Zwanziger Jahre auch die expressive Körper/Seele-Analogie durch den empirischen Verweis auf virile Schwule und effeminierte Heterosexuelle.39 Kulturhistorisch scheint das Auftauchen trans-sexueller Wünsche, das mit dem geschlechtlichen Paradigmenwechsel der Moderne zusammentrifft, schon deswegen symptomatisch, weil der interdiskursiv vielfältig artikulierten Tendenz zum Schwund der symbolischen Vaterfunktion vielleicht der Status eines kollektiven historischen Traumas zukäme. Als Effekt einer kleinfamiliären Recodierung, die die Mutter-Kind-Symbiose um 1800 zur dominanten Sozialisationsagentur machte40, entspräche das Bild

37. Wolfgang Schäffner: »Transformationen. Schreber und die Geschlechterpolitik um 1900«, in: Elfi Bettinger/Julika Funk (Hg.), Maskeraden. Geschlechterdifferenz in der literarischen Inszenierung, Berlin 1995, S. 273-292. 38. Sigmund Freud (1905): »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, in: Studienausgabe, Bd. V, hg. von Alexander Mitscherlich u.a., Frankfurt/Main 1972, S. 37-147, hier: S. 53. 39. Sigmund Freud (1920): »Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität«, in: Studienausgabe, Bd. VII, hg. von Alexander Mitscherlich u.a., Frankfurt/Main 1973, S. 255-283, hier: S. 263, 279. 40. Vgl. Albrecht Koschorke (Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch, Frankfurt/Main 2000), der die moderne Kernfamilie als Mutter-Kind-Dyade mit (staatli226

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dieser Evolution um 1900, Julia Kristeva zufolge, einer Gesetzwerdung des Imaginären41, deren Dynamik der Verdrängung der ›Mutter‹ zugunsten ›der‹ Frau (als Kokotte oder Virago) auch eine ›In-Differenz(ierung)‹ der Geschlechter42, insbesondere als Verkindlichung des Weiblichen, mitbedingt haben könnte. Im Folgenden soll anhand biographischer und literarischer Spuren aus jener Epoche, die der ›Neuen Frau‹ der westlichen Welt Profil verlieh, der Frage nachgegangen werden, inwiefern das Phantasma des Geschlechtertausches nicht nur das Ergebnis einer Diffusion, sondern auch die Antwort auf eine Konfusion sein könnte. Seiner restabilisierenden Funktion in der Bekenntnis- und Populärliteratur begegnen satirische Verfremdung und avantgardistische Dekonstruktion. Virginia Woolfs Orlando (1928) macht die Entgenzung von Raum und Zeit zur unauflösbaren Allegorie einer Identitätsunterstellung und damit auch zur Chiffre der historisch umwegigeren weiblichen Autorschaft. Else Lasker-Schüler trieb ihr »Spiel zwischen ›Fiktion‹ und ›Wirklichkeit‹«43 so weit, dass sie die Gestalt ihres Prinzen von Theben annahm, doch diese Komödie erhält in der Szene der Schrift einen melancholischen Zug. Obwohl sich die Repräsentationsfunktion verflüchtigt, transportiert ihre »Verflüssigung das Moment eines Verlustes«44, wie Marianne Schuller anmerkt: »Trauer« liege »über allen knäblichen Figuren«, denn sie »locken in dem Maße Vorstellungen einer phallizistischen Geschlossenheit hervor, wie ihnen diese immer entzogen wird«.45 Nimmt

chem) Versorger versteht und einen realen wie symbolischen Vaterfunktionsverlust diagnostiziert. Am Ausgang der bürgerlichen Moderne träfen sich: »Gespaltene Vaterschaften; unschuldig-geschlechtslose Mütter; Heilskinder rätselhafter Herkunft« (S. 192). Um 1900, der »Epoche des Vatermords«, zettelt die Jugendbewegung den Aufstand der Söhne an, die Brüderhorde als Männerbund, von Poesie und Psychoanalyse zeitgleich entworfen (S. 210). Dabei erfolge die Tötung durch Ersetzung. Was bleibt, ist die Mutter-Kind-Dyade, auch im Medienzeitalter. 41. Vgl. schon Julia Kristeva: La révolution du langage poétique. L’avant-garde à la fin du XIXe siècle (Lautréamont et Mallarmé), Paris 1974. Sie leitet allerdings ihren sozialgeschichtlich auslegbaren geschichtsphilosophischen Befund aus der avantgardistischen Literatur der ästhetischen Moderne ab. 42. Vgl. Michael Wetzel (Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit, München 1999), aus dessen Sicht um 1900 die Faszination des geschlechtlich unentschiedenen ›Noch nicht‹ prävaliert, dekadent bei Joséphin Péladan, impressionistisch bei Peter Altenberg. 43. Marianne Schuller: »›Ich bin Wasser, darum bin ich keine Frau‹. Zu Else Lasker-Schülers melancholischer Prosa«, in: Fragmente. Schriftenreihe für Kultur-, Medienund Psychoanalyse, 44/45 (1994), S. 11-25, hier: S. 11. 44. Ebd., S. 16. 45. Ebd., S. 19. 227

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die ein männliches Imaginäres beherrschende Figur der schwesterlichen Kindfrau an dieser ambivalenten Bewegung teil?

Science (und) Fiction Dass Geschlechtswechsler ihre spektakulären Lebensgeschichten als Zwitter aufzuzeichnen begannen, auch wenn sie keine waren46, verwundert kaum, denn das biologische Argument rechtfertigte sie doppelt, als Umgewandelte und als Schreibende. In seiner 1907 publizierten Autobiographie mit dem sprechenden Titel Aus eines Mannes Mädchenjahren schildert ein gewisser N. O. Body, dessen Name ein Anagramm von »Nobody«, Niemand, ist und damit die geschlechtliche Ortlosigkeit seines Trägers anzeigt, wie ein kleiner medizinischer Eingriff ein Frauen liebendes Mädchen zum Familienvater macht. Unbestimmbaren Genres, war ›Herrn Niemand‹, hinter dem sich in vero Magnus Hirschfelds Patientin Anna Laabs verbarg, zwar bei der Geburt von der Hebamme das falsche Geschlecht zugesprochen worden47, aber die Gassenjungen seiner Kindheit korrigieren diesen Urakt identifizierender Anrufung, indem sie »Nora« »Norbert« schimpften. Mit der beunruhigenden Ahnung, in Wirklichkeit ein Junge zu sein, wird die nicht menstruierende Bartfrau zur Studentin, Sozialistin und Frauenrechtlerin.48 Die ›weibliche‹ Intuition über ein »Wissen des Körpers«, das »stärker« sei als »alle Logik«49, bestätigt den »männlichen Geist«50 und damit zugleich die Wissenschaft, die in seinem Besitzer einen Pseudozwitter erkennt, dessen Idealismus

46. Vgl. zu Camouflage-Strategien auch Klaus Müller: ›Aber in meinem Herzen sprach eine Stimme so laut‹. Homosexuelle Autobiographien und medizinische Pathographien im 19. Jahrhundert, Berlin 1991. 47. Vgl. zum realen Fall Magnus Hirschfeld: Le sexe inconnu, Paris s.d. (1937), S. 53ff.: »Pas de développement des seins, pas de menstruation […]. Les parties génitales sont à l’état actuel absolument masculin.« »Keine Brustentwicklung, keine Menstruation […]. Die Genitalorgane sind im aktuellen Zustand absolut männlich« (übersetzt von A. R.). 48. Vgl. Gudrun Schwarz: »›Mannweiber‹ in Männertheorien«, in: Karin Hausen (Hg.), Frauen suchen ihre Geschichte, München 1983, S. 62-81. Sie denunziert das ideologische Konstrukt des ›Mannweibs‹ als Renormalisierungs-Strategie, mittels derer die Liebe zum gleichen Geschlecht ins heterosexuelle Schema von ›angeborener‹ Perversion, die verführt, und ›erworbener‹ Perversität, die verführt wird, gepresst werden kann: ›Mannweib‹ und Pseudo-Homosexuelle. 49. N. O. Body [i.e. Anna Laabs]: Aus eines Mannes Mädchenjahren. Mit einem Nachwort von Dr. med. Magnus Hirschfeld, Berlin 1907. 50. Ebd., S. 194. 228

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sie übernimmt. »Das Geschlecht des Menschen ruht viel mehr in seiner Seele als in seinem Körper«, bemerkt Hirschfeld im Nachwort, um bald darauf jedoch die Heilung durch Hormone zu empfehlen. Galt die Kastration als »Therapie« der Wahl für »Sexualneurotiker«51, wurde sie dem bereits ›kastriert‹ erscheinenden weiblichen Geschlecht indes verweigert. 1918 erwähnt Hirschfeld in seinem Standardwerk nur eine einzige Ausnahme, den Fall eines ›virilen‹ Mädchens, das gegen den Willen seiner Ärzte eine Brustamputation durchsetzte.52 Der Berliner Chirurg Richard Mühsam hält die Freude einer Malerin, die sich 1912 »Mammae und […] Gebärmutter« entfernen ließ, weil sie sich als »verkappte[r] Mann« vorkam, für bloße Einbildung, wohlweislich ignorierend, dass diese doch dem transsexuellen Wunsch entspricht. So muss er seine Folgerung, »sexuelle Anomalien bei der Frau« seien »operativ nicht zu bekämpfen«53, mit einer tragischen Geschichte begründen: »Ein zweiter, 26-jähriger, weiblicher Transvestit (Zahnarzt), welcher […] eine ungewöhnlich große Klitoris besaß und ein Liebesverhältnis mit einem jungen Mädchen unterhielt, ließ sich, um die störenden Kennzeichen der Weiblichkeit zu verlieren, Brüste und Eierstöcke entfernen. Anfangs fühlte sie sich in ihrer neuen Erscheinung […] ganz wohl, ein halbes Jahr später aber endete sie [sic] aus Verzweiflung über ihr verfehltes […] Leben durch Selbstmord.«54 Wer spricht hier, der Arzt oder sein Opfer? Die Unsachlichkeit des ›objektiven‹ Berichts verrät sich in der pronominalen Manipulation des grammatischen Geschlechts. Stehen Medizin und Literatur längst im Verhältnis von Science und Fiction, wird ein klinischer Diskurs, der Romane wörtlich liest und ihren Tropen seine Begriffe entnimmt, im Gegenzug dazu literarisch geplündert und nach dekadenten Stoffen und exquisiten Abenteuern der Seele abgesucht. Unterhaltungsliteratur, die sich gierig auf ein sensationelles Thema stürzt, das die ›weibliche‹ »Wunde«55 der symbolischen Kastration evoziert, schließt sie wieder im technologischen Geschlechtertausch, der realen Konstruk-

51. Vgl. Richard Mühsam: »Der Einfluß der Kastration auf Sexualneurotiker«, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift vom 10.02.1921, S. 155f., wo der Verfasser betont, dass diese freiwillig gewünschte »grausame Operation« sämtliche seiner Patienten wieder »arbeitsfähig« gemacht habe, ein ›sozialhygienisches‹ Argument, dass von der nationalsozialistischen Biopolitik wieder aufgeriffen werden wird. 52. M. Hirschfeld: Sexualpathologie. II. Teil, Bonn 1918, S. 132. 53. Richard Mühsam, »Chirurgische Eingriffe bei Anomalien des Sexuallebens«, in: Die Therapie der Gegenwart, 67 (1926), S. 451-455, hier: S. 455. 54. Ebd., S. 455. 55. So bei Hanns Heinz Ewers: Fundvogel. Die Geschichte einer Wandlung, Berlin 1929, S. 395. 229

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tion des imaginären Anderen, und spiegelt damit die transsexuelle Dynamik wider. In Marcel Shérols Parodie auf das neue Leitbild der Kameradin möchte die Tochter eines Naturforschers, die sich von ihrem Vater aus einer Laune heraus in einen Mann um-modellieren ließ, sogleich wieder zur Frau werden, als sie sich in einen jungen Engländer verliebt.56 Aber nicht immer wird aus dem antiken Mythos ein modernes Ammenmärchen.57 In seinem 1929 erschienenen Kolportageroman Fundvogel. Die Geschichte einer Wandlung koppelt der spätexpressionistische Literat Hanns Heinz Ewers die »grausame«58 Transformation von Heilmotiven ab, um sie zu einem Instrument im Geschlechterkampf zu machen. Seine Heldin ist weder krank noch maskulin, sondern eine ein »echtes Weib«, eine »normale Frau«59, die sich dadurch einführt, dass sie nun »aufhören würde, zu sein«.60 Andrea Woyland, verwaiste Gutserbin, lässt sich von einem amerikanischen Millionär,

56. Marcel Shérol: L’expérience du Docteur Laboulette, Paris 1930. Im harmlosen Gruselroman mit Happy End, der die Konventionen des Schauerromans (verfolgte Heldin, unbestimmte Angst, Unheimlichkeit) parodiert, werden gängige Topoi der Dekadenzliteratur (Degeneration, Hässlichkeit, Hybridisierung usw.) humoristisch aufgegriffen. Die mutterlose Tochter eines braven Naturforschers, der mit seiner zoologischen Arten- und Geschlechterkreuzung berühmt wurde, drängt sich ihm als Versuchskaninchen auf. Doch in dem Moment, wo sie sich in einen Snob vernarrt, der nur aus blasierter Langeweile sein Geschlecht wechseln möchte und sie daher um eine Organspende bittet, siegt die alte Leidenschaft über moderne Kameradschaft. Die Garçonne lernt, dass der Neo-Mann mehr Freiheiten hat, und wird zudem schwanger. So endet der Roman als Herrenwitz, und die Ordnung ist wiederhergestellt. 57. Schon der Komparatist André Jolles, der den Korrespondenzen zwischen Gender und literarischem Genre sehr früh nachging, stellt fest, dass sich die Topik der Geschlechtsverwandlung vom antiken Mythos (Ovid) über mittelalterliche Epik ins moderne Märchen und schließlich in die Fantasy Literatur tradierte. Vgl. André Jolles: »Geschlechtswechsel in Literatur und Volkskunde«, in: Mitteldeutsche Blätter für Volkskunde, 6 (1931), S. 145-161. Die in Paris lebende amerikanische Poetin Renée Vivien hat diese repräsentationalistische Reduktion ironisch nacherzählt, indem sie aus Richard von Krafft-Ebings als Mann lebender Heiratsschwindlerin »Sandor-Sarolta« (1889), deren Fall damals durch die Tagespresse ging, jenen Märchenprinzen der Boulevardpresse macht, den seine Anbeterin als schöner effeminierter Pseudo-Mann idealiter bereits darstellt. Im Gegenzug zur blutigen Realität und zum kruden Realismus der Sexualwissenschaft sublimiert die Fiktion ihre Vision idealer Zärtlichkeit in rhetorischen Verfahren. Vgl. Renée Vivien [i.e. Pauline Tarn]: »Der Märchenprinz. Erzählt von Gesa Karoly«, in: Die Dame mit der Wölfin, Berlin 1981, S. 29-34. 58. So R. Mühsam: »Der Einfluß«. 59. H. H. Ewers: Fundvogel, S. 13. 60. Ebd., S. 6. 230

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dem Vater ihrer lesbischen Anbeterin, als deren zukünftiger Bräutigam für eine Genitalkorrektur kaufen. Andrea willigt aber in den Teufelspakt nur deswegen ein, weil sie in unglücklicher Liebe auf ihren gefühlskalten Cousin, einen typischen Zyniker der Neuen Sachlichkeit61, fixiert ist, mit dem sie sich melancholisch identifiziert. Während sich das alberne ›Girl‹ umbringt, weil es die Geliebte nach deren Verwandlung in einen Mann nicht mehr zu begehren vermag, wird dieser von seinem Vetter, der ihn an die Schlächter verriet, endlich anerkannt, ironischerweise aber als jene »Frau, die nun nicht mehr war«.62 Der Geschlechtswechsel steht im Zeichen des Paradoxes, einer (onto-)logischen Unmöglichkeit. Mit der Erfindung einer Organ-Überpflanzung, die den phallischen Signifikanten auf die Frau als Gewesene überträgt, wird die Geschlechtersemantik zudem rassistisch übercodiert. Zwar seien es »immer Deutsche, die die unmöglichsten Dinge möglich machen«63, aber der Manipulationsagent ist hier eine dämonisierte jüdische Ärztin, die als hässliches Mannweib das, was sie produziert, bereits verkörpert, und damit zum weiblichen Frankenstein64 mutiert: »Ich will der erste sein, der das fertig bringt, aus einer Frau einen Mann zu machen.«65 Die aktorielle Aufspaltung des verworfenen Weiblichen in eine aktive, vermännlichende Hysterikerin und eine passive, vermännlichte Lebensmüde, realisiert Otto Weiningers skandalösen Traum von der Selbstabschaffung des schwachen Geschlechts gleichsam auf autopoietischem Wege. Da er Frauen die Möglichkeit der Subjektwerdung abspricht66, sieht er die Lösung des geschlechtlichen Dilemmas in eingeschlechtlicher Selbstnegation:

61. Vgl. Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/Main 1994. 62. H. H. Ewers: Fundvogel, S. 441. 63. Ebd., S. 239. Vgl. die m.E. erste Biographie eines geschlechtsumgewandelten Mannes, die André Jolles 1930 in der Dresdener Tagespresse kommentierte: Lili Elbe [i.e. Einar Wegener]: Ein Mensch wechselt sein Geschlecht. Eine Lebensbeichte. Aus hinterlassenen Papieren hg. von Niels Hoyer, Dresden 1932. Vgl. dazu ausführlich A. Runte: Biographische Operationen, S. 61ff., 109ff., 305ff. 64. Barbara Johnson hat Mary Shelleys Frankenstein als literarische Figur der Monstrosität unmöglicher autobiographischer Selbstzeugung dekonstruiert, die vom Wunsch nach Selbst-Verähnlichung angetrieben wird und insofern die Verwerfung des Mütterlichen ernötigt. Dessen Eliminierung hecke männliches Doppelgängertum und weibliche Spaltung. 65. H. H. Ewers: Fundvogel, S. 314. 66. O. Weininger: Geschlecht und Charakter, S. 391ff. Vgl.: »Das absolute Weib hat kein Ich« (S. 240). 231

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»Und wenn alle Weiblichkeit Unsittlichkeit ist, so muß das Weib aufhören Weib zu sein, und Mann werden. […] Verneinung, Überwindung der Weiblichkeit ist das, worauf es ankommt. Würde z.B. eine Frau wirklich die Keuschheit des Mannes wollen, so hätte sie freilich hiermit das Weib überwunden […]. das Weib muß als solches untergehen.«67 Ewers hat diese Geschlechtermetaphysik einer »Emanzipation des Weibes vom Weibe«68 in die literarische Tat umgesetzt und dabei ihre Nähe zu männerbündischen Idealen ›arischer‹ Androgynie als asketischer Liebe zum Selben69 (Geschlecht) verdeutlicht.70 Der »Handelsvertreter des Transzendentalen« (Karl Kraus), der die Schauerromantik des Okkulten mit brandneuen wissenschaftlichen Entdeckungen aufmischte, verbindet hier einen biozentrischen Technikkult mit einer elitären Naturalisierung des Sozialen. Dem Amerikanismus pariert ein Blut- und Boden-Diskurs, eine sozialdarwinistische Raubvogel-Symbolik des Sieges der Starken über die Schwachen hält die Collage aus trivialer Ritterromantik, sentimentaler Familien-Saga und filmisch präsentiertem Zeitroman pathetisch zusammen.71 Weibliche Liebessucht wird von männlicher Liebesunfähigkeit verraten, um zum Manipulationsobjekt eines mit Moses, Mohammed und Paracelsus verglichenen »Scharlatan[s]« zu werden, der über sein »prachtvolles Material« (S. 315)72 jubiliert. Statt »Menschen mit Affen zu kreuzen« (S. 326), wie die Bolschewiken es täten, will der ›Habicht Hella‹ einen »Traum zur Wirklichkeit machen: die Geschlechter tauschen« (S. 328). Die spannungsvoll erwartete Prozedur, auf die ein Kirchen-Fresko der gekreuzigten Heiligen Kümmernis73 emblematisch vorverweist, wird aber nur indirekt wiedergegeben, post festum im resümierenden Vortragsbericht des Chirurgen auf einer als freak show wissenschaftlicher Perversionen und journalistischen Voyeurismus inszenierten medizinischen Tagung:

67. Ebd., S. 452-454. 68. Ebd., S. 454. 69. Andrea Woyland begehrt Jans »Knabenseele« (H. H. Ewers: Fundvogel, S. 298) und bedauert seine Egozentrik: »Immer nur er, sein eigener Herr« (ebd., S. 533). 70. Vgl. den offenen Antisemitismus französischer Anthroposophen wie Camille Spiess oder Louis Estève, die mit der Nouvelle Revue Française in Kontakt standen. Dazu ausführlich A. Runte: Biographische Operationen, S. 714-720. 71. Die altertümelnden Sinnbilder aristokratischer Falkenjagd sind unschwer als elitäre Version des Überlebenskampfes zu decodieren. 72. H. H. Ewers: Fundvogel, S. 315. Im Folgenden beziehen sich die Seitenangaben im fortlaufenden Text auf diese Romanausgabe. 73. Es handelt sich dabei um eine christliche Märtyrerin, die die Heirat mit einem Heiden verweigerte. Über Nacht ist ihr jener Bart gewachsen, den sie sich als Schutz vor männlichem Begehren von Gott erflehte. 232

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»Totalexstirpation […] Dann fütterten wird […] die Patientin mit Keimdrüsen […] subkutan in Rücken oder Oberschenkel eingepflanzt (S. 410). Die erste […] Operation hatte das weibliche Moment vernichtet, aber noch nichts männliches an seine Stelle gesetzt; […] sie lebte nur das Dämmerleben einer Puppe. Aus der sie war ein es geworden.« (S. 412f.) Für die Technik der sog. Symbiose, die literarische Fantasy in Ermangelung der damals noch unbekannten Phalloplastie erfindet, bedarf es jedoch eines männlichen Spenders, dessen halb abgetrenntes Genitale an den Empfängerleib anwächst, während beide hypnotisierten Patienten wochenlang wie ›siamesische Zwillinge‹ eingegipst nebeneinanderliegen. Ein effeminierter, masochistischer Tänzer muss zum Eunuchen werden, als der er sich dann selber ausmerzt, damit die unwahrscheinliche Pioniertat74 gelingt: »Zunächst das Schwinden der weiblichen Fettpolster. […] Die voll entwickelten schönen […] Brüste gingen zurück […]. Die Stimme […] ein sonorer Alt. […] Und nun werde ich Ihnen den jungen Mann vorstellen […]. Krankenwärter rollten eine Bahre herein. [Die Chirurgin] schlug das Laken zurück, entblößte den Kopf, den eine schwarze Halbmaske bedeckte […] tief schlafend, leblos fast und so weiß wie ein Tuch lag da ein männlicher Leib.« (S. 419f.) Die romantische Ästhetisierung der Frau als einer Toten75 biegt sich blasphemisch auf die christliche Szene der Kreuzabnahme zurück: Vom schlafenden Leib ist die Rede, der auferstehen wird, während das stumme Gesicht eine Maske bedeckt, die der Weiblichkeit als Maskerade ihr emblematisches Ende bereitet. Der enthüllte Penis76 aber ist zu jenem phallic girl geworden, auf das der Blick fällt. Seine verwickelte Genealogie reduziert sich auf einen sinnlosen Buchstaben, der als signifikanter eine Differenz markiert, jene der Geschlechter. Sie enthüllt sich nicht im väterlichen Patronym, sondern im Vornamen. Wurde die

74. Ewers mag sich bei dieser Idee von bereits existierender medizinischer Technik inspiriert haben lassen, bei der »Spender und Empfänger« zur gleichen Zeit »narkotisiert« werden, um den abgetrennten Testis direkt in die offengelegte Leistengegend des Empfängers einnähen zu können. Vgl. Richard Mühsam: »Über die Beeinflussung des Geschlechtslebens durch freie Hodenüberpflanzung«, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift, 30 (1920), S. 823-825, hier: S. 825. 75. Vgl. Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1994. 76. Als privilegierter Signifikant kann der Phallus diese Rolle nur »verschleiert spielen«, »als Zeichen der Latenz, mit der alles Bedeutbare geschlagen ist«. Jacques Lacan: »Die Bedeutung des Phallus«, in: Schriften II, Olten, Freiburg i.Br. 1975, S. 119133, hier: S. 128. 233

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elternlose Andrea von ihrer herrischen adeligen Großmutter einst dazu gezwungen, sich von ihrer unehelichen Tochter gleich nach der Geburt zu trennen, um das indessen selbst zur Mutter gewordene Mädchen nie mehr wiederzusehen, wird sie als Andreas zum möglichen Vater. Ewers’ Damenopfer77 endet mit der Verbrüderung eines Männerpaars anlässlich seiner gemeinsam(en) ungewissen Erzeugerrolle. Pater semper incertus erat: Die potenzierte Überschreitung der Standes-, Geschlechter- und Generationengrenzen experimentiert nicht nur mit den Resten dekadenter Versatzstücke, sondern auch mit der Beugung des väterlichen Gesetzes, das matriarchalisch delegiert (Großmutter – ›Andrea(s)‹ – namenlose Tochter) und patriarchalisch gespalten (Cousin/Cousine) wird. Indem der Literat Ewers des Philosophen Weiningers Performativ wörtlich nimmt, kommt dabei der maskulinistische (Unter-) Grund des technologischen Imaginären zum Vorschein.

Knäbin mit männlicher Mutter und die Romanze der De/Figuration Den totalisierenden Gestus dieses auktorialen Meisterdiskurses kontrastiert das kurze Prosastück der jüdischen Schriftstellerin Bess Brenck-Kalischer, einer vergessenen Expressionistin, das als Teil eines 1922 publizierten Romans jüngst unter dem Titel Die Knäbin. Aus einem Brief wieder veröffentlicht wurde. In diesem mehrstimmigen inneren Monolog voller Lücken, Assoziationen und rätselhaften Anspielungen werden die (geschlechtlichen) Identitäten der Sprechinstanzen nur allmählich vereindeutigt, um weiter durchlässig zu bleiben. Aus der Rückschau handelt es sich um die Krisengeschichte einer scheiternden Verweiblichung, die im dialogischen Vexierspiel sozialkritisch beleuchtet wird, ohne dass man genau zu wissen vermöchte, wer eigentlich aus welchem Anlass zu wem spricht: »Der Zusammenbruch war ganz organisch. Nach der unglaublichsten Überspannung kam das Nervenfieber. Sie muß mit einer für eine Frau heillosen Energie Dinge in sich verschlossen haben. […] Bei einem Vaterkomplex, wie ich ihn ausgeprägter kaum je gefunden habe. […] Die Wunde, die sie sich gab, war infam. Ein einfacher Aderaufriß wäre weit weniger schlimm gewesen ohne die Sehnenzerrung. Ich kann nicht vergessen, wie sie in dem dicken Glas hing. […] Sag doch selbst, welche sensible Frau kann das Leben, so wie es heute ist, ertragen, ohne seelisch krank zu werden.«78

77. Vgl. Klaus Theweleit (Männerphantasien, 2 Bde., Reinbek bei Hamburg 1977) zu den Männerphantasmen der rechten Freicorps-Fraktion. 78. Bess Brenck-Kalischer: »Die Knäbin. Aus einem Brief«, in: Hartmut Vollmer (Hg.), Die rote Perücke. Prosa expressionistischer Dichterinnen, Paderborn 1996, S. 48234

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Da sich das Subjekt der Rede(n) unter der anonymen Ich-Form verbirgt, lässt es sich nur anhand des Diskurstyps und der Geschichte, die es erzählt, näher bestimmen. Nach und nach entpuppt sich die verdoppelte Sprecherinstanz als identisch mit den Hauptfiguren, von denen sie berichtet, um sich allerdings erst im direkten Dialog nachträglich zum Liebespaar aus Arzt und Patientin zu vereinen. Den rationalen, ›männlichen‹ Gestus konterkariert ein affektiver, ›weiblicher‹ Stil voller vitalistischer Metaphern: »Ich liege im Erker, der Schnee fällt, fällt. […] Hat er wirklich mein Herz geküsst, wirklich (S. 48f.). Wie kommt es, dass er plötzlich vor mir steht […]. Wie ein schwarzer Mond liegt sein Kopf in meinem Schoß. […] Du. Du. Er bindet wie eine Mutter den Arm wieder an.« (S. 51f.) Gewinnt der Helfer in des Mädchens Vorstellung weibliche Züge, erhält es selber vom Chor der Mitpatientinnen ein jungenhaftes Gepräge, um sich spiegelnd darin wiederzu(v)erkennen. »Die Knäbin! Die Knäbin! – Dies Wort packt die kranken Frauen. […] Ich sehe, ich bin fast nur noch Auge, und dann das kurze Haar« (S. 50). Der narzisstische Widerstand, den das in Verneinung umgemünzte Verdikt einer »Irre[n]« (S. 51) dem Geliebten leistet, bricht sich erotisch an der zärtlichen Umetikettierung einer Ver/Leugnung, die zum (sie) trivialisierenden Sprechakt führt: »Dummer Bub […]. Ich bin doch gar keine Frau. – Törichter Knabe, ich bin ja doch Arzt. Vielleicht bist du noch ein kleines Mädchen. --- Der Mann vor mir zittert auf. Ich nicht – zwei Sterne reißen sich los, dringen ineinander. […] kleine Lea Wandrin, nun bin ich dein Mann […], meine Mädchenfrau.« (S. 52) Obwohl die impressionistisch wirkende Überblendung den illokutionären und deontologischen Status der Rede stets wieder verwischt, füllt die Lektüre die Unbestimmtheitsstellen hier so schnell aus, wie es dem stereotypen Recycling literarischen Kitsches gebührt. Gerade deswegen lässt sich das gelinde Verwirrspiel als Erinnerung an eine hysterisierende Urszene lesen. In dem Maße, wie die Knäbin aus männlicher Perspektive zur ›Kind-frau‹ verharmlost wird, erfährt sie sich als von ihrem eigenen Geschlecht getrennt. Offen bleibt die Zukunft dieser wahnsinnigen amour fou: »Endlich kommt sie mit dem Oberarzt. […] Die Frauen sind stumm, aus der Ordnung gerissen. […] Sie sah die Herzen der Mütter aufbluten. […] Er war neben sie getreten. Wie sie sich fühl-

55. Im Folgenden beziehen sich die Seitenangaben im fortlaufenden Text auf diese Ausgabe. 235

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ten. […] Dann gingen sie Hand in Hand gelassen dem Irrenhaus zu« (S. 53f.). Die utopische Potentialität eines Ineinanderübergleitens geschlechtlicher Positionen und figuraler Instanzen lässt sich durch die paratextuelle Entgrenzung des Fiktionalen ins Dokumentarische ironisch steigern, wie es etwa Heimito von Doderer vorführt. Sein zu Lebzeiten unveröffentlichtes Prosafragment Jutta Bamberger (1923/1924) zeichnet die lesbische Entfaltung eines burschikosen, aber introvertierten Mädchens nach, dessen Passion nicht als Krankheit oder Rebellion, sondern als Zeichen seiner Singularität erscheint, die sich schon früh ankündigt und ihm Format verleiht: »Jutta tat Merkwürdiges; sie machte aus ihren Puppen eine Art Akrobatenfamilie, das heißt sie baute aus den verschiedenen Babys Pyramiden und ähnliches.«79 In stiller Symbiose mit ihrem ebenso eigenbrötlerischen Bruder entzieht sie sich großbürgerlichen Zwängen durch »tiefe[s] Unbeteiligtsein«80 und entspricht daher kaum dem pädagogisch beliebten Wildfang-Klischee. Doderer verrätselt die Kindfrau-Ikone des Jugendstils zum Emblem einer poetisierten Innenschau, eines mystischen Sehens, das dichterischem Lauschen gleichkommt. Als Bild eines schrägen, nicht abbildenden Blickes wird sie zur Synekdoche der Selbstbezüglichkeit: »Jutta war […] eine schmale […] kleine Person […], mit Haut wie halbdurchscheinender Glasfluß, hell, blaß; und die Augen so (als führten sie wie erleuchtete Gänge ein Stück in den Kopf hinein, der Ausgangspunkt des Blicks tief da hinten) [waren] sehr groß, […] immer leicht verschleiert, halb geschlossen. – So stand sie oft da: den Blick seitwärts gerichtet, die Arme ein klein wenig angezogen, mit den Händen gleichsam in einer Bewegung innehaltend, als hätte sie plötzlich etwas zu behüten oder als lauschte sie – So auch jetzt, auf dem Felsen […]: sie hatte ihre Zöpfe gelöst, […]. Fast unheimlich, […] wie unwirklich.« (S. 103) In dem Maße, wie sich die skizzierte Gestalt zum rhetorischen Ornament literarischer Figuration entfaltet, erscheint die Fiktion als eine »Form der Erinnerung«.81 Unter Rekurs auf hermeneutische FreudLektüren82, die ihm die Tiefenebene unbewusster Maskierung gezeigt

79. Heimito von Doderer: »Jutta Bamberger. Ein Fragment aus dem Nachlaß«, in: Frühe Prosa. Hg. von Hans Flesch-Brunningen, München 1968, S. 95-215. 80. Rudolf Helmstetter: Das Ornament der Grammatik in der Eskalation der Zitate. Die Strudlhofstiege, Doderers moderne Poetik des Romans und die Rezeptionsgeschichte, München 1995, S. 46. 81. Heimito von Doderer: Tagebücher 1920-1939. Hg. von Wendelin SchmidtDengler/Martin Loew-Cadonna/Gerald Sommer, München 1996, S. 81, 85, 234 usw. 82. Ebd., S. 266 (Eintrag vom 03.02.1925). 236

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›ERKRANKEN AM GESCHLECHT‹

hätten, macht Doderer die immer wieder stockende Erfindung seiner Knäbin von der Analyse seiner eigenen Vergangenheit abhängig und empfindet dabei die »Schmerzen« eines »gebärende[n] Frau«.83 Gelangt im orphischen Abstieg die Schattenseite seines Geschlechts ans Licht, erstirbt das Andere, Mannweibische, in der weibmännischen Identifikation des Autors mit seiner Ephebin. Denn Doderer, der bei sich »complicationen« wie bei einem »Frauenzimmer«84 beobachtet und seine weiche Wesensart aufs mütterliche Erbe schiebt85, neigt, wie er nicht ohne Komik schreibt, zur fiktionalen Delegation seines narzisstischen Selbst: »Der Schriftsteller ist ein Mann mit minimal ausgedehnter Objektbesetzung. Bei ihm kommen Objekte bereits innerhalb der natürlichen Peripherie seiner Person vor. Er nennt sie Figuren«.86 Läge das Unheimliche solcher Phantasmen vielleicht darin, dass sie, als dichterische Phantasien das Gespenst der rhetorischen Natur jeder Stimm- und Gesichtsverleihung, den ›un/toten‹ Status des Zeichens also, personifizieren, können derlei metaphysisch aufgeblähte »Kreuzung[en] zwischen Subjekt und Objekt« allenfalls zu banditisch-nomadischen Irrgängern psychologisiert werden: »Denn sie treiben sich innerhalb der Subjektgrenze herum, haben aber Objektcharakter. Eine Figur ist das, was ihr Autor nicht mehr ist.«87 Warum entzieht sich ein ›papiernes Mädchen‹ (Sophie von La Roche) diesem Anspruch? Am Ende ihres abgebrochenen Schicksals erfährt die Protagonistin, deren Judaonym auch an die weibliche Päpstin, »Frau Jutten«, gemahnt, dass ihre Geliebte einen Mann heiraten wird, doch hält sie sich »mannhaft« (S. 179). Da der Männin im Fortsetzungsroman ein femininer Partner als Pendant zur Seite treten sollte, wäre Doderers polyphon angelegtes ›großes Divertimento‹ nicht nur an seiner biographischen Rezentrierung gescheitert.88 Denn obwohl sich die Knäbin auf einem Maskenball in den mädchenhaften Tonsetzer »Fräulein Sascha« verlieben sollte, sei sie dem »Besitzwillen des Mannes« nicht »gewachsen«89, so dass beide sich schließlich umbringen würden. Die tragische Wendung, die Doderer den Ergänzungsideen seines verehrten ›Kir-

83. Ebd., S. 9 (Eintrag vom 18.11.1925). 84. Ebd., S. 137 (Eintrag vom 22.7.1923). 85. Ebd., S. 504 (Eintrag vom 25.6.1932). 86. Zit. in: R. Helmstetter: Das Ornament, S. 46. 87. Zit. in: ebd., S. 46. 88. Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: »Heimito von Doderers Jutta Bamberger. Entstehung, Aufbau, Thematik«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 89 (1970), S. 576601. 89. H. v. Doderer: Tagebücher, S. 142. 237

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ÜBER DIE GRENZE

chenvaters‹ Otto Weininger90 im gemeinsamen Selbstmord der Geschlechter gibt, zeigt an, dass er dessen misogynen Hang nicht teilt. Bleibt ein Autor gleichsam lebenslänglich von der Vision (s)einer Kindfrau gebannt, die er von allen amoralischen Lulu- und Lolita-Aspekten befreit, kehrt sie ihm stets von neuem nachträglich (wie) aus dem Realen wieder: »[…] ich war eben damit beschäftigt, mich an der Darstellung der Lebensgeschichte des Fräulein Jutta B. zu versuchen – als sie mir eines harmlosen Vormittages in der Straßenbahn plötzlich gegenübersaß. Dies hatte meinerseits einen glotzenden Blick zu Folge, so daß die Dame es vorzog, […] den Wagen zu wechseln. – Auf solche Art habe ich sie ›kennen gelernt‹. […] Ich habe nie mit ihr gesprochen.« 91 Grenzte die poetische Rede ans Psychotische? Doderer historisiert die fiktive Figur zu einem déjà vu-Erlebnis auf der Schwelle zum Surrealen: »Gestern sah ich mittags ›Jutta Bamberger‹ auf der Straßenbahn, ich starrte ihr nach, fühlte meine jetzige Lebenslage wie Verbannung«, usw. Die projizierte Gestalt verschwindet, taucht wieder auf, entgleitet, wie ihr Signifikant, während das Ur-Bild zum Ab-Bild verrückt ist. In dem Maße, wie das »Modell« dem Dichter unter immer anderen Masken erscheint, wird es zur Allegorie der »Unbekannte[n] Geliebte[n]« in einem gleichnamigen Gedicht von 1928, wo das lyrische Ich klagt: »Ach, so schräg und süß dein niegeschauter Blick.«92 Ironisch dekonstruiert sich seine Privatmythologie aber in einem späteren Gleichnis, der ›Kürzesterzählung‹ Sonatine II, die gleichsam zur Parabel der Prosopopoiie wird. Als der Ich-Erzähler sein »ernstes, nicht hübsches, flachhüftiges« Wunsch-Mädchen im Wiener Augarten wiedersieht, verliert es sich zwischen den Stämmen im Hain: »Einem der Bäumchen«, heißt es ironisch, »sah ich’s geradezu an, daß ich mich jahrelang würde mit Jutta Bamberger beschäftigen müssen, um aus ihm wieder ein Mädchen zu machen, eine rückgängige« Daphne eben. Ein Fall von ›Auto(r)erotik‹93? Indem sich dieser Fall poetisierend selbst ausstellt, hebt er die falsche Symmetrie zwischen weiblicher Männlichkeit und männlicher Weiblichkeit94 wieder auf und relativiert die moderne

90. Vgl. Heimito von Doderer: »Rede auf Otto Weininger« (1963), in: J. Le Rider: Der Fall, S. 247ff. 91. Zit. nach der Dokumentation von Hans Flesch-Brunningen, in: H. v. Doderer: Jutta Bamberger, S. 363-372, hier: S. 368f. 92. Heimito von Doderer: »An die unbekannte Geliebte«, in: Ein Weg im Dunkeln. Gedichte und epigrammatische Verse, München 1957, S. 20. 93. Vgl. Annette Keck/Dietmar Schmidt (Hg.), Auto(r)erotik. Gegenstandslose Liebe als literarisches Projekt, Berlin 1994. 94. Vgl. Julia Kristeva: Histoires d’amour, Paris 1983. 238

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›ERKRANKEN AM GESCHLECHT‹

Utopie der Kindsbraut95 zum konstitutiven Entzug der Zeichen – ›ein Mädchen fast‹, so (v)erklingt das Rilkesche Echo der Komplizität zwischen männerbündischer Verwerfung des Weiblichen und seiner trans-sexuellen Anverwandlung.96

95. Vgl. Michael Wetzel: Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit, München 1999. 96. Vgl. z.B. Andrew Hewitt: Political Inversions. Homosexuality, Fascism, and the Modernist Imaginary, Stanford 1996; Ulrike Brunotte: Zwischen Eros und Krieg. Männerbund und Ritual in der Moderne, Berlin 2004, sowie den Bezug der männerbündischen Kultur zu moderner Dichtung und Poetik bei Urte Helduser: Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Moderne um 1900, Köln, Weimar, Wien 2005, bes. S. 257-327, wo Doderer allerdings nicht berücksichtigt ist. 239

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Rhetorik der Performanz

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BALLERINA/BALLERINO. ANDROGYNIE IM BALLETT

Ballerina/Ballerino. Androgynie im Ballett »Meine Seele ist eine leidenschaftliche Tänzerin.« (Bettine von Arnim) 1 »Tänzerin: o du Verlegung alles Vergehens in Gang.« (Rainer Maria Rilke) 2 »Vielleicht entzieht sich nichts dermaßen dem Wort, wie der Tanz.« (Carl Einstein)3 Der weit verbreitete Eindruck, in keiner anderen Kunstgattung erscheine der menschliche Körper »in solcher Irritation der Geschlechtlichkeit wie im Ballett«, bezieht sich nicht allein auf den aktuellen Phänotypen einer schlanken, muskulösen, aber »busenarm[en]« Tänzerin, die, »sanft und hart« zugleich, das »klare Bild von Mann und Frau« verflüssige4, sondern auch auf ihr Pendant, den modernen Tänzer, dessen »außergewöhnliche Virilität« durch die »Poesie der Bewegung« gebrochen werde.5 Handelt es sich dabei um eine Verdrängung des Weiblichen gemäß männlicher »Wunschprojektion«6, wie es die heimliche Hierarchie der Androgynie-Vorstellung nahezulegen scheint? Die maskulinen Megastars des 20. Jahrhunderts tragen indes Spuren homoerotisch getönter Effeminiertheit. Der legendäre Tänzer Vaslav Nijinsky, der zum ›Sprungwunder‹ seiner Epoche avancierte, wurde

1. Zitiert in: Verna Lorenz: Prima Ballerina. Der zerbrechliche Traum auf Spitzen, Frankfurt/Main 1987, S. 126. 2. Anfang des Gedichts Nr. XVIII, aus Rainer Maria Rilke: Sonette an Orpheus, II. Teil, zitiert in: Gabriele Brandstetter (Hg.), Aufforderung zum Tanz. Geschichten und Gedichte, Stuttgart 1993, S. 379. 3. In Carl Einstein: »Brief an die Tänzerin Napierkowska«, in: G. Brandstetter: Aufforderung, S. 186-189, hier: S. 186. 4. V. Lorenz: Prima Ballerina, S. 116. 5. Edward Villella, zitiert in: Mary Clarke/Clement Crisp: Tänzer, Köln 1985, S. 60. 6. V. Lorenz (Prima Ballerina) spricht von einem »nach männlichem Körperschema imaginierte[n]« (S. 119) TänzerInnen-Ideal. 243

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ÜBER DIE GRENZE

zumindest auf der Bühne als mädchenhaft wahrgenommen7, was in der Zeit des Ersten Weltkriegs noch skandalös wirkte. Die spätere ›Callas des Balletts‹, der russische Dissident Rudolf Nurejew, konnte dagegen bereits von seiner geschlechtlich zweideutigen Wirkung8 profitieren, weil er in den 60er Jahren zum Sinnbild sexueller Befreiung wurde. Aber die androgyne Aura, die das klassische Ballett umgibt, lässt sich nicht allein auf Körpertypen oder deren Stilisierung beschränken, vielmehr scheint sie in der medialen Qualität und der Ästhetik dieses Kunsttanzes selber verankert zu sein. Daher stellt sich die Frage, was die vieldeutige und oftmals mit Sexuellem versetzte Rede von der vermeintlichen Aufhebung der Geschlechtergrenzen im Ballett in systematischer wie historischer Hinsicht überhaupt besagt. Da die Kategorie der Androgynie immer schon auf geschlechts- und geschlechtersemantischen Voraussetzungen beruht, soll sie hier weniger als analytisches Konzept denn als ein epistemologisch offener Begriff betrachtet werden, an dem sich im Folgenden ausschnitthaft einige Überlegungen zur kulturgeschichtlichen Funktion des Balletts für die Herausbildung einer modernen Ordnung der Geschlechter9 orientieren. Unter genealogischen Vorzeichen fragt es sich etwa, welche besonderen Effekte des ›Trans-Geschlechtlichen‹ in dieser relativ jungen und spezialisierten Kunstform bewirkt worden wären und mithilfe welcher semiotischer bzw. ästhetischer Verfahren sie denn zustande kämen. Ausgehend von der tanzhistorisch auffälligen Ablösung der romantischen Ballerina durch den männlichen Virtuosen um die Jahrhundertwende soll die zunehmende Anähnelung der Körpermodelle und technischen Leistungen der Tänzer und Tänzerinnen des 20. Jahrhunderts, z.B. im neoklassischen Ballett, auch unter psychostrukturellen Aspekten in den Blick rücken. Nach kurzen diskurs- und medientheoretischen Vorüberlegungen zum abendländischen Mythos der Androgynie sowie zum Sondermedium Tanz werden verschiedenartige Spuren einer Erosion des traditionellen Geschlechterdualismus im Ballett untersucht und auf jenen umfassenden sozial- und kulturgeschichtlichen Prozess der Moderne bezogen, der als ›Feminisierung der Kultur‹10 eine Ent-Universalisierung des Männlichen einbegreift.

7. Richard Buckle: Nijinsky, Herford 1987, S. 41. Nijinsky sei »femininer« als manche seiner Partnerinnen (S. 109) gewesen und von seiner späteren Frau zunächst für eine Ballerina gehalten worden (S. 174). 8. Otis Stuart: Nurejew. Die Biographie, Wien, München 1995, S. 73. 9. Vgl. Hannelore Bublitz (Hg.), Das Geschlecht der Moderne. Genealogie und Archäologie der Geschlechterdifferenz, Frankfurt/Main, New York 1998. 10. Vgl. für langfristige Tendenzen auf dem weiten Feld sexuell-geschlechtlicher Phänomene Annette Runte: Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität, München 1996, Kap. 11. 244

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BALLERINA/BALLERINO. ANDROGYNIE IM BALLETT

Dabei sollen verschiedene (auto-)biographische und literarische Verarbeitungen des Tanzes wie des Tänzerdaseins die balletthistorischen und -ästhetischen Reflexionen ergänzen, was im gesetzten Rahmen freilich nur eklektizistisch erfolgen kann.

Vermischung oder Verwischung? Mythos Androgynie Verzeichnete man unter dem Titel Androgynie lange Zeit so heterogene Phänomene wie körperliches Zwittertum, Homosexualität oder Travestie11, um mit dem metaphorischen Gebrauch solcher Termini weitere Verwirrung zu stiften, wird ›Mann-Weib-lichkeit‹ als Synthese der Geschlechter eher positiv, als deren Annullierung eher negativ bewertet, was auch feministische Diskurse bis heute bekunden. Reichen die Repräsentationsformen abendländischer Androgynie bekanntlich vom platonischen Urmythos und seinen mystischen Aufgriffen über politische Utopien und literarische Phantasien bis hin zu philosophischer Systembildung12, so ist die anthropologische Universalisierung dieser Figur (etwa im Sinne C. G. Jungs) nur langsam einer sozial- und kulturhistorischen Kontextualisierung gewichen. Während diskursanalytische Aspekte, die noch in motivhistorischen Ansätzen weitgehend vernachlässigt werden13, unter konstruktivistischen Vorzeichen neues Gewicht erhalten, werden die epistemologischen Konsequenzen einer psychoanalytischen Sinn- und Subjektkonzeption, die mit metaphysischen wie bewusstseinsphilosophischen Prämissen gebrochen hat, noch in neuesten Performanztheorien der Geschlechtlichkeit eher wieder außer Acht gelassen14 und die topologische Heteronomie zwischen

11. Vgl. z.B. Richard Exner: »›Die Heldin als Held und der Held als Heldin‹. Androgynie als Umgehung und Lösung eines Konflikts«, in: Wolfgang Paulsen (Hg.), Die Frau als Heldin und Autorin. Neue kritische Ansätze zur deutschen Literatur, Bern 1979, S. 17-54. 12. Mit der romantischen Naturphilosophie (z.B. Franz von Baader), die sich bekanntlich von Vorläufern aus der mystischen Tradition (wie etwa Jakob Böhme) inspirieren ließ. 13. Noch in der ansonsten aufschlussreichen Monographie von Achim Aurnhammer: Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur, Köln, Wien 1986. 14. Dies führt im Falle Judith Butlers (Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main 1991) zu einer verzerrten Kritik an psychoanalytischen Positionen, nämlich unter den Prämissen einer Begehrens-Ontologie, die Foucaults Diskursbegriff mit pragmatischem Interaktionismus und dekonstruktiver Rede legiert. 245

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Identität und Begehren anthropologisierend eingeebnet.15 Obwohl die Androgynie-Problematik aufs engste mit der Semantik der Geschlechterdifferenz verbunden ist, die sich im Rahmen des modernen ›Normalismus-Dispositivs‹16 tendenziell von einer exklusiven Binäropposition zum quantifizierbaren Kontinuum unendlicher Zwischenstufen und Kombinationsmöglichkeiten mutierte, sollte die historische Rekonstruktion androgyner Sinnkomplexe den blinden Fleck jedweder Genealogie, nämlich die konstitutive Verschiebung bzw. Nachträglichkeit symbolischer Signifikanzprozesse als Grenze des Wissensbegehrens zumindest im Auge behalten. Das bei der generativistischen Analyse auftauchende Paradox einer geschlechtlichen Prädizierung des Geschlechtlichen (z.B. ›männliche Weiblichkeit‹), welches herkömmliche Definitionen von Androgynie prägt, löst sich durch Ebenen-Differenzierung leicht auf, sobald man ›Geschlecht‹ als eine multidiskursiv konstituierte Ordnungskategorie betrachtet. Mit der Einschätzung der Androgynie als einer Grenzverletzung ohne Infragestellung der Grenzen17 wird zu Recht ihr identitätslogisches Moment fixiert. Bezieht sich das Philosophem ›Androgynie‹, noch als Interpenetration zweier Konstrukte, die sich womöglich in einem dritten wieder re-substantialisieren, auf eine metaphysische Opposition18, deren interne Hierarchisie-

15. So beruft sich Butler (1991) ausgerechnet auf Freuds Melancholie-Begriff (1919), um ›sekundäre Heterosexualität‹ identitätslogisch aus der gescheiterten Trauerarbeit um ›primäre Homosexualität‹ abzuleiten: Das einst Begehrte wird – qua Identifizierung – als Ideal einverleibt. 16. Vgl. Jürgen Links bahnbrechende Studie: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997. 17. Ursula Bock: »Wenn die Geschlechter verschwinden«, in: Hartmut Meesmann/Bernhard Sill (Hg.), Androgyn. ›Jeder Mensch in sich ein Paar!?‹ Androgynie als Ideal geschlechtlicher Identität, Weinheim 1994, S. 19-34, hier: S. 23. 18. Jacques Derrida (1966) beschreibt die Geschichte der abendländischen Metaphysik bekanntlich als logozentrische Suche nach dem fehlenden Zentrum, das durch immer neue »Namen« für die »Invariante einer Präsenz« (z.B. Gott, Mensch, Geist, Subjekt usw.) ersetzt wurde (S. 424). Dabei liege das Paradox dieser Totalisierung darin, dass die »metaphysische Reduktion des Zeichens der Entgegensetzung bedurfte, die sie reduzierte« (S. 426), in: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen«, in: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main 1976, S. 422-443. ›Unterscheidung‹ als ›Entscheidung‹ für einen Oberbegriff bzw. die Festlegung eines Meta-Niveaus würde sich dann auch noch bei Niklas Luhmann als Fortsetzung dieses hierarchisierenden Projekts begreifen lassen. Vgl. Annette Runte: »Die ›Frau ohne Eigenschaften‹ oder Niklas Luhmanns systemtheoretische Beobachtung der Geschlechter-Differenz«, in: Theresa Wobbe/Gesa Lindemann (Hg.), Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht, Frankfurt/Main 1994, S. 297-326. Vgl. die 246

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BALLERINA/BALLERINO. ANDROGYNIE IM BALLETT

rung19 vom Fehlen »eines transzendentalen Signifikats«20 bedingt wird, so findet sich der geschlechtliche Dualismus, der das androgyne Schema begründet, syntagmatisch in dessen historischen Ausprägungen wieder, etwa im Gegensatz zwischen Vollformen geschlechtlicher Totalisierung (›sowohl männlich als auch weiblich‹) und Nullformen der Annullierung (›weder weiblich noch männlich‹) bzw. Neutralisierung.21 Im okzidentalen Verständnis wortwörtlich ›Weiblichkeit‹ hintanstellend22, bezeichnet Androgynie nicht nur ein Produkt, sondern auch einen Prozess gerichteter Oppositivität. Denn mythopoetisch umfasst sie das zyklologische Phasenmodell23 von ursprünglicher menschlicher Einheit, ihrer Trennung in Geschlechter und deren Aufhebung zum doppelgeschlechtlichen bzw. geschlechtslosen Wesen. Aber wäre dieser dialektische Chiasmus einer finalistischen Narration24, der sich von einem signifikanten Medium ins andere übersetzen lässt25, nicht grundlegend an mimetische Modi gebunden? Obwohl man »traditionelle(n) Vorstellungen von Androgynie«26 in vielen kulturellen Repräsen-

Synopsis zur aktuellen feministischen Debatte bei Ursula Link-Heer: »Das Zauberwort ›Differenz‹ – Dekonstruktion und Feminismus«, in: H. Bublitz: Das Geschlecht, S. 49-71. 19. Die ›eingebaute‹ Negativität betrifft die eindimensionale Semantik (›Männlichkeit‹ = ›Nicht-Weiblichkeit‹) ebenso wie die zweidimensionale (›Männlichkeit‹ ungleich ›Nicht-Weiblichkeit‹). 20. J. Derrida: Die Struktur, S. 424. 21. In hermeneutischen Lesarten lassen sich semantische Übersprünge von negativ konnotierter Undifferenziertheit zu positiv besetzbarer Uneindeutigeit feststellen, die ihrerseits eher als Möglichkeiten bergende Mehr- bzw. Vieldeutigkeit interpretiert wird denn als Un-Sinn. Vgl. Gabriele Klein: Auf der Suche nach Vollkommenheit. Geschlechterutopien im Tanz, Berlin 1996 (hg. von der Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauenstudien und Frauenforschung an der Freien Universität Berlin), S. 19f. 22. Vgl. die dekonstruktive Lektüre der Rhetorik der (narrativen) Sekundarisierung des Weiblichen in Jacques Derrida: »Geschlecht: différence sexuelle, différence ontologique«, in: Psyché. Inventions de l’autre, Paris 1987, S. 387-395. 23. So A. Aurnhammer: Androgynie. 24. Die chiasmatische Dialektik, die sich als Form einer mythischen Narration ausweist, ist charakterisiert durch einen doppelten Positionentausch (z.B. Männer werden zu Frauen und umgekehrt), der die Funktion hat, kulturelle Antagonismen zu vermitteln. So Jürgen Link: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, München 1983, S. 19. 25. Vgl. Wulf Wülfing: »Die heilige Luise von Preußen. Zur Mythisierung einer Figur der Geschichte in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts«, in: Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hg.), Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 233-275. 26. U. Bock: Wenn die Geschlechter, S. 20. 247

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tationen von Geschlechtlichkeit wiedererkennen kann, z.B. im wesensphilosophischen Ergänzungsmodell des 19. Jahrhunderts27, ermöglicht erst der psychoanalytische Aufweis einer radikalen Asymmetrie sexueller Positionen, die nur im imaginären Register geschlechtlicher Identitäten vergleichbar erscheinen28, die intermedial relevante Annahme einer ›Rhetorik der Geschlechter‹, die es erforderlich macht, auch in einem sprach-losen, aber parasprachlichen ästhetischen Medium wie dem Tanz zwischen symbolischen Verfahren und imaginären Effekten der Vergeschlechtlichung zu unterscheiden. Während das klassische Ballett Geschlechterstereotypen, etwa in Feen- und Prinzenrollen, tradiert, muten Körpermodellierung und vestimentäre Stilisierung moderner TänzerInnen androgyn an. Aber ließe sich geschlechtliche Entgrenzung auch in den ›Pathosformeln‹29 eines relativ streng codierten Bewegungsvokabulars, in der multimedialen Praxis eines modernistischen ›Gesamtkunstwerks‹30 oder in bestimmten ästhetischen Stilen entdecken? Die zur Beantwortung dieser Fragen nötige strukturfunktionale Aufarbeitung der komplexen Interrelationen zwischen dem Bereich der Kunst und anderen sozialen Subsystemen ist hier allerdings nur ansatzweise möglich.

27. Vgl. Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt/Main 1979. 28. Hier nach Jacques Lacan, für den das Unbewusste nicht-sexuiert ist, d.h. einen Signifikanten für die Geschlechterdifferenz nicht kennt. Dennoch ergeben sich sexuelles Begehren und imaginäre Geschlechtsidentitäten aus einer unbewussten (symbolischen) Positionierung (Strukturierung) der Subjekte. Die Radikalisierung der Differenz erscheint als ›unmögliches Verhältnis‹ zwischen phallischem und ›trans-phallischem‹ Begehren. Vgl. Jacques Lacan: Le séminaire. Livre XX. Encore. 1972-1973. Texte établi par Jacques-Alain Miller, Paris 1975. 29. Nach Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt/Main 1995, S. 28ff., die Aby Warburgs Kategorie für ihr Konzept der ›Topos-Formel‹ nutzt, um die Relationen zwischen literarischen Sprachfiguren und »Raumfigur[en] des Tanzes« zu analysieren. »›Topos-Formeln‹ verdichten und verwandeln in figurativen räumlichen Gestalten symbolisierte Wahrnehmungsmuster« (S. 30) sozialen Wissens. 30. Im multimedialen Sinne Richard Wagners, wie es die Ballets Russes unter Serge de Diaghilev zu Anfang dieses Jahrhunderts anstrebten: Tanz, Musik, Bühnenbildnerei usw. sollten gleichberechtigt sein. 248

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BALLERINA/BALLERINO. ANDROGYNIE IM BALLETT

(Sonder-)Medium Ballett: Bewegte Körper »Ballets are like butterflies«! Die ihrerseits zum Mythos avancierte »Kunstform des Transitorischen«, die der moderne Choreograph George Balanchine auch mit Sandmalerei oder Eisskulpturen verglich31, bewirkt eine »Metamorphose des bewegten Körpers in Zeichen«.32 Obwohl sich das flüchtige Medium Tanz unter Verzicht auf interaktionistische Prämissen als eine »Strukturierung […] des Raumes mittels rhythmischer Bewegung«33 definieren lässt, die gleichzeitig auch eine »Zeitordnung« schafft34, wäre diese kinetische Semiose dennoch nur metaphorisch mit dem Symbolischen der Sprache gleichzusetzen, denn sie schwankt zwischen der starren Referenz pantomimischer Gebärde und der Vieldeutigkeit bzw. Selbstbezüglichkeit35 autonomer tänzerischer Performanz. Obwohl sich der Bewegungscode des klassischen Balletts wie ein Alphabet ausnimmt, dessen Stellungen (=Buchstaben) sich zu Schritten (=Worte) und Schrittfolgen (=Sätze) zusammensetzen, wobei sich aus wenigen Elementen (z.B. fünf Sprung-Typen) viele Kombinationen ergeben36, bleibt tänzerische Darstellung an Präsenz und Gegenwart gebunden, da sie weder Abwesendes noch Vergangenes bezeichnen kann.37 Die (bewegten) Bilder dieser ›optischen Halbkunst‹38 entbehren, im Gegensatz zum verbalen System, der Negations- wie der Urteilsfunktion und vermögen die Aussageebene nicht vom Niveau der Äußerung zu trennen.39 Dennoch ge-

31. Bernard Taper (1984): Balanchine. A Biography, Berkeley, Los Angeles, London 1996, S. 145. 32. Gabriele Brandstetter: »Nachwort«, in: G. Brandstetter (Hg.), Aufforderung, S. 401-424, hier: S. 421. 33. Inge Baxmann: »Tanztheater. Rebellion des Körpers, Bildertheater und die Frage nach dem Sinn der Sinne«, in: K. Ludwig Pfeiffer/Michael Walter (Hg.), Kommunikationsformen als Lebensformen, München 1990, S. 149-169, hier: S. 159. 34. G. Brandstetter: Nachwort, S. 421. 35. Vgl. dazu George Balanchine: »Dancing isn’t about anything except dancing«, zitiert in: B. Taper: Balanchine, S. 360. 36. Max Terpis: Tanz und Tänzer, Zürich 1946, S. 76. 37. Ebd., S. 142f. 38. Viktor Junk: Grundlegung der Tanzwissenschaft. Hg. von Elisabeth WamlekJunk, Hildesheim, Zürich, New York 1990, S. 48f.; Aristoteles erfasste den Tanz nach dem Modell einer bewegten Statue, Kant ging bereits von der modernen Sprachanalogie aus (S. 22f.). 39. Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Das System der theatralischen Zeichen, 2 Bde., Tübingen 1984, Bd. I. Vgl. Algeridas J. Greimas: »Conditions d’une sémiotique du monde naturel«, in: Du sens. Essais sémiotiques, Paris 1970, S. 49-93. 249

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ÜBER DIE GRENZE

lingt es choreographisch, »das Bewegte […] zu klaren Formen« zu ordnen.40 Wenn die Dramaturgie »tänzerischer Rede« über die »Sukzession und Steigerung von Bewegungselementen« hinaus im vielgestaltigen »Gegensatz von […] Disziplin und Ekstase«41 liegt, braucht die »Kunstgeschichte des menschlichen Körpers« deshalb aber nicht durch eine »Dialektik von Naturbeherrschung und Revolte«42 geprägt zu sein. Denn statt auf eine geschichtsphilosophische Begründungsfigur könnte das Spannungspotential der im Moment der Performanz »in eins gebundenen Gegensätze von Körper und Zeichen«43 auf eine prälogische, materiale Infrastruktur44 der Sinnbildung verweisen, deren Einbruch in jene symbolischen Rahmen, denen sie gleichwohl verhaftet bleibt, die Produktion androgyner Sinneffekte sowohl im mimetischen Handlungs- und Charakterballett als auch in abstrakteren Experimenten45 mitbedingte. Wie aber ließe sich die im Hiatus zweier miteinander verschränkter Signifikanzmodi gedachte Performativität im Hinblick auf den grundlegenden Raum/Zeit-Bezug einer Körperkunst verstehen, die auf Bewegung fußt? Während die idealistische Ästhetik den erst seit der Romantik zur Ton- und Dichtkunst gezählten Tanz im Anschluss an Lessings Laokoon immer wieder aporetisch in den cartesianischen Raum und auf eine lineare Zeitachse projizierte, versuchen heutige ›aisthetische‹ Bestimmungen, die elektronische Revolution in ihren Konsequenzen für Tanzproduktion wie -rezeption einzubeziehen. Ist das moderne, neo-klassische Ballett dem romantischen Trend zur Musikalisierung aller Künste46 gefolgt, so reagiert seine post-mo-

40. M. Terpis (Tanz) vergleicht die angebliche Raumkunst mit der Architektur. Dorothee Günther (Der Tanz als Bewegungsphänomen. Wesen und Werden, Reinbek bei Hamburg 1962), die Ballett als »Stilform« (S. 23) definiert, gesteht dem Tanz ein Formstreben zu, das sich auf Raum- und/oder Körperformen im Raum beziehe. 41. G. Brandstetter: Nachwort, S. 402f. 42. Ebd., S. 405. 43. Als »äußerste[r] Augenblickspunkt einer Verwandlung, die im Tanz, wie in keiner anderen Kunst zur Erscheinung eines ganz anderen, Nicht-Bezeichenbaren« werde (ebd., S. 422). 44. Nach Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt/Main 1978. 45. Obwohl ich mich hier auf das ›klassische Ballett der Moderne‹ beschränken und postmoderne Tendenzen auslassen möchte, sei auf den weiten Spielraum ›abstrakter‹ (bzw. ›absoluter‹), d.h. handlungsfreier Ballette hingewiesen, die heute bis zur Transposition dekonstruktiver Konzeptionen reichen. Vgl. z.B. Gaby von Rauner (Hg.), William Forsythe – Tanz und Sprache, Frankfurt/Main 1993. 46. Hans Ulrich Reck: »Referenzsysteme von Bildern und Bildtheorie«, in: Birgit Recki/Lambert Wiesing (Hg.), Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegen250

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derne Nachfolgerschaft auf die technologisch bedingte Veränderung der Wahrnehmungen und Körperbilder47, bis hin zum Einbezug virtueller Welten.48 Maurice Béjart, der den Tanz zur dominanten Kunst des 20. Jahrhunderts erklärt hat49, begründet seine anhaltende Beliebtheit mit der Nähe zu Sport und Kino. Das für moderne Unterhaltung zentrale Moment der bewegten Bilder ließe sich daher mit Gilles Deleuzes an Bergson orientierter Analyse des Filmbilds im Sinne einer qualitativen Dauer begreifen, die Objekteffekte zeitigt.50 Als ein relationales Werden, dessen fundamentale Öffnung auf das Ganze dieses stets (mit)verändert, wäre Tanz eine Wiederholung des Heterogenen, die darin einer Signifikanz-Bewegung gleichkäme, ohne dass sie in einem differentiellen System wie der Sprache verankert wäre. Läge nicht das faszinierendste Moment einer Performanzkunst, bei der sich Neben- und Nacheinander schon immer durchdringen51, in der imaginären VerKörperung symbolischer Strukturierung? Insofern erweisen sich Raum und Zeit als Auswirkungen einer Stellvertretung, – jenseits von Figuration und Abstraktion.52 Im Chiasmus von Sensiblem und Imaginärem53

wärtiger Ästhetik, München 1997, S. 307-348, hier: S. 324. So werde etwa der Raum in der abstrakten Malerei verzeitlicht. 47. Vgl. Martina Leeker: »Vom ›Geist‹ der Maschinen. Für eine Kultur der technologischen Manipulation des Körpers«, in: Kunstforum International, 133 (1996), S. 130-139. Vgl. auch die Beiträge in der Fachzeitschrift: ballett international. tanz aktuell, 8/9 (1997). 48. Diese Weiterentwicklungen einer z.T. unübersichtlich gewordenen Tanzszene können hier aber nicht miteinbezogen werden. 49. Vgl. Maurice Béjarts Truppenbildung unter dem Titel Ballet du XXe siècle (seit Mitte der 50er Jahre). Vgl. aber auch Hermann Brochs Diktum vom Tanz als ›Gesamtkunstwerk eines sprachlos gewordenen Zeitalters‹. Bezeichnenderweise stand auch die Revolution des Freien Tanzes zu Anfang dieses Jahrhunderts im Zusammenhang mit der vielzitierten, von der modernistischen Literatur reflektierten ›Sprachkrise‹ (vgl. Hugo von Hofmannsthal). Heutiger Körperkult wird dagegen eher mit Sinnes- und Sinnlichkeitsverlusten in der technologisierten Welt in Verbindung gebracht. 50. Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino I, Frankfurt/Main 1989, S. 17, 20, 26. 51. Vgl. Jürgen Blasius: »Einleitung«, in: Volker Bohn (Hg.), Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt/Main 1990, S. 7-17, hier: S. 13. 52. Für G. Deleuze (Das Bewegungs-Bild) ist das bewegte Bild weder figurativ noch abstrakt (S. 205). Für Niklas Luhmann (Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1995) steht das Ornamentale, das die noch für die abstrakte Kunst relevante Differenzstruktur von Raum und Zeit organisiert, bevor die figurative, abbildende Form sie imaginär besetzt, am Ursprung der abendländischen Kunst (S. 185). Systemtheoretisch macht es der Raum, »möglich, daß die Objekte ihre Stellen verlassen«, die Zeit aber »notwen251

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bewirkt diese »stumme Musik des menschlichen Leibes«, wie Hugo von Hofmannsthal den Tanz nannte54, einen Zustand beständiger Unbeständigkeit55, dessen permanentes Verfließen indes Bilder und Affekte freisetzt. Mallarmés vielzitierte hermetische Formel, die Tänzerin sei »keine Frau […], die tanzt«, sondern »ein von jeglichem Zutun des Schreibers losgelöstes Gedicht«56, verrätselt den Tanz zur Chiffre einer Ein-Schreibung im grammatologischen Sinne, wiewohl dem blinden Fleck (s)eines Begehrens unterworfen, denn seine imaginäre Wirkung erscheint als eine Allegorie im Femininum. Ist das leibliche Medium Tanz dazu prädestiniert, Rhythmisch-Pulsionelles in die Ordnung der Re-Präsentation einbrechen zu lassen, hält das klassische Ballett, mit seinem festen Vokabular, seiner geregelten Grammatik und seinen starren Korrespondenzen zwischen idealem Körper-Schema und harmonischer Raum-Geometrie, derlei Irruptionen eher unter Kontrolle als freiere Stilformen. Wenn die tänzerische Verschränkung von Innen und Außen, Leib und Welt, die sich unter dem Blick des Anderen und diesseits der Sprache abspielt, aus dem Körper sozusagen einen Wunsch macht, der Wünsche verkörpert57, erlaubt jedoch erst die historische Funktionsbestimmung ästhetischer Verfahren genauere Thesen zur Problematik der Androgynie im Ballett.

Madonna Ballerina: Spaltung und Geschlechterschwund Nachdem das höfische Ballett seit der Renaissance sowohl adliger Körperdisziplinierung als auch politischer Selbstrepräsentation gedient hatte, begann es allmählich, im Kontext des französischen Absolutismus58, ästhetische Autonomie zu erlangen. 1661 richtete Ludwig XIV.

dig, daß die Stellen ihre Objekte verlassen« (S. 181), womit eine gnoseologische Interpenetration von Notwendigkeit und Kontingenz hergestellt wäre. 53. Julia Kristeva: La révolte intime. Pouvoirs et limites de la psychanalyse II, Paris 1997, S. 223ff. 54. Hugo von Hofmannsthal: »Die unvergleichliche Tänzerin«, in: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze I. 1891-1913. Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt/Main 1979, S. 496-501, hier: S. 499. 55. Paul Valéry: »Über den Tanz«, in: Tanz, Zeichnung und Degas, Frankfurt/Main 1996, S. 15-20. 56. Stéphane Mallarmé: »Ballette«, in: G. Brandstetter (Hg.), Aufforderung, S. 352-355, hier: S. 354. 57. Daniel Sibony: Le corps et sa dance, Paris 1995, S. 64. 58. Vgl. Rudolf zur Lippe: Naturbeherrschung am Menschen II. Geometrisierung 252

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die erste Tanzakademie ein, und zwanzig Jahre später traten die ersten Berufstänzerinnen auf, deren Rollen vorher, ähnlich wie im Sprechtheater, von travestierten Männern übernommen worden waren. Die dekorativen Balletteinlagen, die Molières Stücke und Lullys Opern zierten, verselbständigten sich zum galanten Ballett, das im Rokoko bereits zur aristokratischen Unterhaltung degradiert war, an der Seite von Kastratengesang oder Maskenbällen. Von seinem anakreontischen Flair zeugt noch Voltaires Epigramm auf die beiden berühmtesten Tänzerinnen seiner Epoche, Marie-Anne de Camargo (1710-1770) und Marie Sallé (1706-1756): Die Tänzerin Camargo

des Menschen und Repräsentation des Privaten im französischen Absolutismus, Frankfurt/Main 1981; Paul Bourcier: Naissance du ballet (394-1673), Saint-Etienne 1995. 253

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»Ah! Camargo, wie seid Ihr brillant! Doch Sallé, Ihr Götter! wie ist sie entzückend! Wie leicht sind Eure Schritte, und wie zart die Ihren! Sie ist unnachahmlich, und Ihr seid neuartig. Den Nymphen gleich springt Ihr, Und wie jene tanzen die Grazien.«59 Ein im Zuge der bürgerlichen Theaterreform rousseauistisch naturalisiertes Ballett, das nicht mehr nur auf die Reize kunstvoller Grazie, sondern vor allem auf die Nachahmung inhalts- und ausdrucksvoller Handlungen abzielte, machte es sich zur Maxime, die universale Menschen-Natur abzumalen.60 Dabei wurden politische und wirkungsästhetische Diskurse geschlechtlich übercodiert. Der von Lessing ins Deutsche übersetzte Reformator Jean-Georges Noverre, der, wie später noch Tieck oder Hegel, die erotische Frivolität der ›Bein-Kunst‹ tadelte61, suchte der oberflächlichen Feminität eines Ancien Régime-Relikts qua antikisierender Einfachheit (der Rollen, Gesten und Kostüme) eine maskulin konnotierte Wahrheit abzuringen. Doch seine moralischen Ballette blieben den alten Mythen verhaftet, – so etwa in »la Toilette de Vénus«, wo ein Kampf der Faune den bedrängten Nymphen die Flucht erlaubt – hätte die erotische Tändelei nicht bereits eine psychologische Dimension erhalten, wie etwa in jener Harems-Kabale, wo zwei Rivalinnen, »Zaïde« und »Zaïre«, über ihre Eifersucht in seelische Konflikte geraten.62 Das romantische Ballett des 19. Jahrhunderts ließ das revolutionäre Programm eines dem »Natürlichkeitsgedanken« verpflichteten, expressiven Stil[s] wieder zu »den bewegungstechnischen und ästhetischen Grundlagen der ›danse d’école‹« zurückkehren, um der ins Zentrum rückenden Elevation, einer Erhebung des Körpers über den Körper sozusagen, aber damit auch einer nunmehr zum absoluten Ideal erhöhten Weiblichkeit zu huldigen. Ausgerechnet die Sprung-Akrobatik virtuoser Tänzerinnen erlaubte es nämlich, sich mit dem »Schein« von »Schwerelosigkeit und Entmaterialisierung«63 der Erfüllung eines epo-

59. Voltaire, zit. in: Karl Viktor Prinz zu Wied: Königinnen des Balletts, München 1961, S. 20. 60. Vgl. Jean-George Noverre: Lettres sur la danse et les arts imitateurs, Paris 1952, S. 143. 61. Ebd., S. 186. Vgl. Ludwig Tieck: »Tanz. Ballett«, in: Kritische Schriften, Bd. 4, Leipzig 1852, S. 55-60. 62. Es handelt sich um Jalousies du sérail (S. 243ff.). Vgl. G. Noverre: Lettres, S. 238ff. 63. G. Brandstetter: Nachwort, S. 407. 254

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chalen Flugtraums64 zu nähern. Wenn die Illusion eines fliegenden Tänzers 1796 noch durch eine Maschinerie bewirkt werden musste65, an der er wie eine Marionette hing, so fiel die lyrische Ballerina, die ihn verdrängte, durch ihre eigene Leistung auf. Im »Traumtanz« landete Carlotta Grisi (1819-1899) »gleichsam aus den Wolken kommend, nach einem Sprung von vier Metern Tiefe in den Armen ihres Partners Lucien Petipa«.66 Trotz der möglichen emanzipatorischen Konnotation weiblicher Rekordleistungen lässt sich die auf darstellerischem wie choreographischem Niveau zu verzeichnende Re-Feminisierung des Balletts jedoch eher mit der Polarisierung der Geschlechtscharaktere in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft in Verbindung bringen. Die mythisierte romantische Ballerina, die seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts die Bühnen europäischer Metropolen beherrschte, ist ideologiehistorisch ein komplexes Phänomen. In ihrer ›muta eloquentia‹ ein beredtes Bild, verdichtet sie die natürliche Grazie naiv gewordener Nymphen67 mit dem Über-Natürlichen eines spiritualisierten Rollen-Repertoires, das seine Stoffe eher aus Volksmärchen, nordischen Sagen und Schauerromanen denn aus antiker Mythologie gewinnt. Dabei symbolisieren die außer- bzw. übermenschlichen Gestalten, in die die ›fille de l’opéra‹ nun verwandelt ist, unterstützt vom Plot simpler Geschichten, neue Bildprojektionen des Weiblichen in Einklang wie in Widerspruch mit den veränderten Geschlechterverhältnissen. Als fragile Falter oder flüchtige Luftgeister einer romantischen Poetisierung der Welt entsprungen, die im politisch resignativen Klima restaurativen Bürgerkönigtums eskapistische Züge annimmt, beflügeln diese ätherischen Figuren keine erotischen Idyllen mehr, sondern er-

64. Wie er sich um 1800 in der Kollektivsymbolik der Ballon-Fahrt auch literarisch niederschlägt. In Frankreich, wo das romantische Ballett später debütierte, hatten die Brüder Montgolfière ja mit ihren Versuchen angefangen und europaweit Aufsehen erregt (vgl. J. Link/W. Wülfing (Hg.), Bewegung und Stillstand). Übrigens fanden zu jener Zeit auch die ersten Fallschirm-Sprünge statt. Der ›Aufstieg‹ in den Himmel bedeutete zwar noch keine Revolution der Transportmittel, aber er denotierte Fortschritt, ein Zauberwort, unter das sich Victor Hugo, französischer Romantiker der ersten Generation, bekanntlich stellte. Vgl. noch August Everding über Nurejew in einem Foto-Kommentar (»Der Himmelsstürmer«) für das Zeit-Magazin, 11 (1998), S. 8. 65. Es handelt sich um Didelots L’amour vengé. 66. K. V. Prinz zu Wied: Königinnen, S. 76. 67. Vgl. Matthias Sträßner: Tanz-Meister und Dichter. Literatur-Geschichte(n) im Umkreis von Jean Georges Noverre. Lessing, Wieland, Goethe, Schiller, Berlin 1994. Er verweist auf Winckelmanns Beitrag zum Grazien-Begriff (»Von der Grazie in den Werken der Kunst«, 1759), den Heinrich von Kleist am Tanzbeispiel paradoxierte, und Wielands Rolle bei der Ballettreform. Schillers poetologischer Begriff des Naiven, auf den sich Anmut bezieht, bezeichnet indes das nicht-reflexive Kunstschaffen. 255

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leiden ein eher tragisches Schicksal. Sie ver-körpern paradoxerweise jenes ent-körperlichte Ideal des Weiblichen, das als jungfräuliche Apotheose der rousseauistischen ›Frau-Mutter‹ allenfalls märtyrerhaft erlösen, aber selbst nicht erlöst werden kann. In Giselle (1841)68, dem Höhepunkt des romantischen Balletts, stirbt ein unschuldiges Mädchen, um als untote »Wili«69 seinen adligen Verführer nachträglich zur Liebe zu bekehren, selber jedoch im Reiche quasi-hysterischer Tanzwut nie mehr zur Ruhe zu kommen. Da männliches Gefühl weiblicher Stütze bedarf, vergeht es gleichsam in seiner Schimäre. Als fernes Echo der engen Verbindung von Minne und Marienkult70, nimmt die entrückte und nur für ihren Geliebten sichtbare Sylphide (1832), prototypisch von der ätherisch wirkenden Ballerina Marie Taglioni (18041884) inkarniert, die den Spitzentanz erfunden haben soll, immer madonnenhaftere Züge an: »Die Füße berühren nur noch andeutungsweise den Boden. Schamhaft verhalten und dennoch weit raumgreifend schweben die Ballerinen über die Bühne, drehen ihre grazilen Pirouetten oder tanzen […] luftige Arabesken. Isolierte Bewegungen des sündhaftschmutzigen Beckens und des Brustkorbs sind […] ausgeschlossen.«71 Die biedermeierliche Uniform, deren langes Tutu an Kommunion- oder Brautkleider erinnert, ist mit einer säkularisierten Marien-Ikone überblendet: »Auf dem […] in weich wallenden weißen Musselin und Taft gehüllten Körper der Ballerina liegt die Patina des Paradiesischen ›in pace‹, […] des Frigiden, […] des Todes.«72 Der androgyne Effekt dieses engelhaften Wesens, dessen morbide Zerbrechlichkeit auf die präraffaelitische Malerei vorverweist, rührt aus dem dominanten Eindruck einer Geschlechtsenthobenheit, der als Zusammenspiel berufsbedingter Physiognomik, ›katholischer‹ Kostüme, romantisierter Rollen und dazu passender biographischer Legenden schon in der zeitgenössischen Ballettkritik vermerkt wurde.73 Setzen neuere feministische Kommentare die imaginierte Asexualität eines aber für damalige Begriffe immerhin ›halbnackten‹ Leibes mit

68. Libretto von Théophile Gautier nach Heinrich Heine. 69. Nach alter Sage bezeichnet dieser Ausdruck eine vor der Hochzeit gestorbene Braut. 70. Vgl. Julia Kristeva: Histoires d’amour, Paris 1983, S. 225ff., 251ff. 71. Marion Koch: Salomés Schleier. Eine andere Kulturgeschichte des Tanzes, Berlin 1995, S. 250. 72. Ebd., S. 250. 73. Vgl. dazu: Margrit Wienholz: Französische Tanzkritik im 19. Jahrhundert als Spiegel ästhetischer Bewusstseinsbildung. Théophile Gautier, Jules Lemaître, Stéphane Mallarmé, Frankfurt/Main, Bern 1974. 256

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einer den Frauen aufgezwungenen Geschlechtlosigkeit74 gleich, deren Triebverzicht im Daseinsverlust gipfele, so fragt es sich, ob die an- oder entschwebende weibliche Vision, die ›unbeflügelt‹ sterben muss, nicht eher von einem epochalen Begehren (nach) DER Frau zeugte, die ein überdeterminiertes Idol zum Tanzen brächte? Der evidente Nexus von Weiblichkeit und Tod deutet auf die Transzendenz einer Geschlechterbeziehung, die unter dem unmöglichen ›Gesetz der Mutter‹ steht. Insofern markiert die Madonna ohne Kind, quasi-religiöse Ikone im Amüsierbetrieb der Bürger-Könige, das doppelsinnige Paradox einer jungfräulichen Aufhebung idealer Mutterschaft.75 Marie Taglioni, wie ihre Kolleginnen aus dem 18. Jahrhundert noch vom Tänzer-Vater initiert, aber bereits zum Wunderkind dressiert, wurde als unermüdliche Arbeitsbiene zu einem Muster viktorianischer Sittsamkeit, das indes nicht der Pikanterie entbehrt. In Nonnen- wie Amazonen-Parts auftretend, schuf die ›christliche Ballerina‹ mit Le Papillon eine vielsagende Parabel über die Verwandlung eines Mädchens in einen Schmetterling. Doch es blieb Therese Elßler, der Hosenrollen übernehmenden Schwester von Taglionis ›heidnischer‹ Konkurrentin Fanny Elßler (1810-1882) vorbehalten, mit La Volière ein Ballett zu entwerfen, dessen Stoff womöglich polemisches Potential barg: Die Protagonistin, in Unkenntnis des anderen Geschlechts erzogen, sperrt den ersten besten Mann, der ihr begegnet, in einen Vogel-Käfig.76 Mögliche satirische Anspielungen auf

74. Vgl. Gabriele Klein: Frauen. Körper. Tanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes. Weinheim, Berlin 1992: »Als Naturwesen verehrt, zur ätherischen Fee oder zum überirdischen Fabelwesen stilisiert, als geschlechtsloses Geschlecht körperlich androgyn modelliert«, sei die romantische Ballerina eine »ideale Trägerin bürgerlich-patriarchaler Imaginationen von Weiblichkeit« (S. 124). So auch V. Lorenz: Prima Ballerina, M. Koch: Salomés Schleier. 75. Friedrich Kittler hat den geschlechterpolitischen Einsatz weiblicher Virginität am Beispiel der Ottilie aus Goethes Die Wahlverwandtschaften verdeutlicht. Wenn die mütterliche Primärsozialisation die hausväterliche Pädagogik tendenziell ersetzt hat, muss folglich die Erziehung der Erzieherinnen an erster Stelle stehen, wobei sich das Bild der Jungfrau »als Primadonna idealer Mutterschaft« in besonderem Maße dazu eignet, der »empirischen Mutter […] das neue Ideal« ein-zu-bilden (F. Kittler: »Goethe II. Ottilie Hauptmann«, in: Dichter. Mutter. Kind, München 1991, S. 119-149, hier: S. 126). Diese familiaristische Strategie entspräche dem Befund einer »geradezu exzessiven Marienfrömmigkeit, die sich ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in weiten Teilen der katholischen Christenheit – vor allem in den romanischen Ländern – ausprägte«. So Doris Brockmann: »Heimat – Himmel – Mutter. Feministisch-theologische Miszelle zum vierten Mariendogma«, in: Gisela Ecker (Hg.), Kein Land in Sicht. Heimat – weiblich?, München 1997, S. 81-93, hier: S. 84. 76. Hedwig Müller: »Von der äußeren zur inneren Bewegung. Klassische Ballerina 257

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tänzerischen Drill und geschlechtliche Segregation können sich jedenfalls im Ballett, aus institutionellen wie medialen Gründen, nicht so klar äußern wie die Emanzipationsproblematik in der zeitgenössischen Literatur von Autorinnen, etwa bei George Sand. Parallel zu den ersten choreographischen Versuchen romantischer Ballerinen, die meist unaufgeführt blieben, wurde im Genre der aktionsarmen ›weißen Ballette‹, die kaum noch Botschaften übermittelten, eine ›Ent-Weiblichung‹ ersichtlich, die indes keine ›Ver-Männlichung‹ bedeutet77, Ergebnis einer durchaus selektiven Entsemiotisierung, die z.B. die feminine Wespentaille beibehält, aber den Busen, Emblem der Mütterlichkeit78, zum Verschwinden bringt.79 Die verbreitete repressionstheoretische Erklärung dieses frappierenden Erscheinungsbilds mit Sexismus oder Leibfeindlichkeit80 neigt allerdings dazu, die interdiskursive Vernetzung der Ballerinen-Ikone ebenso zu ignorieren wie deren symptomatischen Status. Auf literarischem Feld besticht die Affinität des VirgoEffekts zur symbolistischen Vergeistigung der Liebe81 sowie seine in der Schwarzen Romantik wurzelnde Ambivalenz82 von Keuschheit und Wollust. Verbirgt die ›Sylphide‹ nicht stets eine ›Bayadère‹? »Der Ballerinentanz benötigt […] zwei Gesichter: preisgegeben wird nur das der Makellosen, implizit tanzt das der Hure mit.«83 Der schon bei den Rokoko-Damen vorgezeichnete Gegensatz von Prüderie und Libertinage erhält nun eine tiefere Dimension der Ent/ Täuschung, die Heinrich Heine, Apostel des Sensualismus, ärgerlich denunziert in »jene[r] edle[n] Leidenschaft«, welche »so wirbelnd auf einem Fuße herumpirouettierte, daß man nichts sieht als Himmel und

– Tänzerin«, in: Renate Möhrmann (Hg.), Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst, Frankfurt/Main 1989, S. 283-300, hier: S. 286. 77. Im Deutungsschema einer Dialektik der Aufklärung erscheint die Ballerina nicht nur als Kompensativ der Industrialisierung bzw. als (klein)bürgerliche Flucht vor der politischen Wirklichkeit, sondern vor allem als Rache der unterworfenen weiblichen Natur in Gestalt eines kalten sterilen Kunstwesens, einer Puppe (so V. Lorenz: Prima Ballerina). 78. So Lacan, der sich dagegen wehrt, den erigierten Penis mit dem Busen gleichzusetzen. 79. »Schlank von der Taille aufwärts«, kalauert Günter Grass in: »Die Ballerina«, in: G. Brandstetter (Hg.), Aufforderung, S. 144-155, hier: S. 145. 80. So G. Klein: Frauen, S. 121. 81. Vgl. die zahlreichen Beispiele bei Lothar Hönninghausen: Präraphaeliten und Fin de Siècle. Symbolistische Tendenzen in der europäischen Spätromantik, München 1971. 82. Vgl. Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die Schwarze Romantik. 2 Bde., München 1970. 83. M. Koch: Salomés Schleier, S. 251. 258

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BALLERINA/BALLERINO. ANDROGYNIE IM BALLETT

Die Tänzerin Eva Evdokimova

Trikot, nichts als Idealität und Lüge!«84 Flüstert demnach hinter der Sprache des Reinen ein Argot der Beine, markiert die zum Sprung erhobene, in ihrer Vertikalität85 auf die Spitze getriebene Figur der romantischen Ballerina einen androgynen Aspekt weiblicher Maskerade.86 »Wenn Wörter […] in allen Körperbildern« stecken, »die das Subjekt fesseln«87, könnte der vielbeschworene Höhenflug der Tänze-

84. Heinrich Heine: »Florentinische Nächte«, in: Werke. Ausgewählt und herausgegeben von Martin Greiner, 2 Bde., Köln, Berlin 1969, S. 501-551, hier: S. 531. 85. Die ballettbedingte »Verschiebung des Körperschwerpunktes« vom Bauch- in den Brustraum bewirkt Illusionen von Erhöhung und Leichtigkeit (G. Klein: Frauen, S. 128). 86. Vgl. zur Aufarbeitung der psychoanalytischen Problematik der weiblichen Position des ›Phallus-Seins‹: Julika Funk/Elfi Bettinger: »Weiblichkeit als Maskerade und der Fetisch Phallus«, in: Die Philosophin, 13 (1996), S. 31-54. 87. Lacan, Jacques: »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der 259

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ÜBER DIE GRENZE

rin nämlich nicht nur sozialen Aufstieg und ästhetische Verklärung suggerieren, sondern im damit zeitgleich erfundenen Spitzentanz auch die zweideutige Pointe von Erektion und Detumeszenz eines ›G(l)anzkörper-Phallus‹ 88, den die Rockschleier enthüllen und verbergen zugleich. Nicht eine »Makulinisierung […] nach männlichem Bild«89, sondern allenfalls Bein- und Fußfetischismus nähme hier seine vorklinische Gestalt an. Die Ovationen Londoner Dandies für die italienische Star-Ballerina Fanny Cerrito (1817-1909) richten sich gleichsam namentlich an deren köstliche Kirschenzehen (»cherry-toes«). Die von der Weimarer Klassik und deutschen Frühromantik als unergründliches Natur-Geheimnis verewigte Weiblichkeit wäre im Ballett notwendigerweise stumm.90 Mysteriöses Schweigen aber nähert die lyrische Ballerina jener Hermaphroditen-Fiktion91 an, deren zunächst in Mädchenpagen92 und Erzengeln93 inkarnierte androgyne Totalität im Laufe des 19. Jahrhunderts zu steriler Neutralität herabsank94, Indiz eines auch anderweitig zu verzeichnenden Geschlechterschwunds.95 In dem

Psychoanalyse«, in: Schriften I. Hg. von Norbert Haas, Olten, Freiburg i.Br. 1973, S. 71171, hier: S. 144. 88. Vgl. Judith Lynne Hanna: Dance, Sex and Gender. Signs of Identity, Dominance, Defiance, and Desire, Chicago, London 1988, die sich darüber wundert, dass Frauen im Ballett »vertical much of the time« (S. 176) seien, obwohl das Aufrechte doch mit dem Männlichen assoziiert werde. Jill Johnston meint sogar, das Ballett entlarve sich »in its phallic nature masquerading as a pityful romantic searching etheralized unearthly body« (S. 174). 89. V. Lorenz: Prima Ballerina, S. 126. 90. Vgl. zum Nexus eines Medienwechsels um 1800, bürgerlicher Sphärentrennung und der Polarisierung der Geschlechtscharaktere die bahnbrechende Studie von Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800. 1900, 3. vollst. überarb. Aufl., München 1995. 91. Andrea Kuhn sieht im Schweigen der Figur und im Fehlen ihrer Geschichte die Idee einer mythischen Totalität, die nur im Bilde repräsentierbar ist. Sie verleugne den Mangel, der sich in der Sprache auftut. Vgl.: »Sprachlosigkeit – das Geheimnis des Hermaphroditen«, in: Ursula Prinz (Hg.), Androgyn. Sehnsucht nach Vollkommenheit, Berlin 1986, S. 120-127. 92. Musterbildend wirkt Goethes »Mignon«, die echte Zwitter (wie Hyacinthe de Latouches »Fragoletta«) ebenso prägt wie ihre Nachfolgerinnen, z.B. den Pagen Leublfing bei Conrad Ferdinand Meyer. 93. Zu denken wäre an Balzacs mystischen Roman Seraphîta (1834), aber auch an George Sands Theaterstück Gabriel (1840). 94. So etwa in einem epochalen Schlüsseltext wie Lautréamonts Les Chants de Maldoror oder in französischen Dekadenzromanen. 95. Vgl. Annette Runte: »›Père-version‹. Sexualität als Maske des Geschlechts in 260

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BALLERINA/BALLERINO. ANDROGYNIE IM BALLETT

Maße, wie sich die rigide Bipolarität des Alteritätsdenkens allmählich zugunsten eines breiten Spektrums androgyner Zwischentöne auflöst, wird die idealische Fernliebe in einem Phantasma leiblicher Entgrenzung, das dem Tanz entspräche, als geschwisterliche Fusion sublimiert. Théophile Gautier (1811-1872), Begründer des ästhetizistischen ›l’artpour-l’art‹-Programms, Giselle-Librettist und bekannter Ballettkritiker, den diese apollinische Kunst allerdings nur in ihrer weiblichen Gestalt faszinierte und dessen Werk von Spaltungen und Verdoppelungen durchzogen ist96, hat in einer seiner letzten Novellen, Spirite (1865), einen Jüngling und seine feenhafte Seelenschwester im (Liebes-)Tod in eine einzige Perle verwandelt.97 Die Verdrängung der ›Funktion der Mutter‹ zugunsten des ›Effekts Frau‹ (Kristeva) manifestiert sich im romantischen Ballett also als eine paradoxe Reduktion des Androgynie-Phantasmas, insofern nicht-vermännlichende Entweiblichung zur imaginären Bedingung des ›Phallus-Seins‹ wird.

Sterbende Schwäne Die Re-Feminisierung der nach 1789 ohnehin wieder in Weiblichkeitsverdacht geratenen aristokratischen Kunstform bezieht sich nicht allein auf den Kult um die Ballerina, die die Tänzer völlig in den Schatten stellte98, sondern auch auf eine Dramaturgie, die Fragmente des epochalen Geschlechterschicksals im a-historischen Genre des Märchens99 und der Fabel festschrieb. So wie deren holzschnittartige

der französischen Dekadenzliteratur«, in: Elfi Bettinger/Julika Funk (Hg.), Maskeraden. Geschlechterdifferenz in der literarischen Inszenierung, Berlin 1995, S. 254-273. 96. Vgl. z.B. Joseph Savalle: Travestis. Métamorphoses. Dédoublements. Essai sur l’œuvre romanesque de Théophile Gautier, Paris 1981. Gautier formulierte auch den Kontrast zwischen der ›christlichen Ballerina‹ Taglioni und ihrer ›heidnischen‹ Rivalin Elßler, deren Anhänger sich in der Pariser Oper groteske Saalschlachten lieferten. 97. Vgl. J. Savalle: Travestis, S. 162-164; hier verdichtet sich vieles: Schauertopik und wagnerianischer Liebestod, Schwundstufen neoplatonischer Mystik und psychologische Vorahnungen von Transsexualität. Ein Prätext könnte de Vignys Eloa (1824) sein, wo »la sœur des anges«, geboren aus einer Träne Christi, Luzifer voller Mitleid zu Hilfe eilt. 98. Théophile Gautier bescherte tüchtigen Tänzern vernichtende Kritiken und schlug vor, sie durch Hosenrollen zu ersetzen. 99. Vgl. z.B. Renate Steinchen: »Märchenerzählerin und Schneewittchen – Zwei Frauenbilder in einer deutschen Märchensammlung«, in: Brigitte Schaeffer-Hegel/Brigitte Wartmann (Hg.), Mythos Frau. Projektionen und Inszenierungen im Patriarchat, Berlin 1984, S. 280-308. Dort wird am Beispiel der Grimm’schen ›Kinder- und Hausmärchen‹ die »Parallelität zwischen sozial- und kulturgeschichtlicher Entwicklung zu Beginn des 19. 261

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ÜBER DIE GRENZE

Schwarz/Weiß-Malerei die subtileren Botschaften getanzter Damenopfer im Wunderbaren aufhebt, spiegelt sich die Weltferne kindlichen Zaubers in der Präsenzfixierung einer sprach-abstinenten Performanzkunst. Die Häufung sogenannter femininer Bewegungsformen100, wie z.B. dekorativer Attitüden und Pirouetten oder filigraner Fußtriller und ›Luftschnuller‹, begünstigte schließlich sogar den Abstieg des romantischen Balletts. Ist die tänzerische Körper-Sprache einerseits durch medieninterne Konventionen und intermediale Verweise, andererseits aber durch kontingente Phantasien begrenzt, bietet sich ihrer Interpretation ein weiter Spielraum. So kann man den ›Schwebetraum in Weiß‹ auch als Aufblühen einer Blume wahrnehmen, da »die Tänzerin« sich »wie auf einem Stengel« entfalte101, oder das »freche himmelanschreiende Beinausstrecken«102 nicht länger als ehrfürchtigen Fingerzeig nach oben verstehen. Durch seine rasch wechselnden Konstellationen löst Tanz gemeinhin eine Fülle freier Assoziationen aus, die durch inhaltliches Vorwissen, markierte Zitate oder pantomimische Steuerung nie ganz zu bremsen sind. Doch gerade weil die semantische Offenheit des Materials es motivischer Vereinnahmung ausliefert, erscheint der Tanz, auch in epigonalen Stadien, geschlechtersemantisch aufschlussreich. Dies lässt sich z.B. am Einsatz des Schwanen-Symbols zeigen, das den Übergang vom romantischen zum modernen Ballett markiert. In Gaston Bachelards psychoanalytischer Spekulation gilt die Sonne und Mond vereinende Pictura des sakralen Vogels als eine androgyne Mischfigur103, die einer erotischen Ersatzbildung gleichkomme: »Qui adore le cygne, désire la baigneuse.«104 Literarische Okkurrenzen bei Kleist, Jean Paul oder Balzac105 deuten auf die von der phallischen Halsform evozierte Verbindung zwischen Oben und Unten, Himmel und Erde, Männlichem und Weiblichem. Das Wasser, auf dessen Spiegel die signifikante Gestalt schwimmt, ist als drittes Element gleichzeitig jene Grenze, die Hierarchien zu re-symmetrisieren erlaubt. Historisch gleitet der Topos aber vom Idyllischen ins Dramatische. Bei Noverre noch ein konventionelles Liebes-Emblem wie die Turteltaube,

Jahrhunderts« (S. 286) herausgearbeitet, besonders anhand des polarisierten Frauenbilds. 100. M. Terpis: Tanz, S. 76. 101. Ebd., S. 82. 102. Karl Rosenkranz, (1853): Ästhetik des Hässlichen, Leipzig 1990, S. 194. 103. Im Hintergrund die in der symbolistischen und dekadenten Literatur wieder auftauchende Leda-Mythe (Pierre Louÿs, Yeats, Gabriele d’Annunzio). 104. Gaston Bachelard: L’eau et les rêves. Essai sur l’imagination de la matière, Paris 1981, S. 50ff. 105. So Lucie Frappier-Mazur: »Balzac et l’androgyne«, in: L’Année Balzacienne 1973, S. 253- 277: »mâle par son cou, femelle par ses courbes soyeuses« (S. 274). 262

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BALLERINA/BALLERINO. ANDROGYNIE IM BALLETT

wird er zum romantischen Repräsentativsymbol, einer verzweigten metaphorischen Entsprechungsstruktur106, und schließlich zur dekadenten Chiffre. In Schwanensee, dem 1877 uraufgeführten letzten romantischen Ballett107, zeigt sich im wappenförmigen Gegensatz zwischen weißer und schwarzer Schwanenkönigin noch einmal der Januskopf weiblicher Spaltung. Das Hybridwesen der Vogel-Frau, in dem sich auch das transgressive Medium der Körperkunst spiegelt, veranschaulicht die aktantielle Redundanz in aktorieller Verdoppelung. Wie im ersten romantischen Ballett, La Sylphide (1832), steht ein Mann zwischen zwei weiblichen Wesen, die den unüberbrückbaren Gegensatz von Idealität und Realität in innerweltliche Moral überführen. Vor schauerromantischer Kulisse verfällt Prinz Siegfried im ersten Akt jener guten Frau, die er vor ihrem Fluch, zyklisch in einen Schwan verwandelt zu werden, deswegen nicht zu erretten vermag, weil er sich im zweiten Akt während einer von seiner Mutter veranstalteten Brautschau ihrer okkulten Doppelgängerin nicht zu entziehen vermag. Durch einen blinden Treueschwur verliert er sein platonisches Idol: Frau-Mutter ist durch eine dämonisierte Kokotte ersetzt. Auf die Probe gestellt, versagt männliche Liebe – gleichsam schuldlos – aufgrund einer täuschenden Ähnlichkeit, die sich in der Identität einer Letter figuriert. Odette/Odile: Im erotisch aufgeladenen Anfangsbuchstaben, Emblem des weiblichen Organs, treffen sich ›femme fatale‹ und ›femme fragile‹. Nur aufgrund einer minimalen bedeutungsbildenden Differenz, die sich im arbiträren (Rest des) Namen(s) manifestiert, unterscheidet sich die Tochter des Zauberers (»Odile«) von der verzauberten Tochter (»Odette«). Deswegen zeigt der Hell/Dunkel-Kontrast vielleicht nicht nur die Nachtseite romantischer Weiblichkeit an, die in der Fin de siècle-Kunst als mondäne Lebedame auftaucht, sondern auch ein Schwinden der symbolischen Vaterfunktion. Anhand der literarischen Avantgarde in Frankreich, die sich, wie Mallarmé, dem Ballett widmete, analysierte Julia Kristeva diese ›Gesetzwerdung des Imaginären‹ als eine Verschiebung der verdrängten mütterlichen Lust, Äquivalent körperlicher Einschreibungen, auf fetischisiertes Kokottentum, Pendant einer zeitgleich hervortretenden Junggesellen-Figur (Poeten, Priester, usw.), die das väterliche Gesetz usurpiert, aber sich gleichzeitig zu dessen Statthalter macht.108 In Schwanensee scheint

106. Zwischen deren komplexen Pictura- und Subscriptio-Strukturen semantiko-logische Isomorphie herrscht. Zum diskurstheoretischen Begriff des Repräsentativsymbols vgl. J. Link: Elementare Literatur. 107. Die Musik stammt von Peter Iljitsch Tschaikowsky, die zweite Werk-Fassung (1895) besorgten Marius Petipa und Lew Iwanow. 108. Abgewehrt wird also DIE (klassisch-romantische) ›Frau-Mutter‹, die als Genitalpartnerin verdrängt und durch die anderen Frauen im Plural ersetzt ist. Fetischismus 263

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ÜBER DIE GRENZE

überdies eine fast masochistisch anmutende Mutter-Sohn-Symbiose durch die archaische Reminiszenz einer sadistischen Tyrannei des Vaters über die Töchter aus dem Gleichgewicht109 zu geraten. Für diese psychohistorisch aufschlussreiche Labilität mütterlicher Programmierung spräche auch der offene Schluss einer Geschichte, die man choreographisch mal gut, mal schlecht ausgehen ließ. Doch die enorme Popularität eines Balletts, das zum Synonym seiner Gattung wurde110, liegt wohl vor allem darin begründet, dass sich Spuren geschlechtlicher Paradigmenwechsel auf verschlungene Weise in der Materialität des Tanzens abdrücken. Charakterisiert die manierierte Stilisierung natürlicher Schwanen-Haltungen die neue Bewegungsästhetik dieses dekadenten Balletts, entfalten die schwierigen Sequenzen und Positionen, romantische Unregelmäßigkeiten111 akzentuierend, jene inzwischen sadomasochistisch getönte Wechselbeziehung von männlichem Eros und weiblichem Leiden, Aktivität und Passivität, um sie zumindest ästhetisch zu versöhnen. Während der ›weiße Schwan‹, Odette, z.B. »kopfüber in eine tiefe Arabesque« fällt oder von der Spitze »langsam zu Boden« sinkt, um auf dem linken Knie zu ruhen, »das rechte Bein nach vorne ausgestreckt«, und die Arme, mit dem ganzen Oberkörper vorgebeugt, »wie Vogelflügel« zusammenlegend, tanzt Odile, der ›schwarze Schwan‹, dagegen sehr »kapriziös« und »berechnend«112 in schnellen Pirouetten diagonal durch den Raum und endet gleichsam org(i)astisch mit der berühmten Serie von 32 fouettés en tournant, einer schnellen Drehung des Standbeins auf Spitze, bei der das freischwingende Spielbein als Propeller dient. Auf (ver-)fließendem Hintergrund,

und Perversion, Kokottenwirtschaft und (quasi-sakrales) Salon-Künstlertum reißen die der ›genitalen Mutter‹ imaginär attribuierte und symbolisch vorenthaltene Lust wie einen Mehrwert an sich, indem sie ihre genitale Ohnmacht repräsentieren. Vgl. Julia Kristeva: La révolution du langage poétique. L’avantgarde à la fin du XIXe siècle (Lautréamont et Mallarmé), Paris 1974, S. 370ff., S. 559ff. Zu einer ähnlichen kulturhistorischen Diagnose des strukturellen Zusammenhangs zwischen ›Feminisierung der Kultur‹ und Perversion im psychoanalytischen Sinne kommt die an Lacan orientierte Studie von Paul-Laurent Assoun: Le pervers et la femme, Paris 1989. 109. Im Plot, der an triviale Schauermärchen erinnert, deutet sich vielleicht, in grober Skizze, auch der mythopoetische Wechsel vom sadistischen ›Vater-Tochter-Pakt‹ (1800) zum masochistischen ›Mutter-Sohn-Vertrag‹ (1900) an. Vgl. Gilles Deleuze: »Sacher-Masoch und der Masochismus«, in Leopold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz, Frankfurt/Main 1980, S. 263-281. 110. Vgl. den Artikel »Schwanensee« in: Hartmut Regitz/Otto Friedrich Regner/ Heinz-Ludwig Schneiders (Hg.), Reclams Ballettführer. 11., durchgesehene Auflage, Stuttgart 1992, S. 542-559. 111. M. Terpis: Tanz, S. 72: Das Asymmetrische, Komplizierte usw. 112. H. Regitz u.a.: Reclams Ballettführer, S. 546ff. 264

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etwa im trippelnden Rückwärtsgang der fliehenden Odette oder ihren karussellartigen Hebungen, verflüchtigen sich phallische Ansprüche zu Figuren, die stets wieder gebrochen werden. Verwundet hüpft die Schwanenkönigin samt Gefolge in preziösen Arabesken auf einem Bein von dannen, während die kalte Odile bereits den Cancan113, diese obszöne Karikatur der ›battements‹, vorwegzunehmen scheint. In der weißen Schwanenpose stürzt der Flug der romantischen Ballerina quasi-hysterisch in den eigenen Körper ab. Das weibliche Idol, inzwischen pathologisiert114, (er)hält sich nur um den Preis narzisstischer Selbst(be)-Spiegelung: DIE Frau ist von ihren mädchenhaften Ebenbildern umgeben, die sich mit vor der Brust verschränkten Armen ineinander verflechten oder, wie spätere Revue-Girls, sprechende Ornamente, etwa einen Flügel, bilden. So ist das Schwanen-Emblem aufgrund seiner Eingängigkeit, aber wohl auch als ein extrem überdeterminiertes zum Kollektivsymbol für populäres Ballett geworden. Bezeichnenderweise hat Schwanensee nicht nur diverse Fassungen erhalten, sondern auch mindestens vier Schlussversionen. Unentschieden zwischen happy end und Tragik, bleibt es der wagnerianisch115 gestimmte Abgesang auf die ›Eine‹ Ballerina, die im beliebten Pas de Quatre rivalisierender ›Kleeblätter‹ (z.B. Taglioni, Elßler, Grisi, Grahn) zum bloßen Medienspektakel wird. Im weltberühmten Zwei-Minuten-Stück Der Sterbende Schwan (1907), das der spätere Choreograph der Ballets Russes, Michail Fokin, für die Primaballerina assoluta Anna Pawlowa schuf, wird nicht nur das Schwanenkostüm, die »Kappe aus weißen Schwanenfedern« und der »Tellertutu«, zitiert, sondern die Schwanen-Pose mit der pathetischen Imitation eines wirklichen Vogels auf ihren tödlichen Sinn verkürzt: »Langsam, wie im Traum, kreist sie ›auf Spitze‹, die Arme gekreuzt, um die Bühne, […] macht […] einen letzten, vergeblichen Versuch, den Horizont zu erreichen, zu fliegen. Aber die Kräfte versagen. Sie sinkt mit flatternden Armen […] zu Boden […] lässt das

113. Der Cancan entstand bereits um 1840 auf den ›bals musettes‹ und in den Pariser Kaffeehäusern. Vgl. Bertrand Mary: La Pin-up ou la fragile différence. Essai sur la genèse d’une imagerie délaissée, Paris 1983, S. 108ff. 114. Zur medialen Konstitutierung hysterischer Körpersprache und zum Verhältnis zwischen psychoanalytischen und literarischen Diskursen vgl. Marianne Schuller: »Hysterie als Artefaktum. Zum literarischen und visuellen Archiv der Hysterie um 1900«, in: Im Unterschied, Frankfurt/Main, Basel 1990, S. 81-95. 115. Im Leben des Wagner-Mäzens und wahnsinnigen Bayern-Königs Ludwig II., mit dem sich Tschaikowsky identifiziert haben soll, spielte das Schwanensymbol bekanntlich eine zentrale Rolle. Eine Lohengrin-Melodie (»Nie sollst du mich befragen«) ist sogar zum »Schwanen-Motiv in h-moll« geworden (H. Regitz u.a.: Reclams Ballettführer, S. 557). 265

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rechte Bein vorwärtsgleiten und sinkt auf das linke Knie. […] Der Schwan legt seinen Kopf auf die Flügel und stirbt.«116 Als Einzelgängerin, die auf zahlreichen internationalen Tourneen eine altmodische Kunstform zu retten trachtete und keinerlei Anschluss mehr ans moderne Ballett fand, war der »schweifende[r] Komet«117 Anna Pawlowa, die Ätherisches mit Sinnlichem im Alleingang zusammenzutanzen versuchte118, optimal für diese sentimentale Rolle, die die androgyne Diva Greta Garbo später in einem Hollywood-Film über eine unglückliche, alternde Ballerina119 auch biographisch zitieren sollte. In dem Maße, wie das Kino den Tanz eingeholt hatte, serialisierten sich seine Trägerinnen. Dies demonstriert nicht nur die Revue, etwa von Busby Berkeley mit vielen Ballett-Reminiszenzen verfilmt, sondern auch das erste handlungslose Ballett, Michail Fokins Les Sylphides von 1907, Schwanengesang einer Ära, in dem der einzige Tänzer, ein Poet, ironischerweise »von lauter Taglionis umgeben« ist.120

Ikarus’ Sprung in die Moderne: Male impersonation und Unisex Nachdem Schwanensee inzwischen von Männern im Tutu und mit nackter Brust persifliert worden ist121 und in Erik Bruhns Version ein sensibler Prinz gegen die Frauenmacht rebelliert, deren Opfer er wird, hat Maurice Béjart triumphierend verkündet, den Schwänen endlich ihr Geschlecht zurückgegeben zu haben.122 Erst mit der Ent-Universalisierung einer mann-menschlichen Gattung123, die sich um 1900 vehement als männliche Identitätskrise äu-

116. Ebd., S. 604. 117. K. V. Prinz zu Wied: Königinnen, S. 135. 118. Vgl. Anna Pawlowa: Tanzende Füße. Der Weg meines Lebens, Dresden 1928. 119. Es handelt sich um Edmund Gouldings Grand Hotel (USA 1932), die Verfilmung von Vicky Baums Roman Menschen im Hotel (1929). 120. H. Regitz u.a.: Reclams Ballettführer, S. 614. 121. So in Bill T. Jones’ Balanchine-Satire How to Walk an Elephant (1985), wo Tänzer in Unisex-Kostümen (Spitzentops, Tights und Jazzschuhe) das weibliche Bewegungsvokabular imitieren. Vgl. a. die als Video erhältliche Produktion Swan Lake (1996) von Matthew Bourne. 122. Maurice Béjart: Un instant dans la vie d’autrui. Mémoires I, Paris 1996, S. 181: »J’ai fait table rase de tout un côté efféminé et ›danseur mondain‹. J’ai rendu aux cygnes leur sexe«. 123. Vgl. Sabine Mehlmann: »Das vergeschlechtlichte Individuum. Thesen zur his266

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BALLERINA/BALLERINO. ANDROGYNIE IM BALLETT

ßert124, taucht, nach seiner langen Eklipse im 19. Jahrhundert, der Ballerino wieder auf, Effekt wie Promotor zweier widersprüchlicher Tendenzen, nämlich ›weibischer Dekadenz‹ einerseits und männerbündischer (Re)Virilisierung andererseits, deren Maskulinismus den versachlichten Zeitgeist der Zwanziger Jahre absorbierte. War der verbürgerlichte ›danseur noble‹, dessen feminin wirkendes Prinzenkostüm aus Beinfreiheit gewährendem ›justeaucorps‹, altväterlicher Schamkapsel125 und luxuriösen Westen-Oberteilen das Relikt eines adligen Zeremonienkörpers bewahrte, zum athletischen Träger romantischer Ballerinen herabgesunken, der die ›Grazie eines Grafen mit der Geschicklichkeit eines Affen‹126 verband, so verweigerte der neue Prototyp des jugendlichen Tänzers, ›halb Nonne, halb Boxer‹ (Chaplin), trotz seiner eminenten Sportlichkeit nunmehr seine Hebefunktion. Mit Vaslav Nijinsky, dem Star der an die modernistische Ästhetik anschließenden Ballets Russes, hatte die exotische Animalität eines slawischen Jungen, der außerhalb der Bühne zum tumben Parsifal wurde, die mumifizierte Ballerina in ihren Puppenrollen127 übertrumpft. Im Geist der Rose (1911) schwebt statt der Sylphide eine männliche Elfe durchs Fenster, mit einem Jugendstil-Kostüm aus stilisierten Rosenblättern und jungmädchenhaft geschminktem Gesicht. Der spätere Wahnsinn des genialischen Choreographen, der mit dem Ballettcode brach, ohne

torischen Genese des Konzepts männlicher Geschlechtsidentität«, in: H. Bublitz (Hg.), Das Geschlecht, S. 95-119. 124. Vgl. literaturhistorisch für den französischen Raum Annelise Maugue: L’identité masculine en crise au tournant du siècle, Paris 1987; kulturhistorisch z.B. Elisabeth Badinter: XY. Die Identität des Mannes, München 1993, oder George L. Mosse: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt/Main 1997. 125. Unter Lacan’schen Vorzeichen verleiht Jean-Thierry Maertens der vorgetäuschten Dauer-Erektion der Schamkapsel (braguette, cod-piece) einen geschlechtersegregativen, homosozialen Sinn: »Transformé en phallus par l’étui qui l’érige, le pénis devient monosexuel, ›hommo-sexuel‹ […] dans la mesure où il n’a plus besoin du corps de l’épouse pour s’ériger […] la culture […] ne tolère la circulation en elle que du seul désir mâle« (Dans la peau des autres. Essai d’anthropologie des inscriptions vestimentaires, Paris 1978, S. 17). Der bürgerliche Code habe dieses Relikt abgeschafft und die männliche Kleidung durch andere Zeichen, etwa die Krawatte, phallisiert. Auf weiblicher Seite entspräche der Gürtel, in der Wespentaille der Ballerina ins Fleisch eingeschrieben, phallischer Ambivalenz als »parure et barrure« (S. 21). 126. So noch Tschaikowsky spöttisch, zit. in: Marius Petipa (1904): Mémoires. Traduit du russe et complétés par Galia Ackerman et Pierre Lorrain, Avignon 1990, S. 118. 127. Im Gegensatz zu Délibes’ Coppélia (1870), wo es, frei nach E. T. A. Hoffmanns ›Sandmann‹-Erzählung, um den weiblichen Automaten der Romantik geht, tritt Nijinsky in Petruschka (1911) als eine traurige männliche Puppe auf, der die dumme Ballerina einen Mohren vorzieht, – ein parabolisches Commedia dell’arte-Melodram. 267

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der historistischen Antikisierung oder dem Gefühlskult der zeitgenössischen Tanz-Revolution zu verfallen, trug nachträglich zur enormen Wirkung der durch ihn plakatierten Wende bei, zumal die zunächst in Paris gastierende Truppe unter der Leitung Sergej Diaghilevs, Nijinskys Liebhabers, ein Gesamtkunstwerk intendierte, an dem die damalige Avantgarde (Debussy, Cocteau, usw.) beteiligt war. Die ästhetische Schockwirkung von Nijinskys Nachmittag eines Fauns (1912) lag darin, dass das strenge, reliefartige Tableau einer ›uralten bukolischen Situation‹ (Hofmannsthal) jegliche Plastizität, aber weitgehend auch Mobilität vermied und das Menschliche für damalige Begriffe provozierend verfremdete.128 Der moralische Skandal, den eine laszive Geste des Fauns mit einem Schleier ausgelöst hatte, zeigt an, dass die hermetische Innovation, zumal in der Personalunion von gefeiertem Tänzer und verfemtem Schöpfer, vielleicht auch zum Indiz eines neuen männlichen Selbstbezugs wurde.129 Die typenbildende Matrix des Phänomens Nijinsky bestand aus einer juvenilen Feminisierung des Maskulinen. Der ›vice plastique‹ (Joséphin Péladan) des wieder zum Epheben gewordenen Engels130 lag nämlich in der Ausstellung des weiblichen, d.h. imaginären Charakters männlicher ›Parade‹, die als bloßer Geschlechtseffekt ausgerechnet in jenem historischen Moment zum sichtbaren Gegenstück weiblicher ›Maskerade‹131 wurde, als die individuelle und kollektive Identität des Männlichen bedroht war. Insofern spielt die Nijinsky nachgesagte »Verhöhnung der Schwerkraft« auch auf narzisstische Schlachtfelder an. Die vitalistische Erotisierung des Maskulinen, eine Antwort auf die inzwischen erlahmende Frauenbewegung, setzte sich im neusachlichen Sportlertypus des hübschen Kerls (à la Serge Lifar) fort, der in der Ära der Autos und Aeroplane als Tennis-

128. Vgl. Jean-Michel Nectoux u.a.: Mallarmé-Debussy-Nijinsky-de Meyer. Nachmittag eines Fauns. Dokumentation einer legendären Choreographie, München 1989; Françoise Stanciu-Reiss/Jean-Michel Pourvoyeur (Hg.), Ecrits sur Nijinsky, Paris 1992. 129. Dies verweist vielleicht auf die einsamen männlichen Magier- und Visionär-Gestalten, von Joséphin Péladan und Stefan George über Leo Tolstoi bis hin zum ›misogynen‹ Pamphletisten und Geschlechterphilosophen Otto Weininger. Zum ›maskulinistischen‹ Zeitgeist vgl. Jacques Le Rider: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus, Wien, München 1985. 130. Der französische Dekadenz-Literat Joséphin Sâr Péladan hält in seiner okkultistisch platonisierenden und wagnerianisierenden Androgynie-Theorie (De l’androgyne, Paris 1910) den Engel für einen christianisierten Epheben. 131. Vgl. Jacques Lacan: »Die Bedeutung des Phallus«, in: Schriften II. Hg. von Norbert Haas, Olten, Freiburg i.Br. 1975, S. 119-133. Wird bei Lacan Maskerade bekanntlich zur Metapher dafür, dass es ein Sein der Geschlechter nicht gibt, sondern nur den Schein des Phallus-Habens oder Phallus-Seins, scheint das Reale der Körper-Kunst einer imaginären Re-Symmetrisierung der tiefenstrukturellen Asymmetrie dienlich zu sein. 268

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spieler oder Schwimmer132 brillierte, um in den 30er Jahren heldisch remythisiert zu werden (Ikarus, Apoll, etc.) oder, besonders in den USA, realistische Gegenwartsrollen (Matrosen, Cowboys, Tankwarte, etc.) zu tanzen. Drohten inhaltsfixierte Tendenzen des Balletts traditionelle Geschlechterstereotypen, die in der Kultur der 20er Jahre ins Wanken geraten waren133, wiederaufleben zu lassen, so sorgte der Repräsentationsverzicht der abstrakten Neoklassik134 langfristig für eine gegenläufige Nivellierung der Geschlechterspannung.135 Doch auch nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs verpflichtete sich ein existentialistisch gezeichneter ›angry young man‹ noch immer auf seine männliche Echtheit, die, wie in Cocteaus allegorischer Kreation Le jeune homme et la mort (1946)136, wieder mit moralischer Integrität in Einklang stand. Der Widerstandskämpfer Jean Babilée, für den diese akrobatische Rolle geschrieben war, schminkte sich nicht mehr, um auf der Bühne sein wahres Gesicht zu zeigen, und im Privatleben fährt er noch heute am liebsten Motorrad.137 Trotz der nachhaltigen Virilisierung des Tänzer-Images durch eine Versportlichung, die sich in den Zeiten des Kalten Krieges auch am technischen Vorbild sowjetischer Muskelprotze138 orientierte139, wurde die wachsende soziale Anerken-

132. So noch in einer Schöpfung Nijinskys (Jeux, 1913) und später in der Choreographie seiner Schwester Bronislawa Le train bleu (1924), die sich programmatisch auf die technologische Revolution der Transportmittel bezieht. 133. Bronislawa Nijinska hat etwa mit der ›Matrosen-Pagen-Dame‹ in Les Biches (1924) der ›New Woman‹ erstes Profil gegeben. 134. Etwa vom ›sinfonischen‹ oder ›absoluten‹ Ballett Massines und Balanchines bis hin zu William Forsythes postmodernen Dekonstruktionen. Wie man z.B. bei John Cranko, John Neumeier oder Mats Ek (Dornröschen, 1996) sieht, haben sich abstrakte und figurative Strömungen inzwischen nachhaltig beeinflusst. Tatiana Gsovsky betrachtete den klassischen und den modernen Stil als zwei Parallelen, die sich nicht treffen, aber befruchten. Vgl. Hartmut Regitz (Hg.), Tanz in Deutschland. Ballett seit 1945. Eine Situationsbeschreibung, Berlin 1984. 135. Formal z.B. auf dem Wege steter Rekonfigurationen, wie bei Balanchine oder als Auflösung klassischer Bewegungen usw. 136. Ein junger Maler erhängt sich aus enttäuschter Liebe in seiner Pariser Dachwohnung; der Tod ist eine schöne Frau. Doch die Verfremdung des Schubert-Titels (Der Tod und das Mädchen) verweist auf die verschobenen Geschlechter-Akzente im Ballett des 20. Jahrhunderts. 137. Sarah Clair: Jean Babilée ou la danse buissonnière, Paris 1995, S. 67f., 91, 148; ganz ähnlich ›natürlich‹ gibt sich der heutige männliche Star der Pariser Oper, der sich übrigens auch im Gespräch mit Babilée filmen ließ. Vgl. die arte-Fernsehdokumentation Nicolas Le Riche. Porträt des Startänzers von Jérôme Laperroussaz (1997), ausgestrahlt am 11. März 1998. 138. Die Tanz-Experimente der 20er Jahre waren seit Beginn der stalinistischen 269

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nung des Berufstänzers wieder mit einer gewissen Feminisierung erkauft. Ausgerechnet seine tuntige Exzentrik ließ den russischen Dissidenten Rudolf Nurejev, der weibliche Schritte imitierte140 und, im Gegensatz zu Nijinsky, auch in der Öffentlichkeit Make-up, Schmuck, Glitzerkleidung oder Leopardenfell trug, zu einem Pop-Star des Balletts werden, dessen androgyne Ausstrahlung, in Verbindung mit verheimlichter Homosexualität, auf jene Figur un-markierter Travestie hindeutet, die Marjorie Garber als »male impersonating«, Männer-Darstellung durch Männer, bezeichnet hat, »at once feminized and hypermale«.141 Ist beim modernen Ballerino also jene perverse Dynamik am Werk, die Feminisierung anzeigt, indem sie sie maskiert? Potenzierter Parade entspräche jedenfalls ›Rudis‹ massenmedial beförderte Romanze mit seiner älteren Partnerin Margot Fonteyn. Die Endlos-Story einer fabulösen Paarung zwischen Prinzessin und Panthertier, die den ästhetischen Rückschritt einer konservativen Ballettform zum massenmedialen Illusionstheater besiegelte, fiel mit modischen Unisex-Trends zusammen, deren anorektischer Kindfrau-Typus (à la ›Twiggy‹) in den ›Baby-Ballerinen‹ der Avantgarde142 vorgezeichnet schien. Aber erst »in modernen Choreographien«, die ihn »im schlichten Trikot präsentieren«, erscheint jener verwirrende »Ballerinandrogyn«143, der die zwillingshafte Anähnelung geschlechtlicher Silhouetten demonstriert.144 In

Ära in Konventionalismus oder sozialistischem Realismus (heroische Themen, populistische Folklore) erstickt. 139. So sehr das zaristische Russland die Ballerina vergöttert hatte (Lenin hielt seine erste Rede vom Palast der Matilda Kschessinskaja aus!), so sehr wurde dem russischen Export, bis hin zur sowjetischen Tänzer-Dissidenz, revirilisierende Kraft zugesprochen. Nikolaus Legat (1869-1937) soll, als Vorläufer von Michail Fokin, Adolphe Bolm und Nijinsky, dem männlichen Tänzer, der sonst nur noch in der dänischen Tradition Auguste Bournonvilles eine Enklave fand, zum Durchbruch verholfen haben. 140. »Nurejev extended male roles or took over females roles by performing filigrane steps, adagio and unison dances.« (J. L. Hanna: Dance, S. 218) 141. Marjorie Garber: Vested Interests. Cross Dressing & Cultural Anxiety, New York 1992, S. 360f. Rudolph Valentino, der ›Latin lover‹, den Rudolf Nurejev, als Herrenimitator eines Herrenimitators, in einem Film von Ken Russell (USA 1978) spielte, ist Garbers Beispiel für diesen kulturhistorisch wie psychoanalytisch interessanten Umschlag übertriebener Virilität ins Feminine. 142. Es handelt sich um Tamara Toumanova, Irina Baronova und Tatiana Riabouchinska. Schon 1936 stellt man fest, dass die Tänzerinnen immer jünger werden und keine kapriziösen Diven mehr sind, sondern vom Choreographen formbare Starlets, was an die Traumfabrik Hollywood gemahnt. Vgl. Caryl Brahms (Hg.), Footnotes to the Ballet. A book for Balletomanes, London 1947, S. 59. 143. V. Lorenz: Prima Ballerina, S. 116. 144. Auch technisch haben sich die Geschlechter angeglichen: Während Ballerinen 270

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diesem vermeintlichen »Spiel des Mannes mit seinem Spiegelbild«145 signiert ein ›body-stocking‹146, als Körper-Etui kurz body genannt, einen phalli(zisti)schen Narzissmus, von dem man sich fragen kann, ob er für beide Geschlechter dasselbe bedeutet. Denn müsste man die Weiblichkeit einer Frau nicht von jener eines Mannes unterscheiden?147 (Post)Moderne Choreographen gehen in ihren Geschlechtertausch-Phantasien meist von einer Logik des Gleichen aus, die sexuelle wie tänzerische Positionen für umkehrbar hält. So ließ schon Balanchine die Protagonistin von La Somnambula den erschlagenen Poeten in Pietà-Haltung tragen, während Patrick Dupond in Maurice Béjarts Salomé (1986) eine Ballerina imitierte. Bei Douglas Dunn (Game Tree, 1981) verbinden sich geschlechtsneutral wirkende Tänzer und Tänzerinnen zu homo- und heterosexuellen Paaren148, während Béjarts Adaption von Antonin Artauds kaleidoskopischem Roman Heliogabal den Rollenwechsel bis zur völligen Konfusion treibt.149 Aber auch in jenen ästhetischen Experimenten, wo Darstellung und Dargestelltes ineinander übergehen, scheinen geschlechtliche Konnotationen nicht ganz aufgehoben, bühnenfiktive Effekte durch bühnenreale verstärkt oder konterkariert werden zu können. Wenn in den 70er Jahren, nicht zuletzt unter dem Einfluss politischer Bewegungen, ›sex- and gender-scriptings‹ parodiert und Partnerkonventionen auf den Kopf gestellt wurden150, so dass Tänzerinnen sogar Tänzer auf den Arm nehmen durften und dies wie ein Echo auf Damenimitatoren im Tutu wirkte, wurde die Angleichung der BallettGeschlechter damit grotesk übertrumpft. Erscheint potenzierte Travestie inzwischen ästhetisch abgenutzt151, trägt zum Pathos des Geschlechtslosen noch immer jenes troubadourische Ritual des ›Pas de

wie Maja Plissezkaja in Männerklassen üben, überholen Tänzer sie auf weiblichem Terrain und »lift their legs higher in extensions, stretch more, and turn with the foot at the knee rather than at the ankle« (J. L. Hanna: Dance, S. 176). 145. V. Lorenz: Prima Ballerina, S. 116. 146. »Balanchine opted to approximate the body by body leotards«, »closing his dancers in music, gesture, locomotion« (J. L. Hanna: Dance, S. 223). 147. J. Kristeva (Histoires, S. 71) trennt eine Figur der ›Bisexualität‹, die jedes Geschlecht asymmetrisch verdoppelt, von der ›hom(m)osexuellen‹ Ökonomie der ›Androgynie‹, die einer Perversion auf der Grenze zur Psychose gleichkäme. 148. Sämtliche Beispiele nach J. L. Hanna: Dance, Kap. III und IV. 149. M. Béjart: Un instant, S. 264. 150. So Jiri Kylian in Symphony D oder Bill T. Jones in seiner Parodie von Balanchines Serenade (1934) mit dem Titel How to Walk an Elephant (1985). 151. Man denke nur an das Victor-Victoria-Remake oder gewisse neuere Fernseh-Serien wie Ein Mann steht seine Frau (Sat 1, 1997). 271

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deux‹152 bei, das Sexualität in akrobatischen Posituren, wo sich intimste Nähe153 mit Unberührbarkeit154 begegnet, idealträchtig in der Schwebe hält.155 Dadurch erlangt die tänzerische Interaktion der Geschlechter einen dem schwulen Camp-Geschmack156 entgegenkommenden Als ob-Charakter, der die strukturelle Asymmetrie des Begehrens ebenso betont wie die narzisstischen Drahtseilakte der Liebe.

TraumtänzerInnen: Askese und Obsession Wähnte Max Terpis schon 1946, dass »sich bei der Gilde der Tänzer die üblichen charakteristischen Eigenschaften von Mann und Frau nicht nur […] verwischen, sondern […] in ihr Gegenteil verkehren können«, d.h. »der Tänzer feminin« und »die Tänzerin maskulin«157 zu werden drohe, ging es ihm dabei nicht mehr um theatralischen Rollentausch, sondern um die psychischen Folgen eines Berufes und seines Milieus. Wenn Ninette de Valois, die Ex- Direktorin des britischen Royal Ballet, Tanzschüler noch in den 60er Jahren bemitleidet, weil sie sich gegen ihren Ruf als verzärtelte Weichlinge wehren müssten158, entspricht das Bild des Muttersöhnchens zwar nicht unbedingt der sozialisatorischen

152. Obwohl der romantische Pas de deux die männliche Anbetung, z.B. in der Kniefall-Pose, evoziert, lässt er manchmal auch an ein ›male mothering‹ denken, zumal es gewöhnlich die Ballerina ist, die vom Tänzer, zuweilen wie ein Kind, in den Armen getragen wird. 153. »Es war wirklich so, dass man den Schritt des anderen im Gesicht hatte«. Silvia Wintergrün, in: Götz Hellriegel (Hg.), Traum-Tänzer. 13 Lebensberichte aufgezeichnet von Götz Hellriegel, Berlin 1994, S. 48. 154. »Pas de deux zu tanzen« sei »völlig unerotisch«, behauptet die eine (S. Wintergrün, in: G. Hellriegel: Traum Tänzer, S. 48), von Erotik nicht zu trennen, der andere (Rudolf Himmel, in: ebd., S. 79; Stefan Lux, in: ebd., S. 115). Die dritte widerspricht sich: »Wobei mir der Partner relativ egal war […]. Abgesehen davon, himmelte ich ihn natürlich an« (Ursula Funck, in: ebd., S. 66). 155. Annäherung und Umarmung würden von den Tänzerinnen entweder als »refined love affair« oder mit Gleichgültigkeit erlebt (J. L. Hanna: Dance, S. 167). 156. Dort wird Ballett manchmal nach sehr heterokliten Kriterien als ›campy‹ betrachtet, »in that it uses dance to imitate speech«, »by the drove«, »its artificiality«, »the sexual ambiguities of dancers’ narcissism« usw., in: Philip Core: Camp. The Lie that Tells the Truth, London 1984, S. 25. 157. M. Terpis: Tanz, S. 17. 158. M. Clarke/C. Crisp: Tänzer, S. 160. Im konservativen England bestanden nach dem Krieg noch hartnäckige Vorurteile gegen Tänzer, bis zum ersten Besuch des Bolschoi-Theaters (1956), wie es heißt. 272

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Realität, aber einem femininen Psychogramm, das neben extremem Ehrgeiz und körperbezogenem Narzissmus auch den Masochismus und die Affektbetontheit von Tänzern hervorhebt. Für Balanchine, den Apologeten des Frauendienstes159, steht das Gefühl160, das der mönchische Don Juan Leonid Massine nie zeigt161, ebenso im Zentrum wie für Béjart162, der Androgynie gleichsam als neoplatonische Ein(s)Fühlung propagiert, wenn auch mit homoerotischen Untertönen.163 Psychoanalytisch aber ließe sich die Künstlern seit der Romantik zugeschriebene feminine Sensibilität als Symptom einer neurotischen oder perversen Subjektstruktur begreifen, was (auto-)biographische Hinweise auf anorektische oder autistische Züge zu bestätigen scheinen. Durch einen Unfall monatelang bewegungslos ans Bett gefesselt, verweigerte sich Jean Babilée als kleiner Junge verbaler Kommunikation, während er mit aller Gewalt aus seinem ›fragilen‹ einen ›agilen Körper‹164 zu machen versuchte, dem er später den Sieg über sich selbst zuschrieb.165 Die frühe Kindheit introvertierter Einzelgänger166, die sich manchmal als Mädchen verkleiden oder gar fühlen167,

159. Balanchine, zit. in: B. Taper: Balanchine, S. 263: »[…] woman is always the inspiration […] woman takes care of the soul […] men should be busy serving her«. 160. George Balanchine: Schlaflose Nächte mit Tschaikowsky. Das Leben Balanchines in Gesprächen mit Solomon Volkov, Weinheim, Berlin 1994, S. 124. 161. Vgl. Vincente García-Marquez: Massine. A Biography, New York 1995. Dieser russische Tänzer-Choreograph, der Diaghilevs Liebling wurde, war, vielleicht aufgrund seiner päderastischen Anfänge, auf Virilität bedacht, ernst, reserviert und unerreichbar (S. 188, 221), aber plötzlichen Launen unterworfen: »one moment a monk, the next a monkey« (S. 317). »He never showed emotion« (S. 322). 162. Er stellt die für den Tanz unabdingbaren Affekte der Narration gegenüber: »Les émotions me passionnent beaucoup plus que les histoires« (M. Béjart: Un instant, S. 60). 163. »L’aimée en l’aimé transformé« (zitiert in: ebd., S. 174). 164. Z.B. durch halsbrecherische Kletterei über Hausdächer (S. Clair: Jean Babilée, S. 39), wobei jemand, der sich immer schon bestraft fühlt (S. 25), die Gefahrensituationen sucht. Auch Béjart kam durch körperliches (Rücken-)Leiden zum Ballett: »J’aime les corps et je les montre« (M. Béjart: Un instant, S. 59). 165. »La parole n’est pas son langage« (S. Clair: Jean Babilée, S. 122), aber »mon corps s’est bien débrouillé« (S. 146). Der Körper, diese Obsession, wird zum (fremden) Herrn des Subjekts: »Mon corps s’est mis à bouger et je l’ai laissé faire« (S. 144). 166. Michail Baryschnikow verallgemeinert dies zum Charakterzug von Tänzern: »the classical dancer […] is always a loner, […] self-involved« (zit. in: Barbara Aria: The Mikhail Baryshnikov Story. New York 1989, S. 163. Vgl. S. 181). 167. Der Tatar Nurejev, der in ›weiblichem Milieu‹ aufwuchs, musste aus Armut angeblich die Kleider seiner Schwestern auftragen und imitierte während seiner Schulzeit 273

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weist häufig familiäre Extreme oder Defizite auf. So entspricht den symbiotischen ›Ballettmüttern‹168, die ihre Töchter erbarmungslos antreiben, auf Sohnesseite ein abwesender169 oder schwacher Vater, der unter Umständen eine weibliche Rolle übernimmt. Roland Petit schildert seinen von der Gattin verlassenen Erzeuger als ›traurigen Bären‹170, dessen heimliche Wunde(n)171 den Sprössling, der sich gerne von ihm bemuttern lässt172, stärker beeindrucken als die zur Schau gestellte Männlichkeit. Das Phantasma väterlicher Kastration, das mitunter bis zum bewussten Inzestwunsch173 führt, signalisiert eine Reduktion des symbolischen Vaters auf den imaginären174, die sich auch im narzisstischen Androgynie-Ideal niederschlägt. Während schwule Tänzer ihre Liebe zum Gleichen unterstreichen175, verteidigen frauenlie-

ständig weibliche Schritte (O. Stuart: Nurejew, S. 40ff.). Aus dem Tagebuch einer späteren Mann-zu-Frau-Transsexuellen geht hervor, dass sie als Junge durchs Ballett fasziniert war: Kim Harlow/Bettina Rheims: Kim, München 1994. 168. So bei Anna Pawlowa, Bronislawa Nijinska, Nina Tikanova, Margot Fonteyn, Gelsey Kirkland oder Toni Bentley. Vgl. die Klage bei Klaus Geitel: Stars auf Spitze. Primaballerinen von heute, Berlin 1963, S. 5ff. 169. So bei Vaslav Nijinsky und Rudolf Nurejev sowie, frühe exilbedingte Eltern-Absenz bei Leonid Massine, Georges Balanchine und Serge Lifar. Baryschnikow, dessen Vater distanziert und autoritär war, verlor seine Mutter in jungen Jahren durch Selbstmord. Das Trauma, das für ihn daraus erwächst, steigert sich in der biographischen Legende durch die Identifikation mit der (toten) Mutter: »He loved her quickness and her sense of fantasy. She was very physical, and so was he« (B. Aria: The Mikhail, S. 8). 170. Roland Petit: J’ai dansé sur les flots, Paris 1993, S. 77f.: »un ogre […], fort et un peu trop viril«, »un ours mal léché«. 171. Kriegswunden versinnbildlichen die ›Herzenswunde‹ (ebd., S. 273). 172. »Un soir, mon père décida de remplacer ma mère. […] Il me prit dans ses bras, et m’amena dans le grand lit conjugal pour me cajoler et me bercer. J’étais blotti dans les gros bras velus de l’ogre […], il me chantait des berceuses« (ebd., S. 289f.). 173. So bei Béjart, der als kleiner Junger kurz nach dem Tod seiner Mutter starke erotische Gefühle für seinen Vater empfand, als er mit ihm das Bett teilte, »des sensations érotiques dont j’enjolivais la violence« (M. Béjart, Un instant S. 180). Von seinem Vater für ›hyper-emotiv‹ erachtet, macht der Sohn aus (s)einem Affekt das Gesetz: »L’émotion est première.« (S. 92) 174. Auch dafür gibt es massive Anzeichen im (auto)biographischen Material: Balanchine, der sich explizit mit dem Komponisten Tschaikowsky identifizierte, dessen Leben er in seinem wieder(v)erkennt, betrachtet ihn als Ersatzvater (G. Balanchine: Schlaflose Nächte, S. 30). Vgl. zum psychoanalytischen Hintergrund dieser epochalen Reduktion z.B. Moustafa Safouan: Etudes sur l’Œdipe, Paris 1974. 175. So etwa Béjart, der Männer liebt, aber nur (als) Tänzer: »Je ne pourrais pas aimer en dehors de mon métier. Dans l’amour, j’aime m’identifier« (M. Béjart: Un instant, S. 180). 274

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BALLERINA/BALLERINO. ANDROGYNIE IM BALLETT

bende jungfräuliche Reinheit: »eine echte Ballerina […] denkt nicht an Sex – nicht auf der Bühne und nicht im Privatleben.«176 Balanchine, der Tänzerinnen wie Valéry mit edlen Rennpferden verglich, wehrt sich lapidar gegen Mutterschaft: »Any woman can become a mother but not […] a ballerina.«177 Roland Petit, ohnehin ›geschorene Schwäne‹ bevorzugend178, hat die modernisierte Vision einer tanzenden Knäbin geschaffen. Mit Kurzhaarschnitt »schön wie ein junger Gott«179, wird die auch in Musicals auftretende Zizi Jeanmaire zum »petit garçon de charme, […] Valentino androgyne«.180 Béjart, der lieber DEN »Mann seiner Epoche« feiert181, sekundiert ihn durch eine »femme-enfant cocasse et pathétique«182, eine Art von »mysterisch[er]« Kindfrau.183 Autobiographisch wie literarisch wird die entthronte Ballerina zu einer einsamen Figur, die sich viel pointierter als ihre männlichen Kollegen durch die ›Bereitschaft zum ungelebten Leben‹184 auszeichnet. In krassem Gegensatz zu den selbstbewussten Herrinnen des Modern Dance oder den gesellschaftskritischen Initiatorinnen des neueren Tanztheaters, trägt diese »Abstraktion der Frau«185 neurotische Stigmata. ›Giselle‹ erscheint privat als kokainabhängige Magersüchtige wie Gelsey Kirkland186, die ›Schwanenkönigin‹ als depressiver ›borderline case‹ wie im Krisentagebuch der Balanchine-Elevin Toni Bentley.187 Moderne Erzählprosa verdunkelt das melancholische Bild kompensato-

176. G. Balanchine: Schlaflose Nächte, S. 128. 177. Zitiert in: B. Taper: Balanchine, S. 213. 178. Petit hasst (lange) Tutus ebensosehr wie Béjart und hat »la vision dantesque de danseuses en tutu, les cheveux tondus« (R. Petit: J’ai dansé, S. 113). 179. Ebd., S. 90f. 180. Ebd., S., 248. 181. Schreibt Nijinsky im Wahn einen Brief an den Mann, mit dem alle und jede(r) gemeint sein könnte, korrigiert sich Béjart noch selbst: »j’avais parlé de l’Homme (sans doute pas de l’homme abstrait […] ni […] invisible […] mais l’homme de mon époque), j’avais fait vivre cet homme, je l’avais simplifié et incarné« (M. Béjart: Un instant, S. 85). 182. Ebd., S. 198. 183. Die das Mysterium der Hysterie im Namen trägt, so V. Lorenz: Prima Ballerina, S. 125. 184. So ein Untertitel in K. V. Prinz zu Wied: Königinnen. 185. H. Müller: »Von der äußeren«, S. 295. 186. Vgl. Gelsey Kirkland (with Greg Lawrence): Dancing on my Grave. The FairyTale Success Story that Became a Living Nightmare, New York 1992. Das Dilemma wird mit ihrer Kindheits-Traumata verstärkenden konfliktuösen Beziehung zu Mikhail Baryschnikow begründet. 187. Toni Bentley: Tanzen ist beinahe alles. Selbstporträt einer Tänzerin aus dem New York City Ballet, Reinbek bei Hamburg 1983. 275

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ÜBER DIE GRENZE

rischer Selbstversklavung188 sogar bis zur Depression: »[…] in ihrer Seele gingen Regengüsse nieder und so war sie redlich verrostet und verstimmt.«189 Bringt sich Alfred Döblins lieblose Tänzerin im Kampf gegen ihren Körper um, weil sie als Kranke keine Macht mehr über ihn hat190, ist eine »Spröde«, für die im Ballett die »einzige Möglichkeit ihrer Wollust« liegt, bei Max Frisch bereits zu einem »Fall hochgradiger Frigidität«191 geworden. Günter Grass, der sie als »Bildchen« vor die Augen eines Poeten stellt, verleiht ihr ironisch Patina: »Ihr Körper, dieser dem leicht hysterischen Weinen nahe Auswuchs gequälter, auswärtsgedrehter Schönheit, bleibt, sobald sie mit winzigen pas de courus aus der Kulisse entlassen, ihr einziges Requisit. Einsam zeichnet sie ihre Figuren und erreicht zwischen der dritten und vierten Pirouette jenen Grad der Verlassenheit, den selbst das deutscheste Dichterlein nicht erreicht.«192 Warum aber lebt die Ballerina, »einer Nonne gleich, allen Verführungen ausgesetzt, im Zustand strengster Askese«? So sehr die ›versteinerte Mechanik‹ (Arnold Schönberg) des Balletts ästhetischer Formvollendung dient193, fragt es sich doch, was denn »die Ballerina, dieses empfindliche, im Alltag fast ein wenig fade Wesen«, dazu drängt, sich so gehorsam »an die Stange zu stellen«.194 Will man den Antrieb für diese »Strenge«, diese »totale Disziplin«195 nicht psychologistisch in

188. Mary Wigmans Verdikt über die perfektionistische Anna Pawlowa lautete, dass sie den Tod tanze. Nina Tikanowa, noch in Nijinskas revolutionärer Truppe tätig, bleibt ledig. Galina Ulanowa, sowjetischer Bolschoi-Stern, lebt klösterlich zurückgezogen. Sogar Margot Fonteyn klagt über die eigene Kälte und Leere. In den Selbstzeugnissen gescheiterter Tänzer und Tänzerinnen wiederholt sich das Lamento: Ängste, Zwänge, Zusammenbrüche als Folgen von monomanischem Ehrgeiz, asketischer Selbstdisziplinierung und narzisstischer Weltflucht. Vgl. die Berichte in G. Hellriegel (Hg.), Traum-Tänzer. 189. So Max Brod in einer parabolischen Kurznovelle (»Das Ballettmädchen«) über die unglückliche Verbindung zwischen einem jungen Großkaufmann und einem Ballettmädel, in der die Sinn- und Gestaltlosigkeit des chaotischen Tanzes der zweckrationalen Wirtschaftsökonomie opponiert (in: G. Brandstetter: Aufforderung, S. 174-186). 190. Alfred Döblin: »Die Tänzerin und der Leib«, in: ebd., S. 121-126. 191. Max Frisch: »Julika und das Ballett«, in: ebd., S. 126-139, hier: S. 127. 192. G. Grass: Die Ballerina, S. 147. 193. Ebd., S. 150. Nur die »Ehe« von »Marionette« und »Ballerina«, die Schönheit durch Zwang gebiert, bringe die »große, ganz und gar künstliche Puppe« (S. 155) hervor, beiläufige Metapher der modernistischen Konzeption eines in seiner Geschlechtsneutralität androgynen Schaffens, etwa bei Djuna Barnes. 194. G. Grass: Die Ballerina, S. 154. 195. S. Wintergrün, in: G. Hellriegel (Hg.), Traum-Tänzer, S. 49. 276

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BALLERINA/BALLERINO. ANDROGYNIE IM BALLETT

frühkindlichen Identifizierungen196 sehen, könnte man ihn vielleicht in jener obsessionellen Subjektstruktur entdecken, die einer Mortifizierung gleichkommt. Wenn Lacan sagt, dass der Zwangsneurotiker die hegelsche Herr/Knecht-Dialektik noch übertreibt, indem er, statt zu kämpfen, auf den Tod seines Meisters wartet, um leben zu können197, fügt sich das biographisch beschworene Dilemma tänzerischen Lebensaufschubs ebenso in dieses Szenario wie das zu erleidende Sisyphos-Training. Nach Lacan gleicht der Obsessive einem Schauspieler, der sich tot stellt, um mit größter Disziplin seine Unverwundbarkeit zu zeigen. Dem Begehren des Anderen nie begegnet, befindet er sich gleichsam in einer öden, allein vom Gesetz ewiger Wiederholung regierten Welt, deren Rituale er erotisiert. Wurde die zwangsneurotische Position orthodox eher der männlichen zugeordnet, wäre sie im tanzhistorischen und (auto-)biographischen Diskurs198 dieses Jahrhunderts vor allem den »Balletteusen« assoziierbar, von denen es nur ›ein kleiner Schritt bis zu Maschine‹199 sei. Schon in einer Novelle Max Brods kommt dem Protagonisten ein »Ballettmädchen« so »vollkommen leer« vor, dass es, – nichts erinnernd, bedauernd, erwartend – wie ein »unregelmäßiges Pendel hin- und herzuschwingen« schien, bewegt durch eine »Art von Ordnung und Gesetz«, die den »quecksilbernen Wahnsinn«200 sinnlosen Geplappers mit Schweigen skandiert. Aber gilt das Leben außerhalb der Sprache, unter dem die Ballerinen leiden, nicht ebenso für Ballerinos? Auf männlicher Seite wird die Darstellung von Askese, die sich auf weiblicher auch sexuelle Abweichung versagt201,

196. Nina Tikanova berichtet, stellvertretend für viele, von ihrem Wunsch, (wie) eine Fee zu werden, als einem Konversions-Erlebnis beim ersten Ballett-Besuch (La jeune fille en bleu. Pétersbourg – Berlin – Paris, Lausanne 1991, S. 15). 197. Jacques Lacan: »Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht«, in: Schriften I, S. 171-240, bes. S. 148, 160, 222. 198. Auffällige Spuren gibt es bei Kirkland, Bentley u.a. Ursula Funck, die eigentlich eine »Aversion gegen Sport« hatte, ging trotzdem ins Ballett: »Ich machte diesen Schritt, ohne groß darüber nachzudenken. Wie man in einem Tunnel eben immer weitergeht« (in: G. Hellriegel: Traum-Tänzer, S. 69). Désirée Nick, die immer für sich getanzt hat und nach dem Scheitern ihrer Karriere das Gefühl hat, »bei lebendigem Leibe begraben zu werden« (ebd., S. 97), wertet die Bluebell-Girls ab, mit denen sie nun ihr Geld verdient: Im ›Lido‹ seien »alle gleich. Jeder ist eine Null« (ebd., S. 102). Bei ihrer Mutter wieder im Kinderzimmer einquartiert, bringt die Regression sie an den Rand des Selbstmords: »Ich werde mir einbilden, tot zu sein, und mir mein Leben anschauen, als wäre es ein Film« (ebd., S. 103) Barbara Biedermann fühlt sich »ziemlich versteinert«: »Ich konnte nicht mehr lachen und nicht mehr weinen« (ebd., S. 120). 199. Egon Vietta, zitiert in: V. Lorenz: Prima Ballerina, S. 72. 200. M. Brod: »Das Ballettmädchen«, S. 176-178. 201. Lesbische Spuren fehlen in tanzhistorischen, autobiographischen und literari277

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ÜBER DIE GRENZE

durch Erotik und Perversion aufgelockert.202 Wenn sich Balletttänzerinnen einem sexualisierenden Blick203 ähnlich entschieden wie der Mutterschaft204 verweigern, verwirklichen sie jene Entweiblichung, die mit ihren romantischen Imagines begann und die sie äußerlich ja von Pin-ups oder Models unterscheidet. »Sehr dünn«, »ein Gerüst mit Muskeln«, aber »wie auf Wolken«205, neigt die entpersönlichte Ballerina206 zur Regression. Dem jugendlichen Körper, der schwer zu altern scheint, und der berufsbedingten Isolation207 entspricht ein naives Gemüt: »Wir leben nur, um zu tanzen. […] Bücher und Politik kommen schon gar nicht in Frage; Fernsehen und Film vielleicht. Aber schlimmer noch, wenn das pure Leben beginnt, dann müssen wir passen und ins Bett gehen.«208 Wenn die erotisierte Kindsbraut209, die in Frank Wedekinds Lulu-

schen Texten: »Lesbians in dance? […] not visible«, resümiert auch J. L. Hanna: Dance, S. 139), obwohl Anspielungen darauf in manchen Choreographien seit den 70er Jahren (z.B. Hans van Manen) gibt. Ties that Bind (1984) von Johanna Boyce baut explizit auf den Interviews mit zwei lesbischen Tänzerinnen auf, von denen die eine, Jenniffer Miller, als »naturally bearded« (J. L. Hanna: Dance, S. 212) gilt. 202. Wobei zu bedenken bliebe, dass die männliche Sexuierung (nach Lacan) bereits strukturell zur Perversität neigt, da sie ›den‹ Phallus in keiner Frau findet, weswegen ihn Schwule realiter beim Anderen suchen, und daher nach dem Prinzip ›eine nach der anderen‹ funktioniert. Insofern stehen bi- und homosexuelle Tänzer (Nijinsky, Massine, Lifar, Nurejew, Béjart/Donn usw.) ungewöhnlichen, meist mehrfach verehelichten ›Don Juans‹ gegenüber (Massine, Balanchine, Baryschnikow usw.). Während sich aber Lifar autobiographisch asexuell stilisiert (»a stranger to the pleasures of the bed«, in: Serge Lifer: Ma vie. From Kiev to Kiev. An Autobiography, London 1970, S. 122), wird Nurejew von seinen Biographen geradezu als sexuelle Bestie karikiert. 203. So Wintergrün: »Fleisch zeigen […]. Schon gar nicht oben ohne« (in: G. Hellriegel (Hg.), Traum Tänzer, S. 48). Maja Plissezkaja weigert sich, ihre nackte Brust filmen zu lassen (Ich, Maja. Die Primaballerina des Bolschoi-Theaters erzählt aus ihrem Leben zwischen Kunst und Politik, Bergisch Gladbach 1994, S. 251). 204. Von Margot Fonteyn bis zu Gelsey Kirkland gibt es dazu so explizite Aussagen wie bei Plissezkaja: »sollte ich vielleicht ein Kind zur Welt bringen und mich vom Ballett trennen? Das wäre schade gewesen« (ebd., S. 241). 205. Nick, in: G. Hellriegel (Hg.), Traum-Tänzer, S. 93. 206. So K. Geitel: Stars auf Spitze, S. 12ff. 207. Mit der Weltfremdheit und Unterwerfung (wie im Hochleistungs-Sport) gleichermaßen verbunden werden: »totales Kleinmachen, plötzlich war man wieder ein kleines Mädchen« (S. Wintergrün, in: G. Hellriegel: Traum-Tänzer, S. 49); »eine kleine Maschine sein«, »sie wollten einen […] brechen« (Sylvie Bertin, in: ebd., S. 172). 208. T. Bentley: Tanzen, S. 18f. 209. Vgl. Michael Wetzel: »›Le Nom/n de Mignon‹ – Der schöne Schein der Kinds278

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BALLERINA/BALLERINO. ANDROGYNIE IM BALLETT

Drama die Spaltung der romantischen Ballerina zitiert210, wieder zum entsexualisierten Mädchenpagen regrediert211, dann deshalb, weil bei der Infantilisierung des Weiblichen jene Pluralisierung am Werk ist, mit der auch das Verlangen erstirbt. Denn seit Frauen in die ›männlichen‹ Sphären von Universität, Berufsleben und Politik eingedrungen sind, stehen beide Geschlechter nunmehr, wie Friedrich Kittler es schön formuliert, auf beiden Seiten des Unterschieds und ergo bilden sie keinen mehr. Wenn der unmöglichen ›Funktion der Mutter‹, die den symbolischen Vaterverlust supplementiert(e), die romantisch gespaltene Ballerina entsprang, so hat die re-virilisierte Figur des modernen Ballerino deren fetischistische Ambivalenz nur um den Preis einer Asymmetrie vereinheitlicht, die die Struktur sexueller Positionen imaginär entstellt. Im körperlichen ›Aufschreibesystem‹ des Balletts steht der narzisstischen Hom(m)osexualität eines juvenilen effeminierten ›Herrenimitators‹ die sterile A-Sexualität eines ›ewigen Mädchens‹ gegenüber, das, ausgerechnet in der Vorstellung eines Tänzers von heute, wie eine Schneefrau in der Sonne schmilzt, bis es »nur noch […] flimmert wie ein Pfützchen«.212

bräute«, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.), Der Schein des Schönen, Göttingen 1989, S. 380-411. 210. »[…] in weißem Tüll zu körperlos/in rosa Tüll zu animalisch«, zitiert in: Ortrud Gutjahr: »Lulu als Prinzip. Verführte und Verführerin in der Literatur um 1900«, in: Irmgard Roebling (Hg.), Lulu, Lilith, Mona Lisa. Frauenbilder der Jahrhundertwende, Pfaffenweiler 1989, S. 45-77, hier: S. 65. 211. Nach Goethes typenbildender ›Mignon‹, dieser stummen Tanzpuppe. Vgl. dazu Jochen Hörisch: Gott, Geld und Glück. Zur Logik der Liebe in den Bildungsromanen Goethes, Kellers und Thomas Manns, Frankfurt/Main 1983, S. 30-103. 212. Stefan Lux (in: G. Hellriegel: Traum-Tänzer, S. 115), der von der Choreographie eines russischen Märchens (Das Schneemädchen) erzählt, das ihn sehr rührte. 279

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NIJINSKY, DER ›GOTT DES TANZES‹ ALS ›CLOWN GOTTES‹?

Nijinsky, der ›Gott des Tanzes‹ als ›Clown Gottes‹? Zur Geschichte eines homophilen Wieder(v)erkennens »Je prends toute ma force pour m’élever et ne m’occupe pas de la chute.« (Vaslav Nijinsky)1

Biographische Verführungen Leben und Werk von Vaslav Nijinsky (1889-1950), dieser absoluten Ikone des modernen Balletts, fügen sich scheinbar umstandslos der romantischen Mythe eines vermeintlich schmalen Grats zwischen Genie und Wahnsinn. Doch die während des Ausbruchs seiner Psychose verfassten Aufzeichnungen des weltberühmten russischen Tänzers, der am Anfang dieses Jahrhunderts auch choreographisch zu den Neuerungen der sensationellen Ballets Russes beitrug2, weisen den arg strapazierten Zusammenhang zwischen Seelenleid und Schaffenskraft als eine Spielart jenes Wahns der Vernunft aus, die ihn als ihr Anderes mitkonstituiert. Abgesehen davon, dass die These vom kreativen Irrsinn meist einer Ästhetik der Moderne verhaftet bleibt, unter deren Vorzeichen sich die Simulation realen Un-Sinns zu nobilitieren vermochte, schreibt sich die Figur einer Grenzüberschreitung zwischen Kunst und Verrücktheit in ein kulturelles Dispositiv ein, das den sozialhistorisch bedeutsamen Wechsel von einer traditionellen Ordnung exklusiver Binär-Oppositionen zum flexibleren Modell eines Kontinuums fließender Übergänge, eben auch zwischen Normalität und Anomalie, einbegreift. Obwohl sich dem gemäß auch im Wahnsinn kein

1. Zitiert in: Françoise Stanciu-Reiss/Jean-Michel Pourvoyeur (Hg.), Ecrits sur Nijinsky, Paris 1992, S. 175. 2. Vgl. Lynn Garafola: Diaghilev’s Ballets Russes, New York 1989; Claudia Jeschke/Ursel Berger/Birgit Zeidler (Hg.), Spiegelungen. Die Ballets Russes und die Künste, Berlin 1997. 281

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qualitativer Sprung mehr kundtut, sondern nur ein quantitativer Exzess, vermag die klinische Pathologie trotzdem nicht zu erklären, warum sich aus dem etwa stressbedingten ›Durchdrehen‹ sensibler Nerven3 jene ästhetischen Innovationen ergeben sollen, die die Produktion Geisteskranker zudem gar nicht immer hervorbringt.4 Die biographische Kommemoration des Phänomens Nijinsky stand bis jetzt im Zeichen eines Kunstmärtyriums, das für die Einzigartigkeit seiner Leistung mit dem Leben bezahlt. Starb nicht auch jener legendäre Tänzer, der die Ära des Ballerino einleitete und das bekannte Ballett Der Nachmittag eines Fauns (1912) kreierte, eine Art von psychischem Tod?5 Seine postum publizierten Tagebücher dokumentieren die innere Krise, die sein abrupter Rückzug von der Bühne anzeigte. Aber wären Nijinskys viel zitierte ideologische Anfälligkeit, seine quasi-autistische Introversion und skurrile Agitation nicht vielleicht bloß ein geschicktes Täuschungsmanöver?6 Die Annahme einer individuellen Wahlmöglichkeit ignoriert, dass das, was die wahnhafte Rede von anderen Wahrheitsdiskursen unterscheidet, kein rationaler, sondern ein symbolischer Kollaps ist. Aus der Sicht der Lacanschen Psychoanalyse ermangelt die psychotische Position nämlich zentraler Signifikanten, die das Delirium ersetzt. Indem es die Lücken auf dem Wege imaginärer Überflutung stopft, konstruiert es jene Neorealität, derer das Überleben bedarf.7 Nijinsky, für den sein Exil im Asyl endete, wurde meist als schizophren diagnostiziert.8 Doch die damals geprägte Kate-

3. Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997, insbesondere zum Fall Auguste Comte, S. 206-220. 4. Vgl. Leo Navratil: Schizophrenie und Kunst. Ein Beitrag zur Psychologie des Gestaltens, München 1968, 3. Aufl. 5. »[…] zehn Jahre Kind, zehn Jahre vielversprechender Jüngling, zehn Jahre Welttriumphe als Tänzer. Und dann der Tod – dreißig Jahre lang«, bilanziert ein Biograph in seinem Kompendium mit Lebensgeschichten berühmter Homosexueller und fügt larmoyant hinzu: »Ein Leben, das vielleicht glücklicher, wenn weniger glanzvoll und erfolgreich gewesen wäre«. Curt Riess: ›Auch Du, Cäsar ...‹ Homosexualität als Schicksal, München 1981, S. 339. 6. Man denke etwa an Pierre Bertaux’ Thesen über Hölderlins Wahnsinn als Maskierung seines Jakobinertums, die sich allerdings auf eine politische Werkinterpretation stützen können. 7. Vgl. Jacques Lacan (1955/1956): »Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht«, in: Schriften II. Hg. von Norbert Haas, Olten, Freiburg i.Br. 1975, S. 61-119. 8. Bis heute auch im journalistischen Echo. Vgl. z.B. Annette Bopp: »Ein Finale mit Geschichte. Abschluss-Gala der Ballett-Tage: Nijinskys letzte Choreographie«, in: die tageszeitung vom 27.6.1989. Die ältere charakterzentrierte Biographik nimmt es mit den pathographischen Termini indes nicht so genau. A. L. Rowse: Les homosexuels célèbres 282

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NIJINSKY, DER ›GOTT DES TANZES‹ ALS ›CLOWN GOTTES‹?

gorie des ›Spaltungs-Irreseins‹ (Bleuler 1911) beschreibt lediglich den potentiell paranoiden Zirkel der imaginären Ich-Struktur.9 Nijinskys Verstummen fiel auffälligerweise mit seiner plötzlichen Schreibmanie zusammen. Die Aufzeichnungen, die der Ex-Ballerino auf Russisch abfaßte, damit seine Frau sie nicht verstand, wirken wie ein kryptischer Monolog ohne Adresse. Wenn Krankheit aus den »kurzen, stakkatohaft gereihten«10 Behauptungen, die sich unablässig selber widersprechen, spräche, was könnte diese ›kranke Sprache‹ dann überhaupt noch mitteilen? Nijinskys seltsamer öffentlicher Abschiedstanz, den er seine ›Heirat mit Gott‹ genannt hat, mutet indes wie die Botschaft aus einem anderen, sprach-losen Medium an. Daher hätte Nijinskys Ausrasten womöglich doch mehr mit seinem Werk zu tun als man gemeinhin annimmt, wenn man die Ursachen für die Psychose ausschließlich im Privatleben, etwa im Scheitern der langjährigen homosexuellen Beziehung zu Sergej Diaghilev (1872-1929), dem Impresario der Ballets Russes, sucht. Die ältere Memoirenliteratur macht für die geistige Umnachtung nicht nur die ›slawische Seele‹ eines Tagträumers11, sondern auch das ›russische Temperament‹ seines tyrannischen Liebhabers12 verantwortlich. Im Stile anekdotischer Pathographie verbinden sich geläufige Dekadenz-Topoi mit charakterologischen Sentenzen. Die jüngere Biographik leitet Nijinskys Schicksal gerne vulgärpsychoanalytisch aus seinem Triebschicksal ab. Dabei kann der Fall Nijinsky paradoxerweise sowohl auf unterdrückte Heterosexualität, nämlich homosexuelle Verführung, als auch auf verdrängte Homosexualität, etwa im Sinne von Freuds perversionstheoretischer Deutung der Paranoia, zurückgeführt werden. Geflissentlich übersehen wird dabei die in Nijinskys Aufzeichnungen13 hervorstechende symptomatische Diskursver-

dans l’histoire, la littérature et les arts, Paris 1980, spricht etwa von Depression (S. 137). 9. Vgl. den Artikel »Psychose« in: Peter R. Hofstätter (Hg.), Psychologie. Das Fischer Lexikon. Neuausgabe, Frankfurt/Main 1972, S. 264-268. Vgl. zum strukturalen Ich-Begriff Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, in: Schriften I. Hg. von Norbert Haas, Olten, Freiburg i.Br. 1973, S. 61-71. 10. Jochen Schmidt: »Zehenspitzen-Philosoph. Nijinskys Tagebücher, unverfälscht«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 01.10.1996. 11. »Nijinsky, eigentlich ja durchaus weltfremd, […] früher so sanft, so gutmütig, wird schwieriger« (C. Riess: Auch du, S. 331f.). »Il ne vécut jamais dans la realité: […] la danse était son seul univers« (Rowse: Les homosexuels, S. 137). 12. »Très slave de tempérament«, »il était fier de sa ressemblance avec Pierre le Grand; il portait en lui un dictateur« (A. L. Rowse: Les homosexuels, S. 134). Diaghilevs Charme stehen seine Ticks gegenüber: »son épouvantable caractère, ses colères slaves incontrôlés, ses extravagances et ses petites manies« (ebd., S. 138f.). 13. Vgl. Waslaw Nijinsky (1919): Ich bin ein Philosoph, der fühlt. Die Tagebuch283

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netzung. Denn reduziert sich nicht Dostojewkis rhetorische Vielstimmigkeit bei einem Tänzer, der sich ausdrücklich mit dessen Idiot-Figur identifizierte, ironischerweise auf eine monotone Pseudo-Dialogizität? Und könnte der Gestus einer offenbar vom Tolstoi-Kult inspirierten Menschheitsmission14 nicht wie die unfreiwillige Parodie von Nietzsches Ecce homo wirken, jener denkwürdigen Schrift einer Selbstabschaffung philosophischer Autorschaft, die der Tänzer kurz vor seiner Erkrankung las? Ungeachtet solcher Indizien wird der entgleiste Superstar weiterhin von ballettomaner Seite zum Helden der Kunst, von schwuler Seite aber zum Opfer seiner erotischen Neigungen stilisiert. Nur wenn man Nijinskys Notizen diskursanalytisch untersucht, kann man sein Delirium in einen epochalen Kontext stellen. Wenn sich die vielzitierte Sinn- und Subjektkrise des Fin de Siècle auf jenes ›Geschlecht der Moderne‹ beziehen lässt, das die Ent-Universalisierung des Männlichen besiegelt, könnte sich dieser Umbruch im Sondermedium Tanz dadurch ausgedrückt haben, dass der im 19. Jahrhundert verdrängte Ballerino plötzlich den Platz der gefeierten romantischen Ballerina einnahm15, aber nur um den Preis einer ihn selber feminisierenden Parade. Auto-biographische Erinnerung jedoch, sofern sie sich in Geschichte(n) vollzieht, hat immer schon jene Nachträglichkeit verdrängt, die selbst im Gedächtnis des Wahn-Sinns als Sinn-Wahn erscheint. Nijinskys Tragödie wird gern in drei Akte unterteilt, von denen sich der mittlere spiegelverkehrt verdoppelt: Auf die Versklavung durch den tuntigen Dandy Sergej de Diaghilev, eine Art von homosexuellem Pygmalion16, folgt die heterosexuelle Bekehrung durch die ungarische

aufzeichnungen in der Originalfassung. Aus dem Russischen von Alfred Frank, Berlin 1996. 14. Nijinskys Schwester berichtet, dass jeder Zögling der Kaiserlichen Tanzakademie in Sankt Petersburg die gesammelten Werke Tolstois erhielt, die sie mit ihrem Bruder voll Begeisterung gelesen hätte. Bronislava Nijinska: Early Memoirs, Durham, London 1992, S. 186, 235. Kurz vor Ausbruch der Psychose wurde Nijinsky während einer USATournee fanatischer Tolstoi-Anhänger. 15. Vgl. Ramsay Burt: The Male Dancer. Bodies, Spectacle, Sexualities, London, New York 1996, 2. Aufl., S. 74ff., der diesen Widerspruch dadurch auflöst, dass er davon ausgeht, die russischen Tänzer seien in der Welt westeuropäischer Metropolen als exotische Wilde mit intakter Virilität wahrgenommen worden. 16. So etwa C. Riess: »Nijinsky ist ja nicht nur der Junge, den er liebt, er ist in jeder Beziehung, vor allem auch künstlerischer, sein Geschöpf. Er hat ihn gewissermaßen erfunden«(Auch du, S. 328). A. L. Rowse (Les homosexuels, S. 137) verteidigt sogar die private Tyrannei, die daraus folgte: »Ce faisant, il en prenait possession et le coupait du reste du monde; mais Nijinsky avait besoin d’être possédé, il était incapable de quoi que ce soit sans protection et sans soutien«. 284

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Millionärstochter Romola de Pulszky, die um den infantilisierten Tänzer mit der Raffinesse eines Troubadours geworben hat. So geht die miserabilistische Kindheitsgeschichte17, deren Wunderknaben-Topos bereits das Aufstiegsmärchen ankündigt, in eine Action-Story über, um schließlich in die meist stark geraffte Geschichte langjähriger Geisteskrankheit zu münden, deren Odyssee eine Wiederholungsstruktur kennzeichnet: zwei Weltkriegs-Katastrophen mit konfliktuöser Privatgefangenschaft in der Budapester Schwiegerfamilie, zweimaliger Rückzug des Gattin/Patienten-Paares in die Einsamkeit der Schweizer Berge sowie zwei mehrfach unterbrochene Aufenthalte Nijinskys in berühmten Sanatorien, zunächst bei Ludwig Binswanger (Klinik Bellevue in der Schweiz), dann bei Julius Wagner-Jauregg (Sanatorium Steinhof in Österreich). Kindheit und Jugend Vaslav Nijinskys, der aus einer polnischen Tänzerfamilie stammt, waren vom Verlust männlicher Bezugspersonen gezeichnet. Auf die unfallsbedingte geistige Behinderung des einzigen Bruders folgten der Bruch mit dem untreuen Vater, der bis dahin als persönlicher Ballettmeister fungiert hatte, und später der Selbstmord des geschätzten Lehrers Sergej Legat. Nijinskys psychiatrischer Biograph Peter Ostwald, der viele bislang unbekannte Quellenmaterialien erschloss und Interviews mit noch lebenden Familienmitgliedern führte, erklärt die starke Mutterbindung des Tänzers und sein fast inzestuöses Verhältnis zur Schwester aus einem unbewussten »ödipalen Sieg«.18 In den Augen von Nijinskys Gattin Romola blieb der introvertierte Junge19 aber trotzdem in der Kaiserlichen Ballettschule von Sankt Petersburg – wegen seiner niederen Herkunft, seines asiatischen Aussehens und mangelhafter Bildung – stets ein Außenseiter. Obwohl Vaslav in dieser halb klösterlich, halb militärisch organisierten Institution zum Opfer seiner Kameraden wurde, glänzte der durch kleinen Wuchs Stigmatisierte mit außergewöhnlicher Sprungkraft, seinem späteren Markenzeichen.

17. So C. Riess: »Nichts ließ auf eine Weltkarriere schließen, zumindest anfangs nicht« (Auch du, S. 315). Dass die Biographik konstitutiv den blinden Fleck ihrer eigenen perspektivischen Beschränktheit aus dem Auge verliert, trägt freilich zur Mythenbildung bei. 18. Peter Ostwald: ›Ich bin Gott‹. Waslaw Nijinsky – Leben und Wahnsinn. Mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe von John Neumeier, Hamburg 1997, S. 33. 19. Romola Nijinsky (1934): Nijinsky. Der Gott des Tanzes. Mit einem Vorwort von Paul Claudel, Frankfurt/Main 1981, S. 41. Diesem Bild des scheuen, ängstlichen Jungen widerspricht die Darstellung der Schwester (B. Nijinska: Early Memoirs), die das Muttersöhnchen eben auch als abenteuerlustiges, z.T. hyperaktives Kind schildert, das innerhalb der Familie zum kleinen Helden wird. 285

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»Es wird immer ein Geheimnis bleiben« schrieb z.B. Oskar Kokoschka, »wieso dort auf der Bühne aus einer Gruppe kostümierter Menschen ein Wesen, sichtbar ohne Anstrengung und Anlauf, in die Luft sich erhob, in der Luft schwebte, sozusagen in Überwindung der physikalischen Gesetze, und im Dunkel der Kulissen verschwand. Ich konnte es nicht begreifen.«20 Den Tanz des »schwerelose[n] Körper[s]«, der in einem Satz »den ganzen Raum von der vorderen zur hinteren Bühne« überwand21, konnte sich ein New Yorker Arzt noch 1917 nur mit der Annahme eines Atavismus, einer vogelähnlichen Fuß-Anatomie, erklären.22 In Paris, wo die Ballets Russes zunächst Furore machten, hat das »Wunder aller Wunder«, so Willy, der Gatte Colettes, jedenfalls einen alten Flugtraum erfüllt, den man lange Zeit dem weiblichen Spitzentanz vorbehielt.23 Die in Tüll und Taft gehüllten Ballerinen der romantischen Epoche wurden nunmehr unverhüllter von einem Knabenkörper überflügelt, der in der Ära der ersten Aeroplane zum erotisierten Publikumsliebling avancierte. Nijinskys gewaltiger Satz aus dem Fenster, mit dem seine mädchenhaft stilisierte Gestalt im Geist der Rose (1910)24 von der Bühne verschwand, schien den Gegensatz zwischen Realität und Phantasma, Männlichkeit und Weiblichkeit allegorisch zu überspringen. »Es war wahrhaft der Sprung der Seufzer«25, aber eben nicht nur im Sinne athletischer Rekorde.26 Lässt sich Nijinsky schon wegen seiner aurati-

20. Oskar Kokoschka in einem Brief an Romola Nijinsky vom 30.11.1973, zitiert in: Jean-Michel Nectoux u.a.: Nachmittag eines Fauns. Dokumentation einer legendären Choreographie, München 1989, S. 44. 21. So R. Nijinsky: Nijinsky, S. 89. 22. Ebd., S. 317f. 23. So etwa ein Nurejev-Biograph: »Die Frauen hatten immer die größeren Sprünge gemacht als die Männer – abgesehen von Nurejew und Nijinsky, die von dieser Regel abwichen«. Otis Stuart: Nurejew. Die Biographie, Wien, München 1996, S. 40. Vgl. Gabriele Klein: FrauenKörperTanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes, Weinheim, Berlin 1992, S. 109-132. 24. Michail Fokins Ballett Le Spectre de la Rose (1911) beruht bezeichnenderweise auf der bühnenrealen wie -fiktiven Umkehrung der geschlechtlichen Vorzeichen eines romantischen Plots, denn in La Sylphide ist es noch die Ballerina, die dem schlummernden Poeten als weibliches Ideal im Traume erscheint, während hier der effeminierte Ballerino zum Idol des Mädchens wird. 25. Willy [i.e. Henry Gauthier-Villars], zitiert in: Richard Buckle: Nijinsky, Herford 1987, S. 71. 26. Nach der Uraufführung des ›Spectre‹ wandten sich französische Sportverbände an Diaghilev, um Wettbewerbe zwischen Tänzern und Athleten auszutragen, wobei letztere den Sieg davontrugen. Als ästhetisches Medium machte das Ballett dem damals entstehenden Individual- und Leistungssport zwar keine Konkurrenz, war aber mit dem 286

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schen Bühnenpräsenz zum Typus des modernen Künstler-Stars27 zählen, war er von Anfang an ein androgyner Fetisch28, darin MedienIdolen wie Rudolf Valentino oder Andy Warhol ähnlich. Wenn es auch fraglich bleibt, ob die charismatische »Kombination von männlicher Kraft und weiblicher Anmut […] die homosexuelle Emanzipation unseres Jahrhunderts«29 beschleunigte, wie Richard Buckle in seinem biographischen Standardwerk meint, inkarnierte Nijinsky, den Proust den ›neuen Vestris‹ nannte, schon bei seinem ersten Pariser Auftritt – mit »gerüschte[m] Rokokokostüm« und brillantbesetztem (Hunde-)»Halsband«30 – einen zweideutigen Luxussklaven, dessen Zauber sich durch seine kokette Bescheidenheit nur steigerte: »Irgend jemand fragte Nijinsky, ob es nicht schwierig sei, beim Sprung in der Luft zu schweben. Zuerst verstand er nicht, und dann sagte er freundlich: ›Nein, […]. Nicht schwierig. Man muß nur hochspringen und oben ein bißchen warten.‹«31

Trend technischer Perfektionierung zunehmend auf sportliches Training angewiesen. So Serge Lifar: Les mémoires d’Icare, Monaco 1993, S. 76. 27. Vgl. Michael Schwarz: »Das Phänomen des Künstlerstars«, in: Werner Faulstich/Helmut Korte (Hg.), Der Star. Geschichte. Rezeption. Bedeutung, München 1997, S. 195-204. 28. Obwohl »none of the descriptions suggest that he was actually effeminate«, »his roles often […] allowed him to express sensuality and sensitivity (conventionally feminine) with extraordinary strength and dynamism (conventionally masculine)«. So R. Burt (The Male Dancer, S. 84), der Nijinsky daher mit dem ästhetizistisch aufgewerteten androgynen Epheben Oscar Wildes oder Joséphin Péladans vergleicht. Die Choreographie von Narcisse (1911) war »open to interpretation as an image of the third sex […] – grace, innocence and unspoiltness« (ebd., S. 85). 29. R. Buckle: Nijinsky, S. 73. R. Burt (The Male Dancer, S. 79) differenziert: »The idea of enjoying the presentation of a male dancing body was conceivable at that time only by homosexual men (together with heterosexual women) who would have appreciated the spectacle of male sexuality. One shouldn’t necessarily assume that, because some of these ballets gave expression to a homosexual point of view, they […] broke away altogether from nineteenth-century norms«. 30. R. Buckle: Nijinsky, S. 73. So in Le Pavillon d’Armide (1909) von Michail Fokin, der sich darum bemühte, das imperiale Petipa-Ballett stilistisch zu modernisieren. 31. R. Buckle: Nijinsky, S. 70. 287

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Vaslav Nijinsky in »Le spectre de la Rose« (1911)

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Der Witz über eine »Verhöhnung der Schwerkraft«32, dessen groteske Hyperbolik vielleicht auch auf die Situation eines Ausgehaltenen anspielt, hält sich gleichsam selbst in der Schwebe zwischen Naivität und Ironie. Nijinskys glamourösem Image raubkatzenhafter Geschmeidigkeit33, das Nurejew übernehmen soll34, wird in zeitgenössischen Porträts gern die Prosa des Alltags gegenüberstellt: »Ich muß gestehen«, so der Bühnenbildner Alexandre Benois, »ich war ziemlich überrascht, als ich d[as] Wunder von Angesicht zu Angesicht sah. Er war ein kleiner, ziemlich stämmiger Bursche mit dem […] farblosesten Gesicht. Er wirkte eher wie ein Ladencommis als wie ein Märchenheld«.35 Auch Cocteaus Karikatur lässt den Tänzer außerhalb des Theaters zu einer Art von Albatross und damit Baudelaires Künstler-Metapher zu Fleisch werden: »Nijinsky war sehr klein, eigentlich bloß eine berufsbedingte Deformation des Geistes und des Körpers. Sein mongolisch wirkender Kopf saß auf einem zu langen und extrem muskulösen Hals. Seine Beinmuskeln spannten den Anzugstoff so sehr, dass es den Eindruck hatte, seine Beine seien nach hinten gewölbt. Kurz, es war unmöglich, diese winzige, fast unbehaarte Person, die einen Hut auf dem Kopf balancierte, für ein Publikums-

32. Vgl. dazu Harald Fricke: »der Grundgedanke des gesamten klassischen ›Danse d’école‹ ist die […] Verhöhnung der Schwerkraft. Warum sonst führen Ballett-Tänzer während ihrer Sprünge noch diese komplizierten trillerartigen Positionswechsel der Füße aus […] oder nehmen mitten in der Luft kurzfristig starre Posen ein?« (»Norm und Abweichung – Gesetz und Freiheit. Probleme der Verallgemeinerbarkeit in Poetik und Ästhetik«, in: Hendrik Birus (Hg.), Germanistik und Komparatistik, Stuttgart, Weimar 1995, S. 506-527, hier: S. 513). Betont wird der Illusionscharakter dieser ›Schaustellungen‹ (S. 522). 33. Nijinsky wird oft mit einem Panther verglichen: »Il a le don de se mouvoir dans la beauté et d’y renouveler ses lignes toujours en équilibre […] comme la panthère. Et comme elle, pas un de ses mouvements n’est sans puissance ou sans grâce«. So André Suarès, zitiert in: Jean-Michel Pourvoyeur: »Images de Nijinsky en 1910 dans ›La Danse siamoise‹ des Orientales«, in: Jean-Michel Pourvoyeur/StanciuReiss (Hg.), Ecrits sur Nijinsky, S. 31-57, hier: S. 40. 34. Vgl. O. Stuart: Nurejew, S. 120f. 35. Zitiert in: R. Buckle: Nijinsky, S. 34. Der Maler Jacques Blanche, dessen Causeries du dimanche Proust in der Recherche erwähnt, vergleicht Nijinsky mit einem Jockey: »ce gamin assez laid, haut comme une botte […] ça, un Vestris? Ce petit lad comme on en voit dans les écuries de courses à Maisons-Lafitte et à Chantilly? Le pantalon collant révélait les cuisses musclées, les mollets trop gros, déformation professionnelle du cavalier à l’entraînement. Le visage fermé ne portait aucune marque d’intelligence« (zitiert in: J.-M. Pourvoyeur: Images, S. 35f.). 289

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idol zu halten. Und doch war er es und mit Recht, denn Nijinsky musste man von weitem und im Bühnenlicht bewundern. […] Dann streckte sich seine Figur, und seine Füße berührten niemals den Boden, […] sein Gesicht strahlte. Diese Verwandlung begreift allerdings nur, wer sie miterlebt hat.«36 Die »jungenhafte Elfe«37, die für kurze Zeit in homophilen Adelskreisen des zaristischen Russland38 zirkulierte, war Sergej de Diaghilev, ihrer homoerotischen Endstation, wie auf einem Tablett überreicht worden.39 In neueren Biographien40 wird dieser berühmte Förderer avantgardistischer Kunst, der eine Brücke zwischen östlicher und westlicher Kultur geschlagen hat41, zwar weiterhin als dubioser Magier und Lebemann porträtiert, aber vor allem zum Vaterersatz seiner jugendlichen Geliebten gekürt.42 Während Nijinskys realer Erzeuger im Tagebuch nie mehr erwähnt wird43, taucht Diaghilev dort immer wieder auf, wenn auch unter negativen Vorzeichen.

36. Jean Cocteau, zitiert in: Michel Meslin: »Allocution d’ouverture«, in: J.-M. Pourvoyeur/F. Stanciu-Reiss (Hg.), Ecrits sur Nijinsky, S. 15f., hier: S. 15 (übersetzt von A. R.). 37. C. Riess: Auch du, S. 320. »Um diese Zeit ist Nijinsky keine Jungfrau [sic!] mehr« (S. 318). 38. »Les rapports amoureux entre hommes étaient assez bien acceptés dans ce cercle d’aristocrates russes«, weiß A. L. Rowse: Les homosexuels, S. 136. So auch Siegfried Tornow: »Gogol war noch an seinem Schwulsein zugrundegegangen, ein halbes Jahrhundert später konnten Kuzmin und Djagilev sich offen dazu bekennen.« S. Tornow: »Männliche Homosexualität und Politik in Sowjet-Rußland«, in: Schwulenreferat im Asta der FU Berlin (Hg.), Homosexualität und Wissenschaft II, Berlin 1992, S. 267-284, hier: S. 270. Diaghilevs »offen schwuler Lebensstil« hätte sogar »viel zur Akzeptanz von Homosexualität durch die russische Oberschicht der Jahre 1905-1914« (S. 272) beigetragen. 39. Buckle zufolge gab ihm ein gewisser Fürst Lwow, der den auf ihn fixierten Nijinsky wieder loswerden wollte, den Tipp. Bei B. Nijinska (Early Memoirs) erfährt man, dass ihr Bruder vor der Begegnung mit diesem Gönner von mehreren jungen Mädchen enttäuscht worden sei. 40. Richard Buckle: Diaghilew, Herford 1984. 41. Vgl. die ausdrücklich parteiliche Würdigung des späteren Lieblings Serge Lifar: Serge de Diaghilev. Sa vie – Son œuvre – Sa légende, Plan de la Tour (Var) 1982. 42. »C’était à la fois un improvisateur, et un homme d’entreprise magistral. Il avait un don merveilleux de dénicher de talent, se donnant lui-même pour tâche d’éduquer ceux qu’il avait découverts« (A. L. Rowse: Les homosexuels, S. 134). 43. Die Biographen schildern das Vater-Sohn-Verhältnis z.T. widersprüchlich. Der renommierte Tänzer Thomas Nijinsky zeigte sich »überschwänglich stolz auf seinen berühmten Sohn« (R. Nijinsky: Nijinsky, S. 59), aber dieser pries ihn als den weitaus größeren Virtuosen (R. Buckle: Nijinsky, S. 31). Dagegen beharrt P. Ostwald auf »Spannung 290

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»Djagilew ist ein böser Mensch und liebt Knaben […]. Ich mochte Djagilew nicht, lebte aber mit ihm. Ich haßte [ihn] seit den ersten Tagen unserer Bekanntschaft«, denn »er missbrauchte« seine »Stärke […], aber ich verstellte mich, denn ich wußte, daß meine Mutter und ich verhungern würden.«44 Obwohl die Abwertung eines mächtigen Gönners wie die moralische Rechtfertigung eines Strichjungen wirken könnte, fragt es sich, ob man angesichts der komplexen Struktur dieser Beziehung45 umstandslos auf eine emotionale Enttäuschung46 schließen darf: »Die meisten Diaghilew betreffenden Abschnitte des Tagebuchs haben den bitteren Beigeschmack unglücklicher Liebe und erinnern uns an gewisse erschütternde Seiten jenes im Zuchthaus von Reading geschriebenen Briefs.«47 Der Vergleich mit der gesellschaftlich viel gefährdeteren Wilde/ Douglas-Beziehung verdrängt vor allem die gleichsam unbewusste Faktur eines ver-rückten Textes, der im Gegensatz zur rationalisierenden Selbstapologie weder Zeit noch Widerspruchsfreiheit kennt, aber symptomatische Spuren aufweist. So ist der Name »Diaghilew« im Tagebuch zwar eindrucksvoll mit dem zentralen Gottesthema verknüpft, jedoch nur unter den Vorzeichen eines rivalisierenden Alter Ego: »Djagilew weiß nichts. [Er] glaubt, er sei der Gott der Kunst. Ich glaube, daß ich Gott bin. Ich will Djagilew zum Duell herausfordern.«48 Das vielseitig einsetzbare Gottesprädikat macht aus dem Herrensignifikanten einen Joker, der den Meisterdiskurs im Refrain seiner Redundanzen dezentriert. Umso größere Starrheit gewinnt ein verabsolutiertes Ich, das über eine in ›gute‹ und ›böse‹ Objekte gespaltene Welt autokratisch wie ein Zar zu richten scheint. Dem homosexuellen

und Rivalität« (Ich bin Gott, S. 43), vor allem während der letzten Begegnung, die der Vaslav abrupt beendete, weil er die Geliebte des Vaters nicht zu sehen wünschte. Aber nur die Schwester (B. Nijinska: Early Memoirs) verleiht dieser schwierigen Beziehung konkretere Konturen. 44. V. Nijinsky: Ich bin ein Philosoph, S. 50, 132f. 45. Diaghilev, oftmals selber in Geldnöten, war sicherlich nicht nur der reiche Gönner, zumal er Nijinsky dazu bewegen konnte, zugunsten der Truppe jahrelang auf seine Gage zu verzichten. Durch ihn kam ein Tänzer, der während seiner Schulzeit das Lernen aus Büchern verabscheut hatte, vielleicht in den Genuss von Bildung und Kultur (vgl. B. Nijinska: Early Memoirs). 46. C. Riess zufolge hätte er auch keinen Anlass dazu gehabt: »Nijinsky war doch wohl die große Liebe seines Lebens gewesen« (Auch du, S. 336). Und auch A. L. Rowse ist sich sicher: »Plus jamais personne ne prit réellement la place de Nijinsky dans le cœur et l’esprit du maître: leur association resta unique« (Les homosexuels, S. 137). 47. R. Buckle: Nijinsky, S. 44. 48. V. Nijinsky: Ich bin ein Philosoph, S. 56. 291

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Despoten steht die (Ehe-)Frau gegenüber, der indes die wichtigste egologische Potenz, eine Affiziertheit, auf die noch zurückzukommen ist, fehlen soll: »Meine Frau hatte mich liebgewonnen wie sonst keiner, aber sie fühlte mich nicht.«49 Die inquisitorische Frage, welche erotischen Vorlieben Nijinsky denn eigentlich gehabt hätte, beantwortet der Tagebuchschreiber keineswegs. Seine Schwester Bronislava, ebenfalls eine bedeutende Choreographin, meint in der Rückschau, dass ihr Bruder zwar körperlich Frauen, aber emotional Männer50 bevorzugt hätte. Während Nijinskys italienische Biographin Anna-Maria Turi die Liaison mit Diaghilev als gleichberechtigte Ergänzung51 imaginiert, hatte Nijinskys Gattin sie in ihrer persönlichen Abrechnung bereits als einseitige Machtbeziehung52 denunziert: »Obwohl zwanzig Jahre älter als Vaslav, überwand Diaghilev sofort die Zurückhaltung des jungen Mannes und gewann seine Freundschaft, die ihm Vaslav trotz aller […] Streitigkeiten […] bewahrte.«53 Die »hypnotische« Wirkung des Impresarios hätte sich »mit den Jahren nicht vermindert«.54 Ironischerweise räumte Romola de Pulszky als ein junges Mädchen, das selber ›tomboy‹-Allüren entwickelte55 und seine Sehnsucht nach Androgynie auf den Ballerino projizierte56,

49. Ebd., S. 177. 50. R. Buckle: Nijinsky, S. 41. 51. Anna-Maria Turi: Nijinsky. L’invention de la danse. Suivi de l’Epopée de Diaghilev par Marie-José Hoyet, Paris 1987, S. 51: »En réalité, chacun d’eux jouit dans ce rapport d’un pouvoir immense: tour à tour hôte et amphytrion, maître et esclave, père et fils«. 52. Etwas positiver, aber ebenso schematisierend der Biograph des Nijinsky-Nachfolgers Leonid Massine, dem ein ähnliches Schicksal beschert war: »Diaghilev the magician began to cast his spell, and […] Massine began to erect a near-heroic image of the impresario – doubtlessly to offset his virtually total dependence. Sexual dominance of the younger man completed Diaghilev’s conquest.« Vicente Garcia-Márquez: Massine. A Biography, New York 1995, S. 34f. 53. R. Nijinsky: Nijinsky, S. 73. 54. Ebd., S. 340. 55. Romola, Liebling beider Eltern, verlor wie Vaslav früh den Vater. Im High Society-Milieu unter der Fuchtel ihrer Mutter, einer berühmten Schauspielerin, aufwachsend, entwickelte das junge Mädchen eine Vorliebe für Napoleon, mit dem es sich auch gern identifizierte (P. Ostwald: Ich bin Gott, Kap. 4). 56. R. Nijinsky: Nijinsky, S. 73. Nach P. Ostwald (Ich bin Gott, S. 123) erhält Nijinsky für Romola den Status eines ›vereinigten Elternobjekts‹ (nach Heinz Kohut). Als Idol sei er perfekt, denn so glamourös wie deren eigene Mutter, aber zugleich verlässlicher als ihr verschwundener Vater und durch seine androgynen Züge darüber hinaus ein narzisstisches Spiegelbild des Mädchens. 292

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den schwulen Konkurrenten bald aus dem Weg. Indem sie Diaghilew ihre heimliche Liebe zu einem Kollegen Nijinskys vortäuschte, schlich sie sich in die Ballets Russes ein und plante fortan die Eroberung des Tanzgottes wie ein Feldherr, der alle medialen Rahmenbedingungen in seine Strategie mit einzubeziehen versucht, so etwa jene wochenlange Schiffsreise der Kompanie nach Südamerika, während derer der Ballerino auf elementare Weise von seinem Impresario, der unter Wasserphobie litt, getrennt sein würde. Aber auch die psychologische Auswertung eines Tagesablaufs oder die Manipulation der Sitzordnung beim Essen und das Ausspionieren wichtiger Informanten näherten eine Zwanzigjährige ihrem Ziel: »Ich entwickelte plötzlich ein Interesse an sportlichen Dingen. Stundenlang hörte ich mir an, was [Nijinskys Masseur] über Boxer […] zu sagen hatte. Und zum Lohn [dafür] lernte ich Nijinskys gesamte Muskulatur kennen […]. Von elf bis sieben spazierte ich ums Deck, immer wenn Nijinsky [dort] lag. […] Wie viele Meilen legte ich […] zurück, obwohl ich diese Art der Leibesübung […] hasste!«57 Gerade weil die Knabenhafte nicht der Versuchung erliegt, sich auf einem Maskenball als Junge zu verkleiden und bloßer Mimesis zu verfallen, gelingt ihre Mimikry. Im letzten Moment hält der Erwählte um ihre Hand an: »Aus dem Nichts tauchte unvermittelt Nijinsky auf und sagte: ›Mademoiselle, voulez-vous, vous et moi?‹ Er deutete pantomimisch einen Ring […] an. Ich nickte […]: ›Oui, oui, oui!‹«58 In der Komödie der Geschlechter siegt, ganz rousseauistisch, die List des schwachen, um dem Gejagten den Part des Jägers aufzudrängen. Der »außerhalb des Theaters« wie ein »zurückgebliebenes Kind«59 wirkende ewige Adoptivsohn ist kurz vor dem Ersten Weltkrieg in eine internationale Hollywood-Romanze ›avant la lettre‹ entführt: So »wurde die österreichisch-ungarische Braut« am 10. September 1913 im »argentinischen Gotteshaus […] von ihrem russisch-jüdischen Freund zum ›Lohengrin‹-Hochzeitsmarsch durchs Kirchenschiff [geleitet] und bei einer lateinisch und spanisch zelebrierten Zeremonie, die weder sie noch ihr Bräutigam verstanden, mit einem polnischen Russen getraut.«60 Auf die Frage, warum Nijinsky im Jahre 1913 heiratete, gibt es zahlreiche Antworten: Seine Schwester, für die er seine erste spektakuläre Choreographie geschaffen hatte, verehelichte sich und wurde zu sei-

57. 58. 59. 60.

R. Nijinsky: Nijinsky, S. 213f. Ebd., S. 222. Misia Sert, zitiert in: R. Buckle: Nijinsky, S. 201. Ebd., S. 252. 293

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nem Entsetzen kurz darauf Mutter. Gleichzeitig war sein Vater gestorben und die Beziehung zu dessen Substitut vermutlich einer gewissen Routine erlegen.61 Jedenfalls war Diaghilevs Devise »Surprenez-moi!« auf unerwartete Weise erfüllt worden, wie seine eigene Reaktion belegt: »Serge, overcome with a sort of hysteria, ready to go to any extreme, sobbing and shouting, gathered everybody around. […] When the council of war was complete, the terrible event was discussed […]. What had been Nijinsky’s state of mind when he left? Did he seem preoccupied? Not at all. Sad? Certainly not. ›This is all very silly‹, interrupted Bakst, ›the important thing is to discover if he bought any underpants‹. […] Diaghilev burst into a fit of rage.«62 Objektverlust und narzisstische Kränkung63 ließen den Chef der Ballets Russes, dem eine ebenbürtige Frau – weder zum ersten noch zum letzten Male – den Geliebten stiehlt64, auf adäquate Rache sinnen. Distanziert übermittelte er Nijinsky seine sofortige Entlassung sowie den Ausschluss all seiner choreographischen Werke aus dem Repertoire, um ihn sodann einem Schicksal zu überlassen, das der Tänzer, als Ballettmeister und Truppenmanager in Personalunion, kaum zu bewältigen vermochte.65 Seine Frau, derweil ungewollt schwanger, wehrte sich später juristisch gegen einen Verfolger, den sie für die ihren Mann bedrohenden Bühnenunfälle verantwortlich machte. Kam Diaghilevs Verstoßung nicht einer väterlichen gleich, die sie symbo-

61. So P. Ostwald: Ich bin Gott, Kap. 3. Vgl. B. Nijinska: Early Memoirs, S. 472ff., in deren Sicht Diaghilev sich schon vor der Südamerika-Tournee von Nijinsky, als Choreographen, aber auch als Tänzer und Lover, abgewandt hat. 62. Misia Sert, zitiert in: Richard Buckle: Diaghilev, London 1979, S. 261f. 63. Ältere Biographen machen weibliche Liebesraserei, Neider und Nijinskys Naivität für das Debakel verantwortlich. Moralisch empören sie sich darüber, dass der Liebling so tat, »als habe er nicht jahrelang mit Diaghilev gelebt« (C. Riess: Auch du, S. 329). 64. P. Ostwald (Ich bin Gott, Kap. 2) zufolge hatte der begüterte Diaghilev, dessen Mutter bei seiner Geburt gestorben war, seinen Cousin und ersten Liebhaber, Filosofov, an die in Künstlerkreisen bekannte bisexuelle ›Amazone‹ Gippius (S. 55f.) verloren. Vgl. zu Sinaida Hippius alias Gippius z.B. Diana Lewis Burgin: »Nadeschda Durowa, Amazonen und Lesbischsein in der russischen Kultur«, in: Forum Homosexualität und Literatur 29 (1997), S. 67-81, bes. S. 75. Vgl. zu deren eigener Androgynie-Utopie Vsevolod Bagno: »Les manuscrits de Zinaida Gippius. Polarités et antinomies masculin/féminin«, in: Catherine Viollet (Hg.), Genèse textuelle, identités sexuelles, Tusson 1997, S. 29-39. 65. So lehnte Nijinsky den Job als Ballettmeister der Pariser Oper ab und verausgabte sich in Londoner Music Halls. Danach war er durch eine Nordamerika-Tour völlig überfordert. 294

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lisch wiederholte?66 Und bestünde das eigentliche Trauma nicht in der Wiederholung? Jedenfalls soll Nijinsky nach dem Bruch mit dem ›Gott-Vater‹ »nicht mehr wie ein Gott« getanzt haben. Angeblich schwand seine mystische Aura67, seitdem er ein banaler Ehemann geworden war. Ausgerechnet bei der Premiere der Josephslegende68 mit seinem Nachfolger Leonid Massine, der sich gegen Potiphars Weib(er) noch zu wehren weiß, wird der nicht besonders schlagfertige Athlet von Cocteaus Zirkel empfindlich gedemütigt: »In diesem Jahr kreierst du ein Kind. ›Der Geist der Rose‹ sucht sich die Vaterrolle aus. Wie widerwärtig ist doch eine Geburt.«69 Der effeminierte Tänzer, der sich immerhin einen Sohn wünschte70, soll über die Ankunft einer Tochter entsprechend enttäuscht gewesen sein.71 Wäre sie nicht Metapher eines Scheiterns, das mit der immer stärker um sich greifenden Verweiblichung seines Daseins begonnen hätte? Denn Anfang der 20er Jahre, als Romola zeitweilig wieder mit ihrem Gatten in Paris lebte, wurde ihre Schwägerin Bronja zumindest kurzfristig zur erfolgreichen Choreographin der Ballets Russes, wo sie nicht nur den Platz ihres Bruders einahm, sondern auch seine ›Faun‹-Rolle tanzte. Nijinsky war wie in einem Weiberclan gefangen, der ihn vom Ballett, für das er sich nun nicht mehr zu interessieren schien, entfremdete.72 Die fatale Kontinuität einer quasi-matriarchalen Bevormundung73 ließe sich allerdings

66. P. Ostwalds Theorie der ›drei Trennungen‹ (Ich bin Gott, Kap. 9) beinhaltet, dass Nijinsky sich zunächst vom Vater, dann von Diaghilev verlassen gefühlt habe, später aber auch von seiner Gattin, die in Sankt Moritz mit seinem Arzt ein Verhältnis einging. Ostwald sieht diese Liaison sogar als Auslöser für Nijinskys ›Sprung in den Wahnsinn‹, als einen Wendepunkt in seiner Beziehung zur Außenwelt (S. 282). 67. So Cyril Beaumont, zitiert in: R. Buckle: Nijinsky, S. 266. 68. Das Libretto stammte von Hugo von Hofmannsthal und Harry Graf Kessler, die Musik von Richard Strauss. 69. Jean Cocteau, zitiert in: R. Nijinsky: Nijinsky, S. 254. 70. Dieser Wunsch zieht sich nicht nur durch die Tagebücher, sondern wird von Romola später zum Vorwand genommen, den Gatten als ›Zuchthengst‹ zu missbrauchen. Ende 1919 holt sie ihn aus der Klinik, um ihn durch die Zeugung eines zweiten Kindes zu heilen. Doch diese Vergewaltigung, der eine zweite, später von der eigenen Mutter verstoßene Tochter (Tamara, geb. 1920) entsprang, besserte Nijinskys Zustand keineswegs, vielleicht, weil die symbolische Dimension der Vaterfunktion damit in der realen verschwand. 71. R. Nijinsky: Nijinsky, S. 255. 72. 1928 inszeniert Diaghilev »unbewusst das Wiedersehen« mit seinem Schützling als ›Petruschka‹-Choreographie, – mit Nijinsky als armer Puppe, Serge Lifar als siegreichem Mohren und der Karsawina als Ballerina-Einsatz (P. Ostwald: Ich bin Gott, S. 343. Vgl. R. Burt: The Male Dancer, S. 83). 73. Zunächst unter der Herrschaft von Mutter und Schwester, dann jenem der Gat295

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historisch dahingehend kontextualisieren, dass der nach dem Rise & Fall-Schema stürzende Ballerino an exponierter Stelle und geradezu theatralisch in jenen geschlechtlichen Paradigmenwechsel eingebunden war, dessen egalitaristisches Frauenemanzipations-Programm74, wie Dekadenz- und Modernekritik verdeutlichen, auf männlicher Seite sowohl ›weibmännische‹ Feminisierung als auch re-virilisierende, ›männerbündische‹ Reaktionen hervorrief.75

Nijinskys Tagebücher: Der Wahn des Affekts Nijinsky schweigt, aber schreibt. Statt sich zu bewegen, ist er bewegt. Das Erfühlen der anderen wird zu einem zentralen Topos in (s)einem Wahnsystem, das der jüngst erschienenen deutschen Ausgabe der ungekürzten ›Tagebücher‹ sogar den Titel schenkt: »Ich bin ein Philosoph, der fühlt. Ich mag Shakespeares Hamlet nicht, denn er denkt. Ich bin ein Philosoph, der nicht denkt. […] Meine Frau fühlt mich nicht. Tolstois Frau fühlt auch nicht. […] Als Vernunft bezeichne ich alles, was sich gut fühlen lässt. Ich fühle gut, und darum bin ich ein vernunftbegabtes Wesen.«76 So sehr das Gefühlspathos auf den ersten Blick an die vitalistisch-jugendbewegte Zivilisationskritik der Jahrhundertwende gemahnt, die ihr östliches Pendant in archaisierender Slawophilie fände77, so leer bleibt es als abstrakter Begriff. Die Chiffre des Fühlens enthält keine Spur von Empathie oder Betroffenheit, sondern umschreibt eine kommunikative Unmöglichkeit mit der Rigidität eines Ritornells. Wenn

tin, der Schwiegermutter, der Schwägerin (Tessa) und schließlich seiner beiden Töchter (Kyra, Tamara). 74. Im Sinne des Leitbilds der Neuen Frau verselbständigte sich Romola auch sexuell. Obwohl sie ihren Gatten zu heterosexuellen Seitensprüngen animiert haben soll, um sein schwules Begehren zu drosseln (P. Ostwald: Ich bin Gott, Kap. 7), hat sie sich selber in den 30er Jahren nur noch in Frauen verliebt. Wie weit Nijinsky dies überhaupt wahrnahm, bleibt ungeklärt. 75. Dazu unter dem Aspekt der Geschichte der Geschlechtertausch-Inszenierungen Annette Runte: Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität, München 1996, bes. Kap. 7.3, 7.4 und 11.3. 76. V. Nijinsky: Ich bin ein Philosoph, S. 67f. 77. Zum Tolstoi-Kult, dem Nijinsky vor seinem Wahnausbruch selber huldigte, vgl. S. Tornow: »Männliche Homosexualität«; Pierre Macherey: Lénine, critique de Tolstoi, in: Pour une théorie de la production littéraire, Paris 1966, S. 125-157. 296

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Emotionen nur deswegen entstehen, weil der Körper in der Sprache wohnt78, dürfen diese Leidenschaften der Seele als Signifikanten gelten, deren Kette das Subjekt ausschließt.79 Insofern erscheint Nijinskys Rede, auch dort, wo sie sich noch von anderen Diskursen, wie etwa modischem Okkultismus, abzusetzen weiß, nicht als Affekt-Sprache, sondern als ein Sprach-Affekt: »Ich fühle, und ich handle. Ich tue nichts gegen mein Gefühl. Ich will kein Vortäuschen. Ich bin kein Verstellen. Ich bin das göttliche Gefühl, das mich zum Handeln veranlasst. […] Ich bin kein Hexenmeister. Ich bin Gott im Körper. Alle haben dieses Gefühl, nur macht niemand davon Gebrauch. […] Ich will nicht, dass man denkt, mein Gefühl sei spiritistische Trance.«80 Nijinskys von Januar bis März 1919 geschriebene ›Tagebücher‹ verstoßen schon deshalb gegen das ihnen zugeschriebene Genre, weil sie nicht datiert sind. Darüber hinaus enthalten sie weder eine Chronik des Tagesgeschehens noch die sonst üblichen selbstanalytischen Reflexionen. Äußerlich handelt es sich um drei Schreibhefte, deren Text der Autor in zwei Bücher unterteilte, von denen das erste, Leben betitelt (172 Seiten), ungefähr doppelt so lang wie das zweite, mit Tod (91 Seiten) überschriebene, ist.81 Die Gliederung in Abschnitte scheint trotz der assoziativen Sprünge thematisch bedingt.82 Am Ende des ersten Buches ist die einzig vorhandene Zeit- und Ortsangabe (»St. MoritzDorf/Villa Guardamunt 27. Februar 1919«) mit der an Nietzsches Ende gemahnenden Unterschrift »Gott Nijinsky«83 signiert, während das

78. Ex-sistiert. Vgl. Jacques Lacan: Télévision, Paris 1974, S. 37ff. 79. So Marcelle Marini: Jacques Lacan, Paris 1986, S. 215. 80. V. Nijinsky: Ich bin ein Philosoph, S. 96. 81. Die 1953 auf französisch erschienene zensierte Erstausgabe der Tagebücher teilt den Text (277 Seiten) in drei Teile (I. Vie: S. 29-157, II. Mort: S. 157-237, III. Sentiments: S. 237-273) und einen Epilog (S. 273-277) auf, indem sie bestimmte Passagen nach thematischen Schwerpunkten umstellt und dadurch auch die chronologische Folge der Niederschrift zerstört. Diese geglättete Fassung, die mit der Signatur des ersten Buches also zum falschen Zeitpunkt endet, ist unter textgenetischen Aspekten eine problematische Neuanordnung der Textsequenzen. Vgl.: Journal de Nijinsky. Traduit et préfacé par G. S. Solpray, Paris 1953 (Gallimard). 82. Durch die sinnvolle Untertitelung sind die 16 Kapitel des von der Psychoanalytikerin Marguerite Sechehaye herausgegebenen, ebenfalls undatierten ›Tagebuch[s] einer Schizophrenen‹ (Frankfurt/Main 1973, frz. Original: 1950) gleichsam deutungsfreundlicher. Es handelt sich dabei um die »retrospektive Beschreibung« eines »Krankheitsverlaufs« (Vorspann). 83. V. Nijinsky: Ich bin ein Philosoph, S. 183. 297

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zweite Buch einfach abbricht.84 Dort wird auch der mehrmalige Versuch, in Versen zu schreiben, den der Mediziner Ostwald auf ärztliche Wortassoziationstests zurückführt85, nicht wieder aufgenommen. Diese echolalischen Kinderreime wirken in der Tat stellenweise wie Musterbeispiele jener aphatischen Störungen86, anhand derer Roman Jakobson das auch für Lacans Analogie zwischen unbewussten und symbolischen Prozessen relevante Zweiachsen-Modell der Sprache entwarf. Doch immer wieder werden die Defizite der Selektion und Kombination, d.h. der linguistischen Ersetzungs- und Verkettungsfunktion, durch rhythmische und chiasmatische Spielereien aufgefangen, die zudem an die echolalische Sprachmagie russischer Avantgarde-Literatur erinnern87: »Ich bin Liebe, ich bin Blut. Ich bin Christi Blut. […] Sagen will ich von dem Blut, Meine Liebe ist nicht dort, Ich will lieben … Ich will sagen … Ich will … Ich … […] Ich will lieben lieben dich Ich will Dich nur Dich

84. »Ich werde zur Mutter meiner Frau gehen und mit ihr reden, […]. Ich prüfe ihre Gefühle. Sie ist noch nicht tot, denn sie ist neidisch […]« (ebd., S. 278). 85. »Ob einige dieser Gedanken spontan kamen oder wie viel davon durch Greibers klinische Tätigkeit beeinflusst ist, ist unmöglich zu sagen. Der Arzt versuchte auch, Wortassoziations-Tests anzuwenden, wie sie von C. G. Jung eingeführt worden waren. […] Wie aus den Notizbüchern hervorgeht, neigte Nijinsky dazu, Greibers Testworte als Stimuli für Reime zu benutzen […] Greiber hielt Nijinskys [russische!] Gedichte für eindeutig psychopathologisch« (P. Ostwald: Ich bin Gott, S. 239). 86. Roman Jakobson: »Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen«, in: Aufsätze zur Linguistik und Poetik. Hg. und eingeleitet von Wolfgang Raible, Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1979, S. 117-142. 87. Dies lässt sich anhand der deutschen Übersetzung freilich nur m.E. behaupten. Vgl. aber Renate Lachmanns Analyse des Spätsymbolisten Andrej Belyj, in: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt/Main 1990, S. 88-126, bes. S. 117ff. Vgl. auch P. Ostwald (Ich bin Gott), der Nijinskys Notizbücher einem russischen Linguistik-Experten vorlegte, der darin nicht nur assoziative Wortspiele, sondern »zahlreiche Anagramme (Chiffren)« und quasi-literarische Polysemien erkennt (zitiert, S. 140). 298

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Ich will Ihn nur Ihn. […] Ich will lieben lieben dich, du kannst fühlen nicht.«88 Liegt der banale »Reiz« einer privaten Chronik normalerweise in der Verdoppelung des Alltags, unterwerfen sich diese Girlanden der Gedankenflucht89 nicht dem »Dämon« des Kalenders, denn ihr ewiges Präsenz ist von der »Regelmäßigkeit«90 obsessioneller Insistenz gezeichnet.91 Ein Redesubjekt, das sich eher magisch be-spricht als über sich spricht, definiert sich z.B. als Pseudo-Syllogismus: »Ich bin ein Geisteskranker, der die Menschen liebt. Meine Geisteskrankheit ist Menschenliebe.«92 Obwohl in der Ich-Form der ›Tagebücher‹ Äußerung und Aussage restlos zusammenfallen, erweckt die Sprechinstanz den Eindruck, kausal zu argumentieren. Die fehlende Umschaltung vom sprachlichen Code zur kommunikativen Mitteilung, wird, wie man am Superthema ›Gott‹ zu zeigen vermag, durch Isotopiebildungen wettgemacht, die syntaktische Lücken durch semantische Anhäufungen überbrücken. Im Fluss dieser ›wilden Rede‹ verquicken sich so z.B. Prädikation und Seinsurteil, Metapher und Synekdoche: »Ich will mich Gott statt Nijinsky nennen, deshalb werde ich darum bitten, daß diese Feder den Namen Gott erhält (S. 45). Ich bin Gott und meine Adresse ist in Gott (S. 49). Die Wissenschaft ist nicht Gott (S. 51). Doktor Gott ist der Doktor, den ich vergessen habe. (S. 53). Ich bin ein Truthahn mit Gottesfedern (S. 58). Ich weiß, wie das ist mit Gott, deshalb kenne ich seine Wünsche. Ich liebe Gott (S. 69). Ich bin Gott in dir (S. 73). Ich will der Reklame wegen mit Nijinsky unterschreiben, aber mein Name ist Gott. Ich

88. V. Nijinsky: Ich bin ein Philosoph, S. 91f. 89. Für P. Ostwald handelt es sich einfach um eine »angeborene […] Sprachstörung«: »Er schien nicht in der Lage, eine Folge von Wörtern zu bremsen […] wie ein Kleinkind« (Ich bin Gott, S. 240). 90. So Maurice Blanchot: »Tagebuch und Erzählung«, in: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur. Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1982, S. 251-259, hier: S. 254. 91. Auch hier ergäben sich Anschlüsse an die literarische Moderne im vorrevolutionären Russland, von der man aber nicht unbedingt annehmen kann, dass Nijinsky sie gekannt oder verstanden habe, etwa vom »style brut« des homosexuellen TagebuchSchreibers Michail Kuzmin (monotone Syntax, heterogene Fakten ohne kausale oder explikative Verknüpfung), dessen Coming out-Roman Fügel 1906 einen Skandal provozierte und der zumindest Leon Bakst, Diaghilevs Bühnenbildner, gut kannte, bis zur späteren Za um-Dichtung (Laute, Stottern, räumliches Nebeneinander ohne Tiefe), die mit Dadaismus und konkreter Poesie verglichen werden könnte. Vgl. Michail A. Kuzmin: »Histoire édifiante de mes commencements. Aus dem Russischen übersetzt und kommentiert von Klaus Harer«, in: Forum Homosexualität und Literatur 12 (1991), S. 31-45. 92. V. Nijinsky: Ich bin ein Philosoph, S. 45. 299

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liebe Nijinsky nicht als Narziss, sondern als Gott. Ich liebe ihn, weil er mir das Leben gegeben hat.« (S. 75)93 Da gibt es nichts zu lachen: Im zirkulären Verweiszusammenhang rhizom-artiger Abschweifungen erweist sich das vergöttlichte Ich als gott-konstituiert. Liebe fällt, wie Verleugnung signalisiert, vollkommen mit Narzissmus zusammen. Das Selbe dieses aufgeblähten Imaginären ist das Andere, – in einer die Zeichenfunktion außer Kraft setzenden Äquivalenz. Wenn der ärztliche Biograph meint, dass »der Welt« zwar durch Romola Nijinskys Eingriffe in den Text kein »großer Dichter verloren ging«, die Notizbücher aber in ihrer »unzensiert[en]« Fassung den wirklichen »Gedanken« des Tänzers »über Liebe, Religion« und »Sex« »auf überzeugende Weise« »Ausdruck« verliehen94, darf man sich fragen, um welche und wessen Ideen es sich dabei überhaupt handelt. Der ent/pathologisierende Blick, der »an Nijinskys Aufzeichnungen nichts Bizarres oder ›Verrücktes‹« entdecken kann und seinen ›gesunden‹ Kommunikationswunsch hervorhebt95, um dem »tragische[n] Genie« schließlich doch die offizielle »Diagnose« einer »schizoaffektive[n] Störung« zu stellen96, übergeht die deutlichen intertextuellen Spuren der wahnhaften Rede. Allerdings sind philosophische und literarische Relikte in ihr zur Farce entstellt. Nietzsches pathetischer Selbstabschaffung von Autor und Werk, wie sie die Aphoristik des Ecce Homo (1888)97 vollzieht, mag Nijinskys ›flat discourse‹ allenfalls Tonfall und Reizworte, aber kaum das gedankliche Projekt98 entnommen haben. Dem Tänzer muss die Dekon-

93. Sämtliche Zitate (mit Seitenangaben in Klammern) aus: ebd. 94. P. Ostwald: Ich bin Gott, S. 240. 95. Ebd., S. 241f. 96. Ebd., S. 457; und zwar nach dem »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM III, 1980) der »American Psychiatric Association« (S. 454). 97. Geschrieben 1888, 1908 postum von Nietzsches Schwester veröffentlicht. Nietzsches Schriften waren im zaristischen Russland verboten, zumal der Autor den Plan gehabt haben soll, durch eine weltweite Veröffentlichung revolutionäre Umbrüche zu bewirken. Nijinsky könnte daher eventuell die französische Übersetzung des ›Ecce homo‹ (1909) gelesen haben, vielleicht sogar mit Hilfe seiner Frau. Vgl. zur zeitgenössischen Rezeption Jacques Le Rider: Nietzsche in Frankreich, München 1997. 98. Vgl. dazu Friedrich A. Kittler: »Wie man abschafft, wovon man spricht: Der Autor von ›Ecce homo‹«, in: Literaturmagazin 12 (1980), S. 153-178. Der zeitgenössische Nietzsche-Kult implizierte ideologische Aneignungen. So berief sich der russische Futurismus, der die Sprache bis in die Grammatik hinein zu vermännlichen trachtete, mit tendenziöser Einseitigkeit auf die faschistoide Schimäre des Übermenschentums. Vgl. Alexandre Parnis: »Masculin et féminin dans la poétique des futuristes russes«, in: C. Viollet (Hg.), Génèse textuelle, S. 87-101. 300

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struktion abendländischer Metaphysik gänzlich verschlossen geblieben sein, auch wenn Nietzsches Anti/Dekadenz-Kritik (s)eine fatale Krankheit stellenweise fast zu parodieren scheint: »Kranksein ist eine Art Ressentiment selbst. – Hiergegen hat der Kranke nur ein großes Heilmittel – ich nenne es den russischen Fatalismus, jenen Fatalismus ohne Revolte, mit dem sich ein russischer Soldat […] zuletzt in den Schnee legt. […] überhaupt nicht mehr reagieren […] Die große Vernunft […] ist […] eine Art Wille zum Winterschlaf.« 99 Doch auf dem Archipel lose verbundener Wahnthemen schrumpft der dionysische »Wille zum Leben«100 auf eine ödipalisierte Selbst-Liebe zusammen, deren bodenlose Affirmativität ein Vaterland, dessen politische Umbrüche Nijinsky kaum noch wahrnahm, emphatisch zur eigenen Mutter macht: »Russland fühlt am meisten von allen. Russland ist die Mutter aller Staaten. Russland ist keine Politik. Russland ist Liebe. […] Russland, das ist meine Mutter. Ich liebe meine Mutter. Meine Mutter lebt in Russland. Sie ist Polin, aber sie spricht Russisch.«101 Eine paralogische Verknüpfung, die auf der Entdifferenzierung sprachlicher Tropik, nämlich einem enormen Bildbruch-Mäander, beruht, demonstriert in ihrem harschen Duktus den psychotischen »Kampf« zwischen Setzung und Verwerfung, der bei der Auflösung der Syntax und dem Verlust der Zeichenfunktion endet.102 Mit dem wissenschaftlichen Expertendiskurs teilt die psychotische Rede jedoch die Positivität eines Wissens. Wie der ideologische Meisterdiskurs, dem Nijinsky als Tolstoi-Jünger huldigte, bildet sie einen geschlossenen Zusammenhang ohne Außen, dessen Inneres aber in unendliche Oppositionen und Äquivalenzen zerfällt.103 Nijinsky, der ständig Liebe mit Selbstliebe verwechselt (»Ich bin Tolstoi, denn ich liebe ihn«104), erhebt sich ausgerechnet im Blick auf ein beflügelndes Schreibgerät selber

99. Friedrich Nietzsche (1888): »Ecce Homo. Wie man wird, was man ist«, in: Fischer-Studienausgabe, Bd. 4. Ausgewählt und eingeleitet von Hans Heinz Holz, Frankfurt/Main 1968, S. 143-218, hier: S. 152. 100. Ebd., S. 179. 101. V. Nijinsky: Ich bin ein Philosoph, S. 99. 102. Julia Kristeva unterscheidet in ›Die Revolution der poetischen Sprache‹ (Frankfurt/Main. 1978, S. 79) die poetische Rede als »Überschreitung der Setzung« vom Wahn als »Verwerfung« der thetischen Phase. Kunst situiert sich also im Symbolischen, der Wahn nicht. 103. Das schüfe auch einen Bezug zur zwangsneurotischen Struktur, die man in ihrer Dynamik ständiger Spaltung und Verneinung, d.h. imaginärer Grenzziehungen, als Kult der ›kleinen Differenz‹ betrachten könnte. So Daniel Sibony: La haine du désir, Paris 1994, S. 183-277. 104. V. Nijinsky: Ich bin ein Philosoph, S. 109. 301

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zum Ziel der Begierde: »Auf der Feder steht ›Ideal‹, aber mein Füller ist nicht ideal. Ich liebe Ideale, aber solche, von denen keiner spricht. Ich bin ein Ideal. […] Als Ideal bezeichnet man etwas Vollkommenes. Ich habe herausgefunden, wie man einen idealen Füllhalter macht.«105 Unter Rückgriff auf einen Signifikanten, der Schreiben und Tanzen verlötet, gleitet ein Ex-Ballerino als Feder106 übers Papier. Soll Diaghilev einmal zynisch geäußert haben, wenn er nur wolle, könne er aus jedem Tintenfass einen Ballettmeister machen, bekommt er von seinem Mündel nun zu hören: »[…] ich kann das Schreiben nicht aufgeben. Was ich schreibe, ist zu wichtig.«107 Nach Alfred Adler, den Nijinsky 1934 aufsuchte, müsste es sich wohl in beiden Fällen um Größenwahn handeln. Geht der Freud-Dissident von einer anthropologischen Dialektik zwischen Minderwertigkeitskomplexen und Superiorisierungswünschen108 aus, so wird Nijinsky, wie Adlers von Romola unterdrücktes Vorwort zu ihrer Biographie belegt109, zum Paradebeispiel einer (Meta-)Psychologie, die, statt des symbolischen Mangels nur reale Mängel kennt110: Zu starke Anforderungen an ein zu schwaches Individuum, das sich zunächst in Luftschlösser zurückziehe, um sich sodann von allen verfolgt zu fühlen. Schizophrenie wird damit zum

105. Ebd., S. 43. 106. In der Wahnrede werden die geläufigen Analogien zwischen Tanzen und Fliegen ideosynkratisch zu konfliktuös aufgeladenen Allegorien. Nijinsky, der in Kalifornien waghalsigerweise selbst ein Flugzeug gesteuert hatte, notierte dazu: »Alle Vögel stürzen beim Anblick eines Aeroplans ab. […] Der Aeroplan ist Liebe. Ich liebe den Aeroplan, und darum werde ich dort fliegen, wo es keine Vögel gibt. Ich liebe die Vögel« (ebd., S. 47). 107. Ebd., S. 109. 108. Noch 1982 bemüht sich der Schwiegersohn des Tänzers in seinem unveröffentlichten Vorwort zur französischen Ausgabe der Original-Tagebücher, Adlers Verdikt mit den Early Memoirs von Nijinskys Schwester zu entkräften. Vgl. Igor Markevitch: »Préface pour la traduction française du Journal intégrale de Nijinsky«, in: J.-M. Pourvoyeur/F. Stanciu-Reiss (Hg.), Ecrits sur Nijinsky, S. 198-205. 109. »For Adler, all life is movement […] toward growth and expansion. In human beings, this is subjectively represented by a goal of future success […] normal inferiority feelings ›are the cause of all improvements in the position of humanity‹.« So der AdlerSchüler Heinz L. Ansbacher: »Discussion of Alfred Adler’s Preface to ›The Diary of Vaslav Nijinsky‹«, in: Archives of General Psychiatry 38 (1981), S. 836-841, hier: S. 836. 110. In seiner Studie zum Normalismus-Dispositiv begreift J. Link (Versuch über den Normalismus) Adlers Individualpsychologie als eine »Psychotherapie« zur »Adjustierung abweichender ›Lebenslinien‹« (VIII.1). Lässt sich der ›unbewusste Lebensplan‹ als Selbstanpassung des modernen Subjekts (S. 369) begreifen, erweist sich die »Schere zwischen unbewusst phantasierter Wachstumskurve und den realen Möglichkeiten« dann als »pathogen« (S. 371). 302

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bloßen Dilemma tödlicher Selbstvergottung.111 Wenn C. G. Jung spottet, der umworbene Tänzer müsse wohl eher an einem Überwertigkeitskomplex gelitten haben112, bleibt diese Sichtweise indes ebenfalls jenem imaginären Ich verhaftet, das sich bereits auf intrasubjektiver Ebene durch eine fundamentale Ambivalenz von Erotik und Aggressivität charakterisiert.113 Komischerweise ist die Rationalität normalen ›Wieder(v)erkennen(s)‹ im Spiel, wenn Nijinsky seinen vermeintlichen Irrsinn anfangs als von ihm selber beabsichtigte Täuschung ausgibt und seinen angeblichen Masseur hellsichtig als getarnten Krankenpfleger entlarvt. Noch im Wahn kommt ein Knecht den Herren sklavisch zuvor, indem er seine Rolle freiwillig auf sich nimmt. Angesichts solcher Dialektik wird verständlich, dass die Psychose weniger ein erkenntnistheoretisches denn ein linguistisches Problem darstellt.114 In Nijinskys Tagebüchern findet man zahlreiche Sprachstörungen, etwa den Negativismus, die Inflation der Widersprüche und Tautologien, den Verlust der metaphorischen Funktion usw.115 Aber gerade weil diese Rede einer hermeneutischen Tiefenstruktur entbehrt, liegt ihr unbewusster Sinn – im Gegensatz zur Neurose – sozusagen offen zutage.116 Beruht Nijinskys interpretatorisches System auf einer Identifika-

111. »There is no ›split‹ in their personality. […] if the conception of life of a schizophrenic person were right, if really the meaning of life were godlikeness, then the choice of schizophrenia would be the best possible choice – because it resembles death.« So Alfred Adler: »Preface to ›The Diary of Vaslav Nijinsky‹«, in: Archives of General Psychiatry 38 (1981), S. 834f., hier: S. 834. 112. »C’est plutôt le sentiment de sa supériorité qui a dû lui causer quelques problèmes«, sagt Jung, der dann selber auf eine Individuum/Umwelt-Diskrepanz rekurriert: »L’expérience qu’il a vécue était trop grande pour son enveloppe. Il s’est brisé comme un vase« (zitiert in: Markevitch: »Préface«, S. 201f.). Wie Freud rät Jung, man solle Nijinsky seine Träume träumen lassen. 113. Vgl. J. Lacan: Das Spiegelstadium. 114. »Damit es sich um eine Psychose handelt, müssen Sprachstörungen vorhanden sein«. So Jacques Lacan (1955/1956): Le Séminaire. Livre III. Les psychoses, Paris 1981, S. 106 (übersetzt von A. R.). 115. Vgl. auch empirische Studien dazu, z.B. Susanne Schmidt-Knaebel: Schizophrene Sprache in Monolog und Dialog. Psycholinguistischer Beitrag zu einer Charakteristik psychotischer Sprechakte mit Vorschlägen für das Gespräch in Klinik und Psychotherapie, Hamburg 1979. 116. Im Falle der Neurosen erscheint das Verdrängte an seinem (symbolischen) Ort, aber unter einer Maske, d.h. entstellt, während es bei der Psychose andernorts erscheint, im Imaginären nämlich, dort aber ohne Maske (J. Lacan: Les psychoses, S. 120). Man denke an die auch klinisch konstatierten Prozesse der Ver- und Entwörtlichung, die Freud als Scheitern der Unterscheidung zwischen Wort- und Sachvorstellungen fasst. »In der Neurose macht sich das Subjekt blind für einen Teil seiner psychischen Realität. In 303

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tion mit Gott117, so kreist sein passionelles Delirium um das Begehren des Anderen118: »Ich will kein Lachen. Ich will Liebe.«119 Dass er sich der Askese verschreibt, situiert ihn in der ›trans-sexuellen‹ Position eines transzendentalen Signifikanten.120 Mit der Ver/Leugnung der Geschlechterdifferenz vergeht auch das Verlangen: »Ich trage die Krawatte der Truthenne und des Truthahns. Frau und Mann sind gleich, deshalb werden keine Frauenvertreterinnen gebraucht. […] Ich bin Mann und Frau«. »Lust ist eine schreckliche Sache. […] Ich lasse meine Lust schon ziemlich lange nicht mehr erregen.«121

der Psychose dagegen vollzieht das Subjekt einen Bruch mit der äußeren Realität; die Leere, die sich dann vor dem Subjekt auftut, gibt dem Phantastischen Raum; es soll den offenen Abgrund zuschütten«. »In Wirklichkeit ist das Unbewusste das Subjekt des Sprechens. Beim normalen und beim neurotischen Menschen wird dies durch die Intervention der Ich-Kontrolle verschleiert, aber beim Psychotiker zeigt es sich unverhüllt.« So Maud Mannoni: Der Psychiater, sein Patient und die Psychoanalyse, Frankfurt/Main 1983, S. 70, S. 187. Vgl. S. 86. 117. In der gekürzten französischen Ausgabe der Tagebücher von 1953, die 1955 unter dem Titel Der Clown Gottes auf Deutsch erschien, sind zwei Briefe an adelige Gönnerinnen (Lady X und Lady Ripon) sowie ein Brief an den Ratspräsidenten der Alliierten Streitkräfte in Paris abgedruckt, der den ebenfalls publizierten Brief an Nijinskys im revolutionären Russland verbliebene Mutter weiterleiten soll. Alle sind undatiert. Der Verfasser kündigt die seelische Wende zunächst im geadelten Eigennamen an (»Je ne suis plus Nijinsky-des-Ballets-Russes, je suis Nijinsky-de-Dieu«, journal de Nijinsky, 1953, S. 149), um dann seine universale Gottes- und Menschenliebe der (bolschewistischen) Politik entgegenzusetzen. Tolstoi, auf den er sich dabei bezieht, sei kein Anarchist gewesen, sondern »dans le parti de Dieu« (ebd., S. 155). 118. Für Lacan ist Liebe, als Metapher des Subjekts, durch die Paradoxstruktur einer Ersetzung des Mangels gezeichnet: Denn in der Liebe gibt man das, was man nicht hat, demjenigen, der es nicht will. Nijinskys Liebesmetapher drückt dieses Verlangen nach dem Verlangen (des Anderen) aus. 119. V. Nijinsky: Ich bin ein Philosoph, S. 211. 120. Programmatischer Verzicht auf Sexualität aber war die Gemeinsamkeit dekadenter wie lebensreformerischer Doktrinen, sodass auch hier interdiskursive Einflüsse durchschlagen: »Tolstoi ist mein, ich bin sein« (V. Nijinsky: Ich bin ein Philosoph, S. 57). Im russischen Kontext könnte man den gnostisch verbrämten Spiritualismus eines Literaten wie Wasili W. Rosanow (1913) anführen, der die Erlösung von (heterosexueller) Fleischeslust durch ›geistige Homosexualität‹ propagiert. Vgl.: »Menschen des Mondlichts (Auszüge). Aus dem Russischen übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Björn Seidel-Dreffke«, in: Hans-Alfred Herchen (Hg.), Immer noch unterwegs zu den blauen Inseln. Anthologie, Frankfurt/Main 1995, S. 186-201. 121. V. Nijinsky: Ich bin ein Philosoph, S. 59, 193. 304

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NIJINSKY, DER ›GOTT DES TANZES‹ ALS ›CLOWN GOTTES‹?

Die Skopzen, d.h. Verschnittene, auf die Nijinsky in diesem Zusammenhang anspielt, gehören einer östlichen Sekte des 19. Jahrhunderts an, deren männliche Mitglieder sich aus religiösen Gründen selbst kastrieren. Randständig und gleichsam atmosphärisch taucht sie auch in Dostojewskis Roman Der Idiot auf122, zu dessen Hauptgestalt sich etliche Analogien ergeben. Denn der an Epilepsie leidende Fürst Myschkin, eine duldende Christ-Ikone, steht über den irdischen Gegensätzen, die seine Rede gleichwohl unentscheidbar durchqueren, – jenseits der Geschlechter wie des Begehrens.123 Als armer Ritter bzw. russischer Don Quixote wird er zum passiven Objekt hysterischer Werbung, zum Faszinosum einer Wunde, die sich dem Bewusstsein verschließt. Michail Bachtin, der Vordenker literarischer Intertextualität, nennt ihn in seiner Studie zur Poetik Dostojewskis einen ›tragischen Clown‹, der die ›Karnevalisierung‹ des Romans befördere: »Dieser Mensch nimmt in einem besonderen, höheren Sinne keine Position im Leben ein, die sein Verhalten bestimmen und seine reine Menschlichkeit einschränken könnte. […] Bei Myskin hat […] die Tatsache, dass er selbst und sein Verhalten ständig unangebracht sind, einen einheitlichen, fast naiven Charakter; er ist eben ein ›Idiot‹. […] Überall, wo Fürst Myskin erscheint, werden die hierarchischen Barrieren zwischen den Menschen plötzlich durchlässig und es entsteht […] karnevalistische Offenheit.« 124 Nijinsky wäre also nicht nur jene »weltfremd[e] Dostojewskij-Figur«, weil er bis zuletzt den Zusammenhang zwischen seiner Heirat und seiner Entlassung nicht begreift125, – er will ihn gar nicht begreifen. Denn der Wahn ist kein Verlust des Verstandes, sondern eine Frage des Wunsches. Nijinskys Identifikation mit dem Zentrum beruft sich auf jene Idiotie der Liebe, die sich an einer Signatur aufhängt, jenem i-Tüpfelchen nämlich, das den Eigen- mit den Klassennamen, Kontingenz mit Universalität, verkuppelt: »Jetzt verstehe ich Dostojewskis ›Idioten‹, weil ich selbst für einen Idioten gehalten werde. Ich mag es, wenn alle glauben, ich sei ein Idiot. […] Ich bin kein Geisteskranker

122. Fjodor M. Dostojewski: Der Idiot. Roman, Berlin, s.d., S. 296, 306. 123. So in seinem Brief an Aglaja: »Ich habe Ihnen nichts mitzuteilen und nichts über mich zu schreiben« (ebd., S. 271). 124. Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostojevskijs, Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1985, S. 195-197. 125. In den mondänen Salons war er – trotz Diaghilews Verkündung seines Genies und seiner natürlichen Intelligenz – unwiderruflich der ›Idiot‹ geblieben. Proust, der ihn auf der Bühne bewunderte, fand ihn leider uninteressant. Im Bloomsbury-Kreis, zu dem der Tänzer während der London-Tourneen Zugang erhielt, ging Lytton Stracheys Verdikt in dieselbe Richtung. 305

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und Dostojewskis Idiot ist kein Idiot. Ich habe […] das i falsch geschrieben. Ich liebe diesen Buchstaben.«126 Als Leerstelle im Symbolischen entspringt die Psychose der Verwerfung eines Signifikanten, der dadurch, dass er nie affirmiert werden konnte, auch nicht negiert, abgewehrt oder verdrängt werden kann. Sein bedrohliches (Wieder)Auftauchen im Realen erzeugt eine imaginäre Kettenreaktion, die als delirante Thematik rekonstitutive Funktionen erhält.127 Obwohl sich dieser Prozess »unverhüllt« zeigt128, ist das Trauma, das ihn bedingt, nicht rekonstruierbar.129 Auf der Basis einer Textanalyse, die sich schon dadurch von der psychoanalytischen Situation unterscheidet, dass man es bei der Lektüre mit einem fixierten Imaginären und nicht mit einer symbolischen Bewegung zu tun hat, lässt sich freilich nur darüber spekulieren, ob es die Verwerfung der väterlichen Funktion gewesen sein könnte, die Nijinskys Wahn gerade in dem Moment ausbrechen ließ, wo sie ihm als Ausschluss seiner selbst aus der Realität (wieder) entgegenkam, – aber gleichsam vom Ort einer ›mütterlichen‹ Symbiose aus, die der Ersatzvater Diaghilew mit seinem Schützling bildete. Wie Cocteau karikiert Nijinsky ihn als Hexe: »Djagilew färbt sich die Haare, um nicht alt zu sein. […] Djagilew hat zwei falsche Vorderzähne. […] Sie wackeln, und ich sehe es. Mich erinnert [er] an ein böses altes Weib.«130 Nijinskys Frau berichtet, dass ihr Mann während der ersten Krankheitsphase »fantastische Schmetterlinge« mit seinem eigenen Antlitz malte und »große Spinnen mit Diaghilews Gesicht«.131 Gleich-

126. V. Nijinsky: Ich bin ein Philosoph, S. 151. 127. Vgl. J. Lacan: Les psychoses, S. 22, 94ff., 100. 128. M. Mannoni: Der Psychiater, S. 187. 129. Cynthia Chase spricht vom Trauma-Paradox, d.h. einem Ereignis (Schock), das eine verschobene psychische ›Reaktion‹ hervorruft. Diese Nachträglichkeit, »die Syntax des psychischen Traumas, der der Verdrängung unterworfenen Erfahrung«, liege in der »Disjunktion« zwischen Sprache und Bedeutung, die strukturell der Disjunktion zwischen Bewusstsein und Gedächtnis, Signifikant und Signifikat entspreche (S. 211). Insofern sind delirante Systeme strukturanalog zur analytischen Rekonstruktion. Cynthia Chase: »Die Übertragung übersetzen. Psychoanalyse und die Konstruktion von Geschichte«, in: Anselm Haverkamp/Renate Lachmann (Hg.), Memoria. Vergessen und Erinnern, München 1993, S. 197-219. 130. V. Nijinsky: Ich bin ein Philosoph, S. 140. 131. R. Nijinsky: Nijinsky, S. 382. Er plante auch ein Ballett, in dem junge Männer wie Falter in die Falle gingen (A. Turi: Nijinsky, S. 196). Auch P. Ostwald (Ich bin Gott) erwähnt die letzten drei Ballett-Projekte, die Nijinskys (homo)sexuelle Präokkupation bezeugen: Papillons de nuit, Chansons de Bilitis und ein Ballett über Meister/Schüler-Be306

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zeitig schrieb er damals einen Brief »An den Mann«, in dem der homoerotische Tenor gleichsam maskulinistisch besänftigt wird. Biblisch beginnend, endet die Epistel mit einem Wiegenlied für jenes universale Geschlecht, das es nicht mehr gibt und hinter dessen Namenlosigkeit sich wohl auch Diaghilev verbergen könnte: »Ich kann Dich nicht beim Namen nennen, denn ich habe keinen Namen für Dich. […] Ich liebe Dich, wie man ein menschliches Wesen liebt, aber ich möchte nicht mir Dir zusammenarbeiten […] Ich nenne Dich nicht meinen Freund, denn ich weiß, dass Du mein erbitterter Feind bist […] Schlafe sanft. Von Mann zu Mann.«132 Auf einen Verlust des väterlichen Gesetzes, der sich in der Entgrenzung des Generischen133 anzeigt, könnten aber auch zwei (in der integralen deutschen Neuausgabe davon abweichend übersetzte) Stellen aus der frühen französischen Tagebuch-Fassung (1953) hinweisen, wo es einmal heißt: »Ich bin ein Vater, der ein Kind wäre«134, und zum anderen: »Ich bin der Gatte und die Gattin in einer einzigen Person. Ich liebe meine Frau, ich liebe meinen Mann, und ich mag nicht, dass sie sich Orgien ausliefern.«135 In dieser Verschränkung von Generationenund Geschlechtertausch zeigt sich überdies eine auffällige Parallele zum Entmannungs-Phantasma eines Präsidenten Schreber, dessen

ziehungen in einer Malschule der Renaissance. Diese Themen können aber auch ihre neuromantisch-ästhetizistische Herkunft kaum verleugnen. 132. Zitiert in: P. Ostwald: Ich bin Gott, S. 244f. 133. Vgl. zur Grenzproblematik in Lacans Konzeption der Geschlechterdifferenz z.B. Antonello Sciacchitano: »Lacan und die schlechte Unendlichkeit«, in: Jutta Prasse/ Claus-Dieter Rath (Hg.), Lacan und das Deutsche. Rückkehr der Psychoanalyse über den Rhein, Freiburg i.Br. 1994, S. 142-149. Lacan nehme »die Mengenlehre […] in einem mathematisch uneigentlichen, aber analytisch interessanten Gebrauch des Unendlichen in bezug auf die Frage der Sexuierung.« Seine »Wiederaufnahme« der Grenzproblematik in den Termini »zweier verschiedener universaler Operatoren«, ›alle‹ und ›nicht-alle‹, gebe »dem Freudschen Verständnis der Kastration eine logische Basis. Der Ödipus ist die mythische Version der männlichen Sexuierung: alle sind kastriert, außer einem: dem Vater« (S. 145f.). Dessen »Ex-sistenz« als einziger Ausnahme, die »die Söhne als Menge definiert« (S. 146), scheint bei Nijinsky nicht mehr gesichert: Alle Männer werden zum (un-kastrierten) ›Urvater‹, d.h. gleich, wie die Frauen, und diesen damit gleich. 134. »Je suis un père qui serait un enfant« (Le Journal de Nijinsky, S. 234, hier übersetzt von A. R.). 135. »Je suis l’époux et l’épouse en une seule personne: j’aime ma femme, j’aime mon mari et je n’aime pas les voir se livrer à la débauche« (Journal de Nijinsky, S. 23, hier übersetzt von A. R. Vgl. V. Nijinsky: Ich bin ein Philosoph, S. 59). 307

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quasi-mystisches Genießen die Nähe der psychotischen zur weiblichen Position markiert.136 Nijinskys sagenumwobener »letzter Tanz«, an den sämtliche Augenzeugen verschiedene Erinnerungen haben, wirkt in der Darstellung seiner Gattin wie die autosuggestive Improvisation eines Psychodramas137, dessen Aufführung mit der Domptur des Publikums beginnt und in euphorischer Ekstase endet. Nachdem der Ex-Ballerino ohne genaue Programmangabe ankündigen ließ, er gebe am 19. Januar 1919 im Hotel Suvretta in St. Moritz ein Solo, teilte er seiner besorgten Frau kurz vor dem Auftritt feierlich mit, dies werde seine »Hochzeit mit Gott« sein: »Die Anwesenden blickten ihm erwartungsvoll entgegen. ›Ich werde Ihnen zeigen, wie wir Künstler leben, wie wir leiden, wie wir schaffen‹. Er nahm einen Stuhl, setzte sich und starrte das Publikum an, als wolle er die Gedanken jedes einzelnen lesen. Alle warteten still wie in einer Kirche. […] Der Zustand muss etwa eine halbe Stunde gedauert haben. Das Publikum verhielt sich, als sei es von Vaslav hypnotisiert.«138 Der Tanz hebt also an mit seinem Gegenteil, einer katatonischen Reglosigkeit, die wie eine Hohlform auf ihn verweist, mit ihm aber immerhin das nun von keiner Musik überspielte Schweigen teilt. Dieser eklatante Bruch mit den Publikumserwartungen würde einem dadaistischen Happening ähneln, hätte sich der Artist nicht in »dunklen Stimmungen« befunden.139 Als er sich endlich zu rühren beginnt, geht seine mimetische Darbietung in eine Art von Ausdruckstanz über: »Er nahm […] Samt und legte [ihn] in Form eines großen Kreuzes über die Länge des Raums. Am Kopfende stellte er sich mit offenen Armen hin, selbst ein lebendiges Kreuz. ›Jetzt werde ich euch den Krieg tanzen, […] für den ihr […] mitverantwortlich seid.‹ […] Er schien den Saal mit allen Schrecken der leidenden Menschheit zu erfüllen. Es war tragisch; seine Gesten waren monumental, und er verzauberte uns derart, dass wir ihn […] über Leichen schweben sahen, [wie] eine jener übermächtigen Kreaturen voll beherrschender Kraft, ein dem Dschungel entsprungener Tiger, der uns augenblicklich vernichten konnte. Und er […] wirbelte durch den Raum, […] kämpfte mit seinen stählernen Muskeln, seiner Geschmeidigkeit [und] blitzartigen Schnelligkeit […] um sein Leben, gegen den Tod. […] Donnernder Beifall begrüßte ihn […]. Seit diesem Tag war er nicht mehr derselbe.«140

136. 137. 138. 139. 140.

Vgl. A. Runte: Biographische Operationen, S. 588-594. A. Turi: Nijinsky, S. 200ff. R. Nijinsky: Nijinsky, S. 389f. Ebd., S. 390. Ebd., S. 390f. 308

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Nijinsky, der längst moralischer Erbauung Vorrang vor dem Kunstvergnügen verleiht, beklagt sich im Tagebuch: »Das Publikum […] glaubte, ich tanze, um zu unterhalten. Ich habe schreckliche Sachen getanzt. Sie hatten Angst vor mir […]. Ich wollte niemanden umbringen. Ich liebte alle, doch mich liebte keiner.«141 Als phantasmatischer Niederschlag fehlender Begrenzung stünde die religiöse Chiffre für einen ›ozeanischen Zustand‹, von dem die erlebte Einswerdung zeugt: »Ich spürte den ganzen Abend Gott. Er liebte mich. Ich liebte ihn. Wir waren miteinander getraut.«142 Dass sich die auch asketisch formulierbare ›unio mystica‹ im Realen (des) Körper(s) vollzieht, drückt sich in der Gleichsetzung des höchsten Prinzips mit der für das Medium Tanz grundlegenden Seinsform aus, die alle Gegensätze nichtet: »Tod ist Leben. Der Mensch stirbt für Gott. Gott ist Bewegung, und deshalb ist der Tod notwendig.«143 Derartige Äußerungen aber als Zeugnis spiritueller Erfahrung, gar eines Agonie-Erlebnisses, zu begreifen, wie es Nijinskys französische Biographin tut144, hieße, den Bezug des Schreibens zur Absenz zu ignorieren. »Grabrede und Grabinschrift kommen nicht erst nach dem Tod; sie bearbeiten das Leben, in dem, was man Autobiographie heißt«145, bemerkt Derrida über ein unmögliches Genre, das in seiner Unentscheidbarkeit zwischen Dichtung und Wahrheit Normalität wie Wahn konstituiert. Doch statt auf ein sinn- und zweckvolles Ende zuzusteuern, läuft die psychotische Schrift im Kreis. Wie im inneren Monolog spricht das Subjekt zu sich selbst, aber mithilfe seines eigenen Ichs, und zwar wörtlich, – so, als ob ein Dritter, sein Doppelgänger, spräche und die Handlungen des Ichs wie ein anderer kommentierte.146 Während die dialogische Struktur des Sprechens die eigene Rede vom Ort des Anderen aus reflektiert, von dem der volle Sinn als solcher erst gestiftet wird, wird sie in der Psychose zur Farce einer ins eigene Innere verlegten Alterität, – daher die Floskeln und Negativismen.147 Dass ein Verrückter trotzdem im Alltagssinne verständlich sein kann, belegt Ni-

141. V. Nijinsky: Ich bin ein Philosoph, S. 14f. 142. Ebd., S. 16. 143. Ebd., S. 26. 144. So Françoise Stanciu-Reiss: »Une nouvelle lecture du Journal de Nijinsky à la lumière des N.D.E.«, in: J.-M. Pourvoyeur/F. Stanciu-Reiss (Hg.), Ecrits sur Nijinsky, S. 101-111. 145. Jacques Derrida: Mémoires. Für Paul de Man. Hg. von Peter Engelmann, Wien 1988, S. 42. 146. J. Lacan: Les psychoses, S. 23. 147. Daher falle die »imaginäre Dimension aus« (M. Mannoni: Le psychiatre, S. 86), wobei zu bedenken bliebe: »le mécanisme imaginaire est ce qui donne sa forme à l’aliénation psychotique, mais non sa dynamique« (J. Lacan: Les psychoses, S. 166f.). 309

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jinskys ebenso reflektiert wie ironisch wirkende Antwort auf Diaghilevs Vorschlag, wieder für ihn zu tanzen: »Ich kann nicht, ich bin verrückt.«148 Kurz nach seinem tänzerischen Abschiedsritual wird Nijinsky von Eugen Bleuler, dem Spezialisten für ›Persönlichkeitsspaltung‹149, inspiziert. Nijinsky betrachtet dessen sofortige Diagnose einer unheilbaren Geisteskrankheit zu Recht als sein »Todesurteil«150, da nun eine leidvolle Patientenkarriere beginnt. Nach mehrfacher Internierung, die seinen Zustand stets verschlimmert (Anorexie, Halluzinationen, Aggressivität), und ergebnislosen Konsultationen bei Forel, Ferenczi und sogar Freud wird Nijinsky in den 30er Jahren mit Insulin-Schocks behandelt151, weil ein gewisser Dr. Sakel eine »Brücke über den Abgrund bauen« möchte, damit das »verschüttete Ich wieder in die Außenwelt« gelange.152 Aber erst 1945, nach der Befreiung durch russische Soldaten, mit denen Nijinsky zum ersten Mal wieder spricht und tanzt, wird es sich, ein letztes Mal, artikuliert haben.

Getanzte Dithyramben Ohne hier detailliert auf Nijinskys künstlerische Produktion eingehen zu können, sollen abschließend einige ihrer unbestritten zukunftsweisenden Momente auf jene ephebische Androgynie bezogen werden, die das Bild des Ballerino entscheidend mitprägte und die seine Lebensgeschichte in den größeren Zusammenhang einer Geschlechter-Geschichte rückt. Nijinskys modernistische Choreographie Der Nachmittag eines Fauns von 1912 (nach einem Gedicht von Mallarmé und mit Musik von Debussy153), die einen Skandal entfachte, trennt sich bereits von der

148. Zitiert in: R. Buckle: Nijinsky, S. 333. 149. Vgl. zur damaligen Attraktivität der Persönlichkeitsspaltung bzw. der multiplen Persönlichkeit insbesondere Ursula Link-Heer: »Doppelgänger und multiple Persönlichkeiten. Eine Faszination der Jahrhundertwende«, in: arcadia. Zeitschrift für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 31 (1996), Heft 1/2, S. 273-296. 150. R. Nijinsky: Nijinsky, S. 392ff. 151. P. Ostwald (Ich bin Gott) hat die Krankenakten ausgewertet und beschreibt die einzelnen Behandlungs-Etappen sehr genau. Vgl. besonders Kap. 13. Die 228 Insulin-Schocks, die Nijinsky 1938 erhielt, führten zu einem völligen Sprachverlust! 152. Sein Lehrer Bleuler setzt diese tägliche ›Therapie‹ in der staatlichen Nervenklinik des Kantons Bern drei Monate lang fort. Zitiert in: R. Buckle: Nijinsky, S. 340f. 153. Dass sich das 10-Minuten-Ballett kaum auf den hermetischen Symbolismus und nur indirekt, nämlich vom Titel her, auf die Vorlage Mallarmés bezieht, beteuert Cocteau: Es sei »eine kurze Szene, die dem ›Faune‹ vorangestellt und zum musikalischen 310

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Vaslav Nijinskys letzter Sprung (1939)

Ausdrucksfixierung des Diaghilevschen Gesamtkunstwerks.154 Statt einer expressiven Modulation des klassischen Bewegungsvokabulars,

Präludium getanzt wird« (in: J.-M. Nectoux u.a.: Nachmittag eines Fauns, S. 21f.). Debussy war über den Kontrast zwischen seinem erstem sinfonischen Werk, das er nur widerstrebend abgab, und dem fast statischen Tanz ziemlich ungehalten. Nijinsky hingegen monierte Léon Baksts Bühnenbild, dem er den primitiven Stil Gauguins vorzog. Zum Skandal vgl. Dokumente zur »bataille du Faune«, insbesondere zur Polemik zwischen dem Herausgeber des Figaro, Calmette, und dem Bildhauer Rodin, der den Faun verteidigte, in: ebd. 154. Diaghilevs Wagnerianismus geriet insofern mit seinen Bestrebungen nach 311

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wie sie Michail Fokin unter dem Eindruck des ›freien Tanzes‹ entwarf155, verdichtete sein Nachfolger das Tänzerische auf ein streng durchkomponiertes Minimum quasi-mathematischer Figuren.156 Hugo von Hofmannsthal verglich den Faun mit einer poetischen Textur: »Zu befremden ist das Los und das Vorrecht des Neuen, des Bedeutenden in der Kunst. Man ist gewohnt, in Nijinsky den geniehaftesten und darum eben den fasslichsten aller Mimen zu genießen. Hier aber handelt es sich nicht mehr um […], den Interpreten, sondern um den Urheber eines Ganzen […], und vielleicht ist Nijinsky eher den schweren als den leichten Autoren zuzuzählen. […] Ein Kunstwerk kann auf den ersten Blick schwer fasslich erscheinen, […] nicht durch allegorische Geheimnisse oder sonstige Dunkelheiten, sondern durch die Dichtigkeit des Gewebes, welche eben seine hohe Qualität ausmacht.«157

absoluter Modernität in einen Widerspruch. Vgl. Rudolf Liechtenhan: Vom Tanz zum Ballett. Geschichte und Grundbegriffe des Bühnentanzes, Stuttgart, Zürich 1993 2., erw. Aufl., S. 112. Im Manifest seines ersten Choreographen Michail Fokin von 1914 hieß es: »das neue Ballett lehnt es ab, der Sklave des Bühnenbilds und der Musik zu sein und es erkennt die Zusammenarbeit der verschiedenen Künste nur unter der Voraussetzung ihrer vollkommenen Gleichberechtigung an« (zitiert in: ebd., S. 109). Der anscheinend noch von alten Prinzipien geleitete Begriff »enthält in seiner Struktur schon ein vollkommen neues, bühnenästhetisch revolutionäres Paradigma«, dessen innovatorisches Potential allerdings erst mit Nijinskys ›Faun‹ hervortrete. So Gabriele Brandstetter: »Die Inszenierung der Fläche. Ornament und Relief im Theaterkonzept der ›Ballets Russes‹«, in: Claudia Jeschke u.a. (Hg.), Spiegelungen, S. 147-164, hier: S. 148. 155. So in Fokins Manifest von 1914: »Für jeden Einzelfall muss, statt dass man lediglich die bereits feststehenden und bewährten Schritte miteinander kombiniert, eine neue Bewegungsform gefunden werden, die dem Gegenstand, der Zeit und dem Charakter der Musik entspricht. […] Ein Tänzer kann und soll von den Händen bis zu den Füßen ausdrucksvoll sein« (zitiert in: R. Liechtenhan: Vom Tanz, S. 109). Fokin wollte nicht nur die starre akademische Technik auflockern, sondern Stimmungen schaffen. Dafür ließ er z.B. die Solisten mit dem Corps de ballet verschmelzen oder die Tänzerin dem Publikum provokativ den Rücken zudrehen (R. Buckle: Nijinsky, S. 76ff.). Obwohl Nijinsky sich als Ballerino dem Gefühlsimperativ beugen musste, drückte er Emotionen nicht unmittelbar aus wie seine Partnerin Tamara Karsavina, sondern übersetzte Affekte in traumhafte Zeichen. 156. Vgl. a. Nijinskys in seiner eigenen Zeit angesiedeltes Ballett Jeux (1913), in dem es um den neuen Tennissport und eine heterosexuell chiffrierte homosexuelle Dreiecksbeziehung geht (vgl. S. Lifar: Serge de Diaghilew, S. 253ff.). Zum Bezug der ›eckigen Posen‹ und schematisierten Bewegungen zur rhythmischen Gymnastik vgl. Marie-Françoise Christout: Le Ballet occidental. Naissance et métamorphoses XVIe-XXe siècles, Paris 1995, S. 112. Nijinsky hat übrigens eine komplexe Notationsschrift entwickelt, die erst am Ende des 20. Jahrhunderts rekonstruiert werden konnte. 157. Hugo von Hofmannsthal (1912): »Nijinskys ›Nachmittag eines Fauns‹«, in: 312

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NIJINSKY, DER ›GOTT DES TANZES‹ ALS ›CLOWN GOTTES‹?

Für den Ästhetiker der Moderne kommt die fast statische Szene dieses »Stück[s] aufgelöster Skulptur«158 sogar einem Trauerspiele nahe, aber eher auf der Ebene symbologischer Verfahren als auf jener mythischer Gehalte. In Cocteaus Worten bestand das zehnminütige Tableau von äußerster Künstlichkeit und Genauigkeit aus einem »Faun«, »im Halbschlaf« liegend: Badende Nymphen, die vor ihm fliehen, »führen in an der Nase herum«; »ein vergessener Schleier«, den er wie eine Beute auf seinem Lager an sich drückt, »genügt zur Erfüllung des Traumes […] und das Gedicht lebt im Gedächtnis eines jeden auf«159, – für manche als eine laszive Anspielung160, für die anderen als Rückkehr zur dionysischen Antike.161 Dadurch dass Nijinsky »Virtuosität und Dekorativität durch einfache Grundbewegungen« wie »Gehen, Wenden, Kniebeugen, Gewichtsverlagerungen […] und einen einzigen Sprung« ersetzt hatte, erschien die schmucklose Nacktheit wie die »offene Zurschaustellung« einer Kombination von »tierischem Erotizismus« und dekadentem »Fetischismus«.162 Unter der moralischen Empörung, die das innovatorische Stück auslöste, zeigt sich die ästhetische. Denn seine heute kaum noch begreifliche Schockwirkung lag darin, mit tänzerischen Mitteln ein Bas-Relief zu schaffen, das keine Nachahmung griechischer Originale mehr darstellte, sondern die Körperbewegungen verzerrte und auf den Eindruck flächiger Zweidimensionalität reduzierte.163 So wie die

Reden und Aufsätze I. 1891-1913. Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt/Main 1979, S. 508-510, hier: S. 509. 158. Ebd., S. 508. 159. Jean Cocteau, zitiert in: J.-M. Nectoux u.a.: Der Nachmittag eines Fauns, S. 21f. 160. Der Onanie-Vorwurf hängt am seidenen Faden eines geraubten Schleiers. Das vielschichtige Schleiersymbol reicht vom dekadenten Salomé-Topos bis zur Referenz auf Fortuny-Schals, die schon im Tanz der Loïe Fuller eine große Rolle spielten und die Rilke besang. Vgl. Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt/Main 1995, S. 126ff. Auch die hochstilisierten und nicht unbedingt antikisierenden faltenwerfenden Gaze-Gewänder der Nymphen sind Fortuny-Roben nachempfunden. Aber sogar in der folkloristischen Einlage des Pavillon d’Armide tanzt ein Possenreißer ein Duett mit einem magischen goldenen Schal (R. Buckle: Nijinsky, S. 66). 161. »Apollon cède la place à Dionysos, et le rideau se ferme«, heißt es schon in der Bühnenzeitschrift ›La Rampe et la Vie‹ 22 (1912), zitiert in: Gala Pogojéva: »Nijinsky en Russie«, in: J.-M. Pourvoyeur/F. Stanciu-Reiss (Hg.), Ecrits sur Nijinsky, S. 29. 162. Nancy Van Norman Baer: »Die Aneignung des Femininen. Androgynität im Kontext der frühen ›Ballets Russes‹ 1909-1914«, in: Claudia Jeschke u.a. (Hg.), Spiegelungen, S. 40-54, hier: S. 47f. 163. Nijinsky bewirkte den »›remote‹-Charakter der flächig konzipierten Figuren« 313

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humane Gestalt aus damaliger Sicht dadurch »entmenschlicht« wurde164, ersetzte der in sich geschlossene Raum des hermetischen Geschehens obendrein die Zeige-Ökonomie der Guckkastenbühne: Performanz statt Repräsentation. Auf einem schmalen Streifen im Vordergrund immobilisieren sich die Figuren nebeneinander zu einem dynamischen Fries. Stets parallel zur Rampe, scheint ihr Torso in die dem Unterleib entgegengesetzte Richtung gedreht. Die neueste tanzwissenschaftliche Rekonstruktion der ›Partitur‹ hat ergeben, dass Nijinsky sich »zum Aufbau von […] Bewegung weder« am »geometrische[n] Prinzip des Balletts noch« an der »Plastizität der Duncan-Tänze«165 orientierte. Vor allem aber bestand sein »Experiment« in einer »Reflexion über die Möglichkeit der Darstellung von Bewegung, […] Körper und Raum« unter Berücksichtigung der stets fluktuierenden Betrachterperspektive wie der Eigenmobilität des choreographischen »Gefüges«.166 Mit der daraus resultierenden »Hybridisierung« des Antiken167, die eben keine »Stilisierung der ›idealen‹ Körperform […] zum Körperbild des ›Natürlichen‹«168 mehr bedeutet und daher auch mit den Illusionen des ›freien Tanzes‹ bricht, hat ein nunmehr selbstreferentiell gewordenes Medium für Hofmannsthal gleichsam klassisches Format erreicht: »Diese […] skulpturale Konzentration [ist] eine Vision der Antike, die ganz die unsrige ist, genährt von den großen statuarischen Gebilden des fünften Jahrhunderts, […] gleich fern der Antike Winckelmanns […] wie der Antike Tizians. – Die uralte simple bukolische Situation ›Faun und Nymphen‹, eines der ewigen Grundmotive der Weltphantasie, streng in ihre wesentlichen Teile zerlegt. […] Ein grandios Gebundenes«, das »Goethe […] nicht fremd ist.«169 Griffen diese getanzten Dithyramben der persönlichen ›Tragik‹ eines Tänzers, dessen Körper zur Bühne geworden war170, nicht etwa pro-

durch Anweisungen zur ›Ausdruckslosigkeit‹ wie derjenigen, statuengleich ›mit offenen Augen zu schlafen‹ (G. Brandstetter: Tanz-Lektüren, S. 151). 164. R. Buckle: Nijinsky, S. 126, etwa durch die akademische Regeln verkehrende Innenstellung der Füße oder Profil-Positionen. 165. Claudia Jeschke: »›... ein einfaches und logisches Mittel ...‹ Nijinsky, der Zeitgeist und ›Faun‹«, in: J.-M. Nectoux u.a.: Nachmittag eines Fauns, S. 97-118, hier: S. 111f. 166. G. Brandstetter: Tanz-Lektüren, S. 160. 167. Ebd., S. 153. 168. Ebd., S. 71. 169. H. v. Hofmannsthal: Nijinskys, S. 509f. 170. »It is the movement material on its own that is expressive« (R. Burt: The Male Dancer, S. 90). »In Nijinsky’s dance […] the face no longer plays a part […]. It is above 314

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phetisch voraus? Wenn sich auch das Ästhetische keineswegs auf eine (Wider)Spiegelung des Biographischen reduzieren lässt171, könnte ein sprachloses Medium wie der Tanz, das mit dem Realen des Körpers symbolisch operiert172, die psychotische Dekompensierung im Falle Nijinskys womöglich begünstigt haben. Das disziplinierende Training des klassischen Balletts war sozusagen Schauplatz und Metapher eines Zwangs, dem ein ungebildeter Exilant erlag, der nur mit seinem ›Sternen-Leib‹ zu kommunizieren vermochte. Insofern gemahnt die choreographische Dissimulation der Körpervolumen auch an den psychotischen Kurzschluss zwischen Realem und Symbolischem. Vor allem aber zeugt das Image der Androgynität173 von einer Verweiblichung174,

all the body that speaks« (Rivière, zitiert ebd.). Inwiefern sich diese Körper-›Befreiung‹ wieder mit kulturellen Stereotypen über ›primitive‹ (Trieb-)Natur verbindet, zeigt eine Analyse des zweiten Skandals, den Nijinsky mit seinem Sacre du Printemps (1913) hervorrief, wo das Archaische noch stärker fokussiert wird. Vgl. M.-F. Christout: Le ballet, S. 112f., N. Van Norman Baer: Die Aneignung, S. 49f. und Sally Banes: Dancing Women. Female Bodies on the Stage, London, New York 1998, S. 100-108. 171. Der bekannte Ballett-Historiker Lincoln Kirstein appliziert gleich eine Freud’sche ›Drei-Stadien-Theorie‹ auf Nijinskys Innovationen: Der ›Faune‹ entspreche der autoerotischen Phase, das Ballett ›Jeux‹ homosexuellem Narzissmus und der ›Sacre du Printemps‹ der reifen Genitalität (zitiert in: P. Ostwald: Ich bin Gott, S. 95). 172. »Choreographen wollen« nicht unbedingt »Geschichten erzählen, Tänzer wollen nicht zu bloßen Bedeutungsträgern reduziert werden. Bewegung soll nicht bedeuten, sondern sein«. Semiologisch wird der Tanz also zum Superzeichen, das sich über »nicht-sprachliche Zeichen« vermittelt (Kerstin Schlotter: »Literarisch-sprachliche Zeichensysteme in William Forsythes Konzeption des Tanztheaters aufgezeigt an fünf Choreographien«, in: Gaby von Rauner (Hg.), William Forsythe – Tanz und Sprache, Frankfurt/Main 1993, S. 7-63, hier: S. 1), die aber noch allzu oft als Abbildungen (von Handlungen usw.) oder Ausdruck (von Befindlichkeiten usw.), also repräsentationsästhetisch, definiert werden. 173. In mehreren Rollen präsentierte Nijinsky ein geradezu »transsexuelles Bild« (N. Van Norman Baer: Die Aneignung, S. 45), das von Choreographie und Kostümierung gemäß ästhetizistisch-dekadenter Vorstellungen unterstrichen, wenn nicht provoziert wurde: »Als Goldener Sklave in ›Scheherazade‹ trat er in […] Haremshosen und einem juwelenbesetzten männlichen ›Büstenhalter‹ auf« (ebd., S. 43), und Ballettkritiker »verwendeten häufig dieselbe beschreibende Sprache für Nijinsky und die Ballerina«, in Begriffen von »Schwerelosigkeit, Schönheit und Anmut« (ebd., S. 47). 174. Wieder kann man ihr biographische ›Hintergründe‹ schenken: Im ungarischen Exil während des Ersten Weltkriegs soll die junge Gattin privat die Freizeit-Travestie ihres Gatten genossen haben (P. Ostwald: Ich bin Gott, S. 173). Während seiner USA-Tournee (1917) wurde Nijinsky von der dortigen Presse puritanisch der Unmännlichkeit bezichtigt, wie später Valentino. »Ein verstimmter Kritiker schrieb, dass eine Überfeinerung in Gestik und Haltung auf Effeminiertheit hinauslief. Das Kostüm des Tänzers, das mit Trä315

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die strukturell wahnhafter Entgrenzung entspräche. So wird dem chamäleonhaften Wesen175 notorisch eine Aufhebung der Geschlechter zugeschrieben. Wirkt der ›weibliche Herkules‹176, der dem Maler Benois »halb (als) Katze, halb (als) Schlange« vorkam, »satanisch agil, feminin und doch […] beängstigend«177, wähnte sich Harry Graf Kessler gar einem »geheimnisvollen, geschlechtslosen Wesen von einem anderen Planeten«178 gegenüber. Wenn Fokin seinem Schüler einen »sonderbare(n) Mangel an Männlichkeit«179 und ergo eine »Neigung zu weiblicher Koketterie«180 unterstellte, erklärt sich für Biographen daraus die Verweigerung der »normale(n) Mann-Frau-Beziehung im Ballett«181, zeigte Nijinsky doch – wie später Nurejew – eine Schwäche für Spitzentanz182 und eine Aversion gegen die traditionellen Hebefunktionen des Ballerino.183 Mit dem a-sexuellen Jenseits184, einst von der gespaltenen Ikone der romantischen Ballerina aufgerufen, besetzt der männliche Star die Stelle des fetischisierbaren Phallus185 in der Leide(ns)form: Im

gern über Armen und Schultern wie das Dekolleté bei einer Frau geschnitten war, unterstützte diesen Eindruck noch, ebenso gewisse tanztechnische Details, z.B. Tanz auf den Zehenspitzen« (zitiert in: P. Ostwald: Ich bin Gott, S. 182f.). Während dieser Zeit wendet sich Nijinsky so stark zwei Tänzer-Kollegen und Tolstoi-Anhängern zu, dass homoerotische Antriebe nicht ausgeschlossen scheinen. 175. Der Maler Blanche erinnert sich an sein stummes Modell: »Ce Protée […] m’apparaissait tantôt frêle, tantôt athlétique, petit ou grand, un Hermès ou un moujik cagneux, Apollon, Bacchus; un Martien? Il était sans âge, livide, une loque, un coureur cycliste affalé« (zitiert in: J.-M. Pourvoyeur/F. Stanciu-Reiss (Hg.), Ecrits sur Nijinsky, S. 46). Diese auf einen Künstler-Star wie Andy Warhol vorverweisende Beschreibung setzt Nijinsky ins leere Zentrum des transzendentalen Signifikanten, der Gottesstelle. Vgl. Annette Runte: »Camp as Pop Can. Andy Warhol als Gesamtkunstwerk«, in: Gerhard Härle/Wolfgang Popp/Annette Runte (Hg.), Ikonen des Begehrens. Bildsprachen der männlichen und weiblichen Homosexualität in Literatur, Stuttgart 1996, S. 291-321. 176. A. Turi: Nijinsky, S. 69. 177. Zitiert in: R. Buckle: Nijinsky, S. 106. 178. Ebd., S. 161. 179. Ebd., S. 106. 180. Ebd., S. 41. 181. Ebd., S. 109. 182. Ebd., S. 223. 183. Ebd., S. 111. Nijinsky hob – seit dem ›Feuervogel‹ – keine Tänzerinnen mehr. 184. »Nijinsky se distançait de son entourage par un mélange d’angélisme et de dignité. [Il] entraînait le spectateur dans un Au-delà, […] la recherche de soi au-delà de soi« (I. Markevitch: Préface, S. 204). 185. Hier könnten sich elevatorisches Virtuosentum mit Körpermodellierung und vestimentärer Stilisierung verdichtet haben. Vgl. zum Kostümaspekt Roger Dabert: »Le costume de danse moderne depuis les Ballets Russes de Diaghilev jusqu’à nos jours«, in: 316

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Geist der Rose erschien Nijinsky manchem weiblichen Auge gar als eine »geschlossene[n] Knospe, die Schmerz litt.« In »seinem mit feuchtglänzenden rötlichen Blütenblättern applizierten Trikot«, so eine russische Malerin, »wirkte er wie ein heiliger Sebastian […], aus vielen Wunden blutend«.186 Die als sakrale Verletzung im Tiffany-Kostüm der Belle Epoque vorgestellte Feminisierung einer gebrochenen Männlichkeit187, deren Apotheose sie als kastrierte ins leere Zentrum eines transzendentalen Signifikanten rückt, verweist aber vielleicht auch auf jene ›Verweiblichung der Kultur‹, die sich im geschlechtlichen Paradigmenwechsel der Moderne, dem allmählichen Eintritt von Frauen in die männlichen Sphären von Erwerbstätigkeit, Universität und Politik188, abzeichnet. In der relativ konservativen Kunstform des Balletts189, dessen klassisches Repertoire Geschlechterstereotypen tradiert, macht sich diese epochale Wende im Aufstieg eines Ballerino bemerkbar190, dessen später versachlichtes Image die weichen Akzente bewahrt. Auch choreographisch scheint er – insofern Pendant des populären Damenimitators – auf die ›unmarkierte Travestie‹ einer ›male impersonation‹, männlicher Herrenimitation, hin angelegt.191 Die weibliche Mehrlust, die diese Verwischung der Geschlechtergrenzen einschließt, ver-sinn-bildlicht sich geradezu in der a-verbalen Semiose eines kinetischen Mediums. Indem die tänzerische In/Schrift von Gestik und Gebärde als gestaltistische Inkarnation der symbolischen Differenzbewegung erscheint, macht sie aus dem Körper einen Wunsch, der bereits Wünsche verkör-

Valérie Folliot (Hg.), Costumes de danse ou la Chair représentée, Saint-Etienne 1997, S. 85-99. 186. Valentine Gross, zitiert in: R. Buckle: Nijinsky, S. 237. 187. George L. Mosse (1996): Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt/Main 1997, S. 190f., spricht am Beispiel Rudolf Valentinos von einer ›androgynisierten Männlichkeit‹. 188. Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800. 1900, München 1985; Hannelore Bublitz (Hg.), Das Geschlecht der Moderne. Zur Genealogie und Archäologie der Geschlechterdifferenz, Frankfurt/Main, New York 1997. 189. Während schwule Ästhetik gerade deswegen in ihr ›High Camp‹-Qualitäten entdeckt, hält Dennis Altman sie für ›Ersatz‹: »Ballet […], in its traditional form, is an art […] allowing a display of the male body that elsewhere would seem pornographic. Opera and ballet are in many ways the upper-class closeted equivalent of drag shows« (Denis Altman: The Homosexualization of America, the Americanization of the Homosexual, New York 1982, S. 154). 190. Vgl. Mary Clarke/Clement Crisp: Tänzer, Köln 1985. 191. Marjorie Garber: Verhüllte Interessen. Transvestitismus und kulturelle Angst, Frankfurt/Main 1993, S. 360f. 317

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pert.192 Historisch verweist diese ›Gesetzwerdung des Imaginären‹ auf einen auch andernorts konstatierbaren Vaterfunktionsverlust, dessen anomalisierende Folgen seit dem 19. Jahrhundert zwischen Perversion und Wahn oszillieren, – Einschreibungen weiblichen Verlangens als eines Verlangens nach Weiblichkeit. Wenn sich im kulturellen Gedächtnis demnach Spuren einer ›Gleich-Geschlechtlichkeit‹ mit jenen geschlechtlicher ›An-Gleichung‹ verknüpfen193, wirft diese Verknotung von Sexualität und Gender auch Licht auf die narzisstische Struktur der Homosexualität194, die im psychotischen Delirium pervertiert wiederauftaucht: reale Identität statt symbolischer Analogie. Im Phänomen Nijinsky, wo Biographie und Choreographie sich gegenseitig zu spiegeln scheinen, überschneidet sich die ikonographische und notationsschriftliche Tradierung des Tanzes mit persönlichen Erinnerungen an einen Tänzer, die schon immer andere, nämlich die der Anderen, gewesen sein werden. Im obsessionellen Gleichnis der ›Tagebücher‹ aber, dieser zeitlosen Ruine der Wiederholung, die wie ein ›Sturmlauf auf der Stelle‹ (Kafka) wirkt, tut sich jener Abgrund eines weder erinnerbaren noch vergessbaren Eingeschriebenen auf, dessen Sinn die Nachträglichkeit der Rede bildet, indem sie ihn ständig verschiebt.

192. Vgl. dazu Daniel Sibony: Le corps et sa dance, Paris 1995, S. 64. 193. Und dies auch im zaristischen Russland des späten 19. Jahrhunderts, so sehr sich seine sozial- und kulturhistorische Evolution von Westeuropa unterscheidet. Das ›fading of the father‹ kulminiert in der Legende des schwachen Nikolaus II., der abdanken muss. 194. Mithilfe mathematischer Formalisierungen veranschaulicht Lacan (1966), dass das perverse Ich – im Gegensatz zum psychotischen – ein Cogito bleibt. Vgl. dazu: Annette Runte: »Die Isomorphie zwischen L-Kette und borromäischem Knoten. Lacans Formalisierungen in der ›Einführung‹ zum Seminar über E. A. Poes ›Der entwendete Brief‹ und in ›Parenthese der Parenthesen‹«, in: Delta Tau. Zeitschrift für Topologik und Strömungskunde 1 (1986), S. 5-27. 318

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DINGE SEHEN DICH AN

Dinge sehen dich an. Die Melancholie des leeren Platzes in der metaphysischen Malerei »Es bildet sich eine […] moderne Mythologie heraus. Und es ist Giorgio de Chiricos Verdienst, sie für die Ewigkeit festzuhalten.« (André Breton)1 »Wir Metaphysiker haben das Reale heiliggesprochen.« (Giorgio de Chirico) 2

»Et quid amabo nisi quod aenigma est?« Der Zwiespalt zeichnet den ›Fall de Chirico‹: Der Maler schwankt zwischen Tradition und Moderne, gegen die er schließlich Stellung bezieht. Er bringt den Raum ins Wanken, ohne dabei das Figurative aufzulösen. Seine einsamen Stadtlandschaften, seltsamen Stilleben und geheimnisvollen Interieurs wirken schon deswegen rätselhaft, weil Menschen aus ihnen verbannt sind. Vertreten scheinen sie durch jene inzwischen zum Markenzeichen gewordenen manichini, die als Statuen-Puppen-Hybride indes wie ein anthropomorpher Kompromiss anmuten: ›Un-lebendige‹. Wenn in der Kunst des 20. Jahrhunderts das Objekt an die Stelle des Subjekts tritt3, fragt es sich nur, in welchem Sinne. Zwischen 1910 und dem Ende des Ersten Weltkriegs hält die pittura metafisica4 des jungen Giorgio de Chirico monomanisch an einem

1. André Breton, zitiert in: Maurizio Fagiolo dell’Arco: De Chirico – Leben und Werk, München 1980, S. 33. 2. Giorgio de Chirico: »Wir Metaphysiker«, in: Die Begierde einer Statue. Meditationen eines Malers, Hamburg 1991, S. 32. 3. Vgl. Gérard Wajcman: »L’art, la psychanalyse, le siècle«, in: Jacques Aubert u.a.: Lacan, l’écrit, l’image, Paris 2000, S. 28. 4. Die Formel der metaphysischen Malerei findet sich schon bei Klinger (1894), über den de Chirico einen Aufsatz schrieb. Wieland Schmied: »Geografisches Schicksal? De Chirico und die geistige Heimat der metaphysischen Kunst«, in: Paolo Baldacci/Wie319

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Thema fest, das man als den Versuch einer imaginären Enthumanisierung des Daseins betrachten könnte. Dabei enthüllt sich der Surrealist avant la lettre in seinen frühen Schriften als ein Mystiker, der das Unsagbare ins Bild zu setzen trachtet5, was ihm nicht allein den Vorwurf der ›Inhaltskunst‹ (Paul Valéry) eintrug. Sein plötzlicher Gesinnungswandel vom nietzscheanischen Propheten zum selbsternannten »pictor classicus«, der fortan Tizian und Rubens nacheiferte, verstieß ihn aus den Kreisen der künstlerischen Avantgarde.6 André Breton exkommunizierte den Maler, dessen »größte[r] Wahnsinn« es gewesen sei, »sich auf die Seite der Belagerer einer Stadt« zu verirren, die er doch selbst aufgebaut und »uneinnehmbar« gemacht habe.7 Die Tragödie wurde schließlich zur Farce, als de Chirico begann, sich selbst zu imitieren, und dabei sogar Originale und Fälschungen durcheinander warf.8 Inzwischen aber mutet das epigonale Spätwerk mit seinem Hang zu Zitat und Pastiche bereits postmodern an.9 De Chiricos zahlreichen Selbstäußerungen über seine kafkaesk wirkenden Bildallegorien sind existenzialistische Lesarten10 gefolgt,

land Schmied (Hg.), Die andere Moderne. De Chirico. Savinio, Ostfildern-Ruit 2002, S. 82f. 5. Der Kritiker Roberto Longhi verreißt das Unternehmen als »cloaca maxima für die Snobismen des dekadenten Paris«, zitiert in: Maurizio Fagiolo dell’Arco: Giorgio de Chirico – Leben und Werk, S. 29. 6. Die Selbstverwerfung könnte auch damit zu tun gehabt haben, wie diese Avantgarde den naiven Debütanten behandelte. Der Ex-Futurist Carlo Carrà plagiierte die Bilder seines Freundes de Chirico nicht nur unverfroren, sondern schloss diesen sogar aus einer angeblich eigens für ihn organisierten Ausstellung (Mailand 1918) aus und stilisierte sich selbst zum Erfinder der pittura metafisica. Vgl. Paolo Baldacci: Giorgio de Chirico. 1888-1919. La métaphysique, Paris 1997, S. 373ff. 7. Armin Zweite: »Statt eines Vorworts: Zur Genese der Ausstellung«, in: P. Baldacci/W. Schmied (Hg.), Die andere Moderne, S. 21. 8. De Chiricos Anti-Modernismus, der sich in seinen Memoiren als paranoider Meisterdiskurs gebärdet, könnte paradoxerweise wirkungsästhetisch mitbegründet sein durch den großen Erfolg einer thematischen Innovation, die sich technisch bzw. stilistisch leicht reproduzieren ließ und von den Surrealisten parodiert wurde. Vgl. Giorgio de Chirico: The Memoirs of Giorgio de Chirico, London 1994, S. 91, 117ff., 137, 196ff., 222ff. Chirico hält sich in der Rückschau für den »most envied man in the world« (S. 140) und für einen »Universal Genius« (S. 141). 9. Pia Müller-Tamm: »Der ›andere‹ de Chirico. Zur Rezeption des Werkes in den achtziger Jahren«, in: P. Baldacci/W. Schmied (Hg.), Die andere Moderne, S. 172. 10. Wieland Schmied: »Die metaphysische Kunst des Giorgio de Chirico vor dem Hintergrund der deutschen Philosophie: Schopenhauer, Nietzsche, Weininger«, in: William Rubin/Wieland Schmied/Jean Clair (Hg.), Giorgio de Chirico – der Metaphysiker, München 1982, S. 103ff. 320

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die sie als Ausdruck menschlicher ›Seinsgeworfenheit‹ verstehen. So bemerkte Hannah Arendt, dass sich moderne Entfremdungsgefühle gern an Gegenständen entfachen, die aus ihrem funktionalen Zusammenhang gerissen sind11, stünden sie doch für die Unbehaustheit eines endlichen Wesens in seinem ›Dasein zum Tode‹. Heute ertönt das schwache Echo heideggerianisierender Diskurse im Gefolge eines de Chirico-Revivals12, dessen Kommentare dem Publikum jedoch kaum näher erläutern, wie ein Künstler das »Gefühl der Leere in Malerei umzusetzen« vermochte. »Der Mensch«, so die römische Kuratorin Esther Coen, sei »auf solchen strengen klassischen Plätzen« jedenfalls »nur ein flüchtiger Geist.«13 In dem Maße, wie sich der notorische Eindruck der Melancholie, auf die etliche Bildtitel wörtlich verweisen, kulturhistorisch mit der vielzitierten Krise der Moderne14 und der ästhetischen Kompensation ihrer seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts verzeichneten Verluste in Zusammenhang bringen ließe, könnte man die frühe Malerei Giorgio de Chiricos, geprägt von seinen Schopenhauer- und Nietzsche-Lektüren, nicht nur ikonologisch, sondern auch repräsentationslogisch auf dem Hintergrund einer ›Zeichendämmerung‹ lesen. »Denn im Grunde ist Gott tot, wenn […] er in die Funktion einer Spiegelung für den Menschen eingetreten ist. […] Insofern bringt sich der Mensch hervor, indem er Gott am Ort des Anderen erschafft und in dieser Verortung mordet.«15 Eben aufgetaucht, verschwindet der Mensch, diese ›junge Erfindung‹ (Foucault), schon wieder. In de Chiricos Raumbildern insistiert, so meine These, die Frage nach der symbolischen Verortung und imaginären Verrückung des Subjekts als unterschwellige Konstitution eines Bezugs zwischen Sehen und Begehren. Sticht de Chiricos meist geschlechtslos und wie neutralisiert anmutende Gliederpuppe schon dadurch ins Auge, dass sie gesichtslos ist, suggerieren die unbestimmten, ›heterotopischen‹ Räume16 seines ma-

11. Hannah Arendt: »Qu’est-ce que la philosophie de l’existence?« in: Qu’est-ce que la philosophie de l’existence ? suivi de L’existentialisme français, Paris 2002, S. 28f. 12. Ausstellungen in Rom, Düsseldorf und Meran im Jahre 2003. 13. Zitiert in: Thomas Migge: »Pittura metafisica. Giorgio de Chirico in einer Ausstellung in der Scuderia in Rom«, Deutschlandfunk vom 07.10.2003. 14. Die nicht zuletzt medientechnologischen Umbrüchen geschuldet ist. Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800. 1900, 3., vollst. überarb. Aufl., München 1995, S. 223ff. 15. Marianne Schuller: »Zeichendämmerung – Fragezeichen. Zu Nietzsche«, in: Moderne. Verluste. Literarischer Prozess und Wissen, Basel, Frankfurt/Main 1997, S. 120. 16. Nach Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34-46, hier: S. 44. 321

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gischen Realismus jenen synästhetischen Eindruck von Weite und Stille, den der Maler in seinen verbalen Meditationen zu bestätigen sucht. Falls sich die »große Obsession« des zwanzigsten Jahrhunderts, die »Unruhe« um den Raum, Michel Foucault zufolge aus der »Juxtaposition« des Nahen und Fernen ergibt, der Gleichzeitigkeit von Nebeneinander und Auseinander17, wirken die verschachtelten Intérieurs voller wie zufällig angehäufter mehr oder minder enigmatischer Gegenstände, die de Chirico in seiner Ferrara-Periode entwirft, wie individuelle und zugleich kollektive Zeitspeicher, deren unwirklich beleuchtete Kulissen von Gefühlen und Leidenschaften, Träumen und Phantasien bevölkert zu sein scheinen.18 Es fragt sich jedoch, auf welchen Schauplatz diese archivarischen Bühnenbilder19 führen. Den Metaphern des poetischen Symbolismus, etwa dem statischen Theater eines Maeterlinck, entsprechend, feiern de Chiricos Stilleben der Dinglichkeit einen ständig irritierten Stillstand20, der als Allegorese der Raumkunst21 einer Verwerfung von Geschichte(n) gleichkäme. Der (post)romantischen Verzeitlichung der Künste22 setzt de Chirico nämlich den Vorrang der Vision im doppelten, pikturalen wie mystischen, Sinne entgegen, – ein übrigens auch anti-musikalisch formuliertes Schweigegebot.23 Doch seine Redseligkeit hinsichtlich wiederholter Offenbarungserlebnisse tut kund, in welchem Maße die Bilder eines Initiierten sprachlicher Reflexion bedürfen. Unter der Voraussetzung evidenter zeichen-

17. Ebd., S. 37. 18. Vgl. Gaston Bachelards ›Poetik des Raums‹, die allerdings im imaginären Register verbleibt. 19. Unter dem Eindruck einer europäischen Theaterreform, deren Abschied vom Naturalismus u.a. die Bühne als Traumbild (Adolphe Appia, Edward Gordon Craig, Max Reinhardt) hervorbrachte, verwundert es kaum, dass de Chirico in Paris zunächst als Bühnenbildner verkannt wurde. 20. So Baldacci: Giorgio de Chirico, S. 104: »l’immobilité chez Chirico est précaire et instable du mouvement de l’univers entier, qui confère une anxiété au calme apparent […] les perspectives […] donnent l’impression que l’espace bouge, se déforme ou se courbe«. 21. Dem obsoleten Laokoon-Paradigma entsprechend. Vgl. dazu Dietrich Scheunemann: »Die Schriftzeichen der Maler – Die Stilleben der Dichter. Grenzverwehungen zwischen den Künsten um 1900«, in: Thomas Koebner (Hg.), Laokoon und kein Ende. Der Wettstreit der Künste, München 1989, S. 58-96. 22. Vgl. z.B. Lothar Müller: »Jenseits des Transitorischen: Zur Reflexion des Plastischen in der Ästhetik der Moderne«, in: Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 139ff. 23. »Was ich höre, gilt nichts«, heißt es in: G. de Chirico: Die Begierde einer Statue, S. 11. 322

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hafter Korrespondenzen zwischen Mikro- und Makrokosmos, Innenund Außenwelt, wie sie Otto Weininger in seiner metaphysischen Universalsymbolik skizzierte, begab sich de Chirico daran, eine »neue Psychologie der Dinge«24 zu entwerfen. Dieses metaphorisch formulierte Projekt verdeutlicht, in welchem Maße die Sprachskepsis der Fin de Siècle-Poesie, dramatisiert in Hofmannsthals berühmtem ChandosBrief (1902), auch unter intermedialen Aspekten in eine Ontologie der Dinglichkeit übergeht, die dazu neigt, das Objekt gleichsam zum Anderen des Subjekts zu erheben, wie etwa in Rilkes sogenannten Ding-Gedichten. Doch der abwesende Mensch, zu dessen stummem »Äquivalent« das Ding bei de Chirico wird25, taucht im Anthropomorphismus der Gliederpuppe wieder auf. Insofern stellte schon André Breton die entscheidende Frage: »Wie soll man das Objekt bei de Chirico einordnen? Ohne Entsprechung in der äußeren Welt, hat es dennoch alle typischen Merkmale des Imaginären.«26 Im Folgenden möchte ich mich de Chiricos »figurative[r] Sprache«27 als einer Rhetorik der Plätze und der Puppen zuwenden und dabei besonders auf den Status des libidinösen Objekts im Felde des Sehens eingehen. Wenn Sehen über einen Verlust zu denken wäre, wie es Lacans Ausführungen zur Spaltung von Auge und Blick28 nahe legen, was zeigte sich dann in der pittura metafisica, das sie uns zu sehen gäbe? Hat sich die Malerei seit jeher darum bemüht, die Wunde des Todes zu schließen29, hinterlässt die metaphysische Malerei gleichsam die Spur einer Aura, die in dieser Hinsicht durchaus symptomatisch anmutet.

Ein ›dépaysagiste‹ (Jean Cocteau) Über die Dekontextualisierung alltäglicher Gegenstände erfolgte der Kurzschluss der pittura metafisica mit dem Surrealismus, diesem »an-

24. Zitiert in: W. Schmied: Die metaphysische Kunst, S. 97. 25. Ebd., S. 97. 26. Zitiert in: Paolo Baldacci: »›Zu zweit hatten wir nur einen einzigen Gedanken.‹ Die concordia discors der Dioskuren«, in: P. Baldacci /W. Schmied (Hg.), Die andere Moderne, S. 59. 27. Ebd., S. 59. 28. Jacques Lacan: »Du regard comme objet petit a«, in: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse. Le Séminaire. Livre XI (1964). Texte établi par JacquesAlain Miller, Paris 2002, S. 79-139. 29. Georges Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999, S. 16ff. 323

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thropologischen Materialismus«30, dessen »profane Erleuchtung«31 für Walter Benjamin nicht zuletzt im sicheren Empfinden dafür lag, wie »das Elend des Intérieurs, die versklavten und versklavenden Dinge in revolutionären Nihilismus umschlagen« und »an gottverlassenen Sonntagnachmittagen in den Proletariervierteln der großen Städte, im ersten Blick durchs regennasse Fenster einer neuen Wohnung« die »gewaltigen Kräfte der ›Stimmung‹ zur Explosion« bringen, »die in diesen Dingen verborgen sind«.32 Wenn die der Romantik verpflichtete surrealistische Ästhetik das Wunderbare, Unwirkliche oder Mysteriöse in den Mittelpunkt ihrer frühen Recherchen stellte, richtete sich ihre zum Okkulten tendierende33 Apotheose des Zufälligen und Unbegreiflichen nicht nur gegen die zweckrationale Verödung des Lebens, sondern führte dagegen die Entdeckung unbewusster Prozesse ins Feld34, die, wie Freuds Traumanalyse zeigt, auf der Arbeit signifikanter Verdichtung und Verschiebung beruht. Obwohl sich der Traum durch die assoziative Methode nicht beherrschen ließ, gingen aus der provozierten Zusammenkunft des Unvereinbaren, – Lautréamonts berühmtem Rendezvous einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf dem Seziertisch – »trotzdem« unmögliche »Gegenstände« hervor, die für manche noch immer vor sich hin »zu träumen scheinen«.35 Um wessen und welche Träume aber handelt es sich dabei? Behauptete Cocteau polemisch, de Chirico male gar keine Träume, da seine Bilder zu fest schliefen, um überhaupt träumen zu können36, möchte er ihnen damit eine Gleichgültigkeit zuschreiben, die die Momentaufnahme tiefenpsychologischer Trance kontemplativ überbietet, – auf dem Wege einer Verrätselung, die nicht indifferent lässt. Obwohl der französische Surrealistenpapst des Italieners Wende zum manierierten Epigonen verur-

30. Walter Benjamin: »Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz«, in: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt/Main 1988, S. 200-215, hier: S. 215. 31. Ebd., S. 202. 32. Ebd., S. 204f. 33. »Nun gestehen wir dem halsbrecherischen Weg des Sürrealismus, der über Dächer, Blitzableiter, Regenrinnen, Veranden, Wetterfahnen, Stukkaturen geht, – dem Fassadenkletterer müssen alle Ornamente zum Besten dienen – […], dass er auch ins feuchte Hinterzimmer des Spiritismus hineingelange.« (ebd., S. 203) 34. Wogegen Freud sich bekanntlich zur Wehr gesetzt hat, nicht nur, weil er dem Modernismus abhold gewesen sei. 35. http://nyitottegyetem.phil-inst.hu/kmfil/MERSCH/kunst_3.htm vom 09.11. 2003. 36. Jean Cocteau: »Le Mystère Laïc«, in: Essai de critique indirecte, Paris 2003, S. 44. 324

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teilte, schwärmte er weiterhin von der Zauberkraft seiner illuminierten Phase. Eine hübsche Anekdote erzählt, wie Breton beim plötzlichen Anblick eines in einem Galeriefenster ausgestellten Gemäldes des ihm unbekannten jungen Malers Giorgio de Chirico37 halsbrecherisch aus dem fahrenden Autobus gesprungen sei, um sich das Bild näher anzusehen, und dass Yves Tanguy wenig später genau das Gleiche passierte.38 Die metaphysische Malerei frappiert, wie diese Urszene unheimlicher Faszination in ihrer komischen Wiederholung illustriert. Nachdem das transmediale Gesamtkunstwerk der Gebrüder Chirico39 inzwischen zur postmodernen40 Ikone aufgestiegen ist, nimmt die Kunstgeschichte die philosophisch und philologisch inspirierte Ikonik der pittura metafisica als Strategie einer ›häretischen Moderne‹41 wahr, die mit ihrer Rückkehr zum Figurativen und ihrer zitativen Attitüde eine Alternative zur klassischen Moderne biete. Kein geringerer als Warhol hat denn auch die ›beunruhigenden Musen‹ eines »Bahnhofsmalers«, wie Picasso seinen Kollegen scherzhaft nannte, ostentativ kopiert. Doch dem »Entlandschafter«42, der den Artisten Cocteau eher ethisch denn ästhetisch interessiert haben will, weil er als »Maler des weltlichen Geheimnisses« religiös gewesen sei, ohne zu glauben43, lag es am Herzen, sich voller Pathos zum Verkünder einer Wahrheit der Seele zu küren, bei der es wohl auch immer um die Wahrheit des Subjekts im psychoanalytischen Sinne ging. Der junge de Chirico befand sich – nicht nur biographisch – im mehrfachen Exil. Ohne festen Platz in der Gesellschaft und im Kunstsystem, blieb er, wie sein jüngerer Bruder Alberto Savinio, an der Peripherie avantgardistischer Gruppierungen. Während die in Griechenland aufgewachsenen Sprösslinge einer italienischen Dynastie, die übrigens erst mit dem Risorgimento begann, samt ihrer früh verwitwe-

37. Es handelt sich um Das Gehirn eines Kindes (1914), das dann in Bretons Besitz verblieb. Vgl. P. Baldacci: Giorgio de Chirico, S. 216f., 240. 38. »De Chirico und die Surrealisten. Eine Dokumentation« von Marguerite Bonnet u.a., in: W. Rubin/W. Schmied/J. Clair (Hg.), Giorgio de Chirico – der Metaphysiker, S. 249f. 39. Auf die komplexe Problematik dieses Dioskurenpaars und dessen intermediale Produktionsprozesse kann hier nur randständig eingegangen werden. 40. Pia Müller-Tamm sieht das Etikett weniger auf das Werk als auf den Diskurs darüber anwendbar. 41. P. Baldacci: Zu zweit hatten wir nur einen einzigen Gedanken, in: P. Baldacci/W. Schmied (Hg.), Die andere Moderne, S. 49. 42. Chirico »nous montre la réalité en la dépaysant«, in: J. Cocteau, »Le mystère laic«, S. 40. 43. J. Cocteau: Essai de critique indirecte, S. 24, 39. 325

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ten Mutter zunächst nach München zogen, um nach einigen Aufenthalten in Mailand, Turin, Florenz und Ferrara in wechselnden Konstellationen zwischen Paris und Rom zu pendeln44, taten sich bei Alberto vorübergehend dadaistische Einflüsse kund, während Giorgio noch unter dem Eindruck des Symbolismus und gemeinsamer NietzscheLektüren45 stand. Doch machten sich am Ende seiner Böcklinschen Phase46 – sozusagen unter der Hand – auch die Folgen eines übergreifenden ästhetischen Paradigmenwechsels bemerkbar. Denn spätestens seit dem umstrittenen Erfolg des Impressionismus war die plastisch orientierte Tradition durch eine ihre klassischen Parameter verflüssigende Moderne bedroht, die dadurch den Bezug der Darstellung zur Sichtbarkeit problematisierte. Indem sie durch die Isolation des einzelnen Moments eine inwendige Zeitlichkeit schuf, die auch im Fluss der Dauer zum Vorschein kam, löste sie zugleich den festen Bildraum und dessen Gegenständlichkeit auf. Dass sich die »antimimetische Attacke«, die ein radikaler Naturalismus »auf die überlieferten Konventionen malerischer Repräsentation«47 vollführte, als eine Emanzipation des Auges verstehen durfte, lag in der Engführung kunsthistorischer Diskurse mit wahrnehmungsphysiologischen begründet, die das »impressionistische Bild als ästhetisches Äquivalent«48 des menschlichen Sehorgans begriffen. Doch ausgerechnet diese szientistische Fiktion einer lebendigen Einheit von Blick und Bild trug zum Eindruck eines heraklitischen49 Gleitens sämtlicher Phänomene50 bei. Das damit verbundene Unbehagen gegenüber einer Erosion der Formen51 wurde gespeist von der Verunsicherung durch soziale Umbrüche, technologische Beschleunigungen und den Zerfall alter Weltbilder. In Anbetracht der Sorge um den »Auszug des Plastischen aus der Malerei«52 ließe

44. Vgl. Wieland Schmied: »Die sieben Städte Giorgio de Chiricos. Zur Mythologie des Malers«, in W. Rubin/W. Schmied/J. Clair (Hg.), Giorgio de Chirico – der Metaphysiker, S. 9-17. 45. Während ihrer Studienzeit lasen sie wahrscheinlich die Geburt der Tragödie, den Fall Wagner, Ecce homo und den Zarathustra, wie sich aus Briefen, Zitaten und Selbstäußerungen ergibt. Vgl. P. Baldacci: Giorgio de Chirico, S. 67ff. 46. Nachdem Julius Meier-Graefe (1905) Arnold Böcklin demoliert hatte, geriet die malerische Neoromantik in eine Krise. Vgl. ebd., S. 36ff. 47. L. Müller: Jenseits des Transitorischen, S. 142. 48. Ebd., S. 143. 49. Ebd., S. 146. 50. Auch Hugo von Hofmannsthal stellt die Zeitdiagnose des ›gleitenden Grundes‹. 51. In Kunsttheorie und Poetologie bildete sich allmählich der bei Wölfflin noch stiltypologische Gegensatz offener und geschlossener Formen heraus. 52. L. Müller: Jenseits des Transitorischen, S. 145. 326

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sich etwa Rilkes Mystifizierung Rodins zum ›Hüter der Dinge‹53 auch als verdrängende Geste begreifen. »Dinge«, heißt es bei Rilke, »indem ich das ausspreche […] entsteht eine Stille, die Stille, die um die Dinge ist. Alle Bewegung legt sich, wird Kontur, und aus vergangener und zukünftiger Zeit schließt sich ein Dauerndes: der Raum, die große Beruhigung der zu nichts gedrängten Dinge.«54 Dieser Lyrismus evoziert geradezu die unheimlich-feierliche Atmosphäre der metaphysischen Periode de Chiricos, der seine Figuren bzw. Architekturen durch geschlossene schwarze Linien abgrenzt und glatte einfarbige Flächen bevorzugt, deren Töne sich nur selten mischen. Obwohl seine trockene und harte Malweise, die an die »archaische Einfachheit von Giotto, Uccello und Piero della Francesca«55 erinnert, eine gewisse »Affinität« zum Freskostil der »florentinischen Meister[n] des 15. Jahrhunderts«56 aufweist, zeugt die vermeintliche Regression ins Naive – William Rubin zufolge – eher von dessen modernistisch inspirierter Perversion. Ergab sich etwa »die realistische Illusion des leeren Raumes« in der Renaissancemalerei durch den Kontrast zum plastischen Volumen der in ihm dargestellten Körper, bedient sich de Chiricos »Pseudomodellierkunst« einer »flachen Relieftechnik«, die den Dingen ihr Gewicht zu nehmen scheint. Ferner höhlen der »Einsatz des Schattierens«57 und einer paradoxen Schraffurtechnik die Solidität der Formen weiterhin aus. Wenn de Chirico also auch nicht einfach zu den festen Gegenständen im euklidischen Raum zurückkehrt, zitiert er mit seinem Ausgangsmotiv der antikisierten Statue, in deren Gewänder sich die erste Schneiderpuppe noch drapiert58, immerhin ein vom Sockel gestürztes klassizistisches Ideal herbei, um es in der Ariadne-Serie demonstrativ in Trauer zu hüllen. Erscheint dieses nostalgische Idol schon in den mythologisch verschleierten Figuren (Das Rätsel des Orakels 1910), die den Übergang vom Symbolismus zur metaphysischen Malerei markieren, wird ihm mit dem gründerzeitlichen Heldendenkmal sein modernes politisches Gegenbild an die Seite gestellt, bevor beide statuarischen Typen zur Wergpuppe59 nivellieren oder zumindest diverse kubistische Legierungen mit ihr eingehen. Diese Trans-

53. Ebd., S. 153ff. 54. Zitiert in: ebd., S. 154. 55. Werner Haftmann: Malerei im 20. Jahrhundert, München 1979, 6. Aufl., S. 207. 56. William Rubin: »De Chirico und der Modernismus«, in W. Rubin/W. Schmied/J. Clair (Hg.), Giorgio de Chirico, S. 47. 57. Ebd., S. 53. 58. Vgl. Le Tourment du Poète und L’ennemi du Poète (1914), in: P. Baldacci: Giorgio de Chirico, S. 274. 59. Eine damals meist mit Flachs oder Rosshaar (»Werg«) gefüllte Schneiderpuppe. 327

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formation impliziert auch eine hermaphroditische Entdifferenzierung60 der anfangs ödipal aufgeladenen Geschlechtersemantik. Während sich die weiblichen Statuen der frühen Periode, deren leicht deformierte massige Matronenkörper die Magna mater Böcklins und Bachofens wachrufen, mit traurig zur Seite gewandtem Haupt dem Blick des Betrachters hingeben, drehen ihm die männlichen Heroen der Turiner Mythologie notorisch den Rücken zu.61 Noch im späten Gemälde Der verlorene Sohn (1922) wird die versteinerte Vaterfigur, die mit einer männlichen Schneiderpuppe tanzt, wieder von hinten präsentiert. Rückwärtsgewandtheit und Rückschau62 verdichten sich zu einer Pose des Entzugs, die die Entfernung der Söhne im Aktiv- wie im Passivmodus einbegreift. Auf dem Ölgemälde La Place d’Italie (ca. 1910) erhebt sich eine paternalistische Reminiszenz als weißes Gipsdenkmal der Rückenansicht eines alten Mannes, dessen einer Arm im Frackärmel steckt, während der andere kriegerisch in eine Holzkeule übergeht, – augenfälliges Sinnbild einer Zweideutigkeit von Wildheit und Zivilisation, das an Freuds Urvatermythos gemahnen könnte. Denn der Chiffre des toten Vaters sind zwei junge, sich an der Hand haltende Männer gegenübergestellt, die das Schrumpfen der Brüderhorde auf ein immer winziger werdendes Dioskurenpaar, das in den zwei Strichmännchen der Turmbilder (z.B. La Grande Tour 1913) fast ganz verschwindet, gleichsam in Anführungszeichen setzen.63 Hatte Böcklins Malerei de Chirico ein katalysatorisches déjà vu-Erlebnis vermittelt, so, »als ob etwas Altbekanntes einen ganzen Bereich der eigenen Traumwelt enthüllt[e]«64, war er dessen wagnerianischem

60. Vgl. Carlo Carràs L’Idole hermaphrodite (1917, in: Baldacci, S. 373) oder auch den Titel der ersten Textsammlung Alberto Savinios, Hermafrodito (1918). 61. Obwohl sich das Ariadne-Motiv auf Nietzsches Dionysos-Dithyramben beziehen lässt und das damit anklingende Thema des Labyrinths zur Metapher eines Augentrugs wird, der besagt, dass Ariadnes Faden nicht aus dem Irrgarten herausführt, sondern in ihn hinein, bleibt es dennoch fraglich, ob sich die Geschlechtsspezifität der abgebildeten Monumente nur auf die ›hermaphroditische‹ Polarität zwischen dem intuitiven Weiblichen und dem kreativen Männlichen bezieht. 62. Die auch an Caspar David Friedrichs einsame Gestalten in romantischer Landschaft gemahnt. 63. Vgl. La Grande Tour (1913), in: P. Baldacci: Giorgio de Chirico, S. 174. Auch die Gemälde La nostalgie de l’infini (1912), in: ebd., S. 147; L’angoisse du départ (1913), in: ebd., S. 184; La surprise (1914), in: ebd., S. 189; La Gare Montparnasse (1914), in: ebd., S. 192, zeigen zwei schwarze Strichmännchen mit überdimensionalen Schatten. 64. Zitiert in: Juri Steiner: »Drei Seefahrer«, in: Guido Magnaguagno/Juri Steiner (Hg.), Arnold Böcklin. Giorgio de Chirico. Max Ernst. Eine Reise ins Ungewisse, 3., veränderte und überarbeitete Auflage, Bern 1997, S. 20. 328

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Giorgio de Chirico: Freuden und Rätsel einer seltsamen Stunde (1913)

Spiritualismus65 auf dem Wege verrätselnder ›Ver-sach-lichung‹ entronnen, einer weniger barock denn manieristisch anmutenden Mortifizierung der Welt. Doch wird die modernistisch zersetzte Beständigkeit der malerischen Form im Emblem geometrischer Körper, die – in scheinbar naiver Weise gemalt – über schräge Ebenen wie aus einem onirischen Baukasten hervorrollen, dadurch kaum wiederhergestellt. Dienten Kuben, Kugeln und Kegel bei Cézanne66 noch als »tektonische Mittel«, gehorchen sie bei Chirico einer »mantisch dichtenden Leidenschaft«.67 Ob es sich bei seiner Sujetwahl deswegen lediglich um die »schlichte[n] Dingwerdung« zeitgenössischer »Sehnsüchte und Ängste«68 handelt, scheint fraglich, beharrt doch Lacan im Anschluss an Merleau-Ponty darauf, dass die lapidaren kleinen Farbflecken in Cézannes Bildern bereits vom Signifikanten sprächen.69 Indem Lacan

65. Vgl. P. Baldacci: Giorgio de Chirico, S. 37: Böcklin sei »der letzte große Deuter der romantischen Illusion« gewesen, die im Künstler das Medium der Wahrheit sehe. »Auch bei Böcklin zeigte sich alles in Symbolen und Erzählungen, aber die wirklichen Gegenstände seiner Bilder waren die pantheistische Vitalität der Natur, bald grausam und tragisch, bald sehnsuchtsvoll und schwermütig« (Übersetzung von A. R.). 66. Vgl. ebd., S. 37: »En fondant sa peinture sur une géométrie mentale, Cézanne avait contourné les risques du sensualisme pur, franchissant ainsi un premier pas vers un super-réalisme […] dans des termes qui ne seraient plus mimétiques«. 67. Carl Einstein: »Giorgio de Chirico«, in: Werke, Bd. 2, Berlin 1996, S. 511. 68. Rilke zitiert in: L. Müller: »Jenseits des Transitorischen«, S. 153. 69. Jacques Lacan: »Maurice Merleau-Ponty«, in Autres Ecrits, Paris 2001, S. 183. 329

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den phänomenologischen Chiasmus des zugleich sehenden und sichtbaren Leiblichen70 durch seine Konzeption des Subjekts als Effekt einer symbolischen Ordnung ersetzt, macht er die impressionistische ›Digitalisierung‹71 der Malerei von einer buchstäblichen Artikulation72 abhängig, die im Zusammenhang seiner Theorie des Sehens einen performativen Zug gewinnt.73 Wenn Cézannes paradoxe Mimesis darauf hinauslaufen sollte, dem Objekt seine »Würde«74 wiederzuschenken, muss es in de Chiricos stilistisch ambivalenter Mimikry erst in Beziehung zum Mangel treten, um in den Stand der »Extimität«75 zu treten.

Mystische Metamalerei und die ›Wahrheit in den Dingen‹ Wenn Selbstreferentialität ein zentrales Charakteristikum der klassischen Avantgarden bildet, zählt die metaphysische Malerei nur in dem Maße zur neuen »Metamalerei«, wie sie das »konventionelle Repräsentationsmodell« bereits dekonstruiert hat. De Chirico interpretiere, so Monika Steinhauser, den dynamisierten Bildraum der Futuristen »vi-

70. Maurice Merleau-Ponty: L’Œil et l’Esprit, Paris 2003, S. 18. In der die metaphysischen Dualismen verabschiedenden konstitutiven Verschlingung von Innen und Außen erweist sich Malen als ein Zu-sehen-Geben des Sichtbaren: »[…] la peinture ne célèbre jamais d’autre énigme que celle de la visibilité« (S. 26). 71. So Walter Seitter: »Malerei war schon immer digital«. Vgl. http://www.lacan. at/seiten_LA/seitter.html vom 07.02.2004. 72. J. Lacan: »Maurice Merleau-Ponty«, S. 183: »Ainsi sommes-nous invités à nous interroger sur ce qui relève du signifiant à s’articuler dans la tache«. 73. ›Geste‹ nennt Lacan den souveränen Akt, der ›zu sehen gibt‹, da er den Bezug zum Anderen, wie ihn die Rede konstituiert, in seiner zeitlichen Logik verkehre. Vgl. J. Lacan: »Du regard comme objet petit a«, S. 130. Am Beispiel der Drohgebärde verdeutlicht er, dass es dabei vor allem auf den terminalen Moment des Anhaltens ankomme, den die identifikatorische Dialektik dagegen zum Ausgangspunkt nehme (S. 132f.). 74. Jacques Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar Buch VII (19591960), hg. von Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger, Weinheim, Berlin 1996, S. 174: »In dem Augenblick, in dem Cézanne Äpfel malt, macht er, indem er Äpfel malt, offenkundig etwas ganz anderes […]. Je mehr […] das Objekt vergegenwärtigt ist als nachgeahmtes, um so mehr erschließt es uns die Dimension, in der die Täuschung zerbricht und auf etwas anderes zielt […], denn das sich dergestalt in der Kunst erneuernde Verhältnis zum Realen lässt das Objekt in einer Weise auftauchen, die lustrativ ist, eine Erneuerung seiner Würde darstellt«. 75. Dies bezeichnet die »intime Exteriorität« (ebd., S. 171) des ›Dings‹ beim späten Lacan, das man als eine transzendentalphilosophische Hypothek betrachten könnte: »Das Ding ist ursprünglich, was wir das Signifikats-Außerhalb nennen möchten« (ebd., S. 69). 330

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talistisch«, weil er seine Darstellungen zu allegorischen Sinnbildern verdichte und sie affektiv überdeterminiere, so dass sie einer »unwillkürliche[n] Erinnerung«, einer mémoire involontaire im Sinne Prousts, gleichkämen.76 Doch gelang es der pittura metafisica derartige Wirkungen nur auf dem Boden eines philosophisch-künstlerischen Synkretismus zu erzielen, dessen Spektrum von der Zahlenmystik der Renaissance über die romantische Poetik bis zur symbolistischen Malerei und der Vulgarisierung Nietzsches reichte. Im Anschluss an eine philologisierte Malerei, die sich ausdrücklich dichterischer Leitung unterwirft, sind de Chiricos Botschaften als innovatorisch, seine Verfahren aber als obsolet gewertet worden: »Romantisch ironisierend dichtete Chirico mathematische Träume, doch diese somnambulen Gedichte […] sind eher Kombinationen, da ihre Formen in antiquierten Gleisen rollen. […] letzten Endes philologisch gezüchtet. Perspektive wird zum Schrecken der Weite, zur Technik des Vakuums. […] Die geschichtliche Last wirkt hier […] als Kindheitsverletzung und Kastration. […] Altallegorische Provinz. Chiricos Kompositionen entstehen aus einer deutenden Symbolik. Die Bildabsicht wird aus dem visuellen in einen reflexiven Sinn jenseits des Sichtbaren verlegt; die Form wird durch die Zeichenhaftigkeit bestimmt, die Dinge durch geheime Symbolik deformiert.«77 Wie Carl Einstein luzide betont, wurzelt der symbolträchtige Formalismus dieser ›Programm-Malerei‹, die auf automatische Methoden ebenso verzichtet wie auf konzeptuelle Experimente, in ihrem historistischen Eklektizismus: »Böcklin und Schopenhauer’scher Pessimismus oder rückgewandter charakterisiert: Ucello und die Alchemie. Man wohnt zwischen Florenz und dem < sic! > Metro und träumt zwischen Paracelsus und Lautréamont. Chirico ging, wie die meisten jungen Italiener, in die Archaik zurück; er liebte die frühen magischen Dinge der Kunst vor Reformation und Gegenreformation.«78 Auf der einen Seite rückte »die Entdeckung des Intuitiv-Unbewussten und der entfremdenden visuellen Assoziationen« die metaphysische Malerei also in die Nähe des Surrealismus, auf der anderen »ließ sie der Gebrauch eines klassizistisch geprägten ikonografischen Bildinventars«79 eher konservativ erscheinen. Derjenige aber, den Carl Ein-

76. Monika Steinhauser: »Latente Allegorisierung. Giorgio de Chirico und seine späten Adepten in Italien«, in: P. Baldacci/W. Schmied (Hg.), Die andere Moderne, S. 152. 77. Zitiert in: ebd., S. 151. 78. C. Einstein: Giorgio de Chirico, S. 511. 79. P. Baldacci: Zu zweit hatten wir nur einen einzigen Gedanken, S. 45f. 331

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stein in seiner griffigen Formel als »Romantiker der Zahl« und »Klassiker der Form«80 erfasste, glaubte an eine Wahrheit hinter oder besser: in den Dingen. Denn seine ausdrücklich an Nietzsche anknüpfende Apologie des Scheins führt bloß zu einer Verlagerung der Transzendenz in Immanenz, zur ontologisierten Tiefenebene einer Spekulation81, die sich oft vager Aphorismen oder kategorischer Setzungen bedient.82 »Schein […] ist die einzige Realität der Dinge. […] Ich setze also nicht ›Schein‹ in Gegensatz zu ›Realität‹, sondern umgekehrt Schein als die Realität, welche sich der Verwandlung in eine imaginäre ›Wahrheits-Welt‹ widersetzt.«83 In dem Maße, wie die pittura metafisica84 diesen Lehrsatz zu veranschaulichen trachtet, zehrt de Chiricos surrealistische Theologie, die sich den »Dämonen der Stadt« und anderen hermetischen Zeichen, etwa aus der Warenwelt85 stammend, widmet, nicht nur von mystischen Traditionen86, sondern auch von Otto Weiningers damals populärer Restmetaphysik.87 Hatte der durch seinen frühen und spektakulären Selbstmord europaweit berühmt gewordene Verfasser des gelehrten Pamphlets Geschlecht und Charakter (1903) versucht, das positivistische Wissen seiner Zeit in einen idealistischen Rahmen zu pressen88, um die Diagnose einer dekadenten ›Feminisierung‹ und ›Judaisierung‹ der abendländischen Kultur zu stellen, berief er sich dabei auch auf die beiden ›synthetischen Disziplinen‹ der Charakterologie89 und

80. So C. Einstein: Giorgio de Chirico, S. 512. 81. Vgl. P. Baldacci: Giorgio de Chirico, S. 223. 82. Vgl. W. Schmied: Die metaphysische Kunst, S. 106: »De Chirico malt die Welt als Schein vor dem Hintergrund des Nichts«. 83. Zitiert in: ebd., S. 105. 84. Definiert von Baldacci (Giorgio de Chirico, S. 287) als »représentation plastique […] ésotérique d’une conception du monde«. 85. Vgl. ebd., S. 223. 86. Vom Mysterienkult über das ›Unaussprechliche‹ der ekstatischen Vision bis zur romantischen Kunstreligion. Vgl. ebd., S. 291. 87. Vgl. ebd., S. 338: Der Name Weiningers taucht zum ersten Mal in einem Brief von 1916 auf. 1919 zitiert de Chirico aus der italienischen Übersetzung der Nachlassschrift Über die letzten Dinge, doch 1960 setzt er sich davon ab. Otto Weininger: Über die letzten Dinge, München 1997, S. 103-121. 88. Der psychophysische Parallelismus der Epoche führte zu einem von Weininger mitpropagierten quantifizierenden Kontinuum-Modell, dessen idealtypische Pole allerdings einen qualitativen Dualismus, z.B. zwischen ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹, voraussetzen. 89. Jacques Le Rider: Le cas Otto Weininger. Racines de l’antiféminisme et de 332

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der Physiognomie. Dem Rückfall eines Adepten Kants in den aristotelischen Substantialismus entsprach sein Rückgriff auf ein Analogiedenken90 nach alchemistisch-astrologischem Muster, das sich epistemologisch in der Zeichenökonomie der Vormoderne verankert.91 Indem Weininger die introspektive Psychologie zum erkenntnistheoretischen Äquivalent der Transzendentalphilosophie erhob, meinte er, zu einer universellen Symbolik vorzustoßen, auf deren Grundlage man äußere Phänomene eindeutig inneren Wirklichkeiten zuordnen könne. In der Annahme einer semiologischen Wechselimplikation zwischen dem Reich der Natur (bzw. der Notwendigkeit) und dem Reich des Menschen (bzw. der Freiheit) wurde die historische Errungenschaft des kantischen Kritizismus, nämlich die Einsicht in die konstruktive Leistung verstandesmäßiger Erkenntnis, wieder rückgängig gemacht zugunsten einer unterstellten Evidenz magischer Entsprechungen zwischen Sein und Bewusstsein. »Das System der Welt ist identisch mit dem System des Menschen. Jeder Daseinsform in der Natur entspricht eine Eigenschaft im Menschen, jeder Möglichkeit im Menschen entspricht etwas in der Natur. So wird […] alles Sinnliche, Sinnenfällige in der Natur gedeutet durch die pychologischen Kategorien im Menschen und nur als Symbol für diese betrachtet.«92 Unter der Prämisse eines Vorrangs der psychischen vor der physischen Wirklichkeit kommt Weininger etwa zu dem abstrusen Schluss, dass die »Tiefseefauna« aufgrund ihrer Lichtscheu »in einer Beziehung zum Verbrechen stehen müsse«. Indem er eine Metapher wörtlich nimmt, sieht er in »Polypen und Kraken […] Symbole des Bösen«.93 Wenn die »Welt der Dinge« auch für de Chirico nicht nur ein »Universum von Formen«, sondern von »Bedeutungen« darstellt94, dann weniger im Sinne der ›paranoisch-kritischen‹ Methode Dalís95, die den Lapsus des Ver-sehens im Vexierbild fixiert, als in demjenigen einer semsynthetischen Diskursmischung à la Weininger, die monistische mit vitalisti-

l’antisémitisme, Paris 1982, S. 51. Obwohl Weininger Nietzsches Idee vom ›Machtwillen‹ ablehnte, griff er auf dessen genealogische These zurück, dass Kulturkritik über eine Charakterologie der Dekadenz erfolgen müsse (ebd., S. 104). 90. Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/Main 1971. 91. J. Rider: Le cas Otto Weininger, S. 61. 92. Otto Weininger: »Metaphysik«, in: Über die letzten Dinge, S. 121-141, hier: S. 122f. 93. Ebd., S. 124. 94. P. Baldacci: Zu zweit hatten wir nur einen einzigen Gedanken, S. 47. 95. Vgl dazu z.B. José Ferreira: Dalí – Lacan. La rencontre. Ce que la psychanalyse doit au peintre, Paris 2003. 333

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schen und neomystischen Versatzstücken96 verquickt. Die ›Geheimschrift der Dinge‹ bleibt auch bei de Chirico das ganz Andere, von dem man sich fragen kann, ob es nicht einer verworfenen Alterität geschuldet sein könnte, die fremdartig und befremdend aus dem Realen wiederauftaucht.97 Der psychotische Zug dieser »zerebralen Malerei« (Apollinaire) manifestiert sich in einer Korrespondenzlehre, die der Maler zwar später desavouieren wird, deren totalisierenden Gestus sein Meisterdiskurs aber beibehält. Obwohl die Signaturen der Alltagswelt als Symbole einer höheren Realität gelten, verleiht ihnen erst ihre »Stummheit oder Undeutbarkeit«, wie Wieland Schmied präzisiert, »die volle Würde des Geheimnisses.«98 So ist die Bildrezeption wie im Rorschach-Test der Unberechenbarkeit imaginärer Projektionen ausgeliefert. Die bronzenfarbene Putte im Trikot (Frühling, 1914) mutiert zum Hefegebäck, einem Teigzopf in Gestalt eines Kreuzes, in dem man etwa, vom Titel (Die Sprache des Kindes, 1916)99 verführt, die Gliedmaßen eines kleinen Kindes ohne Kopf erkennen könnte, dessen Arme sich zu einer Tafel empor strecken, auf der eine sinnlose Kritzelei abgebildet ist, nämlich Wellenlinien in einem Dreieck.100 Machte jedwede Lesart ihre Hieroglyphen nicht automatisch zu einer Allegorie (un-) möglicher Deutung? De Chiricos Liebe zur Geometrie fußt auf einem unlösbaren Widerspruch. Einerseits möchte sie sich vor der begrifflichen Identifizierung der ›objektiven Anspielungen‹ hüten und es lieber bei der »Ahnung«101 belassen, andererseits folgt sie dem apodiktischen Beziehungswahn Weiningers, der zum Beispiel das Dreieck als theosophisches Symbol mit der »Rolle der Dreizahl« in der abendländischen Kultur zusammenzudenken versucht, – von der Dreifaltigkeit über die hegelsche Dialektik bis zur Dreidimensionalität des traditionellen Raumes. Was den Synthetiker als »Einheit aller Gegensätze«102 befriedigt, übt auf

96. Vgl. die Studie von Uwe Spoerl: Gottlose Mystik in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende, Paderborn u.a. 1997. 97. Anzeichen dafür wären in verschiedenen Äußerungen zu finden, wo de Chirico auf das Trauma des frühen Todes seines Vaters verweist, aber auch in seinen autobiographischen und literarischen Schriften (Monsieur Dudron von 1928 und der HebdomerosRoman von 1929), wo stellenweise sogar rassistische Töne zu vernehmen sind. 98. W. Schmied: Die metaphysische Kunst, S. 96. 99. P. Baldacci: Giorgio de Chirico, S. 333. 100. Baldacci hält die abgebildeten Süßigkeiten bloß für Kindheitserinnerungen, obwohl er zugesteht, dass das kleine und einfache Bild schwierig zu interpretieren sei (ebd., S. 327). 101. So C. Einstein: »Giorgio de Chirico«, S. 512. 102. Otto Weininger: »Über die Einsinnigkeit der Zeit«, in: Über die letzten Dinge, S. 103-121, hier: S. 116. 334

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den Maler eine phobische Macht aus. »So haben die Winkeldreiecke mich stets bedrängt, sie bedrängen mich noch heute. Ich sehe sie hinter jeder Figuration meiner Malerei wie geheimnisvolle Sterne aufgehen.«103 Ließe sich im Sinnbild des Dreicks als göttlichem Auge, dessen Blick de Chirico in jedem Ding auftauchen sieht104, nicht auch der Einbruch jenes Dritten erkennen, den Lacans Modell der symbolischen Triangularisierung in seiner kastrativen Funktion definiert? De Chiricos katachretischer Werkkommentar erhebt eine sakralisierte Kunst zur quasi-religiösen »Enthüllung eines Gedankens, der in bildlichen Ausdruck übersetzt wird.«105 Warum sollte es sich nicht um einen unbewussten handeln? Während Marcel Duchamp bereits den Konstruktivismus parodiert, wenn er meint, die Betrachter schüfen sich ihre Bilder selbst, indem sie von diesen ausgesucht würden, blieb Chirico der uralten Idee einer Offenbarung durch Erleuchtung treu, die er in seinem Text »Das Mysterium der Schöpfung« autobiographisch beschreibt: »An einem klaren Winternachmittag war ich im Hofe des Schlosses von Versailles. Alles hielt Ruhe und schwieg. Alles kam mir seltsam vor, alles stellte Fragen. Ich sah in diesem Augenblick, dass jeder Winkel des Schlosses, jede Säule, jedes Fenster von beseelten Rätseln erfüllt waren. Die steinernen Helden standen um mich herum, leblos unter dem hellen Himmel, in den kalten Strahlen der Wintersonne, die ohne Liebe war – wie ein Lied aus der Tiefe«.106 Ist die ganze Welt beseelt, so der Mensch davon ausgenommen. Nur im Stande des Todes, d.h. dinghafter Ewigkeit, kann er Gewicht erhalten. »Die Dinge waren für de Chirico Äquivalente des Menschen, der fast immer abwesend blieb, […] als reale Figur […] ganz im Hintergrund, eher […] eine ferne Erinnerung denn ein leibhaftiges Wesen.«107 Will de Chirico gleichsam das Reale imaginär einfangen, bleibt der seltene Auftritt des Humanum einer Kindfrau vorbehalten. Doch den Schattenriss dieses kleinen Mädchens, das seinen Reifen über die Straße rollt, scheint ein überlebensgroßer menschlicher Schlagschatten zu bedrohen, der referenzlos hinter einer Mauer hervorragt (Geheimnis und Melancholie einer Straße, 1914). Was Carl Einstein dem »Erwachen archaischer Unterschichten« zuschrieb, denen das moderne Individuum hilf-

103. Zitiert in: W. Schmied: Die metaphysische Kunst, S. 98. 104. »Il faut découvrir l’œil qui est en chaque chose«, so de Chirico im Jahre 1919, zitiert in: P. Baldacci: Giorgio de Chirico, S. 225. 105. P. Baldacci: Zu zweit hatten wir nur einen einzigen Gedanken, S. 46. 106. Zitiert in: W. Schmied: Die metaphysische Kunst, S. 97. 107. Ebd., S. 97. 335

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los ausgeliefert sei108, zeugt von jener supplementären Logik, die den Menschen, als »Mannequin der Geschichte«109, durch die Dinge, die er schafft, ersetzt. Doch statt zur Warnung gereicht ihm dieses Gleichnis zur Verzückung.

Die Lehre der Leere: Melanconia Die beängstigende Leere von de Chiricos weiten entvölkerten Plätzen ist längst zum Gemeinplatz geworden. Auf dem Gemälde Melancholie von 1912 streckt sich eine in fahlgrünes Licht getauchte weibliche Statue auf ihrem Sockel aus, der den Bildtitel als Inschrift trägt, und stützt in Dürerscher Pose ihr Haupt auf die Hand des angewinkelten Arms. Sie liegt auf einem großen olivgrünen Platz, der sich zwischen einem dunklen Arkadengang im Hintergrund und einem die Sicht freigebenden hohen Torbogen auf der linken Seite erstreckt, durch den man in die Ferne auf eine Meeresküste blickt, auf die sich zwei kleine Figuren mit langen Schatten zubewegen. Was bleibt, sind die steinernen Zeugen einer oftmals monumentalen Architektur in einem herbstlichen Ambiente. Die Abwesenheit von Personen, die zum Eindruck von Isolation und Verlorenheit beiträgt110, ist durch den Titel dieser Bilder mit jener Melancholie verknüpft, die im Gegensatz zur Trauer einen Verlust nicht zu bewältigen vermag, weil das verlorene Objekt – Freud zufolge – als Introjekt einer narzisstischen Identifikation einen Teil des Ichs ausmacht.111 Wäre es der Mensch selbst, der sich mit dem Tod Gottes im neuen wissenschaftlich-technischen Weltbild verlustig ginge? Gleichsam in die Krypta seines versteinerten Fleisches eingemauert, bleibt etwas, das nicht ersetzt werden kann, auf tantalisierende Weise präsent wie die depressiven Frauenskulpturen, die sich in klassizistischen statt in hysterischen Posen verrenken, – mit einem über und einem unter den Kopf gelegten Ellbogen (La statue silencieuse, 1913). Im Hinblick auf das biographische Trauma des frühen Vaterverlusts, könnte man in dieser ikonographischen Serie eine unwillentliche Anspielung auf die Geburt der Kunst aus dem Muttermord112 sehen, d.h. der Aufgabe des realen Genießens des Anderen, als Körper, zu-

108. C. Einstein: Giorgio de Chirico, S. 513. 109. Ebd., S. 512. 110. Z.B. La lassitude de l’infini (1912), La matinée angoissante (1912), La mélancolie d’une belle journée (1913), La récompense du devin (1913), Place avec Ariane (1913), L’après-midi d’Ariane (1913), La statue silencieuse (1913). 111. Sigmund Freud: »Trauer und Melancholie«, in: Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud u.a., Frankfurt/Main 1999, Bd. X, S. 427-447. 112. Vgl. dazu Sarah Kofmann: Die Melancholie der Kunst, Wien 1998. 336

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gunsten einer symbolischen Ordnung, die sich in der Abwesenheit von Sinn und Subjekt113 errichtet. Wenn de Chiricos melancholische Bilder, deren in der Ferne dampfende Lokomotiven und gehisste Segel synekdochisch von Abreise und Abschied erzählen, sich stets in einen großflächigen Vordergrund und einen schmalen Horizont zweiteilen, wäre der leere Platz vielleicht jener des Signifikanten.114 Beschwört der Maler die »Einsamkeit der Zeichen«, weil sie die Ankunft weiterer Zeichen hervorrufe115, was wie eine Personifizierung des Lacanschen Diktums, dass der Signifikant ein Subjekt für einen anderen Signifikanten sei, wirkt, wäre damit die Kluft des Realen im Symbolischen aufgerissen116, nur mühsam überdeckt von einer romantischen Sehnsucht nach Unendlichkeit. Die großen Türme, die sich hinter kleinen Mauern als mit Fähnchen bewimpelte Ziegelschornsteine (Der Nachmittag der Ariadne, 1913) oder runde säulengeschmückte Wachposten (Der große Turm, 1913) in einen meist dunkelgrünen Himmel erheben, verstärken durch ihre Höhe nicht nur die Illusion der Weite, sondern erscheinen wie die Allegorie eines ›ozeanischen Gefühls‹. Lässt sich ihr Archetyp in den Turiner Festungen und Palästen wiederfinden117, liegt die Unheimlichkeit dieser ›Phallophoren‹ vielleicht darin, dass die menschliche Physiognomie in ihnen als »Grimasse des Realen«118 wiederkehrt, denn die Schießschartenfenster dieser lächerlichen Bauwerke sind derart angeordnet, dass ihre dunklen Höhlen gespenstisch den hohlen Köpfen der ersten Schneiderpuppen (Die zwei Schwestern, 1917) ähneln. Mit der Übertragung der menschlichen Gestalt auf Dinge und umgekehrt wird die Grenze zwischen Außen und Innen durchlässig, wie es auch der Typus des ›Gittergebäudes‹ reflektiert, durch dessen Bogengänge man hindurchsehen kann.119

113. De Chirico, der sich als Verkünder eines Evangeliums fühlte, gewann bereits Einsicht in den ›Unsinn‹ des Realen, den er indes für ein Fundament jeglicher Kunst hielt. Vgl. P. Baldacci: Giorgio de Chirico, S. 287. 114. Vgl. P. Baldacci (ebd., S. 124ff.), der die Motivik der Plätze auf Turiner Erlebnisse zurückführt, die von de Chiricos Identifizierung mit Nietzsche zeugen. 115. Zitiert in: P. Baldacci: Zu zweit hatten wir nur einen einzigen Gedanken, S. 68. 116. In Les signes éternels (1919) unterscheidet der Idealist de Chirico die ›plastische Einsamkeit‹ seiner ›untoten Stilleben‹ von der ›Einsamkeit der Zeichen‹, »pour laquelle toute possibilité d’éducation visuelle ou psychique est a priori exclue«, zitiert in: P. Baldacci: Giorgio de Chirico, S. 185. 117. P. Baldacci (ebd., S. 144ff.) erkennt in den Arkaden der frühen metaphysischen Phase überzeugend jene des Münchener Hofgartens wieder und in den dicken runden Türmen einen Niederschlag der vorhellenistischen Architektur Roms. 118. Slavoj Zizek: ›Liebe dein Symptom wie dich selbst!‹ Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin 1991, S. 104, Anm. 2. 119. Vgl. Das Rätsel der Stunde (1911). P. Baldacci (Giorgio de Chirico, S. 54) führt 337

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Warum aber entsteht aus der Fülle des Pikturalen überhaupt der Eindruck einer Leere und in welchem Verhältnis steht die Raumdarstellung zum dargestellten Raum? Hielt Weininger, den de Chirico damals ernst nahm, die Unumkehrbarkeit der Zeit für das größte »Welträtsel«, aus dem sich die »Frage nach dem Sinn des Lebens«120 ergebe, unterschlägt er mit der unterstellten Linearität der Zeit nicht nur die Nachträglichkeit ihrer sprachlichen Hervorbringung, sondern setzt der Mobilität des Willens die Ewigkeit eines Glaubens entgegen.121 Insofern wird ein Behälterraum, der »im Nebeneinander« enthält, »was nur im zeitlichen Nacheinander erlebt werden kann«, zum Sinnbild eines Narzissmus, der die Zeitlosigkeit unbewusster Wünsche (ver)leugnet122: »Der Raum ist symbolisch für das vollendete, die Zeit für das sich wollende Ich. Darum scheint der Raum erhaben, die Zeit nicht«.123 Weiningers erkenntnistheoretisches Delirium, das die Dekonstruktion des traditionellen Raum/Zeit-Gefüges durch die moderne Physik124 ignoriert, macht die spatiale Erfahrung zum Garanten des Selbstbewusstseins. Der Raum, den man sich gemeinhin als »kontinuierliche alles umfassende dreidimensionale Leere«125 vorstellt, gewährleiste erst die Kontinuität eines Ichs, das sich zwangsläufig durch die Zeitlichkeit bewegen müsse. Dadurch dass Zeit für Weininger »Vielheit«, Raum aber »aus Vielheit zusammengesetzte Einheit« bedeutet126, wird

diese Konstruktion auf de Chiricos Rezeption des italienischen Romantikers Giacomo Leopardi zurück, den Gebrauch der Fassaden als durchlässige Gitterstruktur (»maison passoire«), die die Spannung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit evoziert. De Chiricos Gebäude seien entweder voller filtrierender Öffnungen oder gänzlich verriegelt (ebd., S. 132). 120. O. Weininger: Über die Einsinnigkeit der Zeit, S. 111, 113. 121. »Im Willen des Menschen, der stets Wille zur Ewigkeit ist, wird die Zeit zugleich gesetzt und verneint. […] Das Ich als Wille ist die Zeit« (ebd., S. 112). »Der Glaube hingegen geht aufs Zeitlose« (ebd., S. 115). 122. »Das Unbewusste ist die Zeit« (ebd., S. 117). 123. Ebd., S. 116. 124. Vgl. Margaret Wertheimer: Die Himmelstür zum Cyberspace. Von Dante zum Internet, Zürich 2000, S. 31f.: »In unserem […] Jahrhundert ist die mathematische Beschreibung des Raums zu einer höchst komplexen Unternehmung geworden«, die zur »relativistischen Konzeption von Raum durch Einstein geführt hat, in der Raum und Zeit in einer vierdimensionalen Gesamtheit miteinander verflochten« sind und in der die »Zeit zu einer neuen Dimension des Raums wurde«, sodass es »schließlich nichts als Raum gebe, selbst die Materie ist nur Raum, der zu winzigen Strukturen gekrümmt ist.« Die Physikerin betont, wie wichtig indes »eine kohärente Konzeption des leeren Raums für die wissenschaftliche Revolution« (ebd., S. 109) gewesen sei. 125. Ebd., S. 102. 126. O. Weininger: Über die Einsinnigkeit der Zeit, S. 116. 338

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er zum Symbol einer ganzheitlichen Subjektivität, das »Leben« zur »Reise« durch den Innenraum der Psyche.127 Entsprechend schlägt der ›horror vacui‹ auch bei de Chirico, der Weiningers Nachlaßschriften eifrig las, in Euphorie um: »Die entdeckte schreckliche Leere ist die gleiche unbeseelte und ruhige Schönheit der Materie.«128 Keineswegs mit dem Nichts identisch, wird Leere in Lacans negativer Anthropologie hingegen zur transzendentalen Bedingungsmöglichkeit für die Konstitution des Objekts als Stellvertreter des Mangels.129 Dem gemäß wären de Chiricos Raumdarstellungen, die die imaginäre Erlebnisqualität fiktiver Örtlichkeiten130 suggerieren, von Phantasmen und Leidenschaften besetzt. Dabei lässt sich für die frühe Phase der pittura metafisica eine Entwicklung von offeneren zu geschlosseneren Bildarchitekturen feststellen, die Deleuzes Konzept des ›Kristallbilds‹ nahe kämen, das eine »stratigraphische, geschichtete Zeit zu sehen erlaubt, die den Raum der reinen Erinnerung bewohnt und der Wahrnehmung eine visionäre Potenz verleiht«, um aus der »instantanen Koexistenz eines aktuellen und seines virtuellen Bildes« eine »Dauer« entstehen zu lassen, »die das Unterschiedene vereinigt, ohne es seiner Heterogenität zu berauben«.131 Da die inkohärenten und diskontinuierlichen Räume132 die kubistische Dezentrierung teilweise übertreffen, indem sie Tiefe und Horizont (Biblisches Stilleben, 1916) abschaffen, könnte man sie als theatrale Zwischenräume133 bezeichnen, deren subtiles Spiel mit der Perspektivik die Illusionsbildung fast unmerklich unterbricht, etwa durch die Attribution falscher Schlagschatten oder die Paradoxierung der Blickpunkte.134 In den beiden Nietzsche-Hommagen Turin im Frühling und Torino 1888 (1914/1915) purzelt Spielzeug über schiefe Ebe-

127. Ebd., S. 117. 128. W. Schmied: Die metaphysische Kunst, S. 97. 129. Jacques Lacan: »La logique du fantasme«, in: Autres Ecrits, Paris 2001, S. 323-329. Die Bedeutung der zentralen Leere erweise sich schon in Freuds Dezentrierung des Cartesianismus zum ›Ich denke nicht‹, das den Subjekteffekt bewirkt. Der Seinsmangel, der die Entfremdung hervorrufe, sei Statthalter der Kastration: »Tel est le vide si incommode à approcher. Il est maniable d’être enveloppé du contenant qu’il crée. Retrouvant pour ce faire des chutes qui témoignent que le sujet n’est qu’effet de langage: nous les avons promues comme objets a« (S. 324). 130. Vgl. Gaston Bachelard: Die Poetik des Raumes, Frankfurt/Main 1997. 131. Friedrich Balke: Deleuze, Frankfurt/Main, New York 1998, S. 172. 132. Vgl. M. Wertheimer: Die Himmelstür, S. 218: Das Interesse der Kubisten »für den höherdimensionierten Raum« sei allerdings ihrem Hauptanliegen, »mit der Tradition der Perspektive zu brechen«, untergeordnet gewesen. 133. Helga Finter: Der subjektive Raum, 2 Bde., Tübingen 1990. 134. Vgl. W. Rubin: De Chirico und der Modernismus, S. 51-53; P. Baldacci: Giorgio de Chirico, S. 118. 339

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nen135 auf den Betrachter zu. Der Tücke der Objekte entspricht eine aus den Fugen geratene Behälterwelt.136 So werden die immer weniger identifizierbaren Gegenstände und kabbalistischen Insignien oft von mehreren Lichtquellen eigentümlich beleuchtet (Die Kaserne der Matrosen, 1914) oder aus verschiedenen Winkeln präsentiert (Großes metaphysisches Interieur, 1917). Der Bildraum verwandelt sich in einen Gedächtnisspeicher, doch die motivische Wiederholung dessen, was nicht erinnert werden kann, lässt ihn symptomatisch erscheinen. Erweist sich die radikal neue Art des Sehens, die auf einem unschuldigen oder aber ver-rückten Blick beruhe, bereits als Signifikanteneffekt, zumal de Chiricos Bilder ›zweiten Grades‹ Visionen darstellen, die der Lektüre von Texten entspringen, sind deren pikturale Übersetzungen137 einer intermedialen Transposition unterworfen, die stets einen Mangel bzw. Überschuss produziert. Die rousseauistische Fiktion des originellen Blicks, der souverän mit Sehgewohnheiten wie mit Bildnormen bricht, erhebt den Rezipienten zwar zum Produzenten, bleibt aber gerade darin dem gewöhnlichen Sehtrieb unterstellt. De Chirico huldigt diesem skopischen Verlangen, indem er ein »geheimnisvolle[s] Gefühl«, das er »in Nietzsches Büchern entdeckt hatte«, unmittelbar in rhetorischen Gleichnissen auszudrücken vorgibt.138 Wenn er mit Schopenhauer Traum und Wirklichkeit gleichsetzt, hebt sich der Unterschied zwischen Symbolischen und Realem in der unio mystica139 einer »metaphysische[n] Ekstase«140 auf, d.h. dem Erlöschen der Unterscheidung zwischen Ich und Welt.141 In Florenz ist es bezeichnenderweise auf einem Platz, nämlich der Piazza Santa Croce, wo

135. Vgl. J. Cocteau: Essai de critique indirecte, S. 21: »Toutes les perspectives sont des chutes.« 136. Z.B. Le mauvais génie d’un roi (1914), das aber nach Baldacci auch eine Anspielung auf das legendär fatale Schicksal des österreichischen Kaisers im Zusammenhang familiärer und politischer Desaster sein könnte. 137. So etwa das Keksalphabet aus der Ferrara-Periode (vgl. Grüße an einen fernen Freund, Der Krieg, Revolte der Weisen, alle von 1916). 138. Zitiert in: Wieland Schmied u.a. (Hg.), De Chirico: Leben und Werk, München 1980, S. 15. 139. Vgl. Gisela Dischner: Auferstehung und Verwandlung. Reflexionen zur Renaissance in Italien, Bielefeld 2001. 140. Giorgio de Chirico: »Metaphysische Kunst und okkulte Wissenschaften mit nachfolgendem Epode«, in: W. Rubin/W. Schmied/J. Clair: Giorgio de Chirico, S. 284. 141. Vgl. aus systemtheoretischer Perspektive Peter Fuchs: »Vom Unbeobachtbaren«, in: Oliver Jahraus/Nina Ort (Hg.), Vom Unbeobachtbaren, Weilerswist 2000, S. 3971. Mystik sei der ›re-entry‹ der Innen-Außen-Unterscheidung im Bereich des Innen und damit eine »Deontologisierung des Raumes« (S. 52). 340

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dem Künstler, von schwerer Krankheit genesen, ein derartiges Konversionserlebnis widerfährt: »Die ganze Welt um mich herum schien mir im Zustand der Genesung zu sein, sogar der Marmor der Gebäude und Brunnen. In der Mitte des Platzes erhebt sich ein Dantedenkmal. Der Dichter trägt eine lange Tunika, er presst seine Werke gegen seine Brust und neigt gedankenvoll sein lorbeerbekränztes Haupt. Die heiße, starke Herbstsonne fiel hell auf die Statue und die Fassade der Kirche. Da hatte ich den befremdlichen Eindruck, ich sähe die Dinge zum ersten Male. Die Komposition des Bildes stand mir nun auf einmal im Geiste vor Augen. Jedes Mal, wenn ich nun dieses Bild betrachte, erlebe ich jenen Augenblick neu. Trotzdem ist jener Moment ein Rätsel für mich, das unerklärlich bleibt.« 142 Hat de Chirico ihn im Geheimnis eines Herbstnachmittags (1910) festgehalten, zeigt die bildliche Umsetzung, wie Paolo Baldacci vermerkt, indes nur wenige Übereinstimmungen mit der sprachlichen Fassung dieser Schlüsselerfahrung. Die Kirche ist einem Tempel gewichen, der Poet zur kopflosen Statue geworden und als solche dem Horizont zugewandt, auf dem sich ein Segel abzeichnet.143 Dem visionären Gesicht entsprungen, treibt das äußere Bild, das immer schon ein inneres war, autopoïetisch zu seiner malerischen Materialisierung, um das Flüchtigste, die Kontingenz einer unsäglichen Befindlichkeit, festzuhalten. In dieser Morgenröte der metaphysischen Malerei verweist die ›intellektuale Anschauung‹ der proklamierten Einheit von Traum-Bild und Bild-Traum144 auf eine symbiotische Urszene. Die Stille, die man in de Chiricos Szenerien hineinliest145, entspricht der absoluten Tiefe einer ebenso unhörbaren wie sagbaren Abgründigkeit: »Dorthin gelangt kein Rauschen eines Flusses, kein Lied eines Vogels, kein Rascheln des Laubes.«146 Böcklin, der mit seinen »schreienden Farben« beim Mythos Zuflucht nahm, war ebenfalls als Stimmungsmaler beliebt147, aber vor allem deswegen, weil er, wie Georg Simmel meint, eskapistische Ent-

142. Zitiert in: W. Schmied: Die sieben Städte, S. 17. 143. P. Baldacci, Giorgio de Chirico, S. 79. 144. In de Chiricos Klinger-Aufsatz (1920) wird das Bild mit dem Traum gleichgesetzt. Vgl. Giorgio de Chirico: »Max Klinger«, in: Il Convegno, 1, 1920, wieder abgedruckt in: Commedia dell’arte moderna, Rom 1945, S. 47-57. 145. Vgl. J. Cocteau: Essai de critique indirecte, S. 71: »Le silence défile, musique en tête, dans les rues de Chirico.« 146. De Chirico, zitiert in: Winfried Weber: »Italienische Malerei der Gegenwart«, in: http://www.museum.bistum-trier.de/archiv/donadi.htm vom 07.02.2004. 147. Katharina Schmidt: »Non omnis moriar. Eine Einführung zu Arnold Böcklin«, in: Öffentliche Kunstsammlung Basel u.a. (Hg.), Arnold Böcklin, Heidelberg 2001, S. 11ff. 341

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grenzungen im stabilisierenden Rahmen einer binären Repräsentation, d.h. im Subjekt/Objekt-Dualismus, rückversichert: »Der große Pan schläft, und so schlafen auch wir, mit und in ihm, – und doch sind wir ein Genießendes, ein Subjekt gegenüber all diesem Objektiven. Das ist die Stimmung, die wir aus Böcklins Landschaften schöpfen, […] als ob wir ihren Inhalt, in die Sphäre solcher Zeitlosigkeit versetzt, anschauten.« 148 Erlaubt der Mythos, den Lacan für einen Antipoden der Sprache erachtet149, das Imaginäre mit dem Symbolischen zu verknüpfen, schenkt er damit einen Signifikanten der Unmöglichkeit, der es erlaubt, etwas offen zu lassen.150 Offen aber bleibt bei de Chirico nur der Sinn eines einzigartigen Moments, der sich im Kurzschluss von Erinnerung und Vorahnung seiner symbolisierenden Darstellung aufdrängt. Welcher Status aber käme ihr für das Subjekt des Begehrens im Felde des Sehens zu?

Objekte. Sehen War der Konzeption von Kunstschaffen und Kunstgenuss als informationsverarbeitendem Prozess die Annahme einer kulturellen Bedingtheit innerer Bilder151 entgegengetreten, deren ›symbolische Formen‹ sich als ein strukturiertes Zeichensystem152 lesen ließen, bemühte sich die Ikonik Max Imdahls bekanntlich darum, das Bild als ein Phänomen zu erfassen, in dem »gegenständliches […] Sehen und formales, sehendes Sehen sich einander vermitteln zur Anschauung einer höheren, die praktische Seherfahrung sowohl einschließenden als auch prinzipiell überbietenden Ordnung und Sinntotalität«.153 Lacans Theorie einer Spaltung von Auge und Blick, die dem damit beschriebenen Dualismus

148. Georg Simmel: »Böcklins Landschaften«, in: Aufsätze und Abhandlungen 1894 bis 1900. Hg. von Heinz-Jürgen Dahme/David P. Frisby, Frankfurt/Main 1992, S. 96-105, hier: S. 96. 149. Jacques Lacan: »Radiophonie«, in: Autres Ecrits, S. 403-449, hier: S. 411ff.: »Il n’opère ni de métaphore, ni même d’aucune métonymie. Il ne condense pas, il explique. Il ne déplace pas, il loge.« 150. Jean-Jacques Gorog: »La névrose obsessionelle repensée«, in: Colloque de Cerisy-la-Salle (Hg.), 2001, Lacan dans le siècle, Paris 2002, S. 61-79. 151. Vgl. Ernst Gombrich: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, London 2002. 152. Vgl. Erwin Panofsky: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975. 153. Max Imdahl: Giotto. Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München 1988, S. 92. 342

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von Naturalisierung und Idealisierung des Sehens ein Ende bereitet, erschüttert die Figur eines souveränen Blicks, der sich selbst sich sehen zu sehen glaubt.154 Während die herkömmliche Optik mithilfe von ›Augen-‹ bzw. ›Fluchtpunkten‹ einen euklidischen Raum konstruiert, in dessen Zentrum der Beobachter steht, entzieht sich der Blick als Partialobjekt155 jeder Art eines Sehens, »das sich selbst genügt, indem es sich als Bewusstsein imaginiert«.156 Wenn ins Feld der visuellen Wahrnehmung etwas Unsichtbares als blinder Fleck einbricht, der als Bedingung des Sichtbaren nie selber vor Augen tritt, gilt es, diese für die Bildkonstitution grundlegende Kluft kunsttheoretisch mitzubedenken. Indem Lacans optisches Schema157 illustriert, dass das Auge seinen Ort im Anderen finden muss, damit Wahrnehmung überhaupt stattfindet, beruht deren Diskordanz darin, dass das Subjekt sich auf einen Punkt einzustellen hat, der im Feld dessen situiert ist, über den es keine Herrschaft besitzt. Insofern macht mich der Blick der Welt selber zum Bild.158 Wenn der innere Fluchtpunkt des Bildes dem Blick des Anderen gleichkommt, der uns betrachtend erst errichtet, hat die Zentralperspektive, die historisch die Funktion eines Spiegels übernahm, eine wichtige Rolle bei der Genealogie des modernen Subjekts gespielt.159 Die Psychoanalyse Lacans bricht jedoch mit einer cartesianischen

154. Jacques Lacan: »Du regard comme objet petit a«, in: Le Séminaire. Livre XI. Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse. 1964, Texte établi par JacquesAlain Miller, Paris 2002, S. 79-139, hier: S. 97: »de tous les objets, […] le regard se spécifie comme insaisissable. C’est pour cela […] que le sujet trouve si heureusement à symboliser son propre trait évanouissant et punctiforme dans l’illusion de la conscience de se voir voir, où s’élide le regard.« 155. Ebd., S. 96f.: »l’intérêt que le sujet prend à sa propre schize est lié à ce qui la détermine – à savoir, un objet privilégié, surgi de quelque séparation primitive […] dont le nom, en notre algèbre, est objet a. Dans le rapport scopique, l’objet d’où dépend le fantasme auquel le sujet est appendu dans une vacillation essentielle, est le regard. Son privlège, […], tient à sa structure même.« 156. Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar. Buch XI, Olten, Freiburg i.Br., 2. Auflage, 1980, S. 80. 157. Das optische Schema ist die generalisierte Form des Spiegelstadiums, wobei der (mütterliche) Andere, der das Kind seiner Identifikation versichert, mit dem Planspiegel verglichen werden könne. So Alain Vanier: Lacan, Paris 2003, S. 39f. 158. Vgl. ebd., S. 40f.: »Cela introduit une disjonction entre voir et regarder. […] dans le champ scopique, le regard est au-dehors, je suis regardé, […], je suis tableau. […] Ce qui me détermine foncièrement dans le visible, c’est le regard qui est au-dehors«. Vgl. J. Lacan: Du regard, S. 88: »Le monde est omnivoyeur, mais il n’est pas exhibitionniste«. 159. Hubert Damisch: »Qu’est-ce qu’un tableau?«, in Colloque de Cerisy-La-Salle (Hg.): 2001, Lacan dans le siècle, Paris 2002, S. 207-219. 343

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Geometrie, der gemäß der Mensch als punctus subjectivus160 einer ausgedehnten Gegenstandswelt gegenübersteht, ebenso wie mit dem metaphysischen Dualismus, dem entsprechend das Objekt dasjenige sei, was vorgestellt wird und den Sinn affiziert. Als fundamental in der Sprache gespaltenes ist das Subjekt kein erkennendes Selbstbewusstsein mehr, sondern auf ein immer schon verlorenes Objekt bezogen, dessen symbolischer Wert sich allein aus seinem Fehlen ergibt. Bei de Chirico gehört die Evakuierung des Menschlichen deshalb nicht allein zum imaginären Register. Der Ausschluss des Anderen kehrt vielmehr allegorisch in der tendenziell aporetischen Spannung zwischen dem figurativen und dem referentiellen Bildsinn161 wieder, in deren Diskrepanz sich die Spaltung im Felde des Sehens einschreibt. Doch personifiziert sie sich im Ding, das zwischen Mensch und Sache oszilliert. Falls in der bildenden Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts von einem Primat des Objekts die Rede sein darf162, welchen spezifischen Stellenwert bekäme es dann unter psychoanalytischen Vorzeichen? Obwohl de Chiricos bildnerische Gegenstände in ihren jeweiligen räumlichen Rahmen die Illusion der Präsenz hervorrufen, deuten sie zugleich auf etwas hin, das sich der Repräsentation entzieht. Sie kämen daher am ehesten dem Lacanschen Objekt a gleich, diesem vom Körper ablösbaren Etwas im un-dinglichen Sinne, das – als Brust, Fäces, Stimme oder Blick – zur Ursache, aber nicht zum Ziel des Begehrens wird und sich deshalb grundlegend vom Spiegelideal unterscheidet. Manifestiert sich dieser nicht-spekuläre Rest einer ursprünglichen Trennung163 im Übergangsobjekt, das prinzipiell überall zu finden ist und nie in Konkurrenz zum Subjekt tritt, handelt es sich weder um einen Doppelgänger noch um einen Fetisch. Greift de Chirico, der von Nietzsche gelernt haben will, alles nur »als Sache zu betrachten«164, dessen Polemik gegen die abendländische Denkfigur des Menschen auf, kehrt das entthronte Relikt allerdings als seine eigene Effigie wieder.

160. So Pélerin Viator (1505), zitiert in: H. Damisch: Qu’est qu’un tableau, S. 214. 161. Im Sinne einer intermedialen Transposition der Rhetorik Paul de Mans. 162. Vgl. Slobodanka Millicent Vladic-Glover: »From the beginning of the 20th century, the European arts have been focused on the representation of the object, which eclipsed or de-centred the solipsistic subject of the 19th century realism.« In: http:// www.arts.monash.edu.au/gsandss/slavic/papers/object.htlm vom 26.05.2003. 163. Vgl. Jacques Lacan: Le Séminaire de Jacques Lacan. Livre IV. La relation d’objet 1956-1957. Texte établi par Jacques-Alain Miller, Paris 1994, S. 25, 38, 59. 164. G. de Chirico: »Die Begierde einer Statue«, S. 13. 344

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Verpuppungen Der gerichtete Teufelskreis von Ent- und Verlebendigung führt von der Statue165 zur Puppe und wieder zurück. De Chirico, der sich zu seinen manichini kaum äußert, betreibt in seinen frühen Schriften einen fetischistisch166 anmutenden Statuenkult167: »Eine Statue ist stets durch sich selbst gegenwärtig. In der Einsamkeit der Statue erzeugt die Zeit […] nur eine einzige Frucht: Den Schatten. Der Schatten ist das reflektierte Leben der Statue, ihre magische Wandlung.«168 Verbindet sich das romantische Doppelgängermotiv durch die Synekdoche des Schattens, diesem zentralen Element perspektivischer Malerei, mit dem Übermenschen-Klischee, wird die mörderische Macht der Zeit in der Personifikation eines (fehlenden) Lichtreflexes gebannt, der das Volumen der Skulptur auf die Fläche der zweidimensionalen Raumkunst reduziert. Die platonische Idee vom Simulacrum erhält somit eine quietistische Botschaft: Was sich verändert, ist nur ein Schein, der negative Index eines ›stehenden Seins‹, in dem das Echo des nunc stans (v)erklingt. So wäre die asketische Selbstgenügsamkeit, die Chirico seiner Statue in den Meditationen eines Malers (1919) bauchrednerisch in den Mund legt, einer morbiden Identifikation mit ihr geschuldet: »›Ich wünsche alleingelassen zu werden‹, sagte die Statue mit dem Blick, der in die Ewigkeit geht. […] O diese Trauer der einsamen Statue dort unten. Seligkeit. […] Sie begehrt Stille. […] In der Betrachtung ihres Schattens.« 169 Birgt der »Schatten eines Mannes, der in der Sonne geht«, de Chirico zufolge »mehr Rätsel« als »alle[n] Religionen« der Welt170, läuft diese

165. Es sei hier nur verwiesen auf die heuristische und rhetorische Rolle der Statue für die ästhetisch-philosophischen Debatten seit Winckelmanns klassizistischem Manifest. 166. Der Fetischismus wäre als Perversion nur die Nachtseite eines väterlichen Gesetzes, gegen das er revoltiert. Vgl. dazu Annette Runte: »Die Isomorphie zwischen L-Kette und borromäischem Knoten. Lacans Formalisierungen in der ›Einführung‹ zum Seminar über E. A. Poes ›Der entwendete Brief‹ und in ›Parenthese der Parenthesen‹«, in: Delta Tau. Zeitschrift für Topologik und Strömungskunde, 1 (1986), S. 5-27, hier S. 25ff. 167. Später wird sein Bruder literarische Muster der Statuenverlebendigung des späten 19. Jahrhunderts in skurrilen Erzählungen ironisch persiflieren. Vgl. Peter Gahl: Die Fahrt des Argonauten. Das Werk Alberto Savinios von der »scrittura metafisica« zum »surrealismo archeologico«, München 2003, S. 123ff., der auch eine Statuen-Typologie bei Chirico erstellt (S. 46ff.). 168. G. de Chirico: Die Begierde einer Statue, S. 22. 169. Ebd., S. 21. 170. Zitiert in: Ilma Rakusa: »Die Einsamkeit der Statue«, in Guido Magnaguagno/ 345

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Blasphemie auf einen nihilistischen Solipsismus hinaus, dessen Sterilität mit der ›Junggesellenmaschine‹ modernen Künstlertums171 produktiv wird. So treten die Statuen im malerischen Werk allmählich in den Schatten jener gesichts- und geschlechtslosen Glieder- bzw. Schneiderpuppen, in die sie sich verwandelt haben. Könnte man in diesen berühmten ›manichini‹, die sich der Geschichtlichkeit radikal verweigern, überhaupt noch eine »Metapher« des »modernen Antihelden«172 sehen? Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs transformieren sie sich zwar in theatralische Attrappen gepanzerter Ritter und Troubadoure (Hektor und Andromache, 1917), lösen sich aber auch in kubistische Assemblagen auf, die wie burleske Mahnmale in expressionistisch gefärbte Himmel ragen. Aus dem merkwürdigen Gerümpel, das sich auf den Gemälden der Ferrara-Zeit in immer vertrackteren metaphysischen Intérieurs (1916/1917) ansammelt, stechen indes jene Werkzeuge des Geometers hervor, die zur Konstruktion der Zentralperspektive dienen, – Winkel, Zirkel und Lineal. Wenn das schon immer verlorene Objekt als Ursache des Begehrens unbelebt erscheint173, ließe sich in ihm also unschwer das ›manichino‹ entdecken, auch wenn es eine gewisse Entwicklung durchläuft. In Motivik und Kombinatorik der Gliederpuppen174 könnte man Indizien für die intermedial angelegte Automythographie der Gebrüder Chirico (Odysseus, Ariadne, die Argonauten, usw.) finden, etwa für den legendären Familienroman zweier Neurotiker, die ohnehin im literarischen Vergleich der Eltern mit Böcklin’schen Fabelwesen, Tritonen und Nereiden, schwelgen.175 Doch statt des Wortes war für Giorgio »am Anfang nichts als (das) Auge«.176 Insofern wären die den Statuen allmählich den Rang ablaufenden »tailor dummies« wörtlich zu nehmen, denn die dummen stummen Schneiderpuppen weisen sichtbare Spuren ihres Vernähtseins (vgl. Der Seher

Juri Steiner (Hg.), Arnold Böcklin. Giorgio de Chirico. Max Ernst. Eine Reise ins Ungewisse, Bern 1997, S. 247. 171. Vgl. Harald Szeemann (Hg.), Junggesellenmaschinen. Les machines célibataires, Venedig 1975. 172. W. Rubin: De Chirico und der Modernismus, S. 63f. 173. Jacques Lacan: »Allocution sur les psychoses de l’enfant«, in: Autres Ecrits, S. 361-373, hier: S. 369: »L’objet a fonctionne comme inanimé, car c’est comme cause qu’il apparaît dans le fantasme«. 174. Die P. Baldacci (Giorgio de Chirico, S. 267, Anm. 83) von den Maschinenmenschen Fernand Légers (ab 1913) absetzt, weil diese ein bloßes Abfallprodukt des Futurismus seien, während de Chirico seinen manichini eine präzise symbolische Bedeutung verleihe. 175. Vgl. Giorgio de Chirico: Monsieur Dudron, Bern, Berlin 2000, S. 98, Alberto Savinio: Kindheit des Nivasio Dolcemare, Frankfurt/Main 1996, S. 24. 176. G. de Chirico: Die Begierde einer Statue, S. 23. 346

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und La lumière fatale, 1915) auf, die gleichsam Lacans theoretische Metaphern der »Spaltung« und »Schließung«177 des Subjekts illustrieren. Fundiert sich das Subjekt im Mangel, so liegt sein Sein im Symptom, d.h. in der Narbe. Giorgio de Chirico: Die Bedrückung des Denkers (1914/1915)

177. Vgl. Jacques Lacan: Logique du Fantasme (1966-1967), Paris (Ms.), wo er die primordiale Einheit von Realität und Begehren nicht nur mit einer nicht-sphärischen Blase (»bulle«) vergleicht, sondern auch mit den zwei Seiten eines textilen Stoffes (S. 5ff.). Der (kastrative) Einschnitt lässt gleichursprünglich das gespaltene Subjekt wie das ›Objekt a‹ entstehen: »D’abord, in initio, la bulle par cette première coupure, devient un objet a (qui) garde un rapport fondamental avec l’Autre« (S. 7). 347

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Entstammte der Einfall des Gliedermanns Apollinaires nie aufgeführter Pantomime »A quelle heure un train partira-t-il pour Paris?«178, so trat das ›manichino‹ erstmals in Alberto Savinios dadaistischer Multimedia-Show Les Chants de la mi-mort (1914) auf179, um von dort aus in die Malerei seines Bruders einzuwandern. Hatte de Chirico die ubueske Witzfigur eines dionysischen Künstlers, dessen Gestalt dem männlichen Genitale nachempfunden war, völlig entsexualisiert180, wurde der Statuenfetisch, der Pygmalion vor Kastration schützt, erst mit dem geschlechtslosen Mannequin zu jenem unerreichbaren Etwas, das keiner Idealisierung mehr entspringt, sondern der Erhöhung des Objekts zur Würde ›des‹ Dings, wie man es in der Minne181 antrifft. Diese Sublimation, die sich am Abhang der Differenz zwischen dem narzisstischen Objekt und dem Ding abspielt, rührt nämlich nicht aus einer Überschätzung des Liebesobjekts, sondern entspringt einer unabschließbaren Suche (queste), die den Wegen des Signifikanten folgt, – jenseits des Lustprinzips sozusagen. Nimmt das ›manichino‹ wie die Dame182

178. Vgl. Magdalena Holzhey/Gerd Roos: »Giorgio de Chirico und Alberto Savinio. Eine Biographie der Dioskuren«, in: P. Baldacci/W. Schmied (Hg.), Die andere Moderne, S. 30ff. P. Baldacci (Giorgio de Chirico, S. 251ff.) liefert eine ausführliche Entstehungsgeschichte des manichino, das zunächst als ›zerstückelter Körper‹ in einem Gedicht Savinios (»Commento al Morgante Maggiore di Luigi Pulci«, 1908/09) auftauchte und dann in Apollinaires Poem »Les Musiciens de Saint-Merry« (1913) zum obszönen ›Fantomas‹Pastiche wird, das als Personifikation eines männlichen Organs in seine Pantomime übernommen wurde: »un homme sans yeux, sans nez et sans oreilles, ayant à la place de la tête une simple boule de chair, dotée d’une petite ouverture qui lui permettait de jouer d’une flûte qui ensorcelait […] les femmes« (ebd., S. 256). 179. P. Gahl: Die Fahrt der Argonauten, S. 45ff. 180. Vgl. P. Baldacci: Giorgio de Chirico, S. 258: De Chirico habe dem dionysischen Männchen alles Sexuelle und Groteske genommen, um es pathetisch zu mystifizieren. 181. Bestand die soziale Situation der Frau höherer Stände in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft idealtypisch darin, Tauschobjekt zu sein, was ihr keinerlei Freiheit und Individualität zubilligte, spielt sich auf diesem Hintergrund »un certain usage systématique et délibéré du signifiant comme tel« ab. Vgl. Jacques Lacan: Le Séminaire. Livre VII. L’éhtique de la psychanalyse. Texte établi par Jacques-Alain Miller, Paris 1986, S. 178. Das weibliche Objekt wird eingeführt im Zeichen der Privation, des bloßen Namens (»Mi Dom«) bzw. eines stereotypisierten Rituals, das sich in der Askese einer ars amandi um das Zeichen des Anderen als solchem dreht, »la reconnaissance distante de l’Autre« (ebd., S. 182). Bis zum ›objektiven Zufall‹ des surrealistischen »amour fou« reicht diese Spur einer Liebe als »Kriegsdienst«, die in de Chiricos Troubadour-Marionetten wieder aufscheint. 182. So heißt es schon bei Walter Benjamin über Bretons Nadja: »Die Dame ist in der esoterischen Liebe das Unwesentlichste. So auch bei Breton. Er ist mehr den Dingen 348

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dabei sowohl die Position des Objekts wie diejenige des Anderen ein, verleiht ihm der Entzug der Menschlichkeit nicht nur die »Gelassenheit […] der Materie«183, sondern lässt es zum symbolischen Einsatz werden. Bezeichnenderweise taucht das erste ›manichino‹ de Chiricos als Kreideskizze auf einer Tafel auf, neben der sich ein weiblicher Torso befindet. Das Bild von 1914, das den kryptischen Titel J’irai ... le chien de verre trägt, zeigt es von hinten als Schnittmuster mit einer Steppnaht auf dem Rücken184, umgeben von einer hieroglyphischen Schrift, nämlich dem Buchstaben »A«, dessen ringförmiger Querstrich von etwas wie einem harpunenähnlichen Bischofsstab durchstoßen wird.185 Allmählich nimmt das Mannequin, das sich zunächst neben einer Statue postiert, immer größere Konsistenz an (Die Sehnsucht des Dichters, 1914), bevor es unter antikem Frauengewand, oftmals armamputiert, aber mit seltsamen schwarzen Zeichen auf dem zunächst zinnoberroten Antlitz, auch alleine auftritt (Die Feindin des Dichters, 1914). Schließlich erhält es, unter sprechenden Titeln wie Der Philosoph und der Dichter (1914), Der Astronom (1915) oder Das Duo (1914/1915), die Gesellschaft seinesgleichen. Weder rührend noch erschreckend, kommen die merkwürdigen Gliederpuppen des Maler-Prometheus sozusagen einem sämtliche Öffnungen entbehrenden »organlosen Körper« (Deleuze/Guattari)186 gleich, von dem sich kein Partialobjekt mehr ablösen lässt. Wäre dieser in sich geschlossene, augen- und ohrenlose Ellipsoid in seiner sachlichen Sächlichkeit deshalb nicht selbst die Inkarnation jenes ›Objekts a‹, in dem sich keiner zu spiegeln vermag? Während die Puppe, die sich seit der Romantik187 erst zur beherrschenden »Olimpia«, dann zur beherrschten »Eve Future« verweiblichte, für Rilke zum verwerflichen ›Ab-jekt‹ »ohne Phantasie«188 absinkt,

nahe, denen Nadja nahe ist, als ihr selber. […] Deren Kanon ist für den Sürrealismus so aufschlußreich wie nur möglich«, in: Der Sürrealismus, S. 204. 183. G. de Chirico: Die Begierde der Statue, S. 34. 184. Vgl. La vision du conspirateur (1914). 185. Diese Motivik wird z.B. in La vision du conspirateur (1914) wieder aufgegriffen. 186. Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: L’Anti-Œdipe. Capitalisme et schizophrénie I, Paris 1972. 187. Im Rahmen des ›Damenopfers‹ einer ›männlichen Moderne‹, die die Frau nur als Tote ästhetisierbar werden lässt . Vgl. Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1994. 188. In Rainer Maria Rilkes Aufsatz »Einiges Über Puppen. Bei Gelegenheit der Wachspuppen von Lotte Pritzel« (1921) verdeutlicht sich, in welchem Maße das Übergangsobjekt zum ausgeschlossenen Popanz einer subjektkonstitutiven Grenzziehung wird. Der »grausige Fremdkörper«, der sich durch eine »dicke Vergesslichkeit« hervortut, zählt unter jene Dinge, »die sich alles gefallen ließen«, aber nichts erwiderten. Vgl. zur 349

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avanciert sie bei de Chirico gerade deswegen zum Platzhalter eines Hiatus zwischen Blick und Bild. Obzwar Rilkes Pamphlet nur die Nachtseite seiner taghellen Dingmystik darstellt189, sind die von ihm beklagten toten Augen der Puppe bei den manichini gar nicht mehr vorhanden. Gilt das Antlitz in der Moderne als Spiegel der Seele, zeugen ihre gesichtslose Kegelköpfe, deren kiemen- bzw. insektenartige Masken den morphologischen Mangel an Ein- und Ausgängen noch potenzieren, vom Schwinden der Innerlichkeit des Subjekts. Entzieht de Chirico mit dem Menschen auch dessen Gesicht, das im Kontext einer ›fazialen Gesellschaft‹ zum Identitätsausweis und Kontrollorgan wird, schreibt er seinen Gliederpuppen stattdessen seltsame Siglen ein, die sich wohl kaum auf das Emblem eines visionären Künstlertums190 verkürzen lassen. Denn die rekurrente Signatur dieser mysteriösen Tätowierung, – zwei Ellipsen, die sich auf der Stirn der Eierköpfe191 in einem Kreis überschneiden (vgl. Die zwei Schwestern, L’inquiétude de la vie, 1915)192 – »steht nicht bloß in direktem Zusammenhang mit den geometrischen Linien eines astronomischen Kalküls«193, das sich etlichen Mannequins auf einer Tafel präsentiert (z.B. Die Reise ohne Ende, 1914; Der Seher, 1915), sondern auch mit jenem Augenpunkt194, den die dort alternativ demonstrierten Übungen zum Erlernen der Zentralperspektive (Le double rêve du printemps, 1915) voraussetzen. Stilisiert sich in den Schleifen, die die Ornamentalik regelmäßiger Bogenlinien zunächst bildet, noch das gewöhnliche Augenpaar (Composizione con due teste de manichino und La Prophétie du savant, 1915), zieht es sich bereits zu einem Zyklopenauge zusammen, in dessen Mitte sich ein Stern be-

psychodynamischen Bedeutung: Julia Kristeva: Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris 1980. 189. Vgl. das Gedicht »Mir zur Feier« (1899) des jungen Rilke: »Bleibt fern. Die Dinge singen hör ich so gern. Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm. Ihr bringt mir alle die Dinge um.« 190. So Baldacci: Giorgio de Chirico, S. 286: »Sur son front s’entrecroisent les emblèmes caractéristiques de l’epopteia, […] la capacité visionnaire surhumaine du poète«. 191. So J. Cocteau, Essai de critique indirecte, S. 48: »une tête dure, ovale comme un galet sucé par la mer (sic)«. 192. Wie auch die Vorstudien (vgl. noch Mannequin féminin, 1918, in: P. Baldacci: Giorgio de Chirico) zu den Gemälden zeigen, bilden die Ellipsen die sich um den ganzen Kopf der Puppen ziehen, eine liegende Acht, das Symbol der Unendlichkeit, nur dann ab, wenn sie auf eine Schleife reduziert sind (Le poète et le philosophe, 1915). 193. So P. Baldacci: Giorgio de Chirico, S. 272: »le tableau noir, avec des traits géométriques de calculs d’astronomie«. 194. Auf diesen ›Augenpunkt‹ sind die hermetischen Hieroglyphen auf den Köpfen der ›manichini‹ meines Wissens in der de Chirico-Forschung noch nicht bezogen worden. 350

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findet (Das Duo, 1914/15). So fungiert die Kunstfigur der Puppe195, die bei de Chirico kein mechanischer Automat, naturalistisches Wachsmodell oder künstlicher Homunculus mehr ist, als eine Art Golem, auf dessen Stirn sich die verdrängte Spaltung von Auge und Blick im Menetekel eines unübersehbaren ›blinden Flecks‹ abzeichnet. Wenn Statuen Sonnenbrillen tragen (Bildnis Guillaume Apollinaire, 1914), die auch Blindenbrillen sein könnten, ist dies kein Scherz, sondern ein Verweis auf den Nexus von Sehen und Begehren. Die Ziernähte, die Carlo Carràs ›metaphysischen Musen‹ (1917) gänzlich fehlen, treten in eine pointierte Beziehung zum augenlosen Blick, aber erstellen auch einen versteckten Bezug zum Blickpunkt als ›punctus subjectivus‹. Dabei werden die beiden sich überkreuzenden Ellipsen, die de Chirico in Die Zerstreutheit des Denkers (1915) sozusagen mit dem Zeigestock demonstriert, weniger zum Sinnbild eines aufgeschlagenen Auges denn zur Parabel des in der Sprache gespaltenen Subjekts. Verglich Lacan die fiktive Position des Allsehenden mit der Blindheit literarischer Automaten196, so projiziert de Chirico den Sehstrahl, der aus Menschen Gliederpuppen macht, als kreisrundes Stigma auf den Kopf seiner vollkommenen Kugelmenschen, um damit das Register des verlorenen Objekts197 aufzurufen. In de Chiricos Bildern eröffnet sich die Auge/ Blick-Spaltung jedoch nur, um sich sofort wieder zu schließen, d.h. sich im Realen reiner Körperlichkeit abzulagern. Dabei bricht die Differenz zwischen Symbolischen und Imaginärem im Sinnbild eines Kreises zusammen, der sich aus einer epistemologisch aufschlussreichen Interferenz ergibt. Die kaum verschlüsselte198 Inszenierung des Zusammenfalls einer elliptischen De-zentrierung des Blickpunkts mit deren zirkulärer Re-zentrierung macht den Subjektpunkt nicht allein zum Mittelpunkt einer idealen Überschneidung all jener Linien, die ihn narzisstisch konstituieren, sondern auch zur leeren Teilmenge zweier Planetenbahnen, die ihren astronomischen Fortschritt199 in der astrologischen Wiederkehr des Selben zurücknehmen. Angesichts dieser zweideutigen Doppelbewegung dürfte man die ›manichini‹ wohl auch auf

195. Vgl. Pia Müller-Tamm/Katharina Sykora (Hg.), Puppen, Körper, Automaten – Phantasmen der Moderne, Köln 1999. 196. J. Lacan: Maurice Merleau-Ponty, S. 183. 197. Jacques Lacan: »Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse«, in: Autres Ecrits, S. 188: »la pulsion scopique, pour nous servir de paradigme, reçut-elle un développement particulier. Y démontrer l’antinomie de la vision et du regard avait le but d’y atteindre le registre […] de l’objet perdu«. 198. Vgl. P. Baldacci: Giorgio de Chirico, S. 288f, 310f., zum Gebrauch kabbalistischer und freimaurerischer Symbole. 199. Die elliptische Figur der Planetenbewegung (Kepler) hat im Gegensatz zum Kreis zwei Zentren. 351

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die Privatmythologie Giorgio de Chiricos beziehen. Fiel der junge Maler durch den frühen Tod seines Vaters in symbiotische Dyaden mit der Mutter bzw. dem Bruder zurück, wäre er ihnen vielleicht dank seiner imaginären Ersatzväter (Böcklin, Nietzsche, Weininger, Apollinaire) entronnen. Obwohl die Welt den Paranoiker aus toten Dingen anstarrt, erstarren sie zum mütterlichen Statuenkörper, auf den er, um den Preis seiner Erblindung, verzichten muss. Wenn das Bild Lust indes nicht ausschließt, sondern auf bildnerischem Wege sublimatorisch ermöglicht, neutralisieren die »in ihm deponierten Waffen« (Lacan) das sexuelle Verlangen.200 Im Großen Metaphysiker (1917) sitzt ein nach oben wie ein Fingerzeig ins Jenseits verjüngter Eierkopf auf einem Denkmal aus lauter Geometer-Werkzeug, und im Bild vom Zurückkehrenden (1917/1918) zeigt sich eine naturalistische Vaterfigur wieder von vorne, während das Haupt des vor ihr nieder knienden metallenen Gliedermannes nur noch aus ein paar Holzstücken besteht. Kündigt sich in der Rückkehr des verlorenen Sohnes (1919) die ödipale Dimension von Sehen und Begehren an, so deswegen, weil das Tuch, das allein das Haupt des Sohnes schamvoll verhüllt201, metonymisch auf den Nexus von Schuld und Blindheit verweist. Erst auf dem Selbstbildnis im Pariser Atelier (1934) verlebendigt sich auch die Statue wieder, wenn nämlich ein abgebrochener Apollo-Kopf, vor der Staffelei auf dem Boden liegend, dem Maler von unten her mit wachen Augen bei der Arbeit zusieht, um die Szene der Dekonstruktion repräsentationalistisch zu schließen.202 Weder Chiffren der Verdinglichung noch technoide Doubles, sind de Chiricos ›manichini‹ die Inkarnation des Beobachters, der nicht zu sehen vermag, und des Unbeobachtbaren zugleich. Begreift Lacan ›das Ding‹ als jene von der Religion vermiedene und von der Wissenschaft verworfene Leere, um die sich die künstlerische Aktivität organisiert, indem sie es zwischen dem Realen und dem Signifikanten situiert203, dient de Chiricos ›manichino‹ dazu, den Augentrug zu denunzieren, um die Blickzähmung in einer Blickfalle still zu stellen. Schaut sich der Betrachter als Blinder aus dem Bild entgegen, sah Cocteau hier ein Spiel mit dem Tod am Werk, das eines des Todes gewesen sein wird: »La mort est la seule pièce qui circule librement et dans n’importe quel sens sur l’échiquier de Chirico.«204 Wenn

200. Vgl. für die Pop-Art etwa Catherine Millet: »aux innocents les mains pleines, Andy Warhol«, in: artpress, 296 (2003), S. 19-26. 201. Und das von René Magritte, einem Adepten de Chiricos, motivisch aufgegriffen werden wird. 202. Im vierten Selbstporträt von 1924 zeigt der Maler auf ein Bild, das nur halb im Bild ist. Wäre dies de Chiricos Version der Meniñas? 203. François Regnault: Conférences d’esthétique lacanienne, Paris 1997, S. 11f. 204. J. Cocteau: Essai de critique indirecte, S. 55. 352

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sich in der statischen Malerei demnach allein der Tod bewegen würde, so deshalb, weil die pittura metafisica als visuelles Objekt, das den Verlust zeigt, auf einen Verlust des Verlusts abzielt. Ob sich damit bereits die performative Struktur des Fantasmas als »cross-cap«, d.h. seine den Sinnen entgehende Selbstdurchquerung205, ins Bild gesetzt hätte, sei dahingestellt. Wer bliebe denn immer und überall im Bilde?

205. Nathalie Charreau: Lacan et les mathématiques, Paris 1997, S. 99: »le point d’auto-traversée qui caractérise le cross-cap échappe à notre intuition dans l’espace à trois dimensions et échappe, tout comme le point à l’infini, à l’univers signifiant: c’est un point réel qui ne peut que s’algébriser: Lacan l’écrit a«. 353

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) vak 354.p 109638233962

›CAMP AS POP CAN‹

›Camp as Pop Can‹. Andy Warhol als Gesamtkunstwerk »It’s exciting not to do it.« (Andy Warhol) Andy Warhol, Pop-Papst der 60er Jahre und eine Verkörperung des amerikanischen Traums, hat sein homosexuelles Begehren weder bestätigt noch geleugnet. Doch in dieser Undeutlichkeit liegt vielleicht die Signatur einer narzisstischen Ikone, deren vielzitierte sexuell-geschlechtliche Neutralität auf der Dekonstruktion von Identität durch Serialisierung beruht. Überließ es der einst effeminierte Werbegrafiker den Massenmedien, seinen Mythos zu kreieren, so rückte das zwischen Kunst und Kommerz angesiedelte Phänomen Warhol gerade wegen seiner Botschaft von Leere und Reproduzierbarkeit ins mediale Zentrum der Macht1, an den metaphysischen Ort der ›Gesellschaft des Spektakels‹ (Guy Debord). Warhol als Gesamtkunstwerk, das, wie seine quasi-öffentliche Daseins- und Arbeitsform im Kontext der New Yorker Factory demonstrieren sollte, Kunst, Werk und Leben multimedial verkoppelte, inspirierte jedoch auch das subkulturelle Imaginäre, nicht nur, weil seine Pop-Produktion auf schwule Ikonen (z.B. Mona Lisa, Marilyn Monroe) oder Akteure, etwa Transvestiten und Transsexuelle, zurückgriff, sondern auch deswegen, weil sein plakativer Lebensstil ein Modell stiftete für Dandytum im Zeitalter der Massenkommunikation.2 Dabei wird der Exzess des Camp-Gestus in Warhols asketischem Werk minimalistisch gebremst. Ironische Negativität weicht einer naiv-zynischen Haltung totaler Indifferenz, deren heitere Leichtigkeit und Sinn fürs Paradoxe humoristisch Resignation überspielt. »People’s fantasies are what give them problems. If you didn’t have the fantasies, you wouldn’t have problems, because you’d just take whatever was there. But then you wouldn’t have romance, because romance is finding your fantasy in people who don’t have it. A friend of mine always says, ’Women love me for the man I’m not’.« 3

1. Vgl. Klaus Theweleit: Buch der Könige, Bd. 2, Basel, Frankfurt/Main 1994. 2. Susan Sontag: »Notes on ›Camp‹«, in: Against Interpretation, New York 1978, 10. Aufl., S. 275-292, hier: S. 288. 3. Zitiert in: Mike Wrenn: Andy Warhol in his own words, London, New York, Syd355

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Obwohl Warhol, diese schillernde Persönlichkeit, also weder eindeutig zu einer schwulen Bilderwelt beitrug noch unumstritten selber zu ihr zählen durfte4, zehrt und zeugt sein Schaffen in den Augen vieler von jener homosexuellen Sensibilität, die ihm sein langjähriger Assistent Gerard Malanga zuschrieb.5 Warhol aber verwischt diese Spuren oder lenkt sentenziös bis ironisch von ihnen ab. Gerade deswegen hält ihn die postmoderne Poetin Kathy Acker für einen ›Camp-Unterhalter‹.6 Es soll hier um die Frage gehen, ob Warhols spezifische Perversion der Perversion nicht vielleicht darin bestanden haben könnte, die Camp-Attitüde humoristischer Verleugnung7 durch eine Geste der Verwerfung8, die pop-artige Nivellierung aller ästhetisch signifikanten Unterschiede, ihrer unweigerlichen Sentimentalität zu entledigen.9

ney 1991, S. 63. »Die Traumphantasien sind es, die Probleme verursachen. Ohne Träume hätte man keine Probleme, weil man das nehmen müsste, was da ist. Aber dann gäbe es auch keine Romanzen, weil man bei einer Romanze seine Träume in einem Menschen wiederfindet, Träume, die der Realität entbehren. Ein Freund von mir sagt immer: ›Die Frauen lieben in mir den Mann, der ich nicht bin‹« (Andy Warhol: Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück, München 1991, S. 59, übersetzt von A. R. wie alle folgenden Zitate aus dem Amerikanischen). 4. In den Anfängen der Schwulenbewegung verurteilten etwa »Gynarchisten« und »Effeministen« den »Rock-Travestismus und den Warholismus als Abfallprodukte der Mackerideologie«. So Guy Hocquenghem: »Ein schamloser Transversalismus«, in: Bernhard Dieckmann/François Pescatore (Hg.), Elemente einer homosexuellen Kritik, Berlin 1979, S. 157. 5. Gerard Malanga: »Andy was very much part of a homosexual sensibility«. Zitiert in: Victor Bockris: The Life and Death of Andy Warhol, New York u.a. 1989, S. 185. 6. »Pop is cult of the ready-made reprocessed for the uses of camp entertainment«. Zitiert in: Michael O’Pray: Andy Warhol. Film Factory, London 1989, S. 94. 7. So z.B. Christopher Isherwood: »You don’t camp about something you don’t take seriously. You’re not making fun of it; you’re making fun out of it. You’re expressing what’s basically serious to you in terms of fun and artifice and elegance«, in: Moe Meyer (Hg.), The Politics and Poetics of Camp, London, New York 1994, S. 5. Hatte nicht schon Freud Humor mit einem Triumph des Ichs und des Lustprinzips in Verbindung gebracht und seine Großartigkeit aus der Abwehr, der Verweigerung narzisstischer Kränkung, erklärt? Vgl. Sigmund Freud: »Der Humor«, in: Psychologische Schriften. Hg. von Alexander Mitscherlich u.a., Frankfurt/Main 1970, S. 275-283. 8. Beide Begriffe sind hier im psychoanalytischen Sinne gemeint, zumal Lacans Strukturmodell des Subjekts die Möglichkeit einer sog. Verwerfung einschließt, infolge derer bestimmte Sprachelemente unbewusst nie affirmiert wurden, also auch nicht negiert bzw. verleugnet werden können. 9. Obwohl Warhol die Tugend, aus der Not eine Tugend zu machen, virtuos beherrschte, sind seine Camp-Pointen merkwürdig abgestumpft, tautologisch sinnentleert wie bei Gertrude Stein oder becketthaft öde und repetitiv. Schon Sontag hielt die Pop356

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Fakes and Figments Warhol, der, wie man weiß, durch seine Siebdruck-Serien von Suppendosen, Dollarnoten, dem elektrischen Stuhl oder Marilyn Monroe weltberühmt wurde, war selber sicherlich sein größtes Kunstwerk. »He’s a genius as a self-publicist«, spottete Truman Capote10 über einen Superstar, der in seiner legendären Passivität die publizistischen Medien nicht allein an seinem Image arbeiten, sondern sie es erst erarbeiten ließ, damit er sich nach diesem Bilde (weiter)bilden konnte. Seitdem reißt die Serie alter und neuer Mythen nicht ab: »Candy Andy« als asexueller Engel, albinohafter Mutant und Greisenkind oder »Drella«, diese namentliche Kreuzung aus ›Dracula‹ und ›Cinderella‹, als verklemmte Tunte, versnobter Designer-Typ oder parasitärer Schwamm. Andy Warhol, Pop-Ikone einer ebenso absolut wie unentscheidbar anmutenden Künstlichkeit, betrachtete sich hingegen gern als »Massenkommunikator«11, dessen Hauptgeschäft allerdings die Selbstvermarktung12 war, hielt er es doch für die größte Kunst, viel Geld zu verdienen. Der vielzitierten Sinn- und Wertkrise westlicher Konsumgesellschaften in den 60er Jahren trat er provozierend mit der uneingeschränkten Akzeptanz ihrer hedonistisch verklärten Faktizität entgegen. So das lakonische Statement: »Everything is beautiful. Even being unattractive is beautiful. […] I delight in the world.«13 Wurde der Business-Artist, der neben Bildern noch Filme, Fotos, Zeitschriften und Bücher machte, eine Musik-Gruppe lancierte und schließlich ins Fernsehen einstieg, etwa deswegen so populär, weil er ein ideales Identifikationsangebot für große Teile der jungen Generation darstellte? Paradoxerweise bot sich der zynische Trendsetter doch lediglich als leerer Projektionsschirm an: »Wie eine Kuh ist er immer das, was man braucht. Für Minimalisten ist er minimal. Für Werbekünstler ist er Werbung. Für Dekorateure ist er Dekoration. […] Für Kunstkritiker ist er Kritik«.14

Attitüde insgesamt für ›ernster‹ und ›trockener‹, aber auch ›flacher‹ und ›indifferenter‹ als jene des Camp (S. Sontag: Notes, S. 292). 10. »Er ist ein Genie in Eigenwerbung«, zitiert in: David Bourdon: Warhol, New York 1989, S. 32. 11. Victor Bockris: Andy Warhol, Düsseldorf 1989, S. 147. 12. »Warhol war der erste amerikanische Künstler, für dessen Karriere Publicity von wesentlicher Bedeutung war«, so der Kritiker Robert Hughes, zitiert in: ebd., S. 117. 13. »Alles ist schön, sogar unattraktiv zu sein. […] Ich finde die Welt toll«, zitiert in: M. Wrenn: Andy Warhol, S. 81, 83. 14. V. Bockris: Andy Warhol, S. 367. 357

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Andy Warhol

Dass dabei nichts dahinter zu sein schien, rief zur Nachahmung geradezu auf. Doch Warhol kam seinen Kopien zuvor. So ließ er sich auf einer akademischen Vorlesungs-Tournee durch den zu seinem Doppelgänger stilisierten Schauspieler Alan Midgette vertreten, was einen Skandal bewirkte. Aber um ein Haar wäre er selber seinem idealisierten Spiegelbild im anderen Geschlecht verfallen, dem »poor little rich girl« Edie Sedgwick, einer reichen jungen Dame der guten Gesellschaft, die wie eine androgyne Mischung aus Anorektikerin und Strichjunge wirkte. Als eine gewisse Valerie Solanas, radikallesbische Verfasserin eines Manifests zur Vernichtung der Männer, im Jahre 1968 ein Attentat auf den »faschistoiden Plastikmann«15 ausübte, weil er zu großen Einfluss auf sie gehabt habe, überlebte »Saint Andrew« diese Attacke nicht nur, sondern deklarierte seinen narbenübersäten Torso zum »DiorKleid« und verzieh seiner Feindin mit Gleichmut, zumal der Preis seiner Werke infolge des Mordanschlags gestiegen war. Warhol hat die zahlreichen, von ihm witzig kommentierten biographischen Anekdoten nicht selber aufgeschrieben. Der manische »Recording Angel«, dieser »Sony of Modern Art«16, der am liebsten die ganze Welt auf Band ge-

15. Paul Krassner im Vorwort zu Valerie Solanas: Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer, SCUM, Darmstadt 1969, S. 13, 20. 16. Vor der elektronischen Stufe (Medium/Virtualität/Zeichen) des klassischen Zeichen-Triplets stünde also die Pop-Art-Stufe (Objekt/Apparat/Bild). Vgl. Peter Weibel: »Transformationen der Techno-Ästhetik«, in: Florian Rötzer (Hg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt/Main 1991, S. 205-249. 358

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nommen hätte, ließ auch den eigenen Diskurs aufzeichnen, etwa als Telephon-Plausch mit der Sekretärin fürs postume Tagebuch.17 Wundert es da noch, dass ausgerechnet Warhol, diese bizarre und picklige, Sonnenbrillen und silberblonde Perücken tragende Ausführung des All American Boy, auch zum Faszinosum der Klatschpresse wurde? Der legendäre Aufstieg eines armen tschechischen Immigrantenkindes zum Multimillionär und Kunst-Star, der die Beste aller Welten reproduzierte18, statt sie zu erklären oder gar zu verändern, gipfelt in einer personalisierten Pop-Ikone, die zumindest in den USA den Bekanntheitsgrad von Mickey Mouse erlangte. So oszilliert das Warholsche Paradox vermenschlichter Entmenschlichung zwischen Realität und Phantasma, Banalität und Geheimnis; es signalisiert die Vorgängigkeit des Simulacrums und kündet auf verschiedenste Weise vom Verschwinden des abendländischen Subjekts. Aber auch des Objekts? Dem Phänomen Warhol eignet vielleicht eine spezifische Melancholie. Sie liegt wohl auch in der Differenz zwischen Normalität und Anomalie, die diese »Sphinx« zum Schweigen bra(u)chte. »I never understood why when you died, you didn’t just vanish, and everything could just keep going the way it was only you just wouldn’t be there. I always thought I’d like my tombstone to be blank. No epitaph, and no name. Well actually, I’d like it to say ›Figment‹.«19

Serie(n)-Bild(er) »Während die anderen Pop-Künstler […] ihren seriösen Abstellplatz in der Kunstgeschichte einnehmen, ist selbst der tote Warhol in allen Me-

17. Vgl. den aus abgetippten Tonbandgesprächen bestehenden Roman von Andy Warhol (a. a novel, New York 1968), rühmte dieser sich doch, als erster einen Roman veröffentlicht zu haben, von dem der Autor kein einziges Wort gelesen habe. 18. Der Aufsteiger Warhol verkörperte ja die Kennedy-Ära mit ihren neuen Werten von Jugendlichkeit, Flexibilität und Pluralismus, bevor das damit propagierte Modell einer Leistungs- und Konsumgesellschaft im Zuge der 68er-Revolte in Verruf geriet. Hedonistischen Gegenkulturen (Hippies der Westküste usw.) setzte der ›Warholismus‹ allerdings eine ästhetizistische, dekadente Attitüde und einen Kult der Künstlichkeit entgegen, der vom ›campigen‹ Spiel mit Konventionen bis zum Zitat neokonservativer Anpassung (vgl. die Yuppie-Ideologie der 80er Jahre) reichte. 19. »Ich habe nie verstanden, daß man nicht einfach verschwindet, wenn man stirbt, und alles so weitergeht wie vorher, nur daß man selber eben nicht mehr da ist. Ich wollte immer schon, daß mein Grabstein leer bleibt. Keine Inschrift, kein Name. Ja, vielleicht hätte ich gerne ›reine Erfindung‹ draufstehen«, zitiert in: M. Wrenn: Andy Warhol, S. 93. 359

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dien gegenwärtig. Zugleich aber wird immer noch gefragt, ob er ein wirklicher Künstler war«.20 Der Streit um die Frage der eher ästhetischen oder eher konzeptuellen Bedeutung des Pop Art-Phänomens erweist sich als Sturm im Wasserglas, weil man Pop Art eben nicht mehr an jenen ästhetischen Maßstäben messen kann, mit denen sie auf konzeptueller Ebene bricht.21 Die demokratische Nivellierung der Gegenstände und Verfahren, die man mit dem Etikett populär verbindet, steht in seltsamer Spannung zur gesteigerten Selbstreflexivität dieser Kunstform.22 Ihre Objektivität, ihr vermeintlicher Neo-Realismus, erweist sich als Inszenierung einer Repräsentation der Repräsentation, die die kontextuellen wie immateriellen Aspekte der pikturalen Semiose mit einzubeziehen erlaubt.23 Die theoretische Bedeutung einer angeblich naiven Provokation liegt darin, dass sie genauere Fragen nach dem Verhältnis von Zeichen und Referenz, Kopie und Original oder Bild und Abbild ermöglicht.24 Dem politischen Verdacht des im Sinne einer Kritik der Warenästhetik affirmativen, systemkonformen Charakters selbstreferentieller Abbildung wird philosophisch widerspro-

20. »Jagd auf Andy«, in: Szene Hamburg 7 (1993), S. 81. Von der Kunstkritik wird Warhol immer mehr als einer der großen Neuerer des 20. Jahrhunderts betrachtet. Ihn bloß zum »Parade-Popkünstler« zu machen, »verkleinert die Tragweite seiner Lösungen«. So Benjamin H. D. Buchloh: »Andy Warhols eindimensionale Kunst: 1956-1966«, in: Kynaston McShine: Andy Warhol. Retrospektive. München 1989, S. 37-59, hier: S. 53. 21. Im Gegensatz zum kunsthistorischen Vorläufer, dem Abstrakten Expressionismus, der seine anti-figurale Lösung in quasi-regelloser Action Painting suchte und damit vermeintlicher Ausdruck existentialistischer Befindlichkeiten wurde, ist Pop Art, die urbane Kunst der 60er Jahre, figurativ und realistisch. Entnimmt sie ihre Gegenstände dem Medien- und Konsumalltag westlicher Industriegesellschaften, unterwirft sie sie auf Verfahrensebene bereits der elektronischen Maxime »Scanning statt Mimesis«, Aufzeichnung statt Repräsentation (Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München 1995, 2. Aufl. S. 152), was sekundäre Stilisierung nicht unbedingt ausschließt. So kommt es zur gleichsam wörtlichen Präsentation eines Motivs, das zum konzeptuellen Aufhänger wird (vgl. Simon Wilson: Pop Art, London 1974, S. 5). 22. Was bei Warhol zunächst »aussah wie schamlos abgekupferte Werbegrafik«, versetzte die Kunstwelt dann doch in Aufregung (B. H. D. Buchloh: Andy Warhols, S. 39). Warhol »feierte die Zerstörung des Autors, der Aura und des Artistischen« (S. 53), um in dem Moment, wo alles verloren schien, ästhetische Erfahrung, auch mit malerischen Mitteln, neu zu definieren. 23. Pop-Bilder wollen weder etwas erzählen noch etwas ausdrücken, sondern die Abbildung selbst thematisieren und in Frage stellen. 24. Für Michael Lüthy (Andy Warhol. Thirty Are Better Than One, Frankfurt/Main, Leipzig 1995) hat Warhols Konzept-Art die »Differenz von Original und Reproduktion forciert« (S. 25) und Reproduktion sogar zum eigentlichen Bildthema erhoben (S. 27). 360

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chen25: Es geht um Reproduktion als Dekonstruktion. Warhols »komplexe Inszenierung eines Markenartikels«26, z.B. der berühmten Brillo Box27, verunsichert nicht nur die dualistische Orientierung zwischen hoher Kunst und Trivialität, Gebrauchs- und Tauschwerten28, sondern beschäftigt sich auch mit den semantischen Auswirkungen technischer Reproduzierbarkeit, d.h. mit der seriegraphischen Problematisierung von Identität und Differenz.29 Aus wertkonservativer Sicht bleibt Warhol freilich ein Doppelspion, da er nicht nur zuzugeben wagte, dass er aus der Gebrauchsgrafik kam, sondern diese obendrein zur Kunst machte: In dem Moment, wo die Werbegrafik tendenziell durch Photographie ersetzt wird, stellt ein Designer ihre gemalte Version ins Museum.30 Nicht die Singularität oder Patina des Gegenstands zählt, sondern seine Identität mit dem Typus in einer aufs Cloning vorgreifenden Logik des Selben. In krassem Gegensatz zur Selektion des Readymade

25. Für Lawrence Alloway (American Pop Art, New York 1974) ist Pop Art weder wertkonservativ noch satirisch, sondern ein Spiel mit traditionellen Dualismen wie Identität/Differenz, Typus/Okkurrenz usw. Dies schlägt sich auch in konstruktivistischen Kommentaren nieder (etwa Warhols Spruch »Ein Bild ist ein Ding, man nennt es Bild«), die die an Duchamp erinnernde Provokation der Kunstinstitution durch die Auflösung traditioneller Autor- und Werkvorstellungen begleiteten. Warhol ließ bekanntlich viele seiner Bilder von Mitarbeitern herstellen und weigerte sich, sie zu signieren, zynischerweise aber nur bis zu dem Moment, wo sie deswegen an Marktwert zu verlieren drohten. 26. So Tilman Osterwold: Pop Art, Köln 1989, S. 26. M. Lüthy (Andy Warhol) analysiert Warhols Werk unter den Aspekten von Entkontextualisierung, Serialität und Kombinatorik. 27. Der ›Brillo-Coup‹ von 1964 bestand darin, bemalte Holzkisten zu verfertigen, die in Größe, Form und Design genau jenen Supermarkt-Kartons glichen, die sie kopierten. 28. Für Arthur C. Danto ist Warhol ein philosophisches Genie der Kunstgeschichte, weil er »demonstrierte, daß sich Kunst nicht anhand von visuellen Kriterien definieren lässt« (»Warhol«, in: Reiz und Reflexion, München 1994, S. 334-342, hier: S. 336). 29. Katharina Sykora kennzeichnet die ästhetische Serie relational, nämlich als »unhierarchische[s] Nebeneinander gleichwertiger Darstellungen, die erst aufgrund der Beziehung zueinander« eine »Gesamtaussage tragen«, welche in Warhols Werk allerdings nicht mehr vorhanden ist. Vgl.: Das Phänomen des Seriellen in der Kunst. Aspekte einer künstlerischen Methode von Monet bis zur amerikanischen Pop Art, Würzburg 1983, S. 6f. 30. Auf die durch Warhols Ausbildung am Carnegie Institute of Technology (Pittsburgh) bedingten Einflüsse der Bauhaus-Tradition, die ihm die Grenzüberschreitung zwischen Kunst und Technik, Kultur- und Konsumwelt sicher erleichterte, kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. M. Lüthy: Andy Warhol, S. 71ff.; zur stiltypologischen Einordnung und Werkentwicklung vor allem Robert Rosenblum: »Warhol als kunsthistorisches Phänomen«, in: K. McShine (Hg.), Andy Warhol, S. 23-27. 361

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bei Marcel Duchamp31, der mit seinen »objets trouvés«, d.h. (vor-)gefundenen Objekten, auf die Austauschbarkeit von Kunst- und Gebrauchsfunktionen verwies, geht es beim Multiple32 um eine Vervielfältigung, die auf die konstitutive Unentscheidbarkeit33 zwischen Ästhetischem und Nicht-Ästhetischem abhebt.34 Als der Strukturalismus sich anschickte, das Subjekt zu dekonstruieren, hatte Pop Art es ironischerweise bereits durch das Objekt ersetzt. Die Verbannung der Metapher35, die dabei zum Zuge kam, verweist aber womöglich dennoch auf die Logik einer melancholischen Position, die durch die manischeuphorische Replikation eines Bild-Fetisches in Schach gehalten wird.36 Wenn also der radikale Realismus der Pop Art die Grenzen der Darstellungsmöglichkeiten thematisiert, pocht Warhol zudem auf eine Wiederholung, die, wie es auch der Lacansche Triebbegriff beinhaltet37, prinzipiell nicht Reproduktion bedeutet, sondern die Insistenz einer Differenz, einer Spaltung. Warhol aber siedelt dieses Moment in der Materialität38, einem imaginären Realen, an. Hätte er dadurch nicht auch, ohne es zu beabsichtigen, einem postmodernen Immanenzdenken Vor-

31. »Duchamps Gegenstände waren oft rätselhaft und wurden um ihrer ästhetischen Fremdheit willen gewählt. Warhol suchte die seinen wegen ihrer absoluten Geläufigkeit und semiotischen Potenz aus« (A. C. Danto: Warhol, S. 337). 32. Schon Duchamp notierte, wichtig sei nicht, welchen Gegenstand Warhol auswähle, sondern, dass er ihn x-mal wiederhole. 33. Warhol berücksichtigt ja bereits, dass die (Massen-)Medien jedes Ereignis gemäß demselben Sichtbarkeits-Code normalisieren. So Luc Lang: »Trente Warhol valent mieux qu’un«, in: Artstudio 8 (1988), S. 38ff. 34. Ob Warhols ironisch-asketischer Zug eine traumatische Reaktion auf den Einbruch der Warenform in die Welt der Kunst bedeutet und seine ›Rituale der Transparenz‹ zur ›Aura der Simulation‹ beitrugen, sei dahingestellt. Vgl.: Jean Baudrillard: »De la marchandise absolue«, in: Artstudio 8 (1988), S. 6-12. 35. Lucy R. Lippard: Le Pop Art, Paris 1969. 36. Vgl. Julia Kristeva: Soleil noir. Dépression et mélancolie, Paris 1987, S. 55ff. 37. Vgl. Jacques Lacan: Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Hg. von Norbert Haas, Olten/Freiburg i.Br. 1980, 2. Aufl., S. 56. Lacan ersetzt den schwierigen Freud’schen Triebbegriff durch jenen der Wiederholung, ohne ihn als ›Todestrieb‹ dem ›Eros‹ entgegenzusetzen. 38. Sowohl des (Photo-)Motivs wie des (Siebdruck-)Verfahrens, das dieses eben nicht naturgetreu abbildet, sondern stets als durch den Herstellungsprozess gegangenes präsentiert. Mit seiner »Mischung von Handwerk und Technik« provoziert Warhol geradezu »Ungenauigkeiten und ›Fehler‹« (M. Lüthy: Andy Warhol, S. 72f.). Vgl. zum PhotoSiebdruck, dieser »nüchterne[n] und umwegfreie[n] Methode zur Aneignung eines Bildes«, vor allem Marco Livingstone: »Do it yourself. Anmerkungen zu Warhols Arbeitstechniken«, in: K. McShine: Andy Warhol, S. 59-74, hier: S. 65. 362

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schub geleistet?39 Gilles Deleuze, der seine diesbezügliche Philosophie der Affirmativität auf eine Figur der Wiederholung gründete, die als Differenzeffekt betrachtet werden muss, sah daher schon früh in Warhols Seriegraphie die Positivität einer Überschreitung, mittels derer die Malerei der Pop Art das Abbild, das Abbild des Abbilds usw. voranzutreiben vermochte, »bis hin zu jenem äußersten Punkt, an dem es sich verkehrt und zum Trugbild wird (so Warhols wunderbare ›serigenetische‹ Reihen, in denen alle Wiederholungen, […] der Gewohnheit, des Gedächtnisses und des Todes vereint sind)«.40 Da die Metaphysik der Repräsentation nicht zwischen der Ordnung der Ähnlichkeit und der Bewegung der Wiederholung unterscheidet, die insofern als »vollkommenste Ähnlichkeit oder äußerste Gleichheit« erscheint, muss sie sich auf die Identität des Begriffs berufen, um Differenz und Wiederholung zu erfassen. Wiewohl letztere unter der Kuratel eines identischen Begriffs lediglich negativ bestimmt werden kann, definiert sie sich aber »nicht nur im Verhältnis zur absoluten Identität eines Begriffs«, sondern repräsentiert schließlich selber diesen »identischen Begriff«.41 Insofern tritt Warhols Geniestreich, die Differenzen bewirkende innerbildliche Serialisierung42 eines wie ein Photo aussehenden, aber nicht photorealistischen Bildes43, aus der traditionellen und psychologisierbaren Ökonomie der Repräsentation, d.h. der »transzendentalen Illusion« des identitätslogischen Binärdenkens, heraus. Doch Deleuzes Differenzkonzept der Wiederholung bewegt sich noch im Zeichen einer Ontologie44, die vom psychoanalyti-

39. B. H. D. Buchloh spricht von der »Verwandlung […] einer ästhetischen Praxis der transzendentalen Verneinung in eine der tautologischen Affirmation« (Andy Warhols, S. 41f.). 40. Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München 1989, 6. Aufl., S. 365. 41. G. Deleuze: Differenz, S. 337 und S. 356. 42. Hat das 20. Jahrhundert den Gegenstand »hauptsächlich unter dem Aspekt des Seriellen wahrgenommen«, so griff die Malerei der 50er Jahre auf die »serielle Rasterkomposition« der 20er Jahre zurück (B. H. D. Buchloh: Andy Warhols, S. 41, Anm. 20). M. Lüthi (Andy Warhol, S. 89) hält das »mehrfache Wiederholen desselben Motivs in einem einzigen Bild« für die eigentliche Innovation Warhols, dessen »Technik der Bildherstellung […] nicht nur die reproduktive Entstehung der Werke mit deren Serialität« verbindet, sondern »zugleich die seriellen Einzelbilder mit den innerbildlich seriellen Bildern« verknüpft. 43. Warhols »Meta-Bilder[n]«, d.h. den Bildern über die Bilder eines Bildes, liegt ja meist eine Presse- oder Reklame-Photographie zugrunde, die das Banale mit dem Außergewöhnlichen verbindet (M. Lüthy: Andy Warhol, S. 109). Aber das Endprodukt bewirkt nicht die magisch-mysteriösen Effekte der photorealistischen Malerei. 44. ›Differenz‹ im Anschluß an Heidegger als ›Seiendes‹, ›Sein‹ als ›Wiederholung‹ zu fassen, führt nämlich bei Deleuze zu einer nietzscheanisch verbrämten Metaphysik des 363

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schen Differenzdenken in Frage gestellt wird. Könnte es sich bei Warhols Seriegraphien im Rahmen der Lacanschen Topologie deswegen nicht eher um den symptomatischen Versuch einer imaginären (Re)Präsentation des Symbolischen handeln, mittels derer die realen Zufallseffekte der Reproduktionstechnik wie eine Allegorie auf den sprachlichen Bedeutungsprozess erscheinen, zumal die handwerkliche Mechanisierung zu Kontingenzeffekten führt, die imaginär wirksam werden, ohne (zu-)gleich sinnträchtig zu sein? Der provokativen Grenzverwischung zwischen Ware und Kunst folgt also die (Kon-)Figuration einer nicht-identischen Wiederholung, die gleichsam Momente poststrukturalistischen Denkens ver-sinn-bild-licht. Bereits John Cage hat das entscheidende Paradox formuliert, dass Warhol »mit allen Mitteln der Wiederholung« »darum gekämpft« habe, »dass es keine Wiederholung gibt«.45 Roland Barthes betont, seriegraphische Verfahren dienten nicht nur der Abschaffung des Kunstbegriffs, sondern auch einer anderen Subjektkonzeption. Serialisierung, die ein Objekt in seine Ikone sperre, entpersönliche, ohne anonym zu machen.46 Durch diese paradoxe Stereotypisierung produziere Warhol radikale Bilder, die »bedeuten, dass sie nichts bedeuten«.47 Wenn Warhol die Pop Art minimalistisch reduziert, indem seine mechanisierende Technik dem Motiv alles Poetische nimmt und die Bilder hermetisch werden, weil sie der Syntax wie Semantik ermangeln, lässt sich das Thema seiner Serien kaum noch von ihrer Form unterscheiden: Qualitative Selektion und quantitative Variation konvergieren.48 Die Seriegraphik eines »Andymat« fungiert daher weniger als Seismograph des Zeitgeists denn als verfahrensimmanente Möglichkeit einer imaginären Mimesis der symbolischen Ordnung, die auch die gelebte Ikonographie betrifft,

Werdens, die im Stoß gegen Hegel den ›Widerspruch‹ durch die ›Differenz‹ und die ›Negativität‹ durch die ›Differenz an sich selbst‹ ersetzt. Vgl. G. Deleuze: Differenz, S. 233, 251ff. 45. Zitiert in: Ronald M. Schernikau: »Was macht ein revolutionärer Künstler ohne Revolution?« in: konkret literatur 15 (1990/1991), S. 20-26, hier: S. 22. 46. »[…] le monde futur risque d’être un monde d’identités […], mais non de personnes«, so Roland Barthes, d.h. »die zukünftige Welt riskiert, eine Welt der Identitäten zu werden, aber ohne Personen« (übersetzt von A. R.). R. Barthes: »Cette vieille chose, l’art ...«, in: L’obvie et l’obtus, Paris 1982, S. 181-188, hier: S. 184. 47. Barthes meint, dass Pop-Objekte, die weder das Ding noch sein Symbol oder gar Sinn seien, deswegen die Stelle des Signifikanten als solchem, also des Phallus im Sinne Lacans, einnehmen. 48. Vgl. Umberto Ecos Definition der Wiederholung als ambivalenter semiotischer Struktur in: »Die Innovation im Seriellen«, in: Über Spiegel und andere Phänomene, Frankfurt/Main 1988, S. 155-180. 364

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als Neutralisierung von Tiefe, Gedächtnis und Innerlichkeit nämlich.49 Der signifikante Prozess erscheint als Figur einer Bild-Wiederholung, deren a-signifikante Bewegung nicht durch die Differentialität der Zeichen, sondern allein durch die Widerständigkeit der Aufzeichnung entsteht, im Rauschen des Realen sozusagen. Die zwischen »realistische[r] Wörtlichkeit« und »formale[r] Abstraktheit« oszillierenden Serienbilder realisieren ein »Paradox von Bewegung und Stillstand«, um im selben Zuge das Moment der Präsenz wie der Absenz »zu steigern«; zugleich bewirken sie einen »flachen und bodenlosen Raum« »ohne Dimension«, dessen »Unabwägbarkeit« der Zeitstruktur entspreche.50 Damit übersetzt Warhol den symbolischen Bedeutungsprozess in seine imaginären Effekte, Sinn-Stasen als Bild-Ekstasen. Obwohl Selektion und Multiplikation (statt: Kombination) auf einer iterativen Infrastruktur von Sinn und Bild beharren, bleibt bei der Automatisierung (statt: Berechnung) dennoch ein Rest übrig, dessen Un-Ersetzbarkeit in Warhols platonischer Bildfixierung aufscheint. Einerseits also die Wiederholung, die es nicht gibt, als Serie des Immer-Gleichen51, andererseits das Eine (Bild-) absoluter (Selbst-)Identität: »Apparently most people love watching the same basic thing, as long as the details are different. But I’m just the opposite. […] I don’t want it to be essentially the same – I want it to be exactly the same. Because the more you look at the same exact thing, the more the meaning goes away. And the better and emptier you feel«. 52

49. L. Lang (Trente Warhol, S. 40) fasst diese imaginäre Tendenz tautologisch zusammen: »Warhol fait de l’image avec de l’image«, d.h. »Warhol macht Bilder mit/aus Bildern« (übersetzt von A. R.). 50. M. Lüthy: Andy Warhol, S. 111f. B. H. D. Buchloh zufolge »isolierte, vereinzelte und zentralisierte« Warhol »die Darstellung in seinen Bildern«, wodurch er der Ästhetik der Collage (mit ihren assoziativen Potentialen) ebenso entronn wie dem bloßen neo-dadaistischen Gestus (Andy Warhols, S. 47). 51. »I always thought that I should have done the same painting […] over and over and over« (Warhol, in: M. Wrenn: Andy Warhol, S. 82). Ad Reinhardt, der dies getan hat, nämlich zwischen 1960 und 1966 nur immer Wiederholungen des ›Letzten Gemäldes‹, eines schwarzen Quadrats, malte, reagierte damit aber auf die vielbeschworene Krise der Malerei, um zu zeigen, dass deren Wesen »sich entzieht« bzw. »nur als unendliche Negativität« oder »absolute Leere« fassbar ist. Vgl. Johannes Meinhardt: »Ende der Malerei und Malerei nach dem Ende der Malerei«, in: Kunstforum 131 (1995), S. 202246, hier: S. 226. 52. »Offenbar wollen die meisten Leute immer das gleiche Ding sehen, wenn nur die Details etwas anders sind. Ich aber möchte, im Gegenteil, nicht, dass es im Wesentlichen gleich ist, sondern dass es ganz genau dasselbe ist. Denn je mehr man auf etwas exakt Identisches schaut, desto eher verschwindet sein Sinn und desto besser und leerer fühlt man sich selber« (zitiert in: M. Wrenn: Andy Warhol, S. 16). 365

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Warhols emblematisches Ideal des Dings an sich entspringt einem Substitutionsprinzip, das, unter Verzicht auf die metaphorische Funktion, das Selbe, etwa eine Ikone des Begehrens, verschiebt, in der sich das Andere bereits verdichtet.53 Vielleicht wäre sie im Sinne des von Lacan so genannten Objekt a zu betrachten, nämlich eines unterstellten, aber immer ermangelnden Objekts, um das sich das Verlangen in jedem Anspruch an den Anderen dreht. Denn Partner des Subjekts ist nicht der Andere, sondern das, was sich dem Anderen als Grund des Begehrens unterschiebt, z.B. als Objekt des Blicks oder der Stimme. Wenn zwischen dem Subjekt und dem ›Objekt a‹ jene Symmetrie herrscht, die es zwischen Subjekten nicht geben kann, ist das ›Objekt a‹ in asexueller Form präsent, als Substitut des Anderen in Form des Wunschobjekts.54 Nach Bernard Marcadé hat sich Warhol, dieser »Moralist des Bildes«, der die Differenz mit Indifferenz, also mit Gleichgültigkeit, behandelt, durch seinen sublimatorischen Serien-Bilder-Kult denn auch vor der Gefahr der Liebe, dieser Metapher des Subjekts (Lacan), geschützt. Sein endloser Mimetismus laufe letztlich darauf hinaus, mit dem Bild zu verschmelzen, in ihm verschwinden zu wollen, und befinde sich daher tragischerweise gänzlich »du côté de l’Imaginaire«.55

Bejahung der Leere Der vermeintlichen Affirmativität der Ab-bildung zum Trotz führt Warhol Negativität, von der es bekanntlich kein Bild geben kann56, hinterrücks wieder ein, nämlich sprechenderweise: »The world fascinates me. It’s so nice, whatever it is. […] Just look at the surface […], there I am. There’s nothing behind it.«57 Das Wunschbild ist Nicht(s)

53. Zumal Warhol abstrakte Verfahren »mit einer in ihrer Krassheit provozierenden Gegenständlichkeit« kombiniert (M. Lüthy, Andy Warhol, S. 112. Die frühe Seriegraphik oszilliert denn auch zwischen banaler Ornamentalik (etwa von Briefmarkenbögen oder Tapetenmustern) und dem Wiederholungszwang der Faszination im Sinne traumatischer Repetition (bei den Desaster-Bildern) oder verliebter Stase (im Falle der Star-Porträts). 54. Vgl. Jacques Lacan: Le Séminaire XX. Encore. 1972-1973. Texte établi par Jacques-Alain Miller, Paris 1975, S. 114f. 55. Bernard Marcadé: »Andy Warhol, moraliste de l’image«, in: Artstudio 8 (1988), S. 131-143, hier: S. 139. 56. Vgl. Michel Foucault: Ceci n’est pas une pipe, Paris 1973. 57. »Die Welt fasziniert mich. Sie ist so schön, egal, worum es sich handelt. […] Schau bloß auf die Oberfläche […], dort bin ich, nur dort. Es ist nichts dahinter« (zitiert in: M. Wrenn: Andy Warhol, S. 72, 68). 366

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und nichts einfacher als seine Verwirklichung: »The thing is to think of nothing […] Look, nothing is exciting, nothing is sexy, nothing is not embarrassing.«58 Die Zweideutigkeit einer Rede, die die Aussage (›Das Nichts ist sexy‹) mit der Äußerung (›nichts ist sexy‹) annulliert, entstammt einer imaginären Dialektik, in der alles nichts und Nichts Alles ist. Der dadurch verdrängte Mangel verdinglicht sich kalauerhaft im ›Wesen‹ eines Objekts, für das ein Emblem des American Way of Life, die Supermarkt-Suppen-Dose, herbeizitiert wird. »I wanted to paint nothing. I was looking for something that was the essence of nothing, and the soup can was it«.59 Warhols Pop-Variante einer Ästhetisierung der Existenz zeigt sich im Zeichen einer Affirmativität ohne Rekurs auf die abendländische Tradition und bar jedwedes nietzscheanischen Gestus. Der »Andymat« braucht keine Kultur gekannt zu haben, um sie ignorieren zu können. Mit seiner mechanischen Aufzeichnungstechnik (Siebdruck-Bilder, frühe Filme, Interviews, Polaroid-Porträts) wird der »Recorder in Menschengestalt«, der am liebsten sein ganzes Leben auf Videoband verdoppelt hätte, zum »Servomechanismus verschiedener Aufnahmeapparaturen«.60 Gleichzeitig nimmt er Klaus Theweleit zufolge den Platz des Königs, die gottähnliche Stelle eines »leere[n] Zentrum[s]« ein, das Sinn mit Sinn zerstört61 und die eigene Biographie durch die Vervielfältigung ihrer Versionen, zur unglaublichen Geschichte macht. Ein notorischer Voyeur exhibiert sich in einer Parodie aufs Bekenntnis: »Nachdem ich meinen ersten Fernseher hatte, waren mir feste Freundschaften nicht mehr so lebenswichtig. Man hatte mich oft sehr gekränkt, so sehr, wie man nur gekränkt werden kann, wenn einem Freundschaften lebenswichtig sind. […] Ich begann also eine Affäre mit meinem Fernsehapparat, die bis heute fortdauert. Mit dem Erwerb meines Tonbandgeräts ging das, was ich an Gefühlsleben gehabt haben mag, endgültig zu Ende, und ich war froh darüber.«62 Im Verlangen, Maschine zu sein (»I wanna be a machine!«), das dem

58. »Es geht darum, [an] nichts zu denken […] Schau, nichts ist aufregend, nichts ist sexy, nichts ist nicht peinlich« (zitiert in: ebd., S. 81). 59. »Ich wollte nichts malen und suchte nach etwas, das das Wesen von Nichts war, und die Suppendose war es« (zitiert in: ebd., S. 21). 60. K. Theweleit: Buch der Könige, S. 426. 61. »Warhols öffentliche Selbstausstellung […] ›schützt‹ nicht nur (›die Person‹), sie produziert jede Menge Mehrwert an Code […]. Codes bringen am besten Personen zum Verschwinden und mit der ›Person‹ ihr Geschlecht […] And(rog)y(na) Warhol(a).« Ebd., S. 457. 62. A. Warhol: Die Philosophie, S. 34f. 367

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wahren Dasein (oder Waren-Design) korrespondiert, identifiziert sich das Subjekt mit einem imaginären Symbolischen. Ein Apparat ist mit jenen Apparaten verlobt oder verheiratet, die ihm Realität als Reales aufzeichnen, d.h. phantasmenlos.63 Obwohl die ironische Selbstinszenierung als affektfreier Automat einem Einsatz am Ort des Wissens entspricht, geht die Verleugnung des Verlusts mit der Verwerfung64 der Differenz einher: Das Subjekt bescheidet sich mit dem Objekt, da es sich von ihm in nichts mehr unterscheidet. Die originäre Kränkung65 (v)erklingt im Echo einer Seinszumutung, das die Realität zum Schauerroman irrealisiert: »Geboren werden ist gerade so wie entführt werden. Und als Sklave verkauft werden. In jeder Minute wird gearbeitet. Die Maschinerie läuft. Sogar dann, wenn du schläfst.«66 In diesem Sklavendasein, einem Tod auf Raten, geht das Begehren ironischerweise in einer puritanischen Arbeitsmoral auf und unter: »Allein der Umstand, dass man lebt, bedeutet schon genug harte Arbeit, aber an zweiter Stelle kommt gleich der Sex. […] Für mich ist Sex einfach zu viel Arbeit. […] Ich bin, wie gesagt, ein ›Energieverlierer‹.«67 Doch hinter selbstgerechter Rationalisierung flackert Ent/Täuschung: »Wenn man aufhört, etwas zu wollen, bekommt man es.«68 Warhol schließt die Wunde, indem er mit (s)einem Innenleben abschließt. Auch in seiner Pop-Kunst, die kaum biographische Bezüge enthält, vermeidet er Narrativierung und Sexualisierung. Wie aus einer emotionslosen und wertfreien Kinderperspektive verfremdet Warhol die Welt und lässt seine Rede zwischen Affirmation und Parodie oszillieren: »Style isn’t really important«.69

63. »Machines have less problems« (zitiert in: M. Wrenn: Andy Warhol, S. 12). 64. Lacans Strukturmodell des Subjekts geht von der Möglichkeit der traumatisch bedingten ›Verwerfung‹, d.h. Expulsion, eines zentralen Signifikanten (z.B. des Vaters, aber auch der Geschlechterdifferenz usw.) aus, welcher nicht negiert werden kann, weil er nie affirmiert wurde. In der Psychose wird die symbolische Lücke, die sich daraus ergibt, im Wahnsystem imaginär ›gestopft‹, d.h. mit der Inflation jener (Sprach-)Bilder, deren (serielle) Wiederholung die ›Neorealität‹ stiftet. 65. »[…] ich habe schon immer gewußt, daß ich nie heiraten würde, weil ich keine Kinder will, ich will nicht, daß sie einmal dieselben Probleme haben wie ich. Ich glaube nicht, daß jemand das verdient.« (in: A. Warhol, Die Philosophie, S. 48). 66. Ebd., S. 98. 67. Ebd., S. 101. 68. Ebd, S. 31. 69. »Stil ist eigentlich nicht so wichtig« (zitiert in: M. Wrenn: Andy Warhol, S. 35). 368

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›All Woman, All Witch‹: Camp der Damenopfer Während Warhols seriegraphische Vervielfältigung die Authentizität von Sinn und Subjekt infragestellt, bemüht sich die biographische Vereinnahmung seines Schaffens, die er selber aphoristisch unterlief70, um eine Rezentrierung auf den proletarischen Familienroman eines Immigranten-Sohnes, dessen intensive Mutter-Symbiose allerdings zum stereotypen Topos schwuler Lebensläufe zählt. Victor Bockris leitet Warhols Kreativität und sein kommunikatives Verhalten aus dieser primären Beziehung ab: »Reared on his mother’s constant feeding of her own historical legend […], he early set about creating his own, and with the same punch line. […] the two of them were made for each other.«71 Die Mutter, auf die das kränkelnde ›Nesthäkchen‹ fixiert bleibt, zumal der Vater früh stirbt, nimmt in der Sicht des Biographen einige der Warholschen Ideen bereits vorweg.72 Sie richtet das ärmliche Häuschen minimalistisch ein und fabriziert Blumengebinde aus Konservendosen, die sie in der Nachbarschaft verkauft. Vor allem aber hält sie das Comic Strip lesende »Baby Andy«, das monatelang ans Bett gefesselt bleibt, zum Malen und Zeichnen an. Im Rahmen einer sich objektiv gebenden, polyphonen Biographie, in der 240 Informanten direkt zu Wort kommen und Warhol selber nur ein Interviewter unter Interviewten ist, greift der Autorenkommentar auf vulgärpsychoanalytische Diskurse zurück, die der Warhol-Legende Sinn verleihen und sie wie einen roten Faden durchziehen: »If Freud is right in saying that subconsciously we remain the same throughout our life, then Andy would always remain the two-sided eight-year-old who emerged from the cocoon of his illness.«73 Nach dem Klischee einer präödipalen Pathogenese der Perversionen wird das Muttersöhnchen zum sympathischen Außenseiter stilisiert, nach dem Motto ›homosexuell, aber asketisch‹, ›weltfremd, aber fleißig‹, ›menschenscheu, aber immer freundlich‹, usw. Insofern stellt die Saga eines seltsamen Junggesellen, der bei seiner Mutter lebt und

70. Vgl. etwa Andy Warhol und Pat Hackett: POPism. The Warhol ’60s, San Diego, New York, London 1980. 71. »Mit der Legende seiner Mutter aufgewachsen, begann er schon früh, seine eigene zu schaffen, mit demselben Elan. […] Die beiden waren wie füreinander geschaffen« (V. Bockris: The Life, S. 9 und S. 76). 72. Auch ist sie bereits eine Doppelgängerin avant la lettre, »as humorous, mischievous and shrewd – like him« (ebd., S. 67). 73. »Wenn Freud recht damit hat, daß wir unbewußt unser ganzes Leben lang dieselben bleiben, dann würde Andy immer jener janusköpfige Achtjährige bleiben, als der er aus dem Kokon seiner Krankheit hervorging« (ebd., S. 22). 369

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ÜBER DIE GRENZE

jeden Sonntag zur Messe geht, auch eine optimistische Variante des im 19. Jahrhundert eher tragisch literarisierten Hagestolz-Themas dar.74 Bockris’ Mother blame-Version75 verleiht dem schüchternen ›Schwuli‹, der sich durch unglückliche Liebe emotional verkapselt76, bezeichnenderweise eine geradezu transsexuelle Kindheitsgeschichte. Hatte der Schuljunge bereits dem Kinderstar Shirley Temple begeisterte FanBriefe geschrieben, wird sich auch der erwachsene ›Dandy Andy‹ mit seinen weiblichen ›Super-Stars‹ identifizieren: »Andy’s adoration […] set up a pattern for his later relationship with women: Part of him wanted to be her.«77 Den Höhepunkt dieser Faszination stellt die Begegnung mit Edie Sedgwick, jenem jungen, schönen, reichen Mädchen aus einer alten amerikanischen Familie dar, das Warhol mit der Bemerkung »It’s okay, she looks like a boy!«78 auf Anhieb in die Dreharbeiten zu Vinyl einbezieht.79 Die magersüchtige Twiggy, die später den Drogentod erleiden wird80, stilisiert sich, fast ebenso schnell, zu Warhols weiblichem Double81, dessen autistische Ticks den seinen ähneln.82 Die beiden, die

74. Von Franz Grillparzer über Adalbert Stifter und Henry James bis hin zu Henri de Montherlant und zu trivialen Unterhaltungsromanen. Vgl. z.B. V. Hoffmann: Wir vom vierten Geschlecht, Barmen 1901. 75. Warhols Mutter wird noch kurz vor ihrem Tode delirieren, dass sie ganz viele ›Andies‹ haben wolle oder sich selber als ihren Sohn vorstellen. Nach dem Attentat stilisiert sie sich zur Gottesmutter: »He’s a genius. He has everything […] in himself. […] It’s just like looking at life« (zitiert in: M. Wrenn, S. 34). 76. Andys Minderwertigkeitskomplex habe die Beziehungsunfähigkeit noch verstärkt, so dass er zum ›Blümchen-rühr-mich-nicht-an‹ (»Kiss me with your eyes!«) geworden sei, dessen Voyeurismus als Ersatzhandlung erscheint. Vgl. V. Bockris: Life, S. 59f. 77. »Andys Anbetung […] schuf das Muster für seine späteren Beziehungen zu Frauen: ›Ein Teil seiner selbst wollte (wie) sie sein‹.« (Ebd., S. 16). 78. »Es ist o.k., sie sieht wie ein Junge aus!« (zitiert in: D. Bourdon: Warhol, S. 201). 79. Sie wird in einer Reihe früher Filme (Kitchen, Beauty Nr. 2 usw.) eingesetzt und 1965 zum »Girl of the Year« ernannt. 80. »She was a representative of something so selfish and superficial that the only thing she was able to destroy […] was herself«, so Nat Finkelstein über die ›PopTragödie‹ (Andy Warhol. The Factory Years 1964-1967, New York 1989, s.p.). 81. »Edie had her hair cut very, very short and dyed silver to match mine« (A. Warhol/P. Hackett: POPism, S. 112). 82. In Warhols ›Philosophie‹ gibt es unter dem Namen »Taxi« eine zärtliche Beschreibung ihrer Schrullen: Sie »hortete BHs«, aber »badete nie« (A. Warhol: Die Philosophie, S. 40f.). Die »notorische Lügnerin« und »einmalige Schauspielerin« repräsentiert das Phantasma des Weiblichen wie eine verspätete amerikanische Lulu: »Taxi war alles, was man von ihr wollte« (S. 37). 370

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›CAMP AS POP CAN‹

sich nicht gesucht, aber gefunden haben, werden auf Ausstellungen, Parties und in den Medien als sensationelles Pop-Paar gefeiert, umgeben von einer asexuellen, narzisstischen Aura zwillingshafter Geschwisterlichkeit. Warhol, das Kunstprodukt, ist von Edies authentischer Künstlichkeit angetan: »To meet a person […] whose real was so unreal was a thrilling thing.«83 Er sieht in diesem Projektionsschirm einen Spiegel: »Sie war wie ein schönes unbeschriebenes Blatt.«84 Aber was geschieht, wenn zwei Spiegel sich in die Augen sehen?85 Tritt man dann nicht geradezu beispielhaft in einen endlosen imaginären Teufelskreis? Ähnlich wie Warhols Biograph interpretiert auch Edies Biographin, Jean Stein, die fatale Wahlverwandtschaft als Melodram einer großen Liebe nach identifikatorischem Schema86, welche von beiden Seiten aus narzisstischen Gründen nicht (ein)gestanden werden kann. »Andy saw her as his mirror image: Like him, she craved love but acted as if she didn’t care about anybody.«87 Edie Sedgwick

83. »Einer Person zu begegnen, deren Wirklichkeit so unwirklich war, war eine aufregende Sache« (A. Warhol/P. Hackett: POPism, S. 101). 84. Zitiert in: V. Bockris: Andy Warhol, S. 222. 85. »If a mirror looks into a mirror […] what is there to see?« So Warhol, zitiert in: D. Bourdon: Warhol, S. 13. 86. V. Bockris: The Life, S. 167: »In most women Andy looked for mothers. In Edie he found himself.« Capote bestätigt, daß Andy, hätte er Frau werden können, Edie hätte sein wollen. Vgl. Jean Stein: Edie. Une biographie américaine, Paris 1987, S. 190. 87. »Andy sah sie als sein Spiegelbild: Wie er hungerte sie nach Liebe, aber tat so, als ob sie sich aus niemand etwas machte« (V. Bockris: The Life, S. 165). 371

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ÜBER DIE GRENZE

Wenn Andy Edie angeblich alles gab, aber ihr im Grunde nie half, signalisiert dieser allenthalben kolportierte Widerspruch nicht nur Rivalität.88 Warhol lässt sein Alter Ego just in dem Moment fallen, wo es in der Bitte um Anerkennung (s)einen weiblichen Mangel enthüllt: Das »Girl of the Year 1965« möchte plötzlich nicht nur für seine Filmrollen bezahlt und darin ernst genommen werden, sondern meint dies auch noch ernst. Mit solch unästhetischem Rückfall in die gewöhnliche Subjektivität kommt es zum irreparablen Bruch: Edie »war zu dem Opferlamm geworden, als das sie sich selbst immer sah«.89 Obwohl die ›Tunte Andy‹ es in einem Anflug von Sentimentalität bedauert90, kann eine Schwulenliebhaberin als Hysterika kein lebendes Kunstwerk mehr sein. Aber ihre strukturelle Unmöglichkeit bestand vielleicht ohnehin darin, (narzisstische) Liebe am Ort des Begehrens zu symbolisieren: ›DIE Frau‹ als ›Boy-Idol‹. Warhols parasitärer Verschränkung von Kreation und Kommunikation ihre ›unmenschliche‹ Gleichgültigkeit vorzuwerfen, hieße allerdings, das Subjekt den Prozessen vorauszusetzen, die es doch überhaupt erst konstituieren.91 Insofern werden auch die Damenopfer zum Symptom einer mimetischen Fetischisierung. Der fusionelle Selbstmord des Starlets Andrea Feldmann, die sich als »Andrea Warhol«, Gott oder dessen Gattin, ausgab und hochsymbolisch an Warhols Geburtstag aus dem Hochhausfenster sprang, oder das ›Attentat aus Liebe‹92 werfen die Frage auf, ob sich die posthumane Passiv-

88. Edies Anähnelung an Andy, so René Ricard (zitiert in: J. Stein: Edie, S. 189), sei ihr zu gut gelungen, sie habe ihn dabei einfach überholt: »C’était toujours en mieux!« M.a.W., was sie tat, übertraf ihn noch. 89. V. Bockris: Andy Warhol, S. 244. Edie wird übrigens auch immer als die narzisstisch Schwächere dargestellt, die sich Andy gern mehr genähert hätte, aber es nicht schaffte. Dies entspricht dem Klischee weiblicher Liebessucht. Warhol aber bleibt hart und lässt sich auch von der Göttin nicht einmal anfassen. 90. Als Edie durch ihren Vorwurf, dass man sie zum Narren halte, die Tiefenebene subjektiver Wahrheit einführt und Warhols ästhetisches Gesamtkonzept dadurch bedroht, reagiert er aggressiv, auch wenn er sich hinterher im nostalgischen Liebesgeständnis selbst untreu wird: »[Edie] fascinated me more than anybody I had ever known. And the fascination I experienced was probably very close to a certain kind of love« (zitiert in: V. Bockris: The Life, S. 185). 91. So stellt Warhol seine Distanz als Selbstschutz dar: »I still care about people […], but it would be so much easier not to care […] I don’t want to get involved in other people’s lives […] I don’t want to get too close« (zitiert in: ebd., S. 185f.). 92. So Gretchen Bergs projektive Deutung der Solanas-Affäre: »Valerie shot Andy out of love, and I understood her perfectly because I had felt the same thing. It was an intense reaction. You had a great emotion about Andy and […] you couldn’t get close to him. He wasn’t going to give you what you wanted. So I went away. She shot him« (zi372

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form des Subjekts nicht vielleicht als unerträglich erweisen könnte. Sicher wusste Warhol – aktiv – zu frustrieren. Aber seine quasi-transzendentale Position innerhalb der Factory-Konstellation scheint dabei zur Bedingungsmöglichkeit eines intra- wie intersubjektiven Selbst-Theaters zu werden, in dem die Alter/Ego-Spiegelung von Liebe und Rivalität (Hass/Liebe) auf ein spek(tak)uläres Drittes angewiesen bleibt, das sich ihr in dem Maße entzieht, wie es sie reflektiert. Wenn Truman Capote Warhol mit Carson McCullers’ Romanfigur »Singer« vergleicht, der gerade aufgrund seiner Taubstummheit zum Katalysator selbstreflexiver Bekenntnisse wird, spielt er damit auf den paradoxen Status eines leeren Zentrums an, das nur als signifikante Leerstelle bewirkt, dass sich die narzisstische Gruppendynamik nach dem sinnvollen Muster des imaginären Duals organisiert. Die Satelliten eines unnahbaren93 Fixsterns reproduzieren untereinander das Liebes- oder Konkurrenzverhältnis, das sie zu ihm zu haben glauben94, – der Megastar hält sich heraus.95 Wenn Warhol sich also zum imaginären Phallus aufrichtet, so im Zeichen des Nichts, aber eines ›weißen Nichts‹96 sozusagen, das jegliche Negativität positiviert.

Andy ohne Ende: Melancholische Anti-Melancholie-Strategien Was heißt es, wenn jemand zur Maxime erhebt »Jeder hat Probleme, worauf es jedoch ankommt, ist, aus deinem Problem kein Problem zu machen«97 Geht es, sieht man einmal vom Bonmot ab, um eine verdrängende Verleugnung, etwa der Trauer? Könnte Warhols völlige Identifizierung mit dem »picture processing«98 nicht einen melancholischen Zug erhalten, für den es im ›Gesamtkunstwerk Warhol‹ auch anderswo Spuren gibt? Warhols sporadische Klage, dass er stets »dann allein« war, wenn ihm »am allerwenigsten« danach »zumute war«, wird

tiert in: M. Wrenn: Andy Warhol, S. 45). Solanas selbst hatte nur beanstandet: »Interviewing Warhol was like interviewing a chair« (S. 43). 93. So Ronald Tavel: »the icy classicist, unapproachable, air tight, very negative« (V. Bockris: The Life, S. 60). 94. »If […] Andy liked you, he became your instant fan, and this […] would give you a feeling of self-esteem« (Gerard Malanga, zitiert in: ebd., S. 124). 95. »I think, we’re a vacuum here at the Factory […]. I like being a vacuum – it leaves me alone to work« (zitiert in: M. Wrenn: Andy Warhol, S. 36). 96. Der ›Albino‹ trägt platinblonde oder weißgraue Haare, lässt die Factory silbern auskleiden, in der Farbe des Geldes, und will »plastic, white on white« (V. Bockris: The Life, S. 35). 97. Zitiert in: M. Wrenn: Andy Warhol, S. 77. 98. N. Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis, S. 167. 373

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souverän überwunden: »Ich hatte also beschlossen, Einzelgänger zu sein.«99 »Von Liebe« zu »träumen«, heißt es mit ironischem Ernst, sei ohnehin »viel besser als Liebe in Wirklichkeit«.100 Die biographische Fiktion ›Warhol‹ gibt stellenweise sogar eine quasi-psychoanalytische Begründung für das Fehlgehen des Begehrens, über das (ihr) Wissen hinwegtröstet: »Ich glaube, dass eine winzige Kleinigkeit bei Leuten bestimmte Reaktionen auslösen kann, und du weißt nicht, was in der Vergangenheit einmal schuld war, dass sie jetzt jemanden so ganz und gar oder eben gar nicht mögen und ihnen entweder alles oder gar nichts an ihm gefällt.«101 ›Fake(-)Warhol‹, der die Strukturbestimmtheit des Phantasmas in dessen Kontingenz erahnt, scheint darauf schockiert mit einem ironischen Rückzug in Passivität zu reagieren102, hinter der sich im übrigen die Hyperaktivität eines ›workaholic‹ verbarg. Sein größter Wunsch aber bleibt, »einfach verschwinden zu können«.103 Könnte man in der Abwehr von Trauer und Melancholie nicht selbst ein melancholisches Moment entdecken? Liegt die Logik der ›Trauerarbeit‹ im Verständnis Freuds darin, eines Verlustes verlustig zu gehen, ist dieser Verlust in der Melancholie gar nicht mehr verfügbar. Was verloren ging, mutet eher vage an. Die narzisstische Identifikation mit dem immer schon verlorenen Objekt führt zu einer Entleerung des Ich: »Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst.«104 Doch im Rückgriff auf eine Subjekt/Objekt-Metaphorik, die metaphysische Reste des metapsychologischen Diskurses anzeigt, denkt Freud die Differenzqualität einer unbewussten Repräsentation nach imaginärem Muster. Wenn es so ist, dass Melancholie aus allen Situationen von Kränkung und Zurücksetzung hervorgeht, die eine affektive Ambivalenz in die Beziehung eintragen, dann erlaubt die Kategorie der Introjektion den Mechanismus symbolischer Einverleibung als eine Spaltung im Dienste des Selbst zu betrachten: Das verinnerlichte Objekt kann als ›Ich-Objekt‹ (oder ›Objekt-Ich‹) geliebt, sein äußeres Vorbild gehasst werden, wenn dieser Hass auch, wie im Falle unabschließbarer

99. A. Warhol: Die Philosophie, S. 30ff. 100. Ebd., S. 45. 101. Ebd., S. 75. 102. »Liebesaffären nehmen einen völlig in Anspruch, obwohl sie es eigentlich gar nicht wert sind«. Oder auch: »Frigide Leute kommen am besten zurecht« (ebd., S. 102). 103. Ebd., S. 116. 104. Sigmund Freud: »Trauer und Melancholie«, in: Psychologie des Unbewußten, hg. von Alexander Mitscherlich u.a., Frankfurt/Main 1975, S. 193-213, hier: S. 200. 374

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Trauerarbeit, die den Wunsch nicht zu verschieben vermag, auf die Ich-Instanz zurückfällt. Zur Melancholie prädestiniert erscheint folglich jener narzisstische Typus, der zur normalen Objektbeziehung unfähig ist und Liebe durch Identifizierung ersetzt. Bei Freud bezeichnet ›Objekt‹ indes einen symbolischen Ort und einen imaginären Inhalt zugleich: Das/Selbe verschwindet im verinnerlichten Anderen mit, – an seiner Stelle sozusagen. Es assimiliert das Objekt als Verlust: ein fading das die Ikone Warhol ebenso inszeniert wie überspielt. Julia Kristeva zufolge, die das metapsychologische Paradox semiologisch (auf-)löst, trauert der moderne Narziss denn auch gar nicht um ein Objekt, sondern um ein nicht-repräsentierbares, unbestimmtes Etwas, das in die sprachlose Vorzeit des Subjekts105 zurückreicht, – ein ›Prä-Objekt‹ sozusagen, das einen grundlegenden Verlust anzeigt und verleugnet zugleich.106 Hätte der seinerseits stets wie abwesend wirkende Pop-Artist es nicht mit seriegraphischer Insistenz im Bild-Fetisch zu (er)fassen versucht? Bleibt der einzige Ausweg aus der Melancholie eine kulturschaffende Sublimation, die zeichenhafte Ersetzung des archaischen Objekts, beruht diese Stellvertretung indes auf einem symbolischen Muttermord, der wieder melancholisch machen könnte, der Substitution des Körpers durch die Sprache nämlich. Wäre das Bild – als Medium des Phantasmas – deshalb nicht vielleicht eine anti-melancholische Kompromissbildung par excellence, weil es die Verdrängung des Dings durch das Zeichen verdrängte? Während Warhols anti-nihilistische Negation der Negativität, seine banale Maxime, immer das Beste aus jeder Situation zu machen, der Camp-Attitüde entspricht, Schweres auf elegante Weise leicht zu nehmen, widerstrebt sein Werk allerdings der Camp-Ästhetik scheiternder Ernsthaftigkeit107 schon deswegen, weil Pop-Kunst den komischen Unterschied zwischen Gelingen und Misslingen programmatisch verwirft. Wird im Camp nämlich die Dimension der Negativität, als Differenz zwischen Zeichen und Sache, beibehalten, bricht sie in der Pop Art zusammen. Warhol kommentiert diesen ›breakdown‹ mit campiger Ironie, aber zugunsten einer Apologie reiner Affirmativität. Ist Pop-Kunst bereits durch die selbstreferentielle Unbestimmbarkeit des Verhältnisses zwischen Signifikant und Signifikat (Bild/Abbild, Original/Kopie, usw.) charakterisiert, so nähme Warhols Seriegraphik, wenn auch auf figurativer Ebene, sogar einen dekonstruktiven Gestus vorweg, falls (es) sich überhaupt auf nicht-diskursive Weise dekonstruieren ließe.

105. Dabei gilt zu bedenken, dass die sprachlose Vorzeit immer schon in den Rahmen der Symbolischen Ordnung eingebunden ist und daher keine reine Körperlichkeit darstellt. 106. J. Kristeva: Soleil noir, S. 22ff. 107. Vgl. S. Sontag: Notes. 375

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Wenn nämlich Differentialität als Verfahren abgebildet wird, kehrt sie auf die Szene der Repräsentation zurück, etwa indem, wie bei Warhol, ein imaginäres Reales das Symbolische ersetzt. Mit dem Einsatz einer minimalen materiellen Differenz, die an die Stelle der Leerstelle, der Wunde im Symbolischen tritt, erscheint Warhols ›Perversion der Perversion‹ wie eine melancholische Anti-Melancholie-Strategie: Analogische Simulation der Signifikanzbewegung als ikonische Verschiebung des Gleichen und programmatische Verdoppelung der Realität als Versuch der Beherrschung des sich konstitutiv entziehenden Realen. »Isn’t life a series of images that change as they repeat themselves?«108 Da Sprache, als Vergegenwärtigung des Abwesenden, prinzipiell eine Negation des Verlusts ermöglicht, lebt die depressive Defensive, weil sie davon nicht profitieren, d.h. das Verlorene nicht negierend abtrauern kann, von der Verleugnung der Verneinung. Damit nähert sie sich strukturell dem Fetischismus, der die Wahrnehmung der Kastration bestreitet und nicht zufällig zur Auf/Lösung der Depression in Manie führt: Phantasma statt Negativismus, Aktion statt Leiden. In dem Maße, wie Kunst jene Differenz offen hält, die von Philosophie und Wissenschaft in der Logik des Selben verschlossen ist109, wird sie durch diesen Aufschub, der Trauerarbeit gestattet, zur Überlebenschance des nicht mehr trauern könnenden Subjekts.110 Wenn Warhol trotz seiner dreifachen Innovation von »serieller Wiederholung, zentraler Komposition und fotografischem Siebdruck« treu an der Malerei festhielt, wie an einem zum Fetisch nobilitierten ›verlorenen Objekt‹, so konnte er sich diesen idealisierenden Kompromiss111 vielleicht deswegen leisten, weil er die »Frage des Simulakrums, der Ähnlichkeit, dieser besonders gleitenden Gattung«, schon immer unter den Vorzeichen der Differenz gestellt hatte. Zum einen beharrt seine quasi-zirkuläre Mimesis ohne Origo darauf, »dass der Spielraum zwischen dem Figurativen und dem Diskursiven nicht ausgefüllt werden kann«112, das Bild also unsagbar, unübersetzbar bleibt, zum anderen erschüttert die Serialisierung Repräsentation als referentiellen Akt, als »äußere Referenz auf ein Modell«.113

108. »Ist das Leben nicht eine Serie von Bildern, die sich verändern, während sie sich wiederholen?« (Warhol, zitiert in: V. Bockris: The Life, S. 327). 109. Vgl. Sarah Kofman: Melancholie der Kunst, Wien 1986, S. 18ff. 110. J. Kristeva: Soleil noir, S. 55ff. 111. Nach B. H. D. Buchloh ein »Kompromissverhalten, auf dem er […] bestand« (Andy Warhols, S. 47). 112. S. Kofman: Melancholie, S. 19 und S. 23. 113. M. Foucault: Ceci, S. 40f.: »Während die Genauigkeit des Bildes auf ein Modell hinwies, auf einen souveränen, einzigen, äußeren ›Patron‹, zerstört die Serie der Gleichartigkeiten […] diese Monarchie, die zugleich ideal und real ist.« 376

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»Genauso wenig wie ein Bild einer Serie die Reproduktion eines Modells ist, kann es das ›Spiegelbild‹ des Künstlers sein; dieser kann nicht mehr als ›Vater‹ seines Werkes, als heroischer Rivale Gottes oder als Vater im Sinne einer theologischen und narzisstischen Auffassung betrachtet werden. […] jedes Objekt der Serie ist entweiht, ist nur mehr ein einfaches Spiel, das […] keinem Zweck, sondern dem Zufall und der Notwendigkeit allein gehorcht.«114 Warhol hat sich die Melancholie, von der sein Tschechow-Zitat »Life has passed me by as though I never lived«115 zeugen könnte, mit Pop Art und Starkult ausgetrieben. Im Factory-Alltag aber führt gerade die Vermeidung der Katastrophe(n) erst recht zur Katastrophe. Denn die totale Affirmativität, die auf einer fundamentaleren Nicht-Affirmation, der quasi-psychotischen Verwerfung des Symbolischen, beruht, lässt sich auf Dauer wohl kaum ertragen. Die auf den Tod gemiedene Negativität und Endlichkeit116, kehrt im Realen der Sucht und des (Selbst-)Mords wieder. Wenn es nach Deleuze »viel schwieriger« ist, »die Trauerarbeit zu vermeiden«, »als sie zu leisten«117, hätte Warhol sich wenigstens angestrengt, denn seine anti-depressive Lebensmethode wirkte angeblich immerhin bei ihm selbst: »Well anyway, I thought, that was very Pop – doing the easiest thing.«118 So what?

114. S. Kofman: Melancholie, S. 33f. 115. »Das Leben ist an mir vorübergegangen, als ob ich nie gelebt hätte« (zitiert in: V. Bockris: The Life, S. 78). 116. Trotz der langen künstlerischen Auseinandersetzung mit der Todesthematik (z.B. in den Serien: Suicide, Tuna Fish Desaster, Electric Chair usw.) verleugnete Warhol den Tod seiner Mutter, indem er so tat, als lebe sie noch. 117. Gilles Deleuze: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt/Main 1993, S. 123. 118. »Nun, ich meinte, es sei irgendwie sehr ›pop‹, einfach das Einfachste zu tun« (zitiert in: A. Warhol/P. Hackett: POPism, S. 198). 377

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TEXTNACHWEISE

Textnachweise Verlag und Autorin danken für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck. »Die Geometrie adligen Geschlechtertausches. Vormoderne Travestie im höfischen Raum des französischen Absolutismus am Beispiel des Abbé de Choisy«, in: Forum Homosexualität und Literatur 40 (2002), S. 9-34. »›La barbe ne fait pas l’homme‹. Liebe und Geschlechtertausch in George Sands ›Gabriel‹«, in: Gislinde Seybert/Gisela Schlientz (Hg.), George Sand – jenseits des Identischen / au-delà de l’identique, Bielefeld 2000 (Aisthesis), S. 269-289. »Zwittrige Engel. Androgynie und Hermaphroditismus in französischer Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts«, in: Dirk Naguschewski/ Sabine Schrader (Hg.), Sehen. Lesen. Begehren. Homosexualität in französischer Literatur und Kultur, Berlin 2001 (edition tranvía – Verlag Walter Frey), S. 49-67. »›Père-Version‹. Sexualität als Maske des Geschlechts in französischer Dekadenzliteratur«, in: Elfi Bettinger/Julika Funk (Hg.), Maskeraden. Geschlechterdifferenz in der literarischen Inszenierung, Berlin 1995 (Erich Schmidt Verlag), S. 254-273. »›Erkranken am Geschlecht‹. Zur Inszenierung des ›Mannweibs‹ als Knäbin in medizinischen und literarischen Diskursen der Zwanziger Jahre«, in: Tanja Nusser/Elisabeth Strowick (Hg.), Krankheit und Geschlecht. Diskursive Affären zwischen Literatur und Medizin, Würzburg 2002 (Königshausen und Neumann), S. 195-214. »Ballerina/Ballerino. Androgynie im Ballett«, in: QuerElles. Jahrbuch für Frauenforschung 1999, hg. von Ulla Bock und Dorothee Alfermann, Stuttgart/Weimar (Metzler Verlag), S. 95-118.

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ÜBER DIE GRENZE

»Nijinsky, der ›Gott des Tanzes‹ als ›Clown Gottes‹? Zur Geschichte eines homophilen Wieder(v)erkennens«, in: Dirck Linck/Wolfgang Popp/ Annette Runte (Hg.), Erinnern und Wiederentdecken. Tabuisierung und Enttabuisierung der männlichen und weiblichen Homosexualität in Wissenschaft und Kritik, Berlin 1999 (rosa Winkel Verlag), S. 319364. »Dinge sehen dich an. Die Melancholie des leeren Platzes in der metaphysischen Malerei«, in: Claudia Blümle/Anne von der Heiden (Hg.), Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, Zürich 2005 (diaphanes Verlag), S. 393-425. »›Camp as Pop Can‹. Andy Warhol als Gesamtkunstwerk«, in: Gerhard Härle/Wolfgang Popp/Annette Runte (Hg.), Ikonen des Begehrens. Bildsprachen der männlichen und weiblichen Homosexualität in der Literatur und Kunst, Stuttgart 1997 (Metzler Verlag), S. 291-321.

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2006-03-06 14-59-12 --- Projekt: T422.kumedi.runte.geschlechterpoetik / Dokument: FAX ID 0255109638232690|(S. 379-380) T01_14 textnachweise.p 109638234114

ABBILDUNGSNACHWEISE

Abbildungsnachweise S. 27 S. 44

S. 253

S. 259

S. 288

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S. 329

S. 347

S. 358

S. 371

»Louis XIV et Monsieur entfants«, Foto der Bibliothèque Nationale de France, Paris. Der Abbé de Choisy mit dem Botschafter von Ludwig XIV. vor dem König von Siam, Foto der Bibliothèque Nationale de France, Paris. Marie-Anne Camargo, zeitgenössischer Stich, abbgebildet in: Verna Lorenz, Prima Ballerina. Der zerbrechliche Traum auf Spitzen, Frankfurt/Main 1987. Eva Evdokimova, Foto von Mike Davis, abgebildet in: Verna Lorenz, Prima Ballerina. Der zerbrechliche Traum auf Spitzen, Frankfurt/Main 1987. Vaslav Nijinsky in »Le Spectre de la Rose« (1911), Foto von Roosen, abbgebildet in: Nijinsky, hg. von Martine Kahane, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung »Nijinsky«, Paris 2000. Vaslav Nijinskys letzter Sprung (1939), Foto, abbgebildet in: Nijinsky, hg. von Martine Kahane, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Paris 2000. De Chirico, »Freuden und Rätsel einer seltsamen Stunde« (1913), in: Die andere Moderne. De Chricio – Savinio, hg. Paolo Baldacci und Wieland Schmied, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Ostfildern-Ruit 2001. De Chirico, »Die Bedrückung des Denkers« (1914/1915), in: Die andere Moderne. De Chircio – Savinio, hg. Paolo Baldacci und Wieland Schmied, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Ostfildern-Ruit 2001. Andy Warhol, Anfang der 1960er Jahre, Foto von Stephen Shore, abgebildet in: Andy Warhol, hg. Andy Warhol, Kasper König, Pontus Hulten, Olle Granath, Malmö 1969, 2. Aufl. Edie Sedgwick, ca. 1965 in der Factory, abgebildet in: Andy Warhol, hg. Andy Warhol, Kasper König, Pontus Hulten, Olle Granath, Malmö 1969, 2. Aufl.

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2006-03-14 13-22-48 --- Projekt: T422.kumedi.runte.geschlechterpoetik / Dokument: FAX ID 0274110323671946|(S. 381

) T01_15 abbildungsverzeichnis.p 1103236719

Die Neuerscheinungen dieser Reihe Annett Zinsmeister (Hg.) welt[stadt]raum mediale inszenierungen Juni 2006, ca. 130 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 16,80 €, ISBN: 3-89942-419-0

Simone Dietz, Timo Skrandies (Hg.) Mediale Markierungen Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken Juni 2006, 270 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-482-4

Jens Schröter, Gregor Schwering, Urs Stäheli (Hg.) Media Marx Ein Handbuch Juni 2006, ca. 500 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-481-6

Helga Lutz, Jan-Friedrich Mißfelder, Tilo Renz (Hg.) Äpfel und Birnen Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften Juni 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-498-0

Ralf Adelmann, Jan-Otmar Hesse, Judith Keilbach, Markus Stauff, Matthias Thiele (Hg.) Ökonomien des Medialen Tausch, Wert und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften Juni 2006, ca. 300 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-499-9

Peter Widmer Metamorphosen des Signifikanten Zur Bedeutung des Körperbilds für die Realität des Subjekts Mai 2006, ca. 150 Seiten, kart., ca. 17,80 €, ISBN: 3-89942-467-0

Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts April 2006, ca. 220 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-420-4

Barbara Becker, Josef Wehner (Hg.) Kulturindustrie reviewed Ansätze zur kritischen Reflexion der Mediengesellschaft April 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-430-1

Michael Leicht Wie Katie Tingle sich weigerte, ordentlich zu posieren und Walker Evans darüber nicht grollte Eine kritische Bildbetrachtung sozialdokumentarischer Fotografie April 2006, ca. 180 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 22,80 €, ISBN: 3-89942-436-0

Petra Gropp Szenen der Schrift Medienästhetische Reflexionen in der literarischen Avantgarde nach 1945 April 2006, ca. 420 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN: 3-89942-404-2

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2006-03-06 14-59-12 --- Projekt: T422.kumedi.runte.geschlechterpoetik / Dokument: FAX ID 0255109638232690|(S. 382-384) anz.kumedi.03a-06.p 109638234146

Die Neuerscheinungen dieser Reihe Birgit Käufer Die Obsession der Puppe in der Fotografie Hans Bellmer, Pierre Molinier, Cindy Sherman April 2006, 230 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-501-4

Volker Pantenburg Film als Theorie Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard März 2006, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-440-9

Heide Volkening Am Rand der Autobiographie Ghostwriting – Signatur – Geschlecht

Peter Glotz, Stefan Bertschi, Chris Locke (Hg.) Daumenkultur Das Mobiltelefon in der Gesellschaft

April 2006, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-375-5

März 2006, 348 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-473-5

Sebastian Gießmann Netze und Netzwerke Archäologie einer Kulturtechnik, 1740-1840

Martin Heller, Lutz Liffers, Ulrike Osten Bremer Weltspiel Stadt und Kultur. Ein Modell

April 2006, 120 Seiten, kart., ca. 15,80 €, ISBN: 3-89942-438-7

März 2006, 248 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 3-89942-485-9

Achim Geisenhanslüke, Christian Steltz (Hg.) Unfinished Business Quentin Tarantinos »Kill Bill« und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften

Meike Becker-Adden Nahtstellen Strukturelle Analogien der »Kreisleriana« von E.T.A. Hoffmann und Robert Schumann

April 2006, ca. 240 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-437-9

März 2006, 288 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-472-7

Markus Fellner »psycho movie« Zur Konstruktion psychischer Störung im Spielfilm

Annette Runte Über die Grenze Zur Kulturpoetik der Geschlechter in Literatur und Kunst

April 2006, ca. 500 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-471-9

März 2006, 384 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-422-0

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

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Die Neuerscheinungen dieser Reihe Sibylle Peters, Martin Jörg Schäfer (Hg.) »Intellektuelle Anschauung« Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen März 2006, 362 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 3-89942-354-2

Jürgen Straub, Doris Weidemann, Carlos Kölbl, Barbara Zielke (eds.) Pursuit of Meaning Advances in Cultural and Cross-Cultural Psychology März 2006, 518 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-234-1

Andi Schoon Die Ordnung der Klänge Das Wechselspiel der Künste vom Bauhaus zum Black Mountain College März 2006, 216 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-450-6

Arne Höcker, Jeannie Moser, Philippe Weber (Hg.) Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften März 2006, 226 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-446-8

Ulf Schmidt Platons Schauspiel der Ideen Das »geistige Auge« im Medien-Streit zwischen Schrift und Theater

Bernard Robben Der Computer als Medium Eine transdisziplinäre Theorie Januar 2006, 316 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-429-8

Andreas Jahn-Sudmann Der Widerspenstigen Zähmung? Zur Politik der Repräsentation im gegenwärtigen US-amerikanischen Independent-Film Januar 2006, 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN: 3-89942-401-8

Tanja Jankowiak, Karl-Josef Pazzini, Claus-Dieter Rath (Hg.) Von Freud und Lacan aus: Literatur, Medien, Übersetzen Zur »Rücksicht auf Darstellbarkeit« in der Psychoanalyse Januar 2006, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-466-2

Christina Bartz, Jens Ruchatz (Hg.) Mit Telemann durch die deutsche Fernsehgeschichte Kommentare und Glossen des Fernsehkritikers Martin Morlock Januar 2006, 260 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-327-5

Februar 2006, 446 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-461-1

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