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German Pages 234 Year 2018
Johanna M. Gelberg Poetik und Politik der Grenze
Lettre
Meinen Kindern
Johanna M. Gelberg, geb. 1983, ist Literaturwissenschaftlerin in Bochum und forscht zur Literatur der deutsch-deutschen Teilung. Sie war Promovendin im ATTRACT-Projekt Ästhetische Figurationen des Politischen an der Université du Luxembourg und wirkte im grenzüberschreitenden Projekt IDENT 2 – Regionalisierungen als Identitätskonstruktionen in Grenzräumen mit.
Johanna M. Gelberg
Poetik und Politik der Grenze Die Literatur der deutsch-deutschen Teilung seit 1945
Die Arbeit wurde gefördert vom Fonds National de la Recherche Luxembourg (FNR). Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Ich möchte mich bei allen, die mich bei diesem Vorhaben unterstützt haben, herzlich bedanken: besonders bei Professor Dr. Manfred Schneider, Dr. Oliver Kohns, Professorin Dr. Jeanne Glesener, Associate Professor Dr. Till Dembeck, Dr. Peter Risthaus und Dr. Nicole Karczmarzyk.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4487-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4487-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Die deutsch-deutsche Literatur der Grenze | 7
Die deutsche Literatur zur Zeit der Zweistaatlichkeit | 10 Die deutsch-deutsche Literatur der Grenze | 17 Die Grenze – Von der Scheidelinie zur literarischen Kategorie | 23
Interdisziplinärer Überblick über verschiedene Grenztheorien | 23 Die Poetik der Grenze | 41 Der Bildungsroman der deutsch-deutschen Literatur der Grenze – Reiseerzählungen als Entwicklungsnarrative | 51
Deutsch-deutsche Grenzreisen | 51 Dieter Nolls Die Abenteuer des Werner Holt – Ein Kriegsheimkehrer auf Wanderschaft | 59 Zur Tradition des Bildungsromans | 68 Christa Wolfs geteilter Himmel | 75 Fritz Rudolf Fries’ Der Weg nach Oobliadooh – Die Westschleife als Improvisation | 86 Der Bildungsroman der deutsch-deutschen Literatur der Grenze | 101 Liebesgeschichten – Romeo und Julia an der Grenze | 105
Liebe am Grenzwall – Romeo und Julia auf dem Dorfe | 106 Jurij Brӗzan: Eine Liebesgeschichte – romantische Grenzüberwindung im sozialistischen Realismus | 115 Uwe Johnsons Blicke über die Mauer: Zwei Ansichten | 125 Arno Schmidts West-Ost-Beziehungen | 134 Liebesgeschichten der deutsch-deutschen Literatur der Grenze | 151 Verdoppelungen – Die Tradition des Doppelgängermotivs in der deutsch-deutschen Literatur der Grenze | 155
Geschwister als Doppelung | 156 Zur Tradition von Verdoppelungen | 170 Klaus Schlesinger: Die Spaltung des Erwin Racholl | 174 Austausch mit dem Alter Ego – Thorsten Beckers Die Bürgschaft | 190 Verdoppelungen in der deutsch-deutschen Literatur der Grenze | 204
Poetik und Politik der Grenze | 207 Literaturverzeichnis | 215
Siglenverzeichnis und zitierte Ausgaben | 215 Weitere Literatur | 217
Die deutsch-deutsche Literatur der Grenze Wie hoch ist die Mauer? und wie dick? wie lang? […] Sie ist 3 Meter hoch 50 Zentimeter dick 45 Kilometer lang. Aber was bedeuten diese Höhe Dicke und Länge? Selbst wenn sie noch tausendmal höher tausendmal dicker und tausendmal länger wäre wie könnte sie die Wolken, den Wind, den Regen und die Sonne aufhalten? […] Wie könnte sie die Gedanken von Hunderttausenden freier als der Wind, ihren Willen fester als das Land, ihre Wünsche dauerhafter als die Zeit verhindern?1
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Ai Quing, »Die Mauer«, in: Lü Yuan und Winfried Woesler (Hgg.), Chinesische Lyrik der Gegenwart, Stuttgart 1992, S. 18–21.
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Die deutsche Zweistaatlichkeit zwischen 1949 und 1990 ist eine monumentale historische Tatsache; markiert und stabilisiert wurde diese Tatsache durch die gewaltigen Grenzanlagen, deren massivsten Teil die Berliner Mauer darstellte. Der Mauer als Manifestation der Grenze gelang es aber nicht, die deutschdeutsche Literatur zu hemmen. Ganz im Gegenteil: Unter dem Eindruck der Grenze hat sich die deutsch-deutsche Literatur fortentwickelt – die Literatur wurde zum Grenzgebiet. In dieser Arbeit werden verschiedenen Entwicklungen in der Literatur zur Zeit der Zweistaatlichkeit nachverfolgt. Wie sieht eine spezifisch literarische Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Grenze aus? Wie schlägt sich die Existenz der deutsch-deutschen Grenze erzählerisch nieder? Es zeigt sich, dass die Grenze nicht nur ein historisches Faktum ist, sondern dass sie zu einer literarischen Größe wird, die das Erzählen von der Zweistaatlichkeit mitgestaltet. Dank der Grenze werden neue literarische Möglichkeiten aufgezeigt: Erzählkonventionen werden fortentwickelt und erzählerische Traditionen aktualisiert. Dieses formende Potenzial der Grenze begründet die These von einer Poetik der Grenze. Die Existenz der Grenze führt unmittelbar zu einer literarischen Auseinandersetzung mit ihr, die über eine bloße Beschreibung hinausgeht. Die Grenze stellt ihr poetisches Potenzial unter Beweis, sie steuert das Erzählen mit und nimmt an der literarischen Auseinandersetzung mit der Zweistaatlichkeit teil. Nach einer kurzen Einleitung zur deutsch-deutschen Literatur und deren wissenschaftlicher Karriere wird in dieser Arbeit die Grenze als komplexes kulturelles Phänomen vorgestellt. Verschiedene Erscheinungs- und Darstellungsformen sowie unterschiedliche begleitende Dynamiken sind dabei relevant und werden mit der deutsch-deutschen Grenze kontextualisiert. Die literaturwissenschaftliche Anschlussfähigkeit dieser Bestimmung der Grenze wird daraufhin überprüft. Unter der Voraussetzung eines poetischen Potenzials der Grenze, lassen sich die mehrdimensionalen Wirkungen der Grenze in der Literatur aufspüren. Im anschließenden Hauptteil werden die literarischen Entwicklungen der Literatur der Grenze untersucht. Im Fokus steht dabei die Aktualisierung konventioneller erzählerischer Modelle und Strategien, insbesondere das Modell der Entwicklungsreise, die Gattung des Bildungsromans, Liebesnarrative und der Motivkomplex des Doppelgängers. In dieser Vielfalt zeigt sich bereits die gestalterische Kraft der Grenze: Unterschiedliche narrative Modelle – ob Genres, Gattungen oder Motive – sind stark vom sinnstiftenden Potenzial der Grenze geprägt. Diese Vielfalt spiegelt sich auch in der Auswahl der zu untersuchenden literarischen Werke wider: Der Schwerpunkt liegt auf erzählender Literatur, Romanen und Erzählungen; es werden Werke aus Ost- und Westdeutschland be-
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rücksichtigt. Die Arbeit ist weder chronologisch noch topographisch aufgebaut, sondern nach den untersuchten narrativen Modellen gegliedert: Entwicklungsnarrative, Liebesgeschichten und Verdopplungsfigurationen. Diese Zuschreibungen sind keine absoluten Klassifizierungen. Die meisten Werke greifen sogar mehrere narrative Modelle auf, wobei dem dominanten Modell der Vorzug gegeben wird. So kommt es etwa, dass Christa Wolfs Geteilter Himmel als Bildungsroman gelesen wird und nicht zu den Liebesgeschichten zählt, auch wenn das Thema der gescheiterten Liebe eine große Rolle in der Erzählung spielt. Neben dem Geteilten Himmel werden Dieter Nolls Abenteuer des Werner Holt und Fritz Rudolf Fries’ Der Weg nach Oobliadooh als Bildungsromane untersucht. Entwicklungsnarrative finden sich aber auch in Liebesgeschichten wie Uwe Johnsons Zwei Ansichten; dieser Roman steht als Liebeserzählung neben Jurij Brӗzans Liebesgeschichte und Arno Schmidts Erzählung Am Zaun sowie dem Roman Das Steinerne Herz. Gerade Schmidts Werk firmiert üblicherweise nicht unter dem Label »Liebesliteratur«, wird aber aus plausiblen Gründen innerhalb dieser Arbeit dem narrativen Modell der Liebesgeschichte zugeschlagen. Da hier keine werkzentrierte Forschung betrieben wird, sondern ein breiter Überblick über eine deutsch-deutsche Literatur der Grenze unter Berücksichtigung des poetischen Potenzials der Grenze geboten wird, müssen verschiedene andere Aspekte von u.a. Arno Schmidts komplexem Werk unberücksichtigt bleiben. Schmidts Steinernes Herz, das von Doppelungsfigurationen durchzogen ist, fungiert als Scharnier zum dritten Kapitel, in dem das Modell der Verdoppelungen fokussiert wird. Hier stehen neben verschiedenen Brüdergeschichten Brigitte Reimanns Die Geschwister, Klaus Schlesingers Die Spaltung des Erwin Racholl und Thorsten Beckers Die Bürgschaft. Die Literaturauswahl stellt eine große Bandbreite der deutsch-deutschen Literatur dar, es finden sich unterschiedliche Werke von Autoren aus beiden deutschen Staaten, die teilweise ihren Wohnort auf die jeweils andere Seite der Grenze verlegt hatten und damit nicht eindeutig als BRD- oder DDR-Autoren zu klassifizieren sind. Die Werke selbst sind teilweise sehr bekannt und im Kontext des Themas der Zweistaatlichkeit als klassisch zu bezeichnen, wie etwa Peter Schneiders Mauerspringer. Diesen Texten werden unbekanntere und mitunter auch weniger anspruchsvolle Werke zur Seite gestellt. Der wissenschaftliche Fokus soll dezidiert auf der Poetik der Grenze liegen und nicht auf einer qualitativen Literaturkritik. Es ist dabei spannend zu beobachten, dass literarische Werke unterschiedlicher Qualität und mit unterschiedlichem Entstehungshintergrund in einen gemeinsamen Diskurs eintreten und sich gegenseitig Resonanz bieten. Dieser gemeinsame Resonanzraum wird offenbar dank der dezidierten Erfor-
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schung des poetischen Potenzials der Grenze und damit einhergehend durch die Fokussierung auf eine deutsch-deutsche Literatur der Grenze.
DIE DEUTSCHE LITERATUR ZUR ZEIT DER ZWEISTAATLICHKEIT Die Existenz zweier deutscher Staaten legt nahe, dass es zwei deutsche Literaturbetriebe und Literaturmärkte gegeben hat. Allerdings ist diese strikte Trennung entlang der Staatsgrenze nicht ohne weiteres zu übernehmen: Trotz der Etablierung zweier deutscher Staaten gab es während der gesamten Zeit der Teilung auch immer Austausch zwischen den Literaturbetrieben und -märkten aus Ost und West. Das intensive Bemühen um einen deutsch-deutschen Literaturaustausch zeigt, dass die deutsch-deutsche Grenze im Bereich der Literatur durchlässig gehalten werden sollte. 2 Es gab Publikationsmöglichkeiten für westdeutsche Autoren in der DDR – wenn auch stark eingeschränkt durch die Zensur –, und auch einzelne Werke aus der DDR fanden in der BRD eine zweite Leserschaft. Streng kontrolliert gab es so einen Austausch auf literarischer Ebene. Darüber hinaus sind auch grenzüberschreitende Kontakte auf Verlags- und Autorenebene belegt. 3 Es zeigt sich, dass es Bemühungen gab, die deutsch-deutsche Grenze im Bereich der Literatur zu überwinden. Retrospektiv werde die Grenze so »verwischt«.4 Es muss dabei betont werden, dass es Bemühungen waren, und diese nicht zwangsläufig von Erfolg gekrönt waren. Verschiedene grenzübergreifende Publikationsprojekte wurden unterbunden und Kontakte abgebrochen; die Produktions- und Publikationsbedingungen in Ost und West unterschieden sich eklatant voneinander. Die Zweistaatlichkeit stellte also eine mühsame Herausforderung für den Literaturbetrieb auf beiden Seiten der Grenze dar. Der deutsch-
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Vgl. zum Literaturaustausch die umfassende Studie von Julia Frohn, Literaturaustausch im geteilten Deutschland. 1945 – 1972, Berlin 2014. Außerdem in komprimierter Form den Werkstattbericht von Michael Westdickenberg, Das Loch in der Mauer. Ein Werkstattbericht über den innerdeutschen Literaturaustausch. Online unter: http: //www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/61500/literaturaustausch? p=all. Zuletzt eingesehen am 2.12.2016.
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So initiierten etwa Günter Grass und Bernd Jentzsch in den 1970er Jahren regelmäßig deutsch-deutsche Autorentreffen in Ostberliner Privatwohnungen. Vgl. dazu auch: Roland Berbig (Hg.), Stille Post. Inoffizielle Schriftstellerkontakte zwischen West und Ost, Berlin 2005.
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Julia Frohn, Literaturaustausch, S. 380.
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deutsche Literaturaustausch bietet folglich ein sehr heterogenes Bild, belegt aber deutlich grenzüberschreitende literarische Beziehungen. Die Situation der Literatur während der Zweistaatlichkeit deutet sich hier bereits als eine komplizierte an; noch immer gilt der Begriff DDR-Literatur als »umstritten«5 oder »problematisch«.6 Erst in den 1960er Jahren taucht der Begriff »DDR-Literatur« in der Diskussion auf.7 Zunächst ging man trotz der Existenz zweier deutscher Staaten von einer gemeinsamen Nationalkultur und damit auch von einer gemeinsamen Literatur aus, auch wenn es in den 1950er Jahren kulturpolitische Versuche gab, eine DDR-spezifische Literatur zu konturieren. Durch die so genannte FormalismusKampagne und den sozialistischen Realismus wurden literarische Entwicklungen nach sozialistischer Prägung forciert und als ›bürgerlich‹ diskreditierte Erscheinungen sanktioniert. Die Formalismus-Kampagne und der sozialistische Realismus haben ihren Ursprung in der Sowjetunion der 1930er Jahre. Nach dem Ende der Zweiten Weltkrieges wurden die Debatten auch in der DDR weitergeführt. 8 Der Vorwurf des Formalismus, einhergehend mit der Verurteilung von Modernismus, Dekadenz und dem »antisemitisch konnotierte[n] Vorwurf des Kosmopolitismus«,9 diente der Diskreditierung unliebsamer Künstler unter dem Deckmantel der Förderung volksnaher Kunst. Ideologisch unpassende Literatur konnte so mithilfe eines scheinbar ästhetischen Urteils diskreditiert und künstlerische Experimente und Innovationen konnten ausgebremst werden. Die Tabuisierung als ›formalis-
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Janine Ludwig, »Was war und ist DDR-Literatur? Debatten um die Betrachtung der DDR-Literatur nach 1989«, in: Norbert Otto Eke (Hg.), »Nach der Mauer der Abgrund« (Wieder-) Annäherungen an die DDR-Literatur, Amsterdam, New York 2013 (=Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik), S. 65–82, hier S. 65.
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Michael Opitz, »DDR-Literatur (Begriff)«, in: Michael Opitz und Michael Hofmann (Hgg.), Metzler Lexikon DDR-Literatur, Stuttgart 2009, S. 72–73, hier S. 72.
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Die Karriere des Begriffs wird von Janine Ludwig detailliert nachgezeichnet, vgl. dies., »Was war und ist DDR-Literatur?«. Auch Wolfgang Emmerich reflektiert die Laufbahn des Begriffs, vgl. ders., Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe, Berlin 2009 (1996), bes. S. 11ff.
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Ausführliche Rückschauen bieten die jeweiligen Lexikonartikel: Carola HähnelMesnard, »Formalismus-Debatte/Formalismus-Kampagne«, in: Metzler Lexikon DDR-Literatur, S. 94–96; Andrea Jäger, »Sozialistischer Realismus«, in: ebd., S. 319–322.
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Carola Hähnel-Mesnard, »Formalismus-Debatte/Formalismus-Kampagne« (wie Anm. 8), S. 94.
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tisch‹ verurteilter Werke erfolgte dann auch durch systematische Verbote: Ab 1951 gab es das »Amt für Literatur und Verlagswesen« und die »Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten«, die zu veröffentlichende Literatur auswählten. Mit dem Instrument der »Druckgenehmigungsverfahren« wurde in der DDR de facto Zensur ausgeübt und betraf aktuelle Autoren ebenso wie mittlerweile etablierte Repräsentanten der literarischen Moderne, wie etwa Kafka.10 Dem so genannten Formalismus, mehr ein politisches Urteil als eine ästhetische Wertung,11 wurde dann der sozialistische Realismus als Kulturdoktrin gegenübergestellt. Wie der Formalismus ist auch dieser eher eine politische als eine ästhetische Kategorie und damit schwierig zu fassen. Er lässt sich kaum als Literaturtheorie oder Ästhetik begreifen, sondern ist ein erzieherisches und politisches Programm in der Literatur, das eine parteiliche »Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse« fördert.12 Skizzieren lässt sich der sozialistische Realismus daher vor Allem inhaltlich: »Bevorzugtes Sujet sollte die sozialistische Produktion sein. Im Zentrum des literarischen Werkes hatte ein positiver, vorbildhafter Held zu stehen, der als zur Nachahmung einladendes Identifikationsangebot an den Leser gemeint war.«13
Somit hatte die Kulturdoktrin die Etablierung literarischer Figurenstereotype zur Folge, wie den positiven Helden der Arbeit oder Mentorenfiguren in Gestalt älterer antifaschistischer Veteranen. Exemplarisch wurden die Anforderungen des sozialistische Realismus im so genannten ›Bitterfelder Weg‹ und der ›Ankunftsliteratur‹ umgesetzt. Beide
10 Die literarische Zensur stellt einen wichtigen Bereich in der Forschung zur Literatur der DDR dar. In dieser Arbeit spielen die Produktions- und Publikationsbedingungen der untersuchten Werke aber nur eine untergeordnete Rolle. Zur Literaturzensur in der DDR vgl. bes. Simone Barck und Siegfried Lokatis, Zensurspiele. Heimliche Literaturgeschichten aus der DDR, Halle 2008; Joachim Walther, Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1996. 11 Im Kontext des »Formalismus-Vorwurfs« ist der Begriff »Formalismus« politisch besetzt und von dem literaturtheoretischen Programm der »Russischen Formalisten« zu unterscheiden. Innerhalb des sowjetisch geprägten Kontextes der Kampagne gab es keine objektiven Maßstäbe dafür, was als formalistisch zu gelten habe. Markiert wurden so unliebsame Werke und Autoren, die für eine ideologische Lesart nicht taugten. 12 Andrea Jäger, »Sozialistischer Realismus«, S. 319. 13 Wolfgang Emmerich, Literaturgeschichte, S. 120.
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Spielarten sind dezidierte Spezifika der Literatur der DDR 14 und Resultat eines staatlich verordneten Kulturprogramms. Mit der Bitterfelder Konferenz von 1959 wurde mit der Losung »Greif zur Feder Kumpel! Die sozialistische Nationalkultur braucht Dich!« ein neues literarisches Programm ausgerufen – und spätestens 1964 wieder verabschiedet. 15 Durch »Zirkel schreibender Arbeiter« wurde die künstlerische Produktion der Arbeiterschaft gefördert, außerdem wurden Künstler angehalten in die Betriebe zu gehen und den Arbeitsalltag in ihr Werk zu integrieren. Hinter diesem Programm stand die Annäherung von Kunst und Leben und letztlich wieder der kulturpolitische Ansatz erzieherisch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse Einfluss zu nehmen. Die Bitterfelder Konferenz hatte Erfolg, der sich als hoher Output von Produktionsliteratur der Arbeiterschaft zeigte; es gibt eine Vielzahl an Anthologien verschiedener Textsorten: Reportagen, Anekdoten, Protokolle. Auch in schriftstellerischen Werken wurde der Bitterfelder Weg begangen – der Arbeitsalltag wurde zunehmend zum literarischen Sujet. An diese Ästhetik schließt etwa auch die sogenannte Ankunftsliteratur16 an. Hier finden sich meist biographische Erzählungen, die von der Integration in die sozialistische Gesellschaft handeln, die Teilnahme am Arbeitsalltag eingeschlossen. Die literarischen Debatten, als Abkehr von der Moderne und als Etablierung einer spezifisch sozialistischen Literaturtradition, verweisen klar auf DDRspezifische literarische Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die Vorstellung einer eigenständigen DDR-Literatur, die der Literatur aus der BRD gegenübergestellt wurde. Mit Honeckers Machtübernahme 1971 wurde das deutsch-deutsche Verhältnis zunehmend agonal, eine sozialistische Nationalkultur wurde angestrebt. Gunther Mai sieht darin einen »zweiten Gründungsakt
14 Diese literarischen Entwicklungen innerhalb einer parteilichen und staatlich gesteuerten Literatur stellen dabei nur einen kleinen Teil dessen dar, was Wolfgang Emmerich als DDR-Literatur fasst und in seiner Literaturgeschichte umfassend vorstellt; sie sollen nicht als repräsentativ für eine DDR-Literatur gelten. 15 Hier teile ich die Einschätzung von Ulf Aust, vgl. ders., »Bitterfelder Weg«, in: Metzler Lexikon DDR-Literatur, S. 41–43. Zum Bitterfelder Weg vgl. auch bes. Simone Barck, »Die Chiffre Bitterfeld. Eine kulturhistorische Annäherung im Dreierschritt«, in: Dagmar Kift und Hanneliese Palm (Hgg.), Arbeit – Kultur – Identität. Zur Transformation von Arbeitslandschaften in der Literatur, Essen 2007 (=Schriften des FritzHüser-Instituts für Deutsche und Ausländische Arbeiterliteratur, Bd. 15), S. 135–154. 16 Dieser Terminus ist geprägt von Brigitte Reimanns Erzählung Ankunft im Alltag von 1961.
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einer souverän und mündig gewordenen DDR«.17 Diese Perspektive hält nach und nach auch Einzug in die Literaturgeschichtsschreibung der BRD. 18 Die Ansicht der zwei deutschen Literaturen ist zwar nicht notwendig Konsens – die Diskussion darüber ist bis heute nicht abgebrochen19 – aber doch soweit Konvention, dass eine Zweiteilung der deutschen Literatur der Nachkriegszeit den Ausgangspunkt der Debatte darstellt. Interessanterweise eröffnet die Perspektive der geteilten Literatur erst einen systematischen Blick auf die Literatur der DDR. Mit der Abgrenzung wird die Literatur explizit gemacht und profitiert von einer neuen Sichtbarkeit auch jenseits der Grenze. Dabei ist es gerade die reformsozialistische und kritische Literatur der DDR, die erhöhte Aufmerksamkeit erfährt und die von einem »moralische[n] Nimbus« 20 profitiert. Die staatsloyale Literatur, die kulturpolitische Anforderungen erfüllt, wird dagegen in der (westdeutschen) Literaturkritik marginalisiert. Hier zeichnet sich bereits das Dilemma der Diskussion um »DDR-Literatur« und eine zweigeteilte Literatur ab: Es gibt immer mehr als eine »DDR-Literatur«. Die im Osten geförderte Literatur ist nicht notwendig die, die im Westen wahrgenommen wird. Die Literatur der DDR ist nicht homogen und es ist daher naheliegend, dass der Terminus der »DDR-Literatur« zu kurz greift. Der Gegenstand »DDR-Literatur« ist trotz unterschiedlicher Publikations- und Produktionsbedingungen, sowie DDR-spezifischen literarischen Traditionen nicht eindeutig zu definieren. Ist der Publikationsort ausschlaggebend? Viele Texte wurden in beiden Staaten publiziert. Ist der Produktionsort ausschlaggebend? Dann würden ›klassische‹ DDR-Autoren, die ausgereist sind, unterschlagen werden und auch Texte aus den 1990er Jahren und später wären aus der Betrachtung ausgeschlos-
17 Gunther Mai, »Sozialistische Nation und Nationalkultur«, in: Lothar Ehrlich und Gunther Mai (Hgg.), Weimarer Klassik in der Ära Honecker, Köln u.a. 2001, S. 29– 76, hier S. 32. 18 Janine Ludwig betont besonders Arbeiten von Hans Mayer und Fritz J. Raddatz, die eine Zweiteilung der deutschen Literatur postulieren. Dies., »Was war und ist DDRLiteratur?«, S. 67. 19 Vgl. etwa Janine Ludwig, »Was war und ist DDR-Literatur?« ; Wolfgang Emmerich, Literaturgeschichte und auch Katrin Max, »Zur Standortbestimmung der gegenwärtigen DDR-Literatur-Forschung«, in: Dies. (Hg.), Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen DDR-Literatur-Forschung, Würzburg 2016, S. 11–33. 20 Wolfgang Emmerich, Literaturgeschichte, S. 12.
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sen. Auch biographische und thematische Bestimmungen einer »DDR-Literatur« greifen zu kurz. Daher mahnt Wolfgang Emmerich: »Wer an Multiperspektivität interessiert ist und die genannten erkenntnistheoretischen Illusionen vermeiden will, wird auch den Begriff DDR-Literatur nicht künstlich eindeutig machen, sondern beharrlich offenhalten.«21
Neben der problematischen Definition ist der Begriff »DDR-Literatur« als wissenschaftlicher Terminus stark politisiert. Wolfgang Emmerich betont, dass die (frühe) DDR-Literatur-Forschung eine »zu große Nähe zum Gegenstand« 22 hatte. Politische Urteile gerierten sich als Kunsturteile: Affirmation und Opposition erschienen als Pole, die die literarische Qualität markierten. Zudem wurde der Kulturpolitik eine Schlüsselrolle zugewiesen und literarische Ästhetik lediglich als Erfüllung kulturpolitischer Normen ohne eigenen Wert gesehen. Die wissenschaftliche Perspektive auf eine zweigeteilte Literatur ist nicht unproblematisch, daher ist es nicht verwunderlich, dass es aktuell zunehmend Bemühungen um einen neuen wissenschaftlichen Umgang mit der Literatur der Zweistaatlichkeit gibt. Rittlings auf der Mauer – zur wissenschaftlichen Perspektive Statt der isolierten Betrachtung einer von (möglicherweise) zwei Literaturen, wird die Literatur aus Ost und West im Folgenden gemeinsam betrachtet. Mit der Fokussierung auf die Literarisierung der Grenze wird Literatur aus beiden deutschen Staaten gemeinsam in den Blick genommen. Die durchaus unterschiedlichen literarischen Diskurse werden, so die Hypothese, durch die Grenze selbst zueinander in Beziehung gesetzt und in einen Dialog gebracht. Die untersuchte deutsch-deutsche Literatur der Grenze ist eine grenzüberschreitende Literatur zur Zeit der Zweistaatlichkeit.
21 Ebd., S. 21. 22 Ebd., S. 17. Emmerich referiert auf Bernhard Greiner, »DDR-Literatur als Problem der Literaturwissenschaft«, in: Paul Gerhard Klussmann und Heinrich Mohr (Hgg.), Probleme deutscher Identität. Zeitgenössische Autobiographien. Identitätssuche und Zivilisationskritik, Bonn 1983 (=Jahrbuch zur Literatur in der DDR, Bd. 3), S. 231– 255.
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Mit dieser Forschungsperspektive wendet sich das Dissertationsprojekt gegen eine »kontrastive Literaturgeschichtsschreibung«.23 Die vereinfachende Teilung der deutschen Nachkriegsliteratur in Kongruenz zur politischen Geographie ist problematisch. Aufgrund von Migrations- und Transferbewegungen, dem eingangs erwähnten Literaturaustausch über die Grenze hinweg und nicht zuletzt wegen des Endes der Zweistaatlichkeit verliert die kontrastive Aufteilung der deutschen Literatur an Eindeutigkeit: Seit der Wende ist es unmöglich die deutsche Literatur noch als geteilt zu betrachten. Dies fordert auch die wissenschaftliche Betrachtung der Literatur aus der Zeit vor der Wende heraus. 24 Es gibt Versuche und Forderungen, die geteilte Literaturgeschichte als eine gemeinsame zu betrachten, ohne die beobachtbaren Unterschiede zu verschweigen. Hier kann die Literaturwissenschaft an die Überlegungen zu einem Spiel aus Abgrenzung und Verflechtung der beiden deutschen Staaten anknüpfen, wie sie in der historischen Forschung etabliert wurden. Der Historiker Christoph Kleßmann hat ein »Konzept zur integrierten Nachkriegsgeschichte« vorgeschlagen, das auf dem Wechselspiel von Abgrenzung und asymmetrischer Verflechtung der beiden deutschen Staaten beruht 25 und das in der Geschichtswissenschaft bereits Anklang findet.26 Die Forderung nach einer Re-Lektüre der Literatur der Zweistaatlichkeit hat etwa Norbert Otto Eke formuliert und eine »gemeinsame Forschungsperspektive«“27 gefordert. Eine Möglichkeit sei die Abkehr von der Beschäftigung mit Inhalten und die Hinwendung der Forschung zu »ästhetischen Formen und Formungen.«28 Statt des »Was« des Erzählens soll also das »Wie« des Erzählens
23 Norbert Otto Eke, »Nach der Mauer der Abgrund«, in: Ders. (Hg.), »Nach der Mauer der Abgrund«, S. 7–25, hier S. 22. 24 Einen Überblick über die gegenwärtige Forschung bietet der Sammelband von Katrin Max (Hg.), Tendenzen und Perspektiven. 25 Christoph Kleßmann, »Spaltung und Verflechtung – Ein Konzept zur integrierten Nachkriegsgeschichte 1945 bis 1990«, in: Christoph Kleßmann und Peter Lautzas (Hgg.), Teilung und Integration. Die doppelte Nachkriegsgeschichte als wissenschaftliches und didaktisches Problem, Bonn 2005, S. 20–37. Mit dem Vorschlag der literaturwissenschaftlichen Anknüpfung daran stimme ich mit Helmut Peitsch überein, vgl. ders., »Remigration, Übersiedlung und Westarbeit.«, in: Ulrich von Bülow und Sabine Wolf (Hgg.), DDR-Literatur. Eine Archivexpedition, Berlin 2014, S. 22–35. 26 Vgl. Udo Wengst und Hermann Wentker, »Einleitung«, in: Dies. (Hgg.): Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz, Bonn 2008, S. 7–14. 27 Norbert Otto Eke, »Nach der Mauer der Abgrund«, S. 22. 28 Ebd., S. 23.
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untersucht werden. Dabei kann die Herkunft der Literatur transparent bleiben und die gemeinsame Literaturgeschichte als dialogisch betrachtet werden: Es geht dabei nicht um die Nivellierung der tatsächlich beobachtbaren Unterschiede, vielmehr soll unter ästhetischen Prämissen ein neuer Blick auf die Literatur zur Zeit der Zweistaatlichkeit gerichtet werden, der Unterschiede und Gemeinsamkeiten bzw. Wechselwirkungen der Literatur aus beiden deutschen Staaten berücksichtigt. Die Untersuchung der deutsch-deutschen Literatur der Grenze schärft diesen Blick. Einer kontrastiven Betrachtung der Literatur der Zweistaatlichkeit wird also eine Absage erteilt. Die divergenten Werke werden in einen gemeinsamen Kontext gestellt, um zu überprüfen, wie eine deutschdeutsche Literatur der Grenze gestaltet wird und welche grenzüberschreitenden literarischen Entwicklungen feststellbar sind. Mit der Frage nach dem poetologischen Potenzial der Grenze wird die Arbeit auf genau dieser Grenze positioniert, um die Literatur beider Staaten gemeinsam in den Blick zu nehmen. Die deutsch-deutsche Literatur der Grenze schreibt sich so in den Diskurs um eine neue Perspektivierung der deutsch-deutschen Literaturgeschichte ein, die ästhetische Merkmale fokussiert – und leistet so einen Beitrag zu einer integrierten wissenschaftlichen Betrachtung der Literatur zur Zeit der Zweistaatlichkeit.
DIE DEUTSCH-DEUTSCHE LITERATUR DER GRENZE Im Fokus dieser Dissertation steht die deutsch-deutsche Literatur der Grenze. Dieser Terminus basiert auf der Prämisse, dass die deutsche Teilung, die Mauer, oder schlicht: die Grenze, einen immensen Einfluss auf die Kultur zur Zeit der Zweistaatlichkeit hatte, der sich selbstverständlich auch literarisch zeigt. Es erscheinen erzählende Texte in Ost- und Westdeutschland, die sich auf unterschiedliche Weise mit der Teilung auseinandersetzen, und zwar inhaltlichthematisch wie auch auf formaler Ebene. Diese Literatur, die die Grenze ästhetisch (mit-)gestaltet, wird unter dem Begriff der deutsch-deutschen Literatur der Grenze gefasst. Hier spielt die Grenze nicht allein als Thema oder Produktionsbedingung eine Rolle, sondern insbesondere als literarische Kategorie: Die Grenze initiiert Geschichten und stellt eine Herausforderung an die literarische Gestaltung dar. Die Leitfrage lautet: Wie wird die Grenze in der Literatur ästhetisch gestaltet und inwieweit gestaltet die Grenze die deutsch-deutsche Literatur mit? Basis für diese Literatur der Grenze ist die Annahme einer Poetik der Grenze, wie sie in dieser Arbeit aufgespürt und analysiert wird.
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Das Interesse an der Grenze in der Literatur folgt einem aktuellen kulturwissenschaftlichen Interesse an der Grenze. Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen ermöglichen eine differenzierte Sichtweise auf das Phänomen der Grenze, die sich nicht nur als geographische Markierung, sondern als »kulturelle, politische und ästhetische Kategorie«29 fassen lässt. In der Literaturwssenschaft ist die Grenze trotz spatial turn und florierender Raumforschung noch nicht sonderlich präsent.30 Dieter Lamping bietet als Erster eine systematische Einführung in die Literatur der Grenze.31 Lamping verweist auf die lange Tradition der Literatur der Grenze, die sich bis in die Antike verfolgen lässt. In seiner Arbeit konzentriert er sich auf die deutsche Literatur der Grenze und die literarische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Grenzen und Grenzregionen, auch die deutsch-deutsche Grenze wird hier berücksichtigt. Lamping definiert die Literatur der Grenze nicht als Literatur aus Grenzregionen, sondern thematisch, als Literatur über die Grenze und erkennt diese als notwendigerweise »politische Literatur«32 an, die sich mit einer politischen und zugleich kulturellen Grenze auseinandersetzt und diese immer wieder neu verhandelt. Einige Jahre nach Lampings Monographie erschien ein Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie, das die literaturwissenschaftliche Grenzforschung weiter etabliert. Hier werden verschiedene Beiträge versammelt, einführende Beiträge zur Geschichte der Grenzkonzeptionen und Einzelbetrachtungen zu unterschiedlichen Werken mit dem Fokus auf imaginären oder realen (Staats-) Grenzen. Die literaturwissenschaftliche Grenzforschung wird hier breit
29 So der Untertitel des Sammelbandes von Christoph Kleinschmidt und Christine Hewel (Hgg.). Topographien der Grenze. Verortungen einer kulturellen, politischen und ästhetischen Kategorie, Würzburg 2011. 30 Eine Ausnahme stellt der kulturwissenschaftlich orientierte Sammelband von Richard Faber und Barbara Naumann dar. Dies. (Hgg.), Literatur der Grenze – Theorie der Grenze, Würzburg 1995. Zu den Ausnahmen zählen auch einzelne Artikel: Vittoria Borsò, »Grenzen, Schwellen und andere Orte ›La geographie doit bien être au cœur de ce dont je m’occupé‹«, in: Vittoria Borsò und Reinhold Görling (Hgg.), Kulturelle Topografien. Stuttgart, Weimar 2004, S. 13–41; und Monika Schmitz-Emans, »Vom Archipel des reinen Verstandes zur Nordwestpassage. Strategien der Grenzziehung, der Reflexion über Grenzen und des ästhetischen Spiels mit Grenzen«, in: Beate Burtscher-Bechter, Peter W. Haider, Birgit Mertz-Baumgartner und Robert Rollinger (Hgg.), Grenzen und Entgrenzungen. Historische und kulturwissenschaftliche Überlegungen am Beispiel des Mittelmeerraums, Würzburg 2006, S. 19–47. 31 Dieter Lamping, Über Grenzen. Eine literarische Topographie, Göttingen 2001. 32 Ebd., S. 10.
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aufgestellt und die Grenze begriffen als Metapher für all das, »was zuerst dichotomisch aufgespalten und anschließend wieder auf die verschiedensten Arten und Weisen wieder miteinander verschränkt werden kann«. 33 Diese Dynamiken der Trennung und Verbindung sind es, die die Grenze ausmachen und auch die literarische Auseinandersetzung mit der Grenze prägen; darüber hinaus evoziert die Grenze auch die Möglichkeit ihrer Überwindung und lädt zur Grenzüberschreitung ein. In der Literatur kann die Grenze unterschiedliche Wirkungen entfalten: Binaritäten werden aufgegriffen und neu verhandelt, unterschiedliche Grenzüberschreitungen erprobt und Transformationsprozesse eingeleitet. Die Grenze wird zu einer literarischen Größe, die an der Gestaltung eines Textes mitwirkt. Als spezifische Grenze, die auch in der Literatur von Bedeutung ist, wird in dieser Arbeit der Blick auf die deutsch-deutsche Grenze gerichtet. Wie sieht der dezidiert literarische Umgang mit der deutsch-deutschen Grenze aus? Bisherige Untersuchungen zum Thema Grenze bzw. Zweistaatlichkeit und Literatur legen den Fokus auf die Repräsentation der Zweistaatlichkeit in der Literatur. Schwerpunkt ist die Darstellung der Grenze, häufig liegt der Fokus auf der Berliner Mauer als Bauwerk. 34 Die Arbeiten fokussieren tendenziell die ostdeutsche Literatur mit der Begründung, dass die Zweistaatlichkeit in der westdeutschen Literatur nur marginal behandelt werde. Diese Einschätzung trifft besonders auf die frühen Jahre, also die 1950er zu. Da sind es neben Arno Schmidts Steinernem Herzen nur Hans Erich Nosssacks Der jüngere Bruder und Uwe Johnsons Mutmassungen über Jakob, wobei der letztgenannte Roman in der DDR verfasst wurde und Johnson kurz vor dessen Erscheinen 1959 nach Westberlin übersiedelte. Spätestens mit dem Mauerbau 1961 findet in der Literatur aus der BRD aber eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Zweistaatlichkeit und der Grenze statt. 1977 erscheint die erste Studie zur Zweistaatlichkeit in der deutschen Literatur. Peter Hutchinson untersucht Darstellungen der Zweistaatlichkeit und deren 33 Eva Geulen und Stephan Kraft, »Vorwort« in: Dies. (Hgg.), Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur, 2010 (= Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie 129 (2010)), S. 1–4, hier S. 1. 34 Vgl. dazu Birgit Frech, Die Berliner Mauer in der Literatur. Eine Untersuchung ausgewählter Prosawerke seit 1961, Pfungstadt bei Darmstadt 1992; Alessandra Jaforte, Die Mauer in der literarischen Prosa der DDR, Frankfurt a. M. 1991; Anke Kuhrmann, Doris Liebermann und Annette Dorgerloh, Die Berliner Mauer in der Kunst. Bildende Kunst, Literatur und Film, Berlin 2012.
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Thematisierung mit dem Bewusstsein, dass diese literarische Repräsentation stark vom jeweiligen politischen Klima beeinflusst sei: »A similar pattern is evident in the East German view of the West and, mutatis mutandis, in the West German view of the East. The internal political climate has largely determined – and, more important, still controls – the manner in which events outside each country are interpreted.«35
Hutchinson verweist auf die Existenz literarischer Stereotype in der Darstellung des jeweils anderen deutschen Staates und darauf, dass diese Stereotype mitunter herausgefordert werden. Der Darstellung der Zweistaatlichkeit geht Hutchinson systematisch nach und gliedert seine Studie klugerwiese nicht nach Erscheinungsorten, sondern indem er literarischen Strategien zur Darstellung des anderen Staates nachgeht. Hutchinson macht drei wesentliche Darstellungsvarianten aus: die Figur des Reisenden, die Figur des Repräsentanten und einen kontrastiven Darstellungsmodus. Hutchinson bietet einen guten Überblick über die ostdeutsche Literatur, die westdeutsche Literatur zur Zweistaatlichkeit ist allerdings nur marginal vertreten. Ihm ist der analytische Zugang zu Gute zu halten, auch wenn sein Hauptaugenmerk auf der literarischen Repräsentation der beiden deutschen Staaten liegt; Hutchinson gibt also verstärkt dem Was den Vorzug vor dem Wie des Erzählens. Er kann überzeugend herausarbeiten, dass die stereotype Kontrastierung der beiden deutschen Staaten in der Literatur zwar zunehmend differenziert wird, der eigenen kontrastiven Betrachtung der deutschen Literatur entkommt Hutchinsons leider nicht. Hutchinsons Pionierarbeit wird mit Blick auf die 1980er Jahre von Dagmar Wienröder-Skinner fortgeführt. 36 Nachdem sie die Literatur auch in Westdeutschland seit den 1970er Jahren verstärkt mit der Zweistaatlichkeit auseinandersetzt, bemüht sich Wienröder-Skinner nun um die Berücksichtigung von Literatur aus beiden deutschen Staaten, sie selbst spricht von einer »kontrastive[n] Untersuchung«.37 Wienröder-Skinner geht es besonders um die inhaltliche Auseinandersetzung mit politischen Fragen in der Literatur, neben der Zwei-
35 Peter Hutchinson, Literary Presentations of Divided Germany. The Development of a Central Theme in East German Fiction 1945–1970, New York 2010 (1977) (=anglica Germanica Series, Bd. 2), S. 18. 36 Dagmar Wienröder-Skinner, Aspekte der Zweistaatlichkeit in deutscher Prosa der achtziger Jahre, Heidelberg 1993. 37 Ebd., S. VII.
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staatlichkeit schneidet sie auch die Themen Umwelt- und Friedensgefährdung an. Sie bietet einen Überblick über die literarische Thematisierung der Teilung; die Fokussierung des Inhalts und die Bewertung des literarischen Engagements im Prozess der deutschen Vereinigung nähert die Studie allerdings der Literaturkritik an. Differenzierter ist da Rainer Benjamin Hoppes Betrachtung der Literatur der Grenze. Auch Hoppe schließt an Hutchinson an und fragt nach der Darstellung der Zweistaatlichkeit mithilfe von verschiedenen Motiven und Figurenstereotypen. 38 Hoppe erarbeitet eine »streng thematische Untersuchung« 39 auf einer sehr breiten Basis, er berücksichtigt eine erstaunliche Menge an Literatur aus beiden deutschen Staaten, die von unterschiedlicher Komplexität ist. Die reine Masse an behandelter Literatur ermöglicht Hoppe einen herausragenden Überblick über die Literatur der Zweistaatlichkeit. Leider verstellt dieses additive Verfahren aber den Blick auf einen Zusammenhang der erarbeiteten Motive und Darstellungsweisen. Hoppes Vorgehensweise, die Vielzahl an Texten nach Themen, Motiven, Figurenkonstellationen etc. zu strukturieren, führt zu interessanten Erkenntnissen. Die Menge an Literatur erschwert aber den Blick auf einen gemeinsamen Kontext, so dass auch diese Studie letztlich in einem kontrastiven Gestus verharrt. Die vorliegende Arbeit folgt nun einer stärker dialogischen Herangehensweise, die Poetik der Grenze, also deren ›Mitwirkung‹ an Literatur, wird fokussiert. Es geht nicht darum, wie die Literatur die Grenze darstellt, sondern darum, wie die deutsch-deutsche Grenze die Literatur mitgestaltet. Es gilt zu zeigen, dass die Grenze durch die Wirkungen, die sie in der Literatur entfaltet, literarisch lesbar wird, auch ohne zwangsläufig explizit thematisiert zu werden. Die Fokussierung narrativer Modelle öffnet einen systematischen Blick auf die mehrdimensionalen Wirkungen der Grenze in der Literatur. Die Erzählung von Entwicklungsgeschichten und Reisen über die Grenze, literarische Liebesarrangements entlang der Grenze und weitere Figurenpaare wie Geschwister und Doppelgänger sind alles literarische Gestaltungen der Grenze. Hier
38 Vgl. Rainer Benjamin Hoppe, »Horizont aus Schlagbäumen«...? Die deutsche Teilung und Gesellschaftsdarstellungen des geteilten Deutschlands in der erzählenden Nachkriegsliteratur (1945-1989), Aachen 2006. (=Jahrbuch des Instituts für moderne Fremdsprachen/Yearbook of the Department for Modern Foreign Languages/Annales du Departement de Lettres modernes an der Naturwissenschaftlich-Technischen Universität Norwegens (NTNU), Trondheim Bd.1). 39 Ebd., S. 11.
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werden narrative Modelle entworfen oder aktualisiert, die auf das poetische Potenzial der Grenze verweisen; so findet in der Literatur eine innovative Auseinandersetzung mit der Grenze statt: Die deutsch-deutsche Grenze wird erzählbar. Die deutsch-deutsche Literatur der Grenze ist Literatur aus beiden deutschen Staaten, in der eine spezifisch literarische Auseinandersetzung mit der Grenze stattfindet. Es ist Literatur, die einen gemeinsamen Resonanzraum für literarische Werke aus Ost und West bildet. Dank der Gestaltung der Grenze steht die Literatur in einem Dialog, so dass eine gemeinsame wissenschaftliche Betrachtung möglich wird. Um das poetische Potenzial der Grenze zu fassen, gilt es, das komplexe und ambige Phänomen der Grenze darzustellen, das unterschiedliche Dynamiken evoziert und vereint. Zunächst werden im Folgenden verschiedene theoretische Ansätze der Grenzforschung skizziert. Darauf folgt die Erprobung des poetologischen Potenzials der Grenze, wie es explizit bei Uwe Johnson und Peter Schneider literarisch entfaltet wird. Es schließen die Hauptkapitel der Arbeit an, in denen die Aktualisierung tradierter narrativer Modelle und Genres in der Literatur der Grenze untersucht wird.
Die Grenze – Von der Scheidelinie zur literarischen Kategorie
INTERDISZIPLINÄRER ÜBERBLICK ÜBER VERSCHIEDENE GRENZTHEORIEN Das umfassende Feld der Grenzforschung lässt sich keinem konkreten Fachgebiet zuordnen, tatsächlich erhält die Grenzforschung Impulse aus verschiedenen Disziplinen wie Geographie, Politikwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Soziologie, u.v.m.1 Ein Überblick über das Phänomen der Grenze muss die verschiedenen Impulse berücksichtigen. Die Grenze ist mehr als eine rein geographische Markierung, sie hat immer politische und damit gesellschaftliche und kulturelle Relevanz. Grenzen markieren politische Ordnungen und halten diese intakt. Monika Eigmüller spricht zu Recht von einem dualen Charakter der Grenze, da sie immer zugleich Produkt und Produzentin politischer Ordnungen sei. 2 Die Grenze markiert und stabilisiert also die jeweilige politische Ordnung. Diese elementare Verflechtung der Grenze mit politischen Ordnungen verbindet die Grenze mit verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen. Daraus resultiert die Hypothese, dass die Grenze durch die literarische Auseinandersetzung sowohl ästhetisch inszeniert und reproduziert wird, als auch neue literarische Formen herausfordert und implizit (mit-)produziert.
1
Ein Beispiel für die multidisziplinäre Betrachtung der Grenze sind die Border Studies, die sich mit verschiedenen Prozessen an der Grenze auseinandersetzen, vgl. Doris Walter-Wastl (Hg.), The Ashgate Research Companion to Border Studies, Farnham 2011.
2
Vgl. Monika Eigmüller, »Der duale Charakter der Grenze. Bedingung einer aktuellen Grenztheorie«, in: Monika Eigmüller und Georg Vobruba (Hgg.), Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes, Wiesbaden 2006, S. 55–73.
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Um ein so komplexes Phänomen wie die Grenze fassen zu können, werden im Folgenden die Erscheinungsformen der Grenze und drei wesentliche Grenzdynamiken fokussiert. Diese drei Grenzdynamiken sind das Einsetzen der Grenze, deren Überschreitung und das Ausdehnen der Grenze. 3 Die Unterscheidung der Grenzdynamiken schließt direkt an Benjamin Bühlers Überblick zur Grenzforschung an, in dem er drei Varianten der Beschreibung von Grenzen differenziert, das »Einsetzen der Grenze«, das »Überschreiten der Grenze« und die Ausweitung der Grenze zu einem »unmarkierte[n] Bereich des Dazwischen«.4 Zudem bezieht sich diese triadische Betrachtung auf die Überlegungen von Kathrin Audehm und Hans Rudolf Velten, die eine performative Vorstellung der Grenze mithilfe der Dynamiken Differenzierung, Transgression und Hybridität erarbeiten.5 Die etablierte Dreiteilung verschiedener Grenzdynamiken, berücksichtigt (a) das trennende, differenzierende und sinnbildende Potenzial der Grenze ebenso wie (b) das verbindende, befriedende, und kommunikatorische Potenzial der Grenzüberwindung; zudem tritt (c) die Ausdehnung der Grenze zu einem zonalen Raumphänomen hinzu, das transformatives Potenzial birgt. Damit lässt sich die Grenze als kulturell wirksame Kategorie umfassend beschreiben. Die Komplexität der Grenze gründet aber nicht nur auf den sie begleitenden Dynamiken, sondern erschließt sich bereits aus ihren Erscheinungsformen: Die Grenze ist sowohl als abstrakte Linie vorstellbar, die disjunkte Teilräume voneinander trennt, als auch als ausgedehnte Übergangs- und Kontaktzone, die zwischen den Teilräumen vermittelt.
3
Diese triadische Struktur folgt dem Überblick über verschiedene Grenztheorien aus: Martin Doll und Johanna M. Gelberg, »Einsetzung, Überschreitung und Ausdehnung von Grenzen«, in: Christian Wille, Rachel Reckinger, Sonja Kmec und Markus Hesse (Hgg.), Räume und Identitäten in Grenzregionen. Politiken – Medien – Subjekte, Bielefeld 2014, S. 15–23.
4
Benjamin Bühler, »Grenze. Zur Wort- und Theoriegeschichte«, in: Trajekte 12.24 (2012), S. 31–34, hier S. 34.
5
Vgl. Kathrin Audehm und Hans Rudolf Velten, »Einleitung«, in: Dies, (Hgg.), Transgression Hybridisierung Differenzierung. Zur Performativität von Grenzen in Sprache, Kultur und Gesellschaft. Freiburg i.Br., u.a. 2007 (=Scenae Bd. 4), S. 9–40.
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Erscheinungsformen der Grenze Die Grenze als abstrakte (Trenn-)Linie Mit Beginn der Grenzforschung wird die Materialität der Grenzlinie als notwendige Abstraktion erkannt. Friedrich Ratzel, der mit seiner Politischen Geographie von 18976 die Grenze in einen breiten wissenschaftlichen Diskurs integrierte, begreift die Grenze als lineare Markierung politischer Territorien: Grenzsetzungen sind immer politische Akte. Im Kontext der deutschen Zweistaatlichkeit ist die Einsetzung der Grenze in der Konferenz von Jalta 1945 beschlossen worden und wurde mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges durchgesetzt. Grenzen werden als politische Demarkationslinien eingesetzt, zugleich ist die Linearität eine Abstraktion tatsächlicher Gegebenheiten.7 Die Linienführung der Landkarte findet sich nicht in der Natur wieder. Eine Grenze ist auf ihre Definition angewiesen; daraus folgt als Konsequenz, dass Grenzen neu gezogen werden können und sie somit per se variabel sind. Die deutsch-deutsche Grenze war – wie vermutlich alle Staatsgrenzen – nicht als variabel konzipiert. Der Variabilität wurde etwa die Berliner Mauer als Monument entgegengesetzt und so der Versuch unternommen, die Grenze als möglichst scharfe Linie erscheinen zu lassen. Eine klare lineare Gestalt wurde inszeniert, um den Eindruck von Dauer und Stabilität zu erwecken. Die Form der klaren Grenzlinie ist aber auch im Fall der deutsch-deutschen Grenzlinie eine Abstraktion, schließlich wurde viel Aufwand betrieben um ein ›Ausfransen‹ etwa in Sperrgebieten zu verhindern.8 Veränderlich war die Grenze dennoch, sie nahm im Verlauf ihrere Existenz unterschiedliche Formen an, relevant ist etwa die verstärkte Absicherung ab 1952, in deren Zuge die deutsch-deutsche Grenze außerhalb von Berlin bereits weitgehend geschlossen wurde. Auch die Berliner
6
Vgl. Friedrich Ratzel, Politische Geographie, München 1897. Ratzels Überlegungen stehen am Beginn der Politischen Geographie und begründen deren problematische Tradition. Ratzels Konzept des umkämpften ›Lebensraumes‹ diente der nationalsozialistischen Ideologie zur Rechtfertigung der menschenverachtenden Expansionspolitik, vgl. Josef Matznetter, »Einleitung«, in: Ders. (Hg.), Politische Geographie, Darmstadt 1977, S. 1–27.
7
Lucien Febvre betont, dass die Linearität eine junge Vorstellung von der Grenze ist, vgl. ders., »Frontière – Wort und Bedeutung«, in: Ders., Das Gewissen des Historikers, hg. und übers. von Ulrich Raulff, Berlin 1988. S. 27–37, hier S. 32.
8
Vgl. dazu Inge Bennewitz und Rainer Potratz, Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze. Analysen und Dokumente, Berlin 42012 (=Forschungen zur DDRGeschichte, Bd. 4).
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Mauer hat ihre Gestalt mehrfach gewandelt: von der Menschenmauer zur Stacheldrahtbarriere, hin zu Maueranlagen verschiedener Generationen, die im Verlauf der Zeit zunehmend baufällig wurden.9 Das Ideal einer abstrakten Grenzlinie steht in einer langen Tradition, die auch heute noch relevant ist. Die Konzeption der Grenze als abstrakte und variable Linie hat sich in juristischen Diskursen durchgesetzt. Im Völkerrecht ist die axiomatische Territorialität eines Staates an lineare Grenzmarkierungen gebunden: »Der moderne Staat ist Gebietskörperschaft, oder er ist nicht.«10 Das Staatsterritorium sei vorwiegend von linearen Grenzen markiert. 11 Die Setzung der Grenze als Linie, ihre bewusste Abstraktion, ist dabei der Operationalisierbarkeit geschuldet: In abstrakten (juristischen) Zusammenhängen ist die Grenze nur in ihrer linearen Form zu handhaben. Diese Linearität, die der Definition ja selbst bedarf, begründet zugleich die Definitionskraft der Grenze. Die Trennschärfe einer klaren Linie ermöglicht erst die Unterscheidung zweier Staatsgebiete, bzw. zweier Teilbereiche im Allgemeinen; die Grenze ist damit eng mit der Etablierung von Binaritäten verbunden. Die Verschiebbarkeit von Grenzen, ihre temporäre Setzung, dominiert neben der definitionsbedürftigen Abstraktion als zweites Merkmal die geopolitische Vorstellung der Grenze. Jede Grenze bedarf der Geste der Einsetzung und kann (theoretisch) jederzeit aufgehoben oder verschoben werden. Ein Blick in die Geschichte bezeugt diese Variabilität – das vielfältige Erinnern an den Mauerfall 1989 und den folgenden Zusammenbruch der deutsch-deutschen Grenze führen dies regelmäßig vor. Grenzen sind unzweifelhaft veränderlich und nicht an eine ›natürliche‹ Raumordnung gebunden. Die Absage an naturalistische oder essentialistische Grenzkonzepte kann als Konsens in moderner Grenztheorie gelten.12
9
Kompakt erzählt Olaf Briese eine Geschichte der Mauer in: Ders., Steinzeit. Mauern in Berlin, Berlin 2011, bes. S. 344f.
10 Daniel-Erasmus Khan, Die deutschen Staatsgrenzen. Rechtshistorische Grundlagen und offene Rechtsfragen, Tübingen 2004, S. 10. Staatsgewalt und Staatsvolk (um die juristische Trias des Staates komplett zu machen) hingegen seien den globalen Herausforderungen angepasst und nicht allein territorial zu fassen. 11 Vgl. ebd., S. 26. 12 Vgl. dazu bereits 1928 die Äußerungen von Lucien Febvre in: Ders., »Frontière«, S. 34: »Muß man noch länger darauf herumreiten, daß diese Fluß- oder Küstengrenzen nichts ›Natürliches‹ haben, oder allgemeiner, daß der Geograph mit der Vorstellung von natürlichen Grenzen nichts anfangen kann, daß es nichts von der Natur für den
Die Grenze | 27
Zur Einsetzung der Grenze als Linie durch eine herrschaftliche Geste gesellt sich unter Berücksichtigung sozialgeschichtlicher Aspekte auch die gesellschaftliche Umsetzung der Grenze. Hans Medick plädiert für eine Art der Grenzforschung, die soziale und kulturelle Praktiken der Gesellschaft in den Grenzbildungsprozessen miteinbezieht und die Wechselwirkung zwischen herrschaftlicher Grenzsetzung und gesellschaftlicher Grenzumsetzung herausstellt. 13 Er argumentiert überzeugend und unter Rückgriff auf internationale Studien, dass Grenzen nicht allein von der Staatsgewalt gezogen werden, sondern dass soziale Prozesse bei der Grenzziehung eine bedeutende Rolle spielen.14 Medick fordert daher eine politische Sozialgeschichte der Grenze, da jede abstrakte Grenzsetzung auf eine praktische Grenzumsetzung angewiesen sei.15 Fundamental für eine solche grenztheoretische Perspektive sind Georg Simmels Überlegungen zur Raumsoziologie, in deren Mittelpunkt das gesellschaftliche Handeln steht. Simmel formuliert: »Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.«16 Der Fokus verschiebt sich hier, wie später von Medick gefordert, auf die gesellschaftlichen Verhältnisse an der Grenze. Es sind die soziologischen Prozesse der Gruppenbildung, die territoriale Grenzziehungen erst hervorbringen. Diese Vorstellung betont, dass soziale Grenzziehungen nicht
Menschen ›fertig gegebenes‹ gibt, nichts was die Geographie der Politik aufgezwungen hätte?« 13 Vgl. Hans Medick, »Grenzziehungen und die Herstellung des politisch-sozialen Raumes. Zur Begriffsgeschichte und politischen Sozialgeschichte der Grenzen in der frühen Neuzeit«, in: Richard Faber und Barbara Naumann (Hgg.), Literatur der Grenze – Theorie der Grenze, S. 211–224. 14 Medick bezieht sich explizit auf die Studie von Peter Sahlins, Boundaries. The Making of France and Spain in the Pyrenees, Berkeley 1989. 15 Mit Medick schwenkt der Blick zu praxeologischen Grenzvorstellungen, die besonders im sozialwissenschaftlichen Diskurs zum Tragen kommen – und wie sie im Ident2-Projekt an der Universität Luxemburg entwickelt wurden: Die Bevölkerung in Grenzräumen setze durch unterschiedliche Verhaltensweisen die Grenze um oder verschiebe sie sogar. Vgl. Christian Wille u.a. (Hgg.), Räume und Identitäten in Grenzregionen. 16 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt a.M. 1992 [1908], S. 623.
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zwangsläufig mit staatlichen Territorialgrenzen kongruent sind, sondern permanent ausgehandelt werden.17 In Bezug auf die deutsch-deutsche Grenze wurde die (stabilisierende) Umsetzung der Grenze institutionell forciert, so war das Ministerium für Staatssicherheit u.a. auch für die Fluchtverhinderung zuständig und konnte mithilfe inoffizieller Mitarbeiter an der Umsetzung der Grenze gewaltsam mitwirken. 18 Hinzu kommt die großflächige gesellschaftliche Akzeptanz der Grenze in Ost und West, die Einhaltung von Vorschriften und Bestimmungen ist Teil der Umsetzung der Grenze. Der Blick auf die gesellschaftliche Umsetzung von Grenzen eröffnet schließlich eine neue Perspektive auf die Erscheinung der Grenze: In der gesellschaftlichen Umsetzung der Grenze schwindet die differenzierende Kraft der Linie, die Grenze wird als Handlungsraum erfahren. Die Grenze wird in ihrer Umsetzung so zu einer Grenzzone. In ihrer Ausdehnung wird die Grenze zu einem Raum des Kontakts und der Vermittlung. Die Grenze als (Kontakt-)Zone Neben der abstrahierten Vorstellung der Grenze als Trennlinie steht die Vorstellung der Grenze als ausgedehnter Raum. Die Grenze erscheint in der Grenzforschung als Vexierbild: Ihre Erscheinung schwankt je nach Forschungsschwerpunkt zwischen Linie und Zone. Zonale Grenzvorstellungen dominieren die Beschreibungen der Grenze in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, dabei
17 Die Notwendigkeit der Grenzumsetzung zeigt sich in der langen Tradition von Grenzritualen, durch die Grenzen konstituiert oder restituiert werden. Einen Überblick bietet bereits Jacob Grimm, vgl. ders., »Deutsche Grenzalterthümer. Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 27. Juli 1843«, in: Ders., Kleinere Schriften Bd. II. Abhandlungen zur Mythologie und Sittenkunde, Hildesheim 1965, S. 30–74. Ein Beispiel für solche Grenzrituale ist der Grenzgang, bei dem turnusmäßig die Grenzen einer Gemeinde abgeschritten werden. Literarisch greift Stephan Thome in seinem Roman Grenzgang von 2009 diese kulturelle Tradition auf, die bis heute in Reminiszenzen überdauert. 18 Vgl. Hendrik Thoß, Gesichert in den Untergang. Die Geschichte der DDRWestgrenze, Berlin 2004; Lothar Lienicke und Franz Bludau, Todesautomatik. Die Staatssicherheit und der Tod des Michael Gartenschläger an der Grenzsäule 231, Hamburg 2001.Vgl. allg. zum Ministerium für Staatssicherheit bes. Roger Engelmann (Hg.), Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR, Berlin 2011.
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sind diese zonalen Grenzvorstellungen keineswegs neu, sie existieren parallel zu linearen Modellen der Grenze. Das Grenzgebiet als Niemandsland zwischen zwei Hoheitsgebieten wird häufig sogar als Vorläufer zur modernen Grenzlinie stilisiert.19 Dieser Prozess sei an die Entwicklungslogik moderner Staatsbildung gebunden, wie Stefan Kaufmann et al. ausführen: Die Ausbildung der Nationalstaaten gehe mit einer Linearisierung der Grenze einher.20 Kaufmann et al. orientieren sich u.a. an Lucien Febvre, der in diesem Zusammenhang auf den militärischen Impetus verweist, der der linearen Vorstellung der Grenze als Frontlinie innewohne; im Vergleich dazu betone das zonale Grenzmodell die freundschaftliche Verbundenheit und biete Raum für grenzüberschreitende Beziehungen. Die Ambiguität ist der Grenze a priori zu eigen, sie kann als Konfliktauslöserin oder aber als Initiatorin von befriedenden Prozessen angesehen werden. Bereits 1843 führt Jacob Grimm in einer Vorlesung aus: »Sie [die Grenze] musz nicht blosz als trennendes, sondern zugleich als einigendes prinzip behandelt werden, aus welchem neben der nothwendigen scheide ein band der nachbarschaft und gemeinschaft sich entfaltete [...].«21 Die deutsch-deutsche Grenze ist nur schwer als Zone vorstellbar, auch wenn der Begriff »Zone« pars pro toto zur Zeit der Zweistaatlichkeit virulent war. Zwar hatten auch die Berliner Mauer und die Staatsgrenze außerhalb von Berlin einige räumliche Ausdehnung, belebt war dieser Streifen aber kaum.22 Als Zone ist die Grenze in diesem Fall daher nur im übertragenen Sinne wahrgenommen worden, indem es etwa Austausch und grenzüberschreitende Kontakte in Form von Briefen, Päckchen und privaten Besuchen gab, auch wenn diese streng reglementiert waren. Besonders die Aufforderung auch Westpakete zu spenden, also
19 Andreas Rutz äußert plausible Vorbehalte gegen diese entwicklungslogische Perspektive: Die Linie habe die Zone nicht abgelöst, sondern sei als parallele Erscheinungsform der Abgrenzung anzusehen. Vgl. ders., »Grenzen im Raum – Grenzen in der Geschichte. Probleme und Perspektiven«, in: Eva Geulen und Stephan Kraft (Hgg.), Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur, S. 7–32. 20 Stefan Kaufmann, Ulrich Bröckling und Eva Horn, »Einleitung«, in: Dies. (Hgg.), Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin 2002, S. 7–22, hier S. 15f. 21 Jacob Grimm, »Deutsche Grenzalterthümer«, S. 31. 22 Ausnahmen bestätigen die Regel; rückblickend bildete die Grenze einen geschützten Lebensraum für Kaninchen und andere heimische Wildtiere, so dass die Grenze auf dem Weg zum Naturschutzgebiet ist. Vgl. Ulrich Harteisen u.a., Grünes Band – Modellregion für Nachhaltigkeit: Abschlussbericht des Forschungsvorhabens, Göttingen 2010.
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an Unbekannte zu schicken, 23 ermöglicht es, auch in der deutsch-deutschen Grenze das Potenzial zur Stiftung nachbarschaftlicher Beziehungen aufzuspüren. Auch der Medienphilosoph Vilém Flusser positioniert sich gegen ein lineares Verständnis der Grenze und das Denken in Binaritäten; er bezeichnet die Grenzlinie als »Hypokrisie«.24 Nach Flusser wird die Grenze immer als Raum erfahren, der das Verhältnis zweier Bereiche ausdrückt. Im Rückgriff auf die fuzzy logic in der Mathematik führt Flusser in diesem Kontext die Formen der »overlaps« (auch: graue Zonen) und »fuzzy sets« (auch: struppige Mengen) ein.25 In der Form der overlaps greifen verschiedene Bereiche ohne Rücksicht auf offizielle Grenzziehungen ineinander. Rainer Guldin findet dafür das Bild ineinander verschränkter Finger. Im Modell der fuzzy sets löst sich die Grenzvorstellung gänzlich ab vom binären Denken in Oppositionen. Flusser weitet die Grenze räumlich aus, so dass graduelle Zugehörigkeiten möglich werden: »Die Zugehörigkeit zum einen oder anderen System ist dabei nicht eine prinzipielle, sondern bloß eine graduelle. [...] Zugehörigkeit ist dadurch nicht mehr einer prinzipiellen binären Logik des Aus- und Einschlusses unterworfen, sondern einer rein graduellen, was ermöglicht, das ein Element zugleich mehreren verschiedenen widersprüchlichen Bereichen zugeordnet wird, denen es jedoch jeweils nur teilweise angehört.«26
Die Denkfiguren der fuzzy logic ermöglichen es, Trennung und Verbindung durch die Grenze zugleich zu denken. Die Grenze wird mit Flusser zu einem Übergangsbereich, der weniger ausschließend als einschließend wirkt. Flussers Kritik an linearen Grenzentwürfen ist somit keine pauschale Absage an die Grenze, vielmehr betont sie deren Komplexität: Auf der Grenze werden Widersprüche und Gegensätze vermittelbar. Die Übernahme der Denkfiguren der fuzzy logic eröffnen eine Perspektive auf die Grenze, die Binäroppositionen und Hierarchien eine Absage erteilt, die Grenze aber als Notwendigkeit anerkennt und sie als ambigen Kontaktraum etabliert.
23 Vgl dazu Petra Kabus, »Liebesgaben für die Zone. Paketkampagnen und Kalter Krieg«, in: Christian Härtel und Petra Kabus (Hgg.), Das Westpaket. Geschenksendung, keine Handelsware, Berlin 2000, S. 121–136. 24 Vilém Flusser, Zwiegespräche. Interviews 1967–1991, Göttingen 1996, S. 94. 25 Zu Flusser vgl. Rainer Guldin, »Ineinandergreifende graue Zonen. Vilém Flussers Bestimmung der Grenze als Ort der Begegnung«, in: Christoph Kleinschmidt und Christine Hewel (Hgg.), Topographien der Grenze, S. 39–48. 26 Ebd., S. 40f.
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Die Idee der Grenze als Kontaktzone geht auf Mary Louise Pratt zurück, die den Begriff der contact zone in den 1990er Jahren einführt. Pratt betont das interaktive Moment der Grenze als Zone: Hier treffen Kulturen aufeinander und treten in Kontakt zueinander, allerdings wird hier keine neue, harmonisierte Ordnung etabliert. Die Beziehungen werden vielmehr in der Interaktion ausgelotet ohne festgelegt zu werden: »›contact zone‹ is an attempt to invoke the spatial and temporal copresence of subjects previously separated by geographic and historical disjunctures, and whose trajectories now intersect.«27
Der Kontakt, also die Kopräsenz, Interaktion und Verwobenheit, steht dabei im Vordergrund, Pratt hebt ausdrücklich hervor, dass innerhalb der Kontaktzone Differenzen nicht zwangsläufig aufgehoben werden. Die Grenze als Kontaktzone lädt zum Austausch ein, ohne dass der eigene Standpunkt aufgegeben werden müsste. Durch die Fokussierung des Austausches ist die Grenzzone mit Pratt nicht mehr allein geographisch bestimmt. Die Grenze wird zu einer allgemeinen Zone der dialogischen Begegnung, die ausdrücklich keine Nivellierung der Unterschiede voraussetzt oder zur Folge haben muss. Das Modell der Kontaktzone hebt die Grenze als Markierung der Differenz nicht auf, sondern fügt ihr eine verbindende Funktion hinzu, wie es auch bei Flusser angelegt ist. Die Modellierung der Grenze als Raum hebt die Komplexität der Grenze besonders hervor. Die Grenze zeigt sich als Vexierbild, das von der Linie zur Zone werden kann, Trennung und Verbindung miteinander vermittelt und gleichzeitig Differenzierung, Transgression und Transformation als Grenzdynamiken evoziert. Diese Grenzdynamiken selbst bieten sich zur literarischen Gestaltung an und provozieren eine literarische Auseinandersetzung mit der Grenze, so dass die Grenze selbst literarisch wirksam werden kann.
27 Mary Louise Pratt, Travel Writing and Transculturation. London, New York 1992, S. 7.
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Grenzdynamiken Grenzsetzung: Differenzierung und Sinnbildung Die Differenzierung als eine Grenzdynamik basiert auf der Unterscheidungskraft der Grenze, diese steht im Kontext ihrer linearen Erscheinungsform. Das Setzen einer Grenze bedeutet Unterscheidung und Ordnung. Die Grenze erscheint hier zunächst als Markierung einer Unterscheidung, einer Trennung des Einen vom Anderen; hier können binäre Oppositionen etabliert werden. Indem verschiedene Phänomene differenziert werden, werden sie kategorisiert, polarisiert und hierarchisiert,28 die so entstandene Differenz markiert die Grenze. Grenze und Differenz sind dabei nicht synonym zu lesen, sondern die Grenze zeigt sich hier als Produkt (bzw. Markierung) und Produzentin von Differenz, sie enthüllt auch hier ihren dualen Charakter.29 Die Differenzbildung und die Produktion von Ordnungen verweisen dabei deutlich auf den politischen Charakter der Grenze: Die Etablierung einer Ordnung durch Differenzierung ist per se politisch wirksam. Die durch Grenzziehung und Differenzierung etablierte Ordnung konstituiert homogen erscheinende Einheiten, die ihrerseits durch die Grenze zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Hier finden sich agonale Konstellationen, wie die Gegenüberstellung von Feinden oder Konkurrenten. So veranschaulicht etwa die Ausstattung der deutsch-deutschen Grenze mit militärischem Personal, Wachtürmen und Schießanlagen die politische Systemkonkurrenz des Kalten Krieges und trägt zur Etablierung dieser Ordnung bei. Die Produktion von Ordnungen zeigt dabei zusätzlich, dass die Grenze nicht nur eine Markierung ist, sondern im Bereich von Kunst und Kultur auch als »Sinnbildungsmechanismus«30 fungiert. Die Einsetzung von Grenzen geht einher mit der Stiftung von Bedeutungen, Symbolen und Werten: »Es handelt sich um die Grenzziehung als wertbezogene Grenzbildung – im System der Kultur ist Grenzbildung eine Formen- und Zeichenbildung und somit Sinnverleihung, also Kulturbildung.«31
28 Vgl. Kathrin Audehm und Hans-Rudolf Velten, »Einleitung«, S. 17. 29 Vgl. Monika Eigmüller, »Der duale Charakter der Grenze«. 30 Vgl. Nikolaj T. Rymar, »Die Grenze als Sinnbildungsmechanismus«, in: Christoph Kleinschmidt und Christine Hewel (Hgg.), Topographien der Grenze, S. 159–169. 31 Ebd., S. 159. Mit Monika Schmitz-Emans verortet Rymar jede Kunst in einem Grenzraum, da jede künstlerische Äußerung neue Grenzen innerhalb der Kultur ziehe. Vgl. auch Monika Schmitz-Emans, »Zur Semantik der Grenze und zu Formen der Grenz-
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Die Differenzierung als Grenzdynamik verweist also nicht zwangsläufig auf eine Trennung, sondern ist als ordnender Mechanismus produktiv. Die Grenze ist also gestalterisch wirksam. Als territoriale Grenze ist sie politisch wirksam, und als literarisch inszenierte Grenze ist sie ästhetisch wirksam, wie später gezeigt wird. Auch im Kontext der Differenzierung als gestalterische Dynamik zeigt sich der bereits erwähnte duale Charakter der Grenze: Die Differenzierung als Grenzsetzung etabliert eine Grenze als Trennlinie. Die Grenze wird dabei mitunter als einschränkend erfahren. In der Beschränkung impliziert die Grenze ihre eigene Überwindung: entweder in der Negierung und Tabuisierung der Grenzüberschreitung oder indem ihre Überwindung provoziert wird. Grenzüberwindung: Die Aufhebung als Grenzerfahrung Die Überschreitung ist integraler Bestandteil der Grenze, die Grenze enthält immer ihre eigene Überwindung, als Tabu oder als Aufforderung. Auch diese Paradoxie ist elementar für die Grenze. Mit deutlichen Worten konstatiert Michel Foucault: »Die Grenze und die Überschreitung verdanken einander die Dichte ihres Seins: Eine Grenze, die absolut nicht überquert werden könnte, wäre inexistent; umgekehrt wäre eine Überschreitung, die nur eine scheinbare oder schattenhafte Grenze durchbrechen würde, nichtig.«32
Die Überwindung der Grenze ist demnach nicht einfach ihre Aufhebung, oder die Infragestellung ihrer Gültigkeit, sondern der elementare Modus zur Erfahrung der Grenze. Auch Kaufmann et al. verdeutlichen, wie abhängig die Existenz der Grenze von der Grenzüberschreitung ist. Die in dem Sammelband enthaltenen Beiträge zu verschiedenen Formen der Grenzverletzung zeigen auf, wie die Grenze verhandelt wird. Grenzüberwindungen können demnach verschiedene Wirkungen erzielen. Regulierte und somit geplante Grenzüberschrei-
ziehung«, in: Nikolaj T. Rymar (Hg.), Poetik des Rahmens und der Schwelle. Funktionale Formen der Grenze in den Sprachen der Künste. Poetika ramy i poroga. Funkcional’nye formy granici v hudozestvennom jazike. Samara 2006 (= Grenzen und Grenzerfahrungen in den Sprachen der Kunst, Bd. 4), S. 11–28. 32 Michel Foucault, »Vorrede zur Überschreitung«, in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 1 1954-1969. Hg. von Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt a.M. 2001[1963], S. 320–342, hier S. 325.
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tungen sind tendenziell affirmativ: Die Überwindung einer Grenze unter Beachtung der gültigen Regeln reproduziert diese Grenze und bestätigt ihre Gültigkeit. Reglementierte Grenzüberschreitungen wirken also eher stabilisierend, da die Anforderungen zur Überschreitung eingehalten werden und die Grenze selbst somit akzeptiert wird. Der deutsch-deutsche Grenzgänger, der also die Formalitäten ein- und notwendige Papiere bereithält, und sowohl die Auflagen für den Passierschein erfüllt als auch den Anweisungen der Grenzbeamten folgt, trägt trotz ihrer Überwindung auch zum Erhalt der Grenze bei, da Grenze und Grenzregime akzeptiert und respektiert werden. Erst die unregulierte Überschreitung stellt die Grenze in Frage. Diese subversive Form der Grenzüberschreitung ist meist illegal und wird als Bedrohung wahrgenommen. Die Grenze wird nicht akzeptiert und ihre Macht wird ignoriert. Illegale Wege über die deutschdeutsche Grenze gab es erstaunlich viele: ob mit gefälschten Papieren auf offiziellen Wegen oder in Kofferräumen und Geheimverstecken, ob in der Luft, unter der Erde oder durch das Wasser. Alle spektakulären oder stillen Fluchten über die deutsch-deutsche Grenze zeugen davon, dass die Grenze eben nicht akzeptiert wurde. Positiv gewendet ist der subversiven Grenzüberwindung ein transformatives Potenzial inhärent: Die subversiven Überschreitungen können schließlich die Aufhebung der Grenze nach sich ziehen. Die Annahme, subversive Transgressionen würden langfristig automatisch zu einer Liberalisierung der Grenze führen, ist aber irreführend. Die Grenzverletzung zieht nicht selten eine verstärkte Absicherung der Grenze nach sich. Kaufmann et al. resümieren, dass die Überschreitung nicht nur zu Perforation von Grenzen führe, sondern eben auch zu deren verstärkter Absicherung.33 In der Überwindung der Grenze wird nicht allein die Grenze selbst erfahrbar, sondern sowohl das trennende und einschränkende Potenzial von Grenzen, als auch deren entgrenzendes und verbindendes Potenzial. Die Grenzüberschreitung impliziert einen Kontakt über die Grenze hinweg, die Überwindung der Grenze macht die Grenze nicht allein als Beschränkung, sondern ebenfalls als Brücke
33 Vgl. Kaufmann u.a. »Einleitung«, S. 10. Roland Bogards spricht in einem ähnlichen Zusammenhang von der »kulturkonstitutive[n] Funktion der Grenzwesen«; an der tendenziell prekären Grenze werde das Zentrum »definiert, stabilisiert, konstituiert«. Vgl. ders., »Liminale Anthropologien. Skizze eines Forschungsfeldes«, in: Jochen Achilles, Roland Borgards und Brigitte Burrichter (Hgg.), Liminale Anthropologien. Zwischenzeiten, Schwellenphänomene, Zwischenräume in Literatur und Philosophie, Würzburg 2012, S. 9–13, hier S. 11.
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erfahrbar; die Grenze stiftet Nachbarschaft.34 Die Überwindung der Grenze ist eine ebenso elementare Dynamik wie deren Einsetzung; die Grenze vereinigt daher sowohl ein trennendes als auch ein verbindendes Potenzial. Darin erkennt Dieter Lamping die »Dialektik« der Grenze: »Die Trennung [durch die Grenze] ist jedoch nicht unbedingt absolut. An der Grenze kommt das Verschiedene und das Unterschiedene in einem doppelten Sinne zusammen: Es trifft aufeinander, und es geht ineinander über. Insofern ist die Grenze nicht nur der Ort der Unterscheidung und der Abgrenzung, sondern auch der Ort des Übergangs, der Annäherung und der Mischung. Sie ist Anfang und Ende zugleich, und daraus erwächst ihre besondere Dialektik: Keine Grenze ohne Grenzübertritt. Ohne ihre eigene Überwindung, ihre eigene Aufhebung ist sie kaum zu denken.«35
In ihrer Komplexität erweist sich die Grenze einmal mehr als Vexierbild, sie erscheint als Beschränkung und als Brücke, als Linie und als Zone. Die Grenze unterscheidet durch Differenzierung, sie verbindet aber auch, indem sie zwei Seiten in Beziehung zueinander setzt und durch die Grenzüberschreitung ermöglicht sie Kontakt. Ihr verbindendes Potenzial verweist auf das Verständnis der Grenze als Kontaktzone. In ihrer Ausdehnung wird die Grenze aber nicht nur zum Kommunikationsraum, sondern auch zu einem transformativen Raum. Grenzausdehnung: Die Grenze als liminale Schwelle In ihrer Ausdehnung ist die Grenze als Zone oder Schwelle denkbar, sie wird zu einem multidimensionalen Raum, in dem die Beziehungen zwischen dem Diesseits und dem Jenseits der Grenze verhandelt werden. Sie kann also den Zwischenraum – oder die Kontaktzone – zwischen zwei definierten Einheiten bilden, oder den Raum zur Überblendung unterschiedlicher gradueller Zugehörigkeiten, wie es im Modell Flussers dargestellt wurde.36 Der Blick auf die Grenze in ihrer Ausdehnung eröffnet den Blick für verschiedene Beziehungen über die Grenze hinweg. Dabei können entweder Hierarchien und Binäroppositionen vollständig aufgehoben werden oder die ausgedehnte Grenze wird zu einem Raum der dialogischen Begegnung, der nicht zwangsläufig in einer harmonisierenden Utopie
34 Vgl. Jacob Grimm, »Deutsche Grenzalterthümer«, bes. S. 31. 35 Dieter Lamping, Über Grenzen, S. 13. 36 Hier lässt sich auch die Vorstellung von Hybridität anschließen, wie es auch bei Kathrin Audehm und Hans-Rudolf Velten der Fall ist, vgl. dies., »Einleitung«, bes. S. 30ff.
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aufgeht, sondern Differenzen aufrechterhält, wie es Pratt in ihrem Modell der Kontaktzone skizziert. In der Vorstellung der Grenze als Schwelle tritt insbesondere das Moment der Interaktion zu den Denkfiguren der Differenzierung und der Transgression (oder Grenzüberwindung) hinzu. Darüber hinaus tritt zur Erfahrung der Grenze als Zwischenraum besonders das transformative Potenzial, das in dem Modell der Liminalität relevant wird. Essentiell dafür ist die Arbeit des Ethnologen Victor W. Turner, der den Begriff der Liminalität geprägt hat. Turner geht von Arnold van Genneps dreiphasigen Modell des Übergangsritus aus: 37 Auf eine Phase der Loslösung folgt die Transformationsphase und schließlich eine Phase der Wieder eingliederung. Übergangsriten beziehen sich dabei auf den Übertritt in neue Lebensphasen, Änderungen des sozialen Status oder auch Aufbruch zu und Wiederkehr von langen Reisen. Diese »Wendepunkte des Lebens«38 sind zunächst krisenhafte Erfahrungen, die potenziell destabilisierend wirken. Mithilfe der Übergangsrituale werden sie letztlich in bestehende Strukturen eingegliedert; die Riten wirken so sinnstiftend. Die bedrohliche Krise, das Verlassen einer gesicherten sozialen Position zugunsten einer neuen, wird ritualisiert in eine Ordnung überführt. Van Gennep stellt erstmals ein »brauchbares Modell zur Erfassung von dynamischen Elementen gesellschaftlicher und individueller Wirklichkeit«39 zur Verfügung, das von Turner als universales Prinzip anerkannt wird. Turner greift diese Ideen folglich auf und fokussiert im Besonderen die mittlere Phase des Übergangs, die liminale Phase. Diese wird von den Betreffenden, so genannten Schwellenwesen, als Zwischenstadium der Unbestimmtheit erfahren: »Schwellenwesen sind weder hier noch da; sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen.«40
Die bekannten Ordnungsmuster und Hierarchien sind temporär aufgehoben, die liminale Phase bietet Raum für Innovation und Transformation.
37 Vgl. dazu Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage), übers. von Klaus Schomburg und Sylvia M. Schomburg-Scherff, mit einem Nachwort von Sylvia M. Schomburg-Scherff, Frankfurt a. M., New York 1999 [1908]. 38 Peter J Bräunlein, Zur Aktualität von Victor W. Turner. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden 2012, S. 52. 39 Ebd. 40 Victor W. Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a.M., New York 1989, S. 95.
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Turner entwickelt durch die Betrachtung der liminalen Phase ein abstraktes und vielfach anschlussfähiges Modell des Übergangs. Wesentlich dabei ist die Unterscheidung zwischen dem geordneten Statussystem und dem transformativen Schwellenzustand. Der Schwellenzustand wird von Turner als »communitas« bezeichnet; statt von Hierarchie und Heterogenität ist er bestimmt von Homogenität, Statuslosigkeit, Gleichheit. Die gesellschaftlichen Fixierungen sind temporär ausgesetzt und werden im Anschluss an die Transformation restituiert. Die Ordnung der Sozialstruktur verändert sich dabei nur insofern, als dass die vormaligen »Schwellenwesen« eine neue soziale Position einnehmen. Turners Liminalitätsbegriff lässt sich als abstraktes Modell vielfältig anschließen. Schon Clifford Geertz attestierte dem Modell eine nahezu universale Anschlussfähigkeit, Turners Ursprungsidee des sozialen Dramas, die Verquickung von sozialem und kulturellem Handeln sei »a form for all seasons.« 41 Turners Konzept der Liminalität lässt sich unschwer auf das komplexe Phänomen der Grenze übertragen: Während Turners liminale Phase zeitlich gefasst ist, stellt die Grenze, als Schwellenraum, ihr räumliches Pendant dar. Auf der Grenze ist die Liminalität als temporäre Aufhebung von gesellschaftlichen Fixierungen erfahrbar. Mit der Überschreitung verlässt man ein etabliertes Ordnungsmuster und erlebt eine Phase der Unbestimmtheit. Übertragen auf kulturwissenschaftliche Untersuchungen lässt sich Liminalität mit Joachim Achilles et al. fassen als »ein ausgedehntes Dazwischen, das sich in drei Dimensionen entfalten kann: zeitlich (zwischen vorher und nachher), systematisch (zwischen dem einen und dem anderen) und räumlich (zwischen hier und dort)«, damit werde die Grenze selbst zu einer »Zone, innerhalb derer Positionen und Relationen stets neu ausgehandelt werden müssen.«42 Die Grenze als Zone wird so zum Schauplatz für liminales Erleben, hier findet ein transformativer Prozess statt, der zwischen Reintegration und Ablösung, zwischen Rebellion und Konvention 43 vermittelt und sich einer eindeutigen Festlegung verweigert. Die Literatur der Grenze transponiert u.a. diese Grenzdy-
41 Clifford Geertz, Local Knowledge. Further Essays in interpretative Anthropology, New York 1983, S. 28. Geertz erkennt in dieser Schwäche zugleich eine Stärke in der enormen Anschlussfähigkeit. Außerdem ist hier anzumerken, dass sich die Kritik besonders auf die Metapher des »sozialen Dramas« bezieht, die in der Tat virulent ist. 42 Beide Zitate aus Jochen Achilles, Roland Borgards, Brigitte Burrichter, »Vorwort«, in: Dies. (Hgg.), Liminale Anthropologien, S. 7–8, hier S. 7. 43 Vgl. Jochen Achilles, »Liminalität und Heterotopie. Grundstrukturierungen amerikanischer Erzählliteratur«, in: Jochen Achilles, u.a. (Hgg.), Liminale Anthropologien, S. 145–160, hier S. 147.
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namik, so dass die Grenze in der Literatur verhandelt wird, aber zugleich die Literatur mitgestaltet. Zur Anschlussfähigkeit grenztheoretischer Konzepte an die literaturwissenschaftliche Forschung Die Vielgestaltigkeit der Ergebnisse interdisziplinärer Grenzforschung bietet eine Fülle an Anschlussmöglichkeiten an die kultur- und literaturwissenschaftliche Forschung. Besonders deutlich wird das am Beispiel der Liminalität, die ausdrücklich auf die Analyse narrativer Modelle gewirkt hat. Clifford Geertz verweist explizit auf pikareske Erzählungen; und auch phantastische Literatur lässt sich mit der Liminalität als analytische Kategorie hervorragend greifen. 44 Das Modell der Reise, als transformativer Prozess, referiert ebenfalls auf die Liminalität, wie etwa Michaela Krützen in ihrer filmwissenschaftlichen Studie darlegt. Krützen sieht die Struktur der Reise des Helden als zentrales Muster des Hollywood-Kinos und belegt ihre These an diversen Beispielen. Sie nimmt allerdings an keiner Stelle Bezug zu Turner, strukturell lassen sich aber deutliche Parallelen erkennen.45 Krützen arbeitet die Narrativität der transformativen Reise heraus: Das Modell der transformativen Reise, die der Grenzüberschreitung im Sinne Turners entspricht, liegt einer Vielzahl erzählter Geschichten zu Grunde. Krützens Ergebnis ist unschwer auch auf die Literatur übertragbar. Rolf Parr verweist explizit auf die Narrativität des Modells der Liminalität, wie es in den Untersuchungen zu Übergangsriten erarbeitet wurde, und verknüpft es ausdrücklich mit der literarischen Tradition des Bildungsromans.46 Die im Bildungs-
44 Rolf Parr zeigt Turners Anschlussfähigkeit auf und argumentiert mit Anette Simonis, Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur. Einführung in die Theorie und Geschichte eines narrativen Genres, Heidelberg 2005 (=Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 220), vgl. Rolf Parr, »Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modellierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literatur- und Kulturwissenschaft«, in: Achim Geisenhanslüke und Georg Mein (Hgg.), Schriftkultur und Schwellenkunde, Bielefeld 2008. S. 11– 63, hier S. 42f. 45 Vgl. Michaela Krützen, Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt, Frankfurt a.M. 2010. Krützen arbeitet jedoch nicht mit dem Begriff der Liminalität und betont auch keine communitas-ähnliche Phase der Liminalität, doch findet in jedem Fall eine Transformation statt, die auf ein Moment der Instabilität reagiert. 46 Vgl. Rolf Parr, »Liminale und andere Übergänge«, S. 45f. Exemplarisch ausgeführt wird dieser Ansatz sehr überzeugend etwa von David E. Wellberry, »Rites de passage.
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roman erzählte Entwicklungsgeschichte stellt die Selbstfindung und gesellschaftliche Integration als einen transformativen Übergang dar. Die Nähe von Entwicklungsnarrativen und Liminalität betont Jochen Achilles ebenfalls im Zusammenhang mit der angelsächsischen Tradition der Initiationserzählung: »Im Hinblick auf die Genrespezifik der Erzählliteratur kann das metaphorisch-liminale Prinzip die Form des Bildungsromans, Erziehungsromans und, namentlich im angelsächsischen Raum, der Initiationsgeschichte annehmen, wobei das anthropologische Dreiphasenmodell die Grundlage bildet und häufig weitgehend übernommen wird.«47
Entwicklungsgeschichten nach dem Modell des Bildungsromans erzählen mithin auch Geschichten des Übergangs und vermitteln somit Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen. Solche Entwicklungsnarrative werden mitunter an der deutsch-deutschen Grenze verortet und stellen einen Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Neben ihrem transformativen Potenzial spielt auch die differenzierende Funktion der Grenze eine Rolle in der kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung. In Jurij Lotmans Werk Die Struktur literarischer Texte spielt die Grenze eine maßgebliche Rolle. Literatur ist nach Lotman ein semiotisches System, in dem eine Welt modelliert wird. Konstitutiv dafür ist die Raumstruktur dieser Welt, die sich in Relationen ausdrückt (hoch vs. niedrig, links vs. rechts, etc.). Die Differenzierung macht die Grenze zum »zentralen Strukturmerkmal« 48, sie teilt den (literarischen) Raum qualitativ auf und konstituiert somit den erzählten Raum als Weltmodell.49 Nach Lotman basiert aber nicht allein der Raum als Hintergrund auf der Grenze, sondern auch das literarische Geschehen. Mit Lotman generiert die Grenze Geschichten: Jedes literarische Ereignis ist im Kern die Überschrei-
Zur Struktur des Erzählprozesses in E.T.A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla«, in: Ders., Seiltänzer des Paradoxalen. Aufsätze zur ästhetischen Wissenschaft, München, Wien 2006, S. 118–145. 47 Jochen Achilles, »Liminalität und Heterotopie«, S.148f. 48 Karl Nikolaus Renner, »Grenze und Ereignis. Weiterführende Überlegungen zum Ereigniskonzept von Jurij M. Lotman«, in: Gustav Frank und Wolfgang Lukas (Hgg.), Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Festschrift für Michael Titzmann, Passau 2004, S. 357–381, hier S. 358. 49 Vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1993 [1972], S. 327.
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tung einer Grenze,50 Lotmans Theorie des Ereignisses ist eine Theorie der Grenze. Die Erkenntnis, dass die Grenze und ihre Überschreitung Geschichten generieren, verweist deutlich darauf, dass die Grenze ein poetologisches Potenzial besitzt. In der literarischen Auseinandersetzung spielt also nicht nur die Grenze als transformative Schwelle eine Rolle, sondern auch ihre anderen Erscheinungsformen und die von ihr evozierten Dynamiken. Literarisch findet eine Auseinandersetzung mit der Grenze statt, wenn binäre Oppositionen revitalisiert und Differenzierungen ästhetisch gestaltet werden, ebenso, wenn diese aufgehoben werden, wenn die Grenze überschritten wird oder ästhetisch eine Entgrenzung stattfindet. Die Grenze, und hier besonders die reale deutsch-deutsche Grenze, wird in der Literatur nicht nur abgebildet, sondern stellt eine Herausforderung für das literarische Schaffen dar. Die Grenze initiiert neue Geschichten und verlangt darüber hinaus auch die Auseinandersetzung mit der literarischen Form. Gerade die Komplexität der Grenze – als Linie und Zone, als Beschränkung und Brücke – fordert das Schreiben heraus. In der deutsch-deutschen Grenze zeigt sich die Komplexität der Grenze besonders deutlich, da die historisch-politische Grenze die Paradoxien der Grenze als Raumphänomen betont. Die deutsch-deutsche Grenze trennt zwei deutsche Staaten, die in Systemkonkurrenz zueinander stehen und doch beständig aufeinander bezogen bleiben. Die Kombination von Trennung und Verbindung, die jeder Grenze zu eigen ist, wird im deutsch-deutschen Verhältnis intensiver erlebt. Die Intensität dieser Grenze zeigt sich auch in der literarischen Auseinandersetzung innerhalb der deutsch-deutschen Literatur der Grenze, die die Grenze nicht nur darstellt, sondern ihre Komplexität auch dezidiert literarisch verhandelt. Die Grenze gestaltet die Literatur mit. Es stellt sich also nicht nur die Frage nach dem Was des Erzählens, sondern besonders die Frage nach dem Wie. Wie wird die Grenze literarisch inszeniert, und auf welche Weise prägt die Existenz der Grenze das literarische Schaffen? Die Grenze kann als literaturimmanent betrachtet werden, sie ist eine »literarische Kategorie«51 auf der das Schreiben aufbaut. Diese Hypothese einer Poetik
50 Ebd., S. 332. Die Grenze ist dabei keine geographische Markierung, sondern eine semantische bzw. qualitative Grenze. 51 Uwe Johnson, »Berliner Stadtbahn (veraltet)«, in: Ders., Berliner Sachen, Frankfurt a.M. 1975, S. 7–21, hier S. 10. Im Folgenden zitiert mit der Sigle BS.
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der Grenze hat zuerst Uwe Johnson in einem Essay formuliert, der im Folgenden vorgestellt wird.
DIE POETIK DER GRENZE Uwe Johnsons Berliner Stadtbahn (veraltet) Die Vorstellung der Grenze als literarische Kategorie prägte Uwe Johnson in dem Essay »Berliner Stadtbahn«, der 1961 vor dem Mauerbau verfasst und nach dem Mauerbau mit dem Zusatz »(veraltet)« publiziert wurde. Der Essay thematisiert die Herausforderungen, vor die ein Schriftsteller im geteilten Berlin gestellt wird. 52 Schwierigkeiten mache die Erzählung einer scheinbar simplen Bahnhofsszene in Berlin: die Ankunft eines Fahrgastes mit dem Zug und sein Verlassen des Bahnhofs. Die Schwierigkeiten des Erzählens resultieren aus der Stadt Berlin selbst, die rein statistisch als Großstadt beschreibbar sei und schematisch den Hintergrund für eine Erzählhandlung darstellen soll. Detailliert analysierend beschreibt Johnson die sichtbare Komplexität der Großstadt und ihre Abhängigkeit vom Verkehr, »[d]er Anblick ist nicht kompliziert.« (BS 8). Aus der Vogelperspektive der Statistik scheint Berlin eine Großstadt unter vielen zu sein, die sich beschreiben lässt wie jede andere auch. Die Besonderheit der Teilung Berlins ist im Text jedoch immanent, und wird als »bekannt« (BS 8) vorausgesetzt. Johnson verdeutlicht diese Besonderheit Berlins bereits in der Schreibweise »Groß-Stadt« (BS 7). Der Bindestrich deutet Berlins Sonderstellung unter den Großstädten an, die scheinbar natürliche, symbiotische Beziehung der Großstadtteile untereinander wird unterbrochen; das Wort Großstadt ist nicht anwendbar auf das geteilte Berlin: Es gibt zwei (Groß-) Städte Berlin, die durch die Grenze getrennt werden. Als »Groß-Stadt« Berlin sind beide Teile aber freilich historisch eng verbunden; in Berlin ist die Dialektik von Trennung und gleichzeitiger Verbindung durch die Grenze intensiv spürbar. Dies spiegelt sich sprachlich im Ausdruck »Groß-Stadt« wider: »Die Grenze zerlegt den Begriff« (BS 8).
52 Vgl. Wolfgang Trautwein, »Die Grenze als literarische Kategorie – Eine Anmerkung zum Werk Uwe Johnsons« in: Sprache im technischen Zeitalter 195 (1985), S. 196– 199.
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Die politische Teilung der Stadt zerlege nicht allein die Großstadt als dynamisches soziales Gefüge, 53 die Grenze zerlege die Sprache. Die Sprache sei unmittelbar von der politischen Teilung betroffen und stelle somit den Schriftsteller vor ästhetische Herausforderungen. Das Erzählen müsse in Anbetracht der Grenze modifiziert werden, damit eine literarische Auseinandersetzung mit der Grenze und der Teilung gelingen kann. Die Herausforderungen, die die Grenze an die Literatur stellt, liegen in ihrer komplexen Gestalt, wie sie im Überblick über die Grenztheorien bereits vorgestellt wurde. Die Grenze trennt die Lebenswelten voneinander; der für eine Großstadt natürliche Austausch ist unterbrochen und von der Verfügungsgewalt der jeweiligen Staaten abhängig; das großstädtische Dasein selbst sei so grundsätzlich von der Grenze, und also von der allgegenwärtigen politischen Situation bestimmt, dass selbst der Name ›Berlin‹ als Bezeichnung einer einheitlichen Großstadt »eine politische Forderung« (BS 9) darstelle. Johnson betont hier die politische Dimension der Sprache und die Brisanz einzelner Begriffe. Berlin sei als geteilte Stadt der Inbegriff für die politische Teilung. Zugleich ist Berlin aber auch ein besonderer Kontaktraum: Im Gegensatz zu anderen Territorialgrenzen ermöglicht die Berliner Grenze – vor dem Mauerbau – den Austausch zweier Ordnungen. Gleich einer Membran sei die Berliner Grenze nach Johnson »ein Modell für die Begegnung beider Ordnungen« (BS 10); das Leben »durchblut[e]« (BS 10) die Grenze, die so zum Teil des Organismus der Großstadt Berlin wird. Die Grenze in der Stadt bringt die beiden politischen Ordnungen zueinander und stiftet Nachbarschaft. Hier tritt die zuvor dargestellte Komplexität der Grenze deutlich zu Tage: Die Grenze ist die Markierung von Konkurrenz und Differenz und stiftet zugleich Nachbarschaft und etabliert einen Kontaktraum; die Möglichkeit zum dialogischen Austausch wird von Johnson besonders herausgestellt. Aus dieser spezifischen und »unerhörte[n]« (BS 9) Situation leitet Johnson schließlich seine zentrale Forderung an das literarische Schreiben ab: »Eine Grenze an dieser Stelle wirkt wie eine literarische Kategorie. Sie verlangt die epische Technik zu verändern, bis sie der unerhörten Situation gerecht werden.« (BS 10)
Die Grenze wird demnach von der politischen Kategorie, die die Welt in bestimmte Territorien mit unterschiedlichen politischen Ordnungen teilt und diese
53 Dieses Gefüge wird dann auch mit organischen Begriffen gefasst: Die Grenze sei eine verhornte Haut, die nicht atmen könne, da der Austausch mit der Umgebung unterbunden sei. (vgl. BS 8)
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Ordnungen zugleich in Beziehung zueinander setzt, zu einer literarischen Kategorie. Die Grenze bestimmt also auch die Sprache und Literatur mit. Johnsons Hypothese, bzw. Forderung wird in dieser Arbeit weiterverfolgt. 54 Es gibt verschiedene mögliche Veränderungen der epischen Technik, die dabei untersucht werden. Johnson selbst äußert in dem Essay seine eigenen Vorstellungen. Er führt exemplifizierend an, wie die politische Grenze als sprachliche Kategorie scheinbar alltägliche Vorgänge politisch überformt und die Sprache ideologisiert: Allein die Existenz der Grenze bedingt die ideologische Bezeichnung »Flüchtling« für einen grenzüberschreitend Reisenden (BS 10). Die »politische Parteinahme« (BS 10), die in der Sprache ausgedrückt wird, vereinnahmt das Geschehen für eine politische Ordnung und kann der tatsächlichen Begebenheit nicht gerecht werden. Die Grenze, als Markierung der Zeitumstände und zugleich Ausgangspunkt der Teilung,55 stellt nun eine Herausforderung an die Literatur dar: Sprache und epische Technik müssen der Grenze angepasst und die Gefahren der politischen Parteinahme reflektiert werden. Die Grenze selbst wird dabei also von einer geographisch-politischen Markierung zu einer literarisch relevanten Größe. Johnson selbst erhebt in seinem Werk die Wahrheitsfindung zum Prinzip56 und sieht in der Ideologisierung der Sprache durch die Existenz der Grenze eine Herausforderung für sein Schreiben: »Unablässig ist er [der Verfasser als fiktive Figur] in der Gefahr, dass er versucht etwas wirklich zu machen, das nur tatsächlich ist« (BS 14). Johnson fordert offensiv eine Sprache der Literatur, die sich der politischen Parteinahme verweigert. Darüber hinaus fordert Johnson die Abkehr von allwissenden Erzählgesten und eine Neupositionierung des Erzählers: Die »Manieren der Allwissenheit«
54 Im Bezug auf Johnsons zeitgleich erschienenen Roman Das dritte Buch über Achim wurde die Nähe zu diesem poetologischen Essay bereits nachgewiesen, vgl. Holger Helbig, Beschreibung einer Beschreibung. Untersuchungen zu Uwe Johnsons Roman »Das dritte Buch über Achim«, Göttingen 1996 (=Johnson-Studien Bd. 1), S. 118ff. 55 Vgl. Monika Eigmüller, , »Der duale Charakter der Grenze«. 56 Johnsons realistische Poetik misst der Wahrheit einen hohen Wert zu: Literatur diene dazu, eine Version von Wirklichkeit anzubieten, um der Wahrheit näher zu kommen. Dieser epistemologische Anspruch ist m. E. vor dem Hintergrund von Johnsons Sozialisation in zwei totalitären Staatssystemen (Nationalsozialismus und SBZ/DDR) zu sehen, die ihrerseits ein allgemeines Deutungsmonopol für sich beanspruchten, und denen als Korrektiv die Literatur gegenübergestellt wird. Literatur diene als Medium zur aktiven Wahrheitsfindung, und nicht der Repräsentation einer objektiven Wahrheit.
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seien »verdächtig« (BS 20). In einer geteilten Welt sei es unmöglich literarisch einen Überblick über alle Figuren und ihre Motivationen zu inszenieren, der Zugriff des Autors sei beschränkt. Darüber hinaus solle Literatur eine Reflexionsebene besitzen, die diese Beschränkung des Standpunktes transparent macht. Die Ansprüche an das Erzählen lassen sich unschwer auch auf andere literarische Auseinandersetzungen mit der deutsch-deutschen Grenze übertragen. Johnson weist im Anschluss darauf hin, dass herkömmliche erzählerische Mittel der »Lage« (BS 21), also der Situation der Zweistaatlichkeit, nicht gewachsen seien. Hier wird impliziert, dass konventionelle Narrative aktualisiert und modifiziert werden müssen. Uwe Johnson führt in seinem Essay vor, wie deutlich die Situation der Teilung und damit die Grenze in die Literatur eingreifen. Er plädiert für ein sensibilisiertes Sprachbewusstsein und eine Anpassung gängiger erzählerischer Konventionen. Auch wenn Johnson recht konkret auf etwa erzählerische Gesten eingeht, ist dieser Essay nicht gleichbedeutend mit einer ›Regelpoetik‹ der Literatur der Grenze. Vielmehr stellen Johnsons Vorstellungen sein literarisches Ideal dar, das anhand Johnsons eigener Werke überprüft werden kann. In Bezug auf die grenzüberschreitende Betrachtung von Literatur aus Ost- und Westdeutschland, stellt Johnson zunächst deutlich heraus, dass die Grenze eine relevante Größe in der Literatur der Grenze ist und begründet so eine Poetik der Grenze. Im Verlauf dieser Arbeit werden die Aktualisierungen und Modifikationen von Reiseerzählungen und Entwicklungsnarrativen, Liebesgeschichten und Verdopplungsfigurationen untersucht, es zeigt sich, dass die Modifikationen durch die Grenze bedingt sind und zugleich eine literarische Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Grenze ermöglichen. Zuvor soll der Blick aber auf eine Erzählung von Peter Schneider gerichtet werden, in dem das poetologische Potenzial der Grenze vorgeführt wird und weitere Aspekte einer Poetik der Grenze deutlich werden.
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Peter Schneiders Der Mauerspringer* Peter Schneiders Mauerspringer57 aus dem Jahr 1982 stellt deutlich eine literarische Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Grenze dar. Die Erzählung handelt von einem Westberliner Schriftsteller auf der Suche nach seinem Gegenstand, er sucht: »die Geschichte eines Mannes, der sein Ich verliert und anfängt, niemand zu werden. Aus einer Verkettung von Umständen, die mir noch unbekannt sind, wird er zum Grenzgänger zwischen beiden deutschen Staaten. Zunächst ohne Absicht beginnt er, einen Vergleich anzustellen, und wird dabei unmerklich von einer Krankheit erfaßt, vor der die Bewohner mit festem Wohnsitz durch die Mauer geschützt sind. Am eigenen Leib und wie im Zeitraffertempo erlebt er den Teilungsprozeß, bis er glaubt, nachträglich eine Entscheidung treffen zu müssen, die ihm bisher durch Geburt und Sozialisation abgenommen war. Je öfter er aber zwischen beiden Hälften der Stadt hin und her geht, desto absurder erscheint ihm die Wahl. Mißtrauisch geworden gegen die hastig ergriffene Identität, die ihm beide Staaten anbieten, findet er seinen Ort nur noch auf der Grenze.« (MS 21)
Auf seiner Suche passiert der Erzähler mehrfach die deutsch-deutsche Grenze in Berlin, er überwindet die Mauer und führt Gespräche mit Kollegen beiderseits der Grenze, über Literatur und Politik. Der Erzähler scheint von der deutschdeutschen Grenze nicht beeinträchtigt zu werden, regelmäßige Grenzgänge zeigen, wie der Erzähler die Grenze überquert, um in Gesprächen den Stoff für seine Geschichte zu erschließen. Im Westteil der Stadt trifft er seinen Freund Robert. Robert selbst ist ebenfalls Autor, er stammt ursprünglich aus der DDR und ist bemüht, nun entscheidungslos »im Niemandsland zwischen den Grenzen« (MS 19) zu leben. Parteinahme lehnt er ab, er verwehrt sich gegen seine Vereinnahmung von West wie von Ost und steht beiden Ideologien gleichermaßen kritisch gegenüber. Es
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Dieses Kapitel basiert auf meinem Beitrag »Über die Berliner Mauer. Zur Liminalität deutsch-deutscher Grenzliteratur am Beispiel von Peter Schneiders Mauerspringer und Uwe Johnsons Zwei Ansichten«, in: Ingrid Lacheny, Henning Fauser und Bérénice Zunino (Hgg.), Le Passage/Der Übergang. Esthétique du discours, écritures, histoires et réceptions croisées/Diskursästhetik, Schreibverfahren, Perspektiven und Rezeptionen, Bern 2014, S. 89–102.
57 Peter Schneider, Der Mauerspringer, Darmstadt/Neuwied 1987 [1982]. Im Folgenden zitiert mit der Sigle MS.
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sind Robert und seine chamäleonartige Anpassungsfähigkeit, die beim Erzähler das Interesse an einer Position auf der Grenze weckt. Zugleich wird Roberts Bemühen um Nivellierung der Differenz als Illusion entlarvt; in ideologischen Streitgesprächen geraten Robert und der Erzähler unweigerlich in eine Rhetorik von »ihr« und »wir«: »[...]ich habe schon viel zu lange mit euch … Ihr seid so … Schon wie ihr lebt – wie lebt ihr denn? Mit der gleichen Ahnungslosigkeit habt ihr bei den Nazis zugesehen–« (MS 79). Die Begegnung von Angesicht zu Angesicht und das persönliche Gespräch lassen die Differenz und latente Konkurrenz der Figuren durchbrechen. Die Unterschiede zwischen beiden deutschen Staaten – als Resultat der politischen Teilung – können nicht geleugnet werden und das Ideal der Parteilosigkeit, das auch Johnson schon formuliert hat, scheint unerreichbar. Der zweite wichtige Gesprächspartner des Erzählers auf der Suche nach seiner Geschichte ist der Ostberliner Schriftsteller Pommerer, den der Protagonist auf regelmäßigen Ostreisen besucht. Pommerer hat sich als Schriftsteller mit dem ostdeutschen Staat arrangiert, umgibt sich aber andererseits auch mit Systemkritikern. Pommerers Haltung ist grundsätzlich kritisch, gegen Ende der Erzählung droht der Ausschluss aus dem Schriftstellerverband und eine endgültige Ausreise wird erwogen; dennoch verfällt auch Pommerer, ähnlich wie Robert, in staatsideologische Sprechweisen. »Da ist sie wieder, die Konservensprache, die Staatsgrammatik, die brav gelernte Lektion« (MS 61). Die Differenzerfahrung wiederholt sich auch auf der anderen Seite der Berliner Mauer. Robert und Pommerer können trotz der Emigration bzw. der kritischen Haltung ihre Herkunft aus Ostberlin nicht ablegen, zumindest rhetorisch bricht sich die Teilung so auch im freundschaftlichen Verhältnis Bahn. Auch der Erzähler, dem die sprachliche Prägung auffällt und missfällt, scheint in diesen Situationen gleichermaßen im Westen verhaftet – trotz seines Bemühens um den Dialog und der regelmäßigen Grenzreisen. Die Loslösung von politischen und gesellschaftlichen Festlegungen ist problematisch. Die Unterschiede sind prägend für das deutsch-deutsche Verhältnis. Diese Erfahrung der fundamentalen Trennung fasst der Erzähler schließlich eindeutig zusammen: »Die Mauer im Kopf einzureißen wird länger dauern als irgendein Abrißunternehmen für die sichtbare Mauer braucht« (MS 102). Trotz der offensichtlichen Differenzen bricht der Erzähler die regelmäßigen Grenzreisen nicht ab und auch die Idee der Grenzgängergeschichte wird weiterverfolgt; in Gesprächen mit Robert und Pommerer sammelt der Erzähler verschiedene Grenzgängergeschichten. Die Auseinandersetzung mit der Grenze initiiert zunächst das mündliche Erzählen: Robert, Pommerer und der Erzähler kolportieren verschiedene Grenzgängergeschichten. Auch die Rahmenhandlung
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selbst ist von Grenzgängergeschichten geprägt, neben dem Emigranten Robert wechselt der Erzähler regelmäßig zwischen West- und Ostberlin. Die Grenze initiiert auch die Rahmenhandlung, sie löst das Erzählen aus und spielt zugleich inhaltlich eine wichtige Rolle. Die Figuren der kolportierten Geschichten überwinden die deutsch-deutsche Grenze meist aus privaten Beweggründen: für Kinobesuche, Besuche bei der Geliebten oder um sich beiden Staaten als Spion anzudienen. Die Mauer ist weniger eine staatspolitische Schranke als vielmehr eine Herausforderung, die es anzunehmen und zu überwinden gilt. Die Mauer als historisches und politisches Faktum wird als neue Raumerfahrung inszeniert:58 Die der Mauer inhärente Überschreitung wird zur Aufforderung die Mauer zu überwinden; dieser impliziten Aufforderung wird in den verschiedenen Mauerspringergeschichten entsprochen. Diese Übergänge und Passagen in den Binnenerzählungen sind spielerische Akte, die sich nahezu natürlich ergeben, sind doch die Grenze und ihr Übergang untrennbar miteinander verbunden. Die Binnenerzählungen der Mauerspringer stellen diesen Aspekt des Übergangs besonders heraus. Hier wird die Mauer im Medium der Erzählung überschritten. Die Überwindung der Mauer wird in der Fiktion ermöglicht und vorgedacht. 59 Die Akzentuierung der Differenzen in der Rahmenhandlung steht dem nur scheinbar entgegen: Die Binnenerzählungen sind innerfiktional unzweifelhaft die Fortführung der Erzählenden. Alle drei erzählenden und schriftstellerisch tätigen Figuren sind Grenzgänger: Robert hat die DDR bereits verlassen, Pommerer steht kurz vor der Ausreise und der Erzähler selbst passiert die Grenze regelmäßig und, zumindest bis zum Ende der Erzählung, ohne nennenswerten Widerstand. Der Erzähler selbst führt das Prinzip des Übergangs deutlich vor: Die Geschichte, die er sucht, ist letztlich seine eigene. Der Erzähler überschreitet die Grenze nicht nur regelmäßig, er verweigert sich auch der politischen Vereinnahmung. Wie die Mauerspringer in den Binnenerzählungen lösen sich auch die erzählenden Schriftsteller von den durch Gesetz, Konvention und nicht zuletzt Politik fixierten Positionen.60 Die erzählten Geschichten und ihre Reflexion im Medium der Literatur vermitteln nicht nur Grenzüberschreitungen, sondern verweisen zugleich auf die Überschreitung dieser Erzählungen selbst. Zum einen
58 Vgl. dazu Paul Michael Lützeler, »›Postmetropolis‹. Peter Schneiders BerlinTrilogie«, in: Gegenwartsliteratur 4 (2005), S. 97–98. 59 Ebd., S. 97: »Die Mauerspringer in den Geschichten […] waren ihrer Zeit voraus. Sie rissen Löcher in die Mauern im Kopf, als noch niemand im Traum daran dachte, den betonierten in einen detonierten Grenzwall zu verwandeln.« 60 Vgl. Victor W. Turner, Das Ritual.
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werden die Grenzgängergeschichten im Dialog ausgetauscht. Diese dialogische Erzählweise entzieht die Geschichten den fixierten Zuschreibungen. Zum anderen löst sich der erzählende Protagonist im Gespräch von einer Position, die eindeutig zu verorten wäre, und nimmt eine Position auf der Grenze ein; innerfiktional wird der Erzähler zu seiner eigenen Figur: Er ist der Mann, dessen Geschichte er sucht. So werden die diegetischen Grenzen durchlässig; die Form der Metalepse verweist exemplarisch auf die vielen Übergangsbewegungen in der Erzählung. Das Erzählen, sowohl als schriftstellerische Tätigkeit als auch als mündliche Kommunikationsform, wie sie in der Erzählung in den Dialogen vorgeführt wird, ist der mediale Akt, der diese Position auf der Grenze überhaupt erst ermöglicht. Literarisches Erzählen stellt die Grenze als komplexes Phänomen dar, indem in den Mauerspringergeschichten der jeder Grenze inhärente Übergang zelebriert wird und zugleich explizit auf Differenzen verwiesen wird. Die Grenze markiert hier einen literarischen Standpunkt und verweist so deutlich auf ihr poetologisches Potenzial. In Peter Schneiders Erzählung deutet sich an, dass im Erzählen Mauern und Grenzen überwunden und Übergangsbewegungen vorgedacht werden. Zu den Aspekten einer Poetik der Grenze zählt, dass von beiden Seiten der Grenze erzählt wird, in diesem Fall sogar von einer Position auf der Grenze. Erzählerisch wird die Grenze vielfach überschritten, ohne dass Differenzen und Heterogenität verleugnet werden. Es zeigt sich, dass die Literatur der Grenze eigene Ausdrucksformen entwickelt hat, um die Grenze in ihrer Komplexität zu literarisieren. Die Grenze wird nicht einfach als Beschränkung erzählt, oder literarisch abgebildet. Vielmehr initiiert die Grenze spezifische Geschichten – wie die der Mauerspringer. Darüber hinaus prägt die Grenze die Art und Weise des Erzählens mit, der erzählerische Standpunkt auf der Grenze, den Schneiders Figur einnimmt, illustriert diesen Aspekt überdeutlich. Die Literatur setzt sich ästhetisch mit der Grenze auseinander, ihre komplexe Gestalt wird auf verschiedenen Ebenen fruchtbar: Schneiders Mauerspringer zeigt, dass die Grenze inhaltlich und poetologisch in der Literatur wirksam ist. Die Erzählung führt vor, wie die Grenze Geschichten generiert und wie die Literatur der Grenze beide Seiten der Grenze in Beziehung setzen kann. Die Positionierung auf der Grenze als Erzählhaltung deutet auf die notwendige Forschungsperspektive hin: Es wird Literatur von beiden Seiten der Grenze in diese Untersuchung einbezogen und in einen gemeinsamen Kontext gestellt. Die Grenze selbst setzt die Texte zueinander in Beziehung und es werden grenzüberschreitende literarische Entwicklungen sichtbar.
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Auf beiden Seiten der Grenze zeigen sich Modifikationen und Aktualisierungen tradierter narrativer Modelle. Neben Reiseerzählungen und Entwicklungsnarrativen werden im Folgenden Liebesgeschichten und Verdoppelungsfigurationen in den Blick genommen. Anhand dieser ausgewählten Modelle zeigt sich deutlich, wie die Grenze literarisch sichtbar wird. Sie wird nicht nur dargestellt, sondern sie prägt die Neugestaltung literarischer Traditionen bedeutend mit. Die Grenze wird so zu einer literarisch relevanten Größe, die die ost- und westdeutsche Literatur zueinander in Beziehung setzt.
Der Bildungsroman der deutsch-deutschen Literatur der Grenze – Reiseerzählungen als Entwicklungsnarrative
DEUTSCH-DEUTSCHE GRENZREISEN Die deutsch-deutsche Grenze fordert die Literatur auf vielfältige Weisen heraus, sie wird nicht nur lesbar, sondern auch im wörtlichen Sinne erfahrbar: Die Grenze wird in ihrer Überschreitung erfahren und in Reisenarrativen erzählt. Die deutsch-deutsche Grenzreise stellt einen innovativen Motivkomplex und einen wichtigen Topos in der deutsch-deutschen Literatur der Grenze dar. Erzählt wird die temporäre Reise in den jeweils anderen deutschen Staat; abgeschlossen wird dieser Motivkomplex mit der Rückkehr, so dass die Reise die Form einer Schleife annimmt. Das Reisemotiv ist in der Literatur weit verbreitet und lässt sich bis zu Homers Odyssee zurückverfolgen. In der deutsch-deutschen Literatur der Grenze steht die Grenzreise eindeutig im Kontext von Teilung und Grenze: Wie für Reiseerzählungen üblich, wird mittels des Reisemotivs unbekanntes Terrain erkundet; hier macht also der Ausflug in den jeweils anderen Staat diesen als terra incognita sichtbar. Die deutsch-deutsche Ausprägung dieses Motivs ist an das poetische Potenzial der Grenze gebunden. Es ist die deutsch-deutsche Grenze, die zwischen einem bekannten »Hier« und dem unbekannten »Drüben« unterscheidet und das Erzählen von der Grenzreise in beiden deutschen Staaten initiiert.
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Die Westschleife – Wolfgang Johos Das Klassentreffen In der Forschung wird mit dem Blick auf diesen Topos der Grenzreise nach ostdeutscher Prägung auch von einer »Westschleife«1 gesprochen, also der Reise in den Westen und die glückliche Rückkehr in die DDR. Rainer Benjamin Hoppe hat sich bemüht die Westschleife in der Literatur aus der DDR systematisch zu untersuchen und kommt zu der Erkenntnis, dass die Westschleife, als Erzählung von der kurzzeitigen Reise eines DDR-Bürgers in die BRD, keine Gelegenheit für neue Erfahrungen biete, sondern nur die ideologischen Vorurteile der BRD gegenüber bestätige. 2 Die BRD wird als negative Folie inszeniert, vor deren Hintergrund die Heimkehr in die DDR als unausweichlich erscheint. Der Westschleife kommt also unzweifelhaft eine ideologische Funktion zu: die Affirmation der DDR und deren Etablierung als ›besserer deutscher Staat‹. Die Reise in den Westen dient dabei dem Vergleich der Staaten, aus dem die DDR als fortschrittlicher Staat als Sieger hervorgeht. Ein prägnantes Beispiel für diese Art der literarischen Grenzreise ist etwa Wolfgang Johos Roman Das Klassentreffen von 1968. Der Roman handelt von einem DDR-Bürger, dem namenlosen Ich-Erzähler, der zu einem Klassentreffen in die BRD reist. Dort begegnet er seinen ehemaligen Mitschülern, der Erzähler wird für sie zum »Beichtiger, der ihr Geheimnis bewahren würde und vor dem sie nicht ihr Gesicht zu verlieren fürchteten, weil [er] ja morgen schon wieder entschwinden würde.«3 Die Rolle des Vertrauten gibt dem Erzähler die Gelegenheit, nicht nur ein oberflächliches Bild der BRD zu zeichnen, sondern tief verankerte Missstände in der westdeutschen Gesellschaft enthüllen und mitteilen zu können. Die Westreise wird zu einer »Entdeckungsfahrt« (Kl 53); der Erzähler entlarvt die westdeutsche Gesellschaft als anachronistisch und in der nationalsozialistischen Vergangenheit verhaftet. Er erlebt im Westen »widerspruchsvoll,
1
Der Terminus geht auf Vera-Kristin Grundmann zurück, die in der Westschleife den literarischen Ausdruck »ständiger Bezugnahme« der beiden Staaten aufeinander erkennt, vgl. dies., Das geteilte Deutschland. Eine literarische Thematik im Wandel der politischen Verhaltnisse dargestellt an ausgewahlten Beispielen der Prosa der Deutschen Demokratischen Republik, 1949-1984, Buffalo 1987. Rainer Benjamin Hoppe greift den Terminus auf und führt ihn mit dem literarischen Motiv der Reise zusammen und so in eine breitere Diskussion ein, vgl. ders., Horizont aus Schlagbäumen, S. 114ff.
2
Ebd., S. 119.
3
Wolfgang Joho, Das Klassentreffen. Geschichte einer Reise, Berlin, Weimar 1968, S. 87. Im Folgenden zitiert mit der Sigle Kl.
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wie tief beheimatet [er] hier noch war und wie sehr schon ein Fremdling geworden.« (Kl 29) Die ehemaligen Klassenkameraden sind unzweifelhaft in der BRD ›beheimatet‹, sie gefallen sich etwa in der distanzierten Haltung des Zynikers, einer antiquierten Gutsherrenattitüde oder in der Haltung des reaktionären Kapitalisten. So zementieren sie die gesellschaftliche Stagnation, die vom Erzähler diagnostiziert wird. In dessen Augen bemühen sich die ehemaligen Mitschüler nach Kräften darum, einem gesellschaftlichen Fortschritt entgegenzuwirken. Die verschiedenen Figuren versuchen sich und den Besucher aus der DDR von den selbstgewobenen »Legenden von ihrer Integrität« (Kl 49) und »von der bewahrten Humanität« (Kl 47) zu überzeugen. Unschwer enttarnt der Erzähler aber die Heuchelei der westdeutschen Bürger: Ihr Leben sei nicht auf eine Abkehr von der Vergangenheit gepaart mit dem Wunsch nach gesellschaftlicher Erneuerung gerichtet, stattdessen verharrten sie in unpolitischer Stagnation und richteten sich wie eh und je in den gegebenen Verhältnissen ein. In der unpolitischen Pose gefallen sich die verschiedenen ehemaligen Klassenkameraden dabei durchaus gut; der Erzähler hingegen kann sich nicht mehr mit ihnen verbunden fühlen. Er resümiert am Ende des Romans, dass er »mit denen, die in derselben Gegend beheimatet waren, die gleiche Schulbank gedrückt hatten und derselben Klasse im doppelten Sinn angehörten, nicht einmal diese Vergangenheit gemeinsam hatte, denn [sie] hatten verschiedene Lehren aus ihr gezogen.« (Kl 197)
Wenig überraschend findet der Erzähler also seine Vermutungen bestätigt, die er am Beginn des Romans formuliert, wenn er in eine »altvertraute, doch längst als fragwürdig erkannte Welt« (Kl 29) eintritt und sich von Beginn an als »Fremdling« (ebd.) fühlt. Gerade in der Kontinuität einer »festgefrorenen Vergangenheit« (Kl 83), die in der anachronistischen BRD unschwer diagnostiziert werden kann, erkennt der Erzähler einen maßgeblichen Unterschied zur DDR. Es wird deutlich, dass die Reise von der Bestätigung ideologischer Vorurteile getragen ist, statt von potenziell kritischer Neugier auf den anderen deutschen Staat. Das Resultat ist die kategorische Ablehnung der BRD und die affirmative Rückkehr in die DDR. Mit Hoppe lässt sich der Roman unschwer als »Kitsch und Propagandaklischee« und als »einfältig-dogmatisch« 4 bewerten. Offensichtlich dient er in seiner simplifizierenden Darstellung der Bestätigung der Staatsideologie der DDR. Im Vergleich der Staaten geht die DDR als moralischer Sieger hervor. Die
4
Rainer Benjamin Hoppe, Horizont aus Schlagbäumen, S. 116 und 119.
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Westschleife bestätigt jedes Klischee, der Erzähler kann in den ›besseren deutschen Staat‹ heimkehren. Die Reise über eine durchlässige Grenze hinweg mitsamt den Begegnungen in Westdeutschland suggeriert dabei eine Offenheit und Neugier, die sich aber als Suche nach und Bestätigung von Klischees erweist. Nach Hoppe ist dieses narrative Muster typisch für den Topos der Westschleife in der Literatur aus der DDR. In Bezug auf die Grenze ist dieser Roman essentiell auf eine durchlässige Grenze angewiesen, sie ist Basis der Erzählung von der grenzüberschreitenden Westreise und Grundlage des ideologisierten Vergleichs. Zugleich wird die politische Grenze hier zementiert, indem die gesellschaftlichen Unterschiede der beiden Staaten vereinfacht dargestellt werden. Die scheinbar durchlässige Grenze, die der Reisende räumlich überquert, wird literarisch als Barriere festgeschrieben. Hier liegt die Funktion der Westschleife: die literarische Instrumentalisierung der Grenze zur Affirmation politischer Standpunkte. Literarische Grenzreisen dieser Prägung erzählen von der Entfremdung zwischen den beiden deutschen Staaten, verstärken diese und bauen damit an der Mauer in den Köpfen mit. Die Westschleife wurde in der Forschung ganz richtig benannt und untersucht. Was allerdings bisher unberücksichtigt bleibt, sind literarische Westschleifen, die sich dieses schematisierten Musters zwar bedienen, aber eine andere Funktion erfüllen: So muss die Rückkehr aus dem Westen in die DDR nicht automatisch mit der Affirmation des ideologischen Systems einhergehen, sondern kann auch – wie etwa in Fritz Rudolf Fries’ Roman Der Weg nach Oobliadooh (1966) gezeigt werden wird – die kritische Attitüde vom Westen über die Grenze in den Osten transportieren. Darüber hinaus wird in der Forschung die analoge Grenzreise, nämlich die Ostschleife nach westdeutscher Prägung bislang völlig übersehen. Doch auch hier findet sich das Erzählmuster der Grenzreise und auch hier gründet das narrative Muster im poetologischen Potenzial der Grenze, die sich so in die Literatur eingeschrieben hat. Die Ostschleife – Uwe Johnsons Das dritte Buch über Achim Die Grenzreise vom Westen in den Osten gestaltet sich etwas anders als die bereits skizzierte Westschleife. Zunächst findet natürlich eine kurzzeitige Reise in die DDR statt, die wieder mit der Rückkehr in vertraute Gefilde schließt – womit die Ostreise zur Ostschleife wird. Die literarische Grenzreise dient hier allerdings nicht per se der Bestätigung einer Staatsdoktrin, es findet kein ideolo-
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gischer Vergleich der Staaten statt und auch keine dogmatische Affirmation der westdeutschen Gesellschaft. Die literarische Ostschleife fordert hingegen die offizielle bundesrepublikanische Positionierung gegenüber der DDR heraus, indem die DDR in der Literatur als Staat anerkannt wird. Die Literatur bricht damit mit der Hallstein-Doktrin, auf deren Grundlage die DDR zwischen 1955 und 1969 als Staat offiziell nicht anerkannt wurde. Die literarischen Ostschleifen berichten damit aus einem unbekannten Staat, dessen Existenz offiziell negiert wurde. Die Ostschleife kommt damit einem literarischen Tabubruch gleich. Darüber hinaus steht die westdeutsche Literatur durch ein analoges literarisches Muster der Grenzschleife in einem gemeinsamen Kontext mit der ostdeutschen Literatur; die literarischen Diskurse werden zueinander in Beziehung gesetzt. Ein Roman, der von einer solchen Ostschleife geprägt ist, ist Uwe Johnsons Roman Das dritte Buch über Achim aus dem Juli 1961. Der Roman handelt von dem Hamburger Journalisten Karsch, der zu seiner alten Freundin Karin in die DDR reist und dort auf den berühmten Radrennfahrer Achim trifft. Er erhält von einem ostdeutschen Verlag den Auftrag, eine Biographie über Achim zu schreiben. Karsch recherchiert in der DDR und erfährt einiges von Achims Vergangenheit. Das Buchprojekt scheitert schließlich daran, dass Karsch mehr erfährt als er schreiben darf – etwa über Achims Teilnahme an den Demon-strationen vom Juni 1953. Karsch kehrt nach Hamburg zurück und reflektiert das Erlebte in einem Telefongespräch. Dieses Gespräch gibt schließlich rückwirkend die dialogische Form des Romans vor: Die einzelnen Abschnitte des Romans sind nach Überschriften gegliedert, die sich am Ende als Fragen des Anrufers erweisen.5 Der Dialog am Telefon strukturiert Karschs Reisebericht und lenkt ihn, die Gesprächssituation ergänzt den Bericht um eine reflektierende Ebene. Der Roman ist also ein dialogischer Reflexionsvorgang über den Aufenthalt in der DDR. Diese Erzählstruktur versieht den Text mit einer komplexen Metaebene, die in der Uwe-Johnson-Forschung ausgiebig untersucht worden ist.6 An dieser Stelle soll aber das Erzählmuster der Ostschleife fokussiert werden. Karsch überschreitet die Grenze, die sich gleich zu Beginn als Kern des Romans zeigt: »die Grenze: die Entfernung: der Unterschied« (DBA 9) stellt/stellen ein literarisches Problem dar, das sich nicht auf die landschaftliche Erscheinung reduzieren lässt. Stattdessen wird die Unterscheidungskraft der Grenze erfahren
5
Die erste Überschrift lautet: »Wie war es denn«, und entspricht der ersten Frage des Anrufers am Ende des Romans: »– Wie war es denn? sagtest du.«, Uwe Johnson, Das dritte Buch über Achim, Frankfurt a.M. 1998 [1961], S. 10 und S. 300. Im Folgenden zitiert mit der Sigle DBA.
6
Vgl. Holger Helbig, Beschreibung einer Beschreibung, bes. S. 38ff.
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und die Unterschiede zwischen den beiden deutschen Staaten literarisch beobachtet und beschrieben. Dieser durchgängig beschreibende Erzählgestus unterstützt den Eindruck eines »neutralen Blick[s]« 7 im Roman. Karsch schildert den DDR-Alltag so, wie man eine fremde Kultur beobachtet. Diese inszenierte Unvoreingenommenheit von Karschs Wahrnehmung dominiert das Erzählen, daher wird der Roman mitunter auch als »ethnographisch« 8 beschrieben. Darüber hinaus löst der beschreibende Erzählgestus den Roman aus etablierten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern heraus, indem Einzelheiten isoliert betrachtet werden. Das nüchterne Beschreiben sperrt sich gegen ideologische Vereinnahmung und öffnet so den Roman für eine möglichst unvoreingenommene Betrachtung des Anderen jenseits der Grenze. Klaus R. Scherpe attestiert dem Erzählen das Potenzial der Sinnstiftung und die Möglichkeit in Krisenzeiten Orientierung bieten zu können; das Beschreiben hingegen verweigere sich jener Sinnstiftung. Stattdessen werde ein unmittelbarer und neutraler Blick inszeniert, der eine historische Realität greifbar mache, und sie so der Historiographie als deutender Geschichtsschreibung entziehe. 9 Für Karsch kommt die Überschreitung der Grenze einem »Kulturschock«10 gleich, ihn überkommt »das schreckhafte Gefühl der fremden Staatlichkeit« (DBA 7); Karschs Aufenthalt ist geprägt von Fremdheitserfahrungen. Ob es Werbeplakate und Markennamen sind oder das Straßenbild, immer wieder erfährt er den Unterschied zwischen den deutschen Staaten. Markant ist besonders das erlebte Verständigungsproblem: Einerseits steht die gemeinsame Sprache den erfahrenen Unterschieden entgegen und »redet ihn [Karsch] noch oft in die Täuschung von Zusammengehörigkeit hinein« (DBA 23); andererseits macht Karsch auch die Erfahrung, dass er die Sprache der DDR eben nicht versteht: wenn er zum Beispiel die staatlichen Zeitungen nicht deuten kann oder Missver-
7
Christoph Pflaumbaum, »Unverstandene Straßenbilder. Beschreibung der Außenwelt als Kennzeichen der Fremderfahrung in Uwe Johnsons Das dritte Buch über Achim«, in: Johnson-Jahrbuch 14 (2007), S. 27–47, hier S. 30. Durch die Inszenierung der Neutralität gelinge es Karsch, die »ideologisch durchdrungene Außenwelt wahrzunehmen«, ebd.
8
Dieter Lamping, Über Grenzen, S. 129.
9
Zur Beschreibung vgl. Klaus R. Scherpe, »Beschreiben, nicht Erzählen! Beispiele zu einer ästhetischen Opposition. Von Döblin und Musil bis zu Darstellungen des Holocaust. Antrittsvorlesung 1994«, Berlin, Online unter: http://edoc.hu-berlin.de/ humboldt-vl/scherpe-klaus/PDF/Scherpe.pdf. Zuletzt eingesehen am 2.12.2016
10 Wolfgang Strehlow, Ästhetik des Widerspruchs. Versuche über Uwe Johnsons dialektische Schreibweise, Berlin 1993, S. 119.
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ständnisse in der nonverbalen Kommunikation erlebt. Seine Freundin Karin muss ihn regelmäßig über Zwischentöne in Gesprächen aufklären. Die Fremdheitserfahrungen stehen diametral zu den vermeintlichen Gemeinsamkeiten. Durch die Spannung zwischen Entfremdung und Ähnlichkeit werden die Unterschiede deutlich verstärkt; programmatisch steht dafür ein Satz aus Johnsons Stadtbahn-Essay: »Echtes Ausland ist selten so fremd« (BS 18). Mit der Bestätigung der Fremdheit in der DDR wird auch in dieser Ostschleife die deutsch-deutsche Grenze bestätigt und literarisch nachgezogen. Zugleich bezieht der Roman aber Position gegen virulente deutsch-deutsche Klischees, wie sie unter anderen Vorzeichen etwa in Johos Roman Das Klassentreffen dominant sind. Johnsons Roman erkennt die Zweistaatlichkeit literarisch an, und verfällt selbst nicht in Denkmuster des Kalten Krieges. Der Fiktionscharakter des Romans wird transparent gehalten und distanziert den Roman von etablierten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern. Der Roman zeigt nur eine Version der Geschehnisse und führt die Fiktion in der Form vor, wenn zum Beispiel verschiedene Darstellungsvarianten einer Begebenheit literarisch erprobt werden. Achims Geschichte ließe sich etwa linear erzählen oder retrospektiv, als Film oder als Anekdote; im Roman werden verschiedene Darstellungsweisen ausprobiert und reflektiert (vgl. DBA 238ff.), so dass transparent bleibt, dass die Lebensgeschichte vor allem eine Geschichte ist. Neben der reflektierenden Erzählstruktur wird diese Transparenz auch durch die Reflexion verschiedener Klischees verdeutlicht. Markant ist hier besonders die dargestellte Sorge Karschs, von Mitarbeitern der Stasi beobachtet zu werden. Klischees werden hier angesprochen und verabschiedet; die Omnipräsenz der Stasi und die Repressionen werden dennoch explizit thematisiert. Karsch zeigt sich zu Beginn der Reise nervös und fühlt sich beobachtet, weil »[e]r glaubte, es müsse ihm so vorkommen«. (DBA 24) Zudem spekuliert er über »die Anzahl der Karteikarten, die entstehen mochten bei der Abfertigung eines Wagens an der Grenze« und äußert sich »träumerisch über die denkbare Bauart er Karteikästen« (DBA 25). Bevor Karsch aber in paranoides Verhalten verfällt, weist Karin ihn zurecht: „Sei nicht so eingebildet! Sagte sie: Sei nicht so nervös!“ (DBA 25) Die Stasi dominiert daher nicht die Ostreise des Journalisten, sie gerät in den Hintergrund. Für Karsch wird die präsente Gefahr schließlich sogar zu einem Mittel für eine kreative Spielerei; er erwägt eine Stasi-Episode um seinen Bericht spannender zu gestalten und erfindet kurzerhand eine Hausdurchsuchung, die konjunktivisch erzählt wird, und daher eindeutig erfunden ist (vgl. DBA 141ff). Die Stasi wird im Roman nicht verschwiegen oder verharmlost, sie wird aber auch nicht genutzt um dem Roman einen kolportagehaften Schwung zu verleihen. Stattdessen ist sie unterschwellig weiter präsent – wenn Karsch sich etwa sträubt, eine Schreib-
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maschine zu kaufen, da die Nummer des Personalausweises aufgenommen werden würde (vgl. DBA 102ff).11 Verschiedene Andeutungen sorgen so für eine diffuse Präsenz der Stasi, ohne dass Klischees aus einem Spionageroman erzählt würden. In Johnsons Roman werden also mithilfe des Musters der Ostschleife deutsch-deutsche Unterschiede geschildert, zugleich aber auch Vorurteilen und Klischees entgegengewirkt, indem der literarische Charakter dieser Grenzreise offengelegt wird. Tatsächlich gelingt es dem Roman so, die DDR zu beschreiben und ihr ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, ohne dass Vorurteile und Klischees dominieren. Die Grenzreise als Entwicklungsreise Grenzreisen, wie die gezeigten, kommen in unterschiedlicher Ausprägung in verschiedenen erzählenden Texten der deutsch-deutschen Literatur der Grenze vor. Dabei zeigt sich deutlich, dass diese spezifische Literarisierung der Grenze politisch instrumentalisiert werden kann, aber ebenso gut festgeglaubte Positionen und Vorurteile unterlaufen kann. Wichtig ist, dass die Grenzreise als grenzüberschreitendes literarisches Muster in der deutsch-deutschen Literatur der Grenze etabliert wird. Als narratives Modell ist die Grenzreise selbst politisch neutral, so dass sie divergente literarische Werke in einen gemeinsamen Kontext stellt. Die Grenzreise ist ein Motivkomplex, der stark von der Grenze geformt wird und durch den die Grenze in verschiedene Erzählungen Einzug hält. Neben Liebesgeschichten und Verdopplungsfigurationen profitieren insbesondere die Entwicklungsnarrative der Literatur der Grenze von der Grenzreise als Motivkomplex. Der Kontext der Grenze erlaubt es neue Geschichten nach dem narrativen Muster des Bildungsromans zu erzählen: Die grenzüberschreitende Reisebewegung wird mit individuellen Entwicklungsprozessen zusammengeführt und findet so Eingang in den literarischen Gattungskontext des Bildungsromans. Die deutsch-deutsche Grenze modifiziert damit das Entwicklungsnarrativ des Bildungsromans. Die transformative Reise eines Protagonisten ist in der Literatur ein etabliertes Erzählschema, das eng mit der literarischen Tradition des Bildungsromans verwoben ist. Die Entwicklungsreise ist als elementares teleologisches Muster im Bildungsroman als spezifische literarische Gattung enthalten, sie bildet den Rahmen für den dynamischen Bildungsweg des Protagonisten, der als tatsächli-
11 Es ließen sich weitere Stellen anführen, etwa die Darstellung von Karins Freunden, die verschiedenen Repressionen ausgesetzt sind, vgl. DBA. 256ff.
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che, imaginäre oder psychologische Reise inszeniert wird. Die im Bildungsroman erzählte Entwicklungsgeschichte stellt die Selbstfindung und gesellschaftliche Integration als einen transformativen Übergang dar, für den die Grenzreise im deutsch-deutschen Kontext eine adäquate Form bietet. In den im Folgenden untersuchten Romanen nimmt diese symbolische Reise die Form der Westreise an. Mithilfe der Reise in den Westen wird so die Entwicklungsgeschichte ostdeutscher Protagonisten auf unterschiedliche Weise erzählt.
DIETER NOLLS DIE ABENTEUER DES WERNER HOLT – EIN KRIEGSHEIMKEHRER AUF WANDERSCHAFT Dieter Noll erzählt in seinem zweibändigen Roman Die Abenteuer des Werner Holt eine grenzüberschreitende und transformative Entwicklungsreise. Der Protagonist Werner Holt hat im ersten Band, mit dem Untertitel Roman einer Jugend, den Nationalsozialismus und den Krieg als aktiver Luftwaffenhelfer erlebt. Der zweite Band, Roman einer Heimkehr, handelt nun von der unmittelbaren Nachkriegszeit. Holt wird psychisch und physisch aufgerieben in die Wirren des Nachkrieges geworfen und erwacht in der Eingangsszene zum zweiten Band bei seinem Vater, einem Chemieprofessor in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Holt gelingt es nicht an die gesellschaftlichen Umwälzungen anzuknüpfen, zu tief sitzen Kriegserfahrung und Schuldgefühl. Der desillusionierte und orientierungslose Holt resümiert: »Ich bin immer nur im Strom getrieben [...] Ich bin in all das hineingestoßen worden, ins Leben, in den Krieg, in die Schuld. Ich verstehe nicht wie das möglich war.« (WH 64)12. Die Motive des Treibens und der Geworfenheit ziehen sich durch den gesamten Roman und markieren Holts problematische Außenseiterposition. Trotz der Bemühungen von verschiedenen Mentorenfiguren und seinem Vater bleibt Holt ein Außenseiter. Seine bisherige Lebenserfahrung als Luftwaffenhelfer und Soldat scheint ihn von seinen Mitmenschen zu isolieren. Weder liebevolles Bemühen, noch sozialistische Agitation, noch humanistische Förderung in der Schule können zu Holts Integration in die sozialistische Nachkriegsgesellschaft beitragen. Holts umfassende Heimatlosigkeit zeigt sich auch in der leidenschaftslosen Entscheidung für das Leben in der SBZ: Er lebt nur bei seinem Vater, um seiner Mutter, die in Hamburg lebt, auszuweichen. Mehrfach
12 Dieter Noll, Die Abenteuer des Werner Holt. Roman einer Heimkehr, Berlin und Weimar 1964. Im Folgenden zitiert mit der Sigle WH.
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wird diese Entscheidung für die SBZ angesichts der Familie in Hamburg hinterfragt. Die leitmotivisch wiederholte Frage: »Und da leben Sie hier?« (WH 76f) scheint Holt zu verfolgen und initiiert den Entwicklungsgang. Für Holt scheint bereits in der SBZ die bürgerliche Idylle als Ausweg aus seiner verzweifelten Lage auf; die junge Karola Bernhard bietet Holt mehrfach bürgerliche exit-Strategien: Villenviertel und Konzertflügel, Kerzenlicht und Nostalgie werden zu Rückzugsmöglichkeiten. Parallel dazu trifft Holt seinen alten Schul- und Wehrmachtskameraden Christian Vetter. Vetter profitiert vom Schwarzhandel und ist ein krimineller Grenzgänger. Durch ihn nimmt Holt Kontakt zu seiner Jugendliebe Uta Barnim auf, die zurückgezogen im Schwarzwald lebt.13 Utas alternativer Lebensentwurf und Karolas Nostalgie lassen den bürgerlichen Eskapismus für Holt als lebenswertes Modell erscheinen. Vetter bietet Holt eine Gelegenheit zu seiner Mutter in den Westen zu gehen. Werner Holt löst sich so von der Gesellschaft in der SBZ und seine Wanderschaft kann am Ende des Jahres 1945 beginnen. Holts Gang über die deutsch-deutsche Grenze wird als eine Flucht vor den Maschinenpistolen patrouillierender Rotarmisten dargestellt. Er irrt durch einen winterlichen Wald: »Holt lief. Kiefernäste peitschten sein Gesicht, er stolperte über eine Wurzel, stürzte, raffte sich auf und hetzte weiter. [...] Der Wald ringsum war lebendig geworden.« (WH 116f). Der Übergang selbst wird noch parataktischer, noch dramatischer erzählt: Holt muss einen gefrorenen See überqueren und bricht ein: »Das Wasser drang unter die Kleider, aber eisiger war die Angst, die ihn lähmte. Er kämpfte sich mit verzweifelten Schwimmbewegungen voran, zerschlug sich die Hände am splitternden Eis, umsonst, er versank, schluckte Wasser, verschluckte sich, die Beine fuhren in grundlosen Modder, die Sinne schwanden, die Hände öffneten und schlossen sich krampfhaft und faßten das Röhricht, und mit erlöschender Kraft zog er sich ins Flache und kroch ans Ufer. Dort sank er zusammen.« (WH 117)
Ohne mit Pathos zu geizen wird hier der Weg nach Westen als transformative Passage inszeniert. Der düstere Wald befindet sich abseits der entfremdeten Gesellschaft und zugleich noch feindseliger und bedrohlicher. Die (angedeutete)
13 Uta Barnim und Christian Vetter sind Figuren aus dem ersten Band. Uta ist die Tochter des fiktiven Oberst Barnim, der am Hitler-Attentat vom 20. Juli beteiligt war; Vetter war ein typischer Mitläufer und wird nun als unmoralischer Kriegsgewinnler gezeigt.
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Belebung des Waldes evoziert hier die bedrohlichsten Episoden von Märchen und Volkssagen und markiert den Eintritt in eine unbekannte Umgebung. Holt stürzt im staccato von einer Todesgefahr in die nächste. Es folgt der Weg zu anderen Ufern in überdeutlicher Metaphorisierung. Die Nahtoderfahrung im See beendet den vergangenen Lebensabschnitt Holts und ähnelt dabei einer rituellen Reinigung,14 die auf den Grenzübertritt vorbereitet. Todesnähe und Rettung aus dem See, ebenso das spätere Erwachen im Krankenhaus, rufen Bildlichkeiten der Wiedergeburt auf. Die Überschreitung der Grenze ruft die traditionelle Liminalitätsmotivik der Ritualtheorie auf, implizit werden für Holt mit dem Gang in den Westen alle Zeichen auf Neuanfang gestellt. Zweifellos wird hier erzählerisch eine Transformation vorbereitet, Holts Flucht soll einen Neubeginn ermöglichen. Die Entwicklungsreise, die den Protagonisten zunächst in den Westen führt, ist dabei durch klare Stationen markiert, die Holt verschiedene Lebensentwürfe eröffnen. Ähnlichen Stationen hat Holt in der SBZ bereits aus verschiedenen Gründen eine Absage erteilt: der Schule, der väterlichen Fabrik und der antifaschistischen Jugendgruppe. Im Westen werden die folgenden Stationen der Entwicklungsreise nun von verschiedenen Frauenfiguren markiert. Das Bedürfnis heimzukehren und in einer Gesellschaft anzukommen wird im Roman mit weiblichen Figuren verbunden, an deren Seite Holt Stabilität zu finden hofft.15 Diese Auffälligkeit ist wenig verwunderlich, da das Konzept ›Heimat‹ häufig feminisiert wird. Es seien Frauen, »die dem nicht nur emotionalisierten, sondern auch feminisierten Denkbild ›Heimat‹ – durch alle historischen und kulturellen Umbrüche hindurch – maßgeblich Substanz verlei-
14 Vgl. Arnold van Gennep, Übergangsriten, S. 29: »Reinigunsriten (waschen, reinigen, usw.) stellen Trennungsriten dar, die von der alten Welt ablösen«. 15 Mit Gisela Ecker lässt sich hier eine »ödipale Spur« im Konzept »Heimat« erkennen, die Sehnsucht nach mütterlichen Geliebten bestimmt dabei das Begehren gerade von Soldaten und – wie hier – Kriegsheimkehrern, vgl. dies., »›Heimat‹. Das Elend der unterschlagenen Differenz«, in: Dies. (Hg.), Kein Land in Sicht. Heimat - weiblich?, München 1997, S. 7–32, hier S. 10. Weiter dazu: Miriam Kanne, Andere Heimaten. Transformationen klassischer Heimatkonzepte bei Autorinnen der Gegenwartsliteratur. Sulzbach/Taunus 2011 (=Kulturwissenschaftliche Gender Studies Bd. 16) und Elisabeth Bütfering, »Frauenheimat Männerwelt. Die Heimatlosigkeit ist weiblich«, in: Will Cremer und Ansgar Klein (Hgg.), Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven, Bielefeld 1990, S. 416–436.
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hen, ihm als zentraler Gegenstand installiert sind, gar synonym für ›Heimat‹ gesetzt werden [...].«16
Im Fall Werner Holt repräsentieren die verschiedenen Frauenfiguren nicht allein eine Heimat, sie offerieren ihm verschiedene Lebensentwürfe, die ihn in die Gesellschaft integrieren könnten. Schwester Maria Nach der abenteuerlichen Flucht rettet die Krankenschwester Maria Holts Leben, im Fieberwahn erscheint sie ihm als Wiedergängerin von Schwester Regine, deren Fürsorge ihn im Krieg gerettet hatte. 17 Der aufopferungsvolle Beistand lässt Holt genesen. Maria bemüht sich hingebungsvoll um Holt und bietet ihm an, als Pfleger im Krankenhaus zu bleiben. Schwester Marias angebotener Weg ist die Religion: »›Wann hast du das letzte Mal gebetet?‹, fragte sie. Er schob die Hände in die Hosentaschen und blickte auf ihr Gesicht herab, das der Eifer rötete. Und nun erinnerte er sich an Schwester Regine; auch Schwester Regine hatte gesagt: Versuchen Sie doch zu beten!, und wie damals regte sich Auflehnung in Holt, wuchs und schlug in Erregung um: ich will keinen Gott! dachte er. Die Menschen müssen dran schuld sein, an Not und Elend und den vielen Toten, vielleicht weil sie unvollkommen sind, oder wer weiß, warum. Gott soll nicht schuld sein, sonst wär’s zum Verzweifeln!« (WH 124f)
Holt schlägt Marias Angebot aus; ihre weibliche Fürsorge hätte er noch angenommen, doch Religion taugt für Holt nicht als Notbehelf. Die Absage an den religiösen Ausweg ist dabei nicht radikal atheistisch begründet; endgültig ist diese Absage dennoch. Nichtsdestoweniger schöpft Holt im Krankenhaus neuen Mut und blickt das erste Mal optimistisch in die Zukunft: »Aber eins wußte er jetzt wieder: nach dem Warum unaufhörlich zu forschen, endlich ganz von vorn anzufangen und zu suchen, zu fragen, wie es ihm einmal vage als Hoffnung und Möglichkeit des Überlebens und Weiterlebens vorgeschwebt war – das allein konnte seinem Leben in Zukunft Sinn und Richtung geben.« (WH 125)
16 Miriam Kanne, Andere Heimaten, S. 15. 17 Die Figur der Schwester Regine tritt im ersten Band auf, sie ist ebenso aufopferungsvoll und religiös wie Maria.
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Darüber hinaus markiert das Krankenhaus eine Übergangsepisode in Holts erzählter Entwicklung; der Prozess der Genesung wird mit der Ankunft im Westen parallelisiert. Im Anschluss an die inszenierte Ablösung durch Holts Erlebnisse im Wald, finden sich nun Allusionen auf grenzüberschreitende Erfahrungen: Holt schwankt zwischen Träumen und Wachen und er vermischt Erinnerungen und Erlebnisse: Die chronologische Zeitordnung scheint partiell aufgehoben. Holts Neuanfang im Westen, seine Transformation oder individuelle Entwicklung wird antizipiert. Zugleich wird der scheinbare Optimismus dieser Parallelführung von Genesung und Westreise negiert: Schwester Maria und das Krankenhaus stellen für Holt nur einen von mehreren Lebensentwürfen im Westen dar, die letztlich alle verworfen werden. Holt reist nach dieser kurzen Episode weiter zur zweiten Station seiner Westreise; auf die religiöse Option folgen die Möglichkeit einer materiell abgesicherten bürgerlichen Existenz und ein utopisches Aussteigeridyll. Wieder verspricht sich Holt von Frauenfiguren die rettende Erlösung. 18 In Hamburg erprobt Holt zunächst die durch seine Mutter personifizierten Heilsversprechen. Holts Mutter Holt wird von seiner Mutter in Hamburg ein standesgemäßer Empfang im großbürgerlichen Nest bereitet. Dienstmädchen, Pudel19, Orientteppiche und makellose Manieren bilden dafür das Fundament. Die Familie Rennbach (Mutter, Tante und zwei Onkel) nimmt Holt mit offenen Armen auf, kleidet ihn neu ein, staffiert ihn aus und führt ihn in die Gesellschaft ein, die eine Karikatur stereotypisierter Bürgerlichkeit abgibt. Holt lernt durch seine Verwandtschaft weitere junge Erwachsene aus ›besseren Kreisen‹ kennen, die entweder übertrieben vergeistigt (Gisbert Wulf), miss-
18 Die Heilsamkeit weiblichen Beistandes ist ein Topos der Literatur der Nachkriegszeit. Das Erlösungsversprechen der Frauen ist dabei tröstend und restauriert zugleich die Geschlechterordnung, die durch den Krieg aus den Fugen geraten war. Es ist dabei kein Zufall, dass sich diese Rollenverteilung im Roman besonders in Westdeutschland findet, das offizielle Rollenbild der sozialistischen Frau weicht vom Klischee der aufopferungsvollen Hausfrau ab. Vgl. dazu Ellen Graßmann, Frauenbilder im deutschen Roman der fünfziger Jahre, Frankfurt a.M. 2004 (=Studien zur Deutschen und Europäischen Literatur des 19. Und 20. Jahrhunderts, Bd. 56). 19 Ich möchte nicht verschweigen, dass die beiden Familienhunde »Mokka« und »CocaCola« heißen. (WH 127)
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günstig und materialistisch (Gitta Tredeborn) oder reaktionär und amoralisch (Roland Henning) sind. Besonders Roland Henning verkörpert das Klischee bürgerlicher Dekadenz: Er verführt Holt zu Alkoholexzessen und herabwürdigenden sexuellen Ausschweifungen. Doppelmoral und Hypokrisie bestimmen die Gesellschaft, die großbürgerliche Inszenierung von Wohlstand und Moral wird als reine Illusion dargestellt. Holt durchschaut diese Illusion frühzeitig und begegnet diesen Herausforderungen mit Ironie und Distanzierung. Durch geschickte Maskerade bleibt Holt Herr der Lage. Im Gespräch mit seinem Onkel wiederholt Holt als Meister der Mimikry all die Vorurteile gegenüber der SBZ, der sozialistischen Wirtschaftsordnung und wirtschaftlicher Aussichten, die er sich in vorherigen Gesprächen anhören musste (WH 168ff); erzählerisch wird diese Kritik am Sozialismus so ironisiert und entschärft. Im Gespräch mit dem Onkel streut Holt Versatzstücke und Vorurteile geschickt ein, um den Onkel um den Finger zu wickeln. So gelingt es Holt seinen Onkel zu überzeugen ihn auf eine Reise Richtung Schwarzwald mitzunehmen. Er spielt vorbildlich den überzeugten Kapitalisten und zugleich weiß der Leser um die zwielichtige Herkunft jener ›Überzeugung‹, wenn Holt gerade die Figuren zitiert, die als besonders negativ hervorgehoben wurden, wie beispielsweise Roland Henning. Holts scheinbare Kritik an Ostdeutschland wendet sich so funktional gegen die westdeutsche Lebensweise. Als ernstzunehmender Ausweg aus Holts Lebenskrise erscheint der bürgerliche Lebenswandel an keiner Stelle. So verwundert es nicht, dass er sich heimlich absetzt um Uta Barnim in ihrer abgeschiedenen Schwarzwaldhütte zu finden. Uta Barnim Der Weg zu Uta Barnim bedeutet für Holt einen erneuten Bruch mit seiner Familie. Holt reist mit seinem Onkel nach Süddeutschland und setzt sich dann nach Freiburg ab. In Freiburg erlebt Holt eine zusätzliche symbolische Ablösung: Bei einem Raubüberfall stiehlt man ihm Geld und die bürgerliche Kleidung, jene Dinge, mit der seine Familie ihn ausstaffiert und gesellschaftsfähig gemacht hatte (WH 177). Dieser Verlust gleicht daher eher einer reinigenden Demaskierung Holts als einem Schicksalsschlag und bereitet Holt auf Uta vor, die für Holt einen alternativen Lebensentwurf darstellt. Mittellos und zugleich befreit von den bürgerlichen Bürden reist er zu Utas Waldhütte. In Erwartung den »Stern einer Kleinstadtgesellschaft« (WH 183) anzutreffen, setzt Holts Enttäuschung gleich zu Beginn im Schwarzwald ein: Uta ist hart geworden. Sie trägt einfache, sonderbare Kleider, kommandiert Holt im Befehlston und ist gefühlskalt und wortkarg: Utas Aussteiger-Idylle erweist sich
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als hartes Eremitendasein, das wenig einladend ist. Die positive Erinnerung an Uta wird als Täuschung entlarvt, sie selbst zeigt sich nicht als tröstender Beistand für den Kriegsheimkehrer und erfüllt somit auch nicht das weibliche Rollenklischee, ganz im Gegenteil: Uta trägt Lammpelze und Männerkleidung (WH 184) und ist muskulös statt anmutig und elegant (WH 187); demzufolge kann sie nicht die Rolle einer madonnenhaften, weiblichen Erlöserin einnehmen.20 Der Bruch mit Holts Erwartungen und die Aufhebung der tradierten Rollenmuster evozieren in der Waldhütte – ähnlich wie im Krankenhaus – eine transformative Grenzerfahrung. In der Abgeschiedenheit des Schwarzwaldes sind gesellschaftliche Konventionen aufgehoben: So wie Holt die bürgerliche Kleidung ablegen musste und nun eines von Utas Lammfellen trägt, hat Uta selbst das Klischee der ›höheren Tochter‹ abgelegt und lebt als einsame Eremitin. Zunehmend erkennt Holt in Utas Waldidylle eine Verweigerungshaltung, die zweifellos in Utas großbürgerlicher Herkunft wurzelt: »Auf einmal erkannte er: Utas Askese war nur eine originelle Spielart des Besitzes. Ein anderer Mensch werden? Auf ihren Höfen bleibt sie der alte in neuem Stil. Welche Illusion! dachte Holt. Das Bild der Einöde, aus der Entfernung schon verschwommen, es verblaßte, ein Weg wurde zum Irrweg, und der Widerspruch des Lebens stand wieder schroff und ausweglos vor ihm ... ›Aus der Traum!‹ murmelte er kraftlos.« (WH 209).
Holt wird Uta und ihren »Irrweg« verlassen, ermuntert wird er dazu von einem als Mentor fungierendem Anwalt, der um die Aufarbeitung des Nationalsozialismus bemüht und dem Sozialismus wohlgesonnen ist. Er stellt die Leitfrage »Warum sind Sie nicht dort geblieben?« (WH 210), die komplementär zur ersten Frage »Und da leben Sie hier?« (WH 76f) steht und Holts Denken zurück in die SBZ lenkt. In Holt reift der Entschluss zur zweiten Rückkehr zu seinem Vater, zu einer neuen »Wanderschaft« (WH 213, 232, 245). Diese Wanderschaft beginnt Holt im Bewusstsein der Suche: »Ich treibe hierhin, dorthin, umhergespült, mitten im Strom. Ich suche das Leben, mein Leben. Alles jagt an mir vorbei, nichts hat Bestand, ich suche etwas Bleibendes, vielleicht
20 Ellen Graßmann diagnostiziert in der (westdeutschen) Literatur der 1950er Jahre eine Reproduktion der »traditionellen patriarchialischen Rollenmuster«, die auch zum Tragen kommt. Ellen Graßmann, Frauenbilder, S. 187. In Die Abenteuer des Werner Holt werden diese Rollenmuster geradezu klischeehaft eingefordert.
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Liebe, vielleicht Wahrheit, ich weiß nicht, ich suche etwas wie den archimedischen Punkt.« (WH 214)
Er kehrt zunächst nach Hamburg zurück, gekleidet in den Lammpelz von Uta. Symbolisch aufgeladen21 zeigt er sich so als Außenseiterfigur, die das Abseits selbst gewählt hat und der konventionellen Gesellschaft antagonistisch gegenübersteht. Diese letzte Konfrontation mit der kapitalistischen Gesellschaft, überspitzt verkörpert von Holts Verwandtschaft und nächster Bekanntschaft führt Holts endgültigen Entschluss zur Rückkehr in die SBZ herbei. Er vergewissert sich seiner selbst und identifiziert sich eindeutig über seine väterliche Abstammung: »Ich habe nichts zu schaffen mit euch, ich gehöre nicht zu dieser weitversippten Familie Rennbach. Ich heiße Holt. Mein Vater ist weder Kaufmann noch Fabrikant. Mein Vater ist Arzt und Hochschullehrer. Ich geh zu ihm zurück, für immer. Ich geh zu den anderen. Dort gibt es Menschen, um die es sich lohnt. Ich habe sie nicht verstanden, aber ich habe nicht versucht sie zu verstehen. Diesmal geben ich mir Mühe.« (WH 249, Hervorhebung J.G.)
Werner Holts Heimkehr Die zweite Hälfte des Romans widmet sich nun Holts zweiter Wanderschaft, der endgültigen Rückkehr in die SBZ. Holt widmet sich der Schule, seiner künstlerischen, wissenschaftlichen und politischen Bildung (mit verschiedenen Mentorenfiguren) und knüpft neue Bande zu dem Mädchen Angelika. Er erweist sich als gereift und verantwortungsvoll und blickt optimistisch in seine Zukunft: »Ich will es durchkämpfen, das Leben und die Zeit, ich fühle mich unverbraucht.« (WH 468) Werner Holt ist auf dem besten Wege heimzukehren und im Sozialismus anzukommen. Die Abenteuer des Werner Holt, insbesondere der zweite Band, lässt sich als Teil der so genannten ›Ankunftsliteratur‹ einordnen. Affirmativ wird für die sozialistische Gesellschaftsordnung votiert, der Protagonist ist ein positiver Held, man kann (und soll) von ihm lernen. Man muss der Figur aber dabei eine gewisse Komplexität zu Gute halten; Holt wird erst nach und nach zum Helden des sozia-
21 Als bedrohlicher »Wolf im Schafspelz« wird Holt nicht gezeichnet, er stellt keine wirkliche Gefahr dar. Seine selbst gewählte Außenseiterposition und Ablehnung der Gesellschaft werden mit dem Pelz aber deutlich markiert.
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listischen Realismus. Als Figur, die permanent mit sich und der Gesellschaft hadert, bietet er ein hohes Identifikationspotenzial. Ganz im Sinne eines im Kern didaktischen Literaturkonzeptes, wie dem sozialistischen Realismus, bieten sich so viele Gelegenheiten die Entwicklung des Charakters argumentativ zu begleiten; Überzeugungsarbeit leisten dabei verschiedene Mentorenfiguren. Am Ende steht so folgerichtig Holts affirmative Einordnung in die sozialistische Gesellschaftsordnung, die den Entwicklungsgang des Protagonisten glücklich und systemkonform abschließt. Holts späterer Lerneifer, seine zunehmende mathematische und literarische Expertise verweisen dabei ebenso auf Elemente des Bildungsromans, wie die letztlich erfolgreiche Suche nach einer Lebenspartnerin. Dieser literarischen Tradition ist der Roman, als Erzählung einer fiktiven Entwicklungsgeschichte mit besonderem Augenmerk auf die charakterliche Bildung und Entwicklung des Protagonisten insgesamt verpflichtet. Dabei wird das Gattungsmuster variiert und aktualisiert. Im Vordergrund steht nun nicht mehr die Bildung als klassischhumanistische und charakterliche Vervollkommnung, sondern die politische Entwicklung, insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Kriegserfahrung. Heinz Hillmann verweist ausdrücklich darauf, dass dieser Erfahrungshorizont auch das Alter des Protagonisten bedingt: Holt ist zur Zeit seiner Wanderjahre bereits erwachsen.22 Eine Besonderheit von Holts Bildungsgeschichte ist Holts Reise in den Westen, die zunächst als Neuanfang inszeniert wird, sich aber letztlich als Irrweg erweist. In Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Gesellschaft, den Kontinuitäten zum Nationalsozialismus und der eskapistischen Illusion findet Holt schließlich den Weg zurück zu seinem Vater und in den Sozialismus. Diese Reise ist in das Muster der Westschleife gefasst. Holts Grenzüberschreitung ermöglicht die Auseinandersetzung mit dem ›Anderen‹, mit der westdeutschen Gesellschaft. Die Entwicklung des Protagonisten wird mit der grenzüberschreitenden Reise parallelisiert und räumlich auf der Grenze verortet. Das Sozi-
22 Vgl. Heinz Hillmann, »Restauration und Dekonstruktion in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur«, in: Heinz Hillmann und Peter Hühn (Hgg.), Der Entwicklungsroman in Europa und Übersee. Literarische Lebensentwürfe der Neuzeit, Darmstadt 2001, S. 275–294, hier S. 279: »Der Held wurde nicht aus Kindheit oder Jugend sozialisiert und in Beruf, Ehe und Gesellschaft neu integriert, sondern war zunächst – durchaus realistisch – ein aus dem Dritten Reich kommender Erwachsener, der nun in einem schwierigen Prozess sozialisiert wurde, wie etwa Werner Holt in Dieter Nolls gleichnamigen Roman.«
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alisationsspiel23 wird auf diese Weise durch die Grenze markiert und erhält in der Grenzüberschreitung einen bedeutenden Schritt in der Entwicklungsgeschichte des Protagonisten. Durch die Grenzreise wird Westdeutschland als negative Folie inszeniert, vor der die SBZ als einzige Option für Holts Zukunft erscheint. Holts Erfahrungen jenseits der Grenze führen also nicht zu einer Eingliederung in die westdeutsche Gesellschaft, sondern provozieren Holts Reflexion und bewirken so seine argumentativ gestützte Entscheidung für die SBZ. Die teilweise problematischen Erfahrungen von Instabilität, nämlich die politische und moralische Unsicherheit, wird dabei in die westdeutschen Besatzungszonen ausgelagert, die Topographie des Romans ist symbolisch aufgeladen. Werner Holts Entwicklungsgeschichte als fiktive Autobiographie steht dabei eindeutig in der Tradition des Bildungsromans. Die deutsch-deutsche Grenze bedingt hier die Westschleife des Protagonisten und markiert seine Entwicklung, sie ist ein essentielles Strukturmerkmal des Romans. Die Tradition des Bildungsromans als Entwicklungsnarrativ wird dabei durch die Grenzreise und die symbolische Grenztopographie modifiziert. Im Gegenzug ermöglicht der Bildungsroman als zugrundeliegende Gattung so auch eine Literarisierung der Grenze, die über eine mimetische Darstellung hinausgeht. Die Grenze schreibt an dieser Literatur mit.
ZUR TRADITION DES BILDUNGSROMANS Der Bildungsroman stellt die Grundlage für das literarische Spiel der Grenze. Als etablierte und variantenreiche Form eröffnet die Tradition des Bildungsromans Spielräume für Aktualisierungen und Modifikationen. Die Ursprünge dieser Gattung werden im 18. Jahrhundert verortet: Goethes Wilhelm Meister und Wielands Agathon werden als frühe(ste) Bildungsromane angeführt; gerade Wilhelm Meister gilt bis heute als traditionsbildendes Gattungsparadigma.24 Die Entwicklungsgeschichte der – meist männlichen – Protagonisten wird als fiktive Biographie erzählt, die einem zielgerichten Bildungsweg folgt und in
23 Friedrich Kittler prägte den Terminus »Sozilisationsspiel« für Entwicklungsnarrative, vgl. Gerhard Kaiser und Friedrich A. Kittler, Dichtung als Sozialisationsspiel. Studien zu Goethe und Gottfried Keller, Göttingen 1978. 24 Jürgen Jacobs, »Bildungsroman«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. I, Berlin und New York 1997, S. 230–233, hier S. 230f.
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sowohl Selbstfindung als auch Verortung in der Gesellschaft mündet. 25 Die Sozialisationsgeschichte stellt eine Vermittlung zwischen den subjektiven Bedürfnissen des Individuums mit den gesellschaftlich-konventionellen Anforderungen dar. Diese Entwicklung wird anhand verschiedener, miteinander verknüpfter, und oft in einer Reisebewegung eingebundener Topoi erzählt, wie der Wahl des Lebenspartners, beruflicher Etablierung, künstlerischer und charakterlicher Bildung. Das aufklärerische Konzept der (bürgerlichen) »Bildung« 26 wird zum zentralen literarischen Thema. Gemeint ist damit eine Synthese aus moralischer Selbstbildung und institutioneller Ausbildung;27 der Bildungsroman stellt eine Balance zwischen Individuation und Integration her. 28 Die Grundlage für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Gattung Bildungsroman bereitete Wilhelm Dilthey. Dilthey orientiert sich vornehmlich an Goethes Wilhelm Meister und dessen romantischen Nachfolgern und entwickelt so eine idealisierte Vorstellung der Gattung.29 Die narrative Vermittlung eines individuellen Bildungsweges stellt das Thema der Gattung dar, dabei wird der Eindruck eines gesetzmäßigen Verlaufs gestärkt durch schematische Konflikte mit der Gesellschaft, die schlussendlich in einen harmonischen Idealzustand überführt werden. Ausgehend von Diltheys Ansatz wird die Gattung des Bildungsromans idealisiert und typisiert. Rolf Selbmann schließt aus der historischen Betrachtung, dass der Bildungsroman aufgrund dessen zur »typisch deutschen Form«30 werden konnte. Das zugrundeliegende (deutsche) Bildungskon-
25 Vgl. Ebd. 26 Wilhelm Voßkamp stellt das Konzept der „Bildung“ als originär deutsches Konzept dar und verdeutlicht dies an der Übersetzungsproblematik des Begriffes sowie an dessen Konzeption. Vgl. Wilhelm Voßkamp, Der Roman eines Lebens. Die Aktualität unserer Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman, Berlin 2009, S. 33ff. 27 Vgl. ebd., S. 15. 28 Voßkamp beschreibt diesen Prozess als Verbindung von selbstbestätigender Homogenisierung und kritischer Selbstreflexion. Ebd., S. 141f. 29 Rolf Selbmann, Der deutsche Bildungsroman. 2. überarbeitete und erweiterte Neuauflage,Stuttgart, Weimar 1994, S. 15ff. 30 Ebd., S. 18. Auch Ortrud Gutjahr betont die Verschränkung der Gattung und insbesondere des Bildungsbegriffs mit nationalistsichen Tendenzen im 19. Jahrhundert. Vgl. dies., Einführung in den Bildungsroman, Darmstadt 2007, S. 18. Jürgen Jacobs weist explizit darauf hin, dass diese These in der Tradition einer »chauvinistischen Literaturhistorie stehe«, Jürgen Jacobs, »Bildungsroman«, S. 232. Trotzdem habe nach Jacobs die Gattung in der deutschen Literatur einiges Gewicht, so dass diese These
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zept, die Fokussierung der Innenwelt des Protagonisten und die vermeintliche Singularität in der europäischen Literaturlandschaft31 wurden als Belege für die Nationalität der Gattung herangezogen. Teleologische Tendenzen in der Gattung ermöglichen zudem die retrospektive Zusammenführung von Geistes- und Nationalgeschichte. Die Gattung des Bildungsromans als deutsche Gattung hat somit zur Bildung eines Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert beigetragen, zugleich haben auch die zeitgenössischen nationalistischen Tendenzen einen Beitrag zur Wertschätzung und Kanonisierung einzelner Bildungsromane geleistet. Die literarische Gattung des Bildungsromans und die Bildung eines deutschen Nationalbewusstseins sind eng miteinander verknüpft; der Bildungsroman kann mithin als Gattungsparadigma der deutschen Literatur betrachtet werden. In diesem Kontext verwundert es nicht, dass auch der nationale Teilungsdiskurs in dieser Gattung verhandelt wird: Winfried Taschner erkennt im Bildungsroman der DDR »eine Romanart von nationalliterarischer Repräsentanz«32 Die Gattung des Bildungsromans sei zur Förderung einer Nationalliteratur der DDR instrumentalisiert worden. Der Erfolg dieser Bemühungen kann allerdings bezweifelt werden. Relevant ist hier aber die Prämisse, der Bildungsroman sei eine spezifisch deutsche Gattung, und daher prädestiniert zur ideologischen Distinktion. Auch jenseits des Nationalitätsdiskurses zeugt der idealisierte Bildungsroman von hohem politischen Potenzial. Joseph R. Slaughter etwa verknüpft den Bildungsroman sehr überzeugend mit der Formulierung der Menschenrechte. Als »mutually enabling fictions«33 laufen die Etablierung der literarischen Gattung
von der Nationalität des Bildungsromans im Kontext deutsch-deutscher Literatur als These mit eigener nationalistischer und somit politischer Tradition noch Relevanz hat. 31 Jacobs verweist auf die apprenticeship novel, novel of formation oder den roman d’education. Wie der Terminus »Bildungsroman« haben auch diese Bezeichnungen eigene Traditionen. Fest steht allerdings, dass der Bildungsroman als Erzählung einer individuellen Sozialisation, der harmonische Ausgleich von »Selbstfindung« und »Integration in die Gesellschaft« über Bildung und Kunst in der internationalen Literatur weit verbreitet ist. Vgl. Jürgen Jacobs, »Bildungsroman«, S. 230. 32 Winfried Taschner, Tradition und Experiment. Erzählstrukturen und -funktionen des Bildungsromans in der DDR-Aufbauliteratur, Stuttgart 1981, S. 1. Taschner fokussiert dabei die so genannte Aufbauliteratur, die zeitlich der Ankunftsliteratur vorausgeht und den geordneten Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Nachkriegszeit thematisiert. 33 Joseph R. Slaughter, »Enabling subjects and Novel Subjects. The Bildungsroman and International Human Rights Law«, in: Publications of the Modern Language Association of America 12.5 (2006), S. 1405–1423, hier S. 1407. Resümierend heißt es :
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und die der Menschenrechte Hand in Hand. Die Gattung des Bildungsromans erzähle eine demarginalisierende Integrationsgeschichte und etabliere so den emanzipierten Bürger. Vor diesem Hintergrund werde so das (imaginierte) Ideal der Menschenrechte lesbar, das auf ebenjene emanzipierten Bürger bezogen sei. Die Gattung des Bildungsromans, und nicht der einzelne Roman, formuliere in der erzählten Sozialisationsgeschichte die idealistische Vorstellung einer harmonischen Relation zwischen Individuum und Gesellschaft, die zwischen Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Verpflichtung vermittelt sei. Nach Slaughter setzen der Bildungsroman und die Menschenrechte diese Ideal voraus und streben es gleichermaßen an. Die Gattung des Bildungsromans mit ihren vielfältigen Implikationen bedarf einer relativ offenen Konzeption, daher soll der Bildungsroman hier nicht auf idealtypische Romane in der Tradition des Wilhelm Meister beschränkt werden. Um die deutsch-deutsche Literatur der Grenze mit dem literarischen Modell des Bildungsromans zu untersuchen, wird ein offenes Konzept favorisiert: Anschließend an Selbmann wird der Bildungsroman als Entwicklungsnarrativ verstanden, das individuelle Entfaltung und Selbstfindung eines Protagonisten in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft verbindet.34 In diesem Narrativ spielen traditionell geistige und künstlerische Erfahrungen, berufliche Etablierung und die erfolgreiche Partnersuche eine wichtige Rolle. Dabei ist ›Bildung‹ ein zentraler, aber kein exklusiver literarischer Diskurs. Daher sei es »gleichgültig, ob die Bildungsgeschichte gelingt, bruchlos verläuft, zu Fehlbildungen führt, dem Helden verloren geht usw.«35 Mit diesem offenen Verständnis ist es möglich auch moderne Romane, die sich restaurativ oder kritisch mit der Gattungstradition auseinandersetzen können, mit dem Begriff des Bildungsromans zu fassen und zu kontextualisieren. Die Anschlussfähigkeit des Bildungsromans als literarische Gattung ist sehr hoch. Er provoziert vielfältige Auseinandersetzungen, ob epigonale Nachfolgeromane, parodistische Umformungen oder aktualisierte Fortentwicklungen der Gattung. Die fast normative Gattungstradition verführt zum Bruch mit den Kon-
»Recognizing the mutual complicities of human rights and the Bildungsroman – and their historical cooperation in naturalizing the terms of incorporation and disenfranchisement – means also recognizing that our reading acts have implications not only for the imagination but also for the legislation of an international community constituted on human rights«, ebd. S. 1419. 34 Vgl. dazu auch Jürgen Jacobs »Bildungsroman«. 35 Rolf Selbmann, Der deutsche Bildungsroman, S. 33.
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ventionen; beispielsweise wird die Typisierung des Protagonisten regelmäßig aufgehoben. Statt des jungen weißen Mannes der Mittelschicht treten marginalisierte Figuren als Protagonisten auf, etwa Frauen oder Migranten. Auch die Bewertung des Bildungsromans ist vielfältig: als kritische und ›ultramoderne‹ Romanform der Aufklärung, als idealisierte Bildungsfibel des Bürgertums oder als nationalkonservatives Instrument. Der Bildungsroman kehrt als literarischer Wiedergänger regelmäßig auf die Bestsellerlisten zurück und ist seit Dilthey eine feste Größe in der germanistischen (und komparatistischen) Literaturwissenschaft. 36 Seine enorme Reichweite und Anschlussfähigkeit räumen dem Bildungsroman auch großen Raum in der ostdeutschen Literatur ein. Der sozialistische Entwicklungsroman Die Tradition des Bildungsromans findet sich auch als narratives Modell in der Literatur aus der DDR wieder. Wolfgang Emmerich beobachtet gerade in der Ankunftsliteratur der 1960er Jahre die Anknüpfung an die Tradition des Bildungsromans.37 Auf die Instrumentalisierung zur Bildung einer ›Nationalliteratur der DDR‹ wurde mit Taschner bereits verwiesen. Der Anschluss an die literarische Tradition ist dabei allerdings nicht selbstverständlich. Der Bildungsroman ist tief in der bürgerlichen Tradition verwurzelt und scheint daher nicht auf die sozialistische Lebensrealität übertragbar zu sein. Selbmann bezeichnet den Terminus »sozialistischer Bildungsroman« als eine »begriffliche Mogelpackung, weil dem Terminus ein bürgerlicher Bildungsbegriff zugrunde liegt, der nach sozialistischen Vorstellungen als längst überwunden gelten muß«.38 Es verwundert nicht, dass der Terminus Bildungsroman in der DDR als durch die bürgerliche Ideologie korrumpiert galt. Seit den 1970er Jahre wurde der Begriff dann durch den neutraler klingenden Terminus »sozialistischer Entwicklungsroman« ersetzt, der aber nicht weniger ideologisch ist.39
36 Statt auf einschlägige Literatur möchte ich hier auf aktuelle Forschungsinteressen verweisen: Bildungsroman und Anti-Bildungsroman, männliche und weibliche Protagonist*innen, Entwürfe des Bildungskonzeptes, Infragestellung der Idealisierung (und Vereinfachung) des Wilhelm Meister, geistesgeschichtliche Ansätze, Gesellschaftskritik im Bildungsroman, Aktualität der Gattung, interkulturelle Bildungsromane, etc. 37 Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte, S. 146. 38 Rolf Selbmann, Der deutsche Bildungsroman, S. 155. 39 Auf diesen Zusammenhang weist Frauke Bolln kritisch hin, vgl. Frauke Bolln, Zwischen Beat Generation und ›Ankunftsliteratur‹. Fritz Rudolf Fries’ Roman »Der Weg nach Oobliadooh«, Bielefeld 2006, S.102f.
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Die Bemühungen, den Bildungsroman so zu modifizieren, dass er mit kulturpolitischen Vorstellungen von sozialistischer Literatur konform gehen kann, stechen daher sofort ins Auge. Selbmann beobachtet als Bildungsziel die normative Bestätigung der Gesellschaft durch den Protagonisten; die Selbstfindung des Protagonisten werde also mit der Einordnung in die sozialistische Gesellschaft häufig gleichgesetzt, statt die Entfaltung der individuellen Anlagen zu forcieren. 40 Emmerich formuliert diese Beobachtung etwas anders; der genuin affirmative Gestus der sozialistischen Entwicklungsromane gerät bei Emmerich dabei in den Hintergrund: »Gewiß hat dabei eine Modifikation stattgefunden, insofern der Prozeß der Individuierung als von den alten und neuen gesellschaftlichen Verhältnissen geprägter dargestellt wird, nicht mehr als organische Ausfaltung einer vorgegebenen Entelechie.«41
Entscheidende Impulse für die Aktualisierung und Modifizierung der Gattungstradition gingen von Georg Lukàcs aus. 42 Bereits 1920 ging Lukàcs in seiner Theorie des Romans auf den Bildungsroman ein. Er sieht in ihm die humanistische Verwirklichung eines Kompromisses zwischen romantischer Innerlichkeit und abstraktem Idealismus, der Vermittlung zwischen Individuum und (idealer) Gesellschaft. Thema des Bildungsromans sei »die Versöhnung des problematischen, vom erlebten Ideal geführten Individuums mit der konkreten, gesellschaftlichen Wirklichkeit«43. Lukàcs bezeichnet den Bildungsroman als Erziehungsroman, nach eigener Aussage »[m]it Recht, denn seine Handlung muß ein auf ein bestimmtes Ziel gerichteter, bewußter und geleiteter Prozeß sein, die Entwicklung von Eigenschaften in den Menschen, die ohne ein derartiges, tätiges Eingreifen von Menschen und glücklichen Zufällen, niemals in
40 Vgl. Rolf Selbmann, Der deutsche Bildungsroman, S. 155ff. 41 Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte, S. 146. 42 Frauke Bolln betont die Bedeutung Lukàcs’ für die Traditionsbildung; seine Thesen aus den 1920er und 30er Jahren wurden in der DDR gezielt lanciert. Vgl. Frauke Bolln, Zwischen Beat Generation und ›Ankunftsliteratur‹, S. 106 43 Georg Lukàcs, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Darmstadt/Neuwied 1983 (=Sammlung Luchterhand Bd. 36), S. 117.
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ihnen zur Blüte gekommen wären; denn das auf diese Weise Erreichte ist selbst etwas für andere Bildendes und Förderndes, selbst ein Erziehungsmittel.«44
Hier zeigt sich die normative Tendenz des Programms des sozialistischen Realismus, mit dem Lukàcs Gedanken zum Bildungsroman eng verbunden sind: Der Erziehungsauftrag des sozialistischen Realismus kann in der Form des Bildungsromans optimal erfüllt werden, nicht allein in der fiktiven Welt, sondern durch die Formvorgaben der Gattung selbst. Vor diesem Hintergrund erscheint die Adaptierung der bürgerlichen Gattungstradition in der sozialistischen Literatur nicht mehr verwunderlich, sondern folgerichtig. Als paradigmatischer sozialistischer Bildungsroman gilt Johannes R. Bechers Abschied, der die Ablösung des Protagonisten von seiner bürgerlichen Herkunft und dessen sozialistische Entwicklung bzw. Sozialisation beschreibt.45 Die Lektüre dieses Romans ist bezeichnenderweise auch ein Schlüsselerlebnis für Dieter Nolls Figur Werner Holt: »Es geht mich unmittelbar an, auch Sie, uns alle; es ist das Thema unseres Lebens.« (WH 293) Holt richtet sich damit nicht nur an seinen fiktionalen Gesprächspartner, sondern an den Leser und die gesamte Gesellschaft (»uns alle«). Bechers Roman wird durch diese Übertragungsleistung vom intertextuellen Zitat zur Folie, auf der sich Holts Geschichte abbildet. Werner Holt ordnet seine eigene Geschichte in die literarische Gattungstradition ein; das fiktionale Leben wird in der Literatur widergespiegelt, ebenso wie das Leben des Lesers sich im sozialistischen Entwicklungsroman abbilden soll. Wie zuvor gezeigt, wird Nolls Entwicklungsroman um die Grenze als Strukturmerkmal ergänzt, wie das Modell der Westreise deutlich zeigt. Die Gattungstradition des Bildungsromans, die in der Literatur der DDR zum didaktischen Entwicklungsroman modifiziert wird, erhält somit Eingang in die Literatur der Grenze. Trotz normativer Tendenzen innerhalb der Genrekonventionen in Westwie Ostdeutschland, deutet sich hier an, dass die Grenze den literarischen Spielraum erweitert. Es finden sich in der ostdeutschen Literatur weitere Romane, die mithilfe der Grenze, bzw. dank der Auseinandersetzung mit ihr, literarische Gepflogenheiten aufgreifen und innerhalb tradierter Muster neue deutschdeutsche Narrative entwickeln. Dazu zählen Christa Wolfs Der geteilte Himmel und Fritz Rudolf Fries’ Der Weg nach Oobliadooh. Beides sind Entwicklungsnarrative, die um das Modell der Grenzreise ergänzt werden. Sie stehen in enger Verbindung zu Nolls Die Abenteuer des Werner Holt, der als exemplarischer Roman der »Ankunftsliteratur« dabei als Referenzpunkt dient. Die beiden ande-
44 Ebd., S. 120. 45 Vgl. Rolf Selbmann, Der deutsche Bildungsroman, S. 155.
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ren Texte stellen diesem Muster weitere Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der Gattungstradition in der Literatur der Grenze zur Seite. Die literarische Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Grenze steht in wechselseitiger Beziehung zum Spiel mit den Konventionen des Entwicklungsnarrativs. Wie Wolf zeigt, werden neue deutsch-deutsche Geschichten mithilfe des etablierten (aber modifizierten) Modells erzählt. Fries zeigt, wie eine Integrationsgeschichte auf unkonventionelle Weise literarisiert wird und das narrative Modell durch weitreichende Grenzüberschreitungen neue Formen gewinnt.
CHRISTA WOLFS GETEILTER HIMMEL Der geteilte Himmel als Entwicklungsgeschichte Christa Wolfs zweite literarische Veröffentlichung Der geteilte Himmel von 1963 war in beiden deutschen Staaten überaus erfolgreich. 46 Erzählt wird die Liebesgeschichte von Rita Seidel und Manfred Herrfurth, die mit Manfreds Übersiedlung nach Westberlin im Sommer 1961, kurz vor dem Mauerbau, einen endgültigen Abschluss findet. Wegen der erzählten Arbeitsbiographie wird die Erzählung in die Nähe des »Bitterfelder Wegs« gerückt.47 Als angehende Lehrerin macht Rita vor Beginn ihres Studiums ein Praktikum in dem Waggonwerk in Manfreds Heimatstadt. Die Erfahrung des Arbeitsalltags in der Brigade ist ein wichtiger Teil von Ritas beruflicher und persönlicher Entwicklung. Ritas Entwicklungsgeschichte verbindet die verschiedenen Themen der Erzählung und bindet diese an die Gattungstradition des Bildungsromans. Die Liebesgeschichte von Rita und Manfred ist wenig spektakulär: Manfred und Rita verlieben sich und ziehen zu Manfreds Eltern in die Stadt. Zu Beginn ist die Liebesgeschichte glücklich, in Ritas Worten: »Die beiden Hälften der Erde paßten ganz genau ineinander, und auf der Nahtstelle spazierten wir, als
46 Vgl. den Kommentar von Sonja Hilzinger, »Entstehung, Veröffentlichung, Rezeption«, in: Christa Wolf, Der geteilte Himmel, in: Dies., Werke Bd. 1, hg. von Sonja Hilzinger, München 1999, S. 289–303. 47 Sonja Hilzinger u.a. kommen zu dieser Einschätzung, vgl. dies. »Kommentar«, S. 309. Hier widerspricht allerdings Hermann Korte, vgl. ders. »Wiedergelesen. Christa Wolfs kleiner Roman ›Der geteilte Himmel‹«, in: Christa Wolf. text+kritik 46 (2012), S. 38– 50, hier S. 43.
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wäre es nichts« (GH 23). 48 Im Verlauf der Erzählung entfremden Rita und Manfred sich zunehmend voneinander, das Gefühl der harmonischen Ganzheit schwindet. Manfred, der als hochmütig, spöttisch und gelangweilt charakterisiert wird, reist schließlich im Sommer 1961 ohne Ritas Wissen nach Westberlin. Rita besucht ihn dort in der Woche vor dem Mauerbau und kehrt zurück in die DDR. Ritas Westreise nach Berlin markiert das Ende der Liebesbeziehung, die Trennung des Paares geht mit Ritas Rückkehr in die DDR einher; die Naht der zwei Hälften der Welt wird gelöst. Ritas Rückkehr wird kausal mit der Trennung verbunden, so dass die Entscheidung für die DDR emotional motiviert wird, aber nicht politisch. Im Anschluss an Trennung und Rückkehr bricht Rita schließlich auf den Gleisen im Werk zusammen, das Letzte, was sie sieht, sind heranrollende Wagen. Rita überlebt diesen »Anschlag auf sich« (GH 259) und kehrt nach einem Sanatoriumsaufenthalt zurück ins Waggonwerk. Parallel zur Liebesgeschichte wird in Der geteilte Himmel von der Integration in die sozialistische Gesellschaft erzählt; dieses Entwicklungsnarrativ ist offensichtlich am Muster des Bildungsromans orientiert. Rita zieht vom Dorf in die Stadt, beweist sich im Werk und etabliert sich im Lehrerseminar. Im Unterschied dazu wird der promovierte Chemiker Manfred beruflich ausgebremst, als einzigen Ausweg sieht er die Ausreise nach Westberlin. Hinzu kommt Manfreds problematisches Verhältnis zu seinen Eltern. Manfred wirft ihnen Heuchelei und Opportunismus vor und distanziert sich von ihrer Lebenswelt; besonders deutlich wird diese Distanzierung durch Manfreds ›Inneneinrichtung‹ des Elternhauses: »Mein Lebenssarg. Eingeteilt in Wohnsarg, Eßsarg, Schlafsarg, Kochsarg« (GH 33). Während Ritas Biographie als sozialistische Integration erzählt wird, wird bei Manfred eine Gegenerzählung dazu etabliert – er scheitert. Manfred wird durch negative Eigenschaften charakterisiert, zudem scheitert seine Arbeitsbiographie, seine familiären Beziehungen sind problematisch, und schließlich verlässt er den sozialistischen Staat. Manfred wird als funktionale Gegenfigur zu Rita aufgestellt, das Ende der Liebesbeziehung wird so dramaturgisch gerechtfertigt und tritt zugleich hinter die erzählte Entwicklungsgeschichte zurück.49 Für
48 Zitiert nach folgender Ausgabe: Christa Wolf, Der geteilte Himmel. Zitiert wird im Folgenden mit der Sigle GH. 49 Hermann Korte verweist auf die gefährliche Lesart der »antithetischen Personenallegorie«, vgl. ders., »Wiedergelesen«, S. 46. Antithetisch sind Rita und Manfred sicherlich, jedoch sollen sie nicht auf sozialistische Heldin und bürgerlichen Antipoden reduziert werden. Die Gegenüberstellung ist zunächst funktional und dramaturgisch, nicht politisch motiviert.
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Ritas Entwicklungsgeschichte werden ihr stattdessen andere positive Figuren zur Seite gestellt: Im Werk trifft Rita Mentorenfiguren, wie den Kollegen Rolf Meternagel, sie befreundet sich mit dem jungen Werkleiter Ernst Wendtland, und auch der Dozent aus dem Lehrerseminar, Erwin Schwarzenbach, fördert Ritas Werdegang. Die beiden skizzierten Themen, Liebe und sozialistische Integration, sind ineinander verflochten, die Liebesgeschichte ist nicht nur eine Station auf Ritas Entwicklungsweg. Die Entwicklungsgeschichte dominiert aber deutlich die Handlung, wie es die analytische Erzählweise belegt: Der Roman setzt Ende August 1961 mit Ritas Sanatoriumsaufenthalt ein, retrospektiv wird ihre Lebensund Liebesgeschichte mit Manfred erzählt. Die Rahmenhandlung, die Genesung im Sanatorium, initiiert das Erzählen und gibt den Rhythmus der Entwicklungsgeschichte vor. Rita erinnert sich in Gesprächen mit verschiedenen Figuren. Genesung und Liebeserzählung werden auf diese Weise gegeneinander montiert, die Genesung Ritas wird parallel zum Scheitern der Liebesgeschichte erzählt. Christa Wolfs Erzählung wurde in Ost-und Westdeutschland so breit rezipiert, dass der Titel zum geflügelten Wort wurde. In beiden deutschen Staaten wurde Der geteilte Himmel Schullektüre. Im Osten wurde die Erzählung nicht einhellig positiv aufgenommen, die differenzierte Figurenzeichnung etwa wurde als verzerrt kritisiert. Auch die westdeutsche Kritik sucht in der Erzählung nach eindeutigen politischen Bekenntnissen. Hermann Korte weist darauf hin, dass »die permanente Reduktion und Zuspitzung der Romanlektüre auf das politische Anspielungspotenzial den damaligen politischen Debatten adäquat [erscheine:] aufgeregt, eng, polemisch, besserwisserisch und intolerant.«50 In der wissenschaftlichen Debatte wurde die Erzählung als Beispiel für eine sozialistisch geprägte Literatur der Arbeitswelt herangezogen. 51 Später wird der Geteilte Himmel auch aus feministischer Perspektive untersucht52 oder intertextuell betrachtet. So attestiert Kirsten Søholm Wolfs Geteiltem Himmel eine an
50 Ebd., S. 46. 51 Vgl. Bernhard Greiner, Von der Allegorie zur Idylle. Die Literatur der Arbeitswelt der DDR. Heidelberg 1974; Dieter Schlenstedt, »Motive und Symbole in Christa Wolfs Erzählung Der geteilte Himmel«, in: Weimarer Beiträge 10 (1964), S. 77–104. 52 Vgl. etwa Vera Klasson, Bewußtheit, Emanzipation und Frauenproblematik. In Der geteilte Himmel und drei weiteren Texten von Christa Wolf, Göteborg 1991 (=Göteborger Germanistische Forschungen 32).
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der literarischen Moderne orientierte Erzählweise. 53 Charakteristisch sei die subjektive Erzählhaltung und die Suche nach Ganzheit vor dem Hintergrund des »Zusammenbruch[s] aller konkreten politischen und sozialen Mythologien«, 54 Wolfs Erzählung sei daher stark im modernen Emanzipationsdiskurs verhaftet. Diese Bindung an moderne Erzähltraditionen zeige sich zudem durch die Orientierung am Muster des Bildungsromans.55 Auf der inhaltlichen Ebene zeigt sich, dass die vordergründig dominante Liebeserzählung aus dramaturgischen Gründen hinter die Entwicklungsgeschichte zurücktritt, und auch narratologisch zeigt sich diese Hierarchie durch die Rahmung der Liebeserzählung durch das Entwicklungsnarrativ. Mit Søholm lässt sich diese Bestimmung des Geteilten Himmels als Variante des Bildungsromans bestätigen, der den Entwicklungsgang einer jungen Frau erzählt.56 Der Geteilte Himmel erzählt Ritas Entwicklungsgeschichte, die an mittelbar und direkt erlebte Grenzreisen gebunden ist. Die peripher miterlebten Westreisen wirken sich zunächst destabilisierend auf die Figur aus, tragen aber letztlich zu ihrem Entwicklungsgang bei, der aber nicht mit der Reisebewegung parallelisiert wird. Auch Ritas eigene Westschleife – der Besuch bei Manfred in Berlin – trägt Konsequenzen. Hier erzählt die Westschleife von einem wichtigen Trennungprozess; die Grenzreise wird als privates Erlebnis erzählt und nicht mit der Integration einer Gesellschaft in eins gesetzt.
53 Kirsten Søholm, »Mythos Moderne und die Teilung Deutschlands. Zu Christa Wolfs Der geteilte Himmel und Uwe Johnsons Mutmaßungen [sic!] über Jakob«, in: Weimarer Beiträge 36.9 (1990), S. 1513–1523. Johnsons Erzählen sei im Vergleich zu Wolfs postmodern und experimentell. Eine gemeinsame Lektüre von Wolf und Johnsons unternimmt auch Kristin Felsner, vgl. dies., Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung. Christa Wolf und Uwe Johnson, Göttingen 2010 (=Johnson-Studien Bd. 10). 54 Kirsten Søholm, »Mythos Moderne«, S. 1519. 55 Vgl. ebd., S. 1516: »Dies alles sind ganz traditionelle Kategorien des Entwicklungsromans, dieser Gattung der Moderne par excellence«. 56 Diese Einschätzung teilt u.a. Silke Beinssen-Hesse, die die Erzählung als »Bildungsroman eines Mädchens« bezeichnet, vgl. dies., »Zum Realismus in Christa Wolfs ›Der Geteilte Himmel‹«, in: Manfred Jurgensen (Hg.), Christa Wolf. Darstellung – Deutung – Diskussion, Bern, München 1984, S. 23–49, hier S. 27. Präziser und weniger pejorativ ist der Terminus »weiblicher Entwicklungsroman«, vgl. dazu allgemein Susanne Balmer, Der weibliche Entwicklungsroman, Köln 2011.
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Westreisen Vor ihrer eigenen Westreise erlebt Rita als Daheimgebliebene die Ausreisen anderer Figuren mit. Ritas erste intensive Begegnung mit der Ausreise ist die Geschichte der Kommilitonin Sigrid. Sigrids Familie ist in den Westen ausgereist, zwei Wochen lang verheimlicht Sigrid diesen Umzug. Rita erfährt von der Fluchtgeschichte in »der dunkelsten Ecke eines kleinen Cafés« (GH 166), es findet zunächst eine deutliche Marginalisierung des Geschehenen statt, die aus der Brisanz der illegalen Ausreise resultiert. Bis hierhin ist Rita in der Position einer Zeugin des Geschehens, als sie aber im Institut freimütig zugibt, von der Ausreise gewusst zu haben, gerät Rita genauso wie Sigrid ins Visier der Partei, die Sigrid und der Mitwisserin Rita eine »nette Verschwörung« (GH 167) unterstellt. Beide müssen mit einer Gruppenversammlung unter Parteileitung rechnen, beiden droht offensichtlich der Verweis vom Lehrerbildungsinstitut. Geplagt von der Ungewissheit ihrer Zukunft zieht Rita sich dann zurück und sitzt »stundenlang regungslos allein« (GH 168) in ihrem Zimmer. Diese Starre impliziert ein statisches Erleben von der Zeit und Rita wird jenseits des Alltags positioniert. Rita leidet unter ihrer Isolation: »Sie traf wenig Menschen. Sie hatte nun auch kein Verlangen mehr nach Menschen« (GH 171). In Rita regen sich sacht Zweifel an ihrer sozialistischen Überzeugung und ihrem positiven Menschenbild: »Sie war gescheitert, wie wahrscheinlich jeder außer ihr vorausgewußt hatte, und ihr blieb nichts, als sich wenigstens den Folgen zu entziehen. Es lohnte sich nicht. Ihre seelische Kraft war ganz plötzlich bis auf den Grund erschöpft.« (GH 172)
Rita zieht sich daher in ihr Heimatdorf zurück. Die durch die Ausreise Dritter evozierte Krise, ein »quälendes Außer-sich-Sein« (GH 173) kann Rita aber schließlich überwinden. Rita verweigert sich bewusst einem regressiven Ausweichen, »[s]ie verachtete plötzlich ihre Anwandlung von Trägheit und Mutlosigkeit« (GH 174), aus ihrer »Ungeduld, [der] Unzufriedenheit mit sich« (GH 174) fasst sie den Entschluss in die Stadt zurückzukehren und sich der Gruppenversammlung zu stellen.57
57 Felsner kritisiert die mangelnde Glaubwürdigkeit von Ritas Entschluss, vgl. Kristin Felsner, Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung, S. 283. Tatsächlich fehlt dem Entschluss zur Rückkehr eine überzeugende Motivierung. Den positiven Beobachtungen über die verändernde Kraft des Sozialismus werden zugleich auch Hin-
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Die Isolationserfahrung ist das Zeichen einer »Identitätskrise«, 58 die Rita aber überwindet und in die Lehrerausbildung und die Brigade zurückkehrt. Interessant ist diese Krise, weil Rita lediglich peripher betroffen ist; sie weiß nur vor allen anderen über die Ausreise der Familie der Kommilitonin Sigrid Bescheid. Das Tabu der Ausreise wird in der Erzählung gebrochen und die Folgen der Ausreise auch für Dritte vorgeführt. Die Reise über die Grenze wird als prekäre Erfahrung auf die Daheimgebliebenen übertragen; Rita schafft es aber aus der Krise gestärkt hervor zu gehen. Diese Ausreise und ihr Potenzial für Ritas Werdegang deutet klar auf Manfreds Ausreise voraus, die Rita ebenfalls mittelbar miterlebt. Von Manfreds Ausreise ist Rita nicht nur peripher betroffen, das Erleben der übertragenen Grenzerfahrung ist daher ungleich intensiver. Analog zu der bereits dargestellten Westreise, ist Ritas Miterleben von Manfreds Ausreise wieder geprägt von Starre und Isolation. Manfred bleibt nach einem Kongressbesuch in Westberlin, er teilt seinen Entschluss lediglich in einem Brief mit. Rita ist schockiert: »So trifft einer uns nur ganz aus der Nähe, einer, der unsere verwundbarste Stelle kennt, der in aller Ruhe zielt und zuschlägt, weil er weiß: Dessen hat man sich nicht versehen. Kann denn einer verschwunden sein, verloren, der einem noch so weh tut?« (GH 214f)
Die Figur der Rita wird mit Manfreds Weggang im Innersten erschüttert, die plötzliche Ausreise stürzt Rita in eine tiefe Krise. Rita fällt regelrecht in Apathie, sie zieht sich zurück: »Sie war ganz ruhig. Sie fühlte, daß eine tödliche Starre auf sie zukam. Das war ihr recht, sie tat nichts dagegen.« (GH 215) »Aber sie beklagte sich nicht. Sie litt fast nicht. Sie war die Hülle ihrer selbst. Sie ging wie ein Schatten durch Kulissen und wunderte sich nicht, daß die realen Dinge – Wände und Häuser – lautlos vor ihr zurückwichen.« (GH 216) »Menschen anrühren schmerzte. Sie mied Menschen.« (GH 216)
weise auf Kritik etwa an der aktuellen Kollektivierung der Landwirtschaft entgegengehalten: Rita beobachtet nicht nur landschaftliche Veränderungen, sondern auch ein Defizit an ideologischer Überzeugung, vgl. GH 173. 58 Kristin Felsner, Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung, S. 282.
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Ritas Reaktionen ähneln der Reaktion auf die Ausreise von Sigrids Familie, hier ist das Erleben verstärkt und individualisiert. Die Starre ist ihr »recht«, sie akzeptiert die Distanzierung vom Alltag, sie meidet aktiv Menschen und sucht nicht einmal mehr den Rat ihrer Mentoren. Die erneute Erfahrung von Starre, Schweigen und Isolation irritiert Rita in ihrem Kern, die Identitätskrise wird internalisiert. Eine Landflucht oder ein anderer Ausbruchsversuch findet nicht statt. Ritas intensives und natürlich sehr subjektives Erleben von Manfreds Ausreise als Krise oder Krankheit wird bis in die Zeit der Genesung im Sanatorium verschoben. Die Krise wird noch nicht mit Ritas Westbesuch und Rückkehr in die DDR überwunden und wird daher auch nicht in den Westen ausgelagert, sondern bleibt als problematische Erfahrung in der DDR lokalisiert. Mit den erzählten Grenzreisen erhält die deutsch-deutsche Thematik Eingang in den Text. Die Teilung durch die Grenze wird dabei als problematisch erfahren. Indem Rita die ausgelösten Krisen überwindet, tragen die miterlebten Westreisen mittelbar zu Ritas Entwicklungsgang bei – zunächst ohne dass Rita selbst negative Erfahrungen im Westen sammelt. Ritas Westschleife – zu Besuch in Berlin Die Entwicklungsgeschichte von Rita Seidel ist an Reisenarrativen orientiert, die Erwartung, dass hier – wie in Dieter Nolls Roman – die Westreise einen transformativen Übergang initiiert, der mit der ›Ankunft‹ im Sozialismus schließt, wird in Der geteilte Himmel aber unterlaufen. Die Westschleife wird nicht mit einem Entscheidungsprozess verknüpft. Rita bereist Westberlin erstaunlich klar und reflektiert, ihre Entscheidung für ein Leben in der DDR steht dabei nie in Frage. Rita reist am ersten Augustwochenende 1961 nach Westberlin, nach elf Wochen der Trennung erwartet Manfred sie nun im Westen. Vordergründig wird Ritas Westschleife als Reise ins Ungewisse erzählt: »Und niemand, auch sie selbst nicht, konnte sagen, ob sie zurückkehren würde. Zwar war ihr Köfferchen leicht. Ohne Gepäck kam sie zu ihm. Aber wie zur Probe richtete sie Abschiedsblicke auf die Schornsteine […]« (GH 221)
Doch bereits auf der Reise sind Ritas Zweifel an einem Umzug in den Westen deutlich: Rita kauft am Ostberliner Bahnhof ein Retour-Ticket nach Westberlin. »Für vierzig Pfennig hielt sie zwei verschiedene Leben in der Hand« (GH 229). Die scheinbare Offenheit dieser Westreise wird zu Gunsten der Rückkehr eingeschränkt, die Entscheidung für das Leben in der DDR wird antizipiert. Rita ist
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bereits auf die DDR festgelegt und nicht unentschieden oder unbestimmt. Die Option für den Westen wird narrativ in der Reiseerzählung ausgelagert auf einen Mitreisenden Ritas: Der betont unauffällige Fahrgast dient letztlich als negative Projektionsfläche. Rita findet ihn zunächst grundlos unsympathisch, schließlich stellt sich heraus, dass der Mann mit seiner Frau heimlich und endgültig aus der DDR ausreist. Mit dem Fahrgast, der »vom schlechten Gewissen gezeichnet« (GH 231) ist, wird dessen Entscheidung verurteilt und damit von Rita distanziert. Ritas Entschluss zur Rückkehr steht bereits fest und ist für den Rezipienten durch die Rahmenhandlung transparent. Vor dem Hintergrund der Ausreise des Mitfahrers wird Ritas Entscheidung für die Rückkehr nobilitiert. Ritas Westreise ist nur scheinbar offen und ambivalent, die Episode ist geprägt von rationalem Handeln. Rita ist stets bemüht mit klarem Kopf zu reisen, die Klarheit ihres Verstandes spiegelt sich in der Klarheit des wolkenlosen Himmels. 59 Rita orientiert sich sorgfältig, »sie versäumte nichts und verfehlte nichts« (GH 230). Gerade im Westen achtet sie penibel auf ihren Weg und beobachtet genau. Ritas präzise Beschreibung resultiert in einem Gefühl der Enttäuschung: Der Westen kann die ihm unterstellten Versprechungen nicht einhalten. Rita wundert sich etwa über die Profanität des Straßenbildes und resümiert, dass die Prachtstraße »Unter den Linden« nicht mit »ihrer eigenen Sage« (GH 231) mithalten könne. Diese Enttäuschung bestätigt Manfred schließlich, der sich selbst in permanenter Abwehrhaltung befindet (vgl. GH 233). Manfred, der bei seiner Tante lebt, hat beispielsweise das Interieur seiner neuen Bleibe analog zur Wohnung seiner Eltern semantisiert: »Sie traten in das Zimmer der Tante, die »Vorhölle«, wie Manfred Rita schnell zuflüsterte« (GH 234). Die Schilderung Westberlins ist in einem ablehnenden Gestus gehalten, Ritas Entscheidung zur Rückkehr ist bereits gefallen. Offenheit oder Ambivalenz kommen kaum auf. Einsprengsel wie »Noch einmal war alles möglich« (GH 233) werden deutlich und wörtlich übertönt: »Von allen Türmen schlugen die Uhren zwölf.« (GH 235) Emotionale Einlassungen, der antizipierte Trennungsschmerz, dienen hier offenbar nicht Ritas Entscheidungsfindung, sondern zur Verdeutlichung, dass die endgültige Trennung des Liebespaares vollzogen wird und diese eben nicht automatisch mit den persönlichen Entscheidungen von Manfred und Rita für eine politische Himmelsrichtung einhergeht. Das Beziehungsende erscheint als ein von den politischen Entscheidungen losgelöster
59 Hermann Korte hebt die Bedeutung des »den Text konstituierende[n] literarische[n] Verfahren[s] der im 19. Jahrhundert vielfältig erprobten Semantik der Natur- und Landschaftssymbolik« hervor, die Naturchiffren verweisen dabei klar auf Ritas Innenleben. Vgl. ders., »Wiedergelesen«, S. 40f.
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Prozess und wird von einer ihm eigenen Dramatik begleitet, die in der emotionalisierenden Darstellung deutlich wird. Diese Darstellung der Westreise ist nicht mit einem Entscheidungsprozess von Rita zu verwechseln, Rita selbst zieht eine endgültige Ausreise gar nicht erst in Betracht. Rita hat mit der Reise nach Westberlin ihre ideologische Position nicht verlassen, sie spricht im kollektiven »Wir« von der Brigade im Waggonwerk und meint »Alle« (GH 239). Im nachträglichen Gespräch mit Erwin Schwarzenbach im Sanatorium erzählt Rita später von ihren unmittelbaren Eindrücken: »Vieles gefällt einem, aber man hat keine Freude daran. Man hat dauernd das Gefühl, sich selbst zu schaden. Man ist schlimmer als im Ausland, weil man die eigene Sprache hört. Man ist auf Schreckliche Weise in der Fremde.« (GH 238)60
Evoziert wird die Offenheit der geteilten Stadt dennoch, Berlin selbst wird als Raum der Möglichkeiten und zugleich der Gefahr inszeniert: »[Berlin] wurde von gewöhnlichen Leuten bewohnt, war aber keine gewöhnliche Stadt. […] Eine Stadt in der Umarmung des Augenblicks, zitternd vor dem unausbleiblichen Einbruch der Wirklichkeit.« (GH 246)
Während die politische Entscheidung für Rita und Manfred bereits gefällt ist – die Figuren sind entsprechend geographisch arrangiert –, steht die Entwicklung der Liebesbeziehung in der Berlinpassage zunächst noch aus. Berlin wird zum Ort des Übergangs, oder konkreter, des Endes der Liebesgeschichte. Den Tag verbringen Rita und Manfred auf Straßen und Parkwegen, sie lösen sich gehend und redend voneinander. Den Tag beschließen sie im Café, der Mond geht bereits am späten Nachmittag auf. Als Natursymbol markiert er Ritas Erkenntnis und Akzeptanz des Beziehungsendes, welches als zeitenthobener Übergang vermittelt wird: »Die Stadt, taub und stumm, war auf einmal wie unter Wasser getaucht, sie wußte es nur noch nicht. Hoch über ihr der Mond, eine bleiche Lampe aus der wirklichen Welt. Kein Laut sonst, kein Licht. […] Es war die Stunde zwischen Hund und Wolf.« (GH 252)
Ritas Abreise aus Westberlin erlebt sie tranceartig, ihre Erinnerung steht in Zweifel: »Sie muß dann wohl durch die Sperre und die Treppe hinauf gegangen
60 Diese Einschätzung entspricht Johnsons Postulat, dass echtes Ausland selten so fremd sei, vgl. BS 18.
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sein. Sie muß mit der Bahn gefahren sein, die sie zum richtigen Bahnhof brachte« (GH 257). Mit der Abreise aus Berlin ist die Trennung von Manfred und Rita vollzogen, Ritas Entwicklungsprozess dauert weiter an. In der Chronologie der Geschichte folgen auf Ritas Rückkehr der Zusammenbruch auf den Gleisen, dann die Genesung und schließlich die zweite Rückkehr Ritas in die Stadt und das Werk. Mit dieser zweiten Rückkehr aus dem Sanatorium findet Ritas Entwicklung erst einen Abschluss, der transformative Übergang wird damit in der Erzählchronologie nach hinten verschoben und von der Westreise distanziert. Die Überschreitung der deutsch-deutschen Grenze im Modell der Westschleife enthält damit nicht automatisch den Integrationsprozess Ritas, sondern löst diesen erst mittelbar aus. Das Moment der Entwicklungskrise wird nun nicht in der Westschleife ausgelagert; Westreise und persönliche Krise werden nicht parallelisiert und somit ist das Muster der Westschleife nicht ideologisch instrumentalisiert. Für die Figur der Rita Seidel ist die Westpassage in Berlin keine offene Grenzerfahrung die in der ›Ankunft im Sozialismus‹ endet. Dieser affirmative Übergang, bzw. Eingang in die sozialistische Gesellschaft vollzieht sich als sanfte Transformation später während der Genesung im Sanatorium. Die liminale Stadt Berlin ist der Schauplatz für den Abschluss der Liebeserzählung. Ritas liminales Erleben in Berlin wird stark emotionalisiert und mit der Liebesgeschichte verwoben. Das Entwicklungsnarrativ hingegen wird in den sozialistischen Kontext der DDR verschoben, wenn auch an den marginalisierten Ort des Sanatoriums, und dort zu einem affirmativen Ende geführt. Ritas Entwicklung Christa Wolfs Der geteilte Himmel ist wie bereits gezeigt, orientiert am Bildungsroman und greift auf das Modell der Grenzreisen zurück. Allerdings fallen beide narrativen Elemente nicht, wie etwa bei Werner Holt, im Modell der transformativen Westschleife zusammen. Die im Geteilten Himmel erzählten Grenzreisen betreffen die Protagonistin mittelbar und unmittelbar. Die miterlebten Ausreisen erschüttern Rita und wirken sich zunächst hemmend auf ihre Entwicklung aus. Ihr Leben gerät ins Stocken und sie entzieht sich auf dem Land der Situation. Rita überwindet die Krise aber schließlich und setzt den eingeschlagenen Weg im Lehrerseminar und in der Brigade fort. Auch die durch Manfreds Ausreise erlebte Krise wird schließlich überwunden: Wie beschrieben geht das Ende dieser Identitätskrise mit der Genesung im Sanatorium einher, auch hier kehrt Rita in den Arbeitsalltag zurück.
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Die miterlebten Grenzreisen verorten das Krisenerleben und den resultierenden Entwicklungsprozess Ritas in der DDR. Es gibt hier keine taktische Auslagerung von problematischen Erfahrungen hinter die Staatsgrenze – während bei Nolls Roman eine Exterritorialisierung deutlich wurde, findet sich hier eine Reterritorialisierung der krisenhaften Erfahrung. Das narrative Modell der Westreise wird so ideologischer Instrumentalisierung entzogen. Dieser Eindruck wird in Bezug auf Ritas eigene Westreise bestätigt. Auch Ritas Westreise wird, anders als Werner Holts Westschleife, nicht schablonenhaft als sozialistische Entwicklungsreise erzählt. Ritas Westreise innerhalb des Entwicklungsnarrativs dient der endgültigen Trennung von Manfred. Diese Westschleife wird damit zu einer privaten Station innerhalb des Entwicklungsprozesses. Die traditionelle Bildungsstation der Partnerwahl, wie sie zur Konvention des Bildungsromans gehört, wird damit aufgegriffen und variiert. Trotz des Beziehungsendes wird Ritas Entwicklung als gelungene Integrationsgeschichte erzählt. Für diese Geschichte bleibt die Grenzreise, als unmittelbare und als mittelbare Erfahrung präsent, das Krisenerleben und der Entwicklungsprozess – inklusive der Reintegration – werden aber in der DDR verortet. Durch die detaillierte Darstellung der negativen Auswirkungen politischen Geschehens auf das private Erleben, auf der die Differenziertheit der Erzählung basiert, bricht Christa Wolf mit der in der DDR verbreiteten um von der Kulturdoktrin des sozialistischen Realismus forcierten Schönfärberei. Auch Korte konstatiert, dass »das Verschönen und Harmonisieren«61 nicht Sache der Erzählung sei. Nichtsdestoweniger ist Der Geteilte Himmel zweifelsohne an den kulturpolitischen und ideologischen Vorgaben orientiert. Daher diagnostiziert Christa Wolf bei sich selbst eine »unschuldsvolle Gläubigkeit«,62 die sich in der Erzählung widerspiegele. Der staatsloyale Tenor wird trotz der literarischen Umgestaltung ideologisch geprägter Muster aufrechterhalten. Die simple Analogiebildung und Parallelführung von Rückkehr in die DDR und Ankunft im Sozialismus weicht aber einer literarischen Komplexität und psychologischen Motivierung des Geschehens, die die Qualität der Erzählung ausmachen. Der Blick auf die Umgestaltung der Westreise bei Christa Wolf zeigt, dass das (politische) Subjekt in den Mittelpunkt gerückt wird. Die Umgestaltung des literarischen Musters der Westreise in der Gattung des Bildungsromans findet sich auch in Fritz Rudolf Fries’ Roman Der Weg nach
61 Hermann Korte, »Wiedergelesen«, S. 39. 62 Zitiert aus einem Brief Christa Wolfs an Brigitte Reimann. Brigitte Reimann und Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964–1973, hg. von Angela Drescher, Berlin, Weimar 1993, S. 114.
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Oobliadooh. Hier stellt die Grenzreise den Höhepunkt des Bemühens um Entgrenzung der Protagonisten dar, das narrative Muster wird aufgegriffen und innovativ umgeformt.
FRITZ RUDOLF FRIES’ DER WEG NACH OOBLIADOOH – DIE WESTSCHLEIFE ALS IMPROVISATION Zu den literarischen Kontexten des Romans In seinem Debütroman Der Weg nach Oobliadooh (BRD1966/DDR1989) 63 erzählt Fritz Rudolf Fries von den Freunden Arlecq und Paasch, zwei jungen Männern aus Leipzig, die nach dem Studienabschluss am Ende der 1950er Jahre einen individuellen Lebensweg jenseits der vorgefertigten Lebensläufe in der DDR-Gesellschaft suchen; Alkohol, Literatur und besonders Jazz bilden die Basis ihrer eskapistischen Fantasien. Arlecq arbeitet als Übersetzer mit schriftstellerischen Ambitionen; Paasch besteht im zweiten Anlauf sein Examen und wird Zahnarzt. Widerstrebend heiratet er Brigitte, die ein Kind von ihm erwartet. Auch Arlecq bindet sich am Ende des Romans unwillig an eine Frau: Anne, die ebenfalls schwanger ist. Die arrivierte Existenz innerhalb gesellschaftlicher Konventionen erscheint im Roman für beide Protagonisten als existenzielle Bedrohung. 64 Der Roman ist als Außenseitergeschichte stark an der amerikanischeuropäischen Moderne orientiert. Es finden sich Bezüge zum amerikanischen Bebop, intertextuelle Verweise zu Proust, Kafka, Jean Paul und vielen anderen. Darüber hinaus erscheint der Roman als »Plädoyer für Verweigerung gesellschaftlicher Integration in der DDR, Künstler-Snobismus, als Rechtfertigung von
63 Fritz Rudolf Fries publizierte den in der DDR entstandenen Roman 1966 beim Suhrkamp Verlag in der BRD. Erst 1989 wurde der Roman gekürzt in der DDR veröffentlicht. Vgl. zur Publikationsgeschichte Frauke Bolln, Zwischen Beat Generation und ›Ankunftsliteratur‹ (wie Anm. 138), S. 10f. Diese Arbeit stützt sich auf die neueste Ausgabe: Fritz Rudolf Fries, Der Weg nach Oobliadooh, Berlin 2012. Zitiert im Folgenden mit der Sigle Oo. 64 Frauke Bolln knüpft hier überzeugend die Orientierung an der amerikanischen BeatLiteratur, etwa Jacques Kerouac an. Vgl. dies., Zwischen Beat Generation und ›Ankunftsliteratur‹ (wie Anm. 138), S. 15f, 90ff.
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Lasterhaftigkeit, Müßiggang und hemmungslosem Subjektivismus«. 65 Der Roman wendet sich offensichtlich inhaltlich und formal von den kulturpolitischen Leitlinien der DDR ab; um mit Helmut Böttiger zu sprechen: »Es scheint heute fast noch weniger vorstellbar als damals, dass dieser Roman in der DDR geschrieben werden konnte«.66 Brisanz erhält der Roman besonders durch seine politische Dimension, die Frauke Bolln herausgearbeitet hat.67 In der ostdeutschen Literatur ist der Roman singulär, da er politische Tabus, Außenseiterfiguren und politische Dissidenten in den Mittelpunkt rückt. Die Protagonisten konsumieren Jazzsendungen im amerikanischen Militärradio, westliche Zeitungen vom 17. Juni 1953 werden versteckt (Oo 108), Arlecq erzählt vom Aufstand 1953 und kritisiert die allgemeine restriktive Informationspolitik der DDR; der Freund Stanislaus ist aktiv im Widerstand, manipuliert Bücher der Leihbibliothek und wird schließlich verhaftet. Hinzu kommt, dass sich der Roman insgesamt vom kulturpolitischen Umfeld und den offiziellen Vorgaben absetzt, hierzu gehört auch die Anknüpfung an literarische Traditionen, die in der DDR als dekadent und formalistisch verurteilt wurden. Das Protagonistenpaar Arlecq und Paasch evoziert eine Doppelstruktur des Romans, die eine doppelte Perspektivierung der Handlung ermöglicht. Während Paasch zu Beginn des Romans mit der Wiederholung des Examens und der Schwangerschaft seiner Freundin konfrontiert ist, liegt Arlecqs Fokus zunächst auf seiner künstlerischen Entwicklung, die von wechselnden Frauenbekanntschaften begleitet wird. Paasch fügt sich schließlich resigniert in sein Schicksal als Vater und Arzt, er scheint in der sozialistischen Gesellschaft anzukommen. Im episodischen Verlauf des Romans verschiebt sich diese Verteilung: Der Romanschluss wiedervereint das Figurenpaar in der Leipziger Psychiatrie, Paasch verfällt dem Alkohol und bleibt zur weiteren Behandlung in der Klinik – und weicht so den gesellschaftlichen Konventionen aus. Arlecq hingegen wird von der schwangeren Anne in gesellschaftliche Konventionen (Familie und Beruf) zurückgeholt. In diesem Moment übernimmt Arlecq die ehemalige Rolle
65 Stefan Bruns, Das Pikareske in den Romanen von Fritz Rudolf Fries. Mit Werkbibliographie. Frankfurt a. M , u.a.1992 (=Bochumer Schriften zur deutschen Literatur, Bd. 27), S. 72. 66 Helmut Böttiger, »Rausch im Niemandsland. Fritz Rudolf Fries, der Jazz und die DDR« (als Nachwort), in: Fritz Rudolf Fries, Der Weg nach Oobliadooh, S. 321–350, hier S. 321. 67 Vgl. Frauke Bolln, Zwischen Beat Generation und ›Ankunftsliteratur‹, S. 43ff.
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Paaschs, der Roman schließt: »Wieder kann die Fahrt in der Vorstadt stattfinden, Schule, Rathaus, Standesamt, die Kirche mit den Paradiesäpfeln, die Wellblechbude […]« (Oo 319) Mit der Bahn wiederholt Arlecq nicht allein eine zuvor geschilderte Bahnfahrt Paaschs, er fährt auch sinnbildlich an den Stationen einer arrivierten Biographie entlang, die ironisch in einer Wellblechbude endet. Mindestens einem der beiden Protagonisten gelingt es den Außenseiterstatus zu erhalten, der andere zeigt die ungewollte, aber gesellschaftlich akzeptierte Alternative dazu auf, zunächst Paasch, dann Arlecq. Paaschs Alkoholabhängigkeit zum Romanschluss wirkt dabei zuletzt als bedrückende Vorausdeutung: Die Integration in die Gesellschaft konnte für Paasch – und somit später auch für Arlecq – nicht von Dauer sein. Das resignative Moment kann Arlecq durch Paasch antizipieren. Die Figuren stehen in komplementärer Beziehung, sie spiegeln sich regelrecht ineinander. Diese Variante des Doppelgängermotivs versichert so einerseits die Protagonisten ihrer selbst gewählten Außenseiterposition und impliziert zugleich eine existenzielle Krise, ihre Identität wird gefährdet. 68 Paasch erlebt die Krise (zunächst das konventionelle Familienleben, dann die Alkoholsucht) zuerst und wirkt daher wie ein schlechtes Omen für Arlecqs Biographie. Neben dem Modell des Doppelgängers greift die Figurenkonstellation auch die Tradition der commedia dell’arte auf. Die Namensgebung der Protagonisten weist auf den Typus des Harlekins und ergänzend den des Pascquariello hin, beides sind stereotype Figuren der commedia dell’arte. Auch die slapstickartigen Einlagen im Roman zeugen von diesem literarischen Einfluss. 69 Verdeutlicht wird diese Reminiszenz auch durch Arlecqs Erinnerung an seine Puppe »Arlecchino« (Oo 71ff), den Harlekin.70 Darüber hinaus sind die literarischen Traditionen des pikaresken Romans sowie des Bildungsromans deutlich in Der Weg nach Oobliadooh eingeschrieben. Die strukturelle Desillusionierung, die schon zu Beginn des Romans einge-
68 Vgl. dazu Helmut Böttiger, Fritz Rudolf Fries und der Rausch im Niemandsland. Eine Möglichkeit der DDR-Literatur, Hamburg 1985, S.103f. 69 Vgl. ebd., S. 39. 70 Stefan Bruns verweist auf das Moment der Identitätsspaltung und das Trauma der Heimatlosigkeit, die mit dieser Erinnerung einhergehen. Vgl. Stefan Bruns, Das Pikareske, S. 79f. Helmut Böttiger erkennt in der Beziehung Arlecq–Arlecchino die »Schreibhaltung« der Kunstfigur Arlecq, in der Verschachtelung der Verweisungsstruktur werde Arlecq zum Schöpfer von komplexen Kunstwelten und werde selbst zur »Spielfigur«. Ders., Fritz Rudolf Fries und der Rausch im Niemandsland (1985), S. 64f.
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leitet wird, schließt den Roman letztlich ab. Böttiger beschreibt eine »Entwicklungskurve von Koketterie zu Resignation«.71 Bruns erkennt darin die Orientierung am pikaresken Roman. Die Charakterisierung der Protagonisten als freidenkerische Außenseiter – oder Schelme – und insbesondere die als »typisch pikareske[r] Kompromiß«72 gestaltete Desillusionierung bestätigen dies. Neben diesen vielfältigen Traditionen ist es besonders die Tradition des Bildungsromans, in deren Kontext der Weg nach Oobliadooh steht. Fries selbst verweist auf die Verbindung zwischen den verschiedenen literarischen Traditionen: »Er [der Schelm] käme hier nicht ohne eine Gegenfigur aus, einem Spiegel, der seine rechte Seite in eine linke verwandelte und umgekehrt, und das Herr-Knecht-Verhältnis des Schelmenromans taucht ja auch im Bildungsroman in sublimierter, und dadurch neutralisierender, Form auf als Verhältnis unterschiedlicher Charaktere, als Freund – Freund, Bruder – Bruder, Vult und Valt.«73
Als fiktive Biographie eines Protagonistenpaares auf der Suche nach einer individuellen Position innerhalb der Gesellschaft stellt der Roman eine intensive Auseinandersetzung mit der Gattung des Bildungsromans dar. Die musikalische, literarische und künstlerische Entwicklung, die Suche nach dem Lebenspartner, die Auseinandersetzung mit der Vätergeneration und die Reisebewegung bilden die Elemente des Plots.74 Durch die Bezugnahme auf die sozialistische Gesellschaft, die selbstredend ambivalent ist, verhandelt Der Weg nach Oobliadooh die sozialistische Variante des Entwicklungsnarrativs und setzt sich zugleich davon ab. Während Christa Wolf in Der geteilte Himmel den sozialistischen Bildungsroman erzählerisch zwar modernisiert, aber das literarische Modell affirmiert, stellt Der Weg nach Oobliadooh eine Absage daran dar. Bolln stellt überzeugend heraus, dass Der Weg nach Oobliadooh die »Leerstelle« des sozialistischen
71 Ebd., S. 41. 72 Stefan Bruns, Das Pikareske, S. 88. Bruns erinnert an die Pikaro-typische Bewegung von Engaño (Täuschung) zu Desengaño (Ent-Täuschung); somit ist die schlussendliche gesellschaftliche Integration keine Konversion, Akzeptanz oder eben ›Ankunft‹, sondern ein nahezu tragischer Kompromiß als Resultat der Konfrontation mit der unvermiedlichen Wirklichkeit. 73 Friedrich Albrecht, »Interview mit Fritz Rudolf Fries«, in: Weimarer Beiträge 3 (1979), S. 38–63, hier S. 48. 74 Frauke Bolln zeichnet diese Auseinandersetzung mit der literarischen Gattung präzise nach, vgl. dies., Zwischen Beat Generation und ›Ankunftsliteratur‹, S. 99–178.
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Anti-Bildungsromans füllen könne. 75 Bolln begründet ihre Lesart mit dem Schluss des Romans: Die Absage an eine Bestätigung der gesellschaftlichen Ordnung durch affirmative Integration enthalte die Absage an das literarische Modell des sozialistischen Entwicklungsromans. Auch wenn der Protagonist Arlecq am Romanende formal in geordnete gesellschaftliche Verhältnisse geleitet wird, ist es doch mitnichten eine eigene, bewusst gefällte Entscheidung, vielmehr ist es die Schwangerschaft Annes, die Arlecq in die sozialistische Gesellschaft (zurück-)holt.76 Offensichtlich findet hier eine narrative Auseinandersetzung mit der Tradition des Bildungsromans statt. Die Entwicklungsgeschichte der beiden Protagonisten enthält als Höhepunkt eine Reise nach Westberlin. Diese Reise schließt auch in diesem Roman mit der scheinbar affirmativen Rückkehr in die DDR ab: An die Westreise schließt Paaschs Eheschließung an. Dass damit die Entwicklungsgeschichte noch nicht an ihr Ende kommt, zeigt der erzählerische Fortgang des Romans: Der Roman knüpft nicht an die etablierte Ankunft im Sozialismus an. Auch das narrative Modell der Westschleife selbst entzieht sich hier – ähnlich wie das Protagonistenpaar selbst – der ideologischen Instrumentalisierung. Die Reise nach Westberlin von Arlecq und Paasch ist eine narrative Improvisation, die im Kontext der Jazzpoetik des Romans steht, wie ich im Folgenden zeigen werde.
75 Vgl. ebd., S. 180. Frauke Bolln bezieht sich dabei auf Gerhart Mayer, Der deutsche Bildungsroman. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992. Dessen Untersuchung ist so strukturiert, dass jedem Bildungsroman ein Anti-Bildungsroman gegenüberstellt wird, im Kapitel zum sozialistischen Entwicklungsroman fehle diese Gegenüberstellung aber bislang. 76 Frauke Bolln, Zwischen Beat Generation und ›Ankunftsliteratur‹, S. 175. Vgl. dazu auch Helmut Böttiger, Fritz Rudolf Fries und der Rausch im Niemandsland (1985), S. 41f. Anne und Brigitte verkörpern die gesellschaftliche Integration, sie stehen stellvertretend für die Institution der Ehe, die als Bedrohung der individuellen Freiheit verstanden wird. Die misogyne Tendenz des Romans resultiert aus der Funktionalisierung der Frauenfiguren, die den individualisierten männlichen Protagonisten zur Seite gestellt werden. Die Frauenfiguren werden zu »austauschbaren Lebensprojekten oder besser -projektionen«; sie sind dabei einerseits »Objekt des Begehrens, das die männlichen Protagonisten benötigen zur Stimulation ihrer Phantasie« und andererseits »verkörpern [sie] das Realitätsprinzip, von dem sich die Männer abheben wollen«. Stefan Bruns, Das Pikareske, S. 85f.
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Jazz in Der Weg nach Oobliadooh Bereits der Titel des Romans verweist auf Dizzy Gillespie (»In the land of Oobla-dee«), und auch in den einzelnen Episoden des Romans ist der JazzTrompeter und Bebop-Pionier präsent. Leitmotivisch wird die Chiffre »Oobliadooh« von Arlecq und Paasch wiederholt. Nach Bruns steht diese Chiffre für »die Scheinhaftigkeit dieser Welt, ihre Unerreichbarkeit, bzw. die Notwendigkeit, vor dem Ziel zu fliehen […]«.77 ›Oobliadooh‹ erscheint als Fluchtraum für die beiden Außenseiterfiguren, in der Welt der Künste und des Rausches entkommen sie der geordneten Gesellschaft. Als Chiffre markiert ›Oobliadooh‹ zudem die Freundschaft der ungleichen Protagonisten. Diese Freundschaft hat den Jazz als nucleus, die erste Begegnung von Paasch und Arlecq wird mit dem Jazz verbunden: »Bei einem Konzert, Syncopaters in Schäfer’s Ballhaus, traf er [Arlecq] Paasch an seinem Tisch. Und sie hatten die gleichen Erfahrungen gemacht mit den Syncopaters, die nicht viel hergaben, und mit gewissen Sendungen um Mitternacht. 78 Bebop ist da und wird bleiben, sagte Paasch, und die Geschichte würde seine voreilige Prognose rechtfertigen.« (Oo 86)
Episoden wie diese stärken Bollns These, der Jazz sei das »Bindeglied« der Freundschaft. Als solches ist der skizzierte Fluchtraum des Jazz exklusiv, nach Arlecq gibt es »[k]ein Verständnis für Cool unter der Masse« (Oo 46).79 Neben diesen Funktionalisierungen der Jazzmusik zur Chiffre für den freiheitlichen Fluchtraum und die auserwählte Außenseiterfreundschaft, ist Jazz als Musikrichtung Ausdruck künstlerischer Möglichkeiten. Die Definition dieses musikalischen »Phänomen[s]« 80 ist naturgemäß schwierig. Markant seien drei abstrakte Grundelemente des Jazz:
77 Stefan Bruns, Das Pikareske, S. 82. Bruns betont, dass der Jazz lediglich als Fluchtraum diene, in dem die Außenseiter sich der gesellschaftlichen Ordnung entziehen. Vgl. auch ebd., S. 74. 78 Gemeint sind die im Text erwähnten Jazzsendungen im Radio. 79 Der Ausdruck »Cool« selbst referiert auf die Stilrichtung des Cool Jazz, die etwa durch Miles Davis’ Album Birth of the Cool (1949/50) geprägt wurde. 80 Rainer Bratfisch, »Vier Jahrzehnte Jazz in der DDR: verfolgt, geduldet, gefördert …«, in: Ders. (Hg.), Freie Töne. Die Jazzszene in der DDR, Berlin 2005, S. 7–13, hier S. 8. Die Problematik einer Definiton des Jazz wird auch bei anderen konstatiert, vgl. Martin Lücke, Jazz im Totalitarismus. Eine komparative Analyse des politisch motivierten
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»Der Jazz unterscheidet sich von der europäischen Musik durch drei Grundelemente, die intensitätssteigernd wirken: 1. Durch ein besonderes Verhältnis zur Zeit, das mit dem Wort swing gekennzeichnet wird; 2. Durch eine Spontaneität und Vitalität der musikalischen Produktion, in der die Improvisation eine Rolle spielt; 3. Durch eine Tonbildung bzw. Phrasierungsweise, in der sich die Individualität des spielenden Jazzmusikers spiegelt. Diese drei Grundelemente, deren Wurzeln seit Generationen ›oral‹ überliefert wurden und noch werden, schaffen ein neuartiges Spannungsverhältnis, in dem es nicht mehr – wie in der europäischen Musik – auf große Spannungsbögen, sondern auf die Fülle kleiner, Intensität schaffender Spannungselemente ankommt, die aufgebaut und wieder abgebaut werden.«81
Neben dem swingenden Rhythmus und der individuellen Ausdrucksweise, ist es besonders die Improvisation, die den Jazz musikalisch ausmacht und eine definitorische Festlegung erschwert. Gerade deshalb gilt Jazz als besonders lebendig, Jazz sei nicht nur ein musikalisches, sondern ein »soziale[s] Phänomen«.82 Jazz lebt von der Aufführung, die immer ein soziales Ereignis ist, gerade die spontanen Improvisationen speisen sich aus musikalischen Interaktionen. Zudem ist Jazz als Musikrichtung stark codiert, er gilt als rebellisch und subversiv, steht für gelebten Multikulturalismus und individuelle Extravaganz. Jazz ist eben nicht über Notenbilder fixiert, sondern wird in seiner improvisatorischen Aufführungspraxis tradiert. Nach Martin Lücke ist diese Musik daher »mit Freiheit, Demokratie und Individualität«83 konnotiert. Vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs müssen solche Zuschreibungen betont werden. Den USA als Heimatland des Jazz werden Freiheit, Demokratie und Individualität als Grundwerte kulturell zugeschrieben; zugleich stehen die USA den sozialistischen Ländern und also der DDR antagonistisch gegenüber. Aufgrund dieser Konnotationen war der Jazz eine Herausforderung für die Kulturpolitik der DDR. Nach Rainer Bratfisch schwankte der offizielle Umgang
Umgangs mit dem Jazz während der Zeit des Nationalsozialismus und des Stalinismus, Münster 2004 (=Populäre Musik und Jazz in der Forschung – interdisziplinäre Studien Bd. 10), S. 40f. 81 Joachim-Ernst Berendt, Das Jazzbuch. Von New Orleans bis in 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2005, S. 564. 82 Peter Kemper, »Bausteine einer sozialen Ästhetik«, in: Wolfgang Sander (Hg.), Jazz, Laaber 2005 (= Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert Bd. 9), S. 220–254, hier S. 223. 83 Martin Lücke, Jazz im Totalitarismus, S. 41.
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mit dem Jazz »immer zwischen strikter Ablehnung und leiser Anerkennung, mehr oder weniger offener Verfolgung und verschämter Duldung, offener Antipathie und heimlicher Sympathie«.84 So gab es auch Versuche den Jazz ideologisch zu instrumentalisieren, genauso wie es Repressionen gegen Musiker und Konzertveranstalter gab. In dieser spannungsreichen Situation gedieh der Jazz, als traditionelle »Protestmusik«,85 in der DDR überraschend prächtig. Bratfisch bezeichnet die DDR gar als »Jazzland« und würdigt die Rolle, die der Jazz aus der DDR im internationalen musikalischen Kontext spielen konnte. 86 In den 1950ern und zu Beginn der 1960er wurde die (amerikanische) Jazzmusik in der DDR allerdings stark kritisiert und marginalisiert. 87 Die Vorbehalte gegenüber der Jazz- und Bebopszene werden in dem zeitgenössischen Lexikonartikel über »Bebop« deutlich: »Wie die Musik, so zeigen auch ihre Spieler ausgeprägt snobistische Neigungen: Mißachtung des Publikums, Negierung der eigenen Tradition, Neigung und individuelle Verstiegenheiten. Die Bop-Improvisation ist eine Flucht aus der Wirklichkeit, ein ekstatischneurotisches Sich-Ausleben einsamer Individuen. Der Bop ist eine Anti-Volksmusik, eine verzweifelte Musik, eine Musik von Snobs gegen das Publikum […]«88
Mit Helmut Böttiger liest sich dieser Artikel wie eine Charakterisierung der männlichen Figuren in Der Weg nach Oobliadooh. Die snobistische Attitude, die provokante Nonkonformität und der ekstatische (Alkohol-)Rausch sind ihre elementaren Merkmale, auf denen die Exklusivität der Freundschaft und der Rückzug in den Fluchtraum Jazz fußt. Darüber hinaus ist die Erzählweise des
84 Rainer Bratfisch, »Vier Jahrzehnte Jazz«, S. 7. Auch Martin Lücke zeigt in seiner Studie auf, dass »keine aufgrund dieser konkreten ideologischen Ablehnung zu erwartende politische Stringenz im Verhältnis zwischen politischem Regime und Jazz festzustellen [sei], sondern eine wellenförmig zu charakterisierende Bewegung zwischen Restriktion und Förderung», Martin Lücke, Jazz im Totalitarismus, S. 210. 85 Rainer Bratfisch, »Vier Jahrzehnte Jazz«, S. 7. 86 Ebd., S. 7f. 87 Vgl. Rainer Bratfisch, »Heißer Jazz im Kalten Krieg. Die fünfziger Jahre«, in: Ders. (Hg.) Freie Töne, S. 31–47. Rainer Bratfisch bezieht viele aufschlussreiche zeitgenössische Kommentare in seine Analyse der Jazzszene der 1950er Jahre mit ein. Besonders hevorzuheben ist der Vorwurf der ›Dekadenz‹, der maßgeblich zur Diffamierung missliebiger Kunst diente, vgl. auch meine Ausführungen zur FormalismusKampagne S. 8–10. 88 Horst Seeger, Musiklexikon in zwei Bänden Bd. I, Leipzig 1966, S. 296.
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Romans auch deutlich an diesen Charakteristika orientiert, so dass Jazz in diesem Roman zu einem poetischen Prinzip wird.89 Die snobistische Attitude der Figuren zeigt sich etwa an Arlecqs maßgefertigter Kleidung aus dem »Snob- und Neureichenatelier am Markt« (Oo 46), genauso wie an Paaschs Requisit, der »entengelben Schirmkrücke« (Ebd.). Arlecq und Paasch haben zudem eine eigene Sprechweise entwickelt, die assoziative, uneigentliche und artifizielle Elemente enthält. Arlecq rekurriert regelmäßig auf literarisches Sprechen, seine Äußerungen sind voller intertextueller Verweise, die von seinem »bibliophilen Blick« (Oo 7) herrühren. Paasch hingegen verwendet häufig eine derbe Sprechweise, die im Roman wie slogans wiederholt wird: »Es kotzt mich an, sprach Paasch sein großes Wort» (Oo 41f, 213). In Dialogen zeigt sich das artifizielle Sprechen als private Chiffre, zum Beispiel werden Namen amerikanisiert, bzw. verjazzt: Isabel wird zu »Jessabel« (Oo 42, 195). Die assoziative Figurensprache zeugt von ständiger sprachlicher Improvisation. Neben den Figuren fällt auch die affektierte Erzählerstimme auf, die eine ähnlich assoziative Sprechweise verwendet: »Schon lief Arlecq zurück, […] entlief den Schranken, lief Paasch in die Arme, als sie beide um die Ecke bogen, im leichten Herbstwelken, das ihnen der Wind vor die Füße blätterte. Wieder mit Fernweh am Geländer gehangen? sagte Paasch. Zum Kotzen. […]« (Oo 99)
Auch das Verhalten der Romanfiguren ist nonkonformistisch, sie führen einen »Kampf ums Dasein« (Oo 9). Die Protagonisten sind mit politischen Dissidenten, unkonventionellen Künstlern und Insassen der Irrenanstalt befreundet; auch das gesellschaftliche Leben der Protagonisten erscheint im Verhältnis mit der gesellschaftlichen Ordnung als Improvisation. Die Lust am Improvisieren wird auch anhand der Hörspiele und Anekdoten deutlich. Paasch und besonders Arlecq sind leidenschaftliche Erzähler. Paasch entwirft die Hörspiele »Die Erwin-Story« (Oo 103f und 162ff) und »Herr Faulwetter« (Oo 298ff) und erzählt wiederholt autobiographisch geprägte Anekdoten. Arlecq neigt zum Fabulieren, auch er probiert sich an Anekdoten und autobiographischem Erzählen, dabei ist sein Erzählen durchsetzt von literarischen Bezügen. Wo Pasch sein Erzählen als
89 Vgl. Helmut Böttiger, Fritz Rudolf Fries und der Rausch im Niemandsland (1985), S. 34ff. Böttiger stellt Parallelen zwischen der Jazzmusik und der Erzählweise fest, ohne explizit von einer »Jazzpoetik« zu sprechen. Auch Frauke Bolln betont die bedeutende Rolle, die der Jazz im Roman spielt. Vgl. dies., Zwischen Beat Generation und ›Ankunftsliteratur‹, S. 76ff.
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gesprochenes Wort auf Band fixiert, greift Arlecq zum Stift, schon früh wird er als angehender Schriftsteller charakterisiert (Oo 13). Durch das Fabulieren werden alternative Welten imaginiert, die gesellschaftliche Realität wird improvisiert. Der gesamte Roman erhält zugleich einen episodischen Charakter. Mit dem Hang zur Improvisation geht die Weigerung einher, die eigenen Lebensentwürfe der sozialistischen Gesellschaftsordnung anzupassen. Die Behauptung ihrer Individualität ist der Kern der Figurenmotivation und somit auch das movens der Romanhandlung. 90 Böttiger resümiert folgerichtig: »Der Roman verbindet die zeitgenössische Montagetechnik des westlichen modernen Romans, die Assoziationsketten südeuropäischer und lateinamerikanischer Phantastik mit den Formen der Jazz-Improvisation.«91 Die von Berendt herausgestellten Elemente des Jazz: Der swing 92 als besonderes Verhältnis zur Zeit, die spontane und vitale Improvisation und die Individualität lassen sich in der Erzählweise des Romans aufspüren und verweisen auf eine die Erzählweise bestimmende Jazzpoetik. Jazz und Liminalität Die musiktheoretischen Definitionsversuche implizieren bereits eine Affinität des Jazz zum Liminalen: »Ambiguität und Unbestimmtheit des Schwellenzustandes«93 spiegeln sich in Improvisation und Nonkonformität; die musikalische Aufhebung oder Verschiebung von standardisierten Rhythmen, fixierten Notenfolgen schafft mit dem Jazz einen Raum liminalen Erlebens. Fries’ Roman erzählt davon, wie mit dem improvisierten Jazzspiel fortwährend Grenzen überschritten werden:
90 Hier sei auf Frauke Bollns Vergleich von Fries’ Oobliadooh mit Jack Kerouacs On the Road verwiesen. Beide Texte literarisierten den Bebop und den Lebensstil der BeatGeneration. Vgl. ebd., S. 90–98. 91 Helmut Böttiger, Rausch im Niemandsland (Nachwort 2012), S. 326. Er schließt daraus, Fries habe ein »System aus Anspielungen und literarischen Orten dabei auf[gebaut] wie die Bebopper ihre Themen, ein Kunstgeflecht, das sich immer mehr von der vorgegeben Realität abhebt», ebd., S. 329. 92 Der Swing als genuin rhythmische Technik kann als Erzähltechnik kaum in literarische Prosa übertragen werden. Erwähnt wird allerdings die (Swing-)Technik der Synkope (Oo 37). 93 Victor W. Turner, Das Ritual, S. 95.
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»Paasch hatte getrunken, Paasch spielte Klavier. […] Paasch spielte Klavier, weil man ihn vom Examen ausgeschlossen hatte […]. Paasch hatte getrunken, Paasch spielte Klavier. Nur war Arlecq nüchtern.[…] Ein falscher Schlag Arlecqs auf die Flügeldecke synkopierte unversehens Paaschs schwere Blockakkorde und brachte ihn dorthin, wo ihn Arlecq haben wollte. […]Und da fing es an, Paasch Oberkörper auf dem elastischen Stuhl, Arlecq, der Schirm[Paaschs Requisit], der Flügel, der lange schwarze Gang, […] der Saal, der Vorhang, der die Bühne schloß, die Stühle im Parkett: schwankten, wippten, schaukelten, das ganze große Haus bis in die Turmspitze mit der Aufschrift ZOO drehte sich um den Garten mit den Käfigen […] daß es nicht nur Arlecq eine Freude war und ein Rausch zugleich. Selbst der Regen fiel in Wellenlinien […]. So kam Arlecq nicht umhin, in einer konfusen Quer- und Direktverbindung zu Isabel, Linde, war es Lisa, den Dichter Lautréamont (Comte de, eigentlich Isidore Ducasse) zu zitieren und dessen Nähmaschine auf den Operationstische zu legen wo keiner da war. Paasch aber, unbelastet davon, spielte und arbeitete sich ab und war glücklich, noch immer in der Universität eingeschrieben zu sein statt in Kaderakten.[…] Wenn da überhaupt Harmonie ist, dachte Paasch oder Arlecq, dann in der Musik, einer männlichen Kunst. Mehr sagte Arlecq dorthin, wo die Tasten wie Schnee im Dunkeln Licht gaben. Paasch spielte. […] Schwarz, unter bläulicher Neonaureole, überflog er [Arlecq] die Stadt. […] Vor dem Peterstore neben der Kirche spannt’ er seine azetonen Flügel aus. […] Arlecq, nicht ohne die Wehmut der Erinnerung, die leise Beunruhigung der Vorahnung, streifte die Gebäude der Krankenhäuser und Irrenanstalten[…] Paasch, inzwischen, hatte nicht aufgehört zu spielen. Weniger elastisch als am Anfang, mit zunehmender Ernüchterung, auch der Regen hatte nur noch die Qualität einer Wetterberichtillustration [...]. Es kotzt mich an, sprach Paasch sein großes Wort.« (Oo 36– 42, Hervorhebungen J.G.)
Paasch und Arlecq sind in einem »Winkel« der Kongreßhalle in Leipzig, am »Ersatzflügel […] Paaschs Klavier der Seligen« (Oo 37). Im Moment der Jazzimprovisation sind sie auch räumlich marginalisiert, haben sich vom Konzertpublikum abgespalten und geben sich ihrem alkoholischen und musikalischen Rausch hin. Dieser beginnt im Moment der Synkope. Arlecq schlägt den Takt auf dem Flügel und phrasiert den Rhythmus, Paasch wird zum Jazzpianisten. Der Jazz, und nicht allein der Alkohol, überführen die Protagonisten in einen glücklichen Rauschzustand. Arlecqs Erleben ist gespickt mit Assoziationen und Intertexten, er erhebt sich zum imaginären Flug über die Stadt.94 Paasch als Pianist bleibt an das Instrument des Flügels gebunden, erlebt seinen Rausch als Glückszustand über die Aufschiebung seines Examens. Den Status des Studenten zieht
94 Die Ausbreitung der azetonen Flügeln ist ein intertextueller Verweis auf Jean Pauls Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch von 1801.
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er dem Status des Arztes vor. Paasch ist nicht im Turner'schen Sinne statuslos, aber als Student noch nicht restriktiv in die Gesellschaft eingebunden, mithin noch außerhalb der »Kaderakten«. Besonders markant an der zitierten Passage, ist, dass die wesentlichen Elemente des Romans in das Jazzspiel integriert werden: die exklusive (Männer-) Freundschaft, die Verweigerung gesellschaftlicher Normen und der selbstgewählte Außenseiterstatus, die Vorausdeutung auf die Irrenanstalt, der improvisierte Identitätstausch (»dachte Paasch oder Arlecq«). Das zitierte Kapitel »Das Klavier über der Stadt« enthält somit die aufkeimenden Grundstrukturen des Romans und transponiert diese in das Jazzspiel Paaschs.95 Mit dem Jazzspiel wird durch die Musik ein Raum der Unbestimmtheit in den Text eingeschrieben. Wie bereits herausgestellt, sind die unterschiedlichen Jazzelemente – motivisch und poetologisch – essentiell für das Erzählen. Der gesamte Roman impliziert somit ein liminales Erleben jenseits der gesellschaftlichen Fixierungen, der Jazz verleiht dem latenten Wunsch nach Grenzüberschreitung Ausdruck. Die permanente Ambiguität der Jazzpoetik gibt Der Weg nach Oobliadooh als Entwicklungsgeschichte eine subversive Struktur: Das Handeln der Figuren richtet sich stets gegen gesellschaftliche Affirmation; eine Balance zwischen individueller Entwicklung und gesellschaftlicher Integration erscheint unmöglich. Das Streben nach Entgrenzung findet durch die Verortung an der deutsch-deutschen Grenze seinen Ausdruck. Arlecq und Paasch versuchen den konventionellen Biographien zu entkommen, wie sie im paradigmatischen Verlauf eines sozialistischen Entwicklungsromans erzählt werden. Die Freunde werden als Meister der Grenzüberwindung auf verschiedenen Ebenen inszeniert, ihre Westreise stellt den Höhepunkt dieses unkonventionellen Entwicklungsnarrativs dar. Die Berlinpassage als Improvisation Der »Kampf ums Dasein«, die Behauptung ihrer Individualität in der sozialistischen Gesellschaft, führt Arlecq und Paasch im Romanverlauf schließlich nach
95 In der Forschungsliteratur wird stark auf das expositorische erste Kapitel »Südliches Vorspiel« verwiesen, das in Dresden angesiedelt ist. Nach Stefan Bruns nehme es die Grundstruktur der Desillusionierung vorweg. Vgl. Stefan Bruns, Das Pikareske, S. 75ff. Vgl. auch Helmut Böttiger, Fritz Rudolf Fries und der Rausch im Niemandsland (1985), S. 42ff.
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Berlin, Anlass für den Besuch des Westteils der Stadt ist ein Jazzkonzert: Count Basie im Sportpalast. Der Jazz initiiert nicht nur die Reise, sondern begleitet diese auch, wie der rhythmisch phrasierte Gang von Arlecq und Paasch 96 beim Umstieg in die grenzüberschreitende U-Bahn zeigt: »schleppend, aber akzentuiert lief P., A. mit ihm, der Schirm klopfte die Stufen ab« (Oo 200); beim Grenzübergang selbst »lallte P. einen Scat-Vokal bis zur nächsten Station« (Oo 201). Mit den rhythmischen und vokalen Jazzimprovisationen reisen Arlecq und Paasch nach Westberlin ein, damit erhält auch diese Reise eine improvisierte Stellung jenseits der konventionellen Ordnung und einen ironisch-spielerischen Charakter.97 Zugleich schwingt in der Erzählung der Berlin-Passage auch angemessener Ernst mit. Das Gewicht der spielerisch inszenierten Grenzüberschreitung wird deutlich, wenn Arlecq und Paasch erkennen, dass sie sich ideologischer Vereinnahmung nicht vollständig entziehen können: »Sicher hätte er unsere Plaste verschmäht, wie er die Sandalen verschmähte, sagte A. Deren Plaste, mußt du jetzt sagen, korrigierte P. Ostplaste von drüben. Wir sind jetzt hüben.« (Oo 202)
Die ideologischen Sprachregelungen werden erstaunlicherweise affirmiert, Paasch geriert sich als Pragmatiker und scheint als solcher Arlecq zu dominieren: »Ich bin nicht sicher. Schließlich stehen wir hier im Grenzland, sagte A. […] Ich weiß nicht, sagte A. Komme mir vor, als ob ich einen Fuß links und den anderen rechts der Sektorengrenze hätte. Nimm einen zurück, sagt P. Da stehst du sicherer. Ich geh jetzt.« (Oo 204)
Paaschs vorgebliche Entschlossenheit ist dabei nicht von Dauer. Er ist es, der mit seinem »großen Wort« die Rückkehr in die DDR beschließt. Das überzeugte
96 Paaschs Leidenschaft für das Jazz-inspirierte rhytmische Gehen wird bereits in den Leipziger Episoden deutlich. Auf den Takt von »Salt Peanuts« hebt er seine Beine (vgl. Oo 56, 62f). 97 Frauke Bolln verweist explizit auf die weniger verspielt und fast dramatisch dargestellten Grenzüberschreitungen des politisch devianten Freundes Stanislaus, vgl. Frauke Bolln, Zwischen Beat Generation und ›Ankunftsliteratur‹, S. 69.
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Auftreten ist hier dem anstehenden Konzert geschuldet, auf das die Desillusionierung unmittelbar auf dem Fuße folgt. Der Prozeß der Desillusionierung ist stark an die Erfahrung im Notaufnahmelager gebunden. Die konsequente und generalisierende Bezeichnung »Lager« (Oo, 199 u.a.) ist bedeutsam. Unmittelbar vor der Berlinreise wird Arlecqs Besuch in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald erzählt, die Montage kontextualisiert mithin das Notaufnahmelager unmittelbar mit den nationalsozialistischen Vernichtungslagern. In der späteren Schilderung des Lagerlebens verdichtet sich diese Verbindung, der Westen wird so als strukturell faschistoid gekennzeichnet.98 Mit der Fahrt nach Berlin werden Arlecq und Paasch außerdem auf die Initialen ihrer Namen reduziert. Nach Hoppe enthalte diese Reduzierung allein die Kritik an kapitalistische Entfremdung und Konsum.99 Diese Reduzierung verweist zudem aber auch auf das Problem, einen Platz in der Gesellschaft zu finden und auf den latenten Identitätskonflikt – ausgedrückt in der Doppelstruktur der Freundschaft – und den »Kampf ums Dasein«, welche den gesamten Roman prägen. Darüber hinaus enthält dieser Namens- und damit Statusverlust auch Elemente von Turners Liminalitätsmodell. Die Reduzierung des Namens destabilisiert die Gewissheit der Identität und leitet so über in einen Zustand der Statuslosigkeit. Die Westpassage, als erzählte Episode und erlebte Grenzüberschreitung trägt die Züge eines transformativen Übergangs. Dieser Zusammenhang ist im Modell der Westschleife enthalten. Trotzdem gelingt es in Der Weg nach Oobliadooh, diese literarische Konvention zu verlassen und zu subvertieren. Einer Idee Arlecqs folgend inszenieren die beiden Freunde ihre Ankunft und den Aufenthalt im Flüchtlingslager regelrecht. Mit dem Ziel als letzte in der Nacht »mit gehetzter Nachdrücklichkeit« (Oo 207) im Lager aufgenommen zu werden, warten sie frierend auf einer Bank und checken in das Lager ein wie in ein Hotel: »Nur wir zwei, guter Mann, sagte P.« (Oo 208). Kaum im Lager angekommen, verstaucht sich Arlecq sein Bein und ist fortan auf einen Gehstock angewiesen. Außerdem lassen sich die beiden »von einem Tag zum anderen«
98 Neben anderen verweist Rainer Benjamin Hoppe auf diese Zusammenhänge, vgl. ders. Horizont aus Schlagbäumen, S. 116. Das Lager wird beschrieben als Ansammlung von Baracken mit sandigen Straßen. Transportiert werden die »Insassen« (Oo 210) mit Lastwagen. Arlecq und Paasch verhalten sich wie Inhaftierte, heben sogar die Hände (Oo 211). 99 Rainer Benjamin Hoppe, Horizont aus Schlagbäumen, S. 116.
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(Oo 212) Vollbärte wachsen. Diese Maskerade kostet insbesondere Arlecq aus und erlebt sie als Metamorphose: »Der Stock verwandelte ihn, machte ihn boshaft wie einen Blinden, angriffslustig gegen Steine und Blumen, in den ersten Tagen schmerzten ihn die Handgelenke. Nach der ersten Woche hätte er ohne Stock nicht mehr laufen wollen, wäre nach links oder rechts zur Seite gekippt. Mit dem Stock war er jeder Maskerade zugeneigt, tappte am Stock den Rinnstein entlang, die Augen hinter den schwarzen Gläsern, stützte sich dann wieder schwer auf ihn, mehr als es der Fuß erforderlich machte, grub den Gummischutz tief in den Sand der Lagerstraße.« (Oo 211f)
Die Maskerade und die Requisiten – Arlecq überlegt sogar sich eine Brille wie die von Paasch anzuschaffen (Oo 209) – machen den Westaufenthalt zu einer Inszenierung, das Auffanglager wird zur Bühne. Durch die Inszenierung ihrer selbst improvisieren Arlecq und Paasch erneut, diesmal nicht musikalisch, sondern regelrecht existenziell. Im Flüchtlingslager leben sie einen spontanen, alternativen Entwurf ihrer Identität, ohne dass eine vollständige Transformation angestrebt wird. Diese Improvisation wird schließlich abrupt, aber nicht völlig unerwartet beendet und schließlich durch eine neue Version der Wirklichkeit ersetzt: »Bis da eines Morgens P. sein großes vertrautes Wort sprach, auf das A. gewartet, auf das er spekuliert hatte. Obwohl die Bücher gut waren, das Wetter, der Kaffee, die Apfelsinen, die Zigaretten, die Filme mit Liz Taylor oder Marlon Brando. Es kotzt mich an sagte P. sein großes Wort, das da alles enthielt, einschließlich der Witze im Zimmer mit den vier Schlafstellen.« (Oo 213)
Arlecq, als Schelm, weiß auch diesen »Rückzug« kunstvoll zu nutzen und improvisiert erneut. Das Kapitel »Die Entführten« schildert, wie Arlecq und Paasch, die Rückkehrer, einer strafrechtlichen Verfolgung durch die DDR-Behörden entkommen und dabei an neue, gültige Papiere gelangen, so dass sie schließlich ihr altes Leben vorübergehend wiederaufnehmen. Paasch wird heiraten und als Arzt praktizieren, Arlecq wird als Dolmetscher arbeiten und schließlich mit Anne eine Familie gründen. Möglich wird diese Wendung durch eine neue biographische Variation. Arlecq verbreitet eine von Paasch bestätigte Geschichte,100 »vielleicht nach einer wahren Begebenheit« (Oo 220): Paasch und
100 Vgl. Oo 219: »Für die Geschichte war A. zu verantworten. P. machte den Zeugen in eigener Sache.«
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Arlecq seien – wie in einem Spionagethriller – von westlichen Agenten entführt und zur Kollaboration gezwungen worden. Um den Schein zu wahren, hätten sie ein paar Tage im Flüchtlingslager verbracht und hätten ihre Papiere dort lassen müssen (vgl. Oo 220–223). Auf der Bühne der Pressekonferenz erzählen die ›Entführten‹ ihre abenteuerliche Geschichte, Paasch »betete« (Oo 221) sogar ideologische Floskeln; so parodieren sie zugleich jede Flucht- und Rückkehrgeschichte. Diese scheinbar affirmative, systemtreue Rückkehr ist dabei wieder eine deutliche Inszenierung. Arlecq und Paasch tragen noch immer Initialen statt Namen, tragen ihre unkenntlich machenden Bärte und vertauschen offiziell ihre Identität: Die Pressefotos sind dem jeweils anderen zugeordnet, Arlecq ist Paasch und Paasch ist Arlecq. Dieser Identitätstausch macht besonders deutlich, dass die Rückkehr in den Osten nicht mit einer Ankunft im Sozialismus einhergeht. Vielmehr betreiben Arlecq und Paasch ihr Improvisationsspiel weiter wie gehabt. Auf diese Weise wird die Läuterung oder Erkenntnis, die mit der Westschleife typischerweise einhergeht, persifliert. Die kritische Attitüde der Freunde, die sie zur Rückkehr in den Osten motivierte, wird schlussendlich über die Grenze in die DDR transportiert. Das Modell der Westschleife, als narratives Muster der ideologischen und kulturpolitischen Affirmation, wird variiert und damit subvertiert. Diese Improvisation der Episode lebt dabei von diversen Grenzüberschreitungen. Neben der Maskerade und dem Namensverlust sind es besonderes die Künste, die Entgrenzungen evozieren. Nicht allein der Jazz als Kunstform, sondern auch das Theater und die Literatur tragen dazu bei. Arlecq und Paasch inszenieren sich unablässig. Die Grenze scheint dabei die Variationen zu provozieren, sie bietet ein ideales setting für das verjazzte Entwicklungsnarrativ von Arlecq und Paasch. Die narrativen Muster des Bildungsromans und der Grenzreise werden in diesem Roman ebenso radikal wie innovativ umgedeutet.
DER BILDUNGSROMAN DER DEUTSCH-DEUTSCHEN LITERATUR DER GRENZE Die drei dargestellten Romane (resp. Erzählung) rekurrieren zweifelsfrei auf das Gattungsmodell des Bildungsromans. In der Gattungskonvention des Bildungsromans findet in den untersuchten Texten die Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Grenze statt; die Existenz der Grenze selbst aktualisiert die Gattung des Bildungsromans, indem die Westreise als literarisches Modell etabliert wird: In der Westpassage wird die Grenze selbst erzählbar.
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Offenbar wird dieser Kontext modellhaft in Dieter Nolls Roman, der verbindlich am Bildungsroman orientiert ist. Die Gattungstradition wird in diesem Fall hinsichtlich der deutsch-deutschen Grenzüberschreitung und Konkurrenz der ideologischen Systeme aktualisiert. Die Westreise wird mit dem Bildungsnarrativ parallelisiert, dabei wird das Krisenerleben, die Instabilität des Entwicklungsprozesses, durch die Westreise ausgelagert. Die politische Geographie der deutschen Teilung wird als literarische Topographie im Bildungsroman erzählt. Die Auslagerung der Krise lädt die Westreise symbolisch auf und offenbart ihre ideologische Instrumentalisierung. Nolls Roman stellt modellhaft die ideologische Affirmation der sozialistischen Ankunftsliteratur dar, das Modell der Westschleife spielt dabei eine wesentliche Rolle. Destabilisierende Erfahrungen des Dazwischen, Holts »Treiben«, werden verstärkt in den Westen ausgelagert. Die temporäre Aufhebung von gesellschaftlichen und moralischen Ordnungsmustern, ob als bürgerliche Dekadenz oder Eskapismus, sind dabei elementar für Holts Re-Integration in die ostdeutsche Gesellschaft, die mit der Rückkehr in die SBZ einhergeht. Die inhärente Affirmation der ostdeutschen Gesellschaft, wie sie bei Dieter Noll inszeniert wird, hat dabei eine grenzbestätigende Wirkung, die deutsch-deutsche Grenze wird in der Literatur reproduziert. Bei Christa Wolf ist der Entwicklungsprozess nur bedingt topographisch an die Grenzreise gebunden: Die miterlebten Grenzreisen unterstützen Ritas sozialistische Integration, indem sie gestärkt aus den miterlebten Krisen hervorgeht. Anders verhält es sich mit der Westschleife der Protagonistin: Ritas Berlinpassage hat keinen Einfluss auf ihren Entwicklungsprozess. Trotz des staatsloyalen Tenors der Erzählung, wird das literarische Modell der Westschleife nicht ideologisiert: Es findet keine Analogiebildung von Westreise und gesellschaftlicher ReIntegration statt. Das internalisierte Krisenerleben und die Rückführung in den DDR-Kontext verleihen der Erzählung gesellschaftskritische Züge und eine gewisse Komplexität. Ritas Westreise ist konventionell in den Handlungsverlauf eingebunden, da sie mit der Rückfahrt der Protagonistin endet und somit strukturell affirmativ ist, sie kann aber mit dem Bildungsprozess nicht in eins gesetzt werden. Die Westreise dient innerhalb des Entwicklungsnarrativs der Vermittlung des Scheiterns der Liebesbeziehung. Das Entwicklungsnarrativ ist tendenziell von der politischen Topographie entkoppelt. Als literarisches Muster wird die Westschleife aber aufgegriffen und vermittelt eine neue Geschichte: Das Ende der Liebe von Manfred und Rita.
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Die Modelle des Bildungsromans und der Westschleife werden in Fries’ Der Weg nach Oobliadooh radikal umgedeutet, permanente Grenzüberschreitungen ermöglichen die hier ersehnte Abkehr von gesellschaftlichen Zwängen, eine Versöhnung mit der sozialistischen Gesellschaft wird vermieden. Die Überwindung von Grenzen ist dabei nicht ausschließlich an die Westschleife gebunden, sondern zeigt sich durch die immanente Jazzpoetik als virulentes Phänomen. Erfahrungen des Dazwischen begleiten die gesamte Romanhandlung, die Protagonisten entziehen sich permanent gesellschaftlichen Zuschreibungen. Diese generelle Tendenz kulminiert schließlich in der unausweichlichen Westschleife. Der Namensverlust und Identitätstausch heben die Sonderstellung der Passage hervor, zugleich wird in dieser Variation der Westschleife das literarische Modell ad absurdum geführt; als ideologisches Instrument zur Affirmation taugt diese besondere Westschleife nicht. Gerade die Erfindung der Entführungsgeschichte persifliert die Läuterungsgeschichte eines Werner Holt, die in der Ankunftsliteratur Konvention wird. Mit der Westschleife wird auch die Gattung des Bildungsromans subvertiert, Der Weg nach Oobliadooh ist ein Gegenmodell zur Gattung; es findet kein harmonischer Ausgleich von Individuum und Gesellschaft statt, vielmehr geht der »Kampf ums Dasein« immer weiter. Alle drei Romanen schließen an die Gattung des Bildungsromans an, auch die Westschleife fällt als Gemeinsamkeit ins Auge. Das literarische Modell der Westschleife erweist sich als wesentliches Element für die Renaissance des Bildungsromans im deutsch-deutschen Kontext. Mit dem Modell der deutschdeutschen Entwicklungsreise findet eine genuin literarische Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Teilung statt. Diese Auseinandersetzung geht Hand in Hand mit dem poetischen Potenzial der Grenze, schließlich formt die Grenze die narrativen Muster mit. Christa Wolf impliziert in ihren Aufzeichnungen zur Entstehung von Der geteilte Himmel das bedeutende narrative Potenzial der deutsch-deutschen Grenze. Mit der Teilung, die durch die Westschleife erfahrbar und erzählbar wird, erhalte das banale Liebesdrama ihrer Erzählung erst literarische Relevanz. 101 Das Erzählen von der Grenze und über die Grenze hinweg aktualisiert den Bildungsroman und ergänzt die Gattungstradition um das Modell
101 Sonja Hilzinger fasst zusammen: »Mit dieser unmittelbaren Verschränkung der in die notwendige Trennung mündenden Liebesgeschichte und der Fixierung der Spaltung Deutschlands durch den Bau der Mauer, kann jene ›Überidee‹ in die Erzählung, nach der Wolf, dem Tagebucheintrag vom 27.9.1960 zufolge suchte, um den ›banalen Stoff erzählbar und erzählenswert‹ zu machen.« Dies., »Entstehung, Veröffentlichung, Rezeption«, S. 296.
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der Westschleife. Diese Aktualisierung findet dabei offensichtlich nicht jenseits politischer Vereinnahmung statt, dient die Westschleife – oder genauer die Rückkehr – doch häufig der systemkonformen Bestätigung. Der Literatur gelingt es andererseits aber auch, sich ideologischer Instrumentalisierung zu entziehen, indem affirmative Strukturen wie die Westschleife variiert werden, wie das Beispiel von Fritz Rudolf Fries zeigt. Die deutsch-deutsche Grenzliteratur beweist so im Rekurs auf den Bildungsroman und unter Einbindung von Reisenarrativen das literarische Potenzial der Grenze. Auf andere Weise entfaltet sich dieses Potenzial auch in weiteren narrativen Modellen, wie der Liebesgeschichte.
Liebesgeschichten – Romeo und Julia an der Grenze Der Roman ist essentiell mit der Liebe verknüpft, sie ist das paradigmatische Thema der Gattung.1 Die Gattung ist eine »enge Allianz«2 mit der Liebe eingegangen, indem im Roman die Geschichte einer Annäherung erzählt werde. Zentral für die literarische Gestaltung ist ein Konflikt zwischen persönlichem Gefühl und äußeren Umständen. 3 Das wohl bekannteste Liebespaar der Literaturgeschichte bilden Romeo und Julia; William Shakespeare brachte das Paar auf die Bühne der Weltliteratur; es folgten unzählige Variationen des Themas. Darüber hinaus sind diverse Vorläufer des Shakespeare’schen Paares bekannt. Die tragische Entwicklung eines herkunftsbedingten Liebeskonflikts stellt den Kern des Stoffes dar: Kinder aus verfeindeten Familien verlieben sich, doch ihre Liebe erscheint angesichts der verfeindeten Lager als aussichtslos und letztlich endet die unmögliche Liebesgeschichte tragisch: mit dem Tod der Liebenden. Der Plot einer an Romeo und Julia orientierten Liebesgeschichte ist bekannt, doch wie kann ein solcher Liebeskonflikt mit der Grenze verknüpft werden? Mit der Feindschaft der Elternhäuser basiert der Konflikt auf einer antagonistischen Konstellation, die Figuren bilden zwei Lager, die getrennt voneinander arrangiert und als Feinde einander gegenübergestellt werden. Die räumliche Struktur der Grenze spiegelt diese dualistische Konstellation wider. Die Feindschaft ist dabei so emphatisch wie die sich entwickelnde Liebesbeziehung des Paares, Liebe und Hass sind von ähnlicher Intensität. Die strukturelle Feindschaft resultiert schließ1
Vgl. Hartmut Steinecke, »Roman«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. III, Berlin u.a. 2003, S. 317–322, bes. S. 319.
2
Niels Werber, Liebe als Roman. Zur Koevolutoin intimer und literarischer Kommunikation, München 2003, S. 9.
3
Manfred Schneider ergänzt den Liebesdiskurs um eine kommunikative Dimension, er spricht von einer »Geschichte der Vergeblichkeit, die Worte und Zeichen der Liebe festzulegen.« Ders., Liebe und Betrug. Sprachen des Verlangens, München, Wien 1992, S. 12.
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lich in einer leidenschaftlichen Beziehung der beiden Parteien zueinander, die anfangs negative Vorzeichen trägt. Aus dieser Ausgangssituation entwickelt sich die Liebesbeziehung, sie stellt strukturell einen Gegensatz zu der Feindschaft dar und überwindet diese. Die beiden leidenschaftlichen Beziehungen sind parallel strukturiert: Über eine Grenze sind beide ›Lager‹ deutlich als Feinde und als Liebende aufeinander bezogen. Die Liebesbeziehung subvertiert die vorhandene antagonistische Konstellation und wendet die leidenschaftliche Feindschaft in eine leidenschaftliche Liebe, die paradoxerweise – je nach Handlungsverlauf – durch den Liebestod vor der Vergänglichkeit bewahrt wird. Das Wechselspiel zwischen Feindschaft und Liebe entspricht der Dialektik der Grenze, deren inhärente Dynamiken zwischen Trennung und Verbindung changieren. Die Grenze, als räumliche Erscheinung, stellt den paradigmatischen Ort für die Erzählung einer Romeo-und-Julia-Geschichte dar, hier können die feindlichen Lager antagonistisch arrangiert und gleichzeitig die Begegnung des Liebespaares inszeniert werden. Gottfried Keller führt diesen Zusammenhang in seiner Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe beispielhaft vor. Auch ohne den Diskurs der deutsch-deutschen Grenze zu tangieren, führt Kellers Novelle die Grenze als poetisches Paradigma im Liebesnarrativ vor. Die Ausführungen zu Kellers Novelle sollen hier stellvertretend für einen theoretischen Überblick über Liebeserzählungen stehen.
LIEBE AM GRENZWALL – ROMEO UND JULIA AUF DEM DORFE Gottfried Kellers Novelle stammt aus dem Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla; erzählt wird die Geschichte der Bauern Manz und Marti und ihrer Kinder Sali und Vrenchen. Die Bauern bearbeiten nachbarschaftlich ihre Felder, die von einem verwahrlosten dritten Acker getrennt sind. Nach und nach pflügen sie je eine Furche aus dem mittleren Acker und schlagen sie dem je eigenen Feld zu. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit wird der Acker schmaler; da Manz und Marti zusätzlich die störenden Feldsteine auf den Acker werfen, wird der Acker unwirtlicher und steiniger. Im Verlauf von vier Jahren bildet sich ein steiniger Grat zwischen den Bauern, die sich beide stillschweigend bereichert haben. Schließlich ersteigert Manz den mittleren Acker offiziell und gerät mit Marti in einen Streit: Die Bauern prozessieren jahrelang gegeneinander. Während der Streit sich zu einer Familienfehde auswächst, ruinieren die Bauern sukzessive ihr Leben. Beide verarmen zusehends, worunter auch Vrenchen und Sali zu leiden haben. Bei einer zufälligen Begegnung der Kinder entwickelt sich zwischen
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diesen, trotz der Familienfehde, eine Liebesbeziehung. Neben dem materiellen Ruin der Familien, verleitet die Aussichtslosigkeit der Liebe das Paar zu einem ausschweifenden letzten Tag auf einem Dorffest. Sali und Vrenchen geben das Brautpaar: Auch ohne Heim und Habe inszenieren sie eine Hochzeit. Am Ende des Tages beschließen Sali und Vrenchen gemeinsam im Fluss Seldwyl zu sterben. Bereits auf den ersten Blick wird deutlich, dass Kellers Novelle binär strukturiert ist: Die feindliche Beziehung der zwei Bauern wird kontrastiert von der Liebesbeziehung ihrer Kinder. 4 Nach diesen beiden Plots, dem agonalen Plot über die Väter und dem exzessiven der Kinder,5 ist die Novelle strukturiert. Zunächst wird die Entwicklung der Feindschaft ausgeführt bis hin zum Verfall und Ruin beider Familien. Darauf folgt die Erzählung von der Liebesbeziehung, die angesichts des familiären Desasters ihren Höhepunkt in dem inszenierten Hochzeitstag findet und schließlich im gemeinsamen Liebestod mündet. Der Stoff von den verfeindeten Familien, deren Sprösslinge trotz etlicher Widerstände zueinanderfinden und von der aussichtslosen Liebe, die im Tod gipfelt, gleicht der Shakespeare’schen Vorlage, auf die auch der Novellentitel explizit rekurriert. Neben strukturellen Parallelen gibt es auch deutliche Unterschiede, so ist etwa das Liebespaar nicht schicksalhaft verbunden, sondern Sali und Vrenchen stehen durch Nachbarschaft und Feindschaft der Väter schon seit dem Kindesalter in einer Beziehung zueinander. Auch ist besonders der gemeinschaftliche Suizid keine tragische Verkettung von Zufällen, sondern intentional ausgeführt.6 Sali eröffnet unmittelbar nach der inszenierten Hochzeit, dass es für das Paar nur eine Lösung gebe: gemeinsam zu sterben – »[D]ort ist das tiefe Wasser – dort scheidet uns niemand mehr […]« (RJ 156). 7 Und Vrenchen
4
Dies entspricht der mehrfachen Annahme, Kellers Novelle sei durch Doppelungen, Spiegelungen und Prolepsen symmetrisch strukturiert, vgl. Peter Stocker, »Romeo und Julia auf dem Dorfe. Novellistische Erzählkunst des Poetischen Realismus«, in: Walter Morgenthaler (Hg.), Interpretationen. Gottfried Keller: Romane und Erzählungen, Stuttgart 2007, S. 57–77, hier bes. 69ff.
5
Vgl. die Terminologie von Alexander Honold, »Vermittlung und Verwilderung. Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78.3 (2004), S. 459–481, S. 473f.
6
Zu weiteren Aspekten vgl. Nicholas Saul, »Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe«, in: Peter Hutchinson (Hg.), Landmarks in German Short Prose, Oxford u.a., S. 125– 140, hier bes. S.131ff.
7
Gottfried Keller, »Romeo und Julia auf dem Dorfe«, in: Ders., Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 4. Die Leute von Seldwyla. Erster Band, hg. von
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stimmt sofort zu, auch sie habe den Gedanken an den Liebestod schon lange gehegt. Mit dem Tod besiegeln beide ihre Beziehung, die im gesellschaftlichen Leben ohne jede Zukunft gewesen wäre; das Liebesglück wird so aufgebahrt. Neben der Aktualisierung des Shakespeare-Stoffes ist in der Forschung auch die Anknüpfung an die Form der Novelle und die Einordnung in die Epoche des Realismus von Relevanz.8 Im Folgenden möchte ich aber die Literarisierung der Grenze in Kellers Romeo-und-Julia-Geschichte fokussieren, da dieser Zusammenhang von Grenze und Liebe paradigmatisch auch für die deutsch-deutsche Literatur der Grenze ist. Der Acker als trennende Grenze In Kellers Novelle fungiert der mittlere Acker zwischen den Feldern Manz’ und Martis als Grenze. Er trennt die Besitzungen der Bauern und setzt die beiden in ein nachbarschaftliches Verhältnis. Diese Nachbarschaft zeichnet sich zunächst durch zufällige Nähe aus. Darüber hinaus deutet sie auch eine unerwartete Ähnlichkeit der beiden Bauern an: Sie ähneln sich äußerlich, dem Alter und der Tätigkeit nach und streiten schließlich um denselben Acker. Die Bauern sind sich zum Verwechseln ähnlich, so dass in der expositorischen Beschreibung auch keiner vom anderen unterschieden wird. Sie werden gemeinsam beschrieben und als Einheit gefasst, »sie« tragen die gleichen Hosen, haben die gleiche Mimik und arbeiten komplementär zueinander. Pflügt der eine von oben, kommt
Walter Morgenthaler, Basel, Frankfurt a.M. 2000, S. 74–159. Im Folgenden zitiert mit der Sigle RJ. 8
Vgl. zusätzlich zur zitierten Literatur: Thomas Koebner,«Gottfried Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe. Die Recherche nach den Ursachen eines Liebestods«, in: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts, Bd 2, Stuttgart 1990, S. 203–234; Michael Titzmann, »Natur vs Kultur. Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe im Kontext der Konstituierung des frühen Realismus», in: Ders. (Hg.), Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier, Berlin, New York 2002 (=Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur Bd. 92), S. 41–48; Thomas Schestag, »Novelle. Zu Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe«, in: Volker Pantenburg und Nils Plath (Hgg.), Anführen - Vorführen – Aufführen. Texte zum Zitieren, Bielefeld 2002, S. 197–222; Jörg Schönert, »Die Tageszeitung als Muse für Poetischen Realismus. Zu Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe, in: Knut Hickethier und Katja Schumann (Hgg.), Die schönen und die nützlichen Künste. Literatur, Technik und Medien seit der Aufklärung, München 2007, S. 113–122.
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ihm der andere von unten entgegen. In der Beschreibung fällt auf, dass kein Name genannt wird, die Bauern werden unpersönlich als »sie«, »der eine« und »der andere« bezeichnet (RJ 74f). Explizit meldet der Erzähler, sie »glichen […] einander vollkommen in einiger Entfernung; denn sie stellten die ursprüngliche Art dieser Gegend dar« (RJ 75). Manz und Marti sind also prototypische Bauern, die bedeutungslos erscheinen; als gute und einander ähnliche, aber unterschiedene Nachbarn eröffnen sie die Novelle als Dorfidyll. Erst mit der Thematisierung des dritten Ackers, der Feldergrenze, verschiebt sich diese Einschätzung. Die Ähnlichkeit zeichnet Manz und Marti als gleichwertige Konkurrenten aus. Beide haben den mittleren Acker über Jahre geschmälert, unter Duldung des anderen. Während dieses Vorgangs wird der Acker in eine Grenze verwandelt: Aus dem brachliegenden Feld wird eine kleiner werdende Wildnis, in deren Mitte die Feldsteine einen schmalen Grat bilden (vgl. RJ 83). Je mehr der Acker einem Grenzwall ähnelt, desto stärker schlägt die friedliche Nachbarschaft in Feindschaft um, die schließlich in einem Rechtstreit um den Acker gipfelt. In den nächsten Jahren verfestigt sich zwischen Manz und Marti eine Familienfehde, die sich auch auf die Kinder überträgt: So ist Sali dem Hass seines Vaters auf den Bauern Marti verpflichtet, denn »[d]er einzige Zwang, dem er unterworfen, war die Feindschaft seines Vaters gegen alles, was Marti hieß und an diesen erinnerte« (RJ 93). So gehen sich die Kindheitsfreunde Sali und Vrenchen aus dem Weg und treffen sich erst wieder, nachdem die Familien der Bauern bereits ruiniert sind. Der Acker als Grenze selbst scheint nur zu Beginn der Novelle im Handlungsverlauf relevant, als mittleres Feld, Spielwiese für die Kinder, und später als Streitobjekt. Im Blick auf den Verlauf der Erzählung wird aber deutlich, dass es diese Grenze in Form des Ackers ist, die das Geschehen bestimmt. Mit der Verwandlung des Ödlandes in einen Grenzwall treten Manz und Marti in Konkurrenz zueinander, die friedliche Nachbarschaft schwenkt um in ein agonales Verhältnis, das sich zur Feindschaft auswächst.9 Deutlich wird das in dem Kinderspiel von Sali und Vrenchen, die den wachsenden Steinhaufen regelmäßig besuchen: Sie nutzten »während jeder Ernte, wenn alles auf den Aeckern war, einmal Gelegenheit, den wilden Steinkamm, der sie trennte, zu besteigen und sich gegenseitig von demselben herunterzustoßen« (RJ 84). Damit nehmen die
9
Pierre Mattern sieht die aus der Grenze entstehende Pyramide aus Feldsteinen als Wurzel des Übels, diese generiere Unfrieden und Gewalt, vgl. ders., »Grabmale und Schusswunden. Paarinszenierungen und Grenzerfahrungen bei Keller und Kafka«, in: Nikolaj Rymar (Hg.), Grenze als Sinnbildungsmechnismus, Samara 2004 (= Grenzen und Grenzerfahrungen in den Sprachen der Kunst, Bd. 2), S. 70–76, bes. S. 71.
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Kinder im Spiel die sich deutlich anbahnende Feindschaft der Väter vorweg; Eva Geulen bewertet dieses Spiel als »Einübung von Feindschaft«.10 Je mehr der Acker zur Scheidelinie zwischen den Bauern wird, desto deutlicher wandelt sich die Nachbarschaft in Feindschaft. Diese Inszenierung der Grenze ist an agonalen Grenzvorstellungen der Grenze orientiert: Die Grenze definiert und trennt und sie erscheint als Produkt und Produzentin, bzw. Markierung und Ursache eines Konflikts. Dies entspricht dem Entwurf der Grenze nach Jean-Jaques Rousseau, der in seinem Diskurs über die Ungleichheit die Verfehlungen der bürgerlichen Gesellschaft auf die initiale Grenzziehung, das Errichten eines Zauns, zurückführt: »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ›Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.‹«11
Die Grenze ist in dieser Lesart Auslöserin von Konflikten, die gemeinschaftsund nachbarschaftsstiftende Macht wird ihr implizit abgesprochen; die Ordnung, die mit der Grenzsetzung etabliert wird, provoziere Konflikte statt sie zu hegen. So folgt der agonale Handlungsstrang von Manz und Marti diesem Schema: Das freundschaftliche Verhältnis kühlt ab und wird zu einem Konkurrenzverhältnis.12 Im Moment der Ackerversteigerung werden die Bauern zu ausgesprochenen Feinden, die eine jahrelange Familienfehde pflegen. Der mittlere Acker bedingt diesen Handlungsverlauf je mehr er vom Feldstück zur Grundstücksgrenze wird.
10 Eva Geulen, »Habe und Bleibe in Kellers ›Romeo und Julia auf dem Dorfe‹«, in: Grenzen im Raum - Grenzen in der Literatur, S. 153–163, hier S. 255. 11 Jean-Jaques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit/Discours sur l’inégalité, hg. von Heinrich Meier, Paderborn u.a. 2001, S. 173. 12 Auch Oliver Kohns referiert explizit auf Jean-Jaques Rousseau. Mit Rousseau argumentiert er überzeugend, Keller erzähle nicht nur »etwas über die Differenz zwischen Natur- und Kulturzustand (in der Terminologie Rousseaus), sondern auch über die Gattungsdifferenz zwischen Drama und Novelle.« Ders., »Die Auflösung des Dramas als Form des Sozialen (Peter Szondi, Gottfried Keller)«, in: Oliver Kohns und Claudia Liebrand (Hgg.), Gattung und Geschichte. Literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze zu einer neuen Gattungstheorie, Bielefeld 2012, S. 57–78, hier S. 74.
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Komplementär dazu bedingt der Acker als Grenze aber auch das Liebesverhältnis der Kinder, denn auf dem Acker treten Sali und Vrenchen zum ersten Mal als Paar auf. Der Acker als Liebesband Noch bevor Sali und Vrenchen sich im Spiel von dem Steinwall auf dem mittleren Acker herunterstoßen, treten sie zu Beginn der Novelle als kindliches Paar auf. Die Kinder stoßen zur Mittagszeit gemeinsam zu den Bauern auf den Feldern und bringen neben dem Imbiss auch eine kleine Puppe mit. Zusammen streifen sie durch den verwilderten Acker, »Hand in Hand« (RJ 79). Vrenchen beginnt das klassische Puppenspiel, als Puppenmutter kleidet sie das ›Kind‹ mit Blättern und Blüten neu ein. Sali übernimmt in diesem Spiel aber nicht die Vaterrolle, im Gegenteil, er nimmt die Puppe, wirft sie umher und ramponiert sie. Gemeinschaftlich zerstören die Kinder die Puppe schließlich vollends. Von einem kleinen Loch ausgehend, nehmen die Kinder die Puppe auseinander, bis nur noch der stabile Kopf übrig bleibt. Diesen verwandeln die Kinder in ein »weissagende[s] Haupt« (RJ 81) indem sie eine Fliege in den Hohlraum einsperren. Der prophetisch summende Kopf wird auf dem Acker begraben. Dieses Kinderspiel referiert nicht nur auf das klassische Familienspiel und verbindet Sali und Vrenchen als (problematische) Elternfiguren der Puppe; das Spiel verweist auch proleptisch auf den Fortgang der Erzählung. Der prophetische Puppenkopf und die gemeinsame Bestattung künden von dem Unglück der Liebenden in der Zukunft. Die Verbindung der Kinder und die Prolepse auf das Liebesunglück sind gleichermaßen auf dem Acker verortet. Bereits für das Kinderpaar wird er zum zentralen Ort: Hier kommen die Nachbarskinder zusammen; der Grenzacker stiftet früh die enge Verbindung des Paares. Die erste Begegnung von Sali und Vrenchen nach Jahren familiärer Feindschaft findet hingegen nicht auf dem umstrittenen Acker, sondern bezeichnenderweise auf einer Brücke am Fluss statt. Während eines aussagekräftigen Gewitters begegnen sich dort die Bauern Manz und Marti, die von ihren beiden Kindern begleitet werden. Auf der Brücke wird zusammengeführt, was zusammengehört: das leidenschaftliche Feindespaar und das junge Liebespaar. Die Bauern geraten unmittelbar in einen Kampf, der Donner grollt. Sali und Vrenchen sind gezwungen einzugreifen, sie berühren sich, »und in diesem Augenblicke erhellte ein Wolkenriß, der den grellen Abendschein durchließ, das nahe
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Gesicht des Mädchens […]« (RJ 103). In einer illustren »Liebesepiphanie» 13 erkennen sich die Nachbarskinder von früher als Liebespaar, es ist um sie geschehen. Auf der Brücke schwenkt die Novelle von einer Feindschaftserzählung in eine verhängnisvolle Liebeserzählung um, die gleichermaßen auf dem Grenzacker ihren Ursprung hat. So verwundert es nicht, dass der wilde Acker auch später eine zentrale Rolle spielt. Die erste Begegnung von Sali und Vrenchen als Liebende findet zwar auf der Brücke am Fluss statt, die anschließende Annäherung und die inoffizielle Verlobung sind aber wieder auf dem Acker lokalisiert. Nachdem das Paar sich nach Jahren wiedergefunden hat, treffen sie sich heimlich auf dem Acker. Als Paar gehen sie auf dem Acker, an dessen Ende ein Mahnmal14 aus Feld- bzw. Grenzsteinen steht. Auf dem Feld versprechen sich Vrenchen und Sali einander, jedoch mit dem Bewusstsein der Familienfehde: »Vrenchen zitterte leis […] und schmiegte sich tiefer in Salis Arme, ihn von neuem lange und zärtlich küssend. Es traten ihr dabei Thränen in die Augen, und beide wurden auf einmal traurig, da ihnen ihre hoffnungsarme Zukunft in den Sinn kam und die Feindschaft ihrer Eltern.« (RJ 117)
Nicht allein die Fehde, auch der daraus resultierende Verfall beider Familien stehen einer glücklichen Verbindung des Paares im Wege. Noch dazu belädt sich Sali unmittelbar nach der indirekten Verlobungsszene mit weiterer Schuld: Marti, Vrenchens Vater entdeckt seine Tochter samt Sali auf dem Acker und geht auf beide los; beim Versuch Vrenchen vor ihm zu schützen schlägt Sali Marti nieder. Sali verschuldet damit Martis endgültigen Ruin, denn jener kommt erst sechs Wochen später zu sich, »blödsinnig geworden« (RJ 120). Daraufhin bleibt Vrenchen völlig mittel- und perspektivlos zurück. Sali hat indirekt die Situation Vrenchens verschlimmert. Mit Salis Schuld kommt ein drittes Hindernis für eine glückliche Paarbeziehung zum Tragen: Neben der Familienfehde und der daraus resultierenden desaströsen materiellen Situation von Sali und Vrenchen, tritt also der Schlag gegen Marti hinzu. Die Ausgangslage am letzten Tag des Paares ist eine völlig verzweifelte: Beide blicken perspektivlos in die Zukunft und halten sich an die gegenwärtige Zweisamkeit.
13 Peter Stocker, »Novellistische Erzählkunst«, S. 71. 14 Die Feldsteine werden zunächst als Grenze aufgeschichtet, nach der Versteigerung aber pyramidenförmig auf dem strittigen Feldstück aufgehäuft. Pierre Mattern weist auf die zunehmende Zeichenhaftigkeit hin und deutet die Pyramide als »Mal«, ders., »Grabmale und Schusswunden«, S. 71.
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In Anbetracht der Unmöglichkeit des Liebesglücks wird dieser Tag rauschhaft als Hochzeitstag inszeniert. Sali und Vrenchen gehen aus, lassen sich im Gasthaus als Verlobte feiern und tanzen mit Außenseiterfiguren.15 In Bezug auf die Liebesbeziehung des Paares fungiert der Grenzacker als positiv besetzter Ort der Paarbildung, er steht für die unbeschwerte Kindheit und ist der Treffpunkt zu Beginn der Beziehung. Zuletzt markiert der Acker aber auch den Tatort von Salis Kampf mit Marti und referiert so auf die Unmöglichkeit des Liebesglücks. Der Acker als Grenze verbindet das Paar, indem die nachbarschaftliche Beziehung in eine romantische Liebesbeziehung überführt wird. Zugleich ist das paradoxe Potenzial der Grenze, zu verbinden und gleichzeitig zu trennen, offensichtlich. Der Grenzacker markiert in Kellers Novelle diese beiden essentiellen Grenzdynamiken. Letztlich werden zwei leidenschaftlich verbundene Paarkonstellationen gebildet: Manz und Marti hassen sich und Sali und Vrenchen lieben sich. Das Spannungsverhältnis zwischen Liebesverhältnis und Feindschaft wird dabei literarisch fruchtbar. Die Grenze zeigt sich in dem Grenzacker als Ort und movens der Handlung. Der Rückgriff Kellers auf die traditionsreiche Liebeshandlung nach dem Muster des tragischen Liebespaares Romeo und Julia ermöglicht es nun, die Komplexität der Grenze literarisch zu gestalten. Ebenso wie Entwicklungsnarrative stellt die Liebeserzählung eine Möglichkeit der literarischen Auseinandersetzung mit der Grenze dar. Dieser allgemeine Befund lässt sich unschwer auf die Situation der deutsch-deutschen Teilung übertragen. Auch hier bringt das große Thema der Literatur, die Liebe, den Diskurs über die Grenze zum Sprechen. Das Liebespaar nach dem Modell Romeo-und-Julia bietet einen günstigen Resonanzraum, da die gesellschaftlichen Herausforderungen, vor die das Paar gestellt wird, an die aktuelle Situation angepasst werden können. Wurde bei Keller aus der schicksalhaften Familienfehde eine Feindschaft, die auf Besitzstreitigkeiten fußt, kommt in der deutsch-deutschen Literatur der Grenze die politische Polarität entlang der Grenze zum Tragen. In Romeo und Julia auf dem Dorfe wird das Potenzial des Stoffes, sich den aktuellen Gegebenheiten anzupassen und diese literarisch zu verhandeln explizit angesprochen. Die Erzählinstanz konstatiert,
15 Hier sei auf den »schwarzen Geiger« verwiesen, den rechtmäßigen Eigentümer es dritten Ackers, der aber rechtlos in den Wäldern lebt und als Außenseiterfigur einen Schwerpunkt der Forschung darstellt. Vgl. etwa Nicholas Saul, »Keller«.
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»wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig; aber stets treten sie in neuem Gewande wieder in Erscheinung und zwingen alsdann die Hand, sie festzuhalten.« (RJ 74)
Die Beschränktheit der literarischen Themen wird anerkannt, die Notwendigkeit ihrer Aktualisierung ebenfalls.16 Nach Nicholas Saul kennzeichnet dieses literarische Verständnis Keller als Vorläufer der Moderne.17 Wie im Folgenden gezeigt wird, greift die deutsch-deutsche Literatur der Grenze das narrative Muster der Liebeserzählung auf, arrangiert die Liebenden beiderseits der Grenze und setzt die Grenze so nicht nur als politische Markierung, sondern auch als Hindernis, das die Liebenden überwinden müssen. Das klassische Element des Liebestodes, mit dem auch Keller seine Novelle noch beschließt, spielt eine untergeordnete Rolle und taucht in den ausgewählten Texten nicht auf. Die Tragik der Liebesnarrative speist sich aus der Grenze als politischem Hindernis, das tief in das Privatleben der Figuren hineinwirkt. Die Literatur der Grenze fokussiert insbesondere die Grenze selbst und ihre literarische Verhandlung, die sich unterschiedlich gestaltet. Bei Jurij Brӗzan kann die Grenze als Hindernis überwunden werden, so dass die Liebesgeschichte positiv schließt. Uwe Johnson hingegen kritisiert das romantische Liebesnarrativ im Kontext der deutsch-deutschen Grenze und Arno Schmidt persifliert diesen politisch-literarischen Komplex.
16 Nach Schneider fordere auch die Diskrepanz zwischen der Wahrheit des Gefühls und deren Artikulation eine stetige Aktualisierung des Sprechens über die Liebe und also auch eine fortgesetzte literarische Gestaltung: »Wie die Mode benötigen auch die Sprachen des Verlangens bald in jeder Saison ein anderes Design, damit die Illusionen der Liebe nicht aufhören.« Manfred Schneider, Liebe und Betrug, S. 10. 17 Nichoals Saul, »Keller«, bes. S. 128f und 139.
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JURIJ BRӖZAN: EINE LIEBESGESCHICHTE – ROMANTISCHE GRENZÜBERWINDUNG IM SOZIALISTISCHEN REALISMUS Jurij Brӗzans kurzer Roman Eine Liebesgeschichte18 wurde 1962 in der DDR publiziert. Der Schriftsteller thematisiert in seinen Werken häufig die sorbische Minderheit und bemüht sich um »Verständnis für die sorbische Tradition und Mentalität«.19 Die Liebesgeschichte hingegen fällt aus diesem programmatischen Rahmen, es handelt sich schlicht um eine grenzüberschreitende Liebesgeschichte zwischen der Slawistin Sabine König aus der BRD und dem Arzt Robert Hartung aus der DDR.20 Sabine und Robert kennen sich aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Sabine mit ihrer Mutter auf dem Hof des Onkels in Ostdeutschland verbrachte, bis der Vater, Max König, seine Familie in den Westen holte und den Kontakt zur Familie in der DDR strikt unterband. Robert Hartung hatte bis zum Medizinstudium auf demselben Hof bei seiner Mutter gelebt. Trotz der Vorbehalte des Vaters reist Sabine zu Forschungszwecken zu ihrem Onkel Woinar in die DDR und trifft auf der Reise zufällig Robert. Während des kurzen Aufenthaltes kommen sich die beiden näher, müssen sich aber aufgrund der politischen Situation wieder auf unbestimmte Zeit trennen. Ein weiterer Zufall führt beide auf wissenschaftliche Konferenzen in Sofia und Bratislava. Beim Umstieg in Prag treffen sich Sabine und Robert wieder, die Liebe blüht auf und wird mit einem Ringtausch besiegelt. Prag eröffnet eine zeitlich und räumlich beschränkte Möglichkeit der beiden, ihre Liebe auszuleben. Danach sind sie wieder getrennt und auf Briefe angewiesen. Die Notwendigkeit einer Entscheidung für einen der beiden deutschen Staaten ist unausweichlich, zumal Sabine ein Kind von Robert erwartet. Beide hadern mit der Entscheidung. Im Westen bieten sich für das Paar materiell verlockende Möglichkeiten, Robert jedoch sieht in seiner ärztlichen Tätigkeit zunehmend einen moralischen und politischen Auftrag, er möchte in der DDR bleiben. Zeitgleich entdeckt Sabine, dass ihr Vater in der Rüstungsindustrie tätig ist und sie in unmittelbarer Nähe zu einer Raketenstation lebt. Folg-
18 Jurij Brӗzan , Eine Liebesgeschichte, Berlin 1975 [1962], im Folgenden zitiert mit der Sigle LG. 19 Cornelia Ilbrig, »Jurij Brӗzan«, in: Metzler Lexikon DDR-Literatur, S. 56–57, hier S. 56. 20 Das Sorbische taucht hier nur indidrekt als Thema von Sabines Dissertation auf; die Erforschung der sorbischen Sprache ist der Grund für ihre Reise in die DDR.
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lich entscheidet sich das Paar für ein Leben in der DDR und Robert holt Sabine aus ihrem westdeutschen Elternhaus. Die wenig überraschende Liebesgeschichte ist im Stil des sozialistischen Realismus geschrieben, auch wenn die Problematik der deutsch-deutschen Grenze explizit angesprochen wird. Der Fokus liegt nicht allein auf der sozialistischen Gesellschaft, ein affirmativer Gestus und eine staatsloyale Haltung sind aber offensichtlich. 21 Der sozialistisch-realistische Charakter des Romans und der vorhersehbare Plot lassen wenig Raum für differenzierte Betrachtungen oder überraschende Problematisierungen der Grenze. Nichtsdestoweniger findet im Roman eine literarische Auseinandersetzung mit der Grenze statt. Mithilfe des Modells der Liebesgeschichte, wie sie durch Romeo-und-Julia-Figurationen bekannt ist, wird die deutsch-deutsche Grenze erzählerisch verhandelt. Sie tritt vor allem als trennendes Hindernis auf, bindet das Liebespaar zugleich aneinander und bedingt den Spannungsbogen dieser Liebesgeschichte. Die Liebe an der Grenze Die Liebesgeschichte von Sabine und Robert lässt sich grob in drei Phasen einteilen. Die erste Phase beginnt mit dem zufälligen Wiedersehen auf dem Weg zu Woinars Hof, umspannt den Aufenthalt und schließt mit der vorläufigen Trennung. Als zweiter Teil und Höhepunkt folgt das Wiedersehen in Prag, das außerhalb der zweigeteilten deutsch-deutschen Ordnung angesiedelt ist. Hier findet die romantische Vereinigung des Paares statt, bis dahin glich die Beziehung einer flüchtigen Liebelei. Auf Prag folgt der dritte Teil der Liebesgeschichte: die zweite Trennung inklusive der drohenden Entfremdung und die notwendige Entscheidungsfindung. Dafür werden Sabine und Robert zunehmend ihrer Rolle in der jeweiligen Gesellschaft gewahr und fällen schlussendlich die Entscheidung für ein idealistisches Leben in der DDR und gegen eine materiell gesicherte Zukunft in der BRD. Diesen drei Etappen der Liebesgeschichte entspricht die Verhandlung der Grenze als trennendes Bollwerk, als Begegnungsraum und als Produzentin einer Entscheidung, die sich in der Grenzüberwindung zeigt.
21 Über Klischeefiguren wie den »Helden der Arbeit« oder den »sozialistischen Veteran« lässt sich hier streiten, auch liegt der Fokus nicht auf dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft; ein grundsätzlich didaktischer Ton und die Parteinahme für die DDR sind in der Liebesgeschichte aber nicht zu leugnen.
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Annäherung und Entfremdung an der Grenze Die erste Begegnung des Paares findet auf dem Weg zu Woinars Hof statt. In einem Hotelrestaurant begegnen sich Sabine und Robert nach Jahren wieder. Beide erinnern sich nur diffus an den anderen. Die Begegnung ist aus Roberts Perspektive erzählt; er erkennt, »daß ihm die junge Frau nicht fremd [ist]«, er erinnert sich, Sabines Gesicht gekannt zu haben »als es noch unfertig war« (LG 26). Erst als Sabine auf ihn zugeht und in Robert den früheren Lehrling von Woinars Hof erkennt, erinnert sich auch Robert. Die verschiedenen Lebensläufe – Robert als Sattler, später Arzt in der DDR, und Sabine als Tochter eines erfolgreichen Ingenieurs in der BRD – haben Sabine und Robert voneinander entfremdet. Sie erkennen sich nicht, erinnern sich aber diffus aneinander. Ausgangspunkt der Geschichte ist die räumliche Entfremdung, bedingt durch die Grenze. Die Grenze erscheint hier implizit als trennend und unüberwindlich; Grund dafür sind aber weniger die staatspolitischen Verhältnisse, als vielmehr die Abneigung von Sabines Vater, Kontakt zu Verwandten und Bekannten in der DDR zu halten. Gegen diese ursprüngliche Entfremdung wird mit der ersten Begegnung ein unbestimmtes Wiedererkennen gestellt. Erstaunlicherweise sind Robert und Sabine sich sofort vertraut, sie fahren am nächsten Tag sogar zusammen zu Woinars Hof und verbringen dort einige Tage. Bei Spaziergängen und Gesprächen über Religion und Politik kommen Sabine und Robert sich näher: »Stets war er es der sie suchte, niemals aber geschah es, daß sie sich nicht finden ließ.« (LG 59) Die beiden werden sich auf Spaziergängen zunehmend vertraut, Sabine meint Robert zu kennen: »Er ist stark und gut und gerecht, und er hat keine Angst vor dem Leben, weil das Leben für ihn kein dichter, dunkler Wald ist, sondern eine Straße, eine breite, gerade Straße, die nicht in die Irre führt, sondern zu einem Ziel, einem benennbaren einfachen Ziel: zu einem Platz, zu einem Berg, zu einer Blume.« (LG 63)
Dennoch versäumen es die beiden vor dem Abschied – Robert muss zurück in die Klinik und Sabines Rückreise ist durch die Aufenthaltsgenehmigung festgelegt –, einander ihrer Gefühle zu versichern. Nach der Trennung auf dem Hof ist das Liebespaar deutlich durch die Grenze eingeschränkt. Robert spielt mit dem Gedanken zu Sabine in den Westen zu reisen, verwirft den Gedanken an eine Urlaubsreise aber sofort:
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»Wer gibt heute schon Urlaub für die Liebe, wer einen Interzonenpaß und wer harte Devisen, für die man Stahl kaufen kann oder Schlager oder Medizin?« (LG 74)
Die Grenze trennt die Liebenden, so deutlich, dass Robert nicht einmal einen Brief zu schreiben vermag, so hoffnungslos erscheint ihm die Situation. Trotzdem scheint es, »als habe er ein Los gekauft, und es sei unbillig und dumm, von vornherein nicht zu hoffen, es könnte als Treffer aus der rotierenden Trommel gezogen werden« (LG 75). Sabine bleibt für Robert trotz der Trennung gegenwärtig, ein Treffen scheint aber wegen der deutsch-deutschen Teilung unmöglich. Robert bereitet sich also auf eine Konferenz in Sofia vor, lebt sein Leben wie bisher, trifft sich auch weiterhin mit seiner Freundin. Auch für Sabine geht das Leben weiter: Sie arbeitet an ihrer Dissertation und verbringt Zeit mit ihrem Freund und Kollegen, zusammen stehen sie kurz vor der Reise nach Bratislava zu einem Kongress. Es scheint, dass alles seinen Lauf geht, doch Robert bleibt ihr präsent. Genauso wie Robert gelingt es ihr aber nicht den (Brief-)Kontakt aufzunehmen: Die Trennung durch die Grenze macht Robert und Sabine sprachlos, sie unterbindet einen Dialog. Der kurze Aufenthalt in der DDR, Sabines Ostschleife, hat sie verändert, sie ist »reicher und ärmer« zugleich. Sie wollte Robert ihre Gefühle gestehen, doch bevor sie ihn in seiner Klinik besuchen konnte, drohte ihre Aufenthaltsgenehmigung abzulaufen, das »Stückchen Papier, das festlegte, wie lange Sabine König, daheim am Neckar, sich an der Pleiße aufhalten durfte« (LG 76). Wehmütig erinnert sie sich daran, wie Robert sagte »Gott behüte uns vor der Liebe von dem einen in das andere Deutschland« (LG 77).22 Die Grenze trennt das angehende Liebespaar; in der Trennung wird die Verbindung des Paares aber beiden deutlich bewusst, auch wenn es ihnen nicht gelingt, den schriftlichen Kontakt aufzunehmen. Diese trennende Dynamik der Grenze wird erzählerisch reproduziert in alternierenden Erzählperspektiven. Abwechselnd sind die Kapitel aus Roberts und Sabines Perspektive erzählt. Diese Erzählweise ist dabei nicht dialogisch, sondern isoliert die Liebenden voneinander. Der jeweils eingeschränkte Blickwinkel ist zunächst räumlich zu erklären, Robert befindet sich in der DDR, Sabine in der BRD. In den Kapiteln, die von Woinars Hof erzählen, nähern sich die Perspektiven teilweise an, regelrecht
22 Vgl. dazu auch LG 38: Robert sagt: »Hassen kann man gut über die Grenzen hinweg, aber eine Freundschaft pflegen, einen Familie zusammenhalten oder Gott bewahre! lieben über diese verdammte Grenze hinüber und herüber wird mit jedem Tag schwieriger.«
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verschmolzen erscheint die Erzählweise aber erst in der Prag-Passage. Bis dahin spiegelt die getrennte Erzählweise die unfreiwillige Trennung des Paares und ihre aussichtslose Situation deutlich wieder. Prag als Begegnungsraum und Liebeszuflucht Sabine und Robert sehen sich unverhofft und nicht verabredet in Prag wieder. Sabine soll in das Flugzeug nach Bratislava umsteigen, als »das Unwahrscheinliche geschehen war: dort stand Robert Hartung und war ihr Mann« (LG 89). Statt zu fliegen trifft sie sich mit Robert, was sich angesichts der Aufenthaltsregelungen als kompliziert erweist: Während Robert sich nur im Transithotel aufhalten darf, hat Sabine ein Visum für die gesamte Stadt – mit Ausnahme des Transithotels. Die deutsch-deutsche Grenze wirkt bis nach Prag. Als Kompromiss richtet ein Beamter dem frisch vereinten Paar ein romantisches Plätzchen unter dem Kastanienbaum im Hof des Transithotels ein. So sitzen Sabine und Robert einträchtig bis in die Nacht, beobachtet von ihrem Beamten. Diese zwischen Absurdität und Kitsch schwankende Situation leitet den Pragaufenthalt ein. Sieben Tage später, nach Roberts Rückkehr vom Kongress in Sofia, beziehen sie zusammen ein Hotel. Mit dem ersten Kuss als vereintes Paar wird Sabine, die bislang mädchenhaft gezeichnet war, zu einer Frau: »Ihr Mund war kühl, er schmeckte nach Anis und nach dem Honigduft der jungen Kleeblüte, auf einmal wurde er heiß und bitter wie ein Mandelkern« (LG 91) Folgerichtig macht Robert ihr unmittelbar einen Heiratsantrag; der Pragaufenthalt wird zu einer symbolischen Hochzeitsreise, das Abendessen zum Hochzeitsmahl und die Nacht zur Hochzeitsnacht. Prag, als aus dem geteilten Deutschland ausgelagerter Raum, erscheint als Kontaktzone, in der das Unmögliche wahr wird und Sabine und Robert kurz als glückliches Paar auftreten. Die Illusion ist beiden bewusst: »[s]ie wußten beide, daß sie sich vorspielten, alles sei einfach und alltäglich« (LG 93). Das Paar genießt den Liebesrausch in Prag in vollen Zügen: »Das Glück war absolut. Alles war Gegenwart, tausend Jahre Vergangenheit und tausend Jahre Zukunft […] Alle Zeit schmolz zu ihrer Zeit, und sie war eine gläserne Kugel, und darin war die Sonne Alpha Centauri und das Neutron des Sauerstoffkerns.« (LG 95)
In der Prag-Passage verschmelzen die Erzählperspektiven auch mehr und mehr miteinander, indem Bewußtseinströme beider Figuren ineinander übergehen. Die fünf Tage Prag gehen auf in einem gemeinsamen erzählerischen Universum, die
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Stadt Prag bietet die Kulisse für die erfahrene Zeitlosigkeit und das Verdrängen der ungelösten Grenzproblematik. Schließlich müssen Sabine und Robert sich wieder trennen, das frisch vereinte Paar wird geschieden und von der deutsch-deutschen Grenze entzweit. Der letzte Tag in Prag macht dem Paar bewusst, dass eine Entscheidung notwendig ist, wenn die Liebe Bestand haben soll. Robert und Sabine müssen sich auf einen der deutschen Staaten festlegen. Doch vor einer Entscheidung, die im Roman bereits deutlich angelegt ist – Sabines unsympathischer Vater Max König etwa personifiziert den Westen, während der Osten durch eine Vielzahl gütiger, ehrlicher Figuren repräsentiert wird –, vor dieser Entscheidung steht die erneute Trennung des Paares. Prag wird zur Erinnerung, zum Ausnahmeort. Erzählerisch ist die PragPassage durch eine romantisierende Erzählweise geprägt. Das Geschehen wird überlagert von der Illusion von Glück, das Erlebte nach Hochzeitsstationen geordnet: Sabine und Robert werden miteinander verbunden, symbolisch etwa durch einen Ring, und erzählerisch, indem die Bewusstseinsströme ineinander übergehen. Prag als Kulisse hebt den Zeitverlauf auf, und damit auch die Zeitgeschichte und die Problematik der politischen Teilung. Prag bietet sich dabei als Schauplatz an: Nicht allein das Alter und die historische Bedeutung der Stadt spielen dabei eine Rolle, auch die wachsenden Reformbestrebungen die zu Beginn der 1960er Jahre in Prag spürbar werden und schließlich im Prager Frühling von 1968 münden, tragen ihren Teil dazu bei, der Stadt Prag eine besondere Bedeutung zuzumessen. Als Transitland ist die Tschechoslowakei, und damit Prag, Teil der geteilten Welt, und bildet einen Korridor der Begegnung, zumindest für die Figuren Sabine und Robert. Die Grenze wird von der deutsch-deutschen Grenzlinie nach Osten hin verschoben, in Prag dehnt sich die Linie aus hin zum erzählten Prag, dass die Illusion vom Liebesglück erzählbar macht. Mit dem letzten Tag im Hotel verändert sich nicht nur die erzählerische Tonlage ins Sachlichere, auch die erprobte alternierende Erzählweise setzt wieder ein. Nach der zweiten Trennung beginnt der abschließende Teil der Liebesgeschichte: die Entscheidungsfindung. Entscheidung durch Grenzüberschreitung Die Trennung nach der Prag-Passage entfernt und entfremdet das Paar wieder voneinander. Robert setzt sich mit der politischen Bedeutung seines Lebens als Arzt auseinander, Sabine flüchtet in einen eigentümlichen Eskapismus. Zuvor jedoch wird Sabines Entscheidung für die DDR vorweggenommen. Unter dem unmittelbaren Prag-Eindruck erkennt Sabine, dass sie nicht nur in eine andere
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Stadt fährt, sondern in ein anderes Leben, und dass die Reiserichtung ihr Leben massiv beeinflussen kann. Unwillig malt sie sich ihr Leben in der BRD aus, ein Leben, das »nur bis zum eigenen Gartenzaun reichen soll« (LG 112); sie ist bereit dazu ihr Leben zu verändern und im »Kongo« (LG 113) zu leben, der Kongo ist die Chiffre für die DDR. Zurück bei ihren Eltern wird Sabines Schwangerschaft offenbar, Sabine bekommt zusätzlich ein gutes Jobangebot; ihr Leben wird in bürgerliche Bahnen gelenkt. So kommt es, dass Sabine sehenden Auges blind wird. Leitmotivisch wird wiederholt: »Das hatte Sabine gesehen, und das vergaß sie jetzt.« (LG 131f) Sabine richtet sich in der Werkssiedlung ihrer Eltern wieder ein, und vergisst darüber hinaus die NS-Vergangenheit – die nur in der BRD lokalisiert wird–, sie vergisst, dass sie die materiellen Versprechungen des Westens als Illusion durchschaut hatte, sie vergisst den unmenschlichen Materialismus, die Gefahr der Atombombe etc. Statt sich mit den gesellschaftlichen Zuständen auseinanderzusetzen – wie es im Gegensatz dazu Robert tut – flüchtet Sabine in die Natur, und imaginiert sich selbst als »Baum- und Blumenfee« (LG 133). Während dieser Entwicklung initiiert ihr Vater ein medizinisches Jobangebot für Robert, um ihn in den Westen zu holen und Sabine wohlversorgt zu wissen. Der Eskapismus Sabines gipfelt schließlich in einem langen Waldspaziergang, der Sabine zu einem benachbarten Tal führt, in dem Raketen stationiert sind. Erschüttert stellt Sabine fest, dass ihr Vater in der Rüstungsindustrie arbeitet, und sein Werk und die Raketenstation eine »Einheit« (LG 157) bilden; er profitiert von der latenten Kriegsgefahr und steigert diese noch. Aufgrund dieser Entdeckung fällt Sabine schließlich die endgültige Entscheidung für die DDR, sie bittet Robert sie im Westen abzuholen. Robert selbst erkennt in dieser Zeit zunehmend seinen gesellschaftlichen Auftrag als Arzt und seine moralische und politische Verantwortung. Angesichts der geringgeschätzten Kollegen, die in den Westen gegangen sind, widerstrebt es ihm zunehmend auf das Angebot von Sabines Vater einzugehen. In Absprache mit seinem Vorgesetzten lehnt er das verlockende Angebot für eine Zukunft im Westen mit Sabine ab; er hat eine Reihe von Argumenten gesammelt, die seine Entscheidung für die DDR rational begründen (vgl. LG 146). Die zweite Trennung des Liebespaares ist erzählerisch im bewährten alternierenden Verfahren gestaltet. Die Kapitel sind abwechselnd aus einer Figurenperspektive erzählt, das narrative Verfahren festigt die Trennung der Figuren und die Teilung der erzählten Räume. Sabines und Roberts Entschei-dungsprozesse unterscheiden sich deutlich; auch das wird in der Erzählweise illustriert. Roberts rationales Abwägen und seine aktiven Erfahrungen stehen Sabines Eskapismus und der Offenbarung der vermeintlichen Kriegsgefahr gegenüber. Das Ergebnis
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der Entscheidung ist jedoch eindeutig: Beide wählen unabhängig voneinander die DDR. Diese Entscheidung wird zwar in getrennten Lebensbereichen und Erzähleinheiten getroffen, sie ist aber dennoch eng an die Grenze gekoppelt. Hatte bislang nur Sabine die Grenze überschritten, um Erfahrungen jenseits der Welt ihrer Eltern zu machen, überwindet schlussendlich auch Robert diese Grenze. Unabhängig von Sabine kann er sich ein eigenes Bild vom Westen machen. Problemlos überwindet er die Grenze und reist Sabine entgegen. Auch wenn die eigentliche Entscheidung der beiden schon gefallen ist, wird diese Entscheidung erst durch Roberts Reise durch den Westen bestätigt. Die Grenzüberschreitung rekurriert auf Roberts Entschlossenheit und bestätigt seine Entscheidung. In der BRD stellt Robert auf seiner Reise zunächst nur Ähnlichkeiten fest: Beiderseits der Grenze sieht er Bauern bei der Feldarbeit, Vieh auf den Weiden und liest deutsche Beschriftungen (vgl. LG 169). Schnell stellt er jedoch auch Unterschiede fest: Er stört sich an der Werbung und an der Kontinuität zur Vergangenheit (vgl. LG 170). Diese Erfahrungen festigen Roberts Entscheidung für die DDR statt sie herauszufordern. Den Verlockungen des Westens erliegt er nicht, stattdessen rettet Robert Sabine aus der BRD. Die Liebesgeschichte nimmt ein glückliches Ende. Eine Liebesgeschichte über die Grenze Die glückliche Liebesgeschichte Brӗzans ist auf den tragischen Stoff des verhinderten Liebespaares der Romeo-und-Julia-Konfiguration bezogen. Konsequent sind die Partner auf je einer Seite der Grenze verortet, die beiden deutschen Staaten klar voneinander getrennt und unterschiedlich chiffriert. Die Liebenden sind je einem der beiden antagonistischen Lager zugehörig. Weitere Figuren bestätigen die kontrastierende Darstellung der beiden Staaten: Der Westen sei reich, aber rückwärtsgewandt, unehrlich und halte die Menschen durch die Illusion materieller Sicherheit im Zaum. Der Osten hingegen sei bevölkert von Idealisten, moralisch und ehrlich Handelnden und Schaffenden, hier findet auch die westdeutsche Sabine zu sich selbst und ihrem Partner. Pauschal werden ideologische Darstellungen der geteilten Staaten reproduziert, der Westen ist durch Revanchismus, Kriegstreiberei und Rüstung gekennzeichnet. Brӗzans Roman genügt somit voll den Anforderungen an eine sozialistische Literatur.23 Die Rettung des Paares in der DDR krönt diesen staatsloyalen Gestus.
23 In einer Rezension von Gisela Nurnus findet sich neben leichter Kritik, das Lob, die Liebesgeschichte sei eines der »bemerkenswerteste[n] Bücher der letzten Jahre« und
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Analog zur plakativen Gestaltung des Gesellschaftsbildes wird die Grenze in dem Roman verhandelt. Die Trennung durch die Grenze wird erzählerisch durch die alternierende narrative Struktur reproduziert. Die politische Trennung reicht tief in das Privat- und Intimleben der Figuren hinein: Kaum befinden sie sich auf verschiedenen Seiten der Grenze, entfremden Sabine und Robert sich voneinander, Kontakt über die Grenze hinweg findet kaum statt. Erst nach der PragPassage kommt es zu einer eingeschränkten Briefkorrespondenz. Die Grenze ist ein definitives Hindernis für das Paar. Konsequenterweise bringt die Grenzüberschreitung Roberts das Paar endgültig zusammen. Das Liebesglück kann nur in der DDR Erfüllung finden. Trotz der banalen Erzählstruktur und simplen Grenzdarstellung, stellt Brӗzans Roman eine Ausnahme in der Liebesliteratur zur Zeit der deutsch-deutschen Teilung dar. Bereits Rainer Benjamin Hoppe weist darauf hin, dass der Liebestopos in der deutsch-deutschen Literatur der Grenze virulent ist. Hoppe konstatiert, dass grenzüberschreitenden Liebesgeschichten tendenziell jedoch scheitern.24 Die Liebe über die trennende Grenze hinweg erscheint mehrheitlich als unerfüllbar, da »die grenzüberschreitenden Liebesverhältnisse durchweg als Ausdruck eines unmoralischen Handelns« 25 erzählt werden. Die deutschdeutsche Teilung provoziert das Scheitern der Beziehungen. Christas Wolfs Erzählung Der geteilte Himmel, die ich zuvor mit dem Fokus auf das Entwicklungsnarrativ behandelt habe, erzählt ein breit rezipiertes und beiderseits der Grenze bekanntes Beispiel für das Scheitern einer grenzüberschreitenden Liebesgeschichte. Brӗzan greift mit seiner Liebesgeschichte einen in der deutsch-deutschen Literatur weit verbreiteten Topos auf und variiert ihn. Die deutsch-deutsche Liebe hat hier einen glücklichen Ausgang. Die damit einhergehende Banalisierung der Handlung zu einer vorhersehbaren Liebesgeschichte und die klischeehafte Darstellung beider deutscher Staaten, unterstreicht den staatsloyalen Gestus des
gebe die »richtige« Antwort auf weltanschaulich-politische Fragen im Kontext der deutsch-deutschen Teilung. Die Entscheidung für die DDR sei die einzig moralisch einwandfreie Lösung für den Konflikt der Liebenden. Dies., »Liebe in Deutschland«, in: Neue deutsche Literatur 11.4 (1963), S. 151–154, Zitate S. 151. 24 Vgl. Rainer Benjamin Hoppe, Horizont aus Schlagbäumen, S. 84. 25 Ebd., S. 89.
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Romans. Brӗzan greift, wie gezeigt, ostdeutsche Klischees 26 über den Westen auf. Auf diese Weise werden im Text die politisch favorisierten Binaritäten reproduziert, die insbesondere zur Zeit des Mauerbaus – der Text wurde 1962 publiziert – hoch aktuell waren. Paradoxerweise steht dem Klima der Abgrenzung zu Beginn der 1960er Jahre gerade das happy end der Liebesgeschichte entgegen. Gerade die Zusammenführung des Paares, die in Prag zuerst erprobt wird, wird den (kultur-)politischen Abgrenzungsstrategien zur Zeit des Mauerbaus entgegengehalten. Die Liebe von Robert und Sabine erscheint zu keiner Zeit als unmoralische Verfehlung. Vielmehr bestätigt Sabines Bereitschaft, in den Osten zu gehen, die moralische Überlegenheit der DDR, angesichts der revanchistischen Gesellschaft in der BRD. Auf deutsch-deutscher Ebene wirkt die Vereinigung dieses deutschdeutschen Liebespaares also mitnichten versöhnlich oder verbindend. Die Erfüllung der Liebe wird in die DDR verlagert. Jenseits der Grenze erst gelingt es Sabine aufrichtig zu ihren Gefühlen zu stehen, sie bedarf »keine[r] Plastikworte und keine[r] Leuchtröhrenworte« (LG 172) mehr. Diese Variation der topischen Liebeshandlung mit happy end ermöglicht die literarische Verhandlung der Grenze – während sich das politische Klima zu Beginn der 1960er Jahre auf dem Höhepunkt der Abschottung befindet. Die Grenze wird bei Brӗzan konsequent als trennende Barriere inszeniert, an ihr werden politische Differenzen reproduziert. Durch die erstaunlich unproblematischen Grenzüberschreitungen kann es zur glücklichen Vereinigung des Paares kommen, final wird Sabine von Robert regelrecht in die DDR ›herübergerettet‹. Brӗzans Liebesgeschichte erzählt weniger vom grenzüberschreitenden Liebesglück als von der politischen Konversion Sabines von der unkritischen Westdeutschen zur aufrichtig liebenden DDR-Bürgerin, und zwar mithilfe der Tradition des Liebesnarrativs. Die Grenze dient der Markierung der politisch relevanten Differenzen, die erzählten Grenzüberschreitungen läuten Sabines Konversion ein. Die Vereinigung des Liebespaares ist eng mit der differenzierenden Grenze verknüpft. Einer solchen Instrumentalisierung des romantischen Liebesglücks steht die Variation der Liebeserzählung in Uwe Johnsons Zwei Ansichten gegenüber. Hier wird das Liebesnarrativ genutzt um den Grenzdiskurs literarisch neu zu verhandeln. So wie Brӗzan den Nutzen des Narrativs für ideologisch konforme Zwecke
26 Mit Rainer Benjamin Hoppe lassen sich diese Darstellungen – etwa des ›kriegstreiberischen‹ Westens, als »kritische, mitunter polemisch oft grotesk verzerrt wirkende Darstellung[en] der westlichen Kultur und Zivilisation« beschreiben, ebd., S. 200.
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vorführt, zeigt sich bei Johnson das kritische Potenzial des Narrativs. Hier wird die Liebesgeschichte nicht genutzt, um die Entscheidung für einen der beiden deutschen Staaten zu legitimieren, sondern um die latente Entfremdung gerade durch das Liebesnarrativ vorzuführen. Die Grenze selbst erweist sich dabei als poetische Kategorie, die sowohl die Verbindung als auch die Trennung des Paares als Katalysator vorantreibt.
UWE JOHNSONS BLICKE ÜBER DIE MAUER: ZWEI ANSICHTEN* Uwe Johnson publizierte sein drittes größeres Prosawerk Zwei Ansichten 1965.27 Nach den erfolgreichen und formal anspruchsvollen Romanen Mutmassungen über Jakob und Das dritte Buch über Achim steht der kurze Roman etwas abseits, weder von der Literaturkritik noch in der Wissenschaft wurde er so enthusiastisch aufgenommen, wie es noch bei den Vorgängern der Fall war. 28 Zwei Ansichten erscheint auf den ersten Blick als simple Liebesgeschichte im geteilten Deutschland. Der Roman Zwei Ansichten erzählt von dem jungen Fotografen B. aus Westdeutschland, und der Krankenschwester D. aus Ostberlin. 29 Gemeinsam haben
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Dieses Kapitel basiert auf meinem Beitrag »Über die Berliner Mauer. Zur Liminalität deutsch-deutscher Grenzliteratur am Beispiel von Peter Schneiders Mauerspringer und Uwe Johnsons Zwei Ansichten«, in: Ingrid Lacheny, Henning Fauser und Bérénice Zunino (Hgg.), Le Passage/Der Übergang. Esthétique du discours, écritures, histoires et réceptions croisées/Diskursästhetik, Schreibverfahren, Perspektiven und Rezeptionen, Bern 2014, S. 89–102.
27 Uwe Johnson, Zwei Ansichten, Hamburg 1968 [1965]. Im Folgenden zitiert mit der Sigle ZA. 28 Bernd Neumann verweist auf die frühen Vorbehalte des Verlegers Siegfried Unseld, vgl. ders., Uwe Johnson. Mit 12 Porträts von Diester Ritzert, Hamburg 1994, S. 526. Und auch Michael Hofmann bewertet Zwei Ansichten in seiner Einführung zum Werk Johnsons als »weniger gelungen«, vgl. ders., Uwe Johnson, Stuttgart 2001, S. 145. Für Katja Leuchtenberger ist der Roman stark vereinfacht und markiert eine scheinbare »Schaffenskrise«, vgl. dies., »Wer erzählt muß an alles denken« Erzählstrukturen und Strategien der Leserlenkung in den frühen Romanen Uwe Johnsons. Göttingen 2003, S. 256. 29 Zu den Namen sei angemerkt, dass im deutschen Original nur die Initialen der Namen auftauchen. Vollständige Namen erhalten die Figuren erst in der Übersetzung. Grund
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die beiden im Frühjahr 1961 eine Woche im Osten und eine Nacht im Westen der Stadt verbracht, ein weiteres Wiedersehen wird vom Bau der Mauer vereitelt. An diesem Punkt setzt die Erzählung ein: Nun werden Briefe über die Mauer geschmuggelt und zu guter Letzt auch eine Krankenschwester. Als die Krankenschwester D. nach ihrer Ausreise in Westberlin eintrifft, wird die Liebesbeziehung allerdings beendet. Im Roman Zwei Ansichten wird eine Übergangsgeschichte im Gewand einer Liebesgeschichte erzählt, die an die große Liebesgeschichte von Romeo und Julia erinnert. Dieses romantisierende Erzählmodell wird nicht zuletzt durch die Mauer problematisiert und an seine Grenzen geführt. Romeo und Julia in zwei Städten Berlin Das Liebespaar B. und D. stellt bereits auf den ersten Blick eine besondere Variante zu anderen Romeo-und-Julia-Figuren dar: In Zwei Ansichten fehlt jeder Hinweis auf eine leidenschaftliche Liebesbeziehung. B und D. sind keine »starcross’d lovers«,30 sie sind nicht schicksalhaft verbunden und durch eine Liebesepiphanie als Liebende gekennzeichnet, wie das Paar bei Gottfried Keller, auch erleben sie kein ‹absolutes Glück‹ wie Brӗzans Figuren in der Prag-Passage. In Johnsons Roman wird dagegen von den Figuren nur isoliert erzählt, als Paar treten sie an keiner Stelle auf. Dieser Eindruck ergibt sich durch eine alternierende Erzählweise. Wie bei Brӗzan werden hier die einzelnen Kapitel streng nur von einer Seiter der Grenze erzählt und so perspektivisch eingeschränkt. Eine Kontaktaufnahme des Paares findet nicht statt: Verabredungen werden versäumt, Pakete werden nicht zugestellt und die Briefe, die letztendlich die Flucht der D. aus der DDR vorbereiten, werden von den Fluchthelfern zunächst ohne Wissen des Absenders B. weitergeleitet. Gemeinsam tritt das Paar an keiner Stelle auf, ebenso wenig findet ein Dialog zwischen den Liebenden statt. Statt als Paar werden die Figuren erzählerisch als Individuen präsentiert.31
dafür mag der reale Hintergrund der Fluchthelfer sein, denen Johnson persönlich begegnete. Vgl. dazu Greg Bond, »Zwei Ansichten: ›The Structure of a Deceased Organism‹ und wie es zu den Jahrestagen gekommen ist», in: Johnson-Jahrbuch 15 (2008), S. 9–22, hier S. 15f. 30 Aus dem Prolog zu William Shakespeares Drama, vgl. ders., Romeo and Juliet, hg. von Brian Gibbons, London 2002. 31 Katja Leuchtenberger arbeitet die Erzählhaltung heraus und diagnostiziert eine »Dominanz des distanzierten, überlegenen Erzählers«. Dies., »Wer erzählt muß an alles denken«, S. 286.
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Auch die Tatsache, dass die Liebesgeschichte weder in den Liebestod, noch in die glückliche Vereinigung des Paares mündet, unterscheidet Johnsons Paar von anderen Romeo-und-Julia-Figurationen. Erzählt wird nicht einfach die Geschichte einer Liebe, sondern letztlich die Geschichte einer Trennung. Die Vereinigung des Paares in Westberlin scheitert mehrfach: Zuerst gerät B. auf dem Weg zu D. in einen Verkehrsunfall und kommt mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus bevor es zum Wiedersehen kommt. Darüber hinaus ist die D. von B. aus verschiedenen Gründen enttäuscht. Nur »[d]er Form halber […] besuchte sie den jungen Herrn B. im Krankenhaus« (ZA 114). B. ist für die Krankenschwester D. nur ein Kranker unter vielen, eine gemeinsame Zukunft ist nicht in Sicht. Stattdessen bereitet sich D. auf ein Leben in Westberlin vor. Dieses nüchterne Beziehungsende wird im Roman von Beginn an vorbereitet. B. wird als Frauenheld dargestellt: Bei der Begegnung mit einer Frau in Westberlin »überlegte [er] mit verkniffenen Lippen, in welchem Monat er diese und in welchem er die D. mitgenommen hatte, oder etwa beide in einem« (ZA 11); D. nimmt keine herausgehobene Stellung unter seinen Eroberungen ein. Doch auch die D. misst der Verbindung zu B. anfangs keine größere Bedeutung bei: Er sei lediglich ein »junge[r] Westdeutsche[r], mit dem sie etwas angefangen hatte im Januar, eine Liebschaft, eine Bändelei, eine Woche, ein Verhältnis, einen Anfang, sie wußte das Wort nicht […]« (ZA 9). Erst nach der Schließung der Grenze am 13. August 1961 wird paradoxerweise der Anschein von Verbundenheit des Paares geweckt. Der Mauerbau verhindert zunächst eine Zusammenführung des jungen Paares. Dem Fotografen B. wird die Einreise nach Ostberlin versagt. Die Mauer schiebt sich zwischen das Paar und entfernt sie räumlich voneinander. Autoritäten forcieren die Trennung, was dem Fotografen bleibt, ist nur die bildliche Imagination der Krankenschwester: »Wie im Traum bekam er das Bild eines Mädchens, das er in Ostberlin hatte wiedersehen wollen. Das Gesicht stand unbeweglich und fiel weg, als blättere er durch Aufnahmen, und betrachtete ihn von neuem, verschattet vor sandkörnigem Hintergrund, als sei am Negativ geschabt worden.« (ZA 13)
Die Krankenschwester D. wird statt zur Erinnerung zu einem Bild: zum Abzug eines beschädigten Negativs. In den folgenden Wochen und Monaten beginnt B. eine Illusion der Krankenschwester zu entwerfen: »[…] willentlich bekam er sie nicht zusammen, bildete sich inzwischen ein überschmales, blutjunges, verängstigtes Wesen ein an Stelle der D. und überließ sich schwärmerisch dem
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Genuß des Verlustes, den er sich zugute hielt, fühlte sich ehrenhalber angehalten zur Treue […] Es mußte aber ein Mädchen neben ihm an der Bar, am Nebentisch, beim Tanzen nur so hübsch sein, wie er seiner Selbstachtung zumuten konnte, und er wandte ihr sein helles, harmloses, leutseliges Gesicht zu[…]« (ZA 73)
Die Liebesbeziehung wird gegen die staatlich verordnete Trennung verteidigt, ihr entgegengehalten. Dabei wird die Geliebte zu einer Illusion, die Liebe wird zur Verpflichtung. Und auch jenseits der Grenze in Ostberlin können Erinnerung und romantisches Gefühl nicht konserviert werden: In die wehmütigen Erinnerungen an Besuche jenseits der Grenze schreibt sich zwangsläufig die Erinnerung an B. ein, die lediglich konstruiert ist: »Sie stellte sich einen hochgewachsenen, beruhigend kräftigen jungen Mann vor, auf den paßte ihre Auffassung von Ausdrücken wie besonnen, überlegen, geduldig, treu; er war verschlossen, oft zu ernst, aber sie konnte ihn leicht, bloß mit einer Kinderschnute zum Lächeln bringen. Dieses Lächeln vermochte sie sich einzubilden, als sähe sie es. Es gefiel ihr sehr. Seine weißen Haare wußte sie nur in Worten, nicht als Bild; sie war in manchem seiner nicht sicher, von ihm befremdet, das schob sie auf die Trennung.« (ZA 92)
Der Mauerbau fördert also eine wachsende Entfremdung der Liebenden; die räumliche Trennung forciert eine emotionale Entfernung. Doch anstatt einer schlichten Trennung hat dies eine imaginierte Verbindung zur Folge: Die Gedanken beider Figuren kreisen um den jeweils anderen. Je deutlicher die Trennung, desto intensiver wird die Illusion beschworen. Es ist die Mauer, Sinnbild der Teilung und Trennung, die das Liebespaar erst zusammenschweißt. Zugleich ist diese Verbindung eine deutlich konstruierte, diese Illusion von Verbindung entlarvt die erstarkende Trennung des Paares. Neben den imaginierten Wunschbildern des jeweils anderen prägt eine ungewöhnliche Passivität die zwei Geschichten von beiderseits der Grenze. Nicht nur, dass die Liebesgeschichte ohne jedes Anzeichen von Leidenschaft erzählt wird, auch die Fluchtgeschichte ist von der Zurückhaltung der Figuren geprägt. Die Grenzüberschreitung, die Flucht der D., ist beinahe ein Versehen, zufällig arrangiert vom Fotografen B., eher als Pflicht denn als Kür. 32 Nur volltrunken gelingt es ihm zufällig Kontakte mit den Fluchthelfern zu knüpfen. Deren An-
32 Vgl. »Er wollte aber etwas versucht haben zu Gunsten der D., sich nichts mehr vorwerfen müssen.« (ZA 157). Auch Katja Leuchtenberger weist darauf hin, vgl. dies., »Wer erzählt muß an alles denken«, S. 262.
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weisungen fügen sich sowohl der Fotograf B. als auch die Krankenschwester D. Fluchthelfer auf beiden Seiten der Mauer fungieren als Katalysatoren der Übergansgeschichte. Sie nehmen Initiative und Risiko auf sich; B. und D. fügen sich lediglich in die Umstände. Aus Pflichtgefühl arrangiert und aus Pflichtgefühl durchgeführt, ist D.’s Ausreise nicht nur vor geltendem Gesetz problematisch. Die Flucht, die Überwindung der Mauer, wird ebenso wie die Trennung von außen forciert. Konsequenterweise kommt es nicht zu einer Vereinigung des Paares. Eine Zukunft als Liebespaar kann es für B. und D. nicht geben. Die Romeo-und-Julia-Geschichte stößt an ihre Grenzen. Den Verweis auf die Tradition des Romeo-und-Julia-Stoffes gibt Uwe Johnson selbst, in einem fiktiven (Selbst-)interview, das dem Roman in späteren Auflagen beigefügt wurde.33 Johnson misst dem Stoff zunächst lediglich anekdotische Qualitäten zu, da er »veraltet, erschöpft« sei – unter dem »Vorbehalt: in Friedenszeiten!«34 Im Folgenden erläutert Johnson ausführlich, inwieweit Zwei Ansichten an das narrative Modell anknüpft, und wo die Unterschiede liegen: »Sogar einige der alten Motive stellen sich modern ein: die Familienfehde, die der Verbindung der Kinder widersteht, ist heutzutage ersetzt durch die Fehde der Staaten, die ihre Bürger für sich behalten wollen; die Verständigung zwischen den beiden ist so erschwert und demnach fehlerhaft, daß sie sich vergleichen läßt mit dem falschen Brief, den Romeo in Alessandria erhielt; und die absolute Trennung durch den Tod gibt sich zumindest als Risiko so zeitgemäß wie vor vier oder vierzehn Jahrhunderten. Einige der Motive finden sich in den alten Fassungen nicht: diese Liebe, begonnen als Bekanntschaft zum beliebigen Vergessen, wächst sich erst nach der Trennung und eigentlich durch sie aus, als immer mehr verstiegene, eben nicht mehr überprüfbare Einbildung von Zusammengehörigkeit und Verpflichtung; zweitens, sie ist so kräftig nicht, daß die Getrennten sich an jedem Ort, wo auch immer vereinigen wollten: ihm fällt das Leben im Osten nicht ein, sie kann sich nur noch im Westen eins denken. Drittens, so erstaunlich wie neuartig, sie bekommen Hilfe. Es kann nicht ausbleiben, daß das Ende anders ausfällt als in den Fassungen bisher.«35
33 Vgl. Uwe Johnson, »Auskünfte und Abreden zu Zwei Ansichten (Auf Fragen von Mike S. Schoelman)«, in: Eberhard Fahlke (Hg.), »Ich überlege mir die Geschichte…« Uwe Johnson im Gespräch, Frankfurt a.M. 1988, S. 86–89, hier bes. S. 86. Bernd Neumann vermutet Verunsicherung als Motiv für das erläuternde Interview, vgl., ders., Uwe Johnson, S. 530. 34 Uwe Johnson, »Auskünfte und Abreden«, S. 86. 35 Ebd., S. 86.
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Der zeithistorische Horizont des so genannten Kalten Krieges macht den traditionsreichen Stoff wieder relevant und auf neue Weise erzählbar. Die Familienfehde wird durch die Systemkonkurrenz ersetzt. Die deutsch-deutsche Grenze macht aus einer scheiternden Liebesgeschichte eine Version des Romeo-undJulia-Stoffes. Johnson verweist hier also direkt auf die Poetik der Grenze, da es die Teilung selbst ist, die das althergebrachte Modell von Romeo und Julia literarisch revitalisiert. Die Grenze in Zwei Ansichten Als literarische Kategorie formt die Grenze Johnsons Liebesgeschichte deutlich mit. Indem die Grenze die Handlung mitbestimmt, findet zugleich eine Literarisierung der Grenze statt. Johnsons kurzer Roman ist nicht nur bemerkenswert, weil er als einer der ersten Texte das Ereignis des Mauerbaus aufgreift,36 sondern auch, weil hier die Dialektik der Grenze literarisch zum Tragen kommt. Im Handlungsverlauf wird – wie gezeigt – deutlich, dass die Grenze, in diesem Fall speziell die Berliner Mauer, trennendes und zugleich verbindendes Potenzial birgt. Paradoxerweise ist es im vorliegenden Fall die Mauer, die das Liebespaar verbindet und die Überwindung der Grenze ist es, die das Paar letztlich voneinander trennt, indem die vermeintliche Verbindung als Illusion entlarvt wird. Diese Inszenierung der Grenze läuft der Erwartungshaltung des Lesers entgegen und sorgt für Irritation. Ein scheinbar ›natürlicher‹ Verlauf der Liebesgeschichte über die Grenze hinweg, wie er noch bei Brӗzan ausgearbeitet wird, findet nicht statt. Das Paar überwindet die Grenze nicht kraft seiner Liebe, die Grenze stellt überhaupt kein Hindernis für das Liebesglück dar, sondern evoziert erst jene Illusion von Liebe, an der die Beziehung von B. und D. letztendlich scheitern muss. Die Grenze wirkt also anders als erwartet und auch die vermeintliche Liebesgeschichte verläuft ungewöhnlich. Aufgrund der offensichtlich konstruierten Verbindung des Paares, die so gar nicht dem romantischen Ideal der tragisch getrennten Liebenden entspricht, verpufft jegliche Spannung der Liebesgeschichte. Es gibt weder intensive Leidenschaft und erst recht kein Liebesdrama. Die Verbindung von B. und D. erscheint als belanglos und wird erst durch die Trennung durch die Grenze zu einer erzählenswerten Liebesgeschichte. Die Grenze macht die banale Geschichte von B. und D. literarisierbar. Gleichzeitig
36 Explizit weisen Anke Kuhrmann, Doris Liebermann und Annette Dorgerloh auf diesen Aspekt der Zwei Ansichten hin, vgl. dies. Die Mauer in der Kunst, S. 218ff.
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geht der kurze Roman durch die Literarisierung der Grenze auch weit über die Schilderung der scheiternden Liebesgeschichte hinaus. Mithilfe der Grenze wird die Geschichte einer Trennung erzählt: der Trennung von B. und D., aber auch der Trennung der beiden deutschen Staaten. Diese Trennung wird nicht allein durch den Mauerbau thematisiert, sondern auch durch die beiden Protagonisten. Ihre vermeintliche Verbindung erweist sich als Konstrukt, B. und D. halten sich an Vorstellungen des jeweils anderen, die sich nicht mit der erzählten Realität decken. Für den Leser ist dieses Missverhältnis schnell klar: B. und D. gehören schlicht nicht zusammen. Die Figuren bestechen durch Passivität statt Leidenschaft, sie fügen sich in die von außen forcierten Rollen der Liebenden und fallen durch »Ausweichmanöver« und »Verdrängungsstrategien« auf. 37 Folgerichtig findet keine direkte Kommunikation zwischen B. und D. statt. B.s Angebot, der D. zur Flucht zu verhelfen wurde unbeabsichtigt von der Fluchthelferorganisation und B.s Stammkneipe weitergeleitet. B. hatte den Brief volltrunken auf dem Tresen liegenlassen. Und auch D.s Antwort darauf besticht nicht durch Entschlussfreude. Mehrere Wochen formuliert sie an einer möglichst unverbindlichen Antwort: »Sie ließ dem jungen Herrn B. den ersten Satz ihrer Antwort offen, er konnte noch davon zurück, auf sie verzichten. Sie versuchte ihm die penibel genauen Gerüchte von Fluchtversuchen zu erzählen, sie dachte langsam, mit der Empfindung eines bekümmerten, enttäuschten Sprechtons, sie redete auf ihn ein: es kann dir nicht ernst sein. Sie hielt ihm die Toten vor, die Verwundeten, im Kanal, im Drahtverhau, an den Mauern maschinell erschossen, in den Abwässerröhren mit Gas betäubt von Militär, das auch sie, die D. nicht meinen würde, nur die Würde des staatlichen Verbots, die soldatische Technik. Im zweiten Satz ihrer Antwort stellte sie dem jungen Herrn B. eine Bedingung: sie willigte ein, zu kommen unter Strafe des Arbeitslagers, auch ums Gefängnis; nicht ums Leben. Sie hielt die Bedingung gar nicht für erfüllbar, ihr war als sei sie losgesprochen, entlassen aus der Angst, sie fand den dritten Satz ohne einmal abzusetzen, der sollte nichts bedeuten, etwas Förmliches von Dankbarkeit, nette Floskel am Schluß.« (ZA 93)
Den Brief schickt die D. dann auch ab, in der Hoffnung, er würde B. gar nicht erst erreichen: dass er weder über die Grenze geschmuggelt werden würde, noch dass B. unter der Kontaktadresse der Stammkneipe erreicht würde.
37 Katja Leuchtenberger, »Wer erzählt muß an alles denken«, S. 262. Hier schließt Leuchtenberger an Colin Riordan an, vgl., ders., The Ethics of Narration. Uwe Johnson’s Novels from Ingrid »Babendererde« to »Jahrestage«, London 1989.
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Auch die Motivation der Figuren rührt nicht von einem Gefühl der Zusammengehörigkeit her. B. fühlt sich als Westdeutscher verpflichtet, angesichts des Mauerbaus etwas zu unternehmen. Seine eigentliche Leidenschaft gilt jedoch von Beginn an vor Allem seinem Sportwagen. Den Wagen kauft er zu Beginn des Romans, dann wird er ihm geklaut und noch am Vorabend des ersten Treffens nach der Flucht, besorgt er sich einen Ersatz in Süddeutschland. Sein Engagement einen Sportwagen nach Westberlin zu bewegen ist ungleich höher als das, die D. in den Westen zu holen. Und auch die D. reist nicht um B.’s Willen in die Bundesrepublik. Der Krankenschwester ist vor allem an ihrer Eigenständigkeit gelegen, nach der sie auch in der DDR strebte. Den Partner hat keiner der beiden im Blick, als es um die Grenzüberschreitung geht. Letztlich schließt der Roman an Uwe Johnsons Bemühen an, die Differenzen der beiden deutschen Staaten zu erzählen. Bereits in den früheren Romanen, besonders im Dritten Buch über Achim werden die Unterschiede zwischen Ost und West thematisiert und einer vereinnahmenden Sichtweise, die eine essentialistische Zusammengehörigkeit der deutschen Staaten annimmt, entgegengehalten. Eine romantisch erzählbare Verbindung wie bei Brӗzan findet sich bei Johnson also nicht. Insofern erzählt Zwei Ansichten deutlich von der Entfremdung der beiden deutschen Staaten. Literarische Grenzziehung und Grenzüberwindung Die Differenzen zwischen den zwei deutschen Staaten werden im Roman peripher inhaltlich erzählt, und vor Allem erzählerisch umgesetzt. Durch die alternierende Kapitelstruktur werden die Passagen in Ost und West deutlich voneinander getrennt. Das erste Kapitel beginnt aus Sicht des Fotografen B., es folgt ein Kapitel aus Ostberlin, aus der Perspektive von D. usf. In den folgenden Kapiteln werden diverse Briefe erwähnt, die sich das Paar schreibt. Dieser Briefwechsel ist geprägt von Missverständnissen, zudem bittet D. darum auf weitere Briefe zu verzichten. Erzählt wird alternierend und nicht chronologisch, sondern zeitlich verschachtelt – also durch Rückverweise und Vorausdeutungen. In den einzelnen Kapiteln häufen sich Verweise, so werden etwa die Briefe angekündigt, ihr Verfassen und Versenden aber teilweise erst deutlich später erzählt. Die alternierende Erzählweise ist aus Jurij Brӗzans Liebesgeschichte bekannt, beide Texte stehen in intertextueller Beziehung. Wie auch bei Brӗzan verdeutlicht die isolierende Erzählweise bei Johnson die Trennung des Paares. Die Trennung durch die deutsch-deutsche Grenze erhält in dieser Form der Narration eine literarische Entsprechung. Bei Brӗzan kann diese Erzählweise aber in den Momenten der Nähe, wie in Prag, unterbrochen werden. Im Verlauf der Liebes-
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geschichte erscheint die Erzählweise zunehmend dialogisch: Das Paar kommuniziert und nähert sich mehr und mehr an, bis schließlich klar ist, dass Sabine und Robert zusammen in der DDR leben wollen. Bei Johnson hingegen kann die erzählerische und räumliche Trennung nicht überbrückt werden. Statt eines Dialoges erhärtet sich der Eindruck, dass die alternierende Kapitelstruktur auf zwei eigenständigen Erzählsträngen fußt. Die Protagonisten sind auf der jeweils anderen Seite der Mauer nur als konstruierte Erinnerungen oder Idealvorstellungen relevant, ein echter Bezug zwischen B. und D. existiert nicht. Leuchtenberger stellt daher richtig fest, dass die Zwei Ansichten keinen deutschdeutschen Dialog etablieren, sondern »zwei Monologe dargeboten [werden], zwischen denen in keiner Weise vermittelt wird.«38 Dies verstärkt den Eindruck, dass die Liebesgeschichte zwischen B. und D. eine Illusion ist; jeder der Partner entwickelt seine eigene Vorstellung des anderen und der Beziehung zueinander. Auch die weitere narrative Struktur der Kapitel erweist sich bei näherer Betrachtung als erstaunlich komplex. Leuchtenberger hat die Struktur schematisch gut erfasst.39 Sie referiert explizit auf die ambitionierte Verweistechnik und erkennt darin eine Strategie der Aktivierung des Lesers, wie sie für Johnson typisch sei.40 Aufgrund der verschiedenen Verweise ist der Leser den Protagonisten immer einen Schritt voraus. Zeitlich weiß er um die Entscheidungen der Protagonisten schon bevor der Erzähler explizit davon berichtet. Zudem hat der Leser ein deutlicheres Bild etwa von B., den D. lange Zeit idealisiert und der dem Leser als Frauenheld bekannt ist. So weiß der Leser auch, dass B. bei den Angaben für einen gefälschten Ausweis, den die D. zur Flucht benötgt, die falsche Augenfarbe angibt und die aktuelle Adresse der D. nicht kennt (Vgl. ZA 812). Die Verweisstruktur entlarvt die Verbindung von B. und D. deutlich als Illusion. Auch hier scheint das narrative Verfahren die Dynamik der Trennung hervorzuheben. Es lohnt sich allerdings den antizipierten Leser zu betrachten. Gerade die nicht-chronologische Struktur und das Verweissystem garantieren dem Leser durchgehend einen beträchtlichen Wissensvorsprung, eine identifikatorische Lektüre ist nicht möglich. Stattdessen vollzieht der Leser beständig eine Syntheseleistung und verbindet die beiden dargebotenen Ansichten. In der Rezeption werden die beiden monologischen Erzählstränge zu einer problematischen Liebesgeschichte verwoben. Der Rezeptionsmodus selbst ist Ausdruck einer grenzüberschreitenden Verbindung. Der Leser nimmt eine Position auf der Grenze ein
38 Katja Leuchtenberger, »Wer erzählt muß an alles denken«, S. 272. 39 Vgl. ebd., bes. S. 267 und S. 271. 40 Ebd., S. 274f.
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– durch die Entschlüsselung von chronologischen und kausalen Querverweisen in den jeweiligen Kapiteln. Der Handlungsverlauf wird von dieser Position aus rekonstruiert und die beiden erzählten Ansichten werden nachträglich verbunden. Obwohl auf inhaltlicher Ebene das Scheitern grenzüberschreitender Verbindungen dominiert, wird erzählerisch, und insbesondere durch die antizipierte Rezeptionsleistung, ein Dialog über die Grenze hinweg gefördert, der Differenzen nicht verleugnet. Das Scheitern der deutsch-deutschen Liebesgeschichte, bzw. die Entlarvung ihrer banalen Nichtexistenz bewahrt den Roman vor einer romantisierenden Lesart, wie sie Brӗzans Liebesgeschichte mit ihrem happy end nahelegt. Damit entgeht Johnsons Zwei Ansichten der Gefahr in Vereinigungskitsch oder antikommunistische Propaganda zu verfallen. Das Paar scheitert nicht an den politischen Umständen, sondern ganz alltäglich an sich selbst. In ihrer Schlichtheit und im Scheitern ähnelt Johnsons Liebesgeschichte derjenigen von Rita und Manfred im Geteilten Himmel. Dank des poetischen Potenzials der Grenze kann dieser schlichte Stoff literarisch innovativ gestaltet werden. Bei Johnson erscheint die Grenze als Katalysator, der die illusorische Liebesgeschichte vorantreibt. Die traditionsreiche Figuration von Romeo und Julia wird aktualisiert und läuft dabei ins Leere: Die Liebesgeschichte von B. und D. enthält weder schicksalhafte Verbindungen, noch große Gefühle und auch keinen tragischen Höhepunkt. Johnsons Liebesnarrativ erzählt hingegen von deutsch-deutschen Unterschieden ohne West und Ost gegeneinander auszuspielen. Die Literatur wird, wie es die Analyse des antizipierten Lesers zeigt, genau auf der Grenze positioniert und von politischer Vereinnahmung freigehalten. Wo Johnson deutlich jeden romantisierenden Vereinigungskitsch vermeidet, greift Arno Schmidt ihn im Steinernen Herzen auf, um ihn zu persiflieren.
ARNO SCHMIDTS WEST-OST-BEZIEHUNGEN Auch wenn der westdeutsche Autor Arno Schmidt nicht als Autor großer Liebesgeschichten bekannt ist, hat er als Nachkriegsschriftsteller die deutsch-deutsche Teilung unter anderem in Liebesnarrativen literarisiert. Im Folgenden wird der Blick auf Schmidts Roman Das steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahre 1954 nach Christi gerichtet, wo das deutsch-deutsche Liebesnarrativ als kleinbürgerlicher Pragmatismus persifliert wird. Zuvor wird das kurze Prosastück Am Zaun näher betrachtet, in dem die Liebesnarration noch stark an der Romeo-und-Julia-Figuration angelehnt ist und in dem die Grenze den tragischen Verlauf der Liebesgeschichte initiiert.
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Zaungast der deutsch-deutschen Teilung: Arno Schmidts Am Zaun Am Zaun datiert aus dem Mai 1956;41 das Prosastück wurde im November desselben Jahres im Studentenkurier veröffentlicht42, nachdem u.a. Alfred Andersch eine Publikation in Texte und Zeichen abgelehnt hatte. Andersch begründete die Absage damit, dass der Text nicht auf Schmidts „Niveau“ 43 sei. Trotz Anderschs Vorbehalten und der bisherigen Nicht-Beachtung durch die Forschung, halte ich Am Zaun nichtsdestoweniger für einen bemerkenswerten Beitrag Schmidts zur Literatur aus der Zeit der Zweistaatlichkeit.** Das Prosastück referiert auf komplexe Weise auf die zeitgenössische politische Konstellation. Am Zaun handelt von einem namenlosen Reisenden, der von Trier kommend über Frankfurt, Bebra und Erfurt nach Westberlin reist. In der Stadtbahn in Westberlin sitzt ihm eine Frau, Erna Sanders, gegenüber. Als diese die Bahn verlässt, findet der Erzähler drei Briefe: einen von Gerd Schäfer an seine Verlobte Erna Sanders über sein Leben im Westen und gemeinsame Zukunftspläne; einen zweiten Brief von Erna an Gerd über ihre Weigerung ihm in den Westen zu folgen und einen dritten Brief von Paul Sanders an seine Schwester Erna, in dem er mitteilt, dass Gerd beim Versuch, die Grenze in östlicher Richtung zu überwinden von der Volkspolizei erschossen wurde. Später im Hotel liest der Erzähler diese Briefe, sendet sie an Erna zurück und legt sich schlafen. Dieses Prosastück besteht lediglich aus sieben kurzen Abschnitten, aber ist verhältnismäßig komplex strukturiert: Es gibt eine Rahmenhandlung, die sich auf den Reisenden konzentriert, und eine jener untergeordnete Briefhandlung,
41 In der Bargfelder Ausgabe ist fälschlicherweise der 3. Juni als Tag der Niederschrift angegeben, Alice Schmidt erwähnt »Am Zaun« jedoch bereits einen Monat vorher, vgl. dies., Tagebuch aus dem Jahr 1956, hg. von Susanne Fischer, Frankfurt a.M. 2011, S. 128f. (Eintrag vom 3.5.1956). 42 Weitere Publikationen in: Arno Schmidt, Deutsches Elend, Zürich 1984 – hier steht »Am Zaun« als einziger erzählender Text zwischen gesellschaftskritischen Essays. Außer in der Bargfelder Ausgabe ist das Prosastück auch in einer zweibändigen Anthologie enthalten: Arno Schmidt, Geschichten aus Deutschland, Frankfurt a.M. 2007. 43 Alice Schmidt, Tagebuch, S. 152 (Eintrag vom 1.6.1956). ** Mittlerweile habe ich meinen Beitrag durch Vortrag und Publikation geleistet. Dieses Kapitel ist angelehnt an: Johanna M. Gelberg, »Zaungast der deutsch-deutschen Teilung. Arno Schmidts Prosastück Am Zaun als Teil der deutsch-deutschen Literatur der Grenze«, in: Zettelkasten. Aufsätze und Arbeiten zum Werk Arno Schmidts. Jahrbuch der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser 31 (2015), S.143–160.
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die von einer indirekt erzählten Liebestragödie geprägt ist. Auf beiden Ebenen erscheint die deutsch-deutsche Grenze als relevant für das Erzählte: sowohl die Deutschlandreise als auch die tragische Liebeshandlung ist von Grenzüberschreitungen geprägt. Die Grenze als Zaun Die deutsch-deutsche Grenze und insbesondere deren Überschreitung spielt auf beiden Textebenen, in der Rahmen- wie in der Briefhandlung, eine wichtige Rolle: Die reisende Erzählerfigur aus Am Zaun startet am äußersten Westen der BRD, überschreitet die Grenze zwischen Bebra und Erfurt, reist durch die DDR und überschreitet die Grenze schließlich ein zweites Mal nach Westberlin. Der erste Grenzübergang zwischen Hessen und Thüringen wird en passant geschildert: »Zonenübergang (mir kann nichts passieren; ich bin seit 34 englischer Staatsbürger!); aber int’ressant, int’ressant ! Goldblatt=, Brilliantnadel=, Glacéhandschuhmäßig : Gestalten und Gestalten und Gestalten!«44
Mit Neugier verfolgt die Erzählerfigur die Konventionen beim Grenzübergang, die durch die Reihung »Goldblatt=, Brilliantnadel=, Glacéhandschuhmäßig« als artifiziell gekennzeichnet sind. Zugleich wird betont, dass der Reisende, als englischer Staatsbürger – er kommt von der Insel Tristan da Cunha – als Sonderfall und mit Vorsicht behandelt wird, eben glacéhandschuhmäßig. Der Grenzübergang trägt dabei für die Erzählerfigur keine politische Bedeutung: Der Reisende nimmt die deutsche Teilung nicht als Tragödie wahr, sondern beobachtet den Grenzübergang von der Warte des Fremden aus. Bereits bei dieser ersten Grenzüberschreitung wird der Reisende als Zaungast inszeniert. Der Reisende beschreibt das Geschehen nüchtern, es tangiert ihn kaum; die Erfahrung der deutschen Teilung hält er lediglich für »int’ressant, int’ressant«. Stattdessen erscheint die Grenze als Kuriosum unter anderen, die Schilderung des Grenzübergangs reiht sich ein in die Beschreibung anderer befremdlicher Reiseerlebnisse, die als groteske Elemente die eigenwillige Komik des Prosastücks ausmachen. Der Beginn der Reise im Westen der BRD etwa ist
44 Arno Schmidt, »Am Zaun«, in: Ders., Bargfelder Ausgabe Werkgruppe I. Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia Bd. 4, Zürich, S. 88–91, hier S. 89. Im Folgenden zitiert mit der Sigle AmZ. Orthographie und Typographie entsprechen der Bargfelder Ausgabe.
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geprägt von Missverständnissen und Unverständnis. Der Radiosender RIAS wird mit einer spanischen Vokabel verwechselt: »die Endung der zweiten Person Singular, I. Konditional, Indikativ Aktiv, im Spanischen.« (AmZ 89) Der Reisende erlebt Ost und West als groteske Szenarien, die Grenze selbst stellt darin keine Ausnahme dar und konstituiert letztlich keinen nennenswerten Unterschied zwischen den deutschen Staaten. Die deutsch-deutsche Grenze ist zunächst ein unabdingbares Element der Reise durch die deutschen Staaten, schließlich verlangen die politischen Umstände die Grenzüberschreitung, damit der Reisende nach Westberlin gelangt. Die nähere Betrachtung zeigt aber, dass die Grenze als inhaltliches Element des Prosastücks auf der Ebene der Rahmenhandlung marginalisiert wird, indem sie in die Abfolge verschiedener grotesker Erlebnisse eingereiht wird. Der zweite Grenzübergang der Erzählerfigur von der DDR nach Westberlin geht dann auch konsequenterweise unbemerkt vonstatten – der folgende Erzählabschnitt setzt unvermittelt in der »Stadtbahn, Westberlin« (AmZ 89) ein, wo der Reisende Erna Sanders begegnet und zufällig in den Besitz der drei Briefe kommt. Die Grenze wird in der Rahmenhandlung nicht als Trennlinie erfahren, die Grenze taucht als zeithistorischer Hintergrund nur vage am Rand auf, sie wird marginalisiert. Die Überschreitungen der Grenze auf der Ebene der Briefhandlung sind weitaus folgenreicher: In den Briefen erfahren wir von Gerds Grenzübergängen und auch von Ernas Überschreitung. Gerd schreibt aus dem Westen an Erna: Er hat die Grenze von Ost nach West überschritten und versucht dort ein Leben mit Erna aufzubauen, er schreibt optimistisch aus Koblenz: »Du ; hier im Westen ist es viel besser! […] Sobald Du kommst, können wir heiraten« (AmZ 89f). Gerds Gang über die Grenze initiiert den Briefwechsel mit Erna, die in Ostberlin geblieben ist, wie der Briefkopf verrät. Der letzte Brief von Paul Sanders an seine Schwester Erna verweist implizit auf Gerds zweite Grenzüberschreitung: »Paul Sanders; Grenzübergang Marienborn, den 30.5.1956; an Fräulein Erna Sanders, Ostberlin: ›Schwester! Gestern wurde, beim Versuch, erneut die Zonengrenze zu überschreiten, von Posten meiner Volkspolizei Einheit der Schweißer Gerd Schäfer aus Westdeutschland erschossen. Ich weiß er liebte Dich. Aber freue Dich, Genossin: er war ein Verräter an unserer Deutschen Demokratischen Republik.‹« (AmZ 91)
Gerd wollte offenbar zu Erna zurückkehren und wurde bei seiner zweiten Grenzüberschreitung getötet. Die Grenze macht hier ganz offensichtlich einen
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Unterschied: Gerds erste Grenzreise machte ihn zum »Verräter«; die zweite Überschreitung Gerds endet daraufhin mit dem Tod. Die Briefhandlung ist ganz massiv von der deutsch-deutschen Grenze und den politischen Umständen des Kalten Krieges geprägt. Auch Erna, die sich in ihrem Brief an Gerd noch patriotisch für die DDR einsetzt und die BRD scharf kritisiert, hat zum Zeitpunkt der Rahmenhandlung die Grenze überschritten: Die Erzählerfigur begegnet ihr in der Stadtbahn in Westberlin. Nach Gerds Tod an der Grenze hat sie offenbar doch die DDR verlassen. Diese Bewegungen über die Grenze initiieren die tragische Handlung um Gerd und Erna und sie bilden auch die Basis für die Rahmenhandlung: Nur dank der Grenzüberschreitungen Ernas und der Erzählerfigur kommt es zu der flüchtigen Begegnung in der Stadtbahn, die den Ausgangspunkt der Brieflektüre bildet. In den Briefen wird nur implizit von der Grenze erzählt, die Grenzüberschreitungen deuten sich in den Absendeorten der Briefe – Koblenz, Ostberlin, Grenzübergang Marienborn – lediglich an. Die Brisanz der Grenze, an der Gerd getötet wird, tritt dennoch deutlich hervor. Die Grenzdarstellung auf der Ebene der Briefhandlung ist eine Verkehrung der Darstellung in der Rahmenhandlung: Während dort der Grenzübergang geschildert wird, erscheint die Grenze dennoch als marginale historische Erscheinung, die in einer Reihe mit verschiedenen grotesken Reiseerlebnissen steht. Hier, auf der Ebene der Briefhandlung, wird von den verschiedenen Grenzübertritten nur indirekt berichtet, während die dunkelsten Seiten der Grenze – die traumatische Trennung und der Tod an der Grenze – deutlich werden. Die indirekte Erzählung der Grenze fußt auf den Briefinhalten. Auch wenn sie selbst nicht erwähnt wird, wird die Grenze durch die kontrastierende Darstellung der beiden deutschen Staaten hart nachgezogen. Die Differenzen werden gestaltet und die Grenze so literarisiert. Beide Staaten werden durch ihre klischeehafte Beschreibung äußerst negativ dargestellt; die Grenze markiert den Unterschied: Gerd und Erna treten vehement für ‚ihren’ Staat ein und kritisieren den jeweils anderen. Gerd lobt den Westen, dort sei alles besser, er hat sofort gut bezahlte Arbeit beim Kasernenbau gefunden, erfährt keinerlei Mangel mehr, hat eine Wohnung und ein Auto in Aussicht. Die freien Wahlen hebt er als Gegensatz zur DDR zwar besonders hervor, dennoch ist der Brief dominiert vom Lob der materiellen Verbesserungen. Erna hingegen greift die Wehrpflicht und die Aufrüstung scharf an. Sie kritisiert außerdem die Dominanz Adenauers und der Kirche, die Korruption in der Politik und polemisiert schließlich gegen die kleinen Autos und teuren Wohnun-
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gen im Westen; die DDR habe hingegen soziale Errungenschaften vorzuweisen. Erna wirft Gerd vor, bald auf ihren Bruder Paul schießen zu wollen und schließt ihren Brief mit der Spitze: »Ich lerne jetzt schießen, mit der Maschinenpistole« (AmZ 90). Es erscheint fast als ironische Konsequenz, dass Gerd zehn Tage später von der Volkspolizei mit einer Maschinenpistole getötet wird. Die den Briefen inhärente Systemfeindschaft setzt die Staaten in ein Konkurrenzverhältnis, das sich in der kontrastierenden Darstellung und der polarisierenden Rhetorik offenbart. Die Grenze wird literarisch nicht geschildert, wie noch ansatzweise in der Rahmenhandlung, sondern indirekt in der Figurenkritik nachgezogen. Darüber hinaus schreibt sich die Grenze etwa durch die polarisierende Rhetorik – es wird zwischen ›ihr‹, und ›wir‹, ›drüben‹ und ›hier‹ unterschieden – als »literarische Kategorie« in den Text ein. Neben der Briefkommunikation sind auch die narrativen Konventionen, die aufgegriffen werden, von der Grenze selbst geprägt: Zu diesen Konventionen zählen insbesondere die Liebesgeschichte und der Briefroman. Romeo und Julia In der Briefhandlung von Am Zaun wird eine deutsch-deutsche Liebestragödie erzählt, als Liebe über große Hindernisse hinweg ist diese klar an dem Modell von Romeo und Julia orientiert. Die deutsch-deutsche Teilung trennt die Liebenden und ersetzt auch hier die Familienfehde als Hindernis. Die Grenze trennt das Paar zunächst räumlich, der politische Konflikt entfernt das Paar auch ideologisch und emotional voneinander. Während Gerd in seinem Brief noch optimistisch von der Hochzeit träumt, dominiert in Ernas Antwort zehn Tage später bereits eine feindselige Grundstimmung. Die Liebesgeschichte wird von politischer Rhetorik und pauschalen Vorurteilen überlagert: Die Ideologien zermürben die emotionale Bindung, die Grenze trennt die Liebenden letztlich nicht nur räumlich voneinander. In den Briefen verschärft sich der Ton, bis Erna schließlich sprachlich mit der Schusswaffe droht. Die Liebe ist Opfer des rigiden Grenzsystems. Es ist dabei offensichtlich wie deutlich die Liebesthematik mit der deutschdeutschen Grenze verschränkt ist: Die Teilung durch die Grenze steht dem Liebesverhältnis kontrafaktisch gegenüber und spiegelt als räumliche Struktur die Liebesthematik wider. Das Liebespaar wird entlang der Grenze auf beiden Seiten verortet, woraus der literarisch interessante Konflikt erst entsteht: Die Grenze trennt das Paar räumlich und emotional; eine Wiedervereinigung des Paares scheitert an der Grenze. Diese Trennung durch die Grenze stellt eine Herausforderung an die emotionale Bindung dar. Die tiefgreifende Wirkung der Grenze
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über die Sphäre der Staatspolitik hinaus macht sie erst erzählenswert. Die Grenze ist nicht nur Hintergrund der dramatischen Liebesgeschichte, sondern die Initiatorin der Erzählung und Auslöserin des tragischen Verlaufs. Die deutsch-deutsche Liebe als Parodie: Das steinerne Herz Einen anderen Umgang mit dem Liebesnarrativ findet Schmidt in seinem Roman Das steinerne Herz von 1956, dessen Publikationsgeschichte auf seine politische Brisanz verweist: Arno Schmidt hatte prophylaktisch selbst als Zensor eingegriffen und seinen gewagten Roman entschärft.45 Schmidts Roman gilt als eines der wenigen westdeutschen Werke der Nachkriegszeit, das sich mit dem zeitgeschichtlichen Thema der deutsch-deutschen Teilung auseinandersetzt. 46 Die enthaltene Liebesgeschichte führt vor diesem Hintergrund das literarische Spiel mit der Grenze vor. Der Roman handelt von der exzessiven Sammelleidenschaft Walter Eggers’, der auf der Suche nach historischen Staatshandbüchern des Königreichs Hannover in den Ort Ahlden kommt. Dort mietet er sich bei dem Ehepaar Thumann ein, in der Hoffnung durch Frieda Thumann, der Enkelin des Statistikers Jansen, an die Staatshandbücher zu gelangen. Aus diesem Grund geht er auch eine Affäre mit Frieda ein. Der zweite Teil des Romans führt Walter dann in das geteilte Berlin, er begleitet Karl Thumann, der als Fernfahrer regelmäßig nach Berlin fährt. Walter ist auch hier auf der Suche nach einem statistischen Handbuch: Mit einem präzisen Etikettenschwindel entwendet er eine seltene Ausgabe des »Ringklib« aus der Bibliothek. In Ostberlin übernachten Walter und Karl in der Laube von Line Hübner, der Geliebten von Karl. In einem dritten Teil wird Line über den Winter schließlich nach Ahlden geholt, dank einer erneuten Dokumen-
45 Arno Schmidt, Das steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahre 1954 nach Christi, in: Ders., Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe I. Romane Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Bd. 2, Zürich 1986, S. 7–163. Im Folgenden zitiert als StH. Orthographie und Typographie entsprechen der Bargfelder Ausgabe. Zur Publikationsgeschichte und zur vorauseilenden Selbstzensur, vgl. Jan Philipp Reemtsma, »Politik und Pornographie. Zur Publikationsgeschichte des Steinernen Herzens«, in: Ders., Über Arno Schmidt. Vermessungen eines poetischen Terrains. Frankfurt a.M. 2006, S. 34–72. 46 Vgl. Michael Scheffel, »›Ausländer des Gefühls‹ – das geteilte Deutschland im Spiegel der Literatur. Ein Rückblick auf drei Romane von Wolfgang Koeppen, Arno Schmidt und Uwe Johnson.«, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 31 (1998), S. 3–19.
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tenfälschung Walters. Dieser ist kurz davor Ahlden heimlich zu verlassen, als ein wertvoller Münzschatz gefunden wird. Die Zukunft der beiden Liebespaare ist damit materiell gesichert: Walter und Frieda werden in Ahlden bleiben, während Karl und Line ein Leben in Ostberlin planen. Im Steinernen Herzen werden verschiedene Liebesnarrative entworfen: Zunächst erscheinen Karl und Frieda als leidenschaftsloses bürgerliches Ehepaar; mit Walters Auftreten scheint sich eine Dreiecksgeschichte zu entspinnen, die allerdings vor allem von Walters Leidenschaft für die hannoversche Statistik getragen ist. Ein Eifersuchtskonflikt entsteht dabei nicht, da Karls Liebesbeziehung zu Line ein offenes Geheimnis ist. Aus der potenziell dramatischen Dreiecksgeschichte wird so eine Liebesgeschichte von zwei Paaren, in denen die Möglichkeiten größtmöglicher Zufriedenheit aller Beteiligten pragmatisch ausgelotet werden. Das steinerne Herz ist kaum als Liebesroman rezipiert worden, auch wenn die pragmatische Liebeshandlung einen Großteil des Romans einnimmt, den Fortgang der Handlung prägt und die drei Teile des Romans47 miteinander verbindet. Neben der grenzüberschreitenden Liebeshandlung sind verschiedene Aspekte des Romans literaturwissenschaftlich relevant: Zu Einen sind da Schmidts Formexperimente und sein außergewöhnlicher literarischer Ausdruck, zum Anderen die verschiedenen Facetten des Romans, die über die Schilderung einer schlichten Ost-West-Liebesgeschichte weit hinausreichen. Schmidt hat den Roman als eine Form des »musivischen Daseins« 48 aufgebaut. Das bedeutet, dass seine Prosa aus einer Vielzahl verschiedener Sinneseindrücke besteht, die kleine Einheiten bilden und vom Rezipienten wie ein Mosaik zusammengesetzt werden müssen. Der Roman besteht daher aus vielen
47 Josef Huerkamp spricht sogar von einer »Trilogie«, vgl. ders., »Die Stimme des Zeitansangers«, in: Zettelkasten 25 (2006), S. 99–153, hier S. 107. 48 Vgl. Arno Schmidt: Berechnungen II. in: Ders., Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe III. Essays und Biographisches Bd. 3, Zürich 1995, S. 275–284, hier S. 275. Zu Schmidts poetologischen Äußerungen und deren Umsetzung im Werk vgl. u.a. Hartwig Suhrbier, Zur Prosatheorie von Arno Schmidt, München 1980; Wolfgang Proß, Arno Schmidt, München 1980; Boy Hinrichs, Utopische Prosa als Längeres Gedankenspiel. Untersuchungen zu Arno Schmidts Theorie der Modernen Literatur und ihrer Konkretisierung in »Schwarze Spiegel«, »Die Gelehrtenrepublik« und »Kaff auch Mare Crisium«, Tübingen 1986.
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kleinen Abschnitten,49 die chronologisch, aber nicht zwangsläufig konsistent aufeinander folgen. Schmidt erzeugt so eine Vielzahl von Leerstellen und unternimmt zugleich eine präzise Abbildung verschiedener Sinneseindrücke und Reflexionen. Schmidts Form- und Sprachexperimente, gepaart mit der hohen Dichte an literarischen Zitaten und Verweisen, bestätigen Hartwig Suhrbiers Befund, Schmidts Prosa sei »maniriert und präzis zugleich.«50 Dieses Urteil trifft auch auf das Steinerne Herz zu. Der Roman enthält eine präzise Studie der Alltagswelt der 1950er Jahre, besonders der Alltag der Thumanns im niedersächsischen Ahlden wird dabei seziert. 51 Es finden sich u.a. viele zeitgenössische Gebrauchsgegenstände und Markennamen, mit deren Hilfe sich Schmidt dem Alltag der so genannten Kleinbürger annähert und die Sammel-, Fälscher- und Liebesgeschichte aus dem Blickwinkel dieses gesellschaftlichen Feldes erzählt. Neben der Annäherung an die Lebenswelt der Thumanns steht Walter Eggers ausgewiesene Expertise in allen handlungsrelevanten Dingen. Er ist Experte für das Königreich Hannover und dessen Geschichte und ausgewiesener Numismatiker, der den Münzschatz für den Höchstpreis zu vermarkten weiß. Selbstverständlich ist er literarisch bewandert und spickt seine Erzählperspektive mit literarischen Zitaten und Anekdoten. Politisch gebildet ist er auch und versucht das politische Zeitgeschehen kompetent zu kritisieren.52 In der Erzählperspektive wird die ausgestellte Nähe zur kleinbürgerlichen Gesellschaft regelmäßig durch Eggers übertriebene geistige Fähigkeiten gebrochen. Die Verflechtung verschiedener Diskurse garantiert die Komplexität des Romans, die durch die Verschränkung verschiedenere Zeitebenen verstärkt wird. Nicht nur das Jahr 1954 wird detailreich thematisiert, auch besonderes die unmittelbare Nachkriegszeit – entweder von Walter Eggers oder durch die gebürti-
49 Diese Abschnitte werden kursiv eingeleitet, die Kursivierung wird im Folgenden übernommen. 50 Hartwig Suhrbier, Prosatheorie, S. 46. 51 Stefan Höppner erkennt hier eine »soziologisch zu nennende Genauigkeit in der Beschreibung der Alltagsverhältnisse«; ders., »›Privataltertümer‹. Poetik und Politik des Alltags in Arno Schmidts Das steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahre 1954 nach Christi, in Heinz-Peter Preusser und Anthonya Visser (Hgg.), Alltag als Genre, Heidelberg 2009, S. 53–70, hier S. 54. 52 Walter Eggers gilt als prototypischer Erzähler in Schmidts Werk. Zu den genannten Expertisen gesellen sich noch geographische und mathematische Kenntnisse.
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ge Schlesierin Line – und die ferne Hannoversche Vergangenheit erhalten ihren Raum.53 Diese Verschränkung der Zeitebenen – Gegenwart, nahe und ferne Vergangenheit – verifiziert den zunächst irritierenden Untertitel, der das Steinerne Herz als historischen Roman bezeichnet. Neben dieser Gattungszuschreibung vereint der Roman weitere literarische Traditionen, er enthält Elemente des Kriminalromans sowie des Schelmenromans. 54 Darüber hinaus sind auch Bezeichnungen wie ›Zeitroman‹ oder ›politischer Roman‹ für das Steinerne Herz zutreffend. Als Roman der Nachkriegszeit spiegelt er zeitgenössische politische Entwicklungen wieder. Dies geschieht einmal durch das setting in West- und Ostdeutschland, Referenzen auf Kriegserinnerungen und die Erzählung von Lines Flucht aus Schlesien. Zudem erhält das politische Tagesgeschehen Einzug in den Roman: Sowohl bei den Thumanns als auch in Lines Laube übermittelt das Radio die Tagespolitik, kommentiert werden die Geschichte der EVG-Abstimmung und des NATO-Beitritts der BRD.55 Statt einer alltäglichen Geräuschkulisse, baut das Radio im Steinernen Herzen die politisch-historische Kulisse auf. Vor diesem Hintergrund verurteilt Walter Eggers die Politik und ihre mediale Verbreitung in beiden deutschen Staaten. Im Folgenden wird die Liebeshandlung im Roman fokussiert; vor dem Hintergrund des Liebesnarrativs entfalten sich besonders die politischen Aspekte des Romans und die deutsch-deutsche Grenze erweist sich als prominentes Formprinzip in der Gestaltung des Liebesnarrativs.
53 Das Königreich Hannover ist nicht nur durch die begehrten statistischen Handbücher präsent, sondern insbesondere durch die Geschichte der Prinzessin Dorothea Sophie von Hannover. Diese war in der Nähe von Ahlden in einem Schloss wegen Ehebruchs unter Arrest gestellt worden. Sie stellt an verschiedenen Stellen die Folie für die Figur Walter Eggers dar, vgl. dazu Kurt Jauslin, »Robinsons Archive oder Der 6. Dezember«, in: Bargfelder Bote 87–88 (1985), S. 3–22. 54 Vgl. Hans-Georg Wendland, »Das steinerne Herz von Arno Schmidt. Kriminalgeschichte oder Schelmenroman?«, in: Schauerfeld 27.1–2 (2014), S. 7–43. 55 Vgl. hierzu besonders Joachim Klein, Arno Schmidt als politische Schriftsteller, Tübingen 1995. Zu Arno Schmidt als politischer Schriftsteller außerdem: Jan Philipp Reemtsma, »Arno Schmidts Nachkriegsdeutschland«, in: Gunther Nickel (Hg.), Literarische und politische Deutschlandkonzepte 1938–1949, Göttingen 2004, S. 423– 439; ders., »Die Politik ist das Schicksal!«, in: Arno Schmidt ? – Allerdings! Marbacher Katalog, Marbach 2006, S. 149–157.
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Liebesarrangement statt verhinderter Leidenschaft Das steinerne Herz wird von zwei wenig aufregenden Liebeshandlungen bestimmt. Zuerst verführt Walter Eggers Frieda Thumann, um sich durch die körperliche Nähe auch den seltenen Büchern des Statistikers Jansen anzunähern; Walter enthüllt seine Strategie nach der ersten Annäherung seinem Spiegelbild: »ich Dich entehren? : wofür?! (Für n Jansen natürlich : sie war so naiv doch nicht)« (StH 26). Komplementär zu Walter, der die Affäre als Weg zu den Büchern nutzt, nutzt Frieda geschickt die Bücher, um Walter zu verführen. Sie verführt Walter nach und nach mit der Zugriff auf die Bücher und entscheidet: »Jeden Sonnabend krixu eins davon« (StH 50). Diese Affäre ist getragen von der eigentümlichen Erotik der Staatshandbücher. Auch wenn Walter Friedas Vorzüge lobt und ihre Fürsorge zu genießen scheint, Antrieb für diese Liebesgeschichte sind die Hannoverschen Staatshandbücher. Ihnen gilt Walters Begehren und durch sie werden auch Friedas Wünsche erfüllt. Diese Liebe speist sich nicht aus Leidenschaft, sondern aus Statistiken des 19. Jahrhunderts. Auch die Liebesbeziehung zwischen Karl Thumann und Line Hübner ist eher pragmatisch orientiert. Karl versorgt Line mit Gütern aus dem Westen, Line gewährt ihm dafür deutlich mehr als eine Unterkunft für seine Fernfahrten. Große Gefühle scheinen die beiden nicht zu verbinden. Diese deutsch-deutsche Verbindung scheint der Gelegenheit geschuldet zu sein: Karl als Fernfahrer fährt regelmäßig zwischen Berlin und Ahlden hin und her. In Berlin bleibt er dann ein paar Tage in der Laube, die Line in Ostberlin bewohnt. Dass die deutschdeutsche Grenze zwischen ihnen steht, erscheint für Karl und Line zunächst irrelevant, da Karl dieses Hindernis regelmäßig problemlos überwinden kann. Als einziges der bisher gezeigten Liebespaare beschränkt die Grenze die beiden nicht, sondern ermöglicht die inoffizielle Beziehung stattdessen. Hinter der Grenze hat Karl sich ein zweites Leben mit Line aufgebaut. Problematisch ist diese Beziehung weder politisch, noch privat. Gönnerhaft überlässt Karl Walter seine Ehefrau: » › Ochmensch ich bin ja froh, daß’ie endlich auch ma Ein’ hat : Frieda!‹.–: ›Ich hab nämlich auch Eine : in Ossberlien!‹« (StH 60). Mit dieser »Freigabe« Karls werden die Figuren bereits neu arrangiert. Frieda hatte bereits zu Beginn der Affäre mit Walter von Karls Affäre mit Line Hübner erzählt. Die Verbindung des Ehepaares war damit bereits früh gelöst worden, Frieda hatte lapidar kommentiert: »Och, ‹schlecht› iss er nich; aber eben nich der Richtiege für mich. – Und ich für ihn woh’ auch nich« (StH 53). Damit steht der Weg frei, die Figuren neu zu arrangieren: Walter und Frieda richten sich auf ein gemeinsames Leben in der BRD ein, während Karl und Line sich für die DDR entscheiden.
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Ausschlaggebend für diese Verteilung über die Grenze ist dabei, dass Line auf eine Rückkehr nach Schlesien hofft und diese von der DDR aus wahrscheinlicher scheint. Die beiden Liebesbeziehungen, die bisher über beide deutsche Staaten lose verteilt waren, werden nun klar arrangiert. Auch diese Aufteilung in ost- und westdeutsche Neuanfänge ist strategisch motiviert. Nicht nur Schlesien fällt als Argument ins Gewicht, sondern die gesamte Nachkriegssituation des so genannten Kalten Krieges. Die Aufteilung der Paare über die Grenze wird vorgeschlagen, um Rückzugsmöglichkeiten zu schaffen: »eventuell können wir Alle ja mal nach dem Osten ausweichen müssen!«, komplementär dazu ergänzt Walter: »Oder Ihr nach dem Westen!« (StH 162). Die Liebesarrangements nehmen die politische Aufteilung aus pragmatischen Gründen auf: Mit Netz und doppeltem Boden richten sich die Vier sicher in beiden deutschen Staaten ein und erzielen dadurch größtmögliche Zufriedenheit in den Partnerschaften und größtmögliche politische Sicherheit. Es fällt unschwer auf, dass diese Liebesnarrative weder besonders leidenschaftlich, noch dramatisch oder problematisch sind. Nüchtern und pragmatisch gehen die Figuren Partnerschaften ein. Die Erzählung von den zwei Liebespaaren ist weniger an der dramatischen Liebesgeschichte von Romeo und Julia orientiert ist, als an dem potenziell pragmatischen Liebesarrangement von Goethes Wahlverwandtschaften. Marion Diedel-Käßner hat diesen Zusammenhang detailliert aufgearbeitet.56 Sowohl im Handlungsverlauf als auch in der Figurenzeichnung lassen sich eindeutige Parallelen feststellen. Diedel-Käßner liest das Steinerne Herz mit seinem illusionslosen Partnertausch mit märchenhaft-konfliktfreiem Ende als eine Art Gegenbild zu Goethes Vorlage, indem die Figuren sich jedem Gefühlspathos verweigern und die Tragik in Pragmatik transformiert wird.57 Die Aktualisierung des bekannten Liebesnarrativs nach dem Modell der Wahlverwandtschaften ermöglicht dabei eine neue Perspektive auf die inhärente Zeitgeschichte des Romans, die ihrerseits stark von der Literarisierung der Grenze geprägt ist.
56 Marion Diedel-Käßner, »Das steinerne Herz. Arno Schmidts Wahlverwandtschaften«, in: Bargfelder Bote 129-130 (1988), S. 3–18. 57 Marion Diedel-Käßner resümiert: » Schmidt zeichnet einerseits eine Adaption wiederkehrender, invarianter Typen und Gesellschaftszustände, entwirft andererseits ein humoristisch kritisches Gegenbild zu Goethes Romanstruktur. Durch die ›Realisierung‹ von Goethes tragischer Vierer-Beziehung manifestiert sich im StH [sic!] also Kritik auch an der eigenen Zeit; die Kontrafaktur banaler Alltagsszenen impliziert die Prosakritik an Goethe.« Ebd., S. 17.
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Die Grenze In Bezug auf das Arrangement der Liebespaare dient die deutsch-deutsche Grenze als eine Art Symmetrieachse, nach der sich die Figuren ausrichten um alle Eventualitäten, die in der Nachkriegszeit drohen, ausgleichen zu können. Außerdem ermöglicht die Grenze zunächst die Ostberliner Affäre und das spätere pragmatische Ost-West-Arrangement. Auch jenseits des Liebesnarrativs, das ja keineswegs das einzige Thema des Romans darstellt, spielt die Grenze eine große Rolle. Das steinerne Herz, ausgewiesen als ›historischer Roman‹ referiert deutlich auf die aktuelle Zeitgeschichte des 1950er Jahre, die deutsch-deutsche Grenze eingeschlossen. 58 Sie bildet zunächst schlicht die Kulisse für die verschiedenen Handlungsstränge des Romans. Neben der Liebesaffäre Karls, die hinter die Grenze verlagert wird, ist auch Walters Diebstahl eines statistischen Handbuchs in die DDR verlagert. Dank Karls Fernfahrertätigkeit, können die beiden in den Osten reisen. Diese Reisebewegung mitsamt der Grenzüberschreitung, als Form der Ostschleife, ermöglicht das Erzählen von beiden Seiten der Grenze aus. Als historischer oder politischer Roman wird im Steinernen Herz die Grenze literarisch relevant. Zunächst scheint sich die Handlung allerdings auf den Heimatort der Thumanns, Ahlden, zu beschränken. Der Osten wird zunächst ausgeblendet, im übertragenen Sinne wird der Osten regelrecht ausgesperrt. Mit dem Wind weht die Dimension der Zweistaatlichkeit in den Roman hinein. Schon als Walter sich in einem Zimmer bei den Thumanns einquartiert, wird der Wind thematisiert: »Und völ=lich gegen Osswinn geschützt!« – »Der hierzulande allerdings nie weht« (StH 12). Der Ostwind erscheint zunächst nur als natürlicher Störfaktor, den es auszuschließen gilt, obwohl er in Ahlden ohnehin ein seltenes Phänomen ist. Mit dem Wind bleibt auch die deutsch-deutsche Teilung zunächst außen vor. Kurz vor dem Fahrtantritt in Richtung Ostberlin, weht der Ostwind aber dennoch: Frieda kann den Hodenhagener Zug hören, es muss also Ostwind wehen. 59 Auf diese Weise erhält der Osten, ergo die Grenze, Eingang in den Roman. Walter und Karl reisen nach Berlin, wo Walter zwischen dem ost- und Westberliner Bezirk wechselt. Auch hier geht der Grenzübergang mit der Windmetapher einher: »Draußen: Moi trieb im freien Westwind vor mir her« (StH 79).
58 Besonders deutlich wird dies durch die duch Walter kommentierten Radiosendungen, die regelmäßig vorkommen. Vgl. dazu Joachim Klein, Arno Schmidt als politischer Schriftsteller, bes. S. 51–91. 59 Vgl. StH 54.
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Die Richtung des Windes zeigt die Richtung an, in die der Roman sich bewegt: Walter kauft im Westen der Stadt Papier für die Fälschung des Buches und Lebensmittel für die unterversorgte Line. Im ersten Teil des Romans sind Ostwind und DDR als Störfaktoren noch außen vor; die explizite Zeitkritik von Walter wendet sich gegen die BRD, den NATO-Beitritt und die gesamte Politik der Bonner Republik der Adenauer-Ära. Walter vertritt einen antimilitaristischen Standpunkt und kritisiert u.a. die Kontinuitäten zum Nationalsozialismus. Im zweiten Teil, mit Eintritt des Ostwindes, wird dann ein Vergleich der beiden Staaten möglich. Line berichtet Walter vom Mangel: Sie lebt in einer alten Gartenlaube, die im Winter kaum zu heizen ist, Strom muss sie sich illegal abzapfen. Das kulissenhafte Straßenbild in Ostberlin zeigt sich als ein Nebeneinander von Trümmern und Neubauten. Parallel dazu stellen sich auch Walters Erfahrungen in Ostberlin als ein Nebeneinander von positiven und negativen Eindrücken dar. Er lobt die mahnende Erinnerung an nationalsozialistische Verbrechen und hofft auf die Chance zu einer neuen, friedlichen Gesellschaft: »Resumé: Bildung eines neuen deutschsprachigen Teilstaates« (StH 98). Andererseits erlebt er die Omnipräsenz der Staatsideologie auf Bannern und erfährt von den unfreien Wahlen beim Schachspiel mit Lines Nachbarn (vgl. StH 96ff). Besonders kritisch wird die Vernachlässigung der Kunst gesehen, um die Kunst sei es im Osten noch schlechter bestellt als im Westen (vgl. StH 89). Die Ostschleife von Walter gipfelt schließlich in einer Brandrede auf der Zonengrenze. Hier resümiert der Protagonist die Erfahrungen, die er in beiden deutschen Staaten gemacht hat. Im Roman ist diese Szene markiert als »Rede auf der Zonengrenze« (StH 105). Auf der Rückfahrt nach Ahlden fällt etwas Wartezeit für Karl und Walter an. Walter stellt sich mitten auf die Transitstraße und entlädt breitbeinig über der Grenze stehend seine Enttäuschung in die beiden Staats- und Himmelsrichtungen. Die Grenze wird hier zum Ort von Walters pathetischer Rede – er zitiert Platons »Verteidigung des Sokrates«.60 Die Positionierung mit einem Bein in je einem Staat verdeutlicht, dass Walter keinen der Staaten favorisiert. Von der neutralen Positionierung auf der Grenze aus wird aus der Figurenperspektive explizite Kritik geäußert: »Guter Rat an die DDR: ich möchte ihr gern helfen, weil die Leute drüben so rührend ehrlich arbeiten; weil sie tapfer gottlos sind; und gegen den Rüstungsalp Adenauer. Le-
60 Am Ende der Rede resümiert Walter : »Ich denke nicht daran, Euren Beifall zu briguieren, ob Ost oder West!: ›Nicht Ich, Ihr Athener, bin da, von Euch zu lernen : sondern Ihr seid da, von mir zu lernen!‹« (StH 106)
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bensmittelkarten gewiß; aber die gewährleisten billige Butter: die Meisten bei uns können sich keine kaufen! […] Aber: in einem neuen Staat müßte Alles neu sein! Auch in den Künsten: statt dessen hängt ihre bürgerliche Schinken in Eure Galerien; Eure Schriftsteller wissen scheinbar nicht (oder dürfens nicht wissen), daß seit Gustav Freitag einiges in der Dichtung geschehen ist: formal, mein Fürst, formal! […] (Und das mit den Wahlen: ändert Ihr auch besser!).– Dann, nach dem Westen gewandt,: »In einem neuen Staat ……« (usw., genau wie oben : bloß statt DDR eben Bundesdiktatur: wer eine Volksabstimmung über die Wiederaufrüstung derartig brutal verhindert, verdient keinen anderen Namen! Also Ihr: raus mit dem Kruzifix aus der Linken, der Maschinenpistole aus der Rechten!)« (StH 105f)
Die politische Kritik ist dabei sehr pauschal und sehr kurz gehalten, kritisiert werden Mangel und Aufrüstung, Demokratiedefizite werden lediglich bemerkt. Die Kritik am Umgang mit Künstlern in der DDR ist dabei noch die ausführlichste und wird implizit auch auf die BRD übertragen. Diese pathetische Kritik auf der Zonengrenze markiert scheinbar einen zentralen Punkt im Roman. Walter rechnet mit beiden deutschen Staaten ab. Die Zeitkritik, die der Protagonist aber etwa beiläufig bei Radioübertragungen oder anderen Gelegenheiten äußert, erscheint doch spitzer und präziser. Auch innerfiktional wird die pathetische Pose Walters konterkariert. Zwar steht er zentral auf der Grenze und geriert sich als Platon-Nachfolger, eine Wirkung erzielt er damit aber kaum. Seine »Rede auf der Zonengrenze« ist lediglich an den Nieselregen gerichtet, in dem er steht. Beim Vorgang des Grenzübergangs ist Walter zu Fuß schon vorgegangen, nicht einmal Karl hört ihm zu. Auf der Straße läuft das Tagesgeschehen weiter, Walters Rede wird dadurch mitunter unterbrochen: »Manchmal schob mich ein PKW beiseite […]« (StH 105). Der kritische Geist Walter Eggers erweist sich als ein »im Nieselregen vor sich hin schwadronierende[r] Mann.«61 Bedeutung erhält diese Szene aber durch ihre Alleinstellung in der Literatur der 1950er Jahre: Vor dem Steinernen Herzen hatte kein Roman das Problem der Teilung in Form einer »Parallelschelte« 62 aufgenommen. Darüber hinaus nimmt der ausgleichende Gestus – DDR und BRD werden sogar gleichgesetzt – das Liebesarrangement der vier Romanfiguren vorweg. Wenn kein Staat der bessere ist, ist die vorgenommene strategische Aufteilung –
61 Stephan Kraft, »Nicht mitten hindurch, sondern darüber hinweg und auf beiden Seiten zugleich. Zur deutsch-deutschen Grenze in Arno Schmidts Roman Das steinerne Herz«, in: Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur, S. 127–146, hier S. 129. 62 Ebd., S. 128.
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ein Paar Ost, eins West – nicht nur die im Konfliktfall sicherste Lösung, sondern auch die politisch neutrale Alternative. Die Erlebnisse der Figuren in Ost- und Westdeutschland, die zumindest Walter, Karl und Line teilen, führen nicht wie andere West- bzw. Ostschleifen zur Favorisierung eines Systems oder zum Bekenntnis zu einer Ideologie, sondern schlicht zur Erkenntnis, was drüben nicht gut sei, sei hüben nicht besser.63 Auf diese Weise wird der Grenze ihre Definitionsmacht abgesprochen: zwar markiert die deutsch-deutsche Grenze noch die Territorien beider deutscher Staaten, sie unterscheidet aber nicht mehr zwischen einem guten und einem schlechten Staat. Diese Umwertung der Grenze macht sie frei für das kreative Spiel, das im Roman mit der Grenze gespielt wird und das deutlich auf das poetische Potenzial der Grenze verweist. Das kreative Spiel mit der Grenze Die Grenze zeigt sich im gesamten Roman als deutliches Strukturmerkmal. Mehrfach wird in der Forschung darauf hingewiesen, dass der Roman von Verdopplungs- und Spaltungsmotiven durchzogen ist, die unschwer mit der deutschdeutschen Grenze kontextualisiert werden können. Auf diesen Zusammenhang hat zuerst Susanne Fischer verwiesen, sie zählt allerhand Doppelungen und antagonistische Spaltungen auf, die sich auf den verschiedenen Ebenen des Romans finden. Da sind einerseits die Figurenpaare, topographische Spaltungen und Verdoppelungen, nebensächliche Beobachtungen und nicht zuletzt auch die Tatsache der beiden Schatzfunde:64 Für Walter ist der Ringklib aus der Ostberliner Bibliothek ein mindestens ebenso wertvoller Schatz wie der Münzschatz aus Ahlden. Letzterer enthält interessanterweise ein Paar Sondermünzen, die eigens angefertigt wurden und als Rarität also außerordentlichen Sammlerwert besitzen. Diese Münzen treten nun aber wieder – wie auch sonst – paarweise auf: Es gibt die Rarität zweifach. Fischer resümiert für diese Auffälligkeit, dass »die vielen Spaltungen im Roman […] in der großen politischen Spaltung ihren Ursprung [finden]«65 Die Grenze erweist sich also als Strukturmerkmal des Romans: Walters Haltung der ›Äquidistanz‹ werde durch die strategischen Verdopplungen und Spaltungen, die regelmäßig einen Ausgleich suggerieren, betont.
63 Stefan Höppner spricht von »Äquidistanz«, die eine intellektuelle Unabhängigkeit demonstrieren solle, vgl. ders., »Politik und Poetik des Alltags«, S. 62. 64 Vgl. Susanne Fischer, »Die Welt ein vergessenes Zimmer. Zum historischen Roman Das steinerne Herz, in, Bettina Clausen u.a (Hgg.), Teiche zwischen Nord- und Südmeer, Bargfeld 1994, S. 77–95, hier S. 79f. 65 Ebd., S. 94.
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Die Vielzahl an Grenzstrukturen provoziert das kreative Spiel mit Ihnen. Auf diesen Zusammenhang weist Friedhelm Rathjen indirekt hin. Die Doppelungen und Spaltungen werden in seiner Untersuchung um den Komplex von Original und Fälschung und somit um das Prinzip der Substitution66 erweitert. Rathjen fokussiert dabei neben der Fälschung der Ringklib-Ausgabe auch das Lügen als sprachliche Fälschung. Für Walter, der nicht nur die Dokumente für das Handbuch und Lines Ausreise aus dem Osten fälscht, sondern auch seine eigene Biographie um Friedas Vertrauen zu erlangen, sei »das Fälschen eine genuine Fähigkeit«.67 Die Kernmomente des Romans seien eng mit der Fälschungsthematik und dem Austausch verknüpft, was besonders der Partnertausch illustriert. An den Partnertausch und schließlich das Arrangieren der Paare über die deutschdeutsche Grenze hinweg, sind die weiteren ›Fälschungen‹ des Romans gekoppelt. Das grenzüberschreitende Liebesnarrativ erweist sich also als konstitutiv für den Roman; das Spiel mit der Grenze wird auf weiteren Handlungsebenen gespiegelt. Gerade die Fälschung und der Schmuggel – vom Buch bis zur Figur der Line – stehen für das kreative Spiel, das die Grenze als räumliche Struktur ermöglicht. Die vielfach zitierte »Dialektik der Grenze« zeigt sich darin, dass das trennende Potenzial der Grenze um das verbindende und implizit spielerische Potenzial erweitert wird. Mit der Grenzüberschreitung, wie sie durch Fälschung und Schmuggel im Steinernen Herzen stattfindet, wird die Komplexität der Grenze vorgeführt und literarisiert. Die Grenze wird dabei kreativ umgedeutet: Sie wird von der trennenden Schranke zum Symbol gesellschaftlicher Utopien, indem die vier Hauptfiguren sich zwei Heime dies- und jenseits der Grenze einrichten, um damit der politischen Gegenwart des Kalten Krieges zu trotzen. Die Liebesidylle und die passende politische Zukunft werden dabei nicht ohne Ironie entworfen, die Figuren finden ihr Heil im kleinbürgerlichen Pragmatismus und nicht in einer idealistischen Utopie. Das Liebesnarrativ des Romans treibt ein literarisches Spiel mit der Grenze. Die Herausforderungen der Viererkonstellation werden pragmatisch gemeistert – symbolisch steht dafür das Zersägen des Thumannschen Ehebetts, um Lines Zimmer in Ahlden einzurichten (vgl. StH 113). Analog zur deutsch-deutschen Teilung wird auch hier eine Einheit zunächst getrennt, um dann neue Be-
66 Friedhelm Rathjen konstatiert: »Der Austausch, die Auswechslung steht als Prinzip hinter jeder Fälschung: den Platz des Echten nimmt eben das Falsche ein.« Ders., »Original und Fälschung. Ein vergessenes Thema in Arno Schmidts Roman Das steinerne Herz«, in: Zettelkasten 15 (1996), S. 103–117, hier S. 109. 67 Ebd., S. 113.
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ziehungen zu etablieren, die sich offensichtlich an der politischen Ordnung der beiden deutschen Staaten orientieren, wie auch die Ausdrücke der »Viererkonferenz« (StH 160) und der »großen Vier« (StH 161) zeigen. Bei dieser Zusammenkunft der Paare werden die Weichen für die deutsch-deutsche Zukunft gestellt: Walter und Frieda bleiben in Ahlden während Karl und Line nach Ostberlin ziehen (StH 162). Die politische Grenze wird im Roman also nicht bloß als Hintergrund oder politisches Zeitgeschehen geschildert oder kritisiert, sondern literarisch aufgenommen und fruchtbar gemacht. Statt ideologischer Festlegungen evoziert die Grenze hier kreative Freiräume. 68 Die »Möglichkeit der Bilokalität«,69 die Walter zuvor in der »Rede auf der Zonengrenze« erprobt hat, wird ausgeschöpft. Die Grenze ermöglicht den Paaren, ihre Utopien zu leben. Im Liebesnarrativ zeigt sich das kreative Spiel des Romans besonders deutlich, so dass mit Stefan Kraft resümiert werden kann: »Nicht Grenze oder Freiheit, sondern Freiheit durch die(se) Grenze«.70
LIEBESGESCHICHTEN DER DEUTSCH-DEUTSCHEN LITERATUR DER GRENZE In der deutsch-deutschen Literatur der Grenze werden unterschiedliche Liebesgeschichten erzählt, Geschichten vom Liebesglück und Geschichten vom Scheitern. Die deutsch-deutsche Grenze spielt dabei eine große Rolle, entweder bestimmt sie den Handlungsverlauf und verhindert die Liebe,71 bedroht die Liebe wie bei Brӗzan, initiiert die Illusion von Liebe wie bei Johnson oder ermöglicht den Entwurf einer kleinbürgerlichen Utopie. Den untersuchten Texten ist der enorme Einfluss der Grenze auf das Liebesnarrativ gemein. Alle Texte rekurrieren auf traditionelle Muster, neben der Romeo-und-Julia-Figuration findet sich bei Schmidt auch der Liebespragmatismus aus Goethes Wahlverwandtschaften. Diese literarischen Konventionen bzw. narrativen Muster bilden dabei den Rahmen, in dem die Grenzgeschichte erzählt wird. Die Grenze mit ihrem komplexen
68 Mit Stephan Kraft ist die Grenze regelrecht »prädestiniert, Spielräume jenseits der offiziell eingeräumten zu eröffnen«, ders., »Nicht mitten hindurch«, S. 133. 69 Ebd., S. 138. Stephan Kraft sieht in der Bilokalität auch das Potenzial zur »Transposition in eine überlegene Dimension des Geistigen«. 70 Ebd,. S. 145. 71 Auf diese Geschichten verweist insbesondere Rainer Benjamin Hoppe, sie stellen das Gros der deutsch-deutschen Liebesnarrative dar. Vgl. Rainer Benjamin Hoppe, Horizont aus Schlagbäumen, S. 84ff.
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literarischen Potenzial wiederum arbeitet an Aktualisierungen und Modifikationen der Muster mit, so dass – wie gezeigt – unterschiedliche Liebesgeschichten als Grenzgeschichten erzählt werden. Den paradigmatischen Zusammenhang von Grenze und Liebesgeschichte – genauer: Romeo-und-Julia-Figuration – stellt Keller in seiner Novelle dar. Romeo und Julia auf dem Dorfe ist getragen von der Grenze: Sie ist Auslöserin und Markierung von der väterlichen Feindschaft wie von der Liebesbeziehung von Sali und Vrenchen. Der strittige Acker als Grenze trennt und verbindet gleichermaßen, literarisch wird dieses Paradox als Liebesdrama verarbeitet. Die Implikationen der Feindschaft überschatten das Liebespaar, die Novelle nimmt ihren tragischen Verlauf. Damit stellt Kellers Novelle den Prototyp einer Liebesgeschichte der Grenze dar. Im Kontext der deutsch-deutschen Grenze wird diese Komplexität der Grenze in Liebesnarrativen unterschiedlich aufgegriffen: Brӗzan löst die Spannung durch die staatsloyale Erzählung der Konversion Sabines, das Paar kann glücklich in der DDR zusammengeführt werden. Johnson ironisiert die Spannung der Liebesgeschichte, indem er sie verpuffen lässt: Das Liebespaar ist gar keines, so dass es auch zu keiner romantischen Vereinigung kommen kann. Trotzdem wird eine spannende Fluchtgeschichte und eine traurige Liebesgeschichte erzählt. Johnson gelingt es so die Entfremdung über die Grenze vorzuführen und trotzdem einen literarischen Standpunkt auf der Grenze zu etablieren, der sich um Neutralität bemüht. Das Liebesnarrativ nach dem traditionellen Modell dient als Vehikel und wird vollkommen neu erzählt. Schmidt greift die Romeo-und-Julia-Figuration im Prosastück Am Zaun auf und erzählt eine tragische Grenzgeschichte en miniature. Im Steinernen Herzen variiert Schmidt dann das Muster der Liebeserzählung und persifliert deutschdeutsche Romeo-und-Julia-Variationen. Er hält dem romantischen Ideal einen kleinbürgerlichen Pragmatismus entgegen; auch in dieser Absage an modellhafte Liebesgeschichten der Grenze kommt das literarische Potenzial der Grenze zum Tragen. Schmidts Roman führt das literarische Spiel mit der Grenze vielschichtig vor. Es werden verschiedene Positionen auf der Grenze eingenommen, ob von den vier Protagonisten als Liebespaare oder von Walter Eggers als Platon auf der Zonengrenze. Die evozierten Doppelungen und Spaltungen im Roman zeugen dabei vom komplexen literarischen Potenzial der Grenze. Dank der Grenze als Initiatorin erzählenswerter Liebesgeschichten wird das literarische Muster der Liebeserzählung mit einer Romeo-und-Julia-Figuration vielfach variiert. Die Liebe über die Grenze hinweg kann so zu einem neuen
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Topos der deutschen Literatur der Nachkriegszeit werden und die Fabel der Liebesgeschichte in »neuem Gewande« (RJ 74) wieder auftreten.
Verdoppelungen – Die Tradition des Doppelgängermotivs in der deutschdeutschen Literatur der Grenze
Nach Paarbildungen über die Grenze hinweg, Entwicklungsnarrativen und Grenzreisen werden nun abschließend Doppelungsfigurationen in den Blick genommen. Doppelungen sind immer auf eine Zweiheit bezogen; ähnlich wie die Paarbildungen der deutsch-deutschen Liebeserzählungen referiert auch die Verdoppelung als literarisches Modell auf die Doppelkonstellation der zwei deutschen Staaten und ist damit elementar in der deutsch-deutschen Literatur der Grenze. Analog zur politischen Geographie verteilen sich verschiedene Doppelungsfigurationen, wie Geschwister und Doppelgänger im literarischen Raum, die Figuren stellen so eine Beziehung zwischen Ost und West her und erzählen von einer politischen Zweiheit. So wird die Grenze mit literarischen Mitteln sichtbar und verhandelbar. Dieser Zusammenhang zeigt sich bereits bei der literarischen Inszenierung von Liebespaaren als Variante der Verdoppelung. Verdoppelungen lassen sich als Teilung oder Spaltung inszenieren, die die Grenze als Trennungsmechanismus darstellen, ebenso lassen sich Verdoppelungen als Paarbildungen erzählen, die einen Zusammenhalt über die Grenze hinweg implizieren und somit auf das verbindende Potenzial der Grenze verweisen. Der Verdoppelung als narratives Modell sind – wie der Grenze auch – Trennung und Verbindung inhärent. Die Verdoppelung revitalisiert im Kontext der deutschdeutschen Grenze literarische Traditionen wie die Erzählung von Geschwistern, einer psychologischen Spaltung oder dem Alter Ego. Mithilfe von diesen unterschiedlichen Bildern der Zweiheit findet eine literarische Auseinandersetzung mit der Grenze statt. Das Spiel mit Verdoppelungen und Spaltungen in der Literatur der Grenze etabliert neue Varianten die deutsch-deutsche Grenze literarisch sichtbar zu machen. Im Folgenden werden die Verdoppelungen auf der Figurenebene in den Blick genommen. Literarische Dopplungsfigurationen in der deutsch-deutschen
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Literatur der Grenze erzählen die Grenze selbst, als Strukturmuster geht die Verdoppelung über die Grenze hinaus. Es ist dabei keine eindeutige typisch ostoder westdeutsche Variante auszumachen; beiderseits der Grenze findet die Verdoppelung Verwendung in verschiedenen Formen. Besonders häufig erscheint die Doppelungsfiguration in Form von Geschwisterpaaren; die Besonderheit dieser Ausprägung ist die auffällige Verflechtung von Literatur mit politischer Rhetorik. Deutsch-deutsche Geschwisterpaare werden mitunter zu Vehikeln politischer Meinungsbildung. Nach einem Blick auf diese Geschwisterfiguren wird die Spaltung als Variante der Verdoppelung anhand einer Erzählung Klaus Schlesingers untersucht. Abschließend werde ich mit Thorsten Beckers Die Bürgschaft das Modell des Identitätstausches untersuchen.
GESCHWISTER ALS DOPPELUNG* In der deutsch-deutschen Literatur der Grenze erscheint die Verdoppelung von Figuren häufig in Form von Geschwisterpaaren. Geschwister, ob Brüder oder Schwestern, vereinen als Figuren sowohl Zusammenhalt und Gemeinsamkeiten als auch Opposition und Unterschiede. Die Geschwisterfiguration weist auf eine lange literarische Tradition zurück, in der die Oszillation von Abgrenzung und Verbindung eine Rolle spielt. Eine eigene Traditionslinie bilden in diesem Zusammenhang die ›feindlichen Brüder‹, die als Wiedergänger Kains und Abels die Literatur bevölkern.1 Bei Zwillingspaaren ist die Verdoppelung augenfällig, doch auch unterscheidbaren Geschwistern ist das Paradigma der Doppelung inhärent. Insbesondere heterogene Bruder-Schwesterfigurationen spielen mit dem Wechsel zwischen Unterschied und Gemeinsamkeit. Geschwister können sowohl als nahezu identische und komplementäre Figuren, als auch als opponierende und konträre Figuren erscheinen. Wichtig dabei ist, dass die Beziehung der Geschwisterfiguren untereinander bedeutsam ist, sie sind keine zufälligen Figuren, die alleinstehend literarische Bedeutung haben, sondern nur als Doppelungsfiguration relevant werden. Die Oszillation zwischen Abgrenzung und Verbin-
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Dieses Kapitel basiert auf meinem Artikel »Brüder und Schwestern! Geschwisterfiguren und Diskurse nationaler Teilung in der deutsch-deutschen Literatur«, in: Martin Doll und Oliver Kohns (Hgg.), Figurationen des Politischen. Bd. 1: Die Phänomenalität der Politik in der Gegenwart, Paderborn 2016 (=Texte zur politischen Ästhetik 3), S. 133–164.
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Auf die lange Tradition verweist Dieter Beyerle, Feindliche Brüder von Aeschylus bis Alfieri, Berlin 1973.
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dung der Geschwisterfiguren macht den literarischen Wert dieser Doppelungsfiguration aus, insbesondere im Kontext der deutsch-deutschen Literatur der Grenze. Die Grenze selbst ist in ihrer Dialektik von denselben Dynamiken bestimmt, die Abgrenzung entspricht der Setzung von Grenzen und die Verbindung der Grenzüberschreitung. Mithilfe dieser literarischen Figuration wird die Grenze literarisiert. In der deutsch-deutschen Literatur der Grenze ist diese Figurenkonstellation zudem von Bedeutung, da die politische Rhetorik der Zweistaatlichkeit in West und Ost von der Formel der »Brüder und Schwestern« bestimmt ist. Im Westen wurde mit der Vergegenwärtigung der ›Brüder und Schwestern im Osten‹ die Vereinigung der deutschen Staaten forciert und eine naturalisierte Nation im Bild einer gesamtdeutschen Familie beschworen. Ein ethnisch determiniertes Band der Brüderlichkeit würde Ost- und Westdeutschland auch jenseits der ideologischen Unterschiede zusammenhalten. Damit rekurriert die Formel offensiv auf Vorstellungen von Brüderlichkeit, wie sie spätestens seit der französischen Revolution virulent sind. Die Brüderlichkeit als politische Metapher transzendiert Familienbeziehungen und ermöglicht die Imagination einer Gemeinschaft jenseits der institutionalisierten Ordnung. 2 Die Imagination einer brüderlichen Gemeinschaft basiert dabei deutlich auf einem Moment des Ausschlusses, gegen das sich die brüderliche Gemeinschaft wendet.3 In der westdeutschen Rhetorik der ›Brüder und Schwestern‹ wird die ethnisch determinierte Gemeinschaft in beiden deutschen Staaten imaginiert und der oktroyierten Trennung entgegengehalten. Auch im Osten ist die Brüderlichkeitsrhetorik gegenwärtig: Mit dem ›Bruder‹ wurde Bezug auf die Sowjetunion und sozialistische ›Bruderstaaten‹ genommen. Die Gemeinschaft ist also nicht als eine ethnische, sondern als eine internationale sozialistische Gemeinschaft bestimmt und damit über die Klassenzugehörigkeit definiert. Darüber hinaus findet sich die Formel der ›Brüder und
2
Vgl. Wolfgang Schieder, »Brüderlichkeit«, in: Otto Brunner, Werner Conze und Rainer Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 2004 (1972), S. 552–581.
3
Andreas Kraß verweist unter Berufung auf Derrida (Vgl. Jaques Derrida, Politik der Freundschaft, übers. von Stefan Lorenzer, Frankfurt a. M. 2002) auf eine der Brüderlichkeit inhärente Misogynie und Xenophobie: Vgl. Andreas Kraß, »Im Namen des Bruders: Fraternalität und Freundschaftsdiskurse der Antike, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit«, in: Behemoth 4.3 (2011), S. 4–22.
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Schwestern‹ auch in Bezug auf die Werktätigen der BRD,4 statt auf eine nationale oder ethnisch determinierte Brüderlichkeit wird auch hier Rekurs auf eine deutsch-deutsche Klassenbruderschaft genommen. Als bürgerlich oder kapitalistisch bezeichnete Westdeutsche werden in dieser Logik ausgeschlossen, die ›Brüder‹ im Westen sind allein die Arbeiter. Es zeigt sich, dass die Geschwisterfiguration in der politischen Rhetorik unterschiedlich eingesetzt wurde, sie bietet sich zur propagandistischen Instrumentalisierung geradezu an; die Zielsetzung solcher Instrumentalisierung wechselt dabei zuverlässig. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die geschwisterliche Konfiguration Eingang in die Literatur zur Zeit der Zweistaatlichkeit gefunden hat. Auch Rainer Benjamin Hoppe teilt diese Einschätzung und beobachtet gar ein »sozialbiologische[s] Bruder-Schwester-Klischee«,5 da auffallend häufig die Schwester im sozialistischen Osten verbleibt, während der Bruder in den Westen geht. Gerade in der Literatur aus der DDR befindet sich damit der ›feindliche‹ Bruder im Westen. Das Geschlechterklischee unterstreiche die Bipolarität der literarischen Geschwisterfiguren. Auch die Konstellation der feindlichen Brüder (bzw. Geschwister) taucht häufig in Texten auf, die sich mit der Teilung auseinandersetzen. Auffällig dabei ist, dass die Feindschaft der deutsch-deutschen Brüder in der Literatur aus der Zeit nach der Vereinigung zunehmend relevant wird. In der Literatur bis 1989 überwiegt das Bild der getrennten Geschwisterpaare, die an einer harmonischen Geschwisterbeziehung festhalten.6 In der Literatur der Grenze bietet die Geschwisterfiguration eine Möglichkeit, die politischen Beziehungen der beiden deutschen Staaten und verschiedene
4
Deutlich wird dies etwa an Walter Ulbrichts Rede anlässlich des Mauerbaus, vgl. ders. »Die Maßnahmen unserer Regierung haben den Frieden in Europa und in der Welt gerettet. Ansprache im Deutschen Fernsehfunk 18. August 1961«, in: Ders., Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Aus Reden und Aufsätzen. Bd X: 19611962, Berlin 1966, S. 11–35.
5
Rainer Benjamin Hoppe, Horizont aus Schlagbäumen, S. 80.
6
Vgl. Johanna Gelberg, »Brüder und Schwestern!« Diese Beobachtung widerspricht Rainer Benjamin Hoppes vorgeblichen Fokussierung eines problematischen Geschwisterkonflikts, die er aufgrund der harmonisierenden Tendenzen in der Literatur nicht einhalten kann. Beispiele für Romane aus der Zeit nach 1989/90, die den Bruderkonflikt fokussieren sind etwa Monika Marons Zwei Brüder (1995), Kathrin Seglitz’ Der Bienenkönig (2009) oder Reinhard Jirgls Abschied von den Feinden (1995).
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Diskurse der Teilung zu verhandeln. Die räumlich getrennten Geschwister bürgen für einen überpolitischen Zusammenhalt, der über die deutsch-deutsche Grenze hinweg aufrechterhalten wird. Gleichzeitig können so Unterschiede zwischen den Staaten als eklatant dargestellt werden. Im Folgenden werden zunächst zwei Romane, einer aus der DDR der andere aus der BRD, untersucht, die durch eine letztlich harmonisierende Darstellung von Brüderpaaren den Teilungsdiskurs literarisch begleiten. Vor dem Hintergrund der geschlossenen Grenze wird in beiden Romanen eine grenzüberschreitende Familiengeschichte inszeniert. Die Grenze selbst wird dabei erzählbar als Hindernis, das durch die Familienbeziehungen überwunden wird. Trotz der erlebten Trennung wird das Ideal einer harmonischen Einheit der Brüder aufrechterhalten. Die Grenze initiiert das Erzählen in der paradigmatischen Doppelungsfiguration der deutsch-deutschen Brüder, zugleich wird die Grenze selbst auf diese Weise literarisiert. Deutsch-deutsche Brüder im Geiste: Werner Heiduczek und Dieter Lattmann In Werner Heiduczeks Novelle Die Brüder, 1968 publiziert im ostdeutschen Kinderbuchverlag Berlin, wird die Geschichte zweier Brüder erzählt, die auf der Flucht 1945 voneinander getrennt worden sind und sich zehn Jahre später unerkannt auf der deutsch-deutschen Grenze wiedertreffen. Der ältere Bruder Heinz ist Grenzsoldat, der jüngere Bruder Daniel ist illegaler Grenzgänger, der grenzübergreifende Diebstähle begeht. Als Heinz Daniel pflichtgemäß stellen will, schießt dieser ihn nieder. Heinz kämpft im Krankenhaus um sein Leben und versichert sich währenddessen, in Daniel seinen kleinen Bruder erkannt zu haben. Daniel versteckt sich zeitgleich in Berlin. Dort erfährt er, dass Heinz sein Bruder sein könnte und ringt sich dazu durch, den Kranken zu besuchen. Heinz erkennt Daniel in seiner doppelten Rolle: »Ja, ich bin gewiß, er ist mein Bruder. […] Er hat auch an der Grenze auf mich geschossen.« 7 Die Freude über die Familienzusammenführung und die schmerzliche Verletzung von Körper und auch Gefühlen liegen nah beieinander, dies entspricht der Komplexität der Grenze, die sowohl trennt als auch verbindet. Parallel dazu wird die Novelle dominiert von Episoden der Unbestimmtheit: Der ältere Bruder Heinz liegt schwer verletzt im Krankenhaus und versichert sich während seiner langsamen Genesung der Erinnerung an den kleinen Bruder
7
Werner Heiduczek, Die Brüder, Berlin 1968, S.111. Im folgenden zitiert mit der Sigle HB.
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und dessen Verschwinden während der Flucht, für das er sich verantwortlich fühlt. Daniel, der den Grenzsoldaten niedergeschossen hat, versteckt sich vor der ostdeutschen Polizei bezeichnenderweise in Berlin und wechselt dort mehrfach von einem Staat in den anderen. Daniel ist nicht mehr eindeutig zu verorten und befreit sich auch von eindeutigen moralischen Zuschreibungen. Hier deutet sich das deutsch-deutsche Entwicklungsnarrativ an, das im geteilten Berlin verortet wird. Die Stadt wird zum Schauplatz der Läuterung: Während seiner Ausflüge nach Ostberlin bemüht sich Daniel zunehmend um Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, in dem er etwa die Beute eines Taschendiebstahls zurückgibt. Das Verhältnis der einander fremden Brüder oszilliert zwischen Feindschaft und Zusammengehörigkeit, die geschilderten Episoden der Unbestimmtheit spiegeln diese Oszillation wider. Die Brüder stehen paradoxerweise sowohl in einer engen familiären Beziehung als auch in einer unmittelbaren Täter-Opfer-Beziehung. Wie die Staaten, in denen sie leben, stehen sie sich zunächst in politischer Gegnerschaft gegenüber; nichtsdestoweniger sind sie miteinander verbunden. Die Brüder werden ganz offensichtlich zu allegorischen Figuren. Diese elementare familiäre Bindung ist es, die in diesem paradoxen Ungleichgewicht letztendlich überwiegt: Der geläuterte Daniel will in Zukunft an der Seite seines Bruders Heinz in der DDR leben. Sowohl die Allegorisierung der Brüderfiguren als auch der ideologische Impetus der Novelle sind offensichtlich: Verwerfliche Eigenschaften werden in der BRD lokalisiert, Läuterung und familiäre Vereinigung werden in der DDR angesiedelt. Nur der vermeintlich moralisch überlegene Staat kann Ort der Vereinigung der Brüder sein. Diese familiäre Einheit ist Aufgabe für die Zukunft, was bisher erreicht wurde, ist die langsame Annäherung Daniels an seinen Bruder und an den ostdeutschen Staat. Diese allegorische Lesart dieser Brüdergeschichte impliziert eine politische Harmonisierung. Die Vereinigung der Brüder als Aufgabe offenbart Möglichkeiten und Herausforderungen in Bezug auf eine politische Annäherung – ein Miteinander von Ost und West ist möglich, notwendige Veränderungen müssen dafür aber (von westlicher Seite) vollzogen werden. Die friedliche Vereinigung folgt keinem Naturgesetz, sie kann aber das Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen sein: »Heinz Gerau, der bisher geglaubt hatte, daß er Glück und Zufriedenheit finden würde, wenn er sein Ziel erreicht hätte, erkannte plötzlich, daß sein Ringen um diesen Jungen [Daniel] gar nicht beendet war, sondern vor einem neuen Anfang stand.« (HB 112)
Eine Gemeinschaft von Brüdern wird nicht vollständig naturalisiert, sie erscheint unter gewissen moralischen Bedingungen aber als realisierbar. Der grund-
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harmonische Schluss dieser Novelle betont die geradezu heilsame Kraft der Brüderlichkeit. Aus der allegorischen Doppelung der Brüder resultiert eine harmonische Vereinigung derselben; die staatliche Teilung wird in der figurativen Doppelung nicht nur abgebildet, sondern auch weitergebildet zu einer idealisierten Einheit. Die bipolare Brüderfiguration gipfelt schließlich in der Kompensation der Zweiheit. Das Modell des Bruders erlaubt die Synthese der Unterschiedlichen zu einer schicksalhaften Einheit.8 Eine ähnlich harmonisierende Brüderfiguration finden sich in Dieter Lattmanns Roman Die Brüder von 1985,9 auch hier wird trotz erlebter Teilung die Möglichkeit von Einheit durch unerschütterliche Brüderlichkeit behauptet. Erzählt wird die weit verzweigte Geschichte der Familie Ristenpart, genauer: verschiedener Brüderpaare dieser Familie. Die Ristenparts sind eine ursprünglich westdeutsche, bürgerliche Familie mit einer militärisch geprägten Familiengeschichte. Schon während des zweiten Weltkrieges entwickeln sich die beiden ältesten Brüder, die ehemaligen Generäle Johannes und Julius, auseinander. Johannes schließt sich bei Stalingrad dem Widerstand gegen Hitler an und engagiert sich für den Aufbau der DDR, während Julius das Kriegsende in amerikanischer Gefangenschaft verbringt und sich danach in der BRD einrichtet. In der Zweistaatlichkeit entwickelt sich das Bruderpaar auseinander, der Kontakt bricht fast gänzlich ab. Bei dem zentralen Familienfest am Romanbeginn, zu dem Johannes in die BRD gereist ist, formuliert Julius in einer Ansprache: »Hauptsache, Johannes, wir sehen uns einmal wieder. Ich habe dich zwar nicht verstanden, aber im Persönlichen habe ich nie etwas auf dich kommen lassen. Wir sind nun einmal Brüder.« 10 Die besondere brüderliche Verbindung lässt sich auch durch politische Differenzen und spärlichen Kontakt nicht endgültig aufkündigen. Dennoch werden hier zwei Überzeugte skizziert, die unbedingt für ihren jeweiligen Staat einstehen; als allegorisches Brüderpaar eröffnen Johannes und Julius die Möglichkeit einer politischen Lesart des Romans. Mit der geographi-
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Diese kompensatorische Logik ist nach Gerald Bär dem Doppelgängermotiv – mit dem die Brüderfiguration eng verwandt ist – inhärent, er spricht von einer »Tradition der triadischen Phantasie von Einheit, Trennung und Wiedervereinigung«, vgl. ders., Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie in der Literatur und im deutschen Stummfilm, Amsterdam, New York, 2005, S. 434.
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Der Roman wurde 1985 in der BRD und im Folgejahr unverändert in der DDR publiziert.
10 Dieter Lattmann, Die Brüder, Berlin (Ost) 1986, S. 26f. Im folgenden zitiert mit der Sigle LB.
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schen Verteilung der Brüder wird die deutsch-deutsche Grenze literarisch nachgezeichnet und die Brüder werden so politisch eindeutig verortet. Die räumliche Aufteilung von Brüderpaaren in beiden deutschen Staaten, einhergehend mit politischer Abgrenzung, wiederholt sich in der Familie Ristenpart in späteren Generationen. Die Trennung von Julius’ Söhnen Cordt und Jonas folgt einer persönlichen Lebensentscheidung: Cordt Ristenpart übernimmt 1954 das Amt eines Pfarrers in der DDR. Familiäre Beziehungen pflegt er vor Allem zu seinem ostdeutschen Onkel Johannes, der Rest der Familie lebt in Westdeutschland. Allein Cordts Bruder Jonas hält sporadischen Kontakt, doch es gibt wenig grenzüberschreitende Kommunikation: »Die Brüder waren keine Briefeschreiber« (LB 453). Es ist schließlich der Mauerbau, der Jonas zu einigen Besuchen im Osten motiviert; er will die Trennung vom Bruder nicht länger hinnehmen. 11 Die Mauer verweist eindringlich darauf, dass die Trennung der Brüder nicht allein einer persönlichen Entscheidung folgt, sondern staatlich forciert ist. Jonas sieht auch in der BRD trennende Kräfte am Werk: »Wie alle Menschen in der Bundesrepublik wurden sie ständig mit Gerüchten, Behauptungen und abschreckenden Meldungen, wie es dort zuginge, eingedeckt« (LB 456). Die Brüder in der Familie Ristenpart erleben eine unfreiwillige Entfremdung und bemühen sich darum die Beziehungen trotz der Hindernisse aufrecht zu erhalten. Es ist die staatliche Teilung, die die Brüder wieder zueinander führt. Die brüderliche Gemeinschaft wird durch Besuche im Osten stabilisiert; zugleich wird die Teilung des Landes gerade während dieser Reisen erlebt: »Transit. Nicht stehenbleiben, außer auf den abgesonderten Rastplätzen für Westpassanten. Keine Berührung mit den Anwohnern – no fraternization, so hieß das nach dem Krieg in der amerikanischen Zone. […] In einer Baracke tranken sie Tee, die Jungen Apfelsaft. Hier war die Trennung aufgehoben, aber man redete nicht miteinander. […] Jonas meinte, daß er von jedem einzelnen in der Raststätte sagen konnte, ob er nach West oder Ost gehörte, er sah es nicht nur an der Kleidung, mehr noch in den Gesichtern.« (LB 474)
Die oktroyierte Trennung der Brüder und Staaten erscheint verhängnisvoll; die Teilung wird als Faktum erfahren, dem kaum etwas entgegengesetzt werden kann. Die Grenze ist auch im Transit spürbar. Erst in dritter Generation tritt in der Familie Ristenpart in der Figur des Tönnies Ristenpart, Jonas’ Sohn, ein Versöhner auf. Tönnies ist nicht Teil eines voneinander entfernten und entfremdeten Bruderpaars, dennoch ermöglicht er die
11 Vgl. LB 457.
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Erneuerung brüderlichen Zusammenhalts in der Familie. Das große Familientreffen, das den Roman einleitet und auf dem sich Johannes und Julius Ristenpart zum ersten Mal seit dem Krieg wieder begegnen, bietet Tönnies die Gelegenheit, generationenübergreifende brüderliche Beziehungen zu etablieren. Tönnies, als der kritische Geist der Familie, ist der Einzige, der sich in dieser Episode dem Großonkel aus der DDR, Johannes, annähert. Gespräche über die Familiengeschichte binden Johannes neu in das Gefüge ein: Am Ende des Familienfestes, aber ganz zu Beginn des Romans, umarmt Tönnies seinen Großonkel (LB 47): Die Familienbeziehungen werden restituiert. Diese Umarmung leitet den Roman ein und verleiht ihm einen versöhnenden Tenor, der über die erlebte Teilung hinwegtrösten soll. Der durch staatliche Teilung forcierten Entfremdung wird die Umarmung beinahe triumphal entgegengehalten. Diese Geste, als Ausdruck einer drei Generationen umfassenden, naturalistischen und unanfechtbaren Brüderlichkeit, kann die Gemeinschaft der Ristenparts neu aufleben lassen und projiziert die tröstende Hoffnung auf Vereinigung auch auf die politische Teilungssituation. Die politische Teilungssituation wird auch in diesem Roman schmerzlich erfahren, die harmonisierende Brüderlichkeit kann, wie bei Heiduczek, über diese Teilung aber hinwegtrösten. Beide Romane zeigen einen außergewöhnlichen Zusammenhalt der allegorischen Bruderfiguren über Raum, Zeit und Staatsgrenze hinweg. Hier wird die heilsame Kraft einer nahezu magischen brüderlichen Einheit beschworen und der tatsächlichen Teilung der Staaten entgegengehalten. Sowohl die naturalistische und somit bedingungslose Brüderlichkeit bei Lattmann, als auch die fordernde Brüderlichkeit als moralische Aufgabe bei Heiduczek nähren die Idee politischer Einheit. Beide Romane literarisieren die Grenze durch die Brüderfiguration und erzählen zugleich über sie hinweg. Die Grenze wird als Trennlinie und auch als Kontaktzone gestaltet, als paradigmatische Struktur in den Romanen prägt sie das Erzählen in dieser Figurenkonstellation. Die Brüderkonfigurationen als Ausdruck idealisierter Harmonie Den beiden Werken von Heiduczek und Lattmann ist das Wechselspiel zwischen Einheit und Trennung gemeinsam, das idealiter in einer kompensatorischen Wiedervereinigung mündet. Die untersuchten Texte inszenieren eine naturalistisch begründete Harmoniebeziehung, die der politisch forcierten Spaltung der Brüderpaare entgegensteht.
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Beiden Texten ist die Brüderharmonie zu eigen, die die Brüderpaare nicht nur allegorisch lesbar macht, sondern auch eine politische Stoßrichtung vorgibt. Das kontroverse Konzept der Brüderlichkeit, 12 das Gesinnungsgemeinschaften imaginiert und bestehende Ordnungen destruiert, transzendiert familiäre Beziehungen und macht diese politisch nutzbar. Diese Nutzbarmachung wiederholt sich in der literarischen Gestaltung von Geschwisterpaaren in ost- und westdeutscher Literatur. Hoppe liest die genannten Brüderkonstellationen daher als »literarisches Gleichnis für die zumindest propagandistisch betriebene nationale Versöhnung der Deutschen«. 13 Diese allegorischen Geschwisterbilder werden der real weiter fortschreitenden Trennung der deutschen Staaten beiderseits der Grenze entgegengehalten. Die Teilung wird dabei in der Kompensation von Entfremdungserlebnissen miterzählt. Die Grenze selbst wird so in ihrer Dialektik sichtbar: sowohl die traumatische Teilung von Geschwisterpaaren als auch das harmonische Ideal der Einheit werden über die literarischen Geschwisterfiguren erzählbar. Die Geschwisterfiguration ermöglicht als literarisches Modell die Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Grenze. Diese Auseinandersetzung mit der Grenze und der Teilung findet freilich nicht nur durch harmonisierende Konstellationen statt, in der Vielzahl literarischer Geschwisterfiguren ragen besonders Brigitte Reimanns Geschwister heraus, hier werden unterschiedliche Implikationen der Geschwisterfiguration inszeniert. Brigitte Reimanns Geschwister – verschiedene Facetten der Verdopplung Brigitte Reimanns Erzählung Die Geschwister von 1963 gibt sich grundsätzlich als staatsloyaler Text, doch er erteilt der politischen Instrumentalisierung von literarischen Geschwistergestalten und der rhetorischen Formel der ›Brüder und Schwestern‹ eine deutliche Absage. Auch wenn Brigitte Reimann in der DDR gut etabliert war – ihr Roman Ankunft im Alltag prägte den Begriff der ›Ankunftsliteratur‹ –, lässt sie sich nicht als ›Staatsdichterin‹ pauschalisieren.
12 Vgl. dazu neben meinen Ausführungen in »Brüder und Schwestern« besonders Wolfgang Schieder, »Brüderlichkeit«; Jaques Derrida, Politik der Freundschaft; Eva Kreisky, »Brüderlichkeit und Solidarität. Maskuline Fahnenworte einer politischen Ethik der Moderne«, zitiert nach: http://evakreisky.at/onlinetexte/solidaritaet_kreisky.php Zuletzt eingesehen am 2.12.2016. 13 Rainer Benjamin Hoppe, Horizont aus Schlagbäumen, S. 81.
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Reimanns Erzählung Die Geschwister greift die Doppelungsfiguration von Geschwistern auf: Die Protagonistin Elisabeth ist überzeugte Sozialistin und arbeitet als studierte Malerin in einem Braunkohlekombinat. Dementsprechend schockieren sie die Pläne ihres Bruders Ulrich, der in den Westen gehen will, wo bereits der älteste Bruder Konrad lebt. Ostern 1961 offenbart Ulrich seine Fluchtpläne. Elisabeth möchte Ulrich mithilfe ihres Verlobten und Parteigenossen Joachim umstimmen; der Morgen der Abreise bietet die letzte Gelegenheit dazu. Im Verlauf der Erzählung reflektiert Elisabeth zunehmend zwar eigene Zweifel an der DDR, doch sie kämpft darum, ihren Bruder im Sozialismus zu halten. Die Reflexion politischer Standpunkte geht in der Erzählung mit der Schilderung unterschiedlicher Geschwisterkonstellationen einher. Bruder Konrad In der Erzählung werden die Brüder Ulrich und Konrad einander gegenübergestellt. Beide Brüder zieht es aus der DDR in den Westen. Konrad ist der älteste der Geschwister, zu dem die Protagonistin Elisabeth nie ein enges Verhältnis aufbauen konnte, er ist ihr »Bruder Ellenbogen-Mann«,14 eher Fremder als Bruder: »Ich hatte Konrad so gründlich vergessen oder zu vergessen mich bemüht, daß mir erst in dieser Minute einfiel: Heute vor zwei Jahren ist er weggegangen…« (G 32). Der durchweg als bürgerlich charakterisierte Konrad zeigte sich vor der Ausreise enttäuscht vom ostdeutschen Staat, der ihm eine große Wohnung und ein Auto versagte. Konrad und seine betont kultivierte Ehefrau sehen im Osten keine Alternative zu einem erfüllten bürgerlichen Leben im Westen. Bei einem Wiedersehen in Berlin wird sprichwörtlich das Tischtuch zwischen den Geschwistern zerschnitten, Elisabeth erinnert sich: »Seine Hände wie braune, glatte, gefräßige, geduckte Tiere…auf dem weißen Tischtuch…Die alte Ballade in der ein Vater zwischen sich und seinem Sohn das Tischtuch zerschneidet…ich stand auf. Es war vorbei, nicht nur für heute und morgen. Die unselige Grenze zerschnitt das weiße, damasten glänzende Tischtuch – der unsichtbare Schlagbaum, der mitten durch unsere Familie ging.« (G 59)
Die Staatsgrenze wird innerhalb der Familie deutlich spürbar und Elisabeth weigert sich, sich im Fall Konrad gegen diese Grenze zu stellen:
14 Brigitte Reimann, Die Geschwister, mit einem Nachwort von Karin McPherson, Berlin 2001, S. 37 und 39. Im Folgenden zitiert mit der Sigle G.
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»[…] ich sagte mir, daß die ganze Legende von Geschwisterliebe und Stimme des Blutes ein mystischer Unsinn sei; ich werde, dachte ich in zornigem Überschwang, einen Überläufer nicht in die Arme schließen, nur weil er zufällig mein Bruder ist.« (G 46)
Hier ist der Bruder zuallererst ein Überläufer, er ist politisch als ›Klassenfeind‹ markiert; das geschwisterliche Verhältnis ist hier nachrangig. Das harmonisierende Ideal einer naturalistischen Brüderlichkeit wird eindeutig abgelehnt. Auch eine freiwillige Verbrüderung mit dem Republikflüchtigen ist undenkbar. Der deutlich inszenierte Klassenunterschied zwischen der sozialistischen Elisabeth und dem bürgerlichen Konrad offenbart die Unmöglichkeit geschwisterlicher Einheit. Der notwendige Bruch der Geschwister wird gezeigt und geht mit einer Stabilisierung der Grenzziehung einher; eine Versöhnung des bürgerlichen Konrad mit der sozialistischen Elisabeth erscheint als undenkbar. Das Geschwisterpaar steht allegorisch für die deutsch-deutsche Teilung: Elisabeth und Konrad sind entlang der Grenze räumlich verortet und auch in ihrer Charakterisierung verkörpern sie jeweils einen der deutschen Staaten. Die Grenze wird durch diese Doppelungsfiguration deutlich als trennende Scheidelinie erzählt. Die drohende Ausreise des anderen Bruders, Ulrich, verweist dann allerdings auf die Komplexität nicht nur der Grenze, sondern auch von geschwisterlichen Beziehungen. Hier hat das Ideal der familiären Einheit Bestand, erweist sich aber als problematisch und als völlig anders als bei Heiduczek oder Lattmann. Bruder Ulrich In deutlichem Gegensatz zur Beziehung zu Konrad, ist das Verhältnis Elisabeths zu ihrem anderen Bruder Ulrich von zweideutiger Nähe bestimmt und widerstrebt der politischen Allegorisierung. Die Geschwister haben unzählige Kosenamen füreinander und empfinden Eifersucht auf potenzielle Partner des anderen. Nach außen wirken die Geschwister sogar wie ein Paar: »An einem Seitenblick, einem Lächeln merkten wir, daß andere uns für ein Liebespaar hielten« (G 17). Dennoch entfernt sich das Geschwisterpaar langsam voneinander. Ulrichs Beichte von der bevorstehenden Ausreise trifft Elisabeth unvorbereitet und erschüttert ihre Welt, wie »eine rasche, dunkle Drohung, wie an einem Sommertag, wenn plötzlich ein Schatten über die Sonne läuft, über den Himmel, über ein helles Kornfeld« (G 69). Ulrich zerstört die harmonisierte und idealisierte Illusion seiner Schwester, der unvermeidliche Bruch der Geschwister wird offenbar. Elisabeth fühlt sich »wie eine betrogene Frau« (G 182). Die geschwisterliche Nähe wird im Verlauf zunehmend als Reminiszenz entlarvt, an der Bruder und Schwester trotz der politischen Entfremdung festzuhal-
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ten versuchen. Die geschwisterliche Beziehung wird in diesem Fall idealisiert und gerät erst durch Ulrichs Fluchtpläne, sein politisches Handeln, in die Krise. Obwohl Ulrich im Gegensatz zum Bruder Konrad keine dezidiert bürgerlichen Züge trägt, müht Elisabeth sich vergeblich, ihn mit politischen Argumenten gegen die Ausreise und vom Sozialismus zu überzeugen. Als letztes Mittel schaltet Elisabeth ihren Verlobten und Parteifunktionär Joachim ein. Sie empfindet diesen Schritt selbst als Verrat an ihrem Bruder; Ulrich wird ihr nicht verzeihen. So bewegen am Ende des morgendlichen Gesprächs auch weder die verzweifelten Bemühungen Elisabeths noch die lehrbuchhafte politische Agitation Joachims Ulrich dazu, seine Koffer wieder auszupacken, sondern allein die Angst vor der Fahndungsliste.15 Geradezu hilflos muss Elisabeth die Entfremdung von ihrem enttäuschten Bruder akzeptieren, weder Nostalgie, noch politische Argumente können diese Beziehung noch retten. In dieser Erzählung wird die Besonderheit dieser Bruder-Schwester-Beziehung herausgestellt. Im Gegensatz zu Konrad ist Ulrich wirklich zutiefst mit Elisabeth verbrüdert, ihre Beziehung gründet sich nicht nur auf Blutsverwandtschaft, sondern auf Freundschaft, die ehemals gemeinsame Überzeugung vom Sozialismus und die große emotionale Nähe.16 Diese freundschaftliche Geschwisterbeziehung, die über die Idee gegebener Einheit hinausgeht, wird von der politischen Agitation durch Joachim massiv gefährdet. Ulrich formuliert schließlich in seinen letzten Worten auch eine politische Kritik: »Was seid ihr bloß für Menschen?« (G 183). Trotz aller offenkundigen Bemühungen um politische Überzeugungskraft im Roman kann dieser nicht mit einer überzeugenden Solidarisierung mit dem ostdeutschen Staat enden. Ulrichs Entscheidung zu bleiben, ist der Ausdruck einer Krise. Die Politik dominiert private Beziehungen und zerstört die Geschwisterbeziehung nachhaltig, am Ende der Erzählung ist die Einheit von Ulrich und Elisabeth lediglich eine räumliche.
15 Vgl. G 181. 16 Zum gesellschaftskritischen Potential dieses latenten Inzestmotives vgl. Withold Bonner, »Ankunft im Inzest. Geschwisterliebe in den Texten von Brigitte Reimann«, in: Roswitha Skare und Rainer Benjamin Hoppe (Hgg.), Wendezeichen? Neue Sichtweisen auf die Literatur der DDR, Amsterdam, Atlanta 1999 (=Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik Bd. 46), S. 135–149. Der inszenierte Inzestwunsch sei »Ausdruck des Verlangens nach Unordnung bzw. einer Gegenordnung«, ebd., S. 143f. Insofern ist neben der offenen Kritik Ulrichs auch eine latente Kritik an Staat und Gesellschaft durch Elisabeth anzunehmen.
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Die Doppelungsfiguration der Geschwister hat bei Reimann keine heilsame Kraft, die allein durch die familiäre Bindung Gemeinschaft stiftet und die Grenze überwindet, wie es noch bei Heiduczek und Lattmann ausgeführt wird. Statt der naiven Postulierung von geschwisterlicher Einheit gestaltet Reimanns Erzählung anhand der Geschwisterpaare die politische Grenze als Inbegriff der Teilung, die über allem steht. In dem Verhältnis von Elisabeth zu Konrad wird die ideologische Grenzziehung bestätigt, das Geschwisterpaar erscheint als gespalten, der bürgerliche Konrad und die sozialistische Elisabeth stehen sich konträr gegenüber; unschwer sind die beiden als Allegorien auf die deutsche Teilung lesbar, die im ersten Teil der Erzählung bestätigt wird. Die Spaltung des Geschwisterpaares erzählt ebenso schlicht von der Grenze, wie die Brüder bei Heiduczek und Lattmann, nur, dass bei Reimann der Akzent auf der Teilung statt auf der Einheit liegt. Etwas komplexer ist die Gestaltung des Geschwisterpaares Elisabeth und Ulrich. Beide sind überzeugte Sozialisten, beide leben in der DDR. Ihre Beziehung ist innig, sie verkörpern eine ideelle Einheit. Vor dem Hintergrund der engen freundschaftlichen Beziehung zwischen Elisabeth und Ulrich erschient die Grenze schließlich als besonders schmerzhaft, die politische Teilung spaltet auch das Geschwisterpaar, mit dem Ausspruch »Was seid ihr bloß für Menschen« [Kursivierung J.G.] nimmt Ulrich sich aus der sozialistischen Gemeinschaft aus. In der Auseinandersetzung mit der Zweistaatlichkeit trennt sich das Geschwisterpaar aus politischen Gründen, die Grenze wird zum movens des Bruches. Nur aufgrund familiärer Beziehungen kann keine Einheit der Geschwister hergestellt werden, es findet eine Absage an naturalisierte Geschwisterallegorien statt. 17 Darüber hinaus ist auch die Einheit der politischen Gemeinschaft in Frage gestellt. Ulrich wendet sich begründet von der sozialistischen Gesellschaft ab, sein Verbleib in der DDR ist ein erzwungener. Reimanns zweite geschwisterliche Dopplungsfiguration enthält eine Kritik an dem naturalisierten Ideal der Einheit, wie Heiduczek und Lattmann es feiern. Diese komplex gestaltete Geschwisterfiguration gründet auf einer differenzierten Auseinandersetzung mit der Grenze.
17 Diese Tendenz zur Desillusionierung lässt sich auf Reimanns biographischen Hintergrund zurückführen: Anlass des Schreibens dieser Erzählung war die Ausreise von ihrem Bruder Lutz kurz vor dem Mauerbau, der die Trennung der Geschwister besiegelte. Vgl. Brigitte Reimann, Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955–1963, Berlin 1998, S. 140.
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Deutsch-deutsche Brüderlichkeit/Geschwisterlichkeit Die verschiedenen behandelten Texte enthalten Figurenkonstellationen, die auf grenzüberschreitenden Geschwisterbeziehungen basieren, und die mit der Grenze und mit der politischen Brüderlichkeitsrhetorik kontextualisiert werden können. Während der gesamten Zeit der deutsch-deutschen Teilung taucht eine harmonisierende Inszenierung der Brüderkonstellation auf. Die naturalisierte Einheit deutsch-deutscher Brüderpaare spiegelt häufig die Idee von Einheit wieder, die auch durch die Zweistaatlichkeit nicht anfechtbar ist. Das differenzierende Potenzial der Grenze wird ignoriert, bzw. eine harmonisierende Gegenerzählung aufgebaut. Das wird besonders an den Beispielen von Heiduczek und Lattmann deutlich. Nicht ohne Pathos wird die heilsame Kraft deutsch-deutscher Brüder der staatlichen Teilung entgegengehalten; selbst ideologische Differenzen vermögen keine endgültige Trennung der Brüder herbeizuführen. Diese allegorischen Figuren senden offensichtlich harmonisierende Signale. Neben die harmonisierende Lesart wird die Kritik daran gestellt: Bei Reimann wird deutlich, dass die familiäre Bindung nicht zu einer politischen Einheit transzendiert werden kann. Die natürliche Verbindung hält der politischen Teilung nicht stand. In Bezug auf Konrad ist diese Lesart offensichtlich. Doch auch in Bezug auf den Bruder Ulrich ist die familiäre Bindung dem politischen Druck nicht gewachsen, Ulrich bleibt räumlich in der DDR, der Bruch der Geschwister ist aber unabwendbar. Letztlich wird hier die Idee der Brüderlichkeit problematisiert: Wenn Familienbeziehungen politisiert und instrumentalisiert werden, verliert das brüderliche Konzept selbst an Tragfähigkeit. Diese Kritik an der Instrumentalisierung findet sich implizit auch in Jaques Derridas Ausführungen zur Brüderlichkeit: »Die wahre Brüderlichkeit, die Brüderlichkeit in der eigentlichen Bedeutung des Worts, ist derart die universale, geistige, symbolische, unendliche, die beschworene Brüderlichkeit, die Schwurbruderschaft etc. – und nicht die Brüderlichkeit in der strikten Bedeutung, der des ›natürlichen‹ Bruders (als gäbe es dergleichen jemals), des männlichen Bruders im Gegensatz zur Schwester, des determinierten Bruders innerhalb dieser bestimmten Familie, dieser bestimmten Nation, dieser bestimmten Sprache.«18
Die der politischen Rhetorik angepassten Geschwisterfiguren in der Literatur sind schließlich »determinierte« Brüderfiguren, die keine universale humane
18 Jaques Derrida, Politik der Freundschaft, S. 323.
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Brüderlichkeit auf ethischer Basis beschwören sollen, sondern lediglich staatspolitische Interessen verdeutlichen. Reimanns Roman ist die Kritik an dieser Ausbeutung des brüderlichen Ideals inhärent; der Instrumentalisierung des brüderlichen Ideals wird eine Absage erteilt. Gemeinsam betrachtet bieten die verschiedenen Gestaltungen der Geschwisterfiguration in der deutsch-deutschen Literatur der Grenze ein komplexes Bild. Geschwisterfiguren werden auf verschiedene Arten dargestellt und ermöglichen unterschiedliche Wege, die deutsch-deutsche Grenze zu literarisieren, die sich zwischen idealistischer Harmonisierung, schlichter Allegorisierung und komplexer Kritik an der Instrumentalisierung des geschwisterlichen Ideals verorten lassen. Trotz der Unterschiede, sind die untersuchten Texte in der Gestaltung der Geschwisterfiguren als Doppelungsfiguration geeint. Die Verdoppelung überträgt die dualistische Ordnung des so genannten Kalten Krieges auf die literarischen Figuren. Mithilfe der Geschwisterfiguration wird also die Teilung selbst erzähl- und verhandelbar. Die Geschwisterkonfiguration steht dabei im Kontext der Tradition des Doppelgängermotivs, das verschiedene Ausprägungen gefunden hat. Ausgehend von dieser Tradition werden in der deutsch-deutschen Literatur der Grenze weitere Doppelungsfigurationen entwickelt, wie im Folgenden gezeigt wird.
ZUR TRADITION VON VERDOPPELUNGEN Der Komplex der Doppelung ist, wie auch der Blick auf die Geschwisterkonstellation gezeigt hat, eng mit der literarischen Tradition des Doppelgängermotivs verwandt. Die Figur des literarischen Doppelgängers, als zweites Ich oder als eine alternative Version des Selbst, kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Es ist eine kulturelle Konstante, die in verschiedenen Diskursen eine große Verbreitung findet. Durch die Motivik der Verdoppelung werden diverse Themen aufgegriffen: »Die Frage nach dem Ganzen, dem Ungeteilten, dem Individuum, der Individualität, der Subjektivität, die Frage nach der Wahrnehmung wie die Frage nach der Selbstwahrnehmung, nach der Identität, nach dem Ich, nach dem Subjekt ist aufgeworfen neben
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den anderen, eng verwandten Themen, die da sind: der Schatten, der Spiegel, der Zwilling, die ungleichen Brüder, das Alter ego, Echo, usw., usf.«19
Die früheste Beschreibung des Doppelgängers stammt von Jean Paul, er definierte wie folgt: »Doppeltgänger. So heißen Leute, die sich selber sehen.« 20 Diese relativ enge Definition, die auf der visuellen Wahrnehmung beruht, wurde in der Literatur und der Wissenschaft vielfach erweitert: Auch die Projektion des Selbst auf eine andere Person, also die synästhetische Wahrnehmung oder Imagination eines Doppels, entspricht einer Doppelgängererfahrung, ebenso wie die Spaltungserfahrung einer Figur. Ingrid Fichtner schließt daher die Schatten, Spiegelbilder und Echos konsequenterweise mit in die Betrachtung ein. Verschiedene Deutungsansätze des Doppelgängermotivs 21 gruppieren sich um die Frage nach der Identität, dem eigenen Ich, der eigenen Seele, und damit einhergehend auch mit der eigenen Verortung in der Gesellschaft. Die Suche nach alternativen Lebensentwürfen etwa kann durch eine Doppelgängerbegegnung evoziert werden: Die sicher geglaubte soziale Verortung wird durch diese Begegnung in Frage gestellt. Auch nach innen gerichtet regt eine Doppelgängerbegegnung zur Reflexion an: Durch die Begegnung mit einem anderen Selbst, bzw. durch das Erkennen seiner selbst in jemand anderem, wird das Subjekt zum Objekt. Das Doppelgängermotiv evoziert reflexive Modi in der Literatur. Darüber hinaus wird dem Doppelgänger auch poetologisches Potenzial zugesprochen. Andrew Webber sieht das Motiv begleitet von der Dynamik von »return and repetition«, der Doppelgänger »plays a constitutive role in the structuring of its texts, by doubling them back upon themenselves.« 22 Zum einen forme der Doppelgänger den Text entscheidend mit, etwa durch die paradigmatische Häufung von Doppelungsphänomenen, zum anderen sei Literatur durch den Doppelgänger selbstreflexiv. Einerseits geschieht das durch die lange Motivtradition: Eine Doppelgängergeschichte evoziert immer Prätexte. Anderer-
19 Ingrid Fichtner, »Als Vorwort«, in: Dies. (Hg.), Doppelgänger. Von endlosen Spielarten eines Phänomens, Bern, u.a. 1999, S, vii. 20 Jean Paul, »Siebenkäs«, in: Ders., Sämtliche Werke, Abteilung I, Bd. 2, hg. von Norbert Miller, München 1999, S. 66f. (In der Fußnote) 21 Einen guten Überblick über die motivgeschichtliche Entwicklung bieten Sven Herget, Spiegebilder. Das Doppelgängermotiv im Film, Marburg 2009, und auch Gerald Bär, Das Motiv des Doppelgängers,. Zentral ist weiterhin die Untersuchung von Andrew J. Webber, The Doppelgänger. Double Visions in German Literature, Oxford 1996. 22 Ebd., S. 4.
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seits verweist eine Doppelgängergeschichte stets auf sich selbst; dem Doppelgänger ist das mis-en-abyme inhärent, in dem das Subjekt zum eigenen Objekt wird. 23 Doppelgängergeschichten sind außerdem von Wiederholungs-, bzw. Doppelungsstrukturen durchzogen,24 die nun mit der Grenze, bzw. der deutschdeutschen Grenze kontextualisiert werden. Die Grenze und der Doppelgänger prägen das Schreiben auf eine ähnliche Weise, ihr poetisches Potenzial greift ineinander. Dazu ist es hilfreich die Konzeption des Doppelgängermotivs nach Chava Eva Schwarcz zu berücksichtigen. Schwarcz stellt das Potenzial des vielfach aktualisierten Motivs heraus. Das Motiv des Doppelgängers gründe auf einem dualistischen Paradigma. Dualistische Erzählmuster können auch alternative, bzw. konkurrierende Lebensentwürfe aufzeigen: Der Doppelgänger bilde das eigene als ein anderes Leben ab. Schwarcz nun tritt den Versuch an zu zeigen, »daß das Doppelgänger-Motiv nicht nur Ausdruck einer dualistischen Weltanschauung ist, sondern auch der Versuch diesen Dualismus zu überwinden und zu kompensieren.« 25 Der Doppelgänger als Figuration des Selbst im Anderen vereint dabei »Gleichheit und Gegensätzlichkeit«. 26 Anhand von Thomas Manns Novelle Die vertauschten Köpfe zeigt Schwarcz auf, wie das Motiv den Weg vom Abbild der Zerrissenheit hin zum »Symbol der kontemplativen Ganzheit«27 nimmt. Auch Gerald Bär erkennt diesen Zusammenhang an und stellt den Doppelgänger in die »Tradition der triadischen Phantasie von Einheit, Trennung und Wiedervereinigung«.28 In der Figur des Doppelgängers lässt sich so neben einer krisenhaften Identität, der Persönlichkeitsspaltung, eben auch eine Zugehörigkeit zu dem Anderen erzählen. Diese Lesart entspricht der Dialektik der Grenze, die sowohl trennend als auch verbindend wirken kann, daher verwundert es nicht,
23 Ebd., S. 6. 24 Den Beweis für E.T.A. Hoffann tritt etwa Bettina Schäfer an: »Die Spaltungs- und Doppelungsfigur in den Abenteuern einer Sylvester-Nacht wird zur Spaltungs- und Doppelungsfigur des Textes selbst.«, in: Dies., »Die Abenteuer der Sylvester-Nacht«, in: E.T.A. Hofmann Jahrbuch (2007), S. 77–85. In der vorliegenden Arbeit wurden textkonstituierende Doppelungen etwa bereits in Arno Schmidts Steinernem Herzen thematisiert. 25 Chava Eva Schwarcz, »Der Doppelgänger in der Literatur. Spiegelung, Gegensatz, Ergänzung«, in: Ingrid Fichtner (Hg.), Doppelgänger (wie Anm 290), S. 1–14, hier S. 8. 26 Ebd., S. 13. 27 Ebd., S. 12. 28 Gerald Bär, Das Motiv des Doppelgängers, S. 434.
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dass das traditionsreiche literarische Motiv auch in der Literatur der Grenze eine Rolle spielt, wie anhand der Geschwisterfiguren bereits gezeigt werden konnte. Der Doppelgänger ist an der Grenze gut aufgehoben, 29 in Bezug auf die deutsch-deutsche Grenze erscheint er in der Literatur aus der DDR, aus der BRD und auch in der Literatur nach 1989/90. Catherine Smale betont, dass das Motiv in der Literatur des geteilten Deutschland und in der Literatur nach 1989 zwar zu finden ist, die wissenschaftliche Aufmerksamkeit aber kaum erregen konnte. 30 Smale betont, wie auch Schwarcz und Bär, dass das Doppelgängermotiv Oppositionen sowohl aufbaut, als auch permanent in Frage stellt. 31 Zudem betont sie das selbstreflexive Potenzial des Motivs. Der Doppelgänger zeige eine »kontrafaktische Wirklichkeit« auf, also eine neue Version dessen, was ist und was hätte sein können. Die deutsch-deutsche Grenze kann in der Literatur zur Grenze zwischen zwei Lebensentwürfen einer Person werden. Die Überschreitung der Grenze macht diese Doppelungserfahrung erzählbar. Die politische Topographie wird literarisch fruchtbar gemacht. Im Folgenden wird der Untersuchung der Geschwisterfiguration die Beschäftigung mit zwei weiteren Verdoppelungen zur Seite gestellt. Klaus Schlesingers »Die Spaltung des Erwin Racholl« inszeniert die psychologische Spaltung des Protagonisten als Doppelungsfiguration. Wie auch die anderen Texte, ist die Erzählung von paradigmatischen Verdoppelungen getragen, die eng mit der deutsch-deutschen Grenze verbunden sind. Als deutsch-deutsche Erzählung geht Schlesingers Text aber über eine Allegorisierung der Teilung hinaus und formuliert präzise Gesellschaftskritik. Der Komplex der literarischen Verdoppe-
29 Es sei auf Clemens Brentanos Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter von 1871 verwiesen: Hier wird bereits eine Grenze für das Spiel mit dem Motiv fruchbar gemacht. Über einen Pestkordon hinweg wird die Identität des Malers Wehmüller gestohlen. Zugleich wird an dieser ›Pestgrenze‹ ein Novellenkreis etabliert: Verschiedene Figuren erzählen Schauergeschichten. Hier hat nicht nur der Doppelgänger an der Grenze einen literarischen Vorläufer, auch die Generierung von Geschichten an der Grenze findet einen frühen Beleg. 30 Catherine Smale, »›Wir sind wie Spiegel‹ Irina Liebmann und der Doppelgänger«, in: Martin Doll, Rupert Gaderer, Fabio Camiletti und Jan Niklas Howe (Hgg.), Phantasmata. Techniken des Unheimlichen, Wien, Berlin 2011, S. 203–217. Catherine Smale verweist auch die Arbeiten von Gerald Bär und auf Christof Forderer, Ich-Eklipsen. Doppelgänger in der Literatur seit 1800, Stuttgart 1999. Berücksichtigt werden Werke von Günther Grass, Klaus Schlesinger und Wolfgang Hilbig. 31 Vgl. Catherine Smale, »Wir sind wie Spiegel«, S. 217.
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lungen wird mit dem Sonderfall des Alter Egos abgeschlossen. In Thorsten Beckers Die Bürgschaft versuchen zwei deutsch-deutsche Freunde sich im Rollentausch über die Grenze hinweg. Diese Version der Verdoppelung setzt sich mit dem Identitätstausch auseinander, die Grenze wird gerade durch den Austausch als trennend erfahren. Wie zu zeigen ist, gelingt es dem Text zusätzlich durch bestimmte Erzählstrategien Ost und West in einen gemeinsamen Diskurs zu stellen.
KLAUS SCHLESINGER: DIE SPALTUNG DES ERWIN RACHOLL Klaus Schlesinger (1937-2001) publizierte seit den 1960er Jahren in der DDR und engagierte sich für die Literatur in der DDR ebenso wie für grenzüberschreitende Projekte mit der Zielsetzung, einen literarischen Dialog in beiden deutschen Staaten zu stiften.32 Die Figur des ostdeutschen Schriftstellers Pommerer aus Peter Schneiders Der Mauerspringer, die den westdeutschen Erzähler intensiv am Leben in Ostberlin teilhaben lässt und zwei der Mauerspringergeschichten erzählt, basiert auf Klaus Schlesinger.33 Auch zählt Schlesinger zu den ersten Unterzeichnern der Petition gegen die Biermann-Ausbürgerung 1976 und so verwundert es nicht, dass die Staatssicherheit auf Schlesinger aufmerksam wurde, er hatte zunehmend mit Schwierigkeiten zu kämpfen und wurde 1979 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, womit seiner Arbeit als Schriftsteller in der DDR de facto ein Ende gesetzt wurde. 34 In der Konsequenz siedelte Schlesinger dann in die BRD über. Biographisch ist Schlesinger also ein deutsch-deutscher Schriftsteller, der sich mit der Teilungsproblematik nicht nur literarisch auseinandergesetzt hat.
32 Schlesinger wirkte bei der Veranstaltungsreihe »Eintopp« mit, ebenso wie ab 1974 bei grenzüberschreitenden literarischen Treffen in der Ständigen Vertretung der BRD. Vgl. Daniel Argelès, Astrid Köhler und Jan Kostka, »Einleitung. Berliner Autor und Berlin-Autor«, in: Dies. (Hgg.) Leben in Berlin – Leben in vielen Welten. Klaus Schlesinger und seine Stadt, Berlin-Brandenburg 2012. S. 7–34, hier S. 14f. 33 Vgl. z.B. Astrid Köhler, »Klaus Schlesinger. Nachdenken über Geschichte« in: Dies. Bückenschläge. DDR-Autoren vor und nach der Wiedervereinigung, Göttingen 2007, S. 49–74, hier S. 68. 34 Joachim Walther, Sicherungsbereich Literatur, bes. S. 300ff. Vgl. auch Klaus Schlesinger, »›Eine Art Beweisnotstand‹ Aus dem Tagebuch Mit einer Vorbemerkung von Astrid Köhler«, in: Sinn und Form 3 (2014), S. 323–343.
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Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass Schlesinger noch 1977 den Band Berliner Traum 35 in der DDR publizieren konnte, 36 in dem fünf Erzählungen über das geteilte Berlin enthalten sind. So wird etwa in »Am Ende der Jugend« vom tabuisierten Mauerbau erzählt und »Die Spaltung des Erwin Racholl« ist eine kritische Abrechnung mit der DDR-Gesellschaft. Edith Toegel bezeichnet Berliner Traum daher zu Recht als Schlesingers »most controversial work«. 37 In der DDR war der Band schon 1978 vergriffen und wurde kritisch rezensiert: Gängige Vorwürfe sind grundlegender Pessimismus, die negative Figurenzeichnung – der klassische sozialistische Held fehle – und die unparteiische Erzählhaltung. Der Band distanziere sich so von den Vorgaben des sozialistischen Realismus; selten wird der Realitätsbezug positiv hervorgehoben.38 Mit »Die Spaltung des Erwin Racholl« eröffnet die längste Erzählung den Prosaband. Erzählt wird von dem 35-jährigen Berliner Angestellten, der am Tag seines Geburtstages von einer unerwarteten Beförderung erfährt. Als er am folgenden Tag mit der U-Bahn zur Arbeit fahren will, schläft er ein und gerät unversehens in den Westteil der Stadt. Racholl irrt zunächst durch die Straßen um dann in einer Kneipe auf eine Versammlung zu treffen, die sein Vorgesetzter Leo seinetwegen abhält. Wie in einem Gerichtsprozess muss Racholl nun Rede und Antwort stehen und gibt Auskunft über sein Leben; dabei treten einige Unregelmäßigkeiten zu Tage. Neben Schieberei und der Teilnahme an den Demonstrationen vom 17. Juni 1953, wird Racholl besonders wegen der Beihilfe zur Ausreise seines Freundes Johannes Merten befragt. Überraschenderweise
35 Klaus Schlesinger, »Die Spaltung des Erwin Racholl«, in: Ders., Berliner Traum, Frankfurt a.M. 1980, S. 7–101, im Folgenden zitiert mit der Sigle Sp. 36 Zur Publikationsgeschichte vgl. Kirsten Thietz »Zwischen Auftrag und Eigensinn. Der Hirnstorff-Verlag in den 60er und 70er Jahren«, in: Birgit Dahlke, Martina Langermann und Thomas Taterka (Hgg), LiteraturGesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre Geschichten, Stuttgart, Weimar 2000, S. 240–274, bes. S. 259ff. 37 Edith Toegel, »Terrible Alternatives. Dilemma and Character in Klaus Schlesinger’s Works«, in: Colloquiua Germanica 23 (1990), S. 17–32, hier S. 17. 38 Vgl. Ausführlich zur Rezeptionsgeschichte: Angelika Winnen, Kafka-Rezeption in der Literatur der DDR. Produktive Lektüren von Anna Seghers, Klaus Schlesinger, Gert Neumann und Wolfgang Hilbig, Würzburg 2006, S. 114ff. Außerdem die Darstellung von Kirsten Thietz, die eine Teilung der DDR-Kritik konstatiert: »Während die eine Argumentationslinie den alten Kanon zementieren will und diese Texte Schlesingers ausdrücklich ausgeschlossen wissen möchte, bemüht sich die andere um einen Begriff des sozialistischen Realismus, der Texte dieser Art einschließt.« Dies., »Zwischen Auftrag und Eigensinn«, S. 262.
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fällt das Urteil zu Racholls Gunsten aus: Alle Vergehen seien der Versammlung, also der Partei, bekannt gewesen und spielten keine Rolle für die Zukunft. Racholls Beförderung stehe nichts im Wege, im Gegenteil: »Auf die Dauer kann niemand seinem Aufstieg entweichen« (Sp 97). Racholl erlebt die Versammlung und besonders das Urteil als verstörend. Er stellt seine Identität als staatsloyaler Bürger der DDR zunehmend in Frage, er sieht sich »als zwei völlig verschiedene Personen, die [er] beim besten Willen nicht in Übereinstimmung bringen kann« (Sp 95). Racholl flieht aus der Kneipe und findet sich unversehens in der U-Bahn wieder, in die er morgens wie üblich eingestiegen war. Es bleibt dabei offen, ob die Versammlung nur Traumgeschehen war, 39 denn in der Begegnung mit den anderen Fahrgästen erfährt er erneut seine eigene Spaltung: »Der Mann ließ die Zeitung sinken. Racholl war nicht erstaunt, sich selbst zu sehen« (Sp 101). Die Spaltung, als eine Variante der Verdopplung, erscheint hier auf den ersten Blick als peripher, am Schluss des Textes; als strukturelles Paradigma ist die Verdopplung im Text aber virulent. Die Spaltung selbst ist als Spiegelung der politischen Situation in der geteilten Stadt Berlin lesbar und auf die Gesellschaft übertragbar. 40 Durch die irritierende Spaltung wird von der deutsch-deutschen Teilung durch die Grenze erzählt; der Kontext der Teilung ist offensichtlich. Im Folgenden wird gezeigt, dass die Grenze auch hier das strukturbildende Moment bildet. Die Erzählung Schlesingers baut auf einem Paradigma der Doppelung auf.41
39 Mit den ersten Rezensionen und wissenschaftlichen Beiträgen wird auf die intertextuelle Nähe zu Kafka verwiesen, vgl. Angelika Winnen, Kafka-Rezeption, S. 117f. 40 Vgl. Linda Thomas »Racholl’s division is a mental manifestation of the physical split of his city and country. That this is a fate shared by his fellow citizens is evidenced by the incident on the subway at the end of the story when he sees himself in the passenger sitting opposite him.« Dies., »Erwin Racholl – A GDR Joseph K.?«, in: Studies in GDR Culture and Society 2 (1982), S. 165–175, hier S. 173. Auch Christine Cosentino konstatiert: »Das im Doppelgängermotiv sich spiegelnde Problem quälender Schizophrenie und Entfremdung im geteilten Deutschland betrifft nicht nur ihn allein.« Dies., »›Meditativer Halbschlaf‹. Kafkaeske Paradoxien in Klaus Schlesingers Roman Trug«, in: Christine Cosentino, Wolfgang Ertl und Wolfgang Müller (Hgg.), An der Jahrtausendwende. Schlaglichter auf die deutsche Literatur, Frankfurt a.M. 2003, S. 29–38, hier S. 34. 41 Angelika Winnen verwendet den Terminus »Paradigma der Spaltung bzw. Doppelung« zuerst, in einer Fußnote. Dies., Kafka-Rezeption, S. 148, Fußnote 366. Im Rahmen der umfangreichen Untersuchung produktiver Kafka-Lektüren kann sie diesem
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Das Paradigma der Doppelung Die Erzählung gipfelt in der Spaltung des Protagonisten, einem Sinnbild der Verdopplung; diese Klimax wird durch die paradigmatischen Verdopplungen in der Erzählung vorbereitet. Der Text beginnt mit Racholls Irrfahrt in den Westen: In der U-Bahn begegnet er zwei Männern, die hinter ihren Zeitungen versinken und die auch in der zweiten U-Bahnfahrt, am Ende der Erzählung, wieder in der U-Bahn sitzen – hinter anderen Zeitungen. Die Schlagzeilen, die Racholl in der verdoppelten Situation liest, dienen dabei als Marker für den Staat in dem er sich gerade befindet. Zu Beginn der Irrfahrt liest Racholl westdeutsche Überschriften, die sich als reißerisch charakterisieren lassen und nahelegen, dass es sich um die westdeutsche BILD-Zeitung handelt: Es »fiel ihm auf, daß auch die Zeitungen ungewohnt bunt und großbuchstabig aufgemacht waren. Schmerzhaft sprangen Racholl die balkenartigen Lettern in die Augen, und er las: Zwei Männer ertränkten junge Berliner Mutter im Wannsee!« (Sp 14). Das Gegenstück zu diesen Schlagzeilen erscheint konträr dazu am Ende der Erzählung: »Racholl beugte sich vor und las, daß ein großes Stahlwerk den Planvorlauf um 20 000 Tonnen vergrößern wolle« (Sp 101). Mit der ersten U-Bahn fährt Racholl ungewollt in den Westen, die Bahn hält nicht wie gewohnt an der Haltestelle »Thälmannplatz«, sondern fährt durch bis zum »Potsdamerplatz«. Dort gelingt es Racholl nicht auszusteigen, er ist unfähig die Beine zu bewegen (vgl. Sp 16f). Erst an der nächsten Haltestelle, »Gleisdreieck«, kann Racholl die Bahn verlassen. Racholl stellt unmittelbar nach Ausstieg fest, dass er sich auf einem so genannten Geisterbahnhof befindet. Seit dem Mauerbau vor dreizehn Jahren42 ist der Bahnhof stillgelegt. Der Bahnhof, den Racholl ja als Ankunftsbahnhof noch benutzen konnte, stellt sich gleichzeitig als »Ruine« (Sp 19) heraus, die zur Rückfahrt Racholls eben nicht mehr taugt. Der Bahnhof selbst stellt eine Verdoppelung dar, indem in der Ruine die Kontrafaktur des betriebenen Bahnhofes präsent ist. Hier deutet sich in der Pluralität der Zeitebenen eine weitere Dimension der Doppelungen an. Es ist nicht verwunderlich, dass Racholl auf seine Ankunft in Westberlin mit umfassender Orientierungslosigkeit reagiert:
Paradigma aber nicht weiter nachgehen. Im Kontext der deutsch-deutschen Literatur der Grenze ist dieses Paradigma der Doppelung aber von immenser Bedeutung. 42 Der Erzählzeitpunkt der Erzählung ist der April 1974.
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»Er stand auf dem Gehsteig einer Straße, die er vorher noch nie gesehen hatte. Wieder dachte er: Zurück! Du mußt doch zurück!, aber er wußte nicht wohin er sich wenden sollte auf dieser unbekannten Straße, die breit und einladend vor ihm lag, mit hohen Häusern von gewagter Architektur und schreiend farbigen Fassaden.« (Sp 19)
Auf der Suche nach dem Stadtzentrum als Orientierungspunkt, verläuft sich Racholl weiter in Westberlin, sein Irren wird adäquat in hypotaktischen Satzverläufen nachgezeichnet: »Erleichtert stieß Racholl die Luft aus den Lungen und formulierte, während er in angedeutetem Dauerlauf über das Steinpflaster trabte, an einer plausiblen Entschuldigung, die er dem Genossen Leo [seinem Vorgesetzen] angeben konnte, verweilte kurz bei den üblichen Katastrophen, wie Wasserrohrbuch oder Krankheit eines seiner Kinder, schüttelte im Laufen den Kopf als er sich die Reaktion des Genossen Leo vorstellte […]Und was wäre, fragte er sich und wischte den Schweiß von der Stirn, was wäre, wenn du sagtest, wie es tatsächlich gewesen ist?, wies den Gedanken aber gleich wieder von sich, so phantastisch schien er ihm, und konzentrierte sich auf das nächstliegende Ziel, aber wie weit er auch schon gelaufen sein mochte, er fand kein Anzeichen, daß er sich seinem Teil der Stadt genähert haben könnte. Im Gegenteil, noch fremder schienen ihm die Straßen, das Menschengewimmel noch dichter, und wenn auch die gelben Hinweisschilder die Vermutung rechtfertigten, er befinde sich auf dem richtigen Weg, so kam ihm doch weder das neue, steil aufragende Hotel am Alexanderplatz noch der Fernsehturm ins Blickfeld.« (Sp 21)
Racholl verirrt sich weiter in den Straßen Westberlins, das Zentrum scheint ihm unerreichbar. Racholl erkennt schließlich in der deutschen Zweistaatlichkeit den Grund seiner Orientierungslosigkeit: Auf der Suche nach dem Zentrum in Westberlin, hat er sich vom Ostberliner Zentrum zwangsläufig entfernt, »schließlich hatte er es mit zwei Städten zu tun, also auch mit zwei Stadtzentren; je beharrlicher er jenen Schildern gefolgt war, je weiter hatte er sich von seinem Ziel entfernt« (Sp 22).43 Auch die Orientierungslosigkeit hat offenbar ihre Ursache in der geteilten Topographie. Begleitet wird dies durch die paradigmatischen Verdoppelungen, die einen literarischen Ausdruck der Grenze darstellen.
43 Die Beobachtung der Stadt mit zwei Zentren finden wir auch in Peter Schneiders Mauerspringer, der für Berlin den Begriff der »siamesischen Stadt« prägt, in dem die Doppelung quasi organisch angelegt ist.
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Racholl begegnet verschiedenen Doppelgängerfiguren. Auf der Straße trifft er einen Mann, der dem anonymen »Nachtpförtner seiner Dienststelle« (Sp 24)44 zum Verwechseln ähnlich sieht und in Rätseln spricht, die in Racholl die Erinnerung an den illegal ausgereisten Freund Johannes Merten wachruft. Racholl weicht dieser Nachtwächter-Figur aus und kommt so zufällig zu der Kneipe, in der er von der Versammlung erwartet wird. In der Kneipe setzt sich die Akkumulation der Doppelgänger fort: Racholl erkennt die Kneipe von früher wieder, erinnert sich wieder an Johannes und an den alten jüdischen Wirt. Diesen Wirt erinnert er als Erwin Adler, der neue Wirt hingegen beharrt darauf, der Mann hieße Silbermann (vgl. Sp 27f). Hier, ebenso wie bei der Szene mit dem Nachtpförtner, deutet sich an, dass die Figuren der Erzählung zu Verdoppelungen neigen. Racholl wird mit Beginn der Versammlung seinem Vorgesetzten Leo als Vorsitzenden der Versammlung wiederbegegnen und auch ein jüngerer Kollege taucht in einer neuen, feindseligen Rolle wieder auf. Mit den Erinnerungen an Johannes wiederholt sich die Aufspaltung der Zeitebenen der Erzählung: Neben der Gegenwart, die als halluzinatorische Irrfahrt gestaltet wird – Racholl zweifelt ob er wach sei oder träume –, scheinen Erinnerungen an die Zeit vor dem Mauerbau auf. Die oszillierende Doppelstruktur des Bahnhofes »Gleisdreieck« wird in den weiteren Verlauf der Erzählung transponiert und auf die zeitliche Struktur übertragen: in der Gegenwart bleibt die Vergangenheit präsent. Räumliche, figurative und zeitliche Verdopplungen erscheinen in der Erzählung als paradigmatisch. Hinzu kommt noch die psychologische Spaltung Racholls, die ihren Ausdruck in seiner Begegnung mit einem Doppelgänger am Ende der Erzählung findet. Vorbereitet wird diese Spaltungserfahrung in dem Prozess, dem sich Racholl stellen muss, und der als eine doppelte Verhandlung inszeniert wird. Die doppelte Verhandlung Die Prozesssituation gleicht einer Gerichtsverhandlung, in der Racholl einer höheren Instanz, hier dem Vorgesetzten Leo, Rede und Antwort stehen muss. Im Verlauf der Verhandlung, bei der Racholl mit früheren Vergehen wie Feigheit,
44 Auch hier ist die Kafka-Referenz zum Türhüter deutlich. Der Nachtpförtner bemerkt denn auch: »Junger Herr. Sie kommen zu spät. […] Sie sind zehn Jahre zu spät gekommen, junger Mann.« (Sp 23)
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Devisenhandel oder Fluchthilfe konfrontiert wird, zweifelt er zunehmend an seinem Selbstbild als unauffälliger, tadelloser DDR-Bürger. Er erkennt, dass er in seiner Vergangenheit verschiedene Rollen eingenommen hatte, die er mit dem Parteibeitritt im Zaum hatte halten wollen: Mit dem Mitgliedsausweis war er schließlich »nicht mehr allein mit sich, endlich nicht mehr allein, endlich etwas Großes, Sicheres, das das Dunkle, Undurchschaubare in ihm und um ihn hell machte, in Bahnen brachte, wie wenn sich in einem steinigen Chaos plötzlich ein Weg auftut vor einem.« (Sp 87)
Die Verhandlung stellt genau dieses Selbstbild in Frage. Racholl resümiert: »Ich sehe mich nach dieser Untersuchung als zwei völlig verschiedene Personen, die ich beim besten Willen nicht in Übereinstimmung bringen kann, verstehen Sie?« (Sp 95). Die psychologische Spaltung des Protagonisten wird in der Verhandlung initiiert, ein weiterer Prozess der Verdoppelung setzt ein und gipfelt schließlich in der titelgebenden Spaltung Racholls am Ende der Erzählung. Damit geht die Verdoppelung der Prozesssituation einher: Neben der Verhandlung, die vom Genossen Leo geleitet wird und in der es vordergründig um die Tauglichkeit Racholls für seinen neuen Posten geht, wird auch ein Erinnerungsprozess in Gang gesetzt. Racholl erinnert seine Kindheit im Nachkriegs-Berlin, die Gründungsjahre der DDR, die Demonstrationen vom Juni 1953 und die Ausreise seines Freundes Johannes kurz vor dem Mauerbau; dabei geht er wegen seines teilweise moralisch verwerflichen oder illegalen Verhaltens mit sich selbst ins Gericht. Angelika Winnen spricht zu Recht von einem zweiten Prozess. 45 Der erste Prozess, das vom Genossen Leo geleitete Verhör, erinnert Racholl an »eins der routinemäßigen Kadergespräche« (Sp 36); er gibt bereitwillig Antwort und fühlt sich zunächst wie ein Musterschüler. Nach und nach erweist sich die in Leo personifizierte Gerichtsinstanz als übermächtig. Racholl ist dieser als omniszient und omnipotent erscheinenden Instanz ausgeliefert. Das Verhör wird gezielt in die Richtung seiner Vergehen gelenkt, Racholl gesteht seine Verbindung zu dem illegal ausgereisten Johannes, seine literarischen Ambitionen – er hatte als junger Mann versucht eine jiddische Ballade zu übersetzen – und er
45 Vgl. Angelika Winnen, Kafka-Rezeption, S. 139 Angelika Winnen bezieht hier zusätzlich die Lektüre von Arthur Koestlers Sonnenfinsternis mit ein. Der Roman enthält eine ähnliche Doppelstruktur des Prozesses. Auch Consentino erkennt einen unter der offiziellen Verhandlung stattfindenden »Prozeß des Prüfens und der Selbsterforschung«, vgl. Christine Consentino, » Meditativer Halbschlaf«, S. 35.
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gesteht schließlich auch die Schieberei in der Nachkriegszeit und die aktive Teilnahme an den Demonstrationen vom Juni 1953. Überraschenderweise endet dieser erste Prozess mit einer Art Freispruch für Racholl, bzw. mit der Aussetzung eines Urteils. Gegen Ende der Erzählung scheint Racholl die Urteilsverkündung verpasst zu haben (vgl. Sp 92f); die Antwort, die Racholl auf Nachfrage erhält ist: »Mein Lieber Racholl [...] Das haben wir doch alles gewußt!« (Sp 95). Der gesamte Prozess wird so ad absurdum geführt: Weder werden drängende Fragen geklärt oder Verbrechen aufgedeckt, noch haben die einzelnen Vergehen Konsequenzen. Nach Winnen habe der erste Prozess die Funktion »als Ritual einer Gemeinschaftsbildung, bzw. -konsolidierung, bei dem nach der Erniedrigung des Angeklagten und dessen Reue, dieser feierlich wieder ins Kollektiv aufgenommen werden soll.«46 Besonders der Freispruch, die Einschätzung der Vergehen als Lappalien, verwandelt diesen ersten Prozess in eine Farce.47 Die absurd-bedrohliche, teilweise ›kafkaeske‹ Atmosphäre des Textes verschiebt sich zunehmend ins Groteske, der bedrohliche Prozess läuft ins Lächerlich-Leere. Daher steht am Ende der Verhandlung die Bestätigung von Racholls Beförderung, der Genosse Leo erteilt ihm so etwas wie eine Absolution: »Wir müssen das Land mit den Leuten aufbauen, die wir haben. Und berücksichtigen Sie die komplizierte Zeit.« (Sp 96). Während Leo Racholls unangepasste Vergangenheit rechtfertigt,48 wird Racholl mehr und mehr zum Richter seiner selbst und insistiert nach dem ausgesetzten Urteilsspruch am Ende der Erzählung auf einer schriftlichen Beurteilung: »Letzte Klarheit! sagte er zu sich. Du mußt letzte Klarheit bekommen!« (Sp 93). Dieses dringende Bedürfnis nach Klärung ruft der zweite Prozess bei Racholl hervor. Mit der doppeldeutigen Eröffnung der Versammlung durch Leo, wird auch der zweite Prozess eingeleitet; Leo eröffnet Racholl zu Beginn der Versammlung, dass es »um [sein] Leben« (Sp 34) gehe, weniger um das Überleben, als vielmehr um die Vermittlung von Vergangenheit und Zukunft im sozialisti-
46 Angelika Winnen, »›Berlin, das war Kafka.‹ Klaus Schlesingers Kafka-Rezeption in Die Spaltung des Erwin Racholl und in Trug«, in: Leben in Berlin – Leben in vielen Welten, S. 110–124, hier S. 115. 47 Winnen bezeichnet diesen ritualisierten Prozess auch als »Farce«; Angelika Winnen, Kafka-Rezeption, S. 132. 48 Leos Fürsprache setzt mit dem Lob des gegenwärtigen Racholl ein, den er für einen vorbildlichen Mitarbeiter hält und insbesondere dessen Flexibilität hervorhebt: »Wir kennen Sie [Racholl] als flexibel einsetzbaren Mitarbeiter. Sie haben wechselnde Standpunkte stets prinzipiell vertreten und besitzen ein gutes Verhältnis zu Ihren Kollegen. Alles in allem eine positive Bilanz!« (Sp 35)
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schen Staat. Die Rekapitulation seiner Vergangenheit führt Racholl zu den Hinterhöfen seiner Kindheit, wo er als Feigling verprügelt wurde, sich einer Jugendbande anbiederte und mit Johannes anfreundete. Es folgt die Erinnerung an seine Zeit als ›Schieber‹ und Grenzgänger. Nach und nach kommen so die verdrängten Lebenserinnerungen ans Licht, wobei nur der Protagonist Racholl seine Vergangenheit scharf verurteilt, die Versammlung reagiert auf diese – wie gezeigt – nahezu gleichgültig. Racholls psychologische Spaltung Die Selbstvorwürfe, ausgelöst durch die verdrängten Erinnerungen, lösen bei Racholl letztlich die Spaltung aus; der Text ist unschwer auch psychopathologisch lesbar. Die U-Bahnfahrt, das setting im Hinterzimmer der Kneipe und die dominierende Traumatmosphäre machen Racholls Erlebnis zur Reise ins Unbewusste. Die Fahrt in den Untergrund, der Irrgang in Westberlin, das zufällige Stranden im Hinterzimmer der Kneipe – all diese Handlungsräume werden mit dem Unbewussten assoziiert. Mit dem Blick auf Schlesingers Gesamtwerk, in dem sich Orte dieser Art häufen, bezeichnet Argelès Schlesingers Schreiben als »Prosa der Veränderung und der Liminalität«. 49 Diese Prosa, die sich auf den Schwellen aufhält, erforscht nicht nur die räumlichen Schwellen, sondern auch die Schwellen des Bewusstseins. Berlin wird bei Schlesinger zum Abbild von Racholls Bewusstsein. So ist es folgerichtig, dass Racholl an den markanten Handlungsräumen, wie der U-Bahn oder der Kneipe, mit seinen verdrängten Erinnerungen konfrontiert wird. Diese Konfrontation kulminiert schließlich in der psychologischen Spaltung, der Begegnung mit seinem Doppelgänger. Neben den Handlungsräumen ist es die evozierte Traumatmosphäre, die Racholls Geschichte als psychopathologische Parabel lesbar macht. Cosentino spricht in Bezug auf »Die Spaltung des Erwin Racholl« von einem »halluzinatorischen Raum ohne kausalen Nexus«.50 Köhler klassifiziert die Erlebnisse Racholls, die Fahrt nach Westberlin und die folgenden Ereignisse, eindeutig als Traumgeschehen.51 Mit Winnen ist die Frage nach der Traumhaftigkeit des Geschehens aber von geringem Interesse, sie betont die konsequente Etablierung
49 Daniel Argelès, »Vom Gehen und vom Schreiben Heterotopische und liminale Raume der Auseinandersetzung mit Geschichte und Gesellschaft bei Klaus Schlesinger«, in: Leben in Berlin – Leben in vielen Welten, S. 35–55, hier S. 53. 50 Christine Consentino, »Meditativer Halbschlaf«, S. 33. 51 Astrid Köhler, »Klaus Schlesinger«, S. 64.
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der Traumatmosphäre und die explizite »Thematisierung des Traumhaften«. 52 Racholl stellt sein Erleben immer wieder in Frage, weiß nicht ob er träumt oder nicht; er hofft sogar zu träumen. Verschiedene Indizien legen diese Spur: So schläft Racholl auf der Fahrt in der U-Bahn ein, bereits vorher hat er eine schlaflose Nacht verbracht.53 Racholl selbst stellt mit seiner Bitte »Bitte bestätigen Sie mir, daß ich träume!« (Sp 90) die Lesart des Traumgeschehens aber in Frage. Für Klarheit sorgt die Erzählung nicht: Der Text mit der überdeutlichen Traumatmosphäre oszilliert beharrlich zwischen Traum und erzählter Wirklichkeit. Auch hier bestätigt sich Argelès’ These von der »Prosa der Liminalität«. Die Traumatmosphäre verweist nun wieder deutlich auf das Unbewusste: Mit Siegmund Freud ist die Traumdeutung, und somit indirekt der Traum selbst, »die via regia zur Kenntnis des Unbewußten im Seelenleben«. 54 Das literarisierte Traumgeschehen eröffnet somit den Zugang zu Racholls unbewusstem Innenleben, ausgedrückt in den verdrängten Erinnerungen. Die Auseinandersetzung mit dem Verdrängten, mit den nach Staatsräson problematischen Erlebnissen, die das Traumgeschehen der Reise und des Prozesses als Traumageschehen lesbar macht: Hier wird die Spaltung des Protagonisten begründet. Nachdem Racholl mit seinen verschiedenen Lebensentwürfen konfrontiert wird, wird die Spaltung initiiert: »Vielleicht bist du zwei Personen, vielleicht bist du ebenso Dieser, wie du Jener bist, aber wenn du Dieser und Jener bist, was hat dann Dieser zu erwarten und was Jener?« (Sp 91). Racholl beschreibt hier eine schizophrene Erfahrung, die am Ende der Erzählung in der Spaltung kulminiert. An dieser Stelle wird deutlich, dass der literarischen Figuration, der Begegnung mit dem Doppelgänger in der U-Bahn, eine psychologische Spaltung zu Grunde liegt. Diese Spaltung lässt sich dank der psychopathologischen Lesart im gesamten Text zurückverfolgen. Es liegt daher nahe, dass die Spaltung Racholls das »Problem quälender Schizophrenie und Entfremdung im geteilten Deutsch-
52 Angelika Winnen, Kafka-Rezeption, S. 128. 53 Zu den Traumelementen der Erzählung gehört auch der ›Traum im Traum‹ der Racholl in die linke Untergrundszene in Westberlin führt. Dort trifft er Johannes bei seinen radikalisierten Freunden, vgl. Sp. 45ff. Diese Episode muss bei der vorliegenden Untersuchung unberücksichtigt bleiben. Angelika Winnen hat sie ausführlich betrachtet, vgl. Angelika Winnen, Kafka-Rezeption, S. 141ff. Hier gehe es neben der »Demontage sozialistischer Utopien« und um die »Frage nach der Abhängigkeit der eigenen Persönlichkeit von den gesellschaftlchen Bedingungen« (S. 144). 54 Siegmund Freud »Die Traumdeutung«, in: Ders., Gesammelte Werke. Bd. 2 und 3. Frankfurt a.M. 1999 [London 1943], S. 613.
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land«55 spiegele. Diese Allegorisierung der politischen Teilung durch die Spaltung des Protagonisten ist eine gängige Interpretation der Erzählung, Toegel resümiert daher: »The political macrocosmic ›Spaltung‹ is at the same time the microcosmic ›Spaltung des Erwin Racholl‹«.56 Es bietet sich allerdings an, diese Allegorisierung der Spaltung nur als ein Ergebnis der psychologischen Lesart zu betrachten, darüber hinaus ist es relevant, auch den Spuren des Verdrängten nachzugehen. Mit Astrid Köhler lässt sich in der Literatur der DDR, auch anhand dieser Erzählung, die Thematisierung eines »Verdrängungssyndroms« ausmachen. Köhler attestiert der Literatur, die gesamtgesellschaftliche Verdrängung »der frühen Fehler der DDR« aufzudecken: »Blinde Flecken in der eigenen – individuellen wie gesellschaftlichen – Geschichtsschreibung, die aufzuarbeiten die Reife zu kritischer Selbstreflexion verlangt.«57 Racholls Reise zu den verdrängten Erinnerungen, ausgelagert in ein ›kafkaeskes‹ Westberlin, ist nicht nur die Ursache seiner individuellen psychologischen Spaltung, sondern verweist auf eine gesamtgesellschaftliche Dimension. Die Vergehen Racholls lassen sich nicht mit einem klaren moralischen Schuldbegriff fassen. Illegale Handlungen waren teilweise von staatlicher Seite erwünscht (wie der stillschweigend geduldete Devisenhandel), oder moralisch einwandfreie Handlungen (wie die Unterstützung des besten Freundes) gelten als illegal. Diese Schuldproblematik wird gesamtgesellschaftlich verdrängt; zugunsten der herrschenden Ideologie werden Moral- und Schuldvorstellungen immer wieder angepasst. Eben jene blinden Flecken werden in »Die Spaltung des Erwin Racholl« explizit gemacht und als traumatische Ereignisse inszeniert, die in der psychischen wie physischen Spaltung des Protagonisten kulminieren. Die Verortung dieser blinden Flecken hinter der Grenze verbindet die psychologische Spaltung mit der Grenze. Die politische Topographie wird genutzt, um die Auslagerung des Verdrängten darzustellen. Die Grenze als literarische Kategorie ermöglicht, dass das Verschwiegene in Form der Spaltungsgeschichte erzählt wird.
55 Christine Consentino, »Meditativer Halbschlaf«, S. 34. 56 Edith Toegel, »Terrible Alternatives«, S. 25. 57 Alle Zitate bei Astrid Köhler, »Klaus Schlesinger«, S. 57.
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Exkurs: Die Ballade vom ermordeten jüdischen Volk Sing! nem dajn harf in hant, […] sing fun di lezte jidn ajf ejropes erd […] o himl wajt, o breijt di erd, o jamim grojs – nit balt zusamen in ejn knojl sich un nit farnicht di schlechte ojf der erd, soln sej farnichtn sich alejn!58
Im Zuge des Verdrängungsdiskurses ist »Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn volk«59 von besonderer Bedeutung und wird mehrfach erwähnt. Der junge Racholl hatte in einer Phase des Literaturenthusiasmus versucht, diese Ballade zu übersetzen und hatte deshalb den Kontakt zu dem Wirt Erwin Adler/Silbermann in Westberlin gesucht. Die Ballade verweist damit auf einen verdrängten Teil der Vergangenheit Racholls und stärker noch auf einen verdrängten Teil der deutschen Geschichte, den Holocaust. Die Ballade stammt vom jüdischen Lyriker und Dramatiker Jitzhak Katzenelson. Katzenelson erlebte die Verfolgung durch die Nationalsozialisten in Lodz, im Warschauer Ghetto, im französischen Vorzugskonzentrationslager in Vittel und wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Die Ballade schrieb er zwischen Oktober 1943 und Januar 1944 in Vittel nieder, nachdem er sie vermutlich seit der Zeit im Warschauer Ghetto »zerebral konzipiert«60 hatte. Bevor Katzenelson nach Auschwitz deportiert wurde gelang es ihm, mehrere Versionen der Ballade
58 Jitzchak Katzenelson, Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn folk. Das Lied vom letzten Juden in der Nachdichtung von Hermann Adler. Berlin 1992. [Zürich 1951]. 59 Schlesinger selbst bezeichent Katzenelsons Verse als »Ballade vom ermordeten jüdischen Volk« (Sp 84), diese Bezeichnung wird in der Untersuchung so übernommen. In den Übersetzungen ins Deutsche lautet der Titel zunächst »Das Lied vom letzten Juden« in der Bearbeitung von Hermann Adler von 1951. Vgl. Jitzchak Katzenelson, Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn folk. In der späteren Übersetzung von Wolf Biermann lautet der Titel »Großer Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk, vgl. Jitzchak Katzenelson, Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn volk. Großer Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk übers. von Wolf Biermann. Köln 1996. [1994]. 60 Hermann Adler, »Einleitung«, in: Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn folk, S. 7–13, hier S. 10.
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zu verstecken, überliefert sind zwei davon: Eine wurde in einem Koffergriff eingenäht nach Israel gebracht, eine wurde in Flaschen in Vittel vergraben. 61 Die Ballade gilt als »Wort-Zeuge«62 des Genozids an den Juden. Katzenelson singt in 15 Liedern von der Judenverfolgung in Europa, den erlebten Erniedrigungen und Morden an Familie und Freunden. Aufgrund der historischen und biographischen Bezüge und der erschütternden Entstehungs- und Publikationsgeschichte ist dieses lyrische Werk auch als historisches Dokument bedeutsam. In Schlesingers Erzählung erscheint die Ballade deshalb eher als funktionales Dokument, denn als ästhetischer Referenztext.63 Katzenelsons Ballade dient in der Erzählung zunächst dazu, Racholl als Literaturliebhaber verdächtig zu machen: Nicht nur, dass er früher ständig mit einem Buch unter dem Arm zu sehen war, ihm wird unterstellt auch noch zu dichten. Racholl bemüht sich richtig zu stellen, dass er lediglich übersetzt habe (vgl. Sp 41). Die Ballade zeigt hier an, dass Racholl um ein Gegengewicht zum grenzüberschreitenden Zeitgeist64 bemüht war und an einem Lebensentwurf jenseits des in der politischen Ordnung schicksalhaft Vorgezeichneten – der Genosse Leo sagt, dass niemand seinem Aufstieg (und mithin seiner Anpassung) entkommen könne –gearbeitet hatte. Diese Bemühungen hatte Racholl irgendwann zugunsten der Anpassung an die sozialistische Gesellschaft aufgegeben: Mit dem Parteibeitritt war er vor Unruhe und Zweifel in die gesellschaftliche Geborgenheit geflohen und hatte dabei seine eigene Vergangenheit, markiert durch die o.g. ›Vergehen‹ verdrängt. Es ist der alte jüdische Wirt Erwin Adler/Silbermann,
61 Zur Überlieferungsgeschichte vgl. Wolf Biermann, »Katzenelson, ein Jude«, in, Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn volk, S.7–29, und ders., » Katzenelson, a Mensch«, in: Ebd. S. 171–195. 62 Manfred Richter, »Vorwort«, in: Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn folk, S. 5. 63 Angelika Winnen stellt drei Funktionen der Ballade heraus: »zum einen als konkretes Beispiel für die Funktion von ›Kunst‹ und ihr Verhältnis zur Gesellschaft, zum zweiten als Text, der Erinnerung thematisiert, und drittens in ihrer Eigenschaft als jiddische Ballade.« Dies., Kafka-Rezeption, S. 154. 64 Racholl weist auf »die Antisemitismuswelle« im Westen am Ende der 1950er Jahre hin und nennt als weiteren Auslöser ein diffuses Unruhegefühl: »Da konnte man einfach nicht mehr ruhig in der Bahn sitzen, dagegen war man machtlos, da haßte man plötzlich alle anderen und sich selbst auch, weil man doch einer von denen war.« (Sp 83) Ergänzend möchte ich auf antisemititsche und antizionistische Tendenzen innerhalb der DDR hinweisen, die sich zeitlich ebenfalls in den 1950er Jahren verorten lassen. Vgl. Mario Keßler, Die SED und die Juden – zwischen Repression und Toleranz. Politische Entwicklungen bis 1967. Berlin 1995 (=Zeithistorische Studien Bd. 6).
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der Racholl diese Anpassung letztlich vorhält: »Wer etwas aufgibt, das ihm ganz allein gehört, sagte der kleine Mann in seinem merkwürdigen Tonfall, sündigt der nicht gegen sich selbst?« (Sp 96). Anhand der Ballade, deren Wortlaut Racholl übrigens vergessen hat, wird deutlich, dass Racholl nicht nur die eigene Vergangenheit verdrängt, sondern auch seine einstigen Ideale verleugnet hat.65 Mit dem Vergessen der Ballade hat Racholl auch seine Literaturbegeisterung und die damit einhergehende Unangepasstheit abgelegt. Neben der Verdrängung von Racholls biographischen Meilensteinen, verweist die Ballade in der Erzählung darüber hinaus auch auf die Verdrängung der historischen Schuld in der DDR. Das ›Verdrängungssyndrom‹ lässt sich ausweiten auf den Umgang der DDR mit dem Holocaust. Die Abgrenzung vom faschistischen NS-Reich zählt zu den Gründungsmythen der DDR, der Antifaschismus war Staatsdoktrin. In der Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit dominierte die Erinnerung an kommunistische Opfer tendenziell die Erinnerung an den Genozid an den Juden. Die verschiedenen Opfer des Nationalsozialismus werden so in eine Hierarchie gebracht, die die Aufarbeitung der Vergangenheit mitgestaltet. Der Holocaust gilt als vernachlässigter Teil der Erinnerungskultur in der DDR.66 Racholls Auseinandersetzung mit der jiddischen Ballade wird so zur aktiven Gesellschaftskritik. Die Thematisierung der Ballade in der Erzählung initiiert eine kritische Reflexion der blinden Flecken der gesellschaftlichen Vergangenheit (Köhler) und engagiert sich in der Arbeit am ›Verdrängungssyndrom‹.
65 Angelika Winnen arbeitet heraus, dass Racholl seine eigenen Ideale und die ihm nahestehenden Menschen verraten habe. Vgl. dies., »Berlin, das war Kafka«, S. 116. 66 Die DDR-Eliten sahen »das Wesen des Nationalsozialismus in seinem Antikommunismus; die Juden waren in ihren Augen passive Opfer, die ›nur‹ wegen der zur Ablenkung propagierten Rassenideologie verfolgt worden waren.« Politisch Verfolgte bildeten die ›Elite‹ der Opfer des Nationalsozialismus; der Holocaust tritt dahinter zurück, ohne aber ignoriert oder verschwiegen worden zu sein. Thomas Haury, Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg 2002, S. 309. Vgl. zu dem Thema auch Jeffrey Herf, Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangnenheit im geteilten Deutschland. Berlin 1998.
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Die Spaltung Racholls als Verdoppelung Vor dem Hintergrund der Verdrängungsarbeit, erscheint Racholls Spaltungserfahrung als Manifestation des akkumulierten Verdrängten. Racholl reagiert auf die Konfrontation mit den eigenen Vergehen und den Paradoxien der Gesellschaft mit der Spaltung seiner selbst. Winnen erkennt darin eine Art Selbstbestrafung: Die Spaltung sei die Strafe für den Verrat an sich selbst, den eigenen Idealen und den geliebten Menschen. 67 Diese Lesart kündigt der Protagonist selbst an, wenn er sich selbst als ›Diesen und Jenen‹ bezeichnet und kurz vor dem Urteil ruft: »Sie scheinen nicht zu verstehen! Sie haben zwei Personen vor sich.« (Sp 92). Neben dem angepassten Kader-Racholl existiert noch immer der kritische Freidenker Racholl, der in Konflikt zur sozialistischen Gesellschaftsordnung steht. Diese Interpretation deckt sich nicht mit der allegorischen Lesart, die Spaltung sei Abbild der politischen Spaltung. Diese plausible Lesart ist nicht von der Hand zu weisen, schränkt den Horizont der Erzählung aber ein. Wenn die Mikro-Spaltung Racholls mit der Makro-Spaltung der bipolaren Weltordnung korrespondiert, wäre der in der Spaltung erscheinende Doppelgänger Sinnbild eines alternativen Lebensentwurfes: Die Bipolarität impliziert das Denken in konkurrierenden Lebensalternativen. Die Stärke der Erzählung Schlesingers liegt aber darin, über diese allegorische Lesart hinauszugehen und die Vereinfachung des Doppelgängers auf das Sinnbild alternativen Lebens nicht festzuschreiben. 68 Stattdessen ist die Erzählung von einer kafkaesken Atmosphäre geprägt, von der Konfrontation mit Verdrängtem, von der bedrohlichen Oszillation zwischen Wachen und Träumen und von dem Gefühl des Ausgeliefertseins angesichts einer übermächtigen Institution. Die Reflexionen über die traumatische Situation und die problematische Vergangenheit sind es, die die Spaltung auslösen, nicht die politische Spaltung. Die politische Situation Berlins erhöht allerdings die Intensität. Racholl selbst
67 Angelika Winnen, »Berlin, das war Kafka«, S. 116. 68 Vgl. ebd., S. 121: Schlesinger habe diese Vereinfachung in Trug vorgenommen. Der spätere Roman sei auch ungleich heiterer. Schlesinger selbst sagte dazu in einem Interview: »Im Kalten Krieg war mein Grundgefühl eher ein Dramatisches.[…] Die Pole Ost und West haben eine Spannung ausgestrahlt, und wenn die Pole wegfallen, lässt einfach die Spannung nach. Früher war insgesamt alles auf Drama angelegt. Heute ist es die Farce, die Komödie.« Zitiert nach Andreas Schäfer, »Der Doppelgänger«, in: Berliner Zeitung vom 22.3.2000.
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erkennt die Bedeutung der geteilten Stadt in einem diffusen Bewusstseinsstrom an: »[…] sag dir das mal als Fünfzehn- oder Siebzehnjähriger, wenn du eine Tasche mit Schmuggelware gegen verbotene Währung von Niederschönhausen/Berkenbrücker Steig nach Charlottenburg/Kantstraße bringen darfst, aber ein Fünfmarkstück mit verbotener Währung darfst du nicht in deinem Portemonnaie haben, da merkst du doch, daß der Riß durch dich durch geht, durch dein Portemonnaie und durch deinen Kopf, da kann sich doch keiner mehr auskennen, und das muß einem doch zugute gehalten werden, wenn man sich nicht richtig auskennt!« (Sp 88)
Es sind die DDR-internen Probleme und das Verschwiegene, die die Spaltung Racholls initiieren, räumlich gebunden an Berlin, die Hauptstadt der DDR. Der Selbstverrat, die verschwiegene Vergangenheit, wiegt schwerer als allein die Weltordnung des so genannten Kalten Krieges. Die politische Spaltung löst die paradigmatischen Verdopplungen und Spaltungen nicht aus. Die Grenze wird aber durch die Erzählung mithilfe der Verdopplung sichtbar, ohne dass dokumentarisch über das geteilte Berlin geschrieben würde. Die Grenze wird somit nicht als territoriale Grenze erzählbar, sondern als ästhetische Kategorie und damit aus dem primären politischen Kontext des so genannten Kalten Krieges herausgelöst. Durch den Prozess der Spaltung wird der Doppelgänger der deutschdeutschen Literatur der Grenze von der rein allegorischen Lesart entbunden; die Figur des Doppelgängers symbolisiert nicht nur die Bipolarität der politischen Weltordnung, sondern kann auch auf Interna verweisen. Racholls Verhandlung, nahezu die gesamte Handlung der Erzählung, findet im unerreichbaren Westteil Berlins statt. Diese Auslagerung in der Form einer Westschleife ermöglicht die Formulierung der Systemkritik und entfernt sie aus taktischen Gründen zugleich räumlich vom kritisierten Staat. Diese Distanzierung vom Objekt der Kritik wird unterstützt durch die konsequente Traum-Atmosphäre, die jedoch diffus bleibt: Der Text legt ein Traumgeschehen nahe, gleichzeitig wird der Realitätscharakter auf Racholls Nachfragen konsequent betont. Die Spaltung Racholls, als mehrdeutiges Motiv, ist in der Erzählung der Höhepunkt der zahlreichen Doppelungen. Die Doppelungen gehen dabei allesamt über die allegorische Lesart – die Abbildung der politischen Spaltung – hinaus, ohne diese zu verneinen. Die Doppelung als ästhetisches Verfahren konstituiert diese Erzählung. Doppelungen und Spaltungen stehen dabei immer im Kontext der Grenze, ohne diesen Kontext absolut zu setzen. Die Grenze als Sinnbildungsmechanismus und das mit ihr renovierte Doppelgängermotiv werden dabei
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fruchtbar gemacht: die »Spaltung des Erwin Racholl« formuliert präzise Gesellschaftskritik im autoritären Staat und arbeitet gegen das »Verdrängungssyndrom«. So wird nicht allein eine geographische oder politische Grenze dargestellt, sondern mithilfe des Paradigmas der Verdopplung werden auch politisierte psychologische und moralische Grenzen ausgelotet. Über die politische Allegorie geht auch Thorsten Beckers Bürgschaft hinaus. Der erzählte Identitätstausch reflektiert das Spiel mit der Kontingenz, zudem bringt die spezifisch ironische Erzählweise den Teilungsdiskurs literarisch zum Sprechen, so dass auch bei Becker ein grenzüberschreitendes Erzählen initiiert wird.
AUSTAUSCH MIT DEM ALTER EGO – THORSTEN BECKERS DIE BÜRGSCHAFT Thorsten Beckers Erzählung Die Bürgschaft69 von 1985 handelt von zwei Freunden: dem namenlosen westdeutschen Erzähler und dem ostdeutschen Bühnenbildner Schlitzer. Im Verlauf der Erzählung probieren sich beide in einem alternativen Leben jenseits der Grenze aus: Schlitzer reist nach Wien und der Erzähler bleibt als Pfand für Schlitzers Rückkehr in der DDR; er ist von der Idee angetan, sich eine begrenzte Zeit an einem DDR-Leben zu versuchen. Vermittelt wird diese Bürgschaft von dem Stasi-Kommissar Lärisch unter einer Bedingung: Nur, wenn Schlitzer von seiner Reise zurückkehrt, darf auch der Erzähler die DDR wieder verlassen; für den anderen Fall ist ein Einbürgerungsantrag vorbereitet. Nach einigen Turbulenzen wird diese Bürgschaftshandlung letztlich glücklich aufgelöst: Die Freunde werden vereint und die stabilen Zustände wiederhergestellt. In einer maßlosen Prolepse am Schluss der Erzählung reisen die Freunde schließlich zusammen mit Lärisch auf die kanarischen Inseln. Dieser Bürgschaftsplot baut stark auf den Erfahrungen des Erzählers in der DDR auf. Enthusiastisch stürzt dieser sich in das Leben Schlitzers, muss aber zunehmend erkennen, dass er in der DDR fremd ist und ein Leben dort keine Lebensalternative für ihn darstellen kann. Literarisch wird durch diese AlterEgo-Erzählung die Grenze eindeutig als trennend inszeniert; Ost und West sind nicht austauschbar. Die Erzählhaltung und insbesondere die durchgängige Ironie ermöglichen jedoch eine gemeinsame Diskursivierung der unvereinbaren Welten.
69 Thorsten Becker, Die Bürgschaft, Zürich 1985. Im Folgenden zitiert mit der Sigle Bü.
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Eingeleitet wird der Bürgschaftsplot von einem zweiten Plot, der Reise des Erzählers. Dieser Erzählstrang ist in das narrative Modell der Grenzreise gefasst: Gemeinsam mit seiner Freundin fährt der Erzähler nach Ostberlin, begleitet von dem Anhalter »Glatze«. Dieser erweist sich als unterhaltsamer Erzähler und gibt mehrere Anekdoten zum Besten. In diesem Erzählstrang dominieren poetologische Reflexionen das Geschehen, die Verdopplung der Erzählerfigur macht das Erzählen selbst deutlich sichtbar. Zusätzlich bildet der Anekdoten-Erzähler Glatze auch das Bindeglied zu der Figur Schlitzer: Durch den Anhalter lernt der Erzähler in Ostberlin den Bühnenbildner kennen. Der Erzähler stiehlt ihm eine anstößige Illustration – eine so genannte „Ficknette“ (Bü 26) – für eine westdeutsche Publikation. Die Veröffentlichung in Westdeutschland bringt Schlitzer nachträglich um die Reiseerlaubnis nach Österreich; an diesem Punkt beginnt die Bürgschaftshandlung. Der Erzähler steht demnach in Schlitzers Schuld und tilgt diese erst durch das Bürgschaftsabkommen mit Lärisch. Im Anschluss an die erste kurze Ostreise, findet der längere Ostaufenthalt des Erzählers statt, der sich übergangsweise ein Leben als Übersetzer in der DDR einrichtet. 70 Die beiden Handlungsstränge sind miteinander verwoben, die Erkundung des sozialistischen Alltags, insbesondere des Nachtlebens, spielt dabei eine herausragende Rolle, so dass die Erzählung »einen beträchtlichen Schritt über den Alltagstourismus hinaus[geht]«. 71 In dieser emphatischen Lesart nach Dagmar Wienröder-Skinner zeige sich »der Wunsch nach der Überwindung der geistigen Barrieren zwischen Ost und West« und auch ein »Hinweis auf den Gedanken der Toleranz«.72 Einschätzungen wie diese zeigen, dass Beckers Debüt äußerst positiv aufgenommen wurde. Dabei spielt auch der Anspielungsreichtum der Erzählung eine Rolle; es finden sich viele »literarische Lesefrüchte und Bildungszitate«, wie »Brecht-Musil-Rabelais-Proust-Diderot-Baudelaire-Marx-Benjamin-etcetera-Erwähnungen.« 73 Eine besondere Rolle spielt dabei freilich Friedrich Schillers titelgebende Ballade »Die Bürgschaft«, die mehrfach im Text Erwähnung findet. Darüber hinaus ist auch William Shakespeares Historiendrama »King Richard II.« von Bedeutung, da der Erzähler während des Rollentausches, also während seines Aufenthaltes in Ostberlin, eine Übersetzung des Dramas anzufertigen versucht.
70 Auch dieser Ostaufenthalt ist an dem bewährten narrativen Modell der Ostschleife orientiert. 71 Dagmar Wienröder-Skinner, Aspekte der Zweistaatlichkeit, S. 34. 72 Ebd., S. 36. 73 Rolf Becker, »Deutsch-deutsche Männertreue, kein Ernstfall«, in: Der Spiegel 49 (1985), S. 215–216, hier S. 215.
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Verdoppelungen und Rollentausch Das Spiel mit dem Alter Ego, das die Erzählung konstituiert, baut auf paradigmatischen Verdoppelungen auf. Gleich zu Beginn der Erzählung verdoppelt sich die Erzählersituation: Der Erzähler nimmt auf der Fahrt nach Berlin nicht nur einen wortkargen Engländer mit, sondern auch den Tramper Glatze, der das Gegenstück zum Engländer darstellt und verschiedene Anekdoten zum Besten gibt, dies »waren die ersten Einblicke in die DDR mit Augen, wie sie mir [dem Erzähler] später selber wachsen sollten« (Bü 12). Die Tatsache des lebhaften Erzählens, die Ich-Erzählsituation, wie auch der Alkohol und die staatlichen Institutionen verschwistern die Erzähler Glatze und den namenlosen Erzähler der Bürgschaft. Der Verweis auf die »Augen«, durch die die DDR wahrgenommen wird, stellt eine weitere Doppelung dar. Mit seiner Freundin Isa reist der Erzähler einige Tage später in die DDR zu Glatzes Freund Schlitzer und verbringt die Nacht in verschiedenen Kneipen, er trifft dort auch auf Glatzes Bruder. Der Erzähler diagnostiziert bei ihm wegen seiner »Besitzabhängigkeit« eine »Westuntauglichkeit« (Bü 46), als dieser den Erzähler um Batterien für seine Quarzuhr bittet. Der Erzähler, der DDRGesellschaft wohlgesonnen, gibt mit moralischer Überheblichkeit die eigene Quarzuhr weg, um den Beschenkten »jesuitisch« zu beschämen (Bü 46). Daraufhin schenkt Schlitzer dem Erzähler in einer ritterlichen Geste (vgl. Bü 46) seine sowjetische Armbanduhr als Ersatz. Dieser Uhrentausch markiert dabei den Beginn der Freundschaft Schlitzers mit dem Erzähler, dieser resümiert: »Immerhin war dieser Uhrentausch mit Verlust und doppeltem Gewinn für mich und Schlitzer ein materielles Siegel der Initiation in einen edleren Stand menschlicher Beziehung. Ob wir es nun Adel nennen oder Freundschaft, jedenfalls verpflichtet es.« (Bü 47)
Der Uhrentausch basiert ebenfalls auf einer Verdopplungsstruktur und antizipiert zugleich den Rollentausch, der im folgenden Bürgschaftsplot erzählt wird. Schlitzer und der Erzähler werden nun zu einander verpflichteten Freunden; diese Freundschaft bildet die Basis für das spätere Freundespfand. Kennengelernt hatte der Erzähler den Bühnenbildner aus den Erzählungen Glatzes und durch einen Brief von Schlitzer an Glatze, den er mit obszönen Zeichnungen verziert hatte. Der Erzähler entwendet eine dieser Zeichnungen und
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publiziert sie ohne Genehmigung im Westen. Aus moralischer Verpflichtung74 kehrt der Erzähler mit einem Honorar für Schlitzer nach Ostberlin zurück, wird aber von dem Stasi-Kommissar Lärisch abgefangen. Lärisch diskutiert mit dem Erzähler, der sich bewundernd über den StasiKommissar äußert: »Die einnehmende Weise, in welcher er seine Ausführungen machte, zerstreute alle meine Empfindungen von Bedrohung, welche mich zuvor erfüllt hatten.« (Bü 71); der Erzähler erwägt sogar auf das Angebot Lärischs einzugehen, in der DDR zu bleiben, um Schlitzer zu bespitzeln. Lärisch bietet, was sich der Erzähler »seit langem gewünscht hatte, nämlich einen Aufenthalt in der DDR ohne festgesetzte Rückkehr, also die Möglichkeit, die DDR im Sinne Baudelaires (›Les vrais voyages sont ceux qui partent pour partir‹) zu bereisen.« (Bü 74)
Lärisch versucht die Freunde gegeneinander auszuspielen und die Doppelstruktur des Freundespaares für die eigenen Interessen zu instrumentalisieren: Er versucht sie zu spalten. Bei einem Treffen zu dritt, versucht Lärisch die Freunde zu entzweien, indem er Schlitzer mit dem (geheimdienstlichen) Wissen konfrontiert, dass der Erzähler in Schlitzers Wohnung mit dessen Freundin geschlafen habe. Allein, sein »Divide-et-impera war ein einziger Fehlschlag« (Bü 123). Statt Entsetzen regiert Bewunderung, Schlitzer gratuliert seinem Freund: »Mensch, dann sind wir ja Lochschwager, Alter! Das muß gefeiert werden!« (Bü 122). Mit dem Ausruf »Alter!«, werden die Freunde in diesem Moment Alter Egos, die Tatsache des sexuellen Kontakts mit der gleichen Frau betont diese Verschmelzung von Schlitzer und dem Erzähler. In der folgenden Diskussion wachsen die Freunde zusammen. Das von Lärisch intendierte Misstrauen fruchtet nicht, sondern provoziert letztlich das Bürgschaftsabkommen, das Schlitzer die Reise nach Wien ermöglicht. Für den Fall, dass Schlitzer nicht zurückkehrt, gewönne die DDR statt eines zweitklassigen Bühnenbildners eben einen zweitklassigen Schriftsteller (vgl. Bü 126). Das Freundespfand erscheint als Verteidigung gegen das »System aus Misstrauen und Absicherung« (Bü 129f), das von Lärisch repräsentiert wird. In Abgrenzung
74 Colin Riordan sieht hier den historischen Imperativ durch einen moralischen Imperativ ersetzt; die scheinbar unüberwindliche Mauer wird durch Freundestreue überwunden, vgl. ders. »From Hallstein to Sinatra. Cultural Reflections of political Relations between the two Germanies, 1965–85, in: The Modern Language Review 90.3 (1995), S. 676–687, hier S. 682.
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zu Lärisch festigt sich die freundschaftliche Bindung und der Erzähler bleibt an Schlitzers Stelle temporär in Ostberlin – was im Übrigen für den bekennenden DDR-Enthusiasten kein moralisches Opfer, sondern vielmehr die Erfüllung eines lang gehegten Traumes darstellt. Schlitzer und der Erzähler konstituieren von nun an eine Doppelungsfiguration. Sie scheinen eine untrennbare Einheit zu bilden, die sich der politischen Teilung entgegenstellt. Ausgehend von dieser Illusion der Einheit tauschen Schlitzer und der Erzähler die Lebenswelten, im Vertrauen darauf, dass die Bewohner von Ost und West austauschbar sein können. Der Erzähler erprobt so ein alternatives Leben in der DDR, der Rollentausch wird zu einem optimistischen Experiment der Kontingenz. Kontingenz wird im Sinne Luhmanns wie folgt verstanden: »Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (zu Erfahrendes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen.« 75
Das Spiel mit Kontingenz meint also das Spiel mit der Offenheit des Lebens und den Möglichkeiten der Erfahrung. Im Rollentausch wird diese Offenheit erprobt. Die Freunde als Alter Egos – Das Spiel mit der Kontingenz Der Erzähler und Schlitzer erscheinen in der Erzählung als Alter Egos und stellen so eine Variante der Doppelungsfiguration dar. Im Verlauf der Erzählung schlüpft der Erzähler zunehmend in die Rolle Schlitzers, vertraglich geregelt sind die Übernahme des Autos und der Wohnungen des einen von dem anderen. Hinzu kommt die Übernahme der Freundin, der Schreibmaschine und einiger Gewohnheiten durch den Erzähler: »Das waren außer Handgriffen in der Haushaltung und den Kneipen, in deren Einzugsbereich die Wohnung lag, auch Frauen, die mich aufsuchten und oft mit mir taten, was sie mit Schlitzer zu tun gewohnt waren. Das war der Ohrensessel unter dem Hochbett, in dem man bei offenem Fenster so angenehm lesen konnte, die Hauswartfrau, die mich beim Müllausleeren hinter der Gardine beobachtete, das süße Schulmädchen aus dem vierten Stock und Tausende Kleinigkeiten.« (Bü 136)
75 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 152.
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Der Erzähler richtet sich in Schlitzers Leben ein alternatives Leben ein, das ihn zum freien Schriftsteller in der DDR macht, der an einer »King Richard II«Übersetzung arbeitet, und ihm eine »neue Identität« (Bü 97) eröffnet. Schlitzers Leben in der DDR bildet für den Erzähler den Rahmen, in den er eine alternative Identität projiziert. Der Rollentausch basiert nicht auf Verwandtschaft oder einer äußerlichen Ähnlichkeit, sondern ist allein durch moralische Verpflichtung und historische Umstände bedingt, denen die Doppelungsstruktur inhärent ist. Die Inszenierung als Alter Egos bindet die Doppelungsfiguration der Freunde in das Spiel mit der Kontingenz ein: Als Schlitzers Wiedergänger versucht sich der Erzähler an einem alternativen Leben in der DDR. Dieses Kontingenzspiel in der Bürgschaft ist strukturell an die Grenze gebunden, und macht diese erfahr- und erzählbar. Die Überwindung der Grenze durch das Bürgschaftsabkommen ermöglicht den Rollentausch inklusive der Kontingenzerfahrung. Zugleich weist die Grenze diese Erfahrung auch in ihre Schranken, indem deutlich deren Grenzen aufgezeigt werden und die Kontingenzerfahrung als krisenhaft erlebt wird. Der Austausch des Einen mit dem Anderen erweist sich im Verlauf als Unmöglichkeit. Die Trennung von Ost und West lässt sich nicht allein durch guten Willen und die räumliche Übertretung aufheben. Die differenzierende Grenze bildet die Basis für den Tausch und auch in der Krise wird die Grenze als trennend erfahren. Paradigmatisch für die Krise des Kontingenzspiels steht die Arbeit des Erzählers an der Übersetzung von Shakespeares »King Richard II«. Das Drama stellt einen wichtigen Bezugspunkt für den Erzähler dar. Schon früher hatte sich der Erzähler um eine Neuübersetzung dieses Stückes bemüht und hatte diese erste Übersetzung »sogar zu Ende« (Bü 102) gebracht. Der neuerliche Übersetzungsversuch eröffnet für den Erzähler die Möglichkeit, in der DDR als Kulturschaffender tätig zu werden. Trotz der Vertrautheit mit dem Stück scheitert das Übersetzungsprojekt grandios. Die Probleme beim Verfassen der Übersetzung schildert der Erzähler ausführlich.76 Während der Übersetzungsarbeit identifiziert er sich mit der Figur des verbannten Henry Bolingbroke, dem Gegenspieler Richards, »der seinen Fuß nie wieder auf die geliebte englische Erde setzen sollte« (Bü 138). Die Übersetzung spiegelt die Krisenerfahrungen, die der Erzähler in der DDR macht. Während der Wochen des Aufenthalts wächst die Übersetzung kaum weiter, der Erzähler fühlt sich zunehmend festgesetzt in der DDR. Er identifiziert sich während der Übersetzungsarbeit paradoxerweise sowohl mit der Figur des verbannten Henry Bo-
76 Vgl. Bü 137ff.
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lingbroke, dem Usurpator, als auch später mit der Figur des eingekerkerten Königs Richard. Der Erzähler fühlt sich nun nicht mehr nur verbannt und von seiner Heimat entfernt, sondern – schlimmer noch – eingeschlossen und von der gesamten äußeren Welt entfremdet. Dieses intensivierte Verbannungsgefühl, also die scheinbare Gefangenschaft, resultiert aus der Angst, Schlitzer könne sein Wort nicht halten und den Bürgen eben nicht auslösen. Der Erzähler wird schließlich über der Shakespeare-Übersetzung physisch und psychisch krank, auch beruflich droht er zu scheitern. Er verfällt regelrecht in paranoische und hypochondrische Zustände, die allerdings ironisiert werden, so gewöhnt sich der Erzähler die tägliche Einnahme von Vitaminpräparaten an, aber »hauptsächlich, weil sie so billig waren.« (Bü 136). Parallel dazu wachsen die Zweifel an Schlitzers Zuverlässigkeit, ohne Anlass glaubt der Erzähler immer weniger an dessen Rückkehr und macht ihn sich so »zum Gespenst« (Bü 141). Die Verdoppelungsfiguration stellt keine harmonische Einheit dar. Schlitzer und der Erzähler sind keine temporär geteilte Ganzheit, wie es etwa in der Brüderfiguration von Heiduczek oder Lattmann dargestellt wird und wie es während der Verhandlung mit Lärisch noch inszeniert wurde. Die Grenze, die beide Figuren als Alter Egos überschritten haben, hebt das Ideal der Einheit schlicht auf. Die Grenze überbrückt keine elementare Ganzheit, sondern wird als trennende Markierung inszeniert, die Land und Leute trennt und aufteilt. Der Aufenthalt jenseits der Grenze, in der DDR, wächst sich zunehmend zu einem Krisenerlebnis für den Erzähler aus und der Wunsch, in die BRD zurückzukehren, kommt auf. Der Erzähler erkennt ungewollt seine tiefe Verbindung mit der BRD, was seinem Selbstverständnis als DDR-Enthusiast zutiefst widerspricht. Darüber hinaus begegnet der Erzähler etwa in seinen Träumen seiner Mutter; »[e]s waren vor allem diese Träume von Angehörigen und Angehörigem, die mir klarmachten, daß ich in den Westen zurück mußte, nicht die von Supermärkten und ›fast food‹« (Bü143). Der Erzähler hofft inständig, dass auch Schlitzer einen Drang zur Rückkehr verspürt und ihn aus der misslichen Lage befreit. Die Zweifel an Schlitzer werden dabei als kongruent zur Krisenerfahrung in der DDR dargestellt: Je problematischer der DDR-Alltag erfahren wird, desto stärker werden die Zweifel an Schlitzers Rückkehr. Der Handlungsverlauf zeigt die Problematik des simplen Austausches der Freunde auf, der nicht zufriedenstellend gelingt, da jeder in dem eigenen Land sozialisiert und verwurzelt ist. Das Spiel mit der Kontingenz misslingt: Auch wenn der Bürgschaftsplot erfolgreich abgeschlossen werden kann, der Rollen-
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tausch des Erzählers mit Schlitzer ist zum Scheitern verurteilt. 77 Die Unterschiede zwischen Ost und West als politische Himmelsrichtungen werden deutlich, von Austauschbarkeit kann – selbstverständlich – keine Rede sein, da keine naturalisierte Einheit zwischen Ost und West besteht. 78 Gerade der Rollentausch macht die Grenze sichtbar, die beiden deutschen Staaten werden als disjunkte Räume gezeigt. Die Wendung gegen ein vereinheitlichendes Konzept führt die Erzählung im Scheitern des Alter Egos aus. Das Scheitern des Rollentausches und der Alter-Ego-Figuration reproduziert aber nicht die schlichte Teilung eines Ganzen. Die idealisierte Freundschaft deutet an, dass es auf die differenzierte Etablierung wechselseitiger Beziehungen und Verbindungen ankommt. Der grenzüberschreitende Impetus, der der Erzählung trotz allem eingeschrieben ist, zeigt sich erst in der Betrachtung der Erzählweise. Die spezifisch ironische Erzählhaltung ergänzt das gescheiterte Kontingenzspiel um eine verbindende Komponente: Die Ironie wird zu einer rhetorischen Akzeptanz- und Solidarisierungsstrategie, die die dualistische Weltordnung herausfordert und beide deutschen Staaten in einen gemeinsamen Diskurs stellt. Ironie als literarische Strategie in der Auseinandersetzung mit der dualistischen Weltordnung Beckers Bürgschaft ist von einer ironischen Erzählweise geprägt, zu der auch der Witz und Humor des Erzählers gehört. Die Erzählung ist gespickt mit absurdkomischen Handlungselementen, die meist überspitzt dargestellt werden. Die ersten Anekdoten Glatzes, die vor Allem Alkoholeskapaden enthalten, sind dafür
77 Colin Riordans Hypothese, der Austausch allein überwinde die epistemologische und ideologische Teilung, kann ich nicht zustimmen, da der Rollentausch höchst problematisch dargestellt wird. Vgl. ders., »From Hallstein to Sinatra«, S. 684. Auch anderen emphatischen bis naiven Lesarten wie der von Dagmar Wienröder-Skinner, und der von Helmut Peitsch, die Bürgschaft stelle einen »Beitrag zur Entspannungspolititk« dar, ist zu widersprechen. Vgl. Helmut Peitsch, »Von der Ruine zum Mythos. Zwei Berlins – eine Hauptstadt«, in: Der Deutschunterricht 3 (1992), S. 73–92, hier S. 88. 78 Vgl. Walter Delabar, »Letztes Abenteuer Großstadt. (West-) Berlin-Roman der achtziger Jahre«, in: Walter Delabar, Werner Jung, Ingrid Pergande (Hgg.), Neue Generation – Neues Erzählen. Deutsche Prosa-Literatur der achtziger Jahre, Opladen 1993, S. 103–125, hier S. 111. Delabar weist darauf hin, dass bei Becker die Städte Berlin nicht zur Austauschbarkeit ähnlich sind. Das geteilte Berlin sei zwar ein Schauplatz der Geschichte, die Differenzen der zwei Städte Berlin werden dennoch dargestellt.
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typisch. Der Erzähler selbst bedient sich häufig der Übertreibung, teilweise gepaart mit einer ironischen Selbstüberschätzung. Dazu zählen auch die Verknüpfungen der Kneipenerlebnisse mit Verweisen auf die Hochkultur, etwa verbale Kurzrezensionen von Proust oder die omnipräsenten Verweise auf eine so genannte hochkulturelle Literatur, wie etwa Schillers oder Shakespeares prägende Werke. Diese überspitzte und humorvolle Erzählweise ist durchdrungen von Ironie, die sich als uneigentliches Sprechen apostrophieren lässt. Ironie sei eine semantische Diskrepanz zwischen dem Gesagten und Gemeinten und damit rhetorischer Ausdruck eines Gegensinnes.79 Die Übertreibung kann in diesem Zusammenhang einen solchen Gegensinn ausdrücken. Besonders die Darstellung der DDR, ihrer Nachteile und Vorzüge, sind in der Bürgschaft ironisch erzählt. Das Erzählen von und aus der DDR basiert offensichtlich auf der Alter-EgoFiguration, die dem Erzähler das Erleben der DDR erst gestattet. Der grundsätzliche DDR-Enthusiasmus der Erzählung ist paradoxerweise gepaart mit beständigen Seitenhieben gegen die DDR, etwa sei sie so trostlos, dass ihre Bewohner zur Phantasie gezwungen wären und daher absonderliche Anekdoten zum Besten geben könnten. 80 Die DDR wird dann auch in einer Mischung aus Faszination und Abscheu als Konglomerat verschiedener Kneipen samt alkoholisierter Besucher gezeigt. Dem steht eine westdeutsche Überheblichkeit gegenüber, die der Erzähler verkörpert, wie es etwa die Uhrentauschszene illustriert. Zugleich wird die BRD eben nicht als der DDR überlegen dargestellt. Direkte Schilderungen der BRD gibt es in der Erzählung so gut wie gar nicht, eine latente Kritik an der BRD ist den Wertungen des Erzählers aber eingeschrieben. Auffällig bei der Darstellung der beiden deutschen Staaten ist einmal die extrem überspitzte und vorurteilshaltige Manier; es zeigt sich aber auch, dass die extremen Wertungen als Vorurteile und Klischees durch die Übertreibung transparent werden. Bezeichnet dafür ist etwa ein Traum des Erzählers, der sowohl die westdeutschen Klischees über die DDR aufgreift und ironisiert und zugleich die beschränkte Wahrnehmung eines (typischen) Westdeutschen illustriert. Im Ostberliner Supermarkt steht der Erzähler vor großer Warenauswahl: »Die Bananen waren allerdings ein bißchen klein und schon ziemlich braun. Ich nahm Artischoken, Ananas und ein deutsches Gemüse, das ich noch nicht kannte. Die nette alte
79 Vgl. Wolfgang G. Müller, »Ironie«, in: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II, Berlin und New York 2000, S. 185–189. 80 Vgl. Bü 11f.
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Frau empfahl mit Boskop und Spargel an. Ich kaufte auch das, sie gab mir noch etwas zu, das ich aber nicht genau zu identifizieren vermochte.« (Bü 141)
An exotischen Genüssen mangelt es in der DDR überraschenderweise nicht, wohl aber an der Kenntnis des westdeutschen Erzählers was einheimisches Gemüse anbelangt. Klischees wie Bananen und Ananas werden bedient und im Traumgeschehen konterkariert: Südfrüchte sind alltäglich – vielleicht mickrig, aber keine Mangelware. Diese Taktik der Überspitzung von Klischees verfolgt der Erzähler auch als Figur innerhalb des Geschehens. Der Erzähler hatte etwa als Vorarbeit für die Ostreise seiner Freundin Isa die DDR als Avantgarde geschildert und so der westdeutschen Ideologie entgegengearbeitet um Isas eigene Urteilskraft herauszufordern: »Immerhin hatte das kontrastierende Arbeiten, erst der einander widersprechenden Informationen, die sich durch Lautstärke auf der einen, Eindringlichkeit auf der anderen Seite die Waage hielten, dann das der daraus resultierenden Vorstellung, der nun wieder die angetroffene Wirklichkeit restlos widersprach, in ihr jene Stille erzeugt, bei der die Wahrnehmung ihre Tätigkeit aufnimmt.« (Bü 35)
Die Vorurteile, die der Erzähler Isa geliefert hatte, und die der »westliche[n] Bewusstseinsindustrie« (Bü 35) entgegenstehen, sollten sich auf den ersten Blick als Illusionen entlarven. Diese strategische Übertreibung und Mystifizierung seitens des Erzählers enthüllt die Werturteile beider Seiten als Vorurteile, denn auch die ideologischen Vorverurteilungen westlicher Medien finden sich in dem Ostausflug nicht bestätigt. Idealerweise soll es Isa nun gelingen, sich eine eigene, unabhängige Meinung zu bilden. Diese ironische Strategie, die nicht nur das intradiegetische, an Isa gerichtete Erzählen betrifft, sondern auch das generelle Erzählen, für den Leser, lässt sich mit Werner Wolf als »protektive Ironie« bezeichnen.81 Merkmal dieser Art der Ironie sei, dass sie nicht gegen das Objekt der Ironie gerichtet sei, sondern – wie etwa auch die Selbstironie – vielmehr verteidigend wirke. Das Ironieobjekt in dieser Erzählung ist in weiten Teilen die DDR, ihre Bewohner und deren (All-
81 Werner Wolf, »›Schutzironie‹ als Akzeptanzstrategie für problematische Diskurse. Zu einer vernachlässigten Nähe erzeugenden Funktion von Ironie«, in: Thomas Honegger, Eva-Maria Orth und Sandra Schwabe (Hgg.), Irony revisited. Spurensuche in der englischen Literatur. Festschrift für Wolfgang G. Müller, Würzburg 2007, S. 27–50, hier S. 28.
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tags-)Kultur. Dabei nimmt der Erzähler aber keine überhebliche Haltung gegenüber dem anderen deutschen Staat ein. Solidarisierungssignale sorgen stattdessen dafür, dass die protektive Ironie als »Akzeptanzstrategie, als Ermöglichung der Diskursivierung oder Repräsentation eines problematischen Objekts trotz eines ›feindlichen‹ Kontextes«82 wirkt. Der übertriebene DDR-Enthusiasmus des Erzählers wirkt dabei weniger als Solidarisierungssignal als etwa die durchaus bewundernden Schilderungen des DDR-Kulturlebens: längere Passagen sind neidvolle Beobachtungen der ostdeutschen Theaterszene und der Subkultur. 83 Die Wertschätzung der DDR-Bewohner und ihrer Alltagskultur bestimmt die gesamte Erzählung, die Brechung dieser positiven Wertung durch ironische Urteile des Erzählers macht die protektive Ironie der Erzählung aus. Die durch die Ironie geschaffene Distanz zum Objekt, hier der DDR, entzieht das Objekt eben auch den üblichen Angriffen, deren Herkunft in der Bürgschaft als »westliche Bewusstseinsindustrie« apostrophiert wird. Als »rhetorisches Diskursverfahren« 84 ermöglicht die protektive Ironie risikolos das Sprechen über das scheinbar diskreditierte Objekt, hier also eine neue literarische Auseinandersetzung mit der DDR. Dank des Modus der protektiven Ironie erscheint das Erzählen in der Bürgschaft als transgressiv. Während auf der Plotebene die Grenze als trennend erfahren wird – geschildert werden Grenzkontrollen, die Unterschiede beider deutschen Staaten werden als Krise der Alter-Ego-Identität erlebt – findet erzählerisch eine Diskursivierung des Landes jenseits der Grenze statt, und zwar deutlich losgelöst von vorherrschenden Meinungen. Das Erzählen von dieser Verdoppelungsfiguration selbst lässt sich als transgressiv beschreiben. Das Erzählen der Verdoppelungsfiguration vereint in der Bürgschaft also das Trennende auf der Handlungsebene und das Verbindende auf der Erzählebene, das Verdoppelungsfigurationen mit der Grenze selbst gemeinsam haben. Ebenso wie die Alter-Ego-Figuration ist auch das Erzählen der Bürgschaft eng an die Grenze als literarisch fruchtbare Kategorie gebunden. Dies wird in der intensiven Reflexion des Erzählens deutlich, die explizit auf das poetologische Potenzial der Grenze verweist.
82 Ebd., S. 34. 83 Vgl. Martin Kane, »Was the Wall a laughing matter ? Some reflections on Thorsten Beckers Die Bürgschaft«, in: Arthur Williams, Stuart Parkes und Roland Smith (Hgg.), German Literature at a Time of Change 1989–1990. German Unity and German Identity in literary Perspective, Bern u.a. 1991, S. 359–371, hier S. 368. 84 Werner Wolf, »Schutzironie«, S. 36.
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Die Transit-Poetik in Beckers Bürgschaft Reflexion des Erzählens – anekdotisches Erzählen In der Exposition der Erzählung wird das Erzählen an sich reflektiert, das spontane Erzählen der Anekdoten leitet die längere deutsch-deutsche Bürgschaftserzählung ein. Die Favorisierung des anekdotischen Erzählens gegenüber dem epischen Erzählen, wie es der Roman repräsentiert, wird betont: »Wir wissen erst hinterher was geschehen wird. Deshalb müssen weiter Geschichten erzählt werden – damit die Menschheit überleben kann. Der schlechteste Erzähler unterscheidet sich vom besten Romancier dadurch, daß er die Geschichte nicht in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie erzählt.« (Bü 6)
Das ungeplante und ausschweifende Erzählen ist charakteristisch für die gesamte Erzählung. Neben den intellektuellen Exkursen, Bühnenkritiken und Leseerfahrungen wird dieser Aspekt auch in der Exposition deutlich dargestellt. Die Bürgschaft beginnt mit dem Erzählerdouble Glatze, der auf der Reise nach Berlin Anekdoten zum Besten gibt und damit die Erzählfolie der Bürgschaftsgeschichte darstellt. Dabei wird Glatzes »Redeschwall« (Bü 12) nicht einfach vor die Haupterzählung montiert, sondern ausschweifend eingebettet. Der Erzähler hat auf der Fahrt Richtung Osten bereits einen Tramper eingesammelt, einen schweigenden Engländer, dessen Sache das Erzählen offensichtlich nicht ist (vgl. Bü 5). Der Engländer ist ein völlig Unbeteiligter, gehört aber zur Vorgeschichte der Bürgschaftserzählung, er ist sogar »schuld« (Bü 11), dass die Geschichte in Gang kommt. Aus Trotz gegenüber dem Gast, der »wegen mangelnder Deutschkenntnisse oder aufgrund seines Charakters an dem, was ich zu berichten habe, unbeteiligt blieb« (Bü 11) wird ein zweiter Tramper mit ins Auto geholt. Glatze nun wird knapp als das »Schreckbild von einem Tramper« (Bü 11) skizziert: »Etwa 40 Jahre alt, Glatze, Schnauzbart, Boxernase, Krusten im Gesicht und auf den Händen, abgetragene US-Armeekleidung, Jesuslatschen und dazu ein Seesack« (Bü 11) Das erzählende Doppel des namenlosen Ich-Erzählers vereint schon rein optisch verschiedene Erzähltraditionen, wie das Seemannsgarn und die Wanderpredigt. Unmittelbar legt er los und erzählt Anekdoten aus Ostdeutschland, »in denen allesamt der Alkohol und die Volkspolizei neben den ich-erzählenden Helden die Hauptrollen spielten« (Bü 12). Diese Kurzkritik trifft auf Die Bürgschaft selbst im Übrigen genauso zu. Nicht nur das Erzählen selbst, als zunächst mündliches Erzählen, verbindet den Erzähler mit Glatze, sondern auch was und wie sie erzählen. Die Bemerkung, Glatze erzähle »mit Augen, wie sie [dem
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Erzähler] später selber wachsen sollten« (Bü 12) bestätigt das. Glatze und der namenlose Ich-Erzähler stellen sich dem vielbeschworenen ›Ende des Erzählens‹, personifiziert in Gestalt des schweigenden Engländers, und teilen ihre Erfahrungen mit, die bis ins Absurde reichen. Das fabulierende Erzählen, in diesem Fall durchaus anachronistisch ausgestaltet, wird der strikt geordneten und verstummten Welt entgegengehalten. Diese Diagnose verbindet den Erzähler – und dessen Vor- oder Wiedergänger Glatze – mit Walter Benjamins Erzähler. In seinem »Erzähler«-Aufsatz konstatiert Benjamin, dass »es mit der Kunst des Erzählens zu Ende geht«.85 Grund dafür sei etwa das mangelnde »Vermögen, Erfahrungen auszutauschen« 86 und der Umstand, dass die reine Information, den Rang der Erfahrung eingenommen habe. Wenn der Erzähler der Bürgschaft nun den Wahrheitsgehalt in Frage stellt, verdeutlicht er, dass er eine Erfahrung mitteilt, statt nachprüfbarer Fakten, bzw. Informationen. Er gibt weder vor, eine objektive Wahrheit mitzuteilen, noch, dass er die Unwahrheit spräche; was der Erzähler im Schilde führt, ist die Verbreitung einer Erfahrung durch die deutsch-deutsche Bürgschaftsgeschichte. Benjamin fasst diese Strategie so zusammen: »Der Erzähler nimmt, was er erzählt aus der Erfahrung; aus der eigenen oder berichteten. Und er macht es wiederum zur Erfahrung derer, die seiner Geschichte zuhören«.87 Auch wenn Benjamins Erzählkonzept durchaus kritisch zu rezipieren ist, 88 stellt es einen deutlichen Bezugspunkt für Die Bürgschaft dar. Die impliziten Übereinstimmungen in der Vorstellung vom Erzähler belegen dies. Ein weiteres Indiz sind die Referenzen auf einen Erzähltext Benjamins: Das Taschentuch.
85 Walter Benjamin, »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows« (1936), in: Ders. Erzählen.Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Alexander Honold. Frankfurt a.M. 2007, S. 103–128, hier S. 103. 86 Ebd., S. 103. 87 Ebd., S. 107. 88 Hier sei auf Rudolf Helmstetters Beitrag verwiesen: »Aus dem Bereich der lebendigen Rede entrückt – Walter Benjamins Erzählung vom Erzähler und die Mediengeschichte des Erzählens«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2 (2008), S. 291–321. Helmstetter kritisiert etwa Benjamins mediengeschichtliche Prämissen. Zugleich verweist er auf die Erzählung Das Taschentuch, die sich als fruchtbar erweist.
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Die Bürgschaft und Walter Benjamins Taschentuch Benjamins kurze Erzählung Das Taschentuch reflektiert das Erzählen auf einer Schiffspassage, an der der Erzähler teilnimmt. Der Kapitän des Schiffs hatte die langwierige Passage von Barcelona zu den Balearen durch anekdotisches Erzählen bereichert. Die Erzählung enthält theoretische Überlegungen zum Erzählen und exemplifiziert diese, u.a. durch ein mehrfaches mis-en-abyme: ein Erzähler erscheint als Figur in der Erzählung eines anderen. Relevanz hat Benjamins Erzählung für Die Bürgschaft aus unterschiedlichen Gründen. Besonders relevant ist freilich die Exemplifizierung der theoretischen Überlegungen aus dem Erzähler-Aufsatz im literarischen Text. Hinzu kommt der Verweis auf die kanarische Utopie, in die der Erzähler mit Schlitzer und Lärisch auswandert – diese hat hier ihr Gegenstück: Benjamins Erzähler imaginiert eine Reise zu den Kanaren, statt der unspektakulären Pendelbewegung zwischen Barcelona und den Balearen; die kanarischen Inseln werden zum Wunschort; der Fluchtpunkt der kanarischen Inseln in der Bürgschaft ist also auch ein Wiedergänger. Zusätzlich enthält Das Taschentuch Benjamins Gedanken zum Erzähler in literarisierter Form. Hier reflektiert der Erzähler das Erzählen, dessen Untergang er konstatiert.89 Er verknüpft das Erzählen mit Weisheit, die aus dem Erzählen wachse und sich darin zeige. Der Erzähler selber könne so zum Ratgeber werden. Diese Hypothesen spiegeln sich im »Erzähler«-Aufsatz. Langeweile Eine weitere Verbindung von Walter Benjamins Konzeption des Erzählens zu Thorsten Beckers Bürgschaft liegt in der Langeweile. Langeweile sei nach Benjamin eine Voraussetzung des Erzählens: »[W]er sich nie langweilt, kann nicht erzählen.« (Tas 741) Auch der Ich-Erzähler der Bürgschaft erkennt die Langeweile als relevante Erfahrung an: »Es gibt eine profane Erfahrung, die der poetischen nahekommt, das ist die Langeweile.« (Bü 7). Mit Langeweile wird die Erfahrung verknüpft »in einem eiserenen Käfig in der Zeit gefangen« (Bü 8) zu sitzen. Die Langeweile konstituiere so einen »fiktiven Raum«, in dem »sich Geschichten ergießen« (Bü 8) könnten. Das poetische Potenzial der Langeweile wird sowohl von Benjamin als auch von Becker anerkannt. Becker diagnostiziert, wie Benjamin aber auch gleich einen Verlust an Langeweile: »Die ameri-
89 Dies geschieht mit fast wörtlicher Entsprechung: »Denn wie gesagt, mit der Kunst des Erzählens geht es zu Ende«, in: Walter Benjamin, »Das Taschentuch«, in : Ders., Gesammelte Schriften. Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen. Bd. IV.2, hg. von Tillmann Rexroth, S. 741–745, hier S. 741. Im Folgenden zitiert mit der Sigle Tas.
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kanische Idiotie von ›time is money‹« habe zum »Aussterben der Zeiträume« (Bü 7) der Langeweile geführt.90 Ein letztes Refugium der Langeweile stelle dafür die DDR dar, und zwar aufgrund ihrer sozialistischen Ökonomie. Mit diesem Urteil wird die DDR als poetischer Raum geadelt, und nicht als Hort unproduktiver Langeweile verbrämt: Die Erfahrung der Zeit sei in der DDR geschützt vor der Hektik des »Leistungssport[s]« (Bü 7), wie man ihn in der BRD vorfindet. Von der langen Wiele als Zeit, die Zeiträume und fiktive Räume stiftet, erzählen die Transitstrecken: »Hier, wo die Tendenz der Autobahn, nichts weiter zu sein als die Verbindung zwischen zwei Punkten, ihre Wirklichkeit vollbringt, wird sie vollends zur Straße. Die Zeit, die sie totschlagen wollte, ersteht allmächtig wieder auf.« (Bü 8). Die Transitstrecke, als Zeiterfahrung wird somit poetisch zur Erfahrung langer Weile. Benjamins Entsprechung dazu ist implizit: Die Passage auf dem Schiff, das die Balearen mit dem Festland verbindet, ist eine langweilige Erfahrung, für den Kapitän, der erzählt, bzw. Seemannsgarn spinnt, und für den Mitreisenden, der erst zuhört und in Benjamins Erzählung selbst zum Erzähler wird. Die Zeitspanne der Passage, bzw. Grenzüberschreitung, wird erfahrbar und somit erzählbar, bzw. mit Erzählungen ausfüllbar. Der Transit als Ausdehnung der Grenze selbst wird damit poetisch und bietet Raum zum Erzählen jenseits starrer Dualismen und eindeutiger Positionierung und ermöglicht das uneindeutige Spiel der Ironie.
VERDOPPELUNGEN IN DER DEUTSCH-DEUTSCHEN LITERATUR DER GRENZE Das Paradigma der Doppelung durchzieht die deutsch-deutsche Literatur der Grenze und ist latent vorhanden, so ist dieses Paradigma etwa auch in Arno Schmidts Steinernem Herzen virulent. Bei Schmidt allerdings werden nicht Figuren verdoppelt, die Doppelung bezieht sich auch besonders auf Gegenstände: Bücher, Kisten, Münzen usf. Eine bedeutende Ausprägung des Paradigmas der Doppelung sind Doppelungsfigurationen. Das können wie gezeigt Geschwisterkonstellationen oder Doppelgängervariationen sein.
90 Benjamins Entsprechung: »Die Tätigkeiten, welche sich geheim und innig mit ihr [der Langeweile, JG] verbunden haben, sterben aus. Und auch darum geht es mit der Gabe, Geschichten zu erzahlen, zu Ende: es wird nicht mehr gewoben und gesponnen, gebastelt und geschabt, während man ihnen lauscht. Kurz: Arbeit, Ordnung und Unterordnung muß sein, wo Geschichten gedeihen sollen« (Tas 741).
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Literarische Geschwisterfigurationen wie die der deutsch-deutschen Brüder stehen häufig in einem explizit politischen Kontext. Im Wechselspiel von Trennung und Begegnung werden harmonisierende Brüderpaare inszeniert. Der literarische Gestus ist etwa bei Heiduczek und Lattmann ein kompensatorischer: Es wird von der Trennung der Brüder erzählt, diese Erzählung mündet dann in einer Familienzusammenführung. So wird das harmonisierende Ideal (nationaler) Einheit literarisch gestaltet. Neben diesen schlichten Allegorisierungen steht aber auch ein Roman wie Reimanns Geschwister. Die allegorische Bruderfigur wird mit dem fremd gewordenen Bruder im Westen – Konrad – präsentiert. Diesem Stereotyp steht die komplexere Geschwisterbeziehung von Elisabeth und Ulrich gegenüber. Das harmonische Geschwisterpaar wird durch den Ausreisekonflikt getrennt; der Topos der deutsch-deutschen Geschwister wird bei Reimann komplex gestaltet Anhand der Geschwisterfiguren zeigt sich die differenzierte literarische Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Teilung. Zugleich schreibt sich die Grenze auf diese Weise in die Literatur mit ein. Die Grenze provoziert das Arrangement der Geschwister auf beiden Seiten der Grenze und macht die Geschichte so erst erzählbar. Die Grenze als literarische Kategorie kann im Paradigma der Doppelung aufgespürt werden. Dieses Paradigma ist konstitutiv für die untersuchten Doppelgängergeschichten. Die Grenze hält durch die Doppelung Einzug in die Texte, sowohl bei Schlesinger als auch in Beckers Bürgschaft. In Schlesingers Spaltungserzählung bildet das geteilte Berlin ein passendes setting in dem die Persönlichkeitsspaltung inszeniert werden kann. Die Spaltung Racholls resultiert aber nicht primär aus einer deutsch-deutschen Problematik, wie der Ausreise des Freundes Johannes Mertens. Diese Ausreise etwa wird im Text eher marginalisiert. Stattdessen ist die Spaltung psychologisch motiviert. Die Erzählung inszeniert einen internen Konflikt Racholls. Die Arbeit am Verdrängungssyndrom bestimmt große Teile der Erzählung. Die latente Präsenz der Grenze durch das Paradigma der Verdoppelung ist elementar für das selbstreflexive Erzählen. Das transgressive Potenzial der Grenze erlaubt eine innovative und angemessene Literarisierung des individuell und gesellschaftlich Verschwiegenen. Das literarische Potenzial der Grenze geht über die Darstellung der Teilungsproblematik hinaus, indem auch andere Themen mithilfe der Grenze gestaltet werden können. So wie Schlesingers Erzählung eine neue (literarische) Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte fordert, evoziert Beckers Bürgschaft eine neue literarische Auseinandersetzung mit der DDR in der BRD. Beide Texte thematisieren dabei die deutsch-deutsche Grenze und gehen zugleich über diese hinaus: Sie verharren nicht bei der deutschen Teilungsproblematik, sondern verlangen nach
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einer Auseinandersetzung jenseits dieser thematischen Festlegung. Mithilfe der protektiven Ironie gelingt es Becker Vorverurteilungen transparent zu machen und so zu entschärfen. Damit wird erreicht, dass der Diskurs über das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander neu belebt wird. In Beckers Fall ist die Transit-Poetik bestimmend für die deutsch-deutsche Bürgschaftserzählung, die ja auch auf der Grenzüberschreitung fußt. Das poetische Potenzial der Grenze, Gegenstand dieser Arbeit, wird in dieser Erzählung explizit reflektiert und bestätigt. Die Relevanz der Grenze in Gestalt der Transitstrecke ist dabei so groß, dass die Erzählung vom deutsch-deutschen Freundespfand mit einem Verweis auf die Poetik der Grenze beginnt: »Es gibt vielleicht noch einen Ort in Deutschland, den die Bundesrepublikaner fürs Erzählen haben. Dieser Ort ist die Transitautobahn. Die DDR sollte meiner persönlichen Meinung nach nächstens mit dieser Begründung die Transitpauschale erhöhen.« (Bü 5)
Poetik und Politik der Grenze
Das poetische Potenzial der Grenze zeigt sich deutlich in unterschiedlichen Texten der deutsch-deutschen Literatur der Grenze. Als literarische Größe gestaltet sie das Erzählen mit, indem erzählerische Konventionen und literarische Traditionen revitalisiert und weiterentwickelt werden; in der deutsch-deutschen Literatur der Grenze finden Modifikationen narrativer Modelle statt. Diese mehrdimensionale Steuerung von Literatur durch die Grenze wird als Poetik der Grenze gefasst. Anhand der narrativen Modelle des Bildungsromans, der Liebesgeschichte und der Doppelungsfiguration konnte nachgewiesen werden, dass die Grenze eine literarische Größe darstellt. Die Literatur bildet die Grenze einerseits ästhetisch nach, indem Differenzierungen, Begegnungen und Transformationen literarisch inszeniert werden; andererseits gestaltet die Grenze eben auch die Literatur mit, indem mithilfe der Grenze narrative Modelle modifiziert werden. Die enge Verschränkung von Grenze und Literatur zeigt sich auch, wenn die Grenze das Erzählen (und bestimmte Erzählweisen) erst initiiert, wie zuletzt bei Thorsten Beckers Bürgschaft gezeigt. In Bezug auf den Bildungsroman erweist sich die Grenze als »Überidee« (C. Wolf), die die Entwicklungsgeschichten erzählbar macht. In der Literatur der Grenze können die Entwicklungsnarrative verschiedene Formen annehmen. Schematische Entwicklungsgeschichten, die an die Anforderungen eines sozialistischen Realismus angepasst sind, gibt es ebenso, wie deren Gegenentwurf, Dieter Nolls Werner Holt steht daher neben Fritz Rudolf Fries’ Oobliadooh. Die Romane treten als Entwicklungsnarrative gemeinsam mit Christa Wolfs Geteiltem Himmel in einen gemeinsamen Diskurs ein. Im Kontext der Konvention des Bildungsromans ist besonders das Modell der literarischen Grenzreise – in Form der Westschleife, bzw. Ostschleife – von enormer Bedeutung. Innerhalb des narrativen Kontextes bildet die Grenzreise ein wichtiges Element: Das Entwicklungsnarrativ wird mithilfe der spezifischen deutsch-deutschen Reiseerzählung
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vermittelt. Die politische Topographie, mithin die Grenze, wird so zum Fundament, welches das Entwicklungsnarrativ trägt. Das Modell der Grenzreise hat in der gesamten deutsch-deutschen Literatur der Grenze eine enorme Bedeutung und taucht deshalb auch konstant in weiteren Kapiteln der vorliegenden Untersuchung auf. Liebesgeschichten, wie auch Narrative von Doppelungsfigurationen, greifen das Modell auf. Sowohl bei Brӗzan, Johnson und Schmidt, als auch bei Reimann, Schlesinger und Becker wird an das narrative Modell der Grenzreise angeschlossen und dieses Modell wird unterschiedlich gestaltet. In Form der kurzzeitigen Reise hinter die Grenze samt Rückkehr wird das Jenseits der Grenze zum literarischen Raum, in den Entwicklungs-, Liebes- oder Doppelungsnarrative verlagert werden können. Mithilfe der Grenzreise kann das Jenseits der Grenze imaginiert und dargestellt werden. So wird die DDR, respektive BRD, präsent gehalten und innerhalb der Literatur erzählbar. Die unterschiedlichen narrativen Modelle, nach denen die vorliegende Arbeit gegliedert ist, stehen u.a. durch die literarische Form der Grenzreise miteinander in Verbindung. Ein weiterer gemeinsamer Nenner ist das Paradigma der Doppelung, das in der Literatur der Grenze eine ähnlich herausragende Rolle spielt, wie die Grenzreise. Dieses Paradigma verbindet insbesondere die Liebesgeschichten und die Doppelungsfigurationen, schließlich finden sich insbesondere hier Paarkonstellationen und weitere Verdoppelungen. Es ist auffällig, dass in der Literatur der Grenze viele Doppelungen auftauchen. Dieser Befund lässt sich unschwer mit der Poetik der Grenze erklären: Die Grenze als Instrument der Teilung evoziert eine strukturelle Zweiheit. Diese Zweiheit ist unterschiedlich konnotiert – als verbundene Paarkonstellation oder als agonales Konkurrenzverhältnis – und kann deshalb auf unterschiedliche Weisen literarisiert werden. Herausragende Bedeutung hat das Paradigma der Doppelung sicher bei Verdoppelungsfigurationen und im Kontext von Liebesgeschichten. Die Liebesgeschichten der Literatur der Grenze orientieren sich am Schema der dramatischen Liebe einer Romeo-und-Julia-Konstellation. Die Familienfehde wird ersetzt durch die Systemkonkurrenz der beiden deutschen Staaten, das setting für eine dramatische Liebesgeschichte ist historisch determiniert.1 Rainer Benjamin Hoppe führt in seiner additiven Studie eine Vielzahl scheiternder Liebesgeschichten auf, die sich als teilweise simplifizierte und profane Romeound-Julia-Geschichten beschreiben lassen. In dieser Arbeit wurde der Fokus
1
Den komplexen und essentiellen Zusammenhang von Grenze und Liebe führt Gottfried Keller bereits im 19. Jahrhundert beispielhaft vor. Die Novelle zeigt das Liebesdrama, das die Grenze auslöst, eindrücklich.
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daher auf Abwandlungen des Themas gelegt und eine glückliche Liebesgeschichte mit ironisierenden Varianten in Verbindung gebracht. Brӗzans Liebesgeschichte steht Johnsons Zwei Ansichten gegenüber. Beide Texte sind nicht nur über das Thema und dessen unterschiedliche Ausgestaltung verbunden, sondern auch über die narrative Strategie des alternierenden Erzählens. Es treffen unterschiedliche und gemeinhin ›unvergleichliche‹ Texte im Resonanzraum der deutsch-deutschen Literatur der Grenze aufeinander. Insbesondere in Schmidts Steinernem Herzen wird die Verknüpfung mit dem Paradigma der Doppelung deutlich. Schließlich wird nicht nur eine Liebesvariation entfaltet, sondern gleich ein doppeltes Paararrangement eingerichtet. Die einschlägige Forschung hat auf das Paradigma der Doppelung bereits verwiesen2 – dieses Paradigma kann nun eindeutig auf das poetische Potenzial der Grenze zurückgeführt werden. In den untersuchten Verdoppelungen – ob Geschwisterfiguren, psychologische Spaltungen oder Alter Ego-Konstellationen – liegt das poetische Potenzial der Grenze dank des Paradigmas der Doppelung auf der Hand. Besonders bei den Geschwisterkonstellationen ist die Nähe zum politischen Diskurs um die nationale Einheit auffällig. Schlesingers Spaltung bringt eine psychologische Gestaltung der Verdoppelung ins Spiel. Die politische Topographie löst den Spaltungsprozess und die Verhandlung verdrängter privater und gesellschaftlicher Erinnerungen aus. Thorsten Becker knüpft mit Reflexionen über das Erzählen und den Entwurf einer Transit-Poetik direkt an die Poetik der Grenze an. Die Alter-Ego-Konstellation greift ihrerseits das essentielle Paradigma der Doppelung auf. Die untersuchten Texte belegen eine Poetik der Grenze, die zuerst von Uwe Johnson thematisiert wurde. Johnson selbst zielt auf eine Literatur ohne politische Parteinahme ab. Ein sehr hoher Anspruch, der in dieser Arbeit nicht im Fokus stand. Es ist zu überprüfen, ob Johnsons eigenes Werk diesem Anspruch standhalten kann, und ob er überhaupt auf weitere Texte anwendbar ist. Was Johnson aber auch explizit fordert ist eine Anpassung der etablierten Erzählkonventionen an die »unerhörte« Situation der Teilung. Die Aktualisierung von verschiedenen narrativen Modellen und Erzählweisen durch die Grenze schließt damit an die literarische Kategorie der Grenze, wie Johnson sie entwirft, an. Auch Peter Schneiders Mauerspringer steht in engem Bezug zu einer Poetik der Grenze, da in dieser Erzählung das poetische Potenzial der Grenze und ihrer Überschreitung deutlich vorgeführt wird und durch eine dialogische Erzählweise illustriert wird. Die Grenze initiiert hier das Erzählen von verschiedenen Ge-
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Hier möchte ich noch einmal auf die genannten einschlägigen Beiträge von Susanne Fischer und Friedhelm Rathjen hinweisen.
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schichten, in denen die Grenze im Mittelpunkt steht. Beiderseits der Grenze kann dieses Erzählen stattfinden, da es stark anekdotisch geprägt ist und die verschiedenen Figuren in stetem Dialog stehen. Gerade das dialoglastige Erzählen über die Grenze hinweg ist eine Stärke der deutsch-deutschen Literatur der Grenze. Als narrative Rahmen werden grenzüberschreitende kommunikative Situationen aufgebaut, die elementar sind für den jeweiligen Text. Bei Schlesinger ist es die Prozess-Situation in der Ost und West, Gegenwart und Vergangenheit in einen Dialog gebracht werden. In Arno Schmidts Prosastück Am Zaun empfindet der Briefwechsel die Gesprächssituation nach. In Thorsten Beckers Bürgschaft spielt das anekdotische Erzählen3 eine ähnlich tragende Rolle wie in Schneiders Mauerspringer. In Johnsons Zwei Ansichten und Brӗzans Liebesgeschichte wird der Dialog narrativ in der alternierenden Kapitelstruktur gespiegelt. Auch durch den intertextuellen Zusammenhang dieser beiden Texte spielt der strukturelle Dialog eine Rolle: Die Texte – wie die gesamte Literatur der Grenze – stehen in einem dialogischen Verhältnis zueinander und etablieren einen gemeinsamen Diskurs. Der Textkorpus einer Literatur der Grenze ließe sich unschwer ergänzen, relevante Texte sind etwa Alfred Anderschs Ein Liebhaber des Halbschattens, Hans Erich Nossacks, Der jüngere Bruder, Bodo Morshäusers Berliner Simulation und weitere. Die vorliegende Arbeit fokussiert auf ost- und westdeutsche Literatur zur Zeit der Zweistaatlichkeit; diese Perspektive ist unschwer auch erweiterbar auf Literatur nach 1989/90: Hier existiert die Poetik der Grenze fort, teilweise in den narrativen Modellen, die in der Arbeit bereits angesprochen werden, wie die Geschwisterfiguration.4 Darüber hinaus ist die These der Poetik der Grenze auch übertragbar auf andere Genres und Medien. Da etwa auch in Filmen Geschichten mithilfe paradigmatischer Verdoppelungen oder West- bzw. Ostschleifen erzählt werden, ist
3
Als Anmerkung zum anekdotischen Erzählen über die Grenze hinweg möchte ich auf Nikolaus Wegmann verweisen, der in literarischen »Funde[n], Memorabilien, Kuriosa, Anekdoten«, die »an der Mauer und im Gedächtnis« haften, eine Poetik ausmacht, »die in der irritierenden Gegenständlichkeit der Mauer eine treibende Kraft unserer Literatur« erkennt. Wegmann kommt über die Betrachtung der architektonischen Materialität der Mauer zu einem Befund, der der Poetik der Grenze sehr nahe kommt. Vgl. Nikolaus Wegmann, »Die Mauer. 1961–1989. Eine quellenkundliche Polemik«, in Kritische Ausgabe S. 7–11, hier S. 11.
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Für den Komplex der Geschwisterfiguration habe ich bereits einige Texte aus der Zeit nach der Wiedervereinigung untersucht; darunter Romane von Reinahrd Jirgl, Monika Maron und Katrin Seglitz. Vgl. Johanna M. Gelberg, »Brüder und Schwestern!«:
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der Blick über mediale Grenzen sicher lohnenswert. Ein Beispiel für die filmische Adaption des Paradigmas der Doppelung stellt der erste Tatort-Fall der deutschen Fernsehgeschichte dar. Als Auftakt für die erfolgreiche Krimireihe dient ein deutsch-deutscher Fall, in dem sowohl das Modell der Grenzreise als auch die Verdoppelung einer Rolle spielen. In TAXI NACH LEIPZIG von 1970 wird grenzüberschreitend im Todesfall eines augenscheinlich westdeutschen Jungen in der DDR ermittelt. Basis für den tragischen Fall ist eine Zwillingsgeschichte und das Arrangement von Eltern und Kindern entlang der deutsch-deutschen Grenze. Die Untersuchung einer Poetik der Grenze auch über das Medium der Literatur hinaus erscheint sehr lohnenswert; die Mehrdimensionalität der Grenze wird in verschiedenen Kontexten produktiv. Die Poetik der Grenze geht Hand in Hand mit einer Politik der Grenze. Damit ist nicht die staatspolitische Dimension der Grenze gemeint, sondern eine politische Dimension, die sich aus dem poetischen Potenzial der Grenze ergibt: Die deutsch-deutsche Literatur der Grenze ist politisch, ohne dezidiert engagiert zu sein, indem sie einen grenzüberschreitenden Diskurs ermöglicht. In der Poetik der Grenze offenbart sich die Mehrdimensionalität der Grenze, wie sie bereits im Überblick über die Grenztheorien dargestellt wurde. Die Literatur greift verschiedene Dynamiken der Grenze auf, indem trennende, verbindende und transformative Aspekte dargestellt und narrativ umgesetzt werden. Die Grenze erscheint auch als literarische Kategorie als Vexierbild: Die Literatur der Grenze kann die beiden narrativen Räume trennen und verbinden, indem Unterschiede und Verbindungen literarisch umgesetzt werden. Das gelingt entweder durch die Darstellung von Entfremdungen – inhaltlich oder formal wie zum Beispiel in Uwe Johnsons Werken – oder es gelingt durch die literarische Umsetzung von Verbindungen; das geschieht etwa durch die Darstellung des jeweils anderen. Selbst wenn Dieter Nolls Figuren Westdeutschland eindeutig als negativ markieren, stellt Werner Holt trotzdem auch immer eine Verbindung mit dem anderen deutschen Staat dar. Die Grenze erscheint als Trennlinie und auch als ausgedehnte Zone, die narrativ gestaltet wird. Die Literatur der Grenze wird selbst zu einer vielschichtigen Kontaktzone nach dem Modell Mary Louise Pratts: Die verschiedenen narrativen Modelle und der Rückgriff auf das Paradigma der Doppelung sowie auf die Grenzreise machen das Jenseits der Grenze sichtbar. Durch die Literarisierung des Unbekannten wird es imaginiert und in den Diskurs integriert. Das Sprechen vom Jenseits der Grenze öffnet einen literarischen Resonanzraum, in dem grenzüberschreitende Kommunikation erprobt wird. Die Literatur der Grenze ermöglicht eine Ausdehnung der Grenze und die Etablierung einer Kontaktzone, die nicht auf harmonischer Ordnung basiert,
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sondern die durch die ästhetische Interaktion ausgelotet wird. Unterschiedliche literarische Werke firmieren unter der Bezeichnung Literatur der Grenze und sind durch die Grenze miteinander verbunden. Die Grenze stiftet in der Literatur Nachbarschaft und evoziert sowohl unvereinbare Kopräsenz als auch dialogische Kommunikation auf spezifisch literarische Weise. Die Literatur der Grenze verbindet so die literarischen Räume der DDR und der BRD miteinander und trägt zum Literaturaustausch bei. Dieser Austausch der Literaturmärkte und -betriebe ist dank Julia Frohn hinreichend belegt, die Literatur der Grenze zeigt einen literarischen Austausch auf, der auf der Ästhetik beruht: Die Poetik der Grenze ist dafür essentiell. So gibt es eindeutige Bezüge zwischen den untersuchten Texten, der intertextuelle Bezug zwischen etwa Christa Wolfs Geteiltem Himmel und Uwe Johnsons Roman Mutmassungen über Jakob ist in der Forschung präsent.5 In den hier untersuchten Werken lassen sich weiter Referenzen feststellen. Nicht nur, dass die Werke auf dieselben narrativen Modelle zurückgreifen, die Figuren wiederholen auch besondere Posen: Walter Eggers aus Schmidts Steinernem Herzen steht bei seine »Rede auf der Zonengrenze« breitbeinig, ein Fuß Ost, einer West. Diese Pose wird in Fries’ Der Weg nach Oobliadooh von Arlecq zitiert: Während der Berlin-Passage fühlt er sich, »als ob [er] einen Fuß links und den anderen rechts der Sektorengrenze hätte.« (Oo 204) Ein weiteres Beispiel ist die alternierende Erzählweise, wie sie in Brӗzans Liebesgeschichte und Johnsons Zwei Ansichten Verwendung findet. Kapitelweise wird aus der Perspektive eines Protagonisten erzählt, es wird zwischen Ost und West und zwischen Mann und Frau gewechselt. Diese Erzählweise bietet sich für die Inszenierung einer Geschichte von getrennten Liebenden unmittelbar an und greift zugleich die strukturelle Trennung (und Bezugnahme) durch die Grenze auf. Brӗzan und Johnson nutzen diese illustrative Erzählweise aber auf unterschiedliche Weise: Während bei Brӗzan eine glückliche Liebe erzählt wird, dekonstruiert Johnson das Muster der grenzüberschreitenden Liebesgeschichte – die emotionale Distanz der Liebenden findet in der getrennten Erzählweise ihre Entsprechung. Diese intertextuellen Bezugnahmen – und der ausgiebig darstellte Rückgriff auf etablierte narrative Modelle – stellt ost- und westdeutsche Literatur in einen gemeinsamen Kontext, der in einer ungeteilten Forschungsperspektive fokussiert wird. Dank dieser Perspektive kann das ›Problem‹ der so genannten DDRLiteratur entschärft werden. Eine kontrastive Betrachtung der Literatur nach 1945 ist nicht notwendig und sogar ungünstig, da so der Blick auf die literarische Kontaktzone verstellt würde. Außerdem stellt die Verwendung des Begriffs der
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Vgl. Kristin Felsner, Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung, S. 477ff.
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»DDR-Literatur« eine, wie auch immer geartete, ostdeutsche Literatur ins Abseits. Auf die Schwierigkeit die »DDR-Literatur« zu definieren wurde eingangs eingegangen, hinzu kommt die Ausgrenzung durch die Verwendung eines Etiketts. Der Begriff »DDR-Literatur« ist nicht wertfrei oder neutral. Wolfgang Emmerich verweist selbst auf die ideologischen Verwicklungen der DDRLiteraturforschung und des Begriffs. Verwendung findet der Begriff bei ihm auch nur nach vorheriger Warnung, man müsse ihn »offenhalten«. 6 Allzu schnell geht mit dem Begriff »DDR-Literatur« eine Abwertung der Texte einher, entweder werden sie als staatsloyale Kuriosa oder als engagierte politische Aussagen gelesen, ihre Rolle in einem literarischen Kontext gerät so aus dem Blick. Die Tatsache, dass kein analoger Begriff wie »BRD-Literatur« virulent ist, verdeutlicht, dass »DDR-Literatur« eine Markierung für einen Sonderfall der literarischen »Norm« darstellt. Vor diesem Hintergrund ist eine neue Perspektivierung der literaturwissenschaftlichen Forschung jenseits der Konventionen des Kalten Krieges geboten. Mithilfe der Poetik der Grenze gelingt es, Literatur aus beiden deutschen Staaten in einen gemeinsamen Kontext zu stellen. Der Blick öffnet sich also auf eine gemeinsamen deutsch-deutschen Literaturraum, der weder inhaltlich determiniert wird, noch vom politischen Standpunkt und Engagement der Autoren abhängt. In diesem literarischen Resonanzraum entfaltet sich das politische Potenzial der Grenze: Dank der deutschdeutschen Literatur der Grenze werden literarische Bezugnahmen offenbar, die vom Austausch der Literaturmärkte und –betriebe unabhängig sind. Die Politik der Grenze, bzw. die Politik der Literatur der Grenze besteht in der Etablierung eines ästhetischen Kommunikationsraumes, in dem die Wahrnehmung des Anderen hinter der Grenze verhandelt wird. Uwe Johnsons etwa thematisiert die deutsch-deutsche Problematik und die feinen Unterschiede der beiden Gesellschaften explizit, während beispielsweise Dieter Lattmann mithilfe seiner Brüderfiguren ein harmonisiertes Bild lanciert und eine familiäre Einheit über die Staatsgrenze hinweg inszeniert. Linientreue Texte wie Dieter Nolls Werner Holt oder Werner Heiduczeks Brüder hingegen bestärken die Vorurteile der SED gegenüber der BRD, die auf unterschiedlichen Wegen in der DDR weit verbreitet waren. Die Bezugnahme auf das Jenseits der Grenze kann, wie gezeigt, sehr unterschiedliche Formen annehmen und konträren (politischen) Positionen Ausdruck verleihen. Über das Medium der Literatur treten diese Bezugnahmen und Positionen aber ein in einen gemeinsamen Diskurs – auch wenn dieser nicht versöhnlich-dialogisch verlaufen muss. Pratt verweist in ihrem Mo-
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Vgl. Kapitel »Die deutsche Literaturgeschichte zur Zeit der Zweistaatlichkeit«, Zitat: Emmerich, Literaturgeschichte, S. 21.
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dell der Kontaktzone dezidiert auf asymmetrische Beziehungen und die unterschiedlichen Formen des Kontakts (begegnen, zusammenstoßen und kämpfen).7 Der literarische Diskurs der Literatur der Grenze bietet also genauso Raum zum grenzüberschreitenden Austausch wie zum steifen Beharren auf weit verbreiteten Vorurteilen. Entscheidend ist die retrospektive Möglichkeit, diesen Diskurs heute in einer gemeinsamen Forschungsperspektive betrachten zu können und die die deutsch-deutsche Literatur der Grenze als Kontaktzone wahrzunehmen. Aus der Sicht des 21. Jahrhunderts wird entlang einer geschlossenen Grenze ein ungeteilter literarischer Diskurs sichtbar, in dem sich die Poetik und Politik der Grenze entfalten konnten.
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Mary Louise Pratt schreibt zur Kontaktzone: »I use this term to refer to social spaces where cultures meet, clash, and grapple with each other, often in contexts of highly asymmetrical relations of power«, vgl. dies., Travel Writing, S. 34.
Literaturverzeichnis
SIGLENVERZEICHNIS UND ZITIERTE AUSGABEN AmZ BS Bü DBA G GH HB Kl LB LG MS Oo RJ Sp StH Tas WH ZA
Arno Schmidt: Am Zaun Uwe Johnson: Berliner Stadtbahn (veraltet) Thorsten Becker: Die Bürgschaft Uwe Johnson: Das dritte Buch über Achim Brigitte Reimann: Die Geschwister Christa Wolf: Der geteilte Himmel Werner Heiduczek: Die Brüder Wolfgang Joho: Die Klassenfahrt. Geschichte einer Reise Dieter Lattmann: Die Brüder Juri Brӗzan: Eine Liebesgeschichte Peter Schneider: Der Mauerspringer Fritz Rudolf Fries: Der Weg nach Oobliadooh Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe Klaus Schlesinger: Die Spaltung der Erwin Racholl Arno Schmidt: Das steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahr 1956 Walter Benjamin: Das Taschentuch Dieter Noll: Die Abenteuer des Werner Holt. Roman einer Heimkehr Uwe Johnson: Zwei Ansichten
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Zitierte Ausgaben Benjamin, Walter: »Das Taschentuch«, in: Ders. Gesammelte Schriften. Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen. Bd. IV.2, hg. von Tillmann Rexroth, S. 741–745. Becker, Thorsten: Die Bürgschaft, Zürich 1985. Brӗzan, Jurij: Eine Liebesgeschichte, Berlin 1975 [1962]. Fries, Fritz Rudolf: Der Weg nach Oobliadooh, Berlin 2012 (= Die andere Bibliothek, Bd. 31). Heiduczek, Werner: Die Brüder, Berlin 1968. Joho, Wolfgang: Das Klassentreffen. Geschichte einer Reise, Berlin, Weimar 1968. Johnson, Uwe: »Berliner Stadtbahn (veraltet)«, in: Ders., Berliner Sachen, Frankfurt a.M. 1975, S. 7–21. Johnson, Uwe: Das dritte Buch über Achim, Frankfurt a.M. 1998 [1961]. Johnson, Uwe: Zwei Ansichten, Hamburg 1968 [1965]. Keller, Gottfried: »Romeo und Julia auf dem Dorfe«, in: Ders., Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 4. Die Leute von Seldwyla. Erster Band, hg. von Walter Morgenthaler, Basel, Frankfurt a.M. 2000, S. 74–159. Lattmann, Dieter: Die Brüder, Berlin (Ost) 1986. Noll, Dieter: Die Abenteuer des Werner Holt. Roman einer Heimkehr, Berlin, Weimar 1964. Reimann, Brigitte: Die Geschwister, mit einem Nachwort von Karin McPherson, Berlin 2001. Schlesinger, Klaus: »Die Spaltung des Erwin Racholl«, in: Ders., Berliner Traum, Frankfurt a.M. 1980, S. 7–101. Schmidt, Arno: »Am Zaun«, in: Ders., Bargfelder Ausgabe Werkgruppe I. Romane Erzählungen, Gedichte, Juvenilia Bd. 4, Zürich, S. 88–91. Schmidt, Arno: Das steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahre 1954 nach Christi, in: Ders., Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe I. Romane Erzählungen, Gedichte, Juvenilia. Bd. 2, Zürich 1986, S. 7–163. Schneider, Peter: Der Mauerspringer, Darmstadt/Neuwied 1987 [1982]. Wolf, Christa: Der geteilte Himmel, in: Dies., Werke Bd. 1, hg. von Sonja Hilzinger, München 1999.
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Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)
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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3
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