Phänomenologie ironischen Geistes: Ethik, Poetik und Politik der Moderne 9783770542666

Dieses Buch rekonstruiert die Geschichte des ironischen Geistes der Moderne. Dieser tritt erstmals auf mit der sprachthe

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German Pages 392 [388] Year 2010

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Table of contents :
Phänomenologie ironischen Geistes: Ethik, Poetik und Politik der Moderne
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
A. VORSPIEL (GRIECHISCHES)
B. RHETOROLOGIEN
I. Geglückte Versöhnung
II. Sehnsucht der Kunst
III. Wahnsinnsbewusstsein
C. ETHICA
I. Böse Romantik bei Hegel und Kierkegaard
1. Das Böse (Hegel)
2. Kierkegaards mit ständiger Rücksicht auf Sokrates geschriebene Dissertation Über den Begriff der Ironie
3. Religiöse Inversion der Ironie
4. Entweder Ästhetik – Oder Ethik
II. Ästhetisierung als ironischer Imperativ?
1. ‚Ästhetisierung‘ als self-fulfilling prophecy ihrer Kritiker
2. Jacques Rancière
3. Romantische Avantgarde
4. Drehscheibe Nietzsche
III. Kostüm und Maske
1. Noch einmal: Nietzsches ästhetische Existenz
2. Das Nachleben der Ironie als Maske
IV. Dandyismus und Verwandtes
1. Ästhet, Flaneur, Dandy – Baudelaire
2. Ökonomie des Dandyismus
V. Heroische Melancholie
1. Von (romantischer) Melancholie, Schwermut und Verzweiflung
2. Stimmungslehren
VI. Unechtes Ichwerden oder Die Entstehung des Ich aus dem Geist ironischer Wiederholung
1. Griechische Gegensichtigkeit
2. Psychoanalyse I: Lacan
3. Psychoanalyse II: Ichgenese bei Freud
4. Die Entstehung des Ich aus dem Geist der Ironie
5. Psychoanalyse III: Freuds Melancholietheorien und deren Dekonstruktion
6. Kleiner Exkurs über die spielerische Genese und den maskenhaften Untergang des Ich (Rilke)
VII. Verteidigung der Verführung
1. Literatur und Verführung
2. Täuschung, Heuchelei, Lüge: Von Höflingen und privatisierenden Libertins
3. Verführer oder Verführung: eine Differenz ums Ganze (Les liaisons dangereuses)
4. Von der dissimulatio zur Simulation Baudrillards
D. ROMAN – MODERNE – IRONIE
I. Geschichtsphilosophie und Gattungspoetik
1. Georg Lukács
2. Indirekt-mimetisches Erzählen
3. Ironie als sublimiertes Lachen (Bachtin)
4. Die Sprachen des Romans
a. Hoch- versus Niedersprache
b. Sensibilität der Romansprache
c. Nähe zum Unsinn
II. Haltung des Erzählers und Sprachstile des Romans
1. Der traditionelle Erzähler
2. Elemente der Romanerzählung
3. Die drei strukturellen Romanironien
a. Ironie zwischen Erzähler und Leser
b. Ironisches Verhältnis zwischen Erzähler und Held
c. Kontextuelle Ironie
III. Exkurs zu Musils (ironischem) Stil – Sprache und Wirklichkeit
1. An den Grenzen traditioneller satirischer Ironie
2. Ansteckende Nachahmung
3. Der Mann ohne Eigenschaften als Reflexionsmedium
4. Helligkeitskontraste
5. Materialistische Mystik in Farben
IV. Von der Mikroironie des Zitats zur Makroironisierung von Gattungen
1. Ironische Zitatzerstörung
a. Proust: handlungskonstitutives Zitat
b. Musil: personenkonstituierendes Zitat
c. Joyces Zitatsinngebung
2. Pastiche
3. Parodie – Parasitäre Wiederholung von Genre- und Gattungsspezifika
V. Wirklichkeit und Illusion
1. Realitätsverkennende Lektüre
2. Literarische Ironie als parekbatische Brechung
VI. (Ent-)Bildungsromane und ironische Autobiographie
1. Bildungsdekadenz
2. Romantische Bildungsparodie
3. Ironische Autobiographik
a. Thomas Bernhards Sprachästhetik
b. Es lebe der Tod – Romankunst und Leben
E. IRONISCHE POLITIKEN
I. Drei politische Reflexionen um Ironie
1. Postmarxismus
2. Systemtheoretische Ironie des Staates
3. Carl Schmitt
II. These und Antithese
1. These: Von der strukturellen politischen Subversivität der Ironie
2. Antithese: Der strukturelle Elitismus der Ironie
a. Reaktionäre Romantik
b. Bürgerliche Spätzeitlichkeit
c. Postmoderner Privatismus
Exkurs zur Verdrängung des Ästhetischen im Politischen: Habermas vs. Rancière
Exkurs: Liberalismus und Kommunitarismus
III. Kafkas Gesetzeslogik
1. Formale Verschiebungen
2. Politische Umsetzung
3. Ironie und Humor bei Deleuze
F. METHODE ESSAY?
G. METAPHYSISCHE ENTGRENZUNGEN (OHNE STÄNDIGE RÜCKSICHT AUF IRONIE)
I. Grenzen der Ironie
II. Hanthologien I–IV
III. Disjunktive Dialektik (Hegel vs. Deleuze)
BIBLIOGRAPHIE
DANKSAGUNG
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Phänomenologie ironischen Geistes: Ethik, Poetik und Politik der Moderne
 9783770542666

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Avanessian · Phänomenologie ironischen Geistes

Armen Avanessian

Phänomenologie ironischen Geistes Ethik, Poetik und Politik der Moderne

Wilhelm Fink

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft Die diesem Buch zugrunde liegende Doktorarbeit wurde 2004 mit einem Dissertationspreis der Westfälisch-Lippischen Universitätsgesellschaft (unterstützt durch die Fa. Bertelsmann AG, Gütersloh) ausgezeichnet.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2010 Wilhelm Fink Verlag, München Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-4266-6

INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG ................................................................................................ 9

A. VORSPIEL (GRIECHISCHES) ............................................................... 27

B. RHETOROLOGIEN ............................................................................... 35 I.

Geglückte Versöhnung ................................................................... 35

II. Sehnsucht der Kunst ...................................................................... 44 III. Wahnsinnsbewusstsein .................................................................... 58

C. ETHICA ................................................................................................ 71 I.

Böse Romantik bei Hegel und Kierkegaard ..................................... 1. Das Böse (Hegel) ...................................................................... 2. Kierkegaards mit ständiger Rücksicht auf Sokrates geschriebene Dissertation Über den Begriff der Ironie ................. 3. Religiöse Inversion der Ironie..................................................... 4. Entweder Ästhetik – Oder Ethik .................................................

71 73 76 79 80

II. Ästhetisierung als ironischer Imperativ? ........................................... 1. ‚Ästhetisierung‘ als self-fulfilling prophecy ihrer Kritiker ............... 2. Jacques Rancière ........................................................................ 3. Romantische Avantgarde............................................................ 4. Drehscheibe Nietzsche ...............................................................

83 84 88 91 95

III. Kostüm und Maske ........................................................................ 101 1. Noch einmal: Nietzsches ästhetische Existenz............................ 102 2. Das Nachleben der Ironie als Maske ......................................... 105 IV. Dandyismus und Verwandtes ......................................................... 107 1. Ästhet, Flaneur, Dandy – Baudelaire......................................... 107 2. Ökonomie des Dandyismus ...................................................... 110

6

INHALTVERZEICHNIS

V. Heroische Melancholie................................................................... 118 1. Von (romantischer) Melancholie, Schwermut und Verzweiflung............................................................................. 118 2. Stimmungslehren...................................................................... 121 VI. Unechtes Ichwerden oder Die Entstehung des Ich aus dem Geist ironischer Wiederholung ............................................... 1. Griechische Gegensichtigkeit .................................................... 2. Psychoanalyse I: Lacan .............................................................. 3. Psychoanalyse II: Ichgenese bei Freud ....................................... 4. Die Entstehung des Ich aus dem Geist der Ironie ...................... 5. Psychoanalyse III: Freuds Melancholietheorien und deren Dekonstruktion............................................................... 6. Kleiner Exkurs über die spielerische Genese und den maskenhaften Untergang des Ich (Rilke)................................... VII. Verteidigung der Verführung ......................................................... 1. Literatur und Verführung ......................................................... 2. Täuschung, Heuchelei, Lüge: Von Höflingen und privatisierenden Libertins.......................................................... 3. Verführer oder Verführung: eine Differenz ums Ganze (Les liaisons dangereuses)............................................................. 4. Von der dissimulatio zur Simulation Baudrillards ......................

126 126 130 133 135 138 140 144 144 147 151 156

D. ROMAN – MODERNE – IRONIE ....................................................... 163 I.

Geschichtsphilosophie und Gattungspoetik.................................... 1. Georg Lukács............................................................................ 2. Indirekt-mimetisches Erzählen .................................................. 3. Ironie als sublimiertes Lachen (Bachtin).................................... 4. Die Sprachen des Romans......................................................... a. Hoch- versus Niedersprache ................................................ b. Sensibilität der Romansprache ............................................. c. Nähe zum Unsinn ...............................................................

164 167 171 174 176 176 177 177

II. Haltung des Erzählers und Sprachstile des Romans ........................ 1. Der traditionelle Erzähler.......................................................... 2. Elemente der Romanerzählung ................................................. 3. Die drei strukturellen Romanironien......................................... a. Ironie zwischen Erzähler und Leser...................................... b. Ironisches Verhältnis zwischen Erzähler und Held ............... c. Kontextuelle Ironie..............................................................

179 179 181 182 182 183 188

INHALTSVERZEICHNIS

III. Exkurs zu Musils (ironischem) Stil – Sprache und Wirklichkeit ................................................................................... 1. An den Grenzen traditioneller satirischer Ironie ........................ 2. Ansteckende Nachahmung........................................................ 3. Der Mann ohne Eigenschaften als Reflexionsmedium ................. 4. Helligkeitskontraste .................................................................. 5. Materialistische Mystik in Farben ............................................. IV. Von der Mikroironie des Zitats zur Makroironisierung von Gattungen ............................................................................... 1. Ironische Zitatzerstörung .......................................................... a. Proust: handlungskonstitutives Zitat.................................... b. Musil: personenkonstituierendes Zitat ................................. c. Joyces Zitatsinngebung........................................................ 2. Pastiche..................................................................................... 3. Parodie – Parasitäre Wiederholung von Genre- und Gattungsspezifika......................................................................

7

190 190 193 198 201 204 213 213 215 216 218 219 222

V. Wirklichkeit und Illusion ............................................................... 225 1. Realitätsverkennende Lektüre.................................................... 226 2. Literarische Ironie als parekbatische Brechung........................... 228 VI. (Ent-)Bildungsromane und ironische Autobiographie..................... 1. Bildungsdekadenz ..................................................................... 2. Romantische Bildungsparodie................................................... 3. Ironische Autobiographik.......................................................... a. Thomas Bernhards Sprachästhetik ....................................... b. Es lebe der Tod – Romankunst und Leben............................

230 230 234 236 237 240

E. IRONISCHE POLITIKEN...................................................................... 245 I.

Drei politische Reflexionen um Ironie ............................................ 1. Postmarxismus.......................................................................... 2. Systemtheoretische Ironie des Staates ........................................ 3. Carl Schmitt .............................................................................

249 249 255 261

II. These und Antithese ...................................................................... 1. These: Von der strukturellen politischen Subversivität der Ironie.................................................................................. 2. Antithese: Der strukturelle Elitismus der Ironie......................... a. Reaktionäre Romantik......................................................... b. Bürgerliche Spätzeitlichkeit.................................................. c. Postmoderner Privatismus ...................................................

273 273 279 280 285 286

8

INHALTVERZEICHNIS

Exkurs zur Verdrängung des Ästhetischen im Politischen: Habermas vs. Rancière ........................................... 290 Exkurs: Liberalismus und Kommunitarismus ............................ 296 III. Kafkas Gesetzeslogik....................................................................... 1. Formale Verschiebungen........................................................... 2. Politische Umsetzung................................................................ 3. Ironie und Humor bei Deleuze .................................................

299 299 305 311

F. METHODE ESSAY? .............................................................................. 319 G. METAPHYSISCHE ENTGRENZUNGEN (OHNE STÄNDIGE RÜCKSICHT AUF IRONIE) .................................. 329 I.

Grenzen der Ironie ......................................................................... 331

II. Hanthologien I–IV......................................................................... 343 III. Disjunktive Dialektik (Hegel vs. Deleuze) ...................................... 356

BIBLIOGRAPHIE ......................................................................................... 367 DANKSAGUNG ........................................................................................... 387

EINLEITUNG

„Es ist dem philosophischen Schrifttum eigen, mit jeder Wendung von neuem vor der Frage der Darstellung zu stehen. Zwar wird es in seiner abgeschlossenen Gestalt Lehre sein, solche Abgeschlossenheit ihm zu leihen aber liegt nicht in der Gewalt des bloßen Denkens. Philosophische Lehre beruht auf historischer Kodifikation. So ist sie denn auch more geometrico nicht zu beschwören. […] Darstellung ist der Inbegriff ihrer Methode. Methode ist Umweg.“ Walter Benjamin1

Für den Versuch einer umfassenden Phänomenologie ironischen Geistes stellt sich das Problem der Darstellung auf unterschiedlichen Ebenen. Um die Darstellbarkeit von Ironie zu gewährleisten, bedarf es, mehr als dies bei anderen Untersuchungsgegenständen der Fall ist, zugleich ihrer Re-Konstruktion als Gegenstand. Generell ist der spezifische Gehalt geisteswissenschaftlicher Objekte nur aus ihren historischen Konfigurationen und nicht ohne Rekurs auf ihre diskursiven Formationen zu erschließen. Für Ironie als nicht nur selbstreflexives, sondern sich selbst maskierendes Phänomen gilt jedoch in besonderem Maße, dass sich ihre (geistes)wissenschaftliche, das heißt philosophische, kunst- oder literaturwissenschaftliche Untersuchung nicht mit dem Nachzeichnen einzelner Stationen oder Manifestationen ihrer historischen Objektivierung begnügen kann. Die vorliegende, immer auch geschichtstheoretisch angelegte Analyse unterscheidet sich von einer bloß historisch-semantischen zunächst dadurch, dass sie eine konstruktive, definitorische Arbeit am Phänomen selbst voraussetzt. Eine Phänomenologie ironischen Geistes hat ihren Gegenstand somit zugleich nachzuzeichnen und überhaupt erst zu konstituieren. Die von Walter Benjamin propagierte genaue „Versenkung in die Einzelheiten des Sachverhalts“ steht im Dienste der „mikrologischen Verarbeitung zum Maß des bildnerischen und intellektuellen Ganzen“2, die re-konstruierende Praxis muss demnach ergänzt werden durch eine poietische und gestalterische Definitionsarbeit im Dienste der trennscharfen Konturierung des Phänomens. Dies hat mehrere Gründe, welche den Inhalt und Zusammenhang von ‚Geist‘, ‚Ironie‘ und ‚Phänomenologie‘ selbst betreffen. Letztere hatte Hegel bestimmt als Methode des Geistes, zum Gegenstand zu kommen, als Methode des Geistes somit, in der und mit der dieser sich selbst zum Gegenstand wird. Auf unterschiedlichen Ebenen entgrenzt vorliegende 01 Benjamin, Walter, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Bd. I.1, Frankfurt am Main, 1990, S. 203–430, hier S. 207 f. 02 Ebd., S. 208.

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EINLEITUNG

Studie dieses Verständnis einer ruhigen Geistes voranschreitenden Phänomenologie. Hegels Phänomenologie ist zu verstehen als historische (nicht ontologische) Methode, die Genese und Entwicklung des Geistes zu beschreiben. Der moderne ironische Geist jedoch tritt schlagartig auf und als umfassender Widerspruch: erstens zu Hegels absolutem Geist; zweitens als Widerspruch in sich selbst (die ironische Aussage behauptet immer sich und anderes); drittens sperrt sich der ironische Geist mit diesem Einspruch gegen den Satz des Widerspruchs (A ungleich Non-A) auch gegen Hegels fundamentales Prinzip einer Entwicklungslogik aus dem Geist vernünftig kalkulierbarer Widersprüche. Um die plötzliche, mit allem Vorigen brechende Genese des modernen ironischen Geistes zu verstehen, reicht eine Phänomenologie Hegel’scher Prägung nicht mehr aus. Der Gang des ironischen Geistes ist kein fortschreitender mehr, sondern gehorcht, seiner ironischen Prägung gemäß, drei unterschiedlichen und unvereinbaren Operationsweisen (affirmativ, neutral, subversiv), die sich in den unterschiedlichsten historischen Kontexten innerhalb moderner Ethik, Poetik und Politik wiederfinden lassen. Dieses Ensemble dreier logisch in sich schlüssiger Lesarten der Ironie, das für die ganze moderne Episteme als gültig erachtet werden kann, hat zugleich den Charakter eines Einspruchs und einer Forderung. Widersprochen wird damit der theoretischen Selbstberuhigung, die am besten ablesbar ist an der ständig wiederholten Zuschreibung einer unfassbaren, weil ‚proteischen Natur‘3 der Ironie. Gefordert ist dagegen ein phänomenologisches Eintauchen in die unterschiedlichen Felder und historischen Vermischungen, in denen diese drei Logiken sich entfalten und als solche in ihrer für die Moderne invariablen Differenz deutlich werden. Eine anfängliche philosophische (rhetorischlogische) Definition der Ironie bedarf somit aus intrinsischen Gründen einer Ergänzung durch einander überschneidende ethische, literaturwissenschaftliche und politiktheoretische Lektüren, als den Feldern, in denen sich die drei Logiken vornehmlich entfaltet haben. Das führt dann im Aufbau der Studie zu zwei pragmatischen Zuspitzungen. Erstens kann die Abfolge der Kapitel einen historischen Prozess nur simulieren, nicht anders als die Kapiteltrennung eine strikte Trennung der einzelnen Gegenstandsfelder. Auch für die drei historischen Untersuchungsfelder moralischer, ästhetischer und politischer Ironie-Debatten gilt also, was für das Verhältnis von philosophischer und historischer Methode grundsätzlich gilt: Unter dem Signum der Ironie – von Hegel bis Habermas wurde das in immer neuen Variationen erbost moniert – können keine getrennten Diskurse bestehen.

03 Meist geschieht dies unter Verweis auf Otto Ribbecks Aufsatz „Über den Begriff des ‚Eiron‘“ (in: Rheinisches Museum für Philologie, N. F. 31, 1876, S. 381–400).

EINLEITUNG

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Griechisches Vorspiel Grundsätzlich manifestieren sich die drei ironischen Logiken schon in den divergierenden, ja auf den ersten Blick ganz unterschiedlichen und unverbunden nebeneinanderstehenden Sokratesbildern der Antike: als kritischer Bürger im Dienste der Allgemeinheit bei Xenophanes, als mäeutischer Liebhaber ihm unerreichbarer Weisheit bei Platon, als Zerstörer der moralischen Werte des Gemeinwesens bei Aristophanes. Aber nicht nur wegen seiner auch in späteren Einschätzungen – etwa bei Hegel, Kierkegaard und Nietzsche – wiederholt konstatierten Mehrdeutigkeit ist Sokrates die vorrangige historische Projektionsfläche vieler Ironiedebatten. Exemplarisch verweisen die durchaus widersprüchlichen ethischen Einschätzungen dieser historischen Ursprungsgestalt – entweder als Eiron (Kleintuer) oder genau umgekehrt als Alazon (Großtuer) – auf die zugleich epistemologische und ethische (oder politische) Dimension der Ironie.

Rhetorologien Insgesamt beruht die Studie auf einer vierfachen Problemlage. Der erste Aspekt betrifft die Verortung einer historischen wie systematischen Schnittstelle bei Friedrich Schlegel, dem die moderne Wiederentdeckung der Ironie zu verdanken ist. Zweitens ist die Art und Weise der frühromantischen Erfindung der Ironie von Interesse, in der ihre Ausweitung und Umwandlung zu einem allgemeineren kulturellen Phänomen bereits angelegt ist. Dies wird nachvollziehbar durch eine sprachtheoretische und philosophische Rekonstruktion der mehrdeutigen Disposition, welche der rhetorische Topos Ironie bei seiner modernen Rekapitulation in der Frühromantik erlangt. Damit wird drittens deutlich, inwiefern die konkrete Entfaltung des systematischen Ansatzes der Arbeit stets mit der historischen Entwicklung der These einer ironischen Verfasstheit des modernen Geistes parallel verläuft. Angesichts der Vielzahl möglichst genauer Phänomenbeschreibungen und der damit verbundenen Gefahr der Unübersichtlichkeit der Darstellung bedarf es viertens im Interesse der Transparenz und des Zusammenhalts des präsentierten Materials der These, dass die für das systematische Kapitel namensgebende rhetorische Logik der Ironie drei historisch konstante, nicht aufeinander reduzierbare Spielarten hat.4 Nach einem Blick auf den ‚Beginn‘ der Ironie mit dem ersten und für lange Zeit einzigen Ironiker Sokrates sowie ihre fast durchgehende (rhetorische) Neutralisierung während des Mittelalters und der Renaissance wird es darum gehen, 04 Durch diesen systematischen Zusammenhang unterscheidet sich die in vorliegender Arbeit verwendete Dreiteilung von oft mit moralischen Werturteilen grundierten geschichtsphilosophisch motivierten Unterscheidungen. Letzteres gilt etwa für Wayne Booth – Booth unterscheidet stable, covert und unstable irony (Booth, Wayne C., A Rhetoric of Irony, Chicago, 1974) – und für Alan Wilde (Horizons of Assent, Baltimore/London, 1981, S. 9 f.). Wilde unterscheidet prämoderne mediate irony („irony to mediate a fundamentally satiric vision“), modernistische disjunctive irony („strives […] toward a condition of paradox“) und postmoderne suspensive irony („with its yet more radical vision of multiplicity, randomness, contingency and even absurdity“).

12

EINLEITUNG

anhand der Frühromantik drei Sprechweisen von (affirmativer, neutraler und subversiver) Ironie aus den wuchernden Diskursen zu filtern: nicht als drei Variationen über ein Thema, sondern zur Klärung von drei rhetorischen Logiken der Ironie, welche als Matrix für das Verständnis späterer Erscheinungs- und Verwandlungsformen (auf ethischem, poetologischem und politischem Terrain) dienen können. Drei Schneisen in den frühromantischen Textkorpus zu legen, ist die Aufgabe des „Rhetorologien“ betitelten Kapitels: drei verschiedene Möglichkeiten, eine Einschätzung des in der frühromantischen Theorie verankerten Konstrukts Ironie sowie der modernen Romantik selbst zu formulieren5; drei verschiedene Lektüren, die sich in den bis heute völlig divergenten Beurteilungen der Romantik wiederholen6; drei Reflexionen aber vor allem der beginnenden Moderne über sich selbst, einer Moderne, welche bis heute nicht zu einer endgültigen Einschätzung ihrer selbst gekommen ist. Eine der Arbeitshypothesen dieser Studie lautet, dass gerade die Problematik der widersprüchlichen Selbstreflexionen der Romantiker und der Einschätzungen ihrer Interpreten fruchtbar gemacht werden kann. Die offensichtlichen Widersprüchlichkeiten sind nämlich zugleich symptomatische Indizien für die Art und Weise der Unabschließbarkeit des Projekts der Moderne insgesamt. Vor der Klärung der Frage nach den jeweiligen gesellschaftlichen, kulturellen oder epistemischen Einflüssen der (gleich ob Post-, Alter- oder einfach nur) Moderne seit 1800 auf das changierende Phänomen Ironie muss daher folgende modernitätstheoretische Eingangsfrage stehen: Warum wird Ironie zu einem spezifischen Zeitpunkt eines epistemischen Bruchs theoretisch neu erfunden? Die Reaktivierung der Ironie erfolgt in einem bestimmten Moment, dessen zentrale Koordinaten einem Fragment Friedrich Schlegels zu entnehmen sind: „Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters“, zitiert dieser sich in seinem 1800 erschienenen Aufsatz „Über die Unverständlichkeit“ selbst, um die Provokation der Zeitgenossen in seinem Selbstkommentar noch weiter zu steigern: „Daß ich die Kunst für den Kern der Menschheit, und die Französische Revolution für eine vortreffliche Allegorie auf das System des transzendentalen Idealismus halte, ist allerdings nur eine von meinen äußerst subjektiven Ansichten.“7

05 Schon Kierkegaard geht in seiner Ironie-Dissertation so weit zu formulieren: „Ich benütze in dieser ganzen Darstellung die Ausdrücke ‚die Ironie und der Ironiker‘; ebenso gut könnte ich ‚die Romantik und der Romantiker‘ sagen. […] Beide Ausdrucksweisen besagen wesentlich das Gleiche.“ (Kierkegaard, Sören, Über den Begriff der Ironie. Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, München, 1991, S. 281.) 06 Mit dieser Ausdifferenzierung geht auch eine Zurückweisung der besonders im Zusammenhang mit Ironie in der Romantikforschung vorherrschenden Tendenz einher, Schlegels Theoreme vorschnell zu beurteilen. 07 Schlegel, Friedrich, „Über die Unverständlichkeit“, in: Kritische Schriften und Fragmente. Studienausgabe in sechs Bänden (Sta), hrsg. v. Ernst Behler und Hans Eichner, Paderborn u. a., 1988, Bd. 2, S. 235–242, hier S. 237.

EINLEITUNG

13

Die programmatische Gleichwertigkeit, wenn nicht sogar ein Vorrang von ästhetischen Ereignissen vor philosophischen oder politischen Tatsächlichkeiten ist der vielleicht wichtigste methodische Ausgangspunkt von Friedrich Schlegels ironischer Theoriebildung. Gleichzeitig verortet Schlegel sein romantisches8 Denken in der oben zitierten Äußerung historisch konkret: Politische Moderne, nachkantische Philosophie und selbstreflexiver Roman als Tendenzen seiner Gegenwart – Schlegel wird ihnen mit Ironie begegnen. Seine Rolle beim Aufstieg der philosophischen Disziplin Ästhetik, eine Neuakzentuierung der Bedeutung von Rhetorik und die Wiederentdeckung der Ironie sind Schlegels Beiträge zum Verständnis von Modernität. Nur in der Moderne, nur mit der Moderne und ihrem radikalisierten Kontingenzbewusstsein (in Sprache, Kunst und Alltag) macht diese neue Ironie, welche noch die unsere ist, Sinn. Gegeben sind somit vier Phänomene (Ironie und Moderne, Rhetorik und Ästhetik) und folgende Frage: Warum und wie kommen zu einem bestimmten Zeitpunkt, um 1800, bestimmte Phänomene (wieder) in den Blick? Erstmals nämlich tritt ‚Ästhetik‘ als eigenständige Disziplin auf; erstmals wieder nach Jahrhunderten wird ‚Ironie‘ als untersuchenswertes Phänomen (als mehr als nur eine hübsche Redeform) thematisiert; in völlig neuer Bedeutung schließlich erscheint ‚Rhetorik‘ in der Sprachtheorie der Frühromantik. Nicht zuletzt wird es auch darum gehen, einen notwendigen Zusammenhang zwischen diesen drei Theorieelementen und der Neubestimmung der Diskussion über antikes Erbe und ‚Modernität‘ (als viertes Element) zu finden. Die Aufhebung eines rhetorischen Verständnisses der Ironie durch Schlegel ist sowohl innertheoretisch wie historisch begründet. Der in der rhetorischen Tradition vorherrschende Versuch eindeutiger Klärungen und Erklärungen ironischer Aussagen kann für den ironischen Geist der Moderne keine Hilfe mehr sein. Wenn nach Schlegel eine „wahre Kritik der Philosophie […] Philosophie der Rhetorik“9 ist, dann bedeutet das auch, dass jedes Nachdenken über die Ironie in der Moderne die engen Bahnen traditioneller Lehrbuchrhetorik verlassen muss. Die vorliegende Studie fragt somit nur in poetologischem Kontext nach dem Wie ironischen Schreibens – ansonsten stehen Fragen nach dem Warum und Wozu ironischen Sprechens und Aussagens im Vordergrund, welche in linguistischen Untersuchungen naturgemäß keinen Ort finden. Es „sind Fragen nach dem Akzidens, dem Ereignis, der Mannigfaltigkeit“ und nicht zuletzt nach „der Differenz“10 der Ironie zu sich selber in ihren unterschiedlichen Gestalten. Gleichwohl erweist es sich für die rhetorologische Systematisierung als hilfreich, den konkreten Sprechakt ironischer Aussagen stets mitzubedenken, also 08 Auch bei Novalis findet sich eine Fichtes Bedeutung für die Kunst betreffende Prophezeiung: „Es können wunderbare Kunstwercke entstehen – wenn man das Fichtisiren erst artistisch zu treiben beginnt.“ (Schriften, hrsg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Bd. 2, Stuttgart, 1981, S. 524) 09 Schlegel, Friedrich, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe (KA), hrsg. v. Ernst Behler, Paderborn u. a., 1958 ff., Bd. 18, S. 75. 10 Deleuze, Gilles, Differenz und Wiederholung, München, 1992, S. 240.

14

EINLEITUNG

etwa zu versuchen, die unterschiedlichen philosophischen Lesarten der (modernen) frühromantischen Ironie mit rhetorischen Deutungen so weit wie möglich kurzzuschließen – dass es sich dabei neben traditionellen rhetorischen auch um gegenwärtige linguistische und sprechakttheoretische Ansätze handeln kann, erlaubt die innerhalb der Moderne zeitlose Logik der Ironie. Zunächst hat sich dabei, wie schon angedeutet, eine rhetorologische Dreiteilung nicht aufeinander reduzierbarer Ironien ergeben. Sowohl aus ihrer alltagssprachlichen rhetorischen Verwendung heraus argumentierend wie auch im Anschluss an Kants und Fichtes Philosophie lässt sich erkenntnistheoretisch erstens eine Ironie glückender Versöhnung ermitteln. In der so verstandenen Ironie wird zwar etwas anderes gesagt – meist das Gegenteil des Gemeinten –, aber dies führt nicht zu einem fundamentalen Misstrauen gegenüber den kommunikativen Fähigkeiten von Sprache. Auch die zweite hier destillierte rhetorische Logik der Ironie zielt qua indirekter Mitteilung noch auf Verständlichkeit. Im Bewusstsein, Eigentliches nicht mehr direkt sagen zu können, funktioniert sie freilich nur mehr unter paradoxen Bedingungen. Das von Walter Benjamin herausgearbeitete Unterscheidungsmerkmal der romantischen Ironie als potenzierter Reflexion kann schließlich über ihren Erfinder hinaus an einer dritten Verfahrensweise der rhetorischen Figur Ironie festgemacht werden: an einer am ehesten indirekt-mimetisch zu nennenden Ironie der Unverständlichkeit, die in ständiger reflexiver Weiterpotenzierung ihrer gedanklichen Inhalte nicht mehr zu diesen zurückzufinden vermag; eine Form unbeherrschter Ironie somit, in welcher Ironie gerade nicht mehr beliebig einsetzbares Instrument von Kommunikation ist, sondern eher im Dienste von Unverständlichkeit und, in ihren künstlerischen Manifestationen, zuweilen sogar von Unsinn steht. Mit der Etablierung dieser drei hier einstweilen nur grob schematisch skizzierten Modi der Ironie lassen sich, so die Arbeitshypothese und das Analysekriterium der folgenden Kapitel, einschlägige soziale und kulturelle Phänomene in all ihren Gestalten ausreichend klar verstehen und präzise als ironische benennen. Letzteres war, wie in der Folge deutlich werden wird, in bisherigen Untersuchungen oft nicht der Fall. Allzu oft gerieten widerständige ironische Phänomene entweder zufällig aus dem Blick oder blieben als vermeintlich falsche oder zurückgebliebene Formen von Ironie zugunsten einer dem jeweiligen Autor oder der Autorin genehmen Definition der Ironie ausgeblendet. Bevor die unterschiedlichen Entfaltungen und Feldwirkungen der Ironie skizziert werden, bedarf es hier noch einer methodischen Bemerkung zum Verhältnis zwischen rhetorischer Eigenlogik einerseits und dem Einfluss historischer Prozesse auf Ironiekonzeptionen und deren Darstellung andererseits. Die Frage, was die entsprechenden historischen Prozesse antreibt, welche Art von Kausalität in diesen wirksam wird und welche Rolle in diesem Zusammenhang soziohistorischen Veränderungen der (bürgerlichen) Gesellschaft zukommt, ist der Frage der Ironie nicht äußerlich. Auch wenn in dieser Studie die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse nicht einzeln in den Blick genommen werden, wird die ästhetische

EINLEITUNG

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Moderne in der Folge nicht als isoliertes Phänomen analysiert. Von der Moderneforschung detailliert untersuchte Entwicklungen wie zunehmende soziale Mobilität, Urbanisierung, Säkularisierung etc. werden sich immer wieder zugleich – diese doppelte Logik gilt es stets im Auge zu behalten – als Nährboden wie Effekt ironischer Phänomene erweisen. Für ein systematisches Verständnis von Ironie ist deswegen vor allem folgende Vermittlung zu leisten: einerseits den modernitätstheoretischen Hintergrund der Ironie herauszuarbeiten, andererseits diese als ein (in zweiter Potenz) selbstreflexives Phänomen zu verstehen. Letzteres bedeutet dann immer auch: Die moderne Ironie generiert sich selber und ist Katalysator ihrer eigenen Entwicklung. Sowohl in historischer wie systematischer Hinsicht ist das Œuvre Friedrich Schlegels, des, so Hegel, ‚Anführers‘ der Ironie, dafür paradigmatisch. Sein 1794 begonnener Aufsatz „Über das Studium der Griechischen Poesie“ hat dabei eine Schlüsselstellung, zeugt er doch von einem grundsätzlichen Gesinnungswandel seines Autors. Innerhalb der querelle des anciens et des modernes zumindest auf künstlerischer Ebene zunächst modernitätskritisch eingestellt, ändert Schlegel spätestens mit der Fertigstellung der Einleitung 1797 seine Position. Keineswegs nur philologisch bedeutsam ist dabei, dass zeitgleich, vornehmlich in den „Kritischen Fragmenten“ (Lyceumsfragmenten), auch seine Wiederentdeckung der Ironie erfolgt. Drei Jahre etwa beträgt die im zweiten, rhetorologischen Kapitel zu untersuchende Zeitspanne. In diesen wenigen Jahren erfolgt jene oft behandelte beispiellose Radikalisierung innerhalb der frühromantischen Theorie. Der spätere, speziell für die Rezeptionsgeschichte Friedrich Schlegels fatale ‚reaktionäre‘ Rückfall der meisten Romantiker fällt dann bereits ins 19. Jahrhundert. Drei rhetorische Deutungen von ‚Ironie‘, drei Konzeptionen von ‚Rhetorik‘ und von ‚Ästhetik‘, werden vornehmlich anhand von Schlegels Schriften aus jener Zeitspanne zwischen 1797 und 1800, aber auch unter Heranziehung Novalis’ sowie teilweise von Texten Solgers und Tiecks zu analysieren sein. Grundsätzlich gilt: Nur durch eine sprachtheoretische und philosophische Rekonstruktion der mehrdeutigen Disposition, welche der rhetorische Topos Ironie bei seiner modernen Rekapitulation in der Frühromantik erlangt, wird die frühromantische Erfindung der Ironie, ihre Ausweitung und Umwandlung zu einem allgemeineren kulturellen Phänomen plausibel. Aber auch für die historische Entwicklung des ironisch verfassten Geistes der Moderne gilt: Je nach der Bedeutung, die man Sprache und Rhetorik zubilligt, ergibt sich ein jeweils verschiedenes Verständnis von Ironie, ja von Ästhetik selbst. Aus rhetorologischer Perspektive – anders steht es um ihre ethischen, literarischen oder politischen Effekte – ist keiner der drei konstruierten Lesarten von Ironie der Vorzug zu geben. Stattdessen ist Ironie in ihrer Vieldeutigkeit philosophisch auf die Begriffe zu bringen. Richtig verstanden kann deswegen auch nicht mehr von einer oder der ‚romantischen Ironie‘ gesprochen werden – eine Zuschreibung, die in den romantischen Ironietheorien selbst ohnedies praktisch nicht anzutreffen ist.

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Ethik Die in den zentralen Kapiteln untersuchte phänomenologische Ent- oder Auswicklung der rhetorischen Logiken der Ironie in Ethik, Poetik und Politik der Moderne folgt historisch, um noch einmal Walter Benjamin zu bemühen, den „große[n] Gliederungen, welche nicht allein die Systeme, sondern die philosophische Terminologie bestimmen […]: Logik, Ethik, Ästhetik“, die, hier um Politik erweitert, weniger als „Namen von Fachdisziplinen, sondern als Denkmale einer diskontinuierlichen Struktur“11 kultureller Phänomene gefasst werden. Den diskontinuierlichen Entfaltungen entsprechen Umwertungen der Ironie dort, wo nicht mehr nur die epistemologische Frage nach ihrer (Un-)Verständlichkeit gestellt wird. Verlässt man nämlich die abstrakte philosophische Fragestellung zugunsten von konkreten Beispielen oder Anwendungen, dann wandelt sich mit den zu untersuchenden Phänomenen sofort auch das Problem. In konkreten Alltagssituationen werden aus hermeneutisch-erkenntnistheoretischen Fragen notwendigerweise ethische und in der (logischen wie historischen) Folge auch politische. Grundsätzlich bleiben die drei rhetorologisch ermittelten Funktionsweisen von Ironie jedoch gültig und bilden durchgehend das Koordinatenfeld, innerhalb dessen die ethischen, poetologischen und politischen Aktualisierungen von Ironie einzig systematisch entfaltet werden können. Aber die drei ironischen Logiken folgen stets der eigentümlichen Praxis des jeweiligen Felds, auf dem ihre Aktualisierung sich in unterschiedlichen Verfahrensweisen vollzieht. Ein Beispiel für die Feldwirkungen des Ethischen auf die drei rhetorischlogischen Vektoren der Ironie: Nimmt man die moralphilosophische Frage nach der objektiven Gegebenheit des Guten als ethisches Analogon der hermeneutischen Frage nach Verständlichkeit, dann zeigt sich, inwiefern die drei aus der Rhetorik abgeleiteten Logiken ihre Gültigkeit bewahren. Transformiert finden sie sich wieder erstens als positive Behauptung der Existenz des moralisch Guten, zweitens seiner melancholischen Simulation oder eben drittens im Sinne seiner endgültigen Verabschiedung, die aus der Sicht moralischer Selbstsicherheit gerne als typische Erscheinung des Bösen identifiziert wird. Ebenso aber kann – und spätestens mit dieser Reflexion setzt die Schwierigkeit jedes ethischen Umgangs mit Ironie ein – das fundamentalistische Beharren auf einem substanziellen Guten als ignorante und andere ausschließende Position erscheinen. Oder noch eine ironische Wendung weiter: Es ist offensichtlich eine Differenz ums Ganze, ob eine (defensive) ironische Aussage mangels besseren Ausdrucks gewählt wird oder aus freien Stücken (und also in offensiver Absicht). Und ist überhaupt von einer freien Entscheidung für Ironie zu sprechen, wo sich angesichts äußeren Zwangs nur mittels ironischer Verdrehung des Falschen an einer emphatischen Wahrheit festhalten lässt? Kann nicht eine elitäre Anwendung von Ironie im Dienste eines arroganten Ausschließens von Unkundigen als eine ethische Anwendung obiger (rhetorologisch gesprochen) geglückter Versöhnung verstanden werden, damit 11 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 213.

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aber zugleich (ethisch gesprochen) als das Gegenteil moralisch guten Verhaltens? Vorab ist es also methodisch geboten, die jeweiligen Positionen vor dem hier entwickelten Modell dreier ironischer Logiken sich gegenseitig kritisieren zu lassen. Damit lassen sich gegenüber dem üblicheren Vorgehen, nämlich die Argumente der Romantikkritik (bzw. der Kritiker der Moderne) mit umgekehrten Vorzeichen zu affirmieren, zusätzliche reflexive Erkenntnisse gewinnen. Einen Kernpunkt der Argumentation im dritten Kapitel („Ethica“) bildet die Kritik an einem Verständnis von ‚Ästhetisierung‘ als nachträglicher Ironisierung oder Fiktionalisierung einer an und für sich nicht-ästhetischen, das heißt ethischen und politisch autonomen Wirklichkeit. Mittels Jacques Rancières Beschreibung eines ‚ästhetischen Regimes des Denkens‘ (nicht nur über Kunst) kann dem ein anderes Verständnis von Ästhetisierung als möglicher Unterbrechung diskursiver Praktiken gegenübergestellt werden. Die damit verbundene These einer konstitutiven Rolle ästhetischer Prozesse für unser Denken verschiebt die Bedeutung der an und für sich korrekten Beschreibung der (postrhetorischen) Ironie als eines Katalysators von Ästhetisierungsphänomenen. An Ironie, so die weiter ausholende These, manifestieren und beschleunigen sich Ästhetisierungsphänomene nicht nur, sondern sie fungiert immer auch als deren pharmakon12: Ästhetisierend entsteht der moderne Geist der Ironie aus dem engen Korsett der Rhetorik, und deswegen wird – so sie nicht wie von Hegel bis Carl Schmitt als hauptverantwortlich für die Übel der Moderne am Pranger steht – ihre Expertise unaufhörlich herangezogen, wo es um eine Korrektur oder zumindest mildernde Umgangsformen mit den Paradoxien der Moderne geht. Mit der These eines generellen ironischen Dispositivs der Moderne soll nun keineswegs einer unhistorischen Zeitlosigkeit romantischer (Post-)Modernität das Wort geredet werden. Gerade das dritte, ethischen Formationen von Ironie gewidmete Kapitel versucht einer solchen Vereinfachung mit historischer und methodischer Differenzierung entgegenzutreten. Deutlich wird das an unterschiedlichen kulturellen Einlösungen der selbstbezüglichen und, wie der Vorwurf stets lautet, ‚selbstgenießerischen‘ Ästhetik der Romantik. Gerade in ihrer historisch unterschiedlichen Beerbung des Ironikers sind die Differenzen etwa zwischen Kierkegaards ‚Ästhetiker‘, Benjamins ‚Flaneur‘ oder einer spezifischen Ökonomie des ‚Dandyismus‘ (als Wiederbelebung ‚primitiver‘ Verschwendungskulte) genau nachzuzeichnen. Ebenso ist zwischen ‚romantischer Sehnsucht‘, ‚Trauer‘ und ‚Verzweiflung‘ sowie späteren Konzepten von ‚Melancholie‘ – den für die rhetorologische Definition der Ironie bedeutenden Konzepten ‚Metapher‘ und ‚Metonymie‘ entsprechen auf ethischem Gebiet ‚Witz‘ und ‚Melancholie‘ – zu differenzieren. Letztere (unter anderem bei Benjamin und speziell in der Psychoanalyse Freuds und Lacans) liefern auch die Formeln, die der These einer ironischen Ich-Genese aus dem Geiste melancholischer Nachahmung und Selbstverfehlung Plausibilität verleihen sollen.

12 Zum ‚Pharmakon‘ vgl. Derrida, Jacques, Dissemination, Wien, 1995, speziell S. 106–130.

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Inwiefern die eingangs ermittelten drei rhetorologischen Erscheinungsformen von Ironie sich gegen sonstige diskursive Verschiebungen innerhalb der Moderne durchhalten und gleichzeitig ethisch in ihrer Bedeutung gebrochen werden, zeigt sich zuletzt am Thema der Verführung oder des Verführers, der in seiner vormodernen Statur als intriganter Höfling und dann heuchlerischer Libertin zugleich für eine nuancierte Konturierung der Ironiker des 19. Jahrhunderts taugt. Ob ironische Verführung auf dem paradoxen Entschluss beruht, auf (Selbst-)Kontrolle zu verzichten, ob sie dem ängstlichen Versuch eines Ausgleichs von Unterlegenheit oder aber der Beherrschung des Anderen dient, sind wichtige ethische Differenzen, die in einer rein rhetorischen Analyse nicht in den Blick kommen würden. Es lässt sich zeigen, dass eine direkte Verbindung besteht von Kierkegaards ‚guter‘ beherrschter Ironie zu seinem zwanghaften Tagebuch des Verführers. Und am anderen Pol hat die darüber kritisch hinausgehende medial gedachte Verführung Baudrillards ihr systematisches Analogon in jener unkontrolliert sich weiterpotenzierenden, rhetorologisch gesprochen: unverständlichen Ironie.

Poetik Analoge Verschiebungen finden sich auch auf poetologischer Ebene. Zugespitzt formuliert: Was epistemologisch gute, weil verständliche Ironie ist, kann als poetischer Modus leicht durchschaubaren konservativen Schreibtendenzen Vorschub leisten. Und umgekehrt sind die herausragenden Romane des 19. und 20. Jahrhunderts oft die am schwersten zu interpretierenden. Ganz wertneutral etwa kann festgehalten werden, dass, um nur ein in diesem Zusammenhang bekanntes Vergleichsbeispiel zu nennen, die klar verständliche (Gegenteils-)Ironie naiver Erzählersubjekte in den Werken Thomas Manns nicht unbedingt bessere Romane hervorgebracht hat als die manchmal nur schwer auflösbare Ironie Musils. Und egal, ob man etwa an Kafkas Romanen schätzt, dass sie noch einmal auf ironische Weise konventionelle Plotstrategien arrangieren oder dass sie der Sehnsucht nach einem höheren Gesetz noch einmal zumindest indirekt zum Ausdruck verhelfen oder gar dass ihre ästhetische Subversion auch vor dessen Toren nicht stehen bleibt – deutlich wird zweierlei: erstens, dass sich die drei rhetorologisch ausdifferenzierten Begründungszusammenhänge auch poetologisch nachweisen lassen; zweitens aber, dass deren Untersuchung wiederum anders funktioniert als auf ethischem Terrain (gut, neutral, böse) und deswegen auch nach ganz anderen, künstlerischen Kriterien (konventionell, traditionsbelastet, innovativ) vollzogen werden muss. Auch auf poetologischem Niveau also wiederholen sich die schon aus den ethischen Einlösungen oder Übersetzungen rhetorischer Ironie bekannten Verschiebungen. Über diese ist freilich auch hier nur am konkreten Material zu entscheiden und erst nachdem die sonst oft ganz unvermittelt postulierte These einer spezifischen Ironizität der Gattung Roman erwiesen worden ist. Das „Roman – Moderne – Ironie“ betitelte vierte Kapitel kann es somit nicht bei einer Anwendung einiger vorab zu erarbeitender Thesen belassen (Beerbung des Bachtin’schen

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oxymoralen Karneval-Lachens durch die moderne Ironie; Problematisierung von Lukács’ These, wonach die „Ironie des Dichters die negative Mystik der gottlosen Zeiten [ist]“13; Ironie als ‚permanente Parekbase‘ (Schlegel) qua durchgängigstrukturellem Illusionsbruch, also als Spiel zwischen Wirklichkeit und Illusion; Bildungsroman und Autobiographie als Anwendungen ironischer Verfahrensweisen maskenhafter Ichkonstitution). Über diese Themen hinaus ist Ironie als Funktionsweise des Romans sowohl in seinen Mikro- als auch Makrostrukturen herauszuarbeiten. Theoretisch zu klären ist hier auch das Verhältnis von Ironie zu Zitat (bei Proust, Musil, Joyce), Pastiche, Parodie und Groteske. Neben einer gattungstheoretischen Definitionsarbeit an der spezifisch ironischen Romanlogik bedarf es einer Klärung von drei verschiedenen Stellungen des Erzählers im Roman sowie von drei Strukturen erzählerischer Ironie überhaupt: a) zwischen auktorialem Erzähler und Leser, b) zwischen Erzähler und Held sowie c) Romanironie als kontextueller. Sowohl die historischen Präferenzen dieser jeweiligen Romanironien als auch ihr Verhältnis zueinander leiten sich von den Eigentümlichkeiten des Mediums Roman her. Denn nicht nur ist der Roman von Epos, Drama und Poesie seiner ihm wesentlichen Ironie wegen zu unterscheiden. Vielmehr bedarf gerade die viel diskutierte Romanironie einer nicht nur genretheoretischen, sondern auch historischen Differenzierung. Sowohl in ihren unterschiedlichen Erzählironien als auch in der Art, Pastiche, Zitat und Parodie zu verwenden, unterscheiden sich a) englischer Roman des 18. Jahrhunderts, b) die Romane Stendhals und Flauberts sowie c) gegenwärtige ‚postmoderne‘ Varianten des Romans. Wiederum nur ein Beispiel: Ob das Zitat Personen charakterisiert, Narrationsmuster konstituiert oder ein ganzes Handlungsgeflecht strukturiert, ob Erzählerironie eher zwischen Erzähler und Leser, zwischen Erzähler und Held auftritt oder vielmehr unbeherrscht das ganze Romangeschehen durchzieht, all das bedarf einer historischen Differenzierung, ohne in ein teleologisches Entwicklungsschema gepresst zu werden. Dazu dient die Etablierung des systematisch fixierten und doch zugleich historisch elastischen rhetorologischen Ordnungsschemas, auf das durchgehend Rückbezug genommen wird. Die Fülle des Materials ist immens, und eine Ansammlung von Einzelstudien wäre notwendig unendlich. Aus diesem Grund und im Dienste einer literaturtheoretischen Klärung der Funktionen von Ironie optiert die vorliegende Studie für kurze Auf- und Abtritte verschiedenster Autoren und für die ausschnitthafte Interpretation von Romanszenen. Nichtsdestotrotz schien die detaillierte Analyse zumindest eines renommierten Textes notwendig. Diese ist Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften gewidmet. Mithilfe durch den russischen Formalismus und seine Nachfolger erarbeiteter Konzepte (skaz, Verfremdung etc.) sowie einzelner narratologischer und metapherntheoretischer Detailanalysen lassen sich sowohl die Tragweite als auch die materialen Grenzen diskursiver und literarischer Ironie aufzeigen.

13 Lukács, Georg, Die Theorie des Romans, Neuwied/Berlin, 1974, S. 79.

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Gegen Ende des vierten Kapitels widmet sich ein Abschnitt der Befragung des ironischen Bespielens der Grenzen zwischen Realität und Illusion. Offensichtlich spannt sich auch hier ein weiter Bogen von Cervantes über den romantischen Kater Murr bis zu Calvinos, Kunderas und Pynchons ‚postmodern‘ zerstörten Protagonisten. Und last but not least können hier die im „Ethica“-Kapitel ausdifferenzierten Kategorien (unechtes Ichwerden, Melancholie, dandyistische Verstellung) für die gemeinsame Diskussion von Bildungs- und autobiographischem Roman fruchtbar gemacht werden. Nach einer Diskussion der Funktionsweisen ironischer Protagonisten- und Autorenkonstitution werden Thomas Bernhards biographische De-Konstruktionen in seinem Roman Holzfällen sprachästhetisch untersucht. Auch in poetologischem Kontext zeigt sich nämlich eine ichkonstitutive, prosopopöische Qualität der Ironie. Denn wenn das 19. Jahrhundert von ‚Maske‘ spricht, dann aktualisiert es damit den Begriff der dissimulatio – nichts anderes also als die lateinische Übersetzung der griechischen eironeia.

Politik Was als umfassende Phänomenologie ironischer Denk- und Praxisformationen in Ethik und Poetik der Moderne konzipiert wurde, ist zuletzt auf deren Transformationen auf der Ebene der Politik verwiesen. Auch hier kann Ironie als Reaktionsform auf moderne Unwägbarkeiten verstanden werden: Unwägbarkeiten, die im Sinne Claude Leforts mit denjenigen von Demokratie selbst zu parallelisieren sind. So waren es unter anderem die (ironischen) deutschen Frühromantiker, welche schon früh das Faktum der Französischen Revolution in ihre politischen Überlegungen über die Demokratie mit einzubeziehen hatten. Anlass und Rechtfertigung dieses Kapitels ist zudem die Beobachtung, dass noch die von frühromantischen Theoremen unberührtesten politischen Theoretiker sich notgedrungen eines ironischen Argumentationspools bedienen, welcher zuallererst und mit größter Luzidität – bei oder gerade wegen aller Widersprüchlichkeit – von eben jenen Romantikern formuliert wurde. Was bisher für den Bereich des Ethischen und Poetologischen gesagt wurde, gilt ebenso für das Feld des Politischen. Ein guter Teil der Unklarheiten in den Einschätzungen und Beurteilungen der Ironie kann aus den Verwirrungen erklärt werden, die durch den Transfer von Metaphern aus dem erkenntnistheoretischen Kontext (Mäeutik, Sinnsuche, Unsinn) auf andere Terrains entstehen. Es ist unmöglich, ja sinnlos, abstrakt über (produktive, ausgleichende, zerstörerische) Ironie auf politischem Terrain zu urteilen. Um situativ beurteilen zu können, ob Ironie reaktionäre, konservativ-ausgleichende oder subversive Effekte zeitigt, ist stets auch eine Analyse des konkreten historischen Kontexts nötig, in dem die jeweiligen ironischen Haltungen, Verfahrensweisen und Strategien entstehen. Zudem kompliziert sich die Möglichkeit klarer Entscheidungen pro oder contra politische Ironie angesichts der hier postulierten These, dass sich die (postromantische) Moderne auch politisch nie aus ihrer genuin ironischen Disposition gelöst hat.

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Zwei zentrale Absichten verfolgt das Kapitel von daher. Zum einen aufzuweisen, dass zahlreiche gegenwärtig einflussreiche Reflexionen zu Politik explizit oder implizit ironischen Logiken gehorchen („Drei politische Reflexionen um Ironie“). Dazu dient die Relektüre systemtheoretischer Staatsironie (Willke), des sich dekonstruktiver Methoden bedienenden Postmarxismus (Laclau und Mouffe), des (post)pragmatischen Liberalismus (Rawls, Rorty) sowie noch Carl Schmitts verzweifelter Invektiven gegen den demokratischen Parlamentarismus, von dessen als romantisch konstatierten Wurzeln er sich doch nicht zu lösen vermag. Die weiter gefasste These in diesem Zusammenhang lautet, dass die oft missverständlichen, zum Teil heftigen Debatten zwischen Vertretern der einzelnen Theorierichtungen nicht nur auf einem gemeinsamen (romantisch-modernen) Reservoir an Fragestellungen, Begriffen, aber eben auch Paradoxien und unbeantworteten Fragen ruhen. Entscheidend ist, dass sich die diskursiven Knoten teilweise entwirren lassen, wenn man ihre gemeinsame ironische Disposition mitberücksichtigt. Vor der Kontrastfolie des (potenzierten) Reflexionsbegriffs des radikalen Aufklärers Kant zeigen sich teilweise erstaunliche Parallelen zwischen rivalisierenden, ja verfeindeten Theoretikern; in der Lesart von Ingeborg Maus etwa zwischen der Systemtheorie Niklas Luhmanns und der Konsenstheorie des ihm kritisch gegenüberstehenden Jürgen Habermas. Ein verdrängtem ästhetischem Potenzial in den politischen Reflexionen Habermas’ gewidmeter Exkurs versucht diese Verdrängung im Rekurs auf die ästhetisch-politische Dimension von Jacques Rancières Konzept unterschiedlicher ‚Aufteilungen des Sinnlichen‘ zu beleuchten. Bei der Analyse ansonsten ganz unterschiedlich ausgerichteter Theoretiker des 19. und 20. Jahrhunderts geht es im zweiten Teil des Kapitels („These und Antithese“) wiederum um eine theoretische Klärung der Funktionsweise von Ironie, diesmal im Feld des Politischen. In dem durch Versuche mäeutischer Herstellung von, unendlicher Sehnsucht nach und anarchistischer Verabschiedung von klaren Machtstrukturen aufgespannten Feld ironischer Möglichkeiten muss die abstrakte Frage nach konservativer oder progressiver politischer Ironie antinomisch bleiben. Politische Ironie operiert auf einem Feld, das durch die beiden Pole Souveränität (transparente Entscheidungsfähigkeit) und (machtlose) Apathie markiert ist. Hinterfragt werden soll an dieser Stelle die meist beliebig, also je nach politischem Geschmack vorgebrachte Doxa über a) Progressivität oder b) Konservatismus der auch politisch dreidimensionalen Ironie, wobei die Progressivität etwa anhand der Queer- bzw. Gender-Debatten, der Konservatismus hingegen von der katholischen Romantik über den ‚unpolitischen‘ Thomas Mann bis hin zu den ‚kritiklos angepassten Postmodernen‘ beobachtet und zu beweisen versucht worden ist. Nur im Anschluss an eine ausdifferenzierte Analyse der argumentativen Standorte oder Sprecherpositionen lässt sich schlüssig erklären, wie und warum die romantische Ironie etwa bei Schmitt als erste Verkörperung des modernen demokratischen Geistes kritisiert und praktisch gleichzeitig von Thomas Mann als elitäre apolitische Haltung gutgeheißen werden konnte. Damit ist nicht indiziert, dass Schmitts dezisionistische Kritik am ironischen Occasionalismus der politischen Romantik oder die linke Kritik an der politischen Impotenz der

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Romantiker die Ironie nicht zu Recht getroffen hätte. Aber die konkreten politischen Effekte der Ironie können wiederum nur im Einzelfall beurteilt werden. Das soll drittens in einer nicht synthetischen Diskussion von Kafkas literarischen Reflexionen über den permanenten Ausnahmezustand der Moderne versucht werden. Der abschließende Teil des Kapitels („Kafkas Gesetzeslogik“) schließt an beide vorhergehenden Abschnitte an. Zunächst konterkarieren Kafkas ironische Darstellungen von ‚Bürokratie‘ und ‚Gesetz‘ Carl Schmitts einschlägige politische Theorien. Dass das Gesetz Gilles Deleuze zufolge überhaupt nur mittels Ironie und Humor zu denken sei, diese literarische Einsicht schon Kafkas hebt dann auch die Notwendigkeit auf, sich entweder für progressive oder konservative Ironie zu entscheiden. Kafkas literarische Ironisierung des Gesetzes zielt auf eine ‚Verbürgerlichung des Nichts‘, jener Nichtigkeit, die aufrechtzuerhalten der Ironie zwei Jahrhunderte lang vorgehalten wurde.

Essayismus Mit der politiktheoretischen Diskussion der am Phänomen Ironie sich kristallisierenden soziohistorischen Verunsicherungen ist auch die historisch-systematische Grenze vorliegender Studie erreicht. Das darauf folgende kurze Kapitel versucht lediglich charakteristische Wesenszüge der Gattung ‚Essay‘ mit Elementen einer im vollen Wortsinn ironischen ‚Methode‘ in Verbindung zu bringen. Die Möglichkeit des Scheiterns stets einzukalkulieren, ‚aus der Unmethode Methode‘ (Adorno) zu machen, selbst zum experimentellen Protagonisten seiner theoretischen Probleme zu werden, die theoretischen Ergebnisse in hohem Maße aus den Eigenheiten der historischen Phänomene heraus zu entwickeln etc., all das ist immer schon Thema essayistischer Selbstreflexion. Zunächst ist das sechste Kapitel („Methode Essay?“) indirekt auch eine methodische (Selbst-)Reflexion über die Möglichkeiten einer Studie über ein wesenhaft ambivalentes Phänomen wie die Ironie. Ob die teilweise paradoxale Anordnung des Materials, die notwendigen Brüche des Aufbaus und des Stils Sinn machen, ob die potenzielle Beliebigkeit essayistischen Schreibens letztendlich überwunden wurde, wird der Leser zu entscheiden haben; Gleiches gilt auch für den wiederholten Versuch, Ressourcen unterschiedlicher Disziplinen (wie etwa von Psychoanalyse und Ethnologie) und gegebenenfalls früherer Epochen für die Genealogie der ironischen Moderne nutzbar zu machen. Ausgehend von unterschiedlichen Adaptionen Schlegel’scher Theoreme über ironische Formen des Denkens, vornehmlich bei Lukács und Musil, stellt sich die Frage, ob und inwiefern der Essay die genuine Gattung ironischer Erkenntnisproduktion ist. Verschiedene Bestimmungen ironischer Theorie lassen sich dann auch nachträglich beim frühneuzeitlichen Erfinder des Essays (Montaigne) eintragen und erlauben eine Definition des Genres als eines grundsätzlich ironischen.

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Metaphysische Entgrenzungen Parallel zur (dreifachen) systematischen Logik der rhetorischen Figur folgen die drei Kapitel zu ethischen, poetologischen und politischen Ironiephänomenen auch einer historischen Entwicklung. Ist diese einmal nachvollzogen, kann nur noch versucht werden, die Definitionen der Ironie quasi von außen, aus dem Jenseits ihrer Außengrenzen zu rekapitulieren. Dazu ist es notwendig, die explizit nicht mehr ironischen Überschüsse einiger der behandelten Phänomene, lacanianisch gesprochen: ihr nicht mehr symbolisch (sprachlich, rhetorisch) fassbares Reales zusammenfassend in den Blick zu bekommen. Das betrifft etwa das Nichtmehr-Ironische der triebhaften Aspekte des Verführers, mystische Dimensionen von Musils Poetik oder (notwendige?) Gewaltaspekte von politischen Ereignissen, um nur jeweils ein Beispiel aus den drei breiter untersuchten Feldern vorliegender Studie zu wählen. Als notwendiger Abschluss einer Phänomenologie ironischen Geistes drängt sich somit erstens eine spekulative Einholung zentraler Begrifflichkeiten vorliegender Arbeit auf, zweitens die Auslotung metaphysischer Probleme, welche im Verlauf der Diskussion einzelner Teilaspekte nicht eigens thematisiert werden konnten. Nicht nur im Sinne einer Ausweitung der Spekulation ist das letzte Kapitel „Metaphysische Entgrenzungen“ betitelt. Denn im Laufe der Recherche und Niederschrift sind philosophische Probleme aufgetreten, von denen nicht mehr vorgegeben werden soll, sie seien von irgendeiner Ironie selbst noch reflektiert, geschweige denn geklärt worden. Entgrenzung meint somit auch eine abschließende Überschreitung des symbolischen Diskursphänomens Ironie selbst. Wenn der Anfang der ironischen Moderne hier mit dem Konflikt zwischen Schlegel und Hegel (nicht zuletzt über die gebotene Reichweite einer rhetorischen Trope) genau datiert wird, so lässt sich über das Ende dieser historischen Konstellation nur spekulieren. In Analogie zur ontosemiologischen Selbstermöglichung der Ironie – die These einer durchgehenden sprachlichen Verfasstheit von Welt und Geist ermöglichte erst die ausufernde Karriere der vormals rhetorischen Trope – sind als Grenze des von den Frühromantikern bis zu den Poststrukturalisten reichenden ironischen Universums somit theoretische Positionen zu skizzieren, welche ein anderes Verhältnis zu ihrem denk(un)möglichen materialen Außen zu finden versuchen. Als bester Einstieg in die Erkundung des Anfangs vom Ende (vorliegender Geschichte) der Ironie erweist sich deswegen die Analyse einer sprachphilosophischen Differenz zwischen Derrida und Deleuze. Einige der Themen, die sich schon im Zusammenhang der sprachlichen Eigenschaften von Musils großem Roman aufdrängen, sind mehr oder minder deutlich ontologischer, nicht mehr sprachtheoretisch einholbarer Natur. Sie kreisen um Fragen nach dem Verhältnis von Körper und Sprache sowie nach einem Materialismus von Trieben jenseits bestimmter und bestimmbarer Grenzen. Allgemein formuliert ist eine der philosophischen Hauptfragen dieses Kapitels diejenige nach einer Entgrenzungslogik der Ironie – der Ironie im subjektiven wie objektiven Sinn –, nach der Möglichkeit einer materialen Entgrenzung in den vor-

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hergehenden Kapiteln zwar nicht mehr rhetorisch, aber notwendigerweise zumeist rein diskursiv begriffener Konzepte. Ein zuvor schon politiktheoretisch mobilisierter Begriff von ‚Formaterialität‘ – dort handelt es sich um Versuche, formale Prozeduren in die Wege zu leiten, die auf materiell-gesellschaftlicher Ebene progressive Effekte zeitigen – soll helfen, das als eine Heimsuchung des philosophischen Denkens generell zu erweisen. In vier Stufen einer ‚Hanthologie‘ oder Heimsuchungslehre wird das vom Derrida’schen ‚Gespenst‘ (fantôme) über Michel Serres’ und Austins sprechakttheoretische ‚Parasiten‘ und die Hegel’sche ‚Porosität‘ bis zu dem sowohl mit sexueller als auch ontologischer Bedeutung aufgeladenen ‚Vampir‘ zu verfolgen sein. Im Anziehungsfeld des Vampirs unterlaufen (ironische) Körper noch die bis auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung aktiver Form und passiver Materie. Wie sich auf ethischem Terrain die volle Verwirklichung von ‚Verführung‘ als reflexive zeigt, getragen von einem Begehren, nicht zu beherrschen, sondern sich dem Begehrten ironisch anzugleichen, so erweist sich auch dieses mimetische Begehren als mediales. Eine kurze Analyse des Vampirmotivs innerhalb von Baudelaires Fleurs du Mal gilt dann noch dem Verhältnis von Phantasma und Beherrschung: Der blutsaugende Dandy erweist sich vor dem Hintergrund des hier skizzierten ironischen Dispositivs als paradigmatische Verkörperung eines intransitiven, narzisstischen Begehrens des (eigenen) Begehrens. Abschließend bedarf ein philosophisches Verständnis der ironischen Ethiken, Poetiken und Politiken der Moderne einer reflexiven Einholung dessen, was zwischen Schlegels Ironie und deren Verurteilung durch Hegel philosophisch auf dem Spiel stand und steht. Mit Bezug auf Hegel – den wohl einflussreichsten und berüchtigtsten Kritiker der Ironie – ist festzuhalten, dass Ironie nicht einfach auf ein kulturelles oder geistesgeschichtliches Skandalon reduziert werden kann. Vielmehr werden die von Hegels großer Logik auf der Ebene der Wahrnehmung geleisteten Aufhebungen verschiedener Polaritäten (Form/Materie, Aktivität/Passivität etc.) durch ironische Verfahren und Phänomene auf die Ebene nicht mehr selbstbewussten Geistes übertragen. Das lässt selbst Hegels methodische Grundoperation der Dialektik nicht unangetastet. Entgegen der von Hegel bestimmten Reflexion auf Reflexion ist die ironische Reflexion als potenzierte zu definieren. Anstelle bestimmter Reflexion oder dialektischer Bezugnahme und Höherhebung von Inhalten ist ironische Dialektik als disjunktive zu entgrenzen. Anhand einer kritischen Transformation seiner Wissenschaft der Logik (deren Konzeption der „Disjunktion in Extreme“, des Konzepts des „Auch“ etc.) lässt sich diesbezüglich über Hegel hinaus ein Verständnis disjunktiver Dialektik als materialer, als eines kraftgeladenen Aufeinanderprallens von Extremen konzipieren. Als ständig weiterpotenzierte kann (ironische) Reflexion nämlich auch als Operator einer Intensivierung und zunehmenden Spannung fungieren – und gerade nicht im Dienste einer synthetischen Lösung. Diese abschließend analysierte Entgrenzung von Ironie lässt freilich auch Ironie hinter sich. Irony is over. Schluss mit Ironie, Ironie ist aus – im doppelten Sinn: hinausgegangen und beendet. Moderne Ironie war diese aus sich herausge-

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gangene. Damit ist sie zugleich nicht mehr, was sie vorher immer war. Schlussendlich bewahrheitet sich so eine tausend Jahre alte rhetorische Ironietheorie, nämlich Isidor von Sevillas Bestimmung der Ironie als Antiphrase.14 Im Sinne des ‚Gegensinns der Urworte‘: Ironie ist aus – Incipit Ironia.

14 Vgl. Knox, Dilwyn, Ironia. Medieval and Renaissance Ideas on Irony, Leiden u. a., 1989, S. 162.

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A. VORSPIEL (GRIECHISCHES) A. VORSPIEL (GRIECHISCHES) A. VORSPIEL (GRIECHISCHES)

Nicht erst nachträglich, sondern schon von Beginn an stellt sich Ironie als Projektionsfläche – zunächst ihrer Gegner – dar. Deutlich macht das bereits ihre erste überlieferte literarische Erscheinung in Aristophanes’ Wolken. Am Anfang der Ironie steht die Verurteilung eines Ironischen, Sokrates nämlich, als „Schwindelredner und Rechtsakrobat, auch Schnüffler, Tüftler, durchtriebener Fuchs, geschmeidiger Heuchler [das die Übersetzung Otto Seels, Hervorh. v A. A.] und glitschiger Lump. Ein dreckiges Schlitzohr, ein wendiger Gauch, Scharwenzelhalunk“.1

Dem athenischen Establishment ist Sokrates ein Sophist geblieben. Bis zu seiner Verurteilung. Und auch nach dem Tod des Sokrates bleibt die Diskussion um Ironie an dessen Person gebunden. Zumeist wird der Begriff pejorativ verwendet, wird also der jeweils gegnerischen Position vorgeworfen, ironisch zu sein. Dies ist der Fall in den Dialogen Platons, in welchen sich Sokrates selbst nirgends positiv mit Ironie identifiziert. Exemplarisch dafür ist der Dialog Gorgias, in dem Sokrates und Kallikles wechselseitig den Vorwurf von Ironie als Heuchelei und Wortklauberei erheben.2 Dass die Zuschreibung von Ironie an Sokrates sich in der Antike immer mehr durchsetzte, stellte dessen posthume Interpreten vor spezifische Probleme. Eine Verteidigung des Sokrates bedurfte von nun an immer auch einer Deutung der ihm eigenen Ironie. Wie ein Fremdkörper scheint sich Ironie dadurch schon in den sokratischen Diskurs eingeschlichen zu haben. Die vordergründigste Verteidigung des Sokrates gegen Sophismus und Atheismus findet sich bei Xenophanes3, dem zweiten zeitgenössischen Interpreten der sokratischen Ironie. Das sokratische daimonion, des Sokrates innere Stimme, ist für Xenophanes ein nützlicher Ratgeber etwa den Freunden in der Schlacht. Und sichtlich gegen Platons überladenes Sokratesbild geschrieben, steht dialektisches Fragen für Xenophanes im Dienste der festeren Fundamentierung der sittlichen 01 Aristophanes, Wolken, Stuttgart, 1963, S. 32, V. 447–451; vgl. auch ders., Vögel, Stuttgart, 1971, S. 60, V. 1211. 02 Platon, Gorgias, in: ders., Sämtliche Dialoge, Bd. 1, Hamburg, 1988, S. 107–166, hier S. 100 f., 489 St.: „Sokrates: Aber sage nun noch einmal, was du eigentlich unter den Besseren verstehst, da du nicht die Kräftigeren damit meinst. Und, mein Lobenswerter, schlag einen freundlicheren Ton bei deinen Belehrungen an, damit ich dir nicht aus der Schule laufe. Kallikles: Du wirst ironisch, mein Sokrates. Sokrates: Nein, mein Kallikles, beim Zethos, der dir eben zu einem so reichen Erguß von Ironie gegen mich verhelfen mußte, nein, ich will nur von dir wissen, wen du unter den Besseren verstehst. Kallikles: Die Tüchtigeren. Sokrates: Da siehst du nun, daß du selbst ein bloßes Spiel mit Worten treibst, aber keinen klaren Aufschluß gibst.“ 03 Zu einer kritischen Einschätzung von Xenophanes’ Sokrates-Deutung vgl. Vlastos, Gregory, Socrates. Ironist and Moral Philosopher, Cambridge, 1991, speziell S. 99–106. Vgl. zusätzlich Sören Kierkegaards Darstellung in seiner Dissertation Über den Begriff der Ironie; speziell das Xenophanes gewidmete Kapitel, S. 13–26.

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A. VORSPIEL (GRIECHISCHES)

Stärke der Polis. Die schlussendliche Verurteilung des Sokrates erscheint so eher als ärgerliches Missverständnis. Die Frage, ob die dritte Sokratesdeutung, diejenige Platons, historisch richtiger ist4, braucht hier nicht entschieden zu werden. Wichtig ist nur, festzuhalten, dass und inwiefern sie philosophisch ergiebiger war. Platon beschreibt das daimonion als gewissermaßen formale Befragungsinstanz, die in dieser Lesart mit Bestimmtheit das (Nicht-)Wesen des Sokrates ausdrückt. Wo jenes nichts zu sagen scheint, gibt dieser vor, nichts zu wissen. Platons Dialoge sind sodann als Lösung einer dreifachen Problematik zu lesen. Erstens muss Platon seinen Lehrer nach dessen Verurteilung schon aus Gründen des Selbstschutzes gegen den Vorwurf der Verführung der Jugend verteidigen. Zweitens bemüht er sich um die Ausarbeitung seines eigenen spekulativ-systematischen Ansatzes. Damit hängt drittens das offensichtlich emotionale Problem zusammen, lange Zeit nur im Namen des Lehrers sprechen zu können, den Lehrervater nicht offiziell überbieten zu sollen. Nur mittels sokratischer Sprachmaske kommt Platon zu seiner letztlich nur bedingt ironischen (Spät-)Philosophie. In ihrer Dialogform wird diese aber stets deren bezeichnenden Makel behalten. An einer Stelle seines Werks, im Dialog Theaitetos, hat Platon diese Schuldigkeit auf besonders kunstvolle Weise reflektiert und zu einer für alle drei Probleme fruchtbaren Einschätzung gefunden. „Ohne Widerrede mein Theätet!“, ruft Sokrates den ihm wegen seiner Intelligenz und Ähnlichkeit mit ihm empfohlenen Jungen heran, „auf daß ich mir eine Vorstellung machen kann von meinem Gesicht, wie es ausschaut.“5 Sokrates’ Disputiereifer ist nicht nur dem homophilen Interesse, „ein Gespräch zwischen uns in Gang zu bringen und Freundschaft und Geselligkeit unter uns zu begründen“6, geschuldet, sondern einer philosophischen Notwendigkeit. Der die Weisheit liebende Sokrates weiß nichts, will aber wissen. Die Jünglinge haben die Veranlagung zu wissen, wissen dies aber noch nicht. Die Sokrates eigene Mäeutik unterscheidet sich von herkömmlicher Hebammenkunst nun dadurch, „dass meine Kunst Männer, nicht Weiber entbindet, und dass es die Seelen der Männer sind, auf deren Geburtswehen sie ihr Augenmerk richtet, nicht ihre Leiber“.7 Diese offensichtlich weit hergeholte und, wie seit je an den platonischen Dialogen kritisiert wurde, in der tatsächlichen Dialogstruktur nur selten eingelöste Behauptung8 ist in einem singulären Fall gleichwohl plausibel: Platon selbst ist der Jüngling, der einzige, dem durch Sokrates zur Geburt seiner Weisheit geholfen wurde.9 04 05 06 07 08

Vgl. hierzu Martens, Ekkehard, Die Sache des Sokrates, Stuttgart, 1992. Platon, Theätet, in: ders., Sämtliche Dialoge, Bd. 4, S. 1–144, hier S. 33, 144 St. Ebd., S. 35, 146 St. Ebd., S. 42, 150 St. Zur Diskussion des Verhältnisses zwischen historischem und platonischem Sokrates vgl. noch immer Gigon, Olof, Sokrates. Sein Bild in Dichtung und Geschichte, Bern, 1947. 09 So verstehe ich auch die von Dieter Roloff vorgeschlagene Unterscheidung zwischen zwei platonischen Ironien, deren zweite nicht auf einzelne Stellen beschränkt ist, sondern den gesamten Text als solchen durchzieht (vgl. Roloff, Dieter, Platonische Ironie. Das Beispiel Theaitetos, Heidelberg, 1975).

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Von diesem wirkungsmächtigen platonischen Beginn an ist Ironie einer (spezifisch männlichen?) Diskursform eingeschrieben. An der sokratischen Ironie werden hier erstmals Argumentationslinien durchgespielt, die in der Folge trotz aller historischen und kulturellen Unterschiede geradezu zwanghaft immer wieder aufgegriffen werden. Selbst in einem nachfoucaultschen epistemologischen Universum ist mit Nachdruck auf bestimmten Gemeinsamkeiten zwischen rhetorischen Konversationsmustern zu beharren, die sich quasi über die Jahrtausende erhalten haben. Die folgenden Kapitel werden zeigen, wie Ironie stets entweder die Bedeutung sophistischer Subversion oder die eines Mittels fröhlicher Selbstbestätigung zugesprochen wird. Platons Lösung ist diejenige, sie im Dienste hochfliegender Spekulation mit Dialektik als Fragetechnik zu amalgamieren. Nicht um Ironie an und für sich handelt es sich dann – das wäre für Platon sophistischer Selbstzweck –, sondern um Ironie als aufhebbares Moment der LogosBewegung. Gerade auf dieser Einordnung beruht die Wirkungsmächtigkeit seiner Sokratesdeutung. Die „Ironie des Sokrates enthält dies Große in sich […], die abstrakten Vorstellungen konkret zu machen“, sie ist die „subjektive Gestalt der Dialektik“, mit „dem Scheine der Unbefangenheit, es sich von den Leuten sagen zu lassen, sie sollen ihn belehren“ – so verharmlost später im Sinne Platons niemand anderer als Hegel.10 Diesen Ambivalenzen der Sokratesinterpretationen – und mehr als Deutungen kann es von Sokrates nicht geben – begegnet Kierkegaard mit dem Versuch einer genauen Definition von dessen Ironie. Für ihn besteht die sokratische Methode „nicht in dem Dialektischen der Frageform als solchem […], sondern in jener Dialektik, die von der Ironie ausgeht, zu Ironie zurückgeht und von Ironie getragen wird“.11 Korrelat von Ironie in den Beschreibungen des Sokrates ist für Kierkegaard immer deren Negativität, eine „negative Dialektik“12 ohne krönende, abschließende Antwort. Denn das „Dämonische war dem Sokrates genug […]; dies aber ist eine Bestimmung der Persönlichkeit, jedoch natürlich bloß das egoistische Befriedigtsein einer partikularen Persönlichkeit. Sokrates erweist sich hier abermals als derjenige, der im Sprunge zu Etwas begriffen ist, jedoch in jedem Augenblick es unterläßt, in dies Andere hineinzuspringen, sondern beiseite und zurück in sich selber springt.“13

Durch diese „negative […] doch unendliche Freiheit“ erweist sich „der Standpunkt des Sokrates abermals als Ironie“14. Gerade im Falle Kierkegaards muss von 10 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in: Werke, hrsg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main, 1986, Bd. 18, S. 458 f. Hegels Sokratesbild erinnert ansonsten erstaunlich oft an dasjenige Xenophanes’. Aber auch Aristophanes’ Deutung billigt Hegel an einer Stelle, der zufolge es gerade die Tiefe des Aristophanes gewesen sei, „die Seite des Dialektischen des Sokrates als eines Negativen“ erkannt zu haben (ebd., S. 485). 11 Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, S. 56. 12 Ebd., S. 139. 13 Ebd., S. 171. 14 Ebd.

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einer extrem projektiven ‚Lektüre‘ sokratischer Ironie gesprochen werden, hervorgerufen sowohl durch das schlichte Fehlen sokratischer Texte als auch den so oft vorwandhaft gerühmten ‚proteusartigen Charakter‘ von Ironie. Anders als Kierkegaard (und lange vor seinen existenzialistischen Zuspitzungen) argumentieren viele der Ironietheorien des lateinischen Mittelalters und noch der Renaissance praktisch losgelöst vom Ballast des griechischen Päderasten. Im Gegenzug zur zwischenzeitlich zum Stereotyp gewordenen Figur des Ironikers fand sich aber auch schon bei Aristoteles ein ausgewogeneres Bild. Ironie, auch sokratische, wird in der Nikomachischen Ethik etwa konkret als Bescheidenheit15 der Prahlerei entgegengesetzt, mit welcher sie in den Komödien von Sokrates’ Zeitgenossen teilweise undifferenziert gleichgesetzt worden war. In der Rhetorica ad Alexandrum16 des Anaximenes von Lampsakos aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert findet sich Ironie dann zwar auch als Mittel, seine Gegner zu verspotten – aber eben als rhetorisches Mittel, nicht Medium einer Existenz. Immer mehr haben sich die spätantiken Kommentare zur Ironie von der moralischen Entrüstung der Zeitgenossen des Sokrates entfernt. Das mag daran gelegen haben, dass es parallel dazu immer professioneller gelang, Ironie in die rhetorische Wissenschaft kontrollierend zu integrieren. Schon bei Quintilian und Cicero, welche das griechische eironeia als dissimulatio ins Lateinische einführen, findet sich zwar unter Hinweis auf Sokrates noch einmal die Möglichkeit von Ironie als Ausdruck einer ganzen Persönlichkeit; das Interesse geht aber zunehmend in die Richtung eines genaueren rhetorischen Verständnisses. Quintilian unterscheidet zwischen der kurzen Trope Ironie (leicht ersichtlich und sogar an einem einzigen Wort sichtbar) und Ironie als Redefigur.17 Nur einstweilen und im Sinne einer philologischen Erklärung für den Wechsel hin zu einem von der ethisch problematischen Sokratesfigur gereinigten rein rhetorischen Ironieverständnis ist darauf hinzuweisen, dass weder die Texte Ciceros, welche sich direkt auf Ironie als sokratische beziehen, noch die einschlägigen platonischen Dialoge im Mittelalter – dieses kannte nur lateinische Übersetzungen des Timaeus, Meno, Phaedo und Parmenides, die allesamt das Element sokratischer Ironie ausblenden – überhaupt rezipiert wurden. Mit der Renaissance ändert sich die philologische Situation: insbesondere durch die Kenntnisnahme von Platons anderen Dialogen, Ciceros’ De oratore und anderen antiken Texten, welche explizit Ironie als sokratische thematisiert hatten. Von besonderer Bedeutung für die Frage nach der spezifischen Neuheit der späteren modernen Ironie ist aber, was unverändert blieb: die Abwehr einer mit Ironie sichtlich zusammenhängenden diffusen Gefahr. Die Kontinuität von Rhetorik als Wissenschaft zwischen Mittelalter und Renaissance bedeutet nämlich auch die Kontinuität eines restringierten Verständnisses von Ironie. Selbst dort, wo dann sokratische Ironie thematisiert wird, geschieht dies als bloße Redefigur, ohne 15 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Hamburg, 1985, 1108a, 1126b – 1127b, S. 39, 92–94. 16 Vgl. dazu Lapp, Edgar, Linguistik der Ironie, Tübingen, 1997, S. 21. 17 Vgl. Quintilian, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, Darmstadt, 1975, S. 251 und 253.

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weiteren (ethischen, ästhetischen oder gar politischen) Bedeutungshorizont; im besten Falle als Redeschmuck, um Aufmerksamkeit zu gewinnen, oder sonstiger rhetorischer Effekte wegen. Wenig verwundert von dieser Warte aus der kritische Einwand, der sich auf das ‚Wozu überhaupt‘ bezieht. Ist Ironie erst einmal auf eine arbiträre Redetechnik reduziert, so steht man ratlos vor der Frage, warum denn nun überhaupt indirekt, anders, kompliziert und nicht frei drauflos gesprochen werde. Auf einen rhetorischen Kniff reduziert, verliert Ironie theoretisch jeden Sinn oder zumindest jede weitere Bedeutung. Und in der Tat finden wir in Mittelalter und Renaissance eine ganze Fülle an Rhetorikern mit diesem fragwürdigen Spiel beschäftigt: Ironie zu definieren und zu entschlüsseln, ironische Redefiguren zu entwerfen und sie mit (unironisch) klar entzifferbaren Zeichen zu markieren: mit der rechten Hand einen Storchschnabel machen, die beiden Zeigefinger aneinanderlegen, geballte Faust mit erhobenem Mittelfinger, herausgestreckte Zunge, die noch heute bei Linguisten beliebte Intonation und vieles andere mehr.18 Vorliegende Studie stellt sich diese Fragen nicht, versteht diese vielmehr selbst als eine symptomatische Reduktion der entscheidenden Zusammenhänge und der auf diese verweisenden, so naheliegenden und scheinbar so frappierend einfachen Frage: Warum überhaupt? Wozu ironisch sprechen, wenn es anders ginge? Geht es anders? Warum geht es manchmal nicht mehr anders? Wozu ein Zeichen geben, damit die Ironie erst recht durchschaut werde? Wozu, mit welchem Sinn und letztlich: mit welcher Notwendigkeit oder unter welchem obsessiven Zwang? Am ehesten ahnte die Rhetorik des ausgehenden Mittelalters in einigen ihrer wilden etymologischen Spekulationen etwas von den verwegeneren Hintergründen von Ironie. Doch auch in ‚etymologischen‘ Ableitungen der Ironie von Zorn (ira) im Lucianus – einem bekannten lateinischen Wörterbuch des Spätmittelalters – oder von Gegenteil und Spott (yros und nyos) bei dem Wiener Magister Johannes de Werdea Mitte des 15. Jahrhunderts19 ist von Ironie wiederum nur innerhalb eines Kontextes von Überzeugungs- und Überredungstechniken die Rede. Dem abschließenden Resümee von Dilwyn Knox’ akribischer Studie Ironia – Medieval and Renaissance Ideas on Irony kann deswegen für die Zeit ab der Spätantike zugestimmt werden: „[T]he original meanings of είρωνεια were discarded, and the concept of ironia, including Socrates’, became restricted to a figure of speech in which the speaker said or implied the opposite to his intended meaning.“20 Weder aber, ob ironische Aussagen sich durch eine Umkehrung ins Gegenteil des Gesagten restlos aufklären lassen, noch die seit Quintilian vieldiskutierte Frage, ob Ironie nun simulatio oder dissimulatio sei, lässt sich mit den Mitteln der 18 Eine der radikalsten Simplifizierungen des Problems ‚Ironie‘ findet sich in dem Terenzkommentar des Aelius Donatus aus dem vierten nachchristlichen Jahrhundert. Jede Verwendung der Terme ‚scilicet‘ bzw. ‚vero‘ gilt diesem bereits als Verifikation von Ironie (vgl. Knox, Ironia, S. 28); zu den diversen rhetorischen Handzeichen vgl. ebd., S. 59 ff. 19 Vgl. ebd., S. 82. 20 Ebd., S. 145.

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Rhetorik ausreichend beantworten. Auch für die mittelalterlichen Rhetoriker gilt, dass diese zwar die aristotelische Unterscheidung verschiedener Formen von contrarium21 (Gegenteil, Gegensatz etc.) übernehmen, dies aber im Zusammenhang ihrer Thematisierungen von Ironie nur im Dienste immer komplizierterer Unterteilungen tun. Noch in ihren elaboriertesten Unterscheidungen leitet die Rhetoriker ihr Hauptinteresse: eine erklärende Definition der Ironie zum Zwecke ihrer subtilen Handhabung anzugeben. Von der Antike über die französische Rhetorik des 18. Jahrhunderts22 bis zur gegenwärtigen Linguistik stützt man sich dabei auf das Gegensatzkriterium als ausschließliches und ausschließendes: Dieses Kriterium ist in der Tat „unverzichtbar in jeder Charakterisierung der Ironie als Trope“.23 Zu der in vorliegender Arbeit behandelten Frage nach den hypertrophen Auswüchsen und Verwachsungen der Ironie wird noch fast das gesamte 18. Jahrhundert nicht viel strukturell Neues zu sagen haben. Zwar tritt als Erbe barocker Traditionen hin und wieder eine personifizierte Ironie als Allegorie in Erzählungen oder Theaterstücken auf, aber Ironie bleibt doch, was sie zwei Jahrtausende lang war: ein Mittel geistreichen Parlierens, kultiviert jetzt bei Hof statt am Kapitol. Dass es sich bei dem Unterschied zwischen den Diskussionen um Ironie vor und nach 1800 um eine epistemische Differenz handelt, bedeutet zugleich, dass sich kein Muster erkennen lässt, das es erlauben würde, von einem Fortschritt oder Rückschritt an Erkenntnis oder Einsicht zu sprechen. Ebenso wie es kein verschüttetes Wesen der Ironie wiederzuentdecken gibt, so war auch im 19. Jahrhundert keine Ironievergessenheit zu überwinden. Nur gab es konkrete historische Gründe für die Reaktualisierung von (sokratischer) Ironie. Auch deswegen werden die für das Verständnis von Ironie relevanten historischen Differenzen und die spezifischen Ermöglichungsbedingungen jener uns heute selbstverständlichen modernen Ironie herauszuarbeiten sein. Der Schöpfer dieses neuen (theoretischen) Begriffs der Ironie ist Friedrich Schlegel. Nach ihm ist Ironie – und mit ihr Modernität und Ästhetik als ineinander verwobene Phänomene – nicht mehr, was sie einmal war. Nach Schlegel wird Ironie auch eine psychische 21 Vgl. ebd., S. 19. 22 Laut Pierre Schoentjes (Recherche de l’ironie et ironie de la recherche, Gent, 1993, S. 39) zeigen e sowohl „la rhétorique latine et la rhétorique française du XVIII siècle, une ambiguïté semblable dans les approches. Dans les deux cas, la pratique de l’ironie ne se conforme pas aux limites que lui astreint la théorie: celle-ci tent de limiter l’ironie à la relation de contrariété, tandis que celle-là s’exerce aussi à travers la contradiction“. Schoentjes versucht die Spannung zu lösen, indem er zwei Ironietypen unterscheidet: mittels contrariété operierende „ironie-simulation“ und „ironiedissimulation“, die über ihren Bezug zur contradiction charakterisiert werden kann. 23 So Wolfgang G. Müller („Ironie, Lüge, Simulation, Dissimulation und verwandte rhetorische Termini“, in: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft, hrsg. v. Christian Wagenknecht, Stuttgart, 1989, S. 189–208, hier S. 189), der Ciceros „allgemeine […] Definition, nach der die Ironie etwas anderes meint, als sie sagt […], zu unscharf“ findet und auf den möglichen Einwand, seine Definition „könne die Verwendung der Ironie bei einem Romancier wie Thomas Mann nicht erfassen“, diesem schlichtweg abspricht, ironisch zu sein, weswegen man vielmehr „von litotischem oder unernst hyperbolischem Sprachgebrauch reden sollte“ (ebd., S. 190 f.).

A. VORSPIEL (GRIECHISCHES)

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Disposition sein können oder ein politisches Problem oder eine Manier, Romane zu schreiben, etc. Er greift in den Topf tradierter Ironiezuschreibungen und experimentiert mit deren Begriffsarsenal. „Ironie kann wohl niemand haben, der keinen Daemon hat. Dieß ist gleichsam die Potenz der Individualität … Fantasie ist vielleicht Sinn für die Sprache des Daemons. – “24 Mit Aussagen wie diesen beginnt Schlegel, sein fin de siècle zu provozieren. Offensichtlich spricht er einen neuen Tonfall. Gegenüber solchen Verwirrungen zeigte sich Hegel um geschichtliche Schadensbegrenzung bemüht. Wenn für Hegel „Sokrates’ bestimmte Ironie […] mehr Manier der Konversation […], gesellige Heiterkeit“25 ist, mag das historisch richtig sein oder nicht. Schlegels reaktualisierende Phantasien über Ironie haben sich solchen Domestizierungen systematisch widersetzt. „Sokrates = Plato + Sophokles, Aristophanes, Goethe. “26, lesen wir bei ihm. Es zeigt sich, dass sowohl die Geschichte des Sokrates als auch die Geschichte der durch ihn personifizierten Ironie nicht von derjenigen seiner Interpreten zu trennen ist. Das ist zugleich als methodische Anweisung zu lesen. Ironie wird das gewesen sein, als was sie geschichtlich in Erscheinung tritt. Eine Phänomenologie ironischen Geistes bedeutet somit die Untersuchung der Geschichte ironischer Heimsuchungen ebendieses Geistes – Heimsuchungen auf seinen jeweiligen Etappen, gleich ob es sich um Rhetorik, Ethik, Ästhetik oder Politik handelt.

24 Schlegel, Friedrich, „Aus den Heften zur Philosophie (1794–1818)“, in: ders., Sta, Bd. 5, S. 1– 161, hier S. 64. 25 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 461. 26 Schlegel, Friedrich „Aus den Heften zur Poesie und Literatur (1796–1801)“, in: ders., Sta, Bd. 5, S. 163–268, hier S. 221.

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A. VORSPIEL (GRIECHISCHES)

B. RHETOROLOGIEN B. RHETOROLOGIEN I. GEGLÜCKTE VERSÖHNUNG

I. GEGLÜCKTE VERSÖHNUNG „Voraussetzung für die Ironie bleibt […] die grundsätzliche Möglichkeit echter Kontaktnahme. Die Ironie muß aus Stärke und Überlegenheit kommen.“ Karl Heinz Staecker1

Es ist ein Gemeinplatz der Romantikforschung, dass ein Verständnis der Jenaer Frühromantik einzig vor ihrem frühidealistischen Hintergrund möglich ist. Nach Kant ist damit vor allem Fichte gemeint, der als Erster versucht hatte, die Trennung zwischen Geist und Körper, zwischen Ichheit und Willen, aus ethischen Beweggründen – nicht zufällig nennt auch Schlegel später die „intellektuale Anschauung“ einen „kategorische[n] Imperativ der Theorie“2 – mit seinem Begriff der ‚Tathandlung‘ zu überbrücken. Dieser Begriff sollte die philosophisch erstrebte Identität von Handelndem und Denkendem, von Vernunft und Verstand bezeichnen. So verstanden, setzt Ich sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens, durch sich selbst. Die Bindung dieses Ichs an seine Außenwelt bleibt jedoch auch bei Fichte problematisch. Ähnlich Kant formuliert Fichte darum eher postulierend. „Beides, die absolute Totalität der Realität im Ich, und die absolute Totalität der Negation im Nicht-Ich sollen vereinigt werden durch Bestimmung. Demnach bestimmt sich das Ich zum Teil, und es wird bestimmt zum Teil. […] Aber beides soll gedacht werden, als Eins und ebendasselbe.“3

Das absolute reine Ich wird zwar von der Außenwelt eingeschränkt, erhält dadurch aber erst dialektisch seine prädikative Bestimmung. In der Folge wird zu zeigen sein, wie Schlegel in Fichtes dialektischem Verständnis der „Schranke“, welche „zugleich der Begriff der Realität und der Negation“4 sein soll, einen verborgenen ästhetischen Imperativ aufspürt. ‚Ästhetisch‘ meint hier eine noch näher zu erläuternde Sphäre, die vor allem vermittelnden Charakter hat. Dieser wird zugetraut, scheinbar unvereinbare Bedürfnisse zur Deckung zu bringen, Bedürfnisse, die aus soziohistorischer Per01 Staecker, Karl Heinz, Ironie und Ironiker, Mainz, 1964, S. 99. 02 Schlegel, Friedrich, „Athenäumsfragmente“ [1798], in: ders., Sta, Bd. 2, S. 105–156, hier Nr. 76, S. 111. 03 Fichte, Johann Gottlieb, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Als Handschrift für seine Zuhörer [1794], Hamburg, 1988, S. 50. 04 Ebd., S. 29.

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B. RHETOROLOGIEN

spektive immer auch als bürgerliche zu verstehen sind; so zum Beispiel das Bemühen, innerhalb der Sprache des Allgemeinen doch die Eigenart der subjektiven Bedürfnisse nicht verschwinden zu lassen. Von daher kann es dann später bei Schlegel zu einer Aufgabe der Ironie werden, den eigenartigen und stets gefährdeten Anspruch auf Autonomie aufrechtzuerhalten. „In der Ironie vereinigt sich die Selbstbeschränkung und die Theilnahme an allem Leben. – Selbständigkeit ist das Leben des Lebens.“5 Denn „wo man sich nicht selbst beschränkt, beschränkt einen die Welt“.6 Sinn ist für Schlegel erst auf dem Boden dieser Selbstbeschränkung möglich. „Sinn ist Selbstbeschränkung also ein Resultat von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung.“7 Diese neuerdings auch politisch interpretierten8, meist aber eher poetologisch rezipierten Überlegungen Schlegels beschreiben somit parallel ein ironisches Verhältnis zwischen Gesprächspartnern und eine künstlerische Autor/Werk-Dialektik. Der ironische Erzähler, von Schlegel exemplarisch anhand von Goethes Wilhelm Meister analysiert, soll die ‚idealische‘ Problematik überwinden und seine Naivität zurückerhalten. Diese tiefe Positivität der Ironie betont später noch Tieck, wenn er einen anderen Romantiker, Karl Wilhelm Ferdinand Solger, gegen Hegels Angriffe verteidigt. Solger zufolge ist Ironie zugleich „Scherz und wahre Heiterkeit […]. Sie ist die Kraft, die dem Dichter die Herrschaft über den Stoff erhält; er soll sich an denselben verlieren, sondern über ihm stehen. So bewahrt ihn die Ironie vor Einseitigkeiten und leerem Idealisieren.“9

Entsprechend der in den Jahren vor 1800 kontinuierlich fortschreitenden Dynamisierung von Schlegels Ironiekonzeption wird Ironie in dessen Athenäumsfragmenten von 1798 weniger als einmalige Realisierung einer höheren Bewusstseinsstufe definiert denn als Bewegung beschrieben. Das Naive sei das „bis zur Ironie Natürliche“, das, „was zugleich Absicht und Instinkt hat“. „Der koordinierte Begriff zu Naiv ist wohl eigentlich korrekt, d. h. bis zur Ironie gebildet, wie Naiv bis zur Ironie natürlich.“10 Bezeichnend für die jetzt gespanntere Auffassung der Iro05 06 07 08

Schlegel, KA, Bd. 18, S. 218. Schlegel, Friedrich, „Lyceumsfragmente“, in: ders., Sta, Bd. 1, S. 239–250, hier Nr. 37, S. 240. Schlegel, Friedrich, Fragmente zur Litteratur und Poesie I, in: ders., KA, Bd. 16, S. 102. Der „Prozess ironischer Selbstbeschränkung […] die liberale oder republikanische Selbstironie“ ist ein „unendlicher, wesentlich unabschließbarer Prozess“, so Christoph Menke („Von der Ironie der Politik zur Politik der Ironie. Eine Notiz zum Prozess liberaler Demokratie“, in: Die Ironie der Politik. Über die Konstruktion politischer Wirklichkeiten, hrsg. v. Thorsten Bonacker u. a., Frankfurt am Main/New York, 2003, S. 19–33, hier S. 29). Noch expliziter formuliert Thomas Krumm die parallelen Alternativen „zwischen Engagement und Distanzierung, oder, in den Worten Schlegels, zwischen Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“ und empfiehlt „Ironie der Ironie“ im Sinne „der Möglichkeit der Distanzierung von der Distanzierung und damit wiederum neue[n] Möglichkeiten des Engagements“ (Krumm, Thomas, „Die Ironie der Ironie. Zum ironischen Selbstverständnis der Politikberatung“, in: Die Ironie der Politik, S. 281–295, hier S. 281). 09 Zit. vgl. Köpke, Rudolf, Ludwig Tieck. Erinnerungen aus dem Leben des Dichters nach dessen mündlichen und schriftlichen Mittheilungen, Leipzig, 1855, Bd. II, S. 239. 10 Schlegel, KA, Bd. 16, S. 167.

I. GEGLÜCKTE VERSÖHNUNG

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nie ist das speziell in den Athenäumsfragmenten häufig wiederholte „bis zu“. Etwa im Fragment 121: „Eine Idee ist ein bis zur Ironie vollendeter Begriff, eine absolute Synthesis absoluter Antithesen, der stete sich selbst erzeugende Wechsel zwei streitender Gedanken.“11 Noch deutlicher lesbar sind die damit verbundenen Veränderungen in Fragment 51: „Naiv ist, was bis zur Ironie, oder bis zum steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung natürlich, individuell oder klassisch ist, oder scheint. Ist es bloß Instinkt, so ists kindlich, kindisch, oder albern; ists bloße Absicht, so entsteht Affektation. Das schöne, poetische, idealische Naive muß zugleich Absicht, und Instinkt sein.“12

Was zuvor noch als ausschließlich „Griechisches Geheimnis […] im Individuellen objektiv zu seyn“13 nur vage am Goethe’schen Horizont zu erkennen war, soll nun mittels ironischer Durchbildung des Werks Realität werden. Eine solche durchgehende „Bildung ist antithetische Synthesis, und Vollendung bis zur Ironie“14, lautet die These, deren voller spekulativer Einsatz freilich erst am Ende vorliegender Arbeit eingeholt werden kann. Es ist eine legitime Lesart von Ironie, sie als synthetisierend zu verstehen, das heißt sie innerhalb des Schlegel’schen Denkens als Versatzstück idealistischer Theorie zu begreifen. Ironie kann als Erbe von Kants und Fichtes ‚Synthesis der Einbildungskraft‘ verstanden werden. Um den versöhnenden Zug von ästhetischer Ironie genauer fassen zu können, gilt es diese gebrochene Beerbung der Kritik der Urteilskraft zu verdeutlichen. Nur dann kann die philosophische Stringenz von Schlegels Fragmenten zur Ironie erwiesen werden. Unter Verwendung kantischer Terminologie versuchen Schlegel, Novalis und Solger, Kants Ästhetik über ihre eigenen Grenzen hinaus zu radikalisieren. Sie wenden nicht einfach Fichtes Idealismus auf ästhetische Phänomene an, sondern Fichtes Kant-Rezeption dient den Frühromantikern dazu, dessen Ästhetik kunsttheoretisch zu problematisieren. Bevor die romantische Fichte-Kritik dargestellt wird, muss daher das Verhältnis der Frühromantiker zu Kants Ästhetik erläutert werden. Bekanntlich hatte Kant eine dritte Kritik als Fundamentierung seines Systems geplant. Woran es mangelte, war eine Verbindung zwischen zwei absolut heterogenen Welten, zwischen den Vermögen theoretischer und praktischer Vernunft. Es bedurfte, um es mit dem diesbezüglich skeptischen Jacques Derrida zu sagen, eines „Dritte[n], um den Abgrund zu überwinden, die Kluft zu schließen und die Spanne zu denken. […] Kurz, ein[es] Symbol[s]“.15 Analog zueinander verhalten sich der Text (Kritik der Urteilskraft) und die in diesem stark gemachte Funktion 11 Schlegel, „Athenäumsfragmente“, Nr. 121, S. 115. 12 Ebd., Nr. 51, S. 109. 13 Strohschneider-Kohrs, Ingrid, Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, Tübingen, 1977, S. 12. 14 Schlegel, KA, Bd. 18, S. 82. 15 Derrida, Jacques, Die Wahrheit in der Malerei, Wien, 1992, S. 55.

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B. RHETOROLOGIEN

(des Symbols). Der dafür exemplarische Dichter, Erfinder von Metaphern und Metonymien, von Symbolen also, ist einer, der zwischen Theorie und Praxis, Natur und Freiheit vermittelt. Seine ästhetischen Ideen symbolisieren Vernunftideen (etwa von Freiheit) aufgrund eines analogen Mangels auf beiden Seiten. „[D]as begriffliche Gebrechen der einen stellt symbolice den Mangel der Anschaulichkeit der anderen dar.“16 Es handelt sich hier um ein für Kant nicht untypisches methodisches Als-ob, welches von Schiller, der die subjektivistischen Restriktionen Kants aufzulösen versuchte, aufgehoben wird. Gegen Kants ‚sich selbst fühlen‘ des (am Objekt interesselosen) Subjekts, gegen den berühmten § 59 der Kritik der Urteilskraft „Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit“ setzt Schiller direkt: „Schönheit ist Freiheit in der Erscheinung.“17 Schlegels Theorieeinsatz lässt sich nun als Abwendung von Schillers ideologischer18 Forderung nach Schönheit und damit als Abkehr von einer idealistischen Kantdeutung verstehen. Wie so oft bei den Frühromantikern geschieht dies mittels eines scheinbar paradoxen Akts: mittels einer Rückwendung zu Kant über Schillers idealistisches Kant-Verständnis hinaus. Zurück zu Kant, indem eine Übereinstimmung von ‚Einbildungskraft‘ als freier und ‚Verstand‘ als unbestimmtem behauptet wird – eine Übereinstimmung, welche aber nur gefühlt, nicht verstanden werden kann.19 Und aus demselben Grund, aus dem das Subjekt Wohlgefallen nur an der Erweiterung der Einbildungskraft (der Erweiterung des Gemüts) empfindet, wird auch im Geschmacksurteil nur auf die Form und nicht auf den Inhalt des Objekts reflektiert. Über Kant hinaus gehen Schlegel und Novalis aber in der Art und Weise, wie sie die Rolle der ‚Einbildungskraft‘ verstehen. Dazu muss kurz an deren Konzeption bei Kant erinnert werden, bei dem sie eine entscheidende Brückenfunktion zwischen Verstand und Sinnlichkeit erfüllt, „ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden“.20 Die Einbildungskraft ist bei Kant somit ein Vermögen zur Schemenbildung, welches den Verstandeskategorien allererst Bedeutung geben kann. Sie ist ein Symbol, eine Brücke, welche aber die Selbstständigkeit der vermittelten Vermögen nicht angreifen soll. Um das zu konzeptualisieren, entwickelt Kant zusätzliche Binnenunterscheidungen. Einerseits eine blinde, unbewusste Kraft zur Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung. Dieser unfreien, Vorstellungen nach Assoziationen verbindenden, reproduktiven Einbildungskraft 16 Frank, Manfred, Einführung in die frühromantische Ästhetik, Frankfurt am Main, 1989, S. 103. 17 Schiller, Friedrich, „Fragmente aus Schillers aesthetischen Vorlesungen“, in: ders., Nationalausgabe, hrsg. v. Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese, Bd. 21, Weimar, 1963, S. 66-88, hier: S. 83. 18 Inwiefern diese einseitig ideologische Lesart Schillers um eine politisch produktivere bereichert werden müsste, darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. Weniger philologisch als inhaltlich werden diese Fragen weiter unten in Abschnitt C. II. („Ästhetisierung als ironischer Imperativ?“) im Zusammenhang von Jacques Rancières Relektüre unter anderem Schillers diskutiert. 19 Vgl. dazu Deleuze, Gilles, Kants kritische Philosophie, Berlin, 1990, speziell S. 104. 20 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe in 12 Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. III, Frankfurt am Main, 1990, B 103.

I. GEGLÜCKTE VERSÖHNUNG

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steht eine produktive zur Seite, welche geordnete Anschauungen nach kategorialen Regeln des Verstandes synthetisiert: eben das Vermögen des Schematismus. Zusätzlich stützt sich Kant auf eine weitere Unterscheidung innerhalb des Ensembles der für alle Wahrnehmung unentbehrlichen Funktionen: diejenige zwischen einer wilkürlichen facultas imaginandi (dem Vermögen der Anschauung auch ohne Gegenwart des Gegenstands) und der unwillkürlichen Phantasie. Gerade an dieser Stelle, genauer: mit der tendenziellen Aufhebung dieser Trennungen, gehen die romantischen Überlegungen radikalisierend21 über Kant hinaus. Einstweilen gilt es für hiesigen Zusammenhang vor allem eines festzuhalten: Für die zeitweise symphilosophierenden Schlegel und Novalis hört Wahrheit auf, geistige Reproduktion eines vorab Gegebenen zu sein. Entsprechend ihrer Betonung der Einbildungskraft als produktiver verstehen sie Wahrheit als produzierte Kategorie. „Die W[issenschaft] darf Symbole brauchen die Wahrheit kann nur producirt werden – (das Denken ist produktiv) […]. Alle Wahrheit ist relativ Alles Wissen ist symbolisch“22 und, nach heutigem Sprachgebrauch, konstruiert. Als Ausgangspunkt der theoretischen Auseinandersetzung und als Ansatzpunkt für die frühromantische Revolutionierung des Verständnisses von ‚Einbildungskraft‘ dient nach Kant nun auch Fichte. Auf dessen Theorie ist daher zum Verständnis der innovatorischen Elemente romantischer Ironie einzugehen. Gegen ein abstraktes Sich-Setzen des Ich beziehungsweise Entgegensetzen des Nicht-Ich hatte Fichte, wie schon angedeutet, die Notwendigkeit einer Wechselbestimmung formuliert. Erst mittels gegenseitiger Beschränkung von absolutem, unendlichem Ich und Nicht-Ich erhält Ersteres einen Inhalt, ein Prädikat. „Dieser Wechsel […], der gleichsam in einem Widerstreite mit sich selbst besteht […], indem das Ich Unvereinbares vereinigen will, jetzt das Unendliche in die Form des Endlichen aufzunehmen versucht, jetzt, zurückgetrieben, es wieder außer derselben setzt, und in dem nämlichen Momente abermals es in die Form der Endlichkeit aufzunehmen versucht – ist das Vermögen der Einbildungskraft.“23

Einbildungskraft ist bei Fichte also, nicht anders als später bei Schelling, als jenes Vermögen definiert, welches „zwischen Bestimmung und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem und Unendlichem in der Mitte schwebt […]. Jenes Schweben eben bezeichnet die Einbil-

21 Von einer Radikalisierung schon bei Kant vorhandener Gedanken kann insofern gesprochen werden, als auch dieser in seinem Handexemplar der Kritik der reinen Vernunft eine bezeichnende Korrektur einfügte. Statt als „Funktion der Seele“ wird die Einbildungskraft dort als „Funktion des Verstandes“ bestimmt; vgl. Kant, Immanuel, Gesammelte Schriften, hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 23, Berlin, 1955, S. 45; zu dieser latenten Ästhetisierung des Verstands vgl. auch Otto, Stephan, Die Wiederholung und die Bilder. Zur Philosophie des Erinnerungsbewusstseins, Hamburg, 2007, S. 87. 22 Schlegel, KA, Bd. 18, S. 417. 23 Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 134 f.

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B. RHETOROLOGIEN

dungskraft durch ihr Produkt; sie bringt dasselbe gleichsam während ihres Schwebens, und durch ihr Schweben hervor.“24

Auf dieselbe Weise erweitern auch die ironischen Romantiker die kantische Einbildungskraft. Zum Beispiel Solger, der sie als Phantasie und somit als ästhetische Vermittlung von präreflexiv-unendlichem und zeitlichem Bewusstsein fasst. „Das Schöne kann also nur in einer Thätigkeit liegen, welche so aufgefaßt wird, daß wir die Gegensätze in dem Akt ihres Überganges erkennen. Eine solche Thätigkeit ist die Kunst.“25 Mittels Phantasie, welcher zugleich Verstand zugesprochen werden muss, mittels einer „künstlerische[n] Dialektik“26, werden die Gegensätze verbindbar und als aufhebbare letztlich unverbindlich. Den Augenblick des wechselseitigen Übergangs beschreibt Solger dann in den wirkungsmächtigen Formulierungen, die Hegel später nur mit einem negativen Vorzeichen zu versehen brauchte: „Hier also muß der Geist des Künstlers alle Richtungen in Einen alles überschauenden Blick zusammenfassen, und diesen über allem schwebenden, alles vernichtenden Blick nennen wir die Ironie.“27 Diese hochfliegenden Formulierungen gewinnen an Stringenz, wenn man sie vor dem Hintergrund von Schlegels Theoremen zur antiken Ironie liest. Schon die sokratische Ironie enthielt ein Gefühl von „dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung. Sie ist die freieste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst weg; und doch auch die gesetzlichste, denn sie ist unbedingt notwendig.“28

Das (ironische) Ich ist immer weiter als seine Mitteilungen und anerkennt dies als gewissermaßen sprechpragmatische Notwendigkeit. Anstatt auf Selbstidentität besteht der so verstandene Ironische auf dem irreduziblen Standpunkt einer Differenz zu sich selbst, fasst diesen jedoch nicht als Problem, sondern gerade als Mittel gelingenden Verstehens. Die dem Ich inhärente ständige Bewegung, „sich abwechselnd zu erweitern und zu verengen“, deckt sich mit der Funktion der Einbildungskraft als dem „Vermögen des Ausdehnens“ und des „Zusammenziehens“.29 Diese Beschreibungen lassen die Ironie dann zum Beispiel bei Manfred Frank als versöhnliche Synthese von (ausdehnender) Allegorie und (zusammenziehendem) Witz erscheinen.30 Einerseits besteht Ironie so in einem melancholischen Verweisen auf die angestrebte, aber nie eintretende Einheit, egal ob diese nun ‚Ganzheit‘, ‚Verbin24 Ebd., S. 136; auch Schelling zufolge schwebt die vernünftige Einbildungskraft im Dienste der Freiheit zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit als eine Theoretisches und Praktisches vermittelnde Tätigkeit. 25 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand, Vorlesungen über Ästhetik, Karben, 1996, S. 109. 26 Ebd., S. 187. 27 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand, Erwin. Vier Gespräche über das Schöne und die Kunst. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1907, München, 1970, S. 387, Hervorh. v. A. A. 28 Schlegel, „Lyceumsfragmente“, Nr. 108, S. 248. 29 Schlegel, KA, Bd. 12, S. 360 f. 30 Vgl. Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 302 f.

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dung von Entgegengesetztem‘ oder ‚vollständige Mitteilung‘ genannt wird. Denn „alle Schönheit ist Allegorie. Das Höchste kann man eben weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen.“31 Das allegorein, das anders Sagen, ist aber nur die eine Seite der ironischen Performanz. Auf der anderen Seite bedient sich der ironisch Sprechende der treffenden Verbindung im punktuellen Witz – beim frühen Kant dem verknüpfenden Vermögen der Bezeichnung (signatio)32 –, womit er die angestrebte Mitteilung in einem paradoxen Aussageakt doch erreicht. Der Ironische beerbt so verstanden das kantische Genie (etwa den Dichter als Schöpfer von Symbolen). Folgt man Manfred Franks Interpretation der Schlegel’schen Ausarbeitung der Bedeutung von Metapher und Metonymie als Witz und Allegorie, bleibt Ironie auf Vermittlung gerichtet und an Verständlichkeit orientiert: Die metonymische Abdrift des Signifikanten wird witzig in einer Metapher zum Stillstand gebracht. So verstanden durchbricht Ironie den Idealismus des Verstehens nicht, sondern hält an dem Anpruch fest, verstanden und akzeptiert zu werden. Diese erste Logik der Ironie ist weniger Ausdruck einer dezidierten Unmöglichkeit direkten Ausdrucks; der Sprecher sieht sich noch nicht mit der Notwendigkeit indirekter Mitteilung konfrontiert, sondern bevorzugt eine distinguierte Ironie, um sich (elitär) abzugrenzen. Unverständlich bleibt diese Ironie nur denjenigen, die vom Verständnis ausgeschlossen bleiben sollen. So praktiziert ist Ironie ein Distinktionsmerkmal, das mittels (Un-)Verständlichkeit operiert, letztlich aber auf Verständlichkeit bezogen bleibt und diese als Kriterium voraussetzt. Zugleich steht diese Ironie unter dem Zeichen von Versöhnung, da mittels ironischen Vorbehalts, qua indirekter Mitteilung, doch wieder Verständigung hergestellt werden soll. Diese erste Ironie arbeitet mittels Aufhebung von Gegensätzlichkeit und im Dienste geglückter Versöhnung. Diese Ironie ist nicht nur kein Hindernis des logos, sondern unterstützt vielmehr den als eigentliche Referenz der Aussage existierenden Sinn. Entweder erscheint sie so als ‚bloß‘ rhetorischer Schmuck, oder sie dient als Distinktionsmerkmal, das die Reinheit der Bedeutung vor naiven oder plumpen Zugriffen bewahren soll. Das kann an einem Beispiel erläutert werden, das sich nicht zufällig als zentraler Topos in den ansonsten nur mehr kursorischen Einlassungen des späten Schlegel zu Ironie findet. Dass er im Alter als „wahre Ironie […] die Ironie der Liebe“ bezeichnet, die „innerlich fest geworden und vollendet“ sei, und meint, dass „der Schein des Widerspruchs keine“ unverständliche „Störung mehr“33 sein solle, ist somit nicht einfach als bedauerlicher Rückfall hinter sein radikal unversöhnliches Frühwerk abzutun. Vielmehr steht auch hinter dieser Formulierung eine mögliche versöhnliche Konsequenzlogik von Ironie. Die hier

31 Schlegel, Friedrich, „Gespräch über die Poesie“, in: ders., Sta, Bd. 2, S. 186–222, hier S. 206. 32 Zu Kants vorkritischen und anthropologischen Bestimmungen vgl. Kohns, Oliver, Die Verrücktheit des Sinns. Wahnsinn und Zeichen bei Kant, E. T. A. Hoffmann und Thomas Carlyle, Bielefeld, 2007, S. 65. 33 Zitate vgl. Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie, S. 82, deren These, dass ‚Ironie‘ gleichbleibende Relevanz in Schlegels gesamtem Œuvre habe, freilich nicht zugestimmt werden kann.

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bislang ausdifferenzierte Konzeption von Ironie ist also eine erste stringente Lesart von Ironie, sie beschreibt aber eben nur eine ihrer performativen Funktionen. Als innerhalb der Moderne zeitlos disponible ist die erste, quasi liebevolle Funktionsweise von Ironie, in der sich die ironische Aussage gegenüber dem von ihr eigentlich Gemeinten transparent zeigt, nicht notwendigerweise eine Gegenteilsironie. Noch vor linguistisch-sprechakttheoretischenen Erklärungsversuchen der Ironie belegt dies am besten die postmoderne Auslegung Umberto Ecos, die nicht zufällig um das Thema unaussprechlichen Einverständnisses, ‚Liebe‘ nämlich, kreist: „[M]it Ironie, ohne Unschuld. Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die eines Mannes, der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr nicht sagen kann: ‚Ich liebe dich inniglich‘, weil er weiß, daß sie weiß (und daß sie weiß, daß er weiß), daß genau diese Worte schon, sagen wir, von Liala geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: ‚Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe dich inniglich‘“.34

Genau genommen völlig unironisch weiß da jemand, was Liebe ist, weiß, dass er liebt, weiß sich gegengeliebt, liebt noch immer und drückt diesen außersprachlichen Sachverhalt nun, seiner selbst und der Übereinstimmung seines Gegenübers gewiss, aus. Dieser ironische Mann besitzt ein hinreichendes Geheimwissen um den Bildungshorizont seiner Partnerin, um seine allegorischen Anspielungen ihrem metonymisch organisierten Assoziationsmaterial anzupassen. Mit einer witzigen, in heutiger Diktion ‚geistreichen‘ Aussage weiß sich der Bildungsbürger immer zu helfen. In der ironischen Aussage deutet man metaphorisch an, verschiebt metonymisch seine Aussage und erreicht sein Ziel punktgenau. Die abgedroschene Phrase des ‚Ich liebe dich‘ wird in ihrer Verbrauchtheit durchschaut, der davon nicht korrumpierte Inhalt mittels leichter Verfremdung revitalisiert. Die Reflexion und Betonung ihrer Zitathaftigkeit möchte gerade die Unangemessenheit jedes allgemeinen Ausdrucks betonen – und rettet damit die ,eigentliche Bedeutung‘. Eigentliche und uneigentliche Aussage stehen hier in einem glücklichen Verhältnis, analog einer romantischen Dialektik von Endlichem und Unendlichem. So wie der Ausdruck eines eigentlich Unendlichen in einem uneigentlichen und endenwollenden Satz gelingen soll, so wird die Endlichkeit der Einzelaussage ironisch gerade noch einmal in ein Unaussprechliches, in romantischer Diktion: Unendliches, aufgehoben. „Romantische Ironie vermag demnach solche Heterogenität nicht etwa im Kompromiß auszugleichen, sondern eher im Hegelschen Sinn ,aufzuheben‘ oder die cusanische coincidentia oppositorum herbeizuführen.“35

34 Eco, Umberto, Nachschrift zum „Namen der Rose“, München, 1987, S. 78 f. 35 Prang, Helmut, Die romantische Ironie, Darmstadt, 1972, S. 13; vgl. dazu auch Choi, Moongyoo, „Frühromantische Dekonstruktion und dekonstruktive Frühromantik. Paul de Man und Friedrich Schlegel“, in: Ästhetik und Rhetorik. Lektüren zu Paul de Man, hrsg. v. Karl Heinz Bohrer, Frankfurt am Main, 1993, S. 181–205, hier S. 191.

I. GEGLÜCKTE VERSÖHNUNG

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Vor allem wo Rhetorik als eine Art parergonaler Schmuck gesehen wird, ist Ironie immer auch eine eher simple Angelegenheit. „Meine Liebe, du weißt doch, dass ich dich nicht ausstehen kann“, wäre so eine Form offenkundiger Gegenteilsironie von der Sorte praise by blame, blame by praise. Die berühmteste Formulierung solcher Ironie ist sicherlich das Mark-Anton’sche „Doch Brutus ist ein ehrenwerter Mann“ bei Shakespeare, wo zudem die mehrmalige Wiederholung als „irony mark“ oder „irony signal“36 funktioniert. Diese Form der Ironie ist sicher sehr häufig und hat speziell dort ihre Berechtigung, wo die eigene Meinung nicht frei geäußert werden darf.37 Nur, um die opposite theory of irony als einzige zu behaupten, muss man wohl mittelalterlicher Rhetoriker oder moderner Linguist sein. Je stärker das Bedürfnis nach einer „stable irony“38, desto reduktiver das Ironieverständnis, hat man etwa bei der Lektüre John Searles den Eindruck. „Ganz grob gesagt funktioniert der Mechanismus der Ironie so, daß die Äußerung wörtlich genommen ganz offensichtlich nicht zur Situation paßt. Weil sie so offensichtlich nicht paßt, muß der Hörer sie so reinterpretieren, dass sie paßt, und die natürlichste Methode besteht darin, sie so zu interpretieren, daß sie gerade das Gegenteil von dem bedeutet, was sie wörtlich besagt.“39

Searles Verständnis der Ironie greift grob – und daneben. Denn auch wo er im Folgesatz – interessanterweise wieder mit einer rhetorischen Floskel: Er wolle „keinesfalls den Eindruck erwecken, dies sei schon alles, was es mit Ironie auf sich hat“ – genauer auf Ironie einzugehen scheint, trifft er berufsblinde Vorentscheidungen. „Bei Kulturen und Subkulturen gibt es enorme Unterschiede in Grad und Ausmaß“, in „Grad und Ausmaß“ jedoch der „sprachlichen und außersprachlichen Anhaltspunkte, die für ironische Aussagen zur Verfügung stehen.“ Edgar Lapp hat in seiner Studie zur Linguistik der Ironie auf diese Tendenz von Sprechakttheoretikern hingewiesen, „phonologische oder andere Äußerungsmerkmale“40 einzufordern, um den ironischen Regelverstoß gegen die guten Diskursabsichten wiedergutzumachen. Es liegt nahe, dies als eine strukturell angelegte Blindheit der Linguistik zu verstehen. Im Zusammenhang dieser Konzeptualisierung von Ironie verbinden sich 36 Zu den verschiedensten formalistischen, intentionalistischen, pragmatischen Versuchen, Ironie zu dekodieren, vgl. Hutcheon, Linda, Irony’s Edge. The Theory and Politics of Irony, London, 1994 (speziell S. 149). Ein besonders schönes Beispiel ist die Idee eines gewissen Alcanter de Brahm in seiner Studie „L’Ostensoir des ironies“, der vorschlägt, ein umgekehrtes Fragezeichen am Ende eines ironischen Satzes zu setzen (ebd., S. 149). 37 Ansonsten erklärt sie nur Formen von Über- und Untertreibung, Litotes etc. 38 So eine Kapitelüberschrift in Booth, A Rhetoric of Irony, dessen Interesse hauptsächlich von der Furcht getragen ist, Ironie nicht zu verstehen. Auch andere Kapitelüberschriften sprechen eine eindeutige Sprache, etwa „The marks of stable irony“ und der väterliche Rat: „Learning where to stop“. – Zu einer kritischen Diskussion von Booths Konzept vgl. Fish, Stanley, „Short People Got No Reason to Live. Reading Irony“, in: ders., Doing What Comes Naturally. Change, Rhetoric, and the Practice of Theory in Literary and Legal Studies, Durham/London, 1989, S. 180–196, speziell S. 181. 39 Searle, John, Ausdruck und Bedeutung, Frankfurt am Main, 1982, S. 135. 40 Lapp, Linguistik der Ironie, S. 91.

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– nicht anders als in aktuellen rhetorischen Definitionen41 – Intentionalismus, Gegenteilsdefinition sowie die Forderung nach Ironiesignalen, irony markers. Diese fordern nicht nur struktural oder pragmatisch orientierte Linguisten, sondern auch Sprechakttheoretiker wie Searle und Brown.42 Als ein prägnantes Beispiel für letztere Gruppe können H. Paul Grices Überlegungen angeführt werden, welche zwar weniger auf Ironiesignale abzielen, dafür aber auf ein anderes schon von Eco bekanntes Moment. „Das Gricesche Grundmodell für eine intentionalistische Definition kommunikativen Handelns beruht […] auf der Annahme, daß im Vorgang der Kommunikation die Intention des Sprechers S zu einem wechselseitigen Wissen [mutual knowledge; A. A.] zwischen dem Sprecher S und dem Hörer H wird, d. h. S weiß, daß H weiß, daß S weiß, daß H weiß (etc. ad infinitum), daß S diese bestimmte Intention hat.“43

Sowohl die Suche nach Ironiesignalen als auch den teleologischen Intentionalismus treibt dasselbe Bedürfnis: einem ironischen ad infinitum Einhalt zu gebieten sowie letztlich im prästabilisierten Bildungs- und Gefühlshorizont seines Gegenübers sich selbst zu beruhigen. II. SEHNSUCHT DER KUNST

II. SEHNSUCHT DER KUNST „In dem, was man Philosophie der Kunst nennt, fehlt gewöhnlich eins von beiden; entweder die Philosophie oder die Kunst.“ Friedrich Schlegel44

Nicht immer aber ist Ironie eingebunden in gelungene und positive Verstehensprozesse. Bereits Solgers zuvor besprochener ‚vernichtender Blick‘ schwebte über allem, auch dem Höchsten. Da auch das Höchste „für unser Handeln nur in begrenzter endlicher Gestaltung da“ ist, ist dieses ebenso „nichtig wie das Geringste, und geht nothwendig mit uns und unserem nichtigen Sinne unter“.45 Zwar vermeint Solger, und das deckt sich teilweise mit Schlegels Überlegungen, in diesem 41 „Konstitutiv für die Ironie sind Ironiesignale, die gestischer, intonatorischer, kontextueller und verbaler Natur sein können und die die sprachliche Äußerung als einen ironischen Sprechakt erkennen lassen. Die Ironie ist darauf angelegt, als eine Form des uneigentlichen Sprechens erkannt zu werden“, so wiederum Müller („Ironie, Lüge, Simulation, Dissimulation“, S. 192) über die uneigentliche rhetorische Gegenteilsironie. 42 Vgl. die Diskussion bei Lapp, Linguistik der Ironie, S. 91. Vgl. dort auch (S. 29) eine Diskussion von Weinrichs einflussreicher Studie Linguistik der Lüge (1966). Als Beispiel werden mit Vorliebe stimmliche Veränderungen, Augenzwinkern, überlange Sätze, Wortwiederholungen etc. genannt. 43 Lapp, Linguistik der Ironie, S. 60; vgl. dazu etwa Grice, H. Paul, „Meaning“, in: Philosophical Review 66 (1957), S. 377–388. 44 Schlegel, „Lyceumsfragmente“, Nr. 12, S. 239. 45 Zit. vgl. Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 334.

II. SEHNSUCHT DER KUNST

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Moment tragischer Ironie ein Aufkeimen göttlichen Lebens verorten zu können. In ihrer Fassung als ‚Aufhebung der Idee durch sich selbst‘46 lässt sich die Ambivalenz dieser künstlerischen Ironie aber nur mehr schwer übersehen. Offensichtlich kann Schlegel ein Wissen um die Negativität der Ironie nicht abgesprochen werden. „Ironie ist philosophisch witzig“47, lautet eines seiner experimentellen Fragmente, was der in seinem 1800 publizierten „Gespräch über die Poesie“ betonten Nuance der Ironie entspricht. Dort wird der große Witz der romantischen Poesie als „ewige[r] Wechsel von Enthusiasmus und Ironie“48 bestimmt. Innerhalb einer bestimmten, in Schlegels Reflexionen meist künstlerischen Dialektik kann Ironie somit auch den Negativpart übernehmen. „Ironie ist nicht immer witzig, aber immer enthusiastisch“49, scheint sich Schlegel an anderer Stelle einmal mehr zu widersprechen. Nach enthusiastischwitzigem Ausgleich und negativ-witziger „annihilierender“ Funktion erscheint Ironie nun auch noch als der positive Pol der von Schlegel immer wieder beschriebenen künstlerischen Dialektik. Die verschiedenen Zuschreibungen stehen aber nicht unbedingt im Widerspruch zueinander. Vielmehr gilt es Grund und Einsatz von Schlegels Experimentierfreudigkeit zu verstehen und gerade in dieser Widersprüchlichkeit zu suchen, die auch Schlegel nicht entgangen ist. Ironie ist für Schlegel nicht nur ein wichtiges Instrumentarium seiner Theorie, sondern zugleich katalytisches Medium, die Zusammenhänge von Theorie und Ironie, Begrifflichkeit und Denken neuartig zu thematisieren. Die unterschiedlichen Theorien der Ironie, denen man bei Schlegel (und anderen) begegnet, implizieren immer auch unterschiedliche Konzeptionen von ‚Theorie‘ selbst. Wenn Schlegel dem philosophischen Konzept ‚Ironie‘ so offensichtlich divergierende Bedeutungen zuspricht, wenn einzelne zentrale Begriffe gegenteilige Bedeutungen annehmen können, dann gilt es, die Ursachen dafür in seiner (und Hardenbergs) neuartigen Sprachtheorie zu suchen. Winfried Menninghaus hat die Friedrich Schlegel eigene, bürgerschreckhafte Neigung, „ganze Systeme von Terminologien zu metaphorisieren oder zu analogisieren und damit teils eine scheinbar abundante Fülle von Fast-Synonymen zu erzeugen, teils vermöge der Verschiebung im Gefüge der Begriffe komplexe Zusammenhänge in einem einzigen Begriff aufscheinen zu lassen“50,

exakt charakterisiert. Schlegels Experimentaltheoreme sind nicht einfach auf den Versuch zu reduzieren, dem Begriff ‚Ironie‘ ein paar weitere Bedeutungsnuancen abzugewinnen. Eher ist die Problematik gerade auch der verschiedenen Einschätzungen von Ironie exemplarischer Ausdruck der frühromantischen „Ontosemio-

46 47 48 49 50

Vgl. Solger, Vorlesungen über Ästhetik, S. 241. Zit. vgl. Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie, S. 36. Schlegel, „Gespräch über die Poesie“, S. 204. Schlegel, KA, Bd. 18, S. 203. Menninghaus, Winfried, Unendliche Verdopplung, Frankfurt am Main, 1987, S. 57.

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logie“.51 Um Widersprüchlichkeiten handelt es sich ‚nur‘ an der Oberfläche traditioneller (philosophischer) Logik. Die Entwicklung frühromantischer Ironiekonzepte muss Walter Benjamin folgend mit Blick auf die „Voraussetzung eines stetigen medialen Zusammenhanges, eines Reflexionsmediums der Begriffe“52 verstanden werden. Vor dem Hintergrund nicht zuletzt von Menninghaus’ einschlägigen Untersuchungen wird die Radikalität der sprachtheoretischen Ansätze der Frühromantiker am deutlichsten, wenn man sie in Verbindung mit entsprechenden Überlegungen (post)strukturalistischer Provenienz liest. Denn nicht erst für Saussure, sondern eben schon für die Frühromantiker ist es ein sprachtheoretischer Gemeinplatz, dass (von jeder positiven Substanzialität abgetrennter) Signifikant und Signifikat als zwei Seiten ein und desselben Blatts zu betrachten sind. Mit ihrer Sprachtheorie – speziell der Einsicht in die Auswirkung der differenziellen Verkettung der Signifikanten untereinander, die ihre Bedeutung erst in der negativ-differenziellen Relation zueinander erlangen – stellen sich Schlegel und Novalis sogleich quer zu einem klassizistischen Bedürfnis noch Schillers, das dazu nötigt, eine „solche Art des Ausdrucks, wo das Zeichen ganz in dem Bezeichneten verschwindet, und wo die Sprache den Gedanken, den sie ausdrückt, noch gleichsam nackend läßt“53 vorauszusetzen. Noch vor jeder ästhetischen Differenz weichen Allegorie und Ironie von einem Hegel’schen Verständnis des Symbols also bereits aufgrund unterschiedlicher sprachtheoretischer Grundannahmen ab. Analog gelagert ist der Bruch mit der metaphysischen Voraussetzung eines sprachfreien Signifikats: Der Dissens zwischen Schlegel und Hegel, der eigentlich Gegenstand einer ästhetischen Debatte hätte werden müssen, schließlich aber, wie das nächste Kapitel zeigen wird, zunächst nur mittels moralistischer Unterstellungen abgehandelt wurde, hat seinen Kern in einer fundamentalen sprachphilosophischen Differenz. Hegels Ästhetik folgt sprachästhetischen Überlegungen Schillers: „Der Geist wird […] auf seinem eigenen Boden sich gegenständlich und hat das sprachliche Element nur als Mittel, teils der Mitteilung, teils der unmittelbaren Äußerlichkeit“.54 Soll die Rede von einer frühromantischen Ontosemiologie Sinn ergeben, dann muss nachvollzogen werden, inwiefern Schlegels diametral entgegengesetzte ästhetische Theoreme zugleich eine erkenntnistheoretische und ontologische Stoßrichtung haben. Als ein Ergebnis der diesbezüglichen romantischen Reflexionstheorie kann dabei gelten, dass „alles spricht“55, dass auch das stille Denken ein „innerliches Reden“56 ist. Und 51 Zu dem Konzept schon Werner Hamachers von „Ontosemiologie“ bzw. „Semontologie“ vgl. Menninghaus, ebd., S. 85 sowie unten Kap. G. „Metaphysische Entgrenzungen“. 52 Benjamin, Walter, „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.1, S. 7–122, hier S. 49. 53 Schiller, Friedrich, „Über naive und sentimentalische Dichtung“, in: ders., Nationalausgabe, Bd. 20, Weimar, 1962, S. 413–503, hier S. 426. 54 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Ästhetik III, in: ders., Werke, Bd. 15, S. 229. 55 Novalis, Schriften, Bd. 3, Stuttgart, 1983, S. 268. 56 Schlegel, KA, Bd. 10, S. 350.

II. SEHNSUCHT DER KUNST

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deswegen auch stellt sich mit Schlegel „wahre Kritik der Philosophie [als] Philosophie der Rhetorik“57 dar. Von diesen Bestimmungen aus kann überhaupt erst die Aufwertung rhetorischer Begriffe in ihrer positiv-innovativen Bedeutung verständlich werden. Speziell Fichtes Wissenschaftslehre mit ihrer Voraussetzung eines sprachfrei mit sich selbst identischen Ich verfällt der (Sprach-)Kritik der Frühromantik. „[J]ede Thathandlung setzt eine andre voraus […]. Alles Suchen nach der Ersten ist Unsinn – es ist regulative Idee“58, denn einen „absoluten Punkt, ein Ey des Universums giebts nicht“59. Noch auf den Satz der Identität (des Absoluten), mit dem Fichte seine Wissenschaftslehre exponiert, wird dessen Argument der bestimmenden Prädikation angewendet. Wiederum in Novalis’ Worten: „Um a deutlicher zu machen wird A getheilt […]. Das Wesen der Identität läßt sich nur in einen Scheinsatz aufstellen. Wir verlassen das Identische um es darzustellen […] wir stellen es durch sein Nichtseyn, durch ein Nichtidentisches vor – Zeichen“.60

Diese sprachtheoretischen Überlegungen haben Konsequenzen für die frühromantische Philosophie insgesamt. In Abgrenzung von Jacobis ‚Gefühl‘ als zusätzlichem Erkenntnisorgan und von jedem Versuch, einen absoluten Idealismus zu etablieren, revidieren die Frühromantiker ihre früheren Positionen. „Das war ein falscher Begriff, daß du die Form zur Antithese, den Stoff zur These machtest“61, ließe sich als zentrale Einsicht von Novalis’ Ordo-inversus-Lehre anführen. Gefühl und Reflexion „tauschen ihre Rollen“62. Die Unmöglichkeit einer ersten Ursache ist hier klar erkannt. Entsprechend Fichtes Wechselverweis „müssen [wir] durchgehends auf den synthetischen Zusammenhang der Entgegengesetzten reflectiren“.63 Was Novalis die „ursprüngliche Reflexion“64 nennt, kann als sprachliche Medialität strukturidentisch mit Derridas différance gelesen werden. Nichts, weder das Ich noch sonst ein Absolutes, ist außerhalb der differenziellen Sprache, und nichts ist vor ihr. „Die Ursprungslosigkeit ist es, die ursprünglich ist.“65 Analog zu diesem nicht-substanziellen Ursprung bei Derrida ist auch die frühromantische Reflexion – gewinnbringend nicht zuletzt im Hinblick auf Schlegels poetologische Überlegungen – als sprachliche zu verstehen. So verstanden ist romantische Melancholie die ewig zum Scheitern verurteilte Sehnsucht nach einem selbsttransparenten Ich. Das Hardenberg’sche „Absolute – 57 58 59 60 61 62 63

Ebd., Bd. 18, S. 75. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 254. Schlegel, KA, Bd. 18, S. 409. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 104. Ebd., S. 130. Ebd., S. 127. Ebd., S. 292; die entscheidenden Hinweise auf die Parallelität von frühromantischer und poststrukturalistischer, speziell Derridas Sprachtheorie finden sich wiederum in: Menninghaus, Unendliche Verdopplung, speziell S. 115–131. 64 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 430. 65 Derrida, Jacques, „Freud und der Schauplatz der Schrift“, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main, 1972, S. 312.

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[…] was nur durch Handeln erkannt werden kann und was sich durch ewigen Mangel realisirt“66 ist analog Lacans poststrukturalistischem Verständnis von „Sinn“ konzipiert, „der in der Signifikantenkette insistiert“, aber keine „Konsistenz hat“.67 Dass das Absolute nur durch Handeln erkannt werden kann, weckt Zweifel an diesem nur mangelhaft sich realisierenden Absoluten. Dessen poietische Konstruiertheit wird immer deutlicher sichtbar, ebenso wie auf Seiten des Subjekts die Unmöglichkeit vollständiger Mitteilung eine Fragmentierung mit sich bringt, die bis heute oft als romantisch apostrophiert wird. Als experimentelle Anlage und Bruchstück eines unerreichbaren Ganzen ist das Fragment der adäquateste formale Ausdruck dieser zweiten Logik der Ironie. Es dient dem distanzierten Postulieren einer Einzelposition, welche dadurch sofort in ihrer fragmentierten Beschränktheit negiert wird, um so den Blick auf Umfassenderes freizugeben. Damit wird deutlich, wie sich der Modus der ‚indirekten Mitteilung‘ verschiebt. Anders als in der obigen ersten Ironievariante impliziert diese zweite Einschätzung und Funktionsweise von Ironie nicht mehr das Vertrauen auf ein indirekt-ironisches Gelingen. Einzig mittels offenen Aufzeigens des Misslingens wird ein ehemaliger, jetzt gar nicht mehr ernsthaft vertretener Anspruch noch angedeutet. Zu mehr denn einem zögernden Hinweis, dass man eventuell einmal einen bestimmten Absolutheitsanspruch gestellt haben mochte, reicht es nicht mehr. Ironischer Vorbehalt fungiert hier als eine Art philosophisches Bilderverbot. „Ironie ist d[ie] Pflicht aller φσ [Philosophie] die noch nicht Hist[orie] nicht συστ [System] ist“68, formuliert Schlegel vor Ausarbeitung des Hegel’schen Systems und im Bewusstsein der „Paradoxie“, die „für die Ironie die conditio sine qua non“69 ist. Nichts paradoxer nämlich als die Einsicht, dass „wer ein System hat, […] so gut geistig verlohren [ist], als wer keins hat“.70 Der Zusatz „man muß eben beides verbinden“ erklärt die Bedeutungsaufladung des ironischen Fragments. Ironie ist epideixis, und zwar „επιδειξις [Aufweis, Anzeige] der Unendlichkeit“71, „bloß d[as] Surrogat d[es] ins Unendliche gehen sollenden“72. Demzufolge ist Philosophie „überhaupt mehr ein Suchen, Streben nach Wissenschaft, als selbst eine Wissenschaft“.73 Ihr „Wesen […] besteht in d[er] Sehnsucht nach d[em] Unendlichen“74, einer Sehnsucht, der die sprachtheoretische Melancholie angesichts der differenziellen Bedeutungsverweise der Signifikanten entspricht. 66 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 270. 67 Lacan, Jacques, Schriften, hrsg. v. Norbert Haas, Bd. II, 3., korr. Aufl., Weinheim/Berlin, 1991, S. 27. 68 Schlegel, KA, Bd. 18, S. 86. 69 Schlegel, Sta, Bd. 5, S. 226. 70 Schlegel, KA, Bd. 18, S. 80. 71 Ebd., S. 128. 72 Ebd., S. 112. 73 Zit. vgl. Frank, Manfred, Unendliche Annäherung. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt am Main, 1997, S. 872; vgl. dort auch die minutiöse Analyse des Hamann-Herder’ schen Erbes der frühromantischen Zeichentheorie sowie den Stand der zeitgenössischen Diskussion von Kant über Fichte bis zu dem Hallenser Philosophen Johann Christoph Hoffbauer. 74 Schlegel, KA, Bd. 18, S. 418.

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Dieser ihrer zweiten rhetorologischen Dimension zufolge kann sich Ironie ad infinitum nicht mehr beruhigen. Nur mehr in Paradoxen lässt sich noch – nicht nur über Ironie – argumentieren und philosophieren. Selbst die Aussage, dass „alles sich widerspricht“75, wird von Schlegel noch einmal überhöht. Denn auch der Satz des Widerspruchs selbst, den Kant um des Unendlichen willen besser hätte aufgeben sollen76, widerspricht sich. Das „eigentlich Widersprechende in unserem Ich ist, daß wir uns zugleich endlich und unendlich fühlen“77, zugleich real und ideal, und uns somit stets in ironischer Distanz zu uns selbst befinden. So verstanden setzt sich der Mensch also nicht (wie in Fichtes Tathandlung), vielmehr sucht er sich, ist wesentlich Sehnsucht. Und wenn er sich findet, dann nur „als in sich gespalten und getrennt, voller Widersprüche und Unbegreiflichkeiten, kurz als Stückwerk, der Einheit vielmehr entgegengesetzt“.78 Der Vorrang sprachlicher Reflexion entsubstanzialisiert das frühromantische Subjekt. Zeichen taugen Novalis zufolge als Bild „des Nicht-seyns im Seyn, um das Seyn für sich auf gewisse Weise daseyn zu lassen“.79 Die Mangelmetaphorik, etwa die Beschreibung des Ich als bloße grammatikalische Leerstelle, als „Lücke im Dasein“80, bekundet deutlich diejenige Erfahrungsdimension, welche die Lacan’sche Psychoanalyse später als ‚Kastration‘ bezeichnen wird. Zugleich ist sie die zwangsläufige Konsequenz jener oben beschriebenen Sehnsuchtslogik, gewissermaßen ihre immanente Fortführung auf ethischem Terrain. Dem entsprechenden Konzept einer ironischen Melancholie ist weiter unten ein eigenes Teilkapitel gewidmet81, doch schon hier gilt es auf ein entscheidendes Detail zu verweisen. Wenn im Zusammenhang mit der ironischen Frühromantik von Sehnsucht die Rede ist, so muss nämlich ein naheliegendes Missverständnis vermieden werden. In vielen verurteilenden Lektüren ‚romantischer Sehnsucht‘ seit Hegel geht eine entscheidende Dimension verloren: Ironische Distanz zum (absoluten) Objekt bedeutet qua Ironisierung der Sehnsucht zugleich eine Ironisierung des Objekts selber. Die erkenntnistheoretisch revolutionären Überlegungen des Novalis können das verdeutlichen. „Ich“ ist für Novalis nur mehr „jenes negativ zu erkennende Absolute – was nach aller Abstraction“, und somit gerade nicht als positive Entität, „übrig bleibt“.82 Die oxymorale Einschätzung der Reflexion als „Ur-reflexion“83 führt die frühromantischen Theoreme – analog auch hier dem sogenannten Poststrukturalismus – über eine klassische Semiologie hinaus, welche die Ersetzung der Sache

75 Ebd., S. 86. 76 Vgl. ebd., S. 410. 77 So Schlegel in seinen Kölner Vorlesungen von 1804–1805: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern (in: ders., KA, Bd. 12, S. 334). 78 Ebd., S. 381. 79 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 106. 80 Schlegel, KA, Bd. 12, S. 192. 81 Vgl. Kap. C. V. „Heroische Melancholie“. 82 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 270. 83 Ebd., Bd. 3, S. 176.

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durch das Zeichen als bloße Vertretung (miss)versteht. Nicht anders als Derridas ‚ursprüngliche différance‘ und ‚Urspur‘ bringt auch Novalis’ ‚Urreflexion‘ den Widerspruch gegen das Phantasma einer ursprünglichen, durch Zeichen nur vertretenen Präsenz auf den Begriff. Wo die symphilosophisch-avantgardistischen Programme von Novalis und Schlegel auf der Höhe dieser ihrer eigenen Intuitionen stehen, teilen sie deswegen eine fröhliche Bejahung künstlerischen Zeichenspiels. Nicht mehr ist dann die Figur des Marsyas die Allegorie auf die ‚Literatortur‘ der Moderne, wie noch in Schlegels Lessing-Aufsatz von 1797.84 Ziel ist stattdessen die „Apologie d[es] Buchstabens, d.[er] als einzig ächtes Vehikel d[er] Mitteilung sehr ehrwürdig ist“.85 Und gegen die Anerkennung eines sei es auch nur regulativen Ideals steht jetzt die Forderung: „[A]lles Absolute muß aus der Welt hinausostraciren. In der Welt muß man mit der Welt leben“, und das heißt reflexiv leben. Metaphysisch verabsolutierende Postulate werden als leere Begriffe durchschaut. Denn alles „Reine ist also eine Täuschung der Einbild[ungs]Kr[aft] – eine nothwendige Fiction“.86 Der „Buchstabe ist d[er] wahre Zauberstab“87 und Spiel „zwischen zwey Funktionen“88. „Seyn überhaupt ist nichts als Freyseyn – Schweben zwischen Extremen, die nothwendig zu vereinigen, und nothwendig zu trennen sind. Aus diesem Lichtpunct des Schwebens strömt alle Realität aus.“89 Schlegels Schweben ironischer Reflexion wird so zum Paradigma allen, notwendig sprachlich-reflexiven Seins. Versprachlichung ist nun nicht mehr verstanden als Abtötung, sondern als Verlebendigung, welche es höherzupotenzieren gilt.90 Nach Schlegel „experimentirt“ die Philosophie „mit d[em] Leben d[er] Reflexion“.91 Damit holt er Novalis’ Überlegungen zur lebendigen Reflexion ein. Letzterer bestimmt „jede Reflexion“ als eine „Handlung des Brechens“92, worin ihn Schlegel ergänzt, wenn ihm Leben nur durch „eine fortdauernde immer wiederhohlte Störung“93 möglich erscheint. Nur als von seinem Ursprung her sprachlich gebrochenes oder symbolisch gesprungenes ist (reflektiertes) Leben möglich. Wie immer bei solchen Gedanken sind philosophische Überlegungen nicht von ästhetischen zu trennen. So weiß Schlegel in seiner Opposition zu jeder „chaotische[n] Überhauptphilosophie“: Nur „wo irgend lebendiger Geist in einem gebildeten Buchstaben gebunden erscheint, da ist Kunst“.94 Die zentrale künstlerische Forderung der Frühromantik

84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94

Schlegel, Friedrich, „Über Lessing“ [1797], in: ders., Sta, Bd. 1, S. 207–224. Schlegel, KA, Bd. 18, S. 5. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 179. Schlegel, KA, Bd. 18, S. 265. Ebd., S. 410. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 266. Novalis folgend, dem „Romantisieren […] nichts, als eine qualitative Potenzierung“ ist, scheint es sich dabei um die genuin romantische Tätigkeit zu handeln (ebd., S. 545). Schlegel, KA, Bd. 18, S. 419. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 213. Schlegel, KA, Bd. 18, S. 419. Ebd., Bd. 2, S. 290.

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nach durchbildender Ausdifferenzierung des Kunstwerks ist zunächst eine formale. Die „Form ist also alles, d[er] classisch geistreich energische Buchstabe. Das bewirkt eine lebendige, magische Terminologie“.95 Die materiale Einlösung dieser Forderung entwickelt sich wiederum an abgelegenen stilistischen Verfahrensweisen früherer Kunstepochen: 1) Buffo und 2) Parekbase. Ad 1) Zum Buffo gibt Schlegel im Lyceumsfragment 42 zunächst eine seiner üblichen, die Zeitgenossen provozierenden, schillernden Beschreibungen ironischer Werke. „Es lebt in ihnen eine wirklich transzendentale Buffonerie. Im Innern, die Stimmung welche alles übersieht, und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über die eigne Kunst, Tugend, oder Genialität: im Äußren, in der Ausführung die mimische Manier eines gewöhnlichen guten italiänischen Buffo.“96

Der göttliche Hauch der Ironie soll zu einer Durchorganisation des Werkes von innen heraus führen. Die klassizistische Übereinstimmung von Objektivem und Subjektivem soll jetzt gerade durch jene Reflexivität geleistet werden, die der Moderne ansonsten oft nur als sentimentalischer Mangel zugeschrieben wird. Mittels einer ironischen Volte steht Selbstreflexion nun im Dienste des Unendlichen. Am prägnantesten hat diese zweite künstlerische Logik der Ironie Walter Benjamin beschrieben: „Es ist also bei dieser Art der Ironie […] nicht die Rede von Subjektivismus und Spiel [der bloß äußerlichen mimetischen Manier des Buffo; A. A.], sondern von der Angleichung des begrenzten Werks an das Absolute […]. Es versteht sich von selbst, daß sie, wie die Kritik, sich nur in der Reflexion darstellen kann.“97

Nicht um subjektive Reflexion des Stoffs handelt es sich hier, sondern Benjamin identifiziert, nicht anders als später Vertreter des New Criticism wie Cleanth Brooks98, eine positive und objektive Ironie der Form. Diese „formale Ironie ist nicht, wie Fleiß und Aufrichtigkeit, ein intentionales Verhalten des Autors. Sie kann nicht, wie es üblich ist, als Index einer subjektiven Schrankenlosigkeit verstanden, sondern muss als objektives Moment im Werke selbst gewürdigt werden. Sie stellt den paradoxen Versuch dar, am Gebilde noch durch Abbruch zu bauen: im Werke selbst seine Beziehung auf die Idee zu demonstrieren.“99 95 96 97 98

Ebd., S. 384. Schlegel, „Lyceumsfragmente“, Nr. 42, S. 242. Benjamin, „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“, S. 85. Vgl. Brooks, Cleanth, „Irony as a Principle of Structure“, in: Literary Opinion in America, hrsg. v. Morton Dauwen Zabel, New York, 1951, S. 729–741. Brooks identifiziert den inneren poetischen Formzusammenhang literarischer Werke generell als Ironie. Zwar ist die Einsicht einer „organische[n] Zusammengehörigkeit der Teile eines Gedichts“ poetologisch relevant. Eine im Sinne vorliegender Studie systematische Einschätzung der Ironie selber fehlt jedoch nicht nur, vielmehr versteht Brooks etwa die Geisteshaltung des Sarkasmus als „deutlichste Form der Ironie“; vgl. ders., „Ironie und ‚ironische‘ Dichtung“, in: Ironie als literarisches Phänomen, hrsg. v. Hans-Egon Hass und Gustav Adolf Mohrlüder, Köln, 1973, S. 31–38, hier S. 32. 99 Benjamin, „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“, S. 87.

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B. RHETOROLOGIEN

Die von Benjamin skizzierte Bewegung ist eine gattungspoetische und romantheoretische Dialektik, in der bedeutende Werke Gattungen sowohl aufheben als auch neu begründen.100 Die zuvor thematisierte romantische Sehnsucht wird nunmehr auf eine „Idee der Kunst“ qua „Reflexionsmedium der Formen“ bezogen und auf diese Weise ästhetisch produktiv gemacht.101 Benjamins Einsicht in die Fragmenthaftigkeit moderner Kunst erfasst genau diese Logik frühromantischer Ironie. Einen Vorläufer haben seine philologischen Avantgardismen in Schlegels Diktum, dass uns die Kunstwerke des Altertums nur mehr in Fragmenten erhalten, die neueren hingegen fragmentarisch schon von ihrem Ansatz her seien.102 Die Veränderungen in der Konzeptualisierung von Ironie gehen wiederum Hand in Hand mit allgemein ästhetischen Differenzierungen. Dieser neuen poetologischen Bedeutung von ‚indirekter Mitteilung‘ entspricht auf ästhetischem Terrain ein verändertes Verständnis von ‚Symbol‘. Als Ruine gedacht, wird das Symbol Allegorie, verweist nur mehr qua Unvermögen auf seinen irrepräsentablen Gegenstand. Aus systemtheoretischer Perspektive hat David Roberts diese für die selbstreferenzielle Literatur der ironischen Moderne typische „Paradoxie der Form“ als „Schlüssel zur romantischen Theorie des Kunstwerks“ bezeichnet: „Das individuelle Werk weist über sich selbst hinaus auf das absolute Kunstwerk.“103 Würde man aber etwa Lyotards Kritik an einer Funktionalisierung „du visible de signifier l’invisible“104 einseitig gegen die dekonstruktive frühromantische Reflexion wenden, hieße das, deren Funktionalität zu verkürzen. Neben dem ruinösen umfasst diese dekonstruktive Geste auch noch den gegenteiligen Aspekt: ‚noch im Abbruch am Werk zu bauen‘. Ad 2) Parekbase: Jene Facette der Ironie qua romantischer Reflexion, die sich im Zusammenhang seiner gattungspoetischen Bestimmungen des Romans ergibt105, entwickelt Schlegel vornehmlich anhand des Konzepts der Parekbase, eines in der antiken Komödie beliebten Stilmittels. In ihrer antiken Gestalt handelt es sich bei der Parekbase ursprünglich um eine buffoneske Unterbrechung der stofflichen Handlung, um ein Mittel zur direkten Kontaktaufnahme mit dem

100 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 225: „Ein bedeutendes Werk – entweder gründet es die Gattung oder hebt sie auf und in den vollkommenen vereinigt sich beides.“ 101 Benjamin, „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“, S. 85. 102 Doch geht die Bedeutung von ‚Brechung‘ in der Frühromantik über das Resultat des Abbruchs hinaus, ist mehr als ironisches Verweisen auf Undarstellbares. Auch muss ‚Objektivität der Form‘ im Sinne von deren objektiver Gültigkeit verstanden werden, nicht im Sinne klassischer Wohlgeordnetheit. ‚Brechung‘ kann eben auch Reflektierung bis hin zu (chaotischer) Höherpotenzierung bedeuten. 103 Roberts, David, „Die Paradoxie der Form in der Literatur“, in: Probleme der Form, hrsg. v. Dirk Baecker, Frankfurt am Main, 1993, S. 22–44, hier S. 34. Die romantische Ironie ist also die Theorie der (modernen) Literatur in der Form einer Theorie der Selbstreferenz der Literatur. 104 Lyotard, Jean-François, Discours, Figure, Paris, 1985, S. 173. 105 Auf diesen Zusammenhang weist Ernst Behler (Ironie und literarische Moderne, Paderborn u. a., 1997) hin, vgl. speziell das Kapitel 3: „Das Bewusstsein literarischer Modernität“, S. 70–91.

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Publikum sowie eine illusionszerstörende Ermöglichung der Reflexion über das Dargebotene. In Schlegels ästhetischer Theorie nun wird sie zum fast unsichtbaren Schleier, zu einer Art sublimierter Ekstase. „Die Parekbase im Roman muß verhüllt sein, nicht offenbar wie in der alten Komödie“, sie muss im „Roman permanent sein“.106 Erst als durchgehendes Distanzierungsmoment ist sie Ausdruck ‚progressiver Universalpoesie‘ und kann „auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. Sie ist der höchsten und allseitigsten Bildung fähig“, wie es im Athenäumsfragment 116 heißt. Ironie als „permanente Parekbase“107 ist somit im modernen Roman weit mehr als die distanzierte Beschreibung einzelner Personen, vielmehr sind Ironie und (moderner) Roman genealogisch verbunden. Die so verstandene Ironie schwebt über allem, und sie tut dies mit einer Derridas différance verwandten Modalität. Jenseits von Aktivität und Passivität handelt es sich um mediale Ironie: „Ironie ist Mittel der Selbstrepräsentation von Kunst.“108 Schlegels zentrale Romanrezension (von Goethes Wilhelm Meister) ist deswegen auch ein Kulminationspunkt seiner ironischen Theorie, ein Manifest romantischer Transzendentalpoesie, in welcher die Reflexion auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit zur poetologischen Notwendigkeit (nicht nur des Romans) erklärt wird. Im Zusammenspiel mit Goethes Roman ist sie auch ein Beleg für Benjamins These ichfreier frühromantischer Reflexion im „Reflexionsmedium Kunst“.109 Im Wilhelm Meister seien nicht „Personen oder Begebenheiten der letzte Endzweck“, sondern der „angeborne Trieb des durchaus organisierten und organisierenden Werks, sich zu einem Ganzen zu bilden“.110 Dementsprechend zwinge Goethes Wilhelm Meister zu immer weiter potenzierten Reflexionen, denn hat „irgendein Buch einen Genius, so ist es dieses“.111 Was ihm vorgeworfen wurde, nämlich ein Mangel an inhaltlicher Auseinandersetzung, ist von Schlegel vermutlich als Vorzug seiner Rezension verstanden worden. Der damit verbundene Vorwurf einer apolitischen Ästhetisierung oder einer amoralischen „Derealisation des Wirklichen“112, welcher den Frühromantikern angesichts ihrer universalpoetischen Thesen nicht erspart geblieben ist, steht hier noch nicht zur Debatte. Vorerst einmal ist einer der bedeutendsten poetologischen Theoriebeiträge der Frühromantik genauer herauszuarbeiten. Es handelt sich um die Konzeptualisierung und Bestimmung werkimmanenter Kritik, wie

106 107 108 109 110

Schlegel, Fragmente zur Litteratur und Poesie I, S. 118 und 123. Schlegel, KA, Bd. 18, S. 85. Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie, S. 70. Vgl. hierzu wiederum Menninghaus, Unendliche Verdopplung, S. 71. Schlegel, Friedrich, „Über Goethes Meister“ [1798], in: ders., Sta, Bd. 2, S. 157–169, hier S. 160 f., Hervorh. v. A. A. 111 Ebd., S. 162. 112 Zons, Raimar, „Das Schöne soll sein“, in: Die Aktualität der Frühromantik, hrsg. v. Ernst Behler und Jochen Hörisch, Paderborn u. a., 1987, S. 208–218, hier S. 208.

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B. RHETOROLOGIEN

sie mit der Aufhebung traditioneller rhetorischer Überlegungen einhergeht. Schon bei dem Begründer der Disziplin ‚Ästhetik‘, Baumgarten, der stets die Wirkung von Werken auf ihre Rezipienten im Auge behielt, waren erzieherische und moralische Wirkungen nicht mehr die kunsttheoretisch vorrangigen Elemente von Rhetorik. Erst bei Schlegel aber avanciert Rhetorik „von einer Lehre der sprachlichen Erzeugung bestimmter Stillagen und Wirkungsabsichten zu einer Lehre von der Sprachlichkeit der Werke überhaupt“.113 Schlegel begreift Tropen zunehmend in ihrer „textproduzierende[n] Funktion“.114 ‚Ichfreie Reflexion‘ und ‚textuelle Ironie‘ stehen nun anstelle rhetorischer Regelpoetik und deren abstraktem Widerpart, der Aufwertung des Subjekts im Sturm und Drang. Winfried Menninghaus spricht sogar systemtheoretisch von einer „Verschiebung der Autopoiesis-Theoreme von der Aktor- auf die System-Perspektive“.115 Im selben Moment, als mit den Humanwissenschaften die Kategorie ‚Mensch‘, das Urbild aller schon bei Schlegel konzipierten Beobachtung zweiter Ordnung (Luhmann), neu in den Blick kommt, beginnt auch ihr Untergang.116 Menninghaus parallelisiert die diesbezüglichen ästhetischen Transformationen mit dem „sozialen Umbruch von einer ständisch-aristokratischen zur bürgerlichen ‚Ordnung‘, von einer beschränkten, kameralistisch gesteuerten zur ‚freien‘, aus sich selbst heraus schöpferischen und binnengesteuerten Ökonomie“.117 Als eine der Reaktionen auf diese Veränderungen lässt sich die frühromantische Theoretisierung eines ironischen Fundaments von Kunst verstehen. Goethes „Meister = ειρ[ironische] π[Poesie] (wie Sokrat[es] ironische φ[Philosophie]), weil es π π [Poesie der Poesie]“.118 Gegen gattungspoetische Festschreibungen propagiert eine der ästhetisch richtungsweisenden Theorien der Frühromantik eine Analyse von Kunstwerken nach den von ihnen intrinsisch geforderten Kriterien. Im Titel der Rezension „Über Goethes Meister“ schwingt schon die spätere Freude über Goethes Zustimmung mit, welche sich nur mit einem teilweise naiven Übersehen des ironischen Gehalts von Schlegels Kritik erklären lässt. ‚Kritik‘ meint hier nun nicht mehr einfach Beurteilung, sondern ist nahezu gleichberechtigter konstitutiver Bestandteil progressiver Universalpoesie. „Die wahre Kritik ein Autor in der 2t Potenz.“119 Die kritische Rezension versteht sich als schwebende Reflexion, eine distanzierte Potenzierung analog der Manier Goethes, 113 Menninghaus, Unendliche Verdopplung, S. 225. 114 De Man, Paul, „Der Widerstand gegen die Theorie“, in: Romantik. Literatur und Philosophie, hrsg. v. Volker Bohn, Frankfurt am Main, 1997, S. 80–106, hier S. 98; die textproduzierende Funktion von Ironie werde ich speziell in Kap. D. („Roman – Moderne – Ironie“) behandeln. 115 Vgl. Menninghaus, Unendliche Verdopplung, S. 224. 116 Vgl. dazu Gumbrecht, Hans Ulrich, „Stendhals nervöser Ernst“, in: Sprachen der Ironie. Sprachen des Ernstes, hrsg. v. Karl Heinz Bohrer, Frankfurt am Main, 2000, S. 206–232, speziell S. 209 ff. 117 Menninghaus, Unendliche Verdopplung, S. 224. Die Relevanz dieser Unterscheidung wird sich vor allem im Zusammenhang der späteren romantheoretischen Überlegungen (vgl. Kap. D. I. „Geschichtsphilosophie und Gattungspoetik“) erweisen. 118 Schlegel, KA, Bd. 18, S. 24. 119 Ebd., S. 106.

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„selbst die Personen und die Begebenheiten so leicht und launig zu nehmen, den Helden fast nie ohne Ironie zu erwähnen, und auf sein Meisterwerk selbst von der Höhe des Geistes herabzulächeln“.120 Schlegel akzentuiert die ironische Grundtendenz des Romans gegen Goethes scheiternde Bildungsromantik. „Nicht dieser oder jener Mensch sollte erzogen [werden], sondern die Natur, die Bildung selbst“.121 Die Bestimmung der progressiven Universalpoesie, des Romans ist, wie das Athenäumsfragment 116 erläutert, „alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen“.122 Über Fichtes moralisierende Erkenntnistheorie hinausgehend, welche das Bewusstsein in der Tathandlung als sich sehendes Auge vorstellte, setzen die Frühromantiker in dieser zweiten Lesart Kunst als ichfreies Reflexionsmedium. Nur als solches kann etwa der Roman „ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden […] frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen.“123

In diesem Sinne ist auch die Einschätzung der Philosophie als „hilfsbedürftige Wissenschaft“ zu verstehen, da man die Reflexion nur aus der „Poesie (ganz) kennen und üben“124 lernen könne. Mittels kritischer Reflexion erreiche man eine „Höhe, auf der vielleicht die Kunst eine Wissenschaft und das Leben eine Kunst sein wird“.125 Eine Ironie, welche den ewigen Widerstreit von Idealität und Realität, von Form und Inhalt nicht nur erhält, sondern eben auch erregt, ist dazu das ideale Instrument. Sowohl für eine von poetischer Reflexion getragene Philosophie als auch für die ihr korrelierende Ironie stellt sich spätestens an dieser Stelle die Frage nach den ihr eigentümlichen Verstehensprozessen: Wie ist die Bedeutung von ironischen Aussagen beherrschbar? Was garantiert ihre Verständlichkeit? Nicht zuletzt aufgrund ihrer doppelten Funktion als Auslöser und zugleich Effekt eines Oszillierens oder Schwebens zwischen unterschiedlichen Aussagen sieht sich dieser zweite Modus ironischen Sprechens und Schreibens mit dem Problem seiner Kommunikabilität konfrontiert. Als Vermittlung zwischen bisweilen gegensätzlichen Polen, als sublimer Übergang widerstreitender Extreme ineinander isoliert und verstärkt ein so verstandener ironischer Ausdruck zugleich die Distanz zwischen manifestem Gehalt der Aussage und ihrer latenten Bedeutung. In der zweiten rhetorischen Logik der Ironie erscheinen diese nicht wie in der Gegenteilsironie aufeinander transparent. In ihrer schwebenden Bewegung findet diese 120 121 122 123 124 125

Schlegel, „Über Goethes Meister“, S. 161. Ebd., S. 168. Schlegel, „Athenäumsfragmente“, Nr. 116, S. 114. Ebd., S. 114 f. Schlegel, KA, Bd. 19, S. 25. Schlegel, „Über Goethes Meister“, S. 158.

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Ironie ihre paradigmatische Form in den Fragmenten der Frühromantiker, die zwischen aphoristischer Kürze und systematischem Anspruch oszillieren. Auf inhaltlicher Ebene zeigen sich diese ambivalenten Bewegungen als Ineinanderübergehen von scheinbar absolut Getrenntem (von Tragik und Komik, von Trauer und Lust). Es handelt sich um ironische Bewegungen, die nicht bloß Ausdruck romantischer Melancholie sind, sondern, lange vor Nietzsche, Ausdruck einer fröhlichen Vermengung von Wissenschaft und Poesie. Sucht man im Sinne der doppelten, logischen und rhetorischen, Fragestellung dieses Kapitels nach einem linguistischen Erklärungsversuch, welcher dieser zweiten philosophischen Ironielektüre (und ontosemiologischen Romantikdeutung) korreliert, so bieten sich verschiedene aktuelle Theorien an.126 Vor allem taugt dazu, trotz teilweiser Anlehnung an die zuvor analysierte (erste) Ironie des Gegenteils, Dan Sperbers und Deirdre Wilsons sogenannte Echoic Mention Theory.127 In Absetzung von traditionellen pragmatischen und semantischen Erklärungsversuchen betonen die beiden eine entscheidende Eigentümlichkeit ironischer Rede und möglicherweise von geschriebenen Texten überhaupt.128 Der spezifische Mehrwert einer ironischen Aussage – zum Beispiel „Was für ein großartiges Wetter“, während es regnet – liegt nicht in der mehr oder minder geistreichen Aussage des Gegenteils, sondern in der Kommunizierung eines subjektiven Gehalts. Der über den semantischen Gehalt hinausgehende Mehrwert liegt in der Übermittlung der subjektiven Haltung jenseits der getätigten Aussage beziehungsweise in obigem Beispiel jenseits von deren gegenteiligem ‚Inhalt‘. Ironische Äußerungen sind, mit Dan Sperber verstanden, „implicit echoic mentions of meaning conveying a derogatory attitude to the meaning mentioned“.129 So verstanden ist der Inhalt einer ironischen Aussage nicht mehr das leicht zu entziffernde Gegenteil des Ausgesagten. Der manifeste, objektive Inhalt einer Aussage wird vielmehr angereichert um ein Element subjektiver Latenz.130

126 Methodisch rechtfertigt sich diese Heranziehung wiederum über die epistemische Verbundenheit romantischer und gegenwärtiger Ironietheorien. 127 Sperber, Dan/Wilson, Deidre, „Irony and the Use-Mention Distinction“, in: Radical Pragmatics, hrsg. v. Peter Cole, New York, London,1981, S. 295–318. 128 Philippe Hamon (L’Ironie littéraire. Essai sur les formes de l’écriture oblique, Paris, 1996, S. 25) vertritt „l’hypothèse que tout texte écrit ironique est la ‚mention‘ ou l’‚echo‘ d’un texte antérieur, qu’en l’absence de la présence effective et désambiguïsante d’un contexte réel présent au moment de l’énonciation […], le texte ironique devra passer par la référence explicite à un contexte de substitution.“ 129 Dan Sperber, zit. nach Lapp, Linguistik der Ironie, S. 77, Hervorh. v. A. A. 130 Dass jenes subjektive Moment ansonsten keinen Ausdruck finden würde, ist kaum je Thema linguistischer Überlegungen, welche die für vorliegende Studie vordringliche Frage gar nicht stellen: Warum überhaupt ironisch gesprochen wird, muss linguistische Erklärungsversuche nicht interessieren. Das zeigt sich allein an der Auswahl banaler Beispiele (schlechtes/gutes Wetter), die letztlich implizieren, in der Alltagsprache bzw. in Alltagssituationen gebe es gar keine Notwendigkeit ironischer Rede.

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Für einen anderen Versuch, Ironie aus der Sicht pragmatischer Linguistik zu erklären, zeichnet Alain Berrendonner mit seinen Éléments de pragmatique linguistique verantwortlich. Die dortigen Überlegungen helfen zugleich, das Wesen des von Sperber evozierten Echos näher, das heißt gerade nicht als gegenteiliges, sondern als „auto-écho“131 zu bestimmen. Ansatzpunkt Berrendonners ist, dass Widersprüchlichkeit kein ausreichendes Definitionskriterium für Ironie ist. Die ironische „antiphrase n’y est pas simple contradiction, mais, bien plus profondément, paradoxe“.132 Das paradoxe Spezifikum des ironischen Sprechakts lautet demnach: „s’inscrire en faux contre sa propre énonciation, tout en l’accomplissant“.133 Sowohl in Oswald Ducrots als auch in Alain Berrendonners Analyse der Ironie als „énonciation polyphonique“134 zeigt sich: Je mehr sich eine linguistische Theorie ironischen Phänomenen nähert, desto weiter muss sie sich von einer rein innersprachlichen Analyse entfernen. Als linguiste pragmatique postuliert Berrendonner ein „fantôme“ als notwendigen „vérificateur“ linguistischer Strukturen. „Dans l’acte de communication, le contexte parle, pour donner son avis sur la vérité.“135 Das Beispiel „Es ist heiß hier“, als sprachlicher Hinweis, ein nicht weiter erwähntes Fenster zu öffnen, soll in höherem Maße auch für Ironie gelten. Trotz aller offensichtlichen Unterschiede zwischen der in diesem Abschnitt diskutierten prästrukturalistischen Ontosemiologie der Frühromantiker und den zwei Jahrhunderte späteren linguistischen Analysen zeigen sich doch wichtige Gemeinsamkeiten, die ihre Engführung rechtfertigen. Analog dem in seinen Ausdrucksmöglichkeiten auf sich selbst zurückgeworfenen romantischen Individuum ist auch das linguistische Subjekt der (ironischen) Aussage in seiner bedeutungsstiftenden Kraft verunsichert. Deswegen muss es auf eine externe Realität vertrauen, die den Gehalt seiner Rede objektivieren helfen soll. Der Umstand, dass außersprachliche Faktoren die Bedeutung garantieren müssen, kann als Kehrseite einer für die Linguistik zentralen inneren Unterscheidung verstanden werden. Die These eines immer schon vorhandenen kontextuellen Vorwissens über das Ausgesagte „raise[s] the problem of the boundary between pragmatics and semantics“136, setzt aber ein fortbestehendes Vertrauen auf die kontextuelle Absicherung der Bedeutung voraus. Wo der Sprache tendenziell keine transparente Kommunikation mehr zugetraut wird, der Kontext zu sprechen beginnt, soll diese Gegenrede die Abdrift möglicher Bedeutungen eindämmen. Aus der Perspektive des im Folgenden ana131 132 133 134

Berrendonner, Alain, Éléments de pragmatique linguistique, Paris, 1981, S. 217. Ebd., S. 216. Ebd. Vgl. Paillet-Guth, Anne-Marie, Ironie et paradoxe. Le discours amoureux romanesque, Paris, 1988, S. 111. 135 Berrendonner, Éléments de pragmatique linguistique, S. 61; zur gespenstischen Verifizierung vgl. ebd., S. 59. 136 Herskovits, Annette, Language and spatial cognition. An interdisciplinary study of the prepositions in English, Cambridge, 1986, S. 4.

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lysierten dritten rhetorologischen Modus von Ironie, der radikale Konsequenzen aus der rhetorischen Verfasstheit allen Sprechens zieht und die Ironie an ihre (Unverständlichkeits-)Grenzen treibt, erweist sich diese Hoffnung als trügerisch. III. WAHNSINNSBEWUSSTSEIN

III. WAHNSINNSBEWUSSTSEIN „Begriff von Philologie – Sinn für das Leben und die Individualitaet einer Buchstabenmasse. Wahrsager aus Chiffern – Letternaugur. Ein Ergänzer. Seine Wissensch[aft] entlehnt viel von der materialen Tropik. Der Physiker, der Historiker, der Artist, der Kritiker etc. … von Einem auf Alles – rhapsodisch oder systematisch zu gelangen – die geistige Reisekunst – die Divinationskunst.“ Novalis137

Die dritte rhetorologische Erscheinungsform der Ironie ist diejenige eines paradoxen Bewusstseins von Wahnsinn. Unvernünftig ist es etwa, wenn versucht wird, Nicht-Verständliches zu kommunizieren. Einerseits neigt Ironie in ihrer dritten Lesart zu Unverständlichkeit oder Unsinn, andererseits zeichnet diese aberwitzige rhetorologische Figur ein distanziertes Bewusstsein der sprachtheoretischen Abgründe aus. Damit hängt zusammen, was ich schon zuvor an Ironie zu beschreiben versucht habe: Ironie ist eine Art pharmakologischer Katalysator diskursiver und kultureller Veränderungen und daher mitbeteiligt an ihrer eigenen Genese und eigenartigen Karriere. Für die Konturierung der dritten rhetorologischen Form der neuen, modernen, nicht mehr rhetorisch begrenzten Ironie ist es darum besonders hilfreich, die ihrer Entstehung zugrunde liegende epistemische Verschiebung zu skizzieren. Entgegen einer Anbindung semantischer Fragestellungen an die Lösungsformeln von Logik und Grammatik ist eine der Bedingungen der Möglichkeit der Erfindung moderner Ironie die Loslösung semantischer Probleme aus dem logischen Korsett der Grammatik. „This ‚new epistemological orientation of semantics‘“, die Lilian R. Furst zufolge mit John Lockes linguistic relativism beginnt und in Herders und Fichtes Dynamisierung von Sprach- und Erkenntnistheorie kulminiert, „is a signal precursor of the later parallel tendency of irony“.138 Denn wenn „signification and meaning in themselves become matters of doubt, then it is no longer practical to say the contrary to what is meant in the supposition that meaning and countermeaning will immediately be understood“, weswegen auch gilt:

137 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 598. 138 Furst, Lilian R., Fictions of Romantic Irony, Cambridge, Mass., 1984, S. 40.

III. WAHNSINNSBEWUSSTSEIN

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„rhetorical irony cannot function as the simple, stable device“139, als welche sie zuvor rhetorisch festgeschrieben war. Wenn die bisher analysierte ironische Frühromantik nach Renaissance und klassischem Zeitalter auch als weitere Stufe einer zeichentheoretischen Auflösung beschrieben wurde, dann nicht zuletzt, um auf den inneren Zusammenhang zwischen der These der Arbitrarität der Signifikanten, der Neuthematisierung rhetorischer Phänomene und jener der Frühromantik eigenen radikalen Ausweitung von kunsttheoretischen Fragestellungen hinzuweisen. Ihre gemeinsame moderne Frontstellung ist gegen eine ‚Metaphysik der Ähnlichkeit‘ sowie ihr Fundament in einem ‚Denken der Analogie‘ gerichtet. Das hat Auswirkungen auf die Kategorie ‚Sinn‘ überhaupt. Dem „Sinn ist […] immer schon ein Wahnsinn eingeschrieben. In dem Moment, in dem es spricht, ist das Ich dem Wahnsinn preisgegeben“.140 Ein Verständnis von Wahnsinn als Alterisierung von und durch Sprache, als Resultat ihrer ursprünglichen Rhetorizität, korreliert auch mit dem Philosophischwerden der Ironie. Mit Blick schon auf Cervantes’ Don Quichote schreibt William Egginton: „[I]rony became philosophical when it ceased merely to refer to how one used language and began to describe a mode of being, an historical organization of consciousness.“141 Schon „Don Quichotte muß die inhaltsleeren Zeichen […] mit Realität erfüllen. […] Die Ähnlichkeiten und die Zeichen haben ihre alte Eintracht aufgelöst. Die Ähnlichkeiten täuschen, kehren sich zur Vision und zum Delirium um. Die Dinge bleiben hartnäckig in ihrer ironischen Identität“.142

So beschreibt Foucault den ironischen – nicht unbedingt traurigen – Ritter nach dem Verlust eines analogisch geordneten Kosmos. Bis zu diesem Zeitpunkt war ‚Ähnlichkeit‘, grob skizziert, das vermittelnde Element zwischen signatum und signans. In den darauf folgenden Zeitaltern von Klassik und Aufklärung, die sich durch das arbiträrere Zuweisungsprinzip der Repräsentation organisieren, wird die Vernunft in den Worten Manfred Franks „analytisch“ und „zersetzt die komplexen Synthesen der Feudalität, der synthetischen Vernunft, der Ähnlichkeitsbeziehungen usw. Der Verlust einer natürlichen Synthesis zwischen Dingen und Zeichen zwingt die Vernunft im Gegenzug zur Erarbeitung von gleichsam künstlichen Ordnungen, Taxonomien, Grammatiken usw., in denen die Sachhaltigkeit der Zeichen auf Setzung, auf arbiträrer Zuweisung beruht.“143

In der Folge wird die repraesentatio, wie schon die deutsche Übersetzung mit ‚Vorstellung‘ verdeutlicht, mehr und mehr psychologisch gedacht. Einstmals fun139 Ebd. 140 Kohns, Die Verrücktheit des Sinns, S. 21. Was Foucault zufolge nur wenigen Außenseitern (Hölderlin, de Sade, Nietzsche) sprachlich zu evozieren gelingt, das beschreibt Kohns mit Blick auf die Romantiker als ‚Normalzustand‘: „ein Sinn, der jederzeit auch – vielleicht, wie Derrida schreibt – ein Unsinn und ein Wahnsinn sein kann; ein Sinn als Wahnsinn“ (ebd.). 141 Egginton, William, „Cervantes, Romantic Irony and the Making of Reality“, in: MLN 117 (2002), S. 1040–1068, hier S. 1040. 142 Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main, 1990, S. 79. 143 Frank, Manfred, Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt am Main, 1984, S. 151.

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damentale Entitäten werden zunehmend als Institutionen einer synthetischen Aktivität gedacht und in neuer Art befragt. Spätestens mit der Frühromantik verliert das aus Grammatik, Logik und Rhetorik bestehende klassische Trivium der Wissenschaft der Sprache sein theoretisches Gleichgewicht, das nur so lange Bestand haben konnte, wie es von einer scheinbar natürlichen Affinität zwischen Logik und Grammatik gestützt schien. Als die lange vernachlässigte Literarizität von Sprache und ihr alltäglicher Gebrauch ins theoretische Blickfeld rücken, ändert sich das. Der bedrohliche Charakter einer nicht mehr auf grammatischen Vorentscheidungen aufbauenden Sprachtheorie liegt in der damit aufgeworfenen Frage begründet, wie – wenn überhaupt – noch ein sicheres Wissen über die Welt zu gewinnen sei. Die erkenntnistheoretische und in der Folge auch ästhetische und ethische Stoßkraft der rhetorischen Dimension von Diskursivität ist von da an nicht länger zu ignorieren. Gleichwohl ziehen sich die Versuche, „Grammatik […] im Dienst der Logik, die ihrerseits den Übergang zum Wissen über die Welt gestattet“144, aufrechtzuerhalten, von den cartesianischen Linguisten über die Grammatiker von Port Royal bis in die gegenwärtige analytische Philosophie. Es handelt sich um Versuche, die darauf abzielen, die literarische Sprengkraft von Tropen auf einen „bloßen Zusatz, als ein reines Ornament innerhalb der semantischen Funktion“145 zu reduzieren. Noch einmal sei Lilian Furst zitiert, die einen „shift“ weg von den „Port-Royal grammarians“ beschreibt, bei denen „uncertainty“ von Zeichen nur eine Frage einer „deficiency of knowledge regarding the object it intended to represent“146 gewesen sei. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird es „increasingly evident that the uncertainty might reside in the ways in which individuals use words […]. The discovery of ambiguities in all words is a potent factor impelling towards more radical and enveloping constructs of irony that mirror the essential paradoxality of existence. The intuition of the instability of meaning paves the way for the metamorphosis of irony.“147

Die spezifische Funktion von Ironie in diesen epistemischen Transformationen ist diejenige eines subversiven Kristallisierungspunkts. Als nicht mehr nur rhetorisches oder ästhetisches Phänomen zeigt sich ihr diskursstrategisch subversiver Aspekt zunächst darin, dass bis dahin unterdrückte oder kunsttheoretisch eingegrenzte Phänomene im Zuge der Ironie-Diskussion an die Oberfläche gespült werden. Die Frage ist aber, was nunmehr mit Ironie ins theoretische Gesichtsfeld rückt. Bei welchen Prozessen wirkt Ironie katalytisch mit? Was lässt sie, der Definition Paul de Mans zufolge – denn in der Tat steht mit ‚Ironie‘ meist ‚Rhetorik‘

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De Man, „Der Widerstand gegen die Theorie“, S. 97. Ebd., S. 98. Furst, Fictions of Romantic Irony, S. 41. Ebd., S. 41 f.

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insgesamt zur Diskussion –, zur trope of the tropes148 und zugleich zur meistbefehdeten aller Tropen werden? Das ursprüngliche erkenntnistheoretische und zugleich moralische Skandalon der romantischen Ironie wird nachvollziehbar, wenn man noch einmal einen kurzen Blick auf ihre ästhetische Signalwirkung wirft. Letztere war ja die Hauptprovokation schon für ihre Zeitgenossen. Hauptsächlich aufgrund ihrer ästhetischen Theorie – der (sprach)philosophische Nachlass von Schlegel und Novalis wurde erst im 20. Jahrhundert angemessen rezipiert – waren die Frühromantiker Angriffen ausgesetzt. Einzig durch diese künstlerische Signalwirkung wurde etwas vom Geist ihrer semontologischen Überlegungen sichtbar, vornehmlich die romantische Entdeckung, Sprache selbst rhetorisch zu verstehen. „Das Bezeichnete ist eine freye Wirkung [,] das Zeichen ebenfalls.“149 „Insofern der Bezeichnende ganz frey entw[eder] in der Wirkung des Bezeichneten oder in der Wahl des Zeichens […] – insofern ist beydes nur für ihn in wechselseitiger Beziehung da und keins von beyden steht für einen zweyten Bezeichnenden in einer nothwendigen Beziehung auf das Andre“150,

lauten zentrale Einsichten der frühromantischen Sprachtheorie. Zu dieser Arbitrarität kommt bei Novalis das schon angesprochene Element der romantischen Reflexion: Höherpotenzierung, gegenseitige (Neu-)Produktion von Signifikant und Signifikat, werden als der Sprache implizite Dimensionen verstanden. „[J]edes Symbol“ wird durch „sein Symbolisiertes wieder symbolisiert“. Die „symbolische Function“ ist, dass die „Producte […] das Producirende wieder produciren“.151 Die romantische Zeichentheorie verändert nicht zuletzt auch die Einschätzung des künstlerischen Symbols. Hatten Allegorie und Symbol bei Winckelmann noch praktisch synonyme Bedeutung, so entspinnt sich eine wichtige frühromantische Diskussion gerade anhand von deren Unterscheidung. Die vorhergehende „Aufwertung des Symbols auf Kosten der Allegorie“ fiel mit der „Entwicklung einer Ästhetik zusammen […] die sich weigert, zwischen einer Erfahrung und der Darstellung dieser Erfahrung zu unterscheiden.“152 Dies ist deshalb von Bedeutung, weil die Darstellungsmodi eines eigenständigen ästhetischen Diskurses absolut gesetzt zu haben ja ein entscheidendes Sakrileg der Frühromantiker war. Denn schon durch die Einschätzung, dass das Höchste unaussprechlich ist und sich von ihm nur allegorisch sprechen lässt, steht dieses Projekt 148 Vgl. de Man, Paul, „The Concept of Irony“, in: ders., Aesthetic Ideology, hrsg. v. Andrzej Warminski, Minneapolis, 1996, S. 163–184; sowie ders., „The Rhetoric of Temporality“, in: ders., Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism, Minneapolis, 1995, S. 187–228. 149 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 108. 150 Ebd. 151 Zit. vgl. Zons, „Das Schöne soll sein“, S. 216. 152 De Man, Paul, „Die Rhetorik der Zeitlichkeit“, in: ders., Die Ideologie des Ästhetischen, hrsg. v. Christoph Menke, Frankfurt am Main, 1993, S. 83–130, hier S. 84.

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einer poetischen oder poietischen Philosophie quer zu dem Aufhebungsversuch Hegels, der letztlich rationalen Beerbung des Gehalts von Kunst. Wie an Schlegels Meisterrezension deutlich wurde, wird damit zugleich mit dem vermeintlich genuin romantischen Geniekult gebrochen. Offenkundig wird das im Kontrast zu einem formelhaften Verständnis der Auszeichnung des Genies darin, dass es diesem gelinge, den Graben zwischen Erfahrung und deren Darstellung zu überbrücken und mittels dieser Gabe subjektive Erlebnisse in allgemeine Wahrheiten umzumünzen. Kant hatte das Genie als „die angeborne Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt“153 bestimmt – und damit sofort ein weiteres Definitionsproblem offengelegt, wie nämlich dessen Originalität von der Produktion „originalen Unsinn[s]“ abzugrenzen sei. Gegen die grenzenlose Freiheit der Einbildungskraft fordert Kant vom Genie darum, „Klarheit und Ordnung in die Gedankenfülle“154 einzubringen. Wie die als Mittelglied zwischen Verstand und Vernunft angesiedelte Urteilskraft zugleich zwischen Verstand und Einbildungskraft vermittelt, so ist es nun der Geschmack als sensus communis, welcher „die Disziplin (oder Zucht) des Genies“ ist, er „beschneidet diesem sehr die Flügel und macht es gesittet oder geschliffen“.155 Genau diesen analogischen Konventionen kündigt die Romantik die Gefolgschaft, nicht einfach im Sinne einer hemmungslosen Hingabe an Einbildungskraft, Phantasie und in der Folge Unsinn, sondern zunächst in ihrer rhetorischen Situierung der Ästhetik. Das Skandalon von Ironie und Allegorie besteht nun exakt darin, die Aufspaltung jedes Diskurses, eben auch des ästhetischen über Kunstwerke, transparent zu machen. Mit der oben erläuterten Diskontinuität zwischen dem Subjekt und seiner Selbstdarstellung hängt der Ansatz zusammen, Sprache selbst ironisch zu verstehen. Jede (ironische) Aussage hat Zitatcharakter, also einen ursprünglich mimetischen Effekt. Bei genauerer Betrachtung erweist sich der ironische Effekt freilich als nur mehr indirekt-mimetisch in zweifacher Weise: erstens in seiner Frontstellung gegen die repräsentative Ordnung der klassischen Episteme, in der die Substitution von Idee-Ding-Zeichen Louis Marin zufolge „durch eine – natürliche oder konventionelle – mimetische Ordnung geregelt wird“156; zweitens im Bewusstsein der Differenz noch zwischen zwei ‚sinngleichen‘ Aussagen: Die gegenmimetische Ironie steht quer zu geordneten Kontinuitäten und analogisch gedachten Verwandschaften. Ironische Sprachtheorie, qua ihrer rhetorischen Anlage bewusste Theorie der Sprache, verabschiedet den Traum einer „Standard153 154 155 156

Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft, in: ders., Werkausgabe, Bd. X, B 182. Ebd., B 203. Ebd. „Wenn Repräsentieren das Aufspalten des Dings in Idee und Zeichen bezeichnet, damit die Idee an die Stelle des Zeichens und das Ding an die Stelle der Idee treten kann, dann wird klar, dass diese Substitution durch eine – natürliche oder konventionelle – mimetische Ordnung geregelt wird: die vorausgesetzte Ähnlichkeit von Idee, Zeichen und Ding, die vom Denken gefordert wird, bevor sie sich noch in den Sinnen oder der Einbildungskraft manifestiert haben könnte.“ (Marin, Louis, „Die klassische Darstellung“, in: Was heißt „Darstellen“?, hrsg. v. Christiaan L. Hart Nibbrig, Frankfurt am Main, 1994, S. 375–397, hier S. 378.)

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theorie der Bedeutung“ genauso wie denjenigen einer „Repräsentation durch vollkommen gegenwärtige Zeichen“.157 Dass dies in der Frühromantik im Namen der Ironie geschieht, hat diese grundsätzlich moralisch verdächtig werden lassen. Erst so wird die spätere Diskussion um Ironie als unmoralische verständlich. Letztlich ist es gerade ein viel grundsätzlicheres Verständnis von Sprache als rhetorisch konfigurierter und in der Folge die Auffassung der gesamten Wirklichkeit als sprachlich strukturierter, welche die Ironie skandalös werden ließen. Folgt man David E. Wellbery158, lassen sich zwei entscheidende ironische Diskontinuitäten in de Mans groß angelegtem, der Klärung des Verständnisses frühromantischer Ironie gewidmetem Essay „Rhetorik der Zeitlichkeit“ festmachen. Erstens eine Einsicht in die Endlichkeit des Daseins: Tod im Falle der Allegorie, Wahnsinn im Falle der Ironie; zweitens ein ethisches Moment des Verzichts: eine Suspension des Begehrens im Falle der Allegorie, der Beherrschung in dem der Ironie. Diese beiden Diskontinuitäten von ‚Aufgabe der Beherrschung‘ und ‚Nähe zum Wahnsinn‘ erklären sich nur vor dem Hintergrund des romantischen Verständnisses eines spezifisch ironischen Unsinns, den es darum präzise zu fassen gilt. Mit bis heute kaum verständlichen Experimentalfragmenten wie dem, Ironie sei „Menstruum universale und Synthese von Reflexion und Fantasie von Harmonie und Enthusiasmus“159, setzte sich Schlegel in höchstem Maße dem (nicht nur zeitgenössischen) Verdacht leichtfertiger Unsinnigkeit aus. Unvereinbares ironisch vereinend – für die damalige Diskussion etwa in dem Versuch, den kantischen Fichte mit spinozistischen Ansätzen Goethes zu vereinbaren –, geht Schlegel aufs Ganze, aufs Sein, und versucht sich an einem hybriden Paradox monistischer Ontologie160 und sprachlich-rhetorisch gefasster Erkenntnistheorie. Anstelle einer Spekulation über die Gründe des Misslingens dieses Projekts möchte ich mich von der Form obigen Fragments leiten lassen, um einen letzten Bedeutungswechsel der Trope Ironie innerhalb dieses Schlegel’schen Gedankenprojekts herauszuarbeiten; einen letzten Gesichtswechsel zugleich, dem zum zusammenhangslosen Unsinn. Gewiss handelt es sich bei ironischer Unsinnsproduktion um ein exemplarisch unvernünftiges Unternehmen. Aber es handelt sich nicht um pathologischen Wahnsinn, dem sich ein Subjekt hilflos ausgeliefert sieht, sondern einen, der mit künstlerischem Kalkül produziert wird161 – bewusst oder methodisch kalkulierte Verrücktheit versucht den sprachlichen Effekt un157 Wheeler, Samuel C., „Metapher nach Davidson und de Man“, in: Die paradoxe Metapher, hrsg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt am Main, 1998, S. 123–160, hier S. 125. 158 Vgl. Wellbery, David E., „Rhetorik und Literatur. Anmerkungen zur poetologischen Begriffsbildung bei Friedrich Schlegel“, in: Die Aktualität der Frühromantik, hrsg. v. Ernst Behler und Jochen Hörisch, Paderborn u. a., 1987, S. 161–173, hier S. 161 f. 159 Zit. nach Choi, „Frühromantische Dekonstruktion“, S. 194. 160 Dies ist eine für die deutsche Frühromantik noch wenig erforschte Fragestellung. Zu den monistischen Tendenzen der parallelen englischen Romantik, speziell Coleridges, vgl. de Man, „Die Rhetorik der Zeitlichkeit“, S. 91. 161 Vgl. zu diesem Thema auch Lange, Wolfgang, Der kalkulierte Wahnsinn, Frankfurt am Main, 1992.

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sinniger Aussagen zu einem befreienden Modus subjektiver Praxis zu machen. Diese Experimentalmethode zielt auf Erfahrungserweiterungen, welche nicht nur bei Schlegel oft auch als begriffliche verstanden werden können: neue Konzepte zu schaffen, neue Erfahrungen nicht einfach zu kreieren, sondern deren sprachlichen Ermöglichungsgrund herauszustellen, diese Erfahrungen zuallererst terminologisch fassbar zu machen. Das im ironischen Sprechakt methodisch angelegte Element von ‚Wahnsinn‘ liegt darin, immer weiter und noch über den ironisch Sprechenden hinaus zu gehen. „Die Ironie bedarf“ zwar, so Alexander García Düttmann, „zumindest als subjektive, als Verstellung oder sich dumm stellendes Sagen, eines geteilten Bewusstseins, eines vorausgesetzten und durch sie bestätigten Einverständnisses, eines Konsensus, ohne den sie den Halt verliert und ihrem Sog erliegt“.162

Andererseits liegt gerade im tendenziell unverständlichen „Übertreiben, das über eine Grenze hinaustreibt, […] unweigerlich die Tendenz zu einer Verselbständigung des Denkens“.163 Jenseits subjektiver Intentionen noch zu funktionieren, darin liegt eine dritte der ironischen Rede inhärente Medialität. Diese stellt sich dann ein, wenn sich die Ironiespirale immer weiter dreht – immer weiter und ohne Rücksicht auf das, was möglicherweise einmal die Intention der Sprechenden gewesen sein mag. Keine der üblichen Rückschlüsse auf die (unbewussten) Intentionen des Sprechers sind dort mehr möglich, wo sich die Ironie um sich selbst zu drehen beginnt, in Übertreibungen und Überdrehungen immer weiter geht, jede Aussage die jeweils vorangehende nicht mehr als inhaltliche nimmt, sondern als Anlass und Aufforderung für eine weitere Steigerung der Absurdität des Diskurses – infinit fortschreitende und aufsteigende Reflexion jenes Geistes, der in seinen Übersetzungen als esprit und wit besser kenntlich wird. Verdeutlicht werden kann das an Schlegels auf den ersten Blick naturphilosophischen Reflexionen zum ‚Ganzen‘ als Chaos. Sowohl in dem monistisch geordneten Chaos der Fülle als auch in der ästhetisch beherrschten „künstlich geordnete[n] […] schöne[n] Verwirrung“164 deutet sich Schlegels originelles Verständnis von Chaos an. Sein Interesse an abgelegeneren Begriffen der kunsttheoretischphilosophischen Tradition lässt ihn zeitweise die Arabeske, die „älteste und ursprünglichste Form der Phantasie“165, als Positivum propagieren. Denn „[d]er arabeske Witz“, so spezifiziert er obige Konzeptualisierung, „ist der höchste –

162 García Düttmann, Alexander, Philosophie der Übertreibung, Frankfurt am Main, 1994, S. 71. 163 Ebd., S. 9. 164 Schlegel, „Gespräch über die Poesie“, S. 204. Winfried Menninghaus unterscheidet zwei Bedeutungen von ‚Chaos‘ bei Schlegel, eine fundamentale naturphilosophische und eine für die romantische Kunst eigentümliche. Schlegel zufolge ist „[a]lle romantische Poesie im engern Sinn chaotisch“ (Schlegel, KA, Bd. 16, S. 318), womit er über E. T. A. Hoffmann, Brentano, Tieck hinaus noch auf die sich auf die deutschen Romantiker berufenden Surrealisten vorausweist. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Bohrer, Karl Heinz, Die Kritik der Romantik, Frankfurt am Main, 1989, speziell S. 39–61. 165 Schlegel, „Gespräch über die Poesie“, S. 204.

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Ironie und Parodie nur negativ“.166 Doch gibt es möglicherweise einen Unterschied zwischen Parodie und Ironie, eine Differenz, die durch das Schlegel eigentümliche Verständnis von Chaos Bedeutung erhält: „Parodie = Mischung des Entgegengesetzten = Indifferenz“167, Ironie aber möglicherweise – Schlegel formuliert dies als Frage – „Selbstparodie“.168 Der markante Unterschied zur Parodie wäre demnach ein der (Denk-)Bewegung der Ironie logisch eingeschriebener aufklärerischer Zug: „Sokratische Ironie“ ist „Wechselparodie, potenzirte Parodie“169, und ebendiese Potenzierung lässt sie auch „überwundne Selbstpolemik“170 sein. Eine analoge paradoxe Volte findet sich in Schlegels expliziter Thematisierung von ‚Chaos‘. In seiner „Rede über die Mythologie“ erhebt einer der Protagonisten, Ludovico, eine dem „Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“ auf den ersten Blick ähnliche Forderung nach einer neuen Mythologie. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass er auf eine tiefere Ebene zielt, als es in idealistischen Ansätzen üblich ist: eher auf die chaotische denn auf die ordnende Kraft der Mythologie. Ein „erstes Ursprüngliches und Unnachahmliches, was schlechthin unauflöslich ist […], wo der naive Tiefsinn den Schein des Verkehrten und Verrückten, oder des Einfältigen und Dummen durchschimmern läßt. Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen.“171

Diese chaotische Verrücktheit am Anfang aller Poesie entspricht dem, darauf hat Oliver Kohns hingewiesen, was bei Foucault Unvernunft (déraison) im Gegensatz zu Wahnsinn (folie) heißt.172 Die Lesart der Mythosverliebtheit der Romantik – Schlegel reflektiert die ursprüngliche Form der Phantasie, die Arabeske, auch an der „Fantasie des Spinosa“173 als „individuellen Mystizismus“ – kommt hier somit an ihre Plausibilitätsgrenze; dies speziell, wenn man Paul de Mans Hinweis auf eine frühere Fassung des „Gesprächs“ aufnimmt174, welche das „Sonderbare“, „Widersinnige“, die „geistreiche naiveté“, auf den Begriff der „reellen Sprache“ zurückwendet. Der

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Schlegel, KA, Bd. 16, S. 119. Ebd., S. 131. Ebd., S. 152. Ebd., S. 128. Ebd., S. 127. Schlegel, „Gespräch über die Poesie“, S. 204, Hervorh. v. A. A. „Wie Ironie für Schlegel nicht nur das Umschlagen von ‚Ernst‘ in ‚Scherz‘ ist, sondern die Aufhebung der Möglichkeit, zwischen beiden zu unterscheiden, ist der Wahnsinn der Poesie für ihn die Aufhebung der Ununterscheidbarkeit zwischen ‚Vernunft‘ und ‚Unvernunft‘“ (Kohns, Die Verrücktheit des Sinns, S. 168). 173 Schlegel, „Gespräch über die Poesie“, S. 203. 174 Vgl. de Man, „The concept of irony“, S. 180 f.

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Urgrund poetischer Phantasie zeigt sich so als primärprozesshafte Sprache. In den Worten Schlegels: „Die Poesie ist eine unendliche Rhetorik.“175 Selbstverständlich versucht Schlegel, auch diese chaotische Ursprache ironisch zu binden. „Ironie ist klares Bewusstsein der ewigen Agilität, des unendlich vollen Chaos“176, oder „Ironie ist klares χα[Chaos] in Agilität, intell.[ektuale] Ansch.[auung] eines ewigen χα[Chaos]“177. Doch wäre der Erkenntnisgewinn gering, würde man obiges „klares Bewusstsein“ der Ironie jetzt wieder als Beherrschungsform verstehen. Eher schon stürzt man ironisch bei klarem Bewusstsein. Ironisches Sprechen, ständiges zumal, hat einen Hang zum Chaotischen. Ständige Einwürfe (Parekbasen), (Selbst-)Stilisierungen, Über- und Untertreibungen verunmöglichen jede sichere Deutung. Unmöglich auch für die Ironischen selbst, nach einer gewissen Zeit den Gehalt ihrer Reden abzuschätzen. Die geistige Lust – nicht die inhaltliche zotige Befriedigung178 – an der witzigen Aktivität, an der ständigen geistigen Fortbewegung treibt die ironische Redeform über sich hinaus: über sich als selbstständige, kontrollierbare Figur. Auch deswegen favorisiert sie Schlegel in seinen fragmentalen Versuchsanordnungen, in denen er das Risiko, unverständlich zu schreiben, bewusst einkalkuliert. Schlegels Zeitgenossen haben seine Ironie nicht verstanden. Ein Indiz dafür ist die baldige Einstellung der gemeinsam mit seinem Bruder August Wilhelm und Friedrich Schleiermacher herausgegebenen Zeitschrift Athenäum, in deren letzter Ausgabe Schlegel einen vorgeblich defensiven Apolog singt. Sich scheinbar verteidigend, schreibt er „Über die Unverständlichkeit“. Das eigene skandalöse, die Französische Revolution mit Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Wilhelm Meister parallelisierende Fragment noch überhöhend, heißt es dort: „Die Poesie und der Idealismus sind die Centra der deutschen Kunst und Bildung; das weiß ja ein jeder. Aber wer es weiß, kann nicht oft genug daran erinnert werden, daß er es weiß. Alle höchsten Wahrheiten jeder Art sind durchaus trivial und eben darum ist nichts notwendiger als sie immer neu, und wo möglich immer paradoxer auszudrücken, damit es nicht vergessen wird, daß sie noch da sind, und daß sie nie eigentlich ganz ausgesprochen werden können.“179

Schlegel belässt es aber nicht dabei, die von ihm aufgestellten Thesen, ja noch die von ihm vertretene Logik zu hinterfragen. All dies thematisierend, betont er noch einmal ironisch seinen Ernst, spricht dann von der Notwendigkeit von Ironie, um jene dann zusätzlich – wiederum angeblich um weiteren Missverständnissen vorzubeugen – in einer Art ironischer Selbstpersiflage zu systematisieren. Die hypertrophe Systematisierung, welche Schlegel der Ironie dann angedeihen lässt, wird schließlich mit der ihr eigentümlichen Unmöglichkeit konfrontiert. 175 Schlegel, KA, Bd. 18, S. 141; ebenso ist Schlegels Philosophie „nichts als eine universelle Grammatik“ (ebd., S. 71). 176 Schlegel, Sta, Bd. 5, S. 69. 177 Schlegel, KA, Bd. 18, S. 228. 178 Vgl. zu dieser Unterscheidung Freud, Sigmund, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, in: ders., Studienausgabe, Frankfurt am Main, 1982, Bd. IV, S. 9–219. 179 Schlegel, „Über die Unverständlichkeit“, S. 237.

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„Bis hierher ist nun alles ohne alle Ironie, und durfte von Rechts wegen nicht mißverstanden werden […]. Etwas anderes freilich ist noch in dem Fragment, welches allerdings mißverstanden werden konnte. Es liegt in dem Wort Tendenzen, und da fängt nun auch schon die Ironie an.“180

Einige seiner eigenen apokryphen Fragmente zitierend, eröffnet er dem der Ironie unkundigen Publikum Ironie als die „Form des Paradoxen. Paradox ist alles was zugleich gut und groß ist.“181 Schlegels Essay „Über die Unverständlichkeit“ ist ein Stück angewandter Ironie, ironische écriture. Sein Autor will gar nicht mehr Transparenz simulieren. Stattdessen wird sein narzisstisches, leicht sadistisches Vergnügen spürbar, mit dem Missverstehen der anderen zu spielen. Ironie, so erklärt Schlegel dem verständnislosen Publikum, „enthält und erregt ein Gefühl von […] der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung“.182 Dabei „ist es ein sehr gutes Zeichen, wenn die harmonisch Platten gar nicht wissen, wie sie diese stete Selbstparodie zu nehmen haben, den Scherz gerade für Ernst und den Ernst für Scherz halten“.183 In der Folge führt er eine „Übersicht vom ganzen System der“ in der „Morgendämmerung des neuen Jahrhunderts […] aufgeschossen[en] […] Menge großer und kleiner Ironien“184 an. Nach der groben gibt es da die „feine oder die delikate Ironie; dann die extrafeine“.185 Nach der Aufzählung noch einiger weiterer Ironien folgt dann die Erläuterung jener für das Verständnis des Aufsatzes wichtigsten Ironie sowie die Beschreibung von deren Entstehungsformen. Die „Ironie der Ironie“ komme zustande, wenn man „mit Ironie von einer Ironie redet, ohne es zu merken, daß man sich zu eben der Zeit in einer andern viel auffallenderen Ironie befindet; wenn man nicht wieder aus der Ironie herauskommen kann, wie es in diesem Versuch über die Unverständlichkeit zu sein scheint; wenn die Ironie Manier wird, und so den Dichter gleichsam wieder ironiert“;

und des Weiteren, wenn man „wider Willen Ironie machen muß, wie ein Schauspielkünstler der Leibschmerzen hat; wenn die Ironie wild wird, und sich gar nicht mehr regieren läßt“.186 Der Essay bildet den extremen Gegenpol zu der vom späten Schlegel bevorzugten und von vielen der ihm positiv gesinnten Interpreten des 19. Jahrhunderts propagierten mäeutischen und auf Versöhnung getrimmten „liebevollen Ironie“.187 In dem aus einer dezentrierten Position vorgebrachten und stets mit der eigenen Unverständlichkeit kokettierenden Text vergeht alles in einem Rausch wildgewordener, unbeherrschbarer Ironie. Selbst die Götter, die gegen diese Iro180 181 182 183 184 185 186 187

Ebd. Ebd., S. 239. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 239 f. Schlegel, KA, Bd. 15, S. 56.

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nien aufgerufen werden, sind ironisch: „[D]as einzige wäre, wenn sich eine Ironie fände, welche die Eigenschaft hätte, alle jene großen und kleinen Ironien zu verschlucken und zu verschlingen.“188 Gegen Ende vollzieht der Essay noch eine letzte Kehre, indem er den Anspruch auf Verständlichkeit überhaupt als sein Gegenteil, als Unverstand entlarvt. „Wahrlich es würde euch bange werden, wenn die ganze Welt […] einmal im Ernst durchaus verständlich würde. Und ist sie selbst diese unendliche Welt nicht durch den Verstand aus der Unverständlichkeit oder dem Chaos gebildet.“189

Doch auch damit begnügt sich die von Schlegel qua ihrer Beweglichkeit als Gegenmittel zu ‚geistiger Gicht‘ gedachte Ironie noch nicht. Das überlegene Lächeln desjenigen, dessen Ironie nicht verstanden wird, ist hier ein durch Ansteckung entstandenes Lachen, das zwischen dem fortgesetzt scheiternden Versuch, Unsinn zu verstehen, und dem wahnwitzigen Versuch, an diesem festzuhalten, oszilliert. Es handelt sich um Ironie, die den Ironischen wie dessen Interpreten infiziert. So fasst Karl Christian Friedrich Krause, dessen Stil die Wortschöpfungskraft Richard Wagners mit dem Stilbewusstsein Heideggers vereint, Ironie in der Nachfolge Solgers folgendermaßen: „Ironie findet statt, wenn das Orwesengemäße das Orwesenwidrige so behandelt, (so, mit ihm vereinwirkend, ihm entgegenwirkt), daß es durch sich selbst als Orwesenwidriges sich auslebt (zunichte wird) und als solches erscheint.“

Daraus folgt für Krause unweigerlich, dass Ironie letztlich nichts anderes als „Verneinheit, also nicht Selbwesenheitliches […] eine unterordnige Teilverneinwesenheit“190 ist. Nirgendwo also findet sich ein letztes Wort über Ironie. Auf ihrer dritten rhetorologischen Stufe widersetzt sich Ironie jeder herkömmlichen rhetorischen Handhabung und theoretischen Vereinnahmung. Das von ihr motivierte Lachen ist kein göttliches, sondern neben der Freude über den Unsinn resultiert es aus einer unbändigen, darum nicht notwendig diabolischen Freude an geistigen Drahtseilakten über unsichtbaren Gründen. Im Bewusstsein der Unmöglichkeit einer Metatheorie, Metasprache oder Metatrope ist „Ironie der Ironie“, in Jacques Derridas Worten, „der Wahnsinn des regressus ad infinitum, und der Wahnsinn der Rhetorik […]: Wahnsinn, weil es keinen Grund zum Anhalten gibt, weil der Grund selbst tropisch ist.“191 Dieser radikalen Konsequenz aus der im vorigen Abschnitt schon sprachphilosophisch diskutierten Ursprungslosigkeit korrespondiert de Mans radikalisierte Einschätzung von Ironie. Dieser zufolge ist „absolute Ironie […] ein Bewußtsein der Verrücktheit und damit das Ende allen Bewußtseins; sie ist ein Bewußtsein 188 189 190 191

Schlegel, „Über die Unverständlichkeit“, S. 240. Ebd. Zit. n. Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie, S. 125. Derrida, Jacques, Mémoires, Wien, 1988, S. 218.

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von einem Nichtbewußtsein, eine sich innerhalb des Wahnsinns vollziehende Reflexion auf den Wahnsinn“.192 Was hier an eher textueller Ironie beschrieben ist, findet sich gleichwohl vereinzelt auch als Möglichkeit ironischen Sprechens. Die nochmalige Reflexion des Ironischen auf sein Verrücktsein kann den Unterschied zu pathologischem Wahnsinn ausmachen. Es ist dies jener Höhenschwindel an Selbstironie, der einen unangreifbar scheinen lässt. Als Art und Weise, sich der Sprache zu bedienen, ja als intensivierendes Moment von Sprachlichkeit selbst verstärkt Ironie auch deren distanzierendes Moment. Nichts beeindruckender als der Witz unterdrückter Minoritäten – und was anderes ist unser bewusstes Ich? –, dessen höchste Kunst die Selbstironie perfektioniert: kein abschätziges Lachen im Triumph, keine Freude an der Versöhnung, sondern Lachen aus stolzem Trotz. Das endliche Selbst kann über sich selbst lachen. Es verlacht sich dann aber nicht (mehr) im Dienste des Unendlichen, sondern lacht gewissermaßen gegen sich selbst. Diesseits des Irrsinns.

192 De Man, „Die Rhetorik der Zeitlichkeit“, S. 114.

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B. RHETOROLOGIEN

C. ETHICA C. ETHICA I. BÖSE ROMANTIK BEI HEGEL UND KIERKEGAARD

I. BÖSE ROMANTIK BEI HEGEL UND KIERKEGAARD „Die Ironie bei den Neueren ist wesentlich auf das Ethische zurückzuführen.“ Sören Kierkegaard1

Nach der Analyse der frühromantischen Ironie aus rhetorologischer Perspektive steht in diesem Kapitel nun weniger die erkenntnistheoretische denn – sowohl aus inhaltlichen als auch chronologischen Gründen – die ethische Diskussion der (spätromantischen) Ironie im Vordergrund, und zwar meist unter anderen Vorzeichen (Maske, Melancholie) oder Namen (statt dem Ironiker: Ästhet, Flaneur, Dandy, Verführer). Infolge der wirkungsmächtigen Kritik Hegels wird ‚Ironie‘ im 19. Jahrhundert hauptsächlich auf ethischem Terrain verhandelt. Nach welchem Muster und unter welchen durchaus nicht willkürlichen Bedingungen sich die philosophische Diskussion verengt, kann deutlich anhand von Schlegels Roman Lucinde2 und dessen Rezeption rekonstruiert werden. Zugleich wird sich erweisen, inwiefern Hegel – wohl gegen seine Intention – kraft seiner prägnanten Formulierungen zu einem der entscheidenden Verbreiter der von ihm als unmoralisch kritisierten Ironie wird. Die Hegel’schen Intuitionen – das philosophisch zentrale Fragmentwerk der Frühromantiker stand ihm wie erwähnt nicht zur Verfügung – entzünden sich immer wieder an Schlegels einzigem Roman. Schlegels 1799 veröffentlichte Lucinde kann nach seiner Meister-Rezension als zweite, diesmal direkt literarische Ironisierung von Goethes ‚hegelianischem Bildungsroman‘3 verstanden werden. In besonderer Weise gilt das von dem zentralen, ein Drittel des Romans ausmachenden Kapitel „Lehrjahre der Männlichkeit“, welches diverse erotische Abenteuer des Protagonisten Julius erzählt. Die Wirklichkeit dieser Lehrjahre, ihre te01 Dies ist die These XI von Kierkegaards Dissertation Über den Begriff der Ironie, S. 4. 02 Zu der Frage, inwiefern es sich bei der Lucinde zugleich um den Versuch einer Einlösung von Schlegels poetologischer Theorie handelt, vgl. unten Kap. D. „Roman – Moderne – Ironie“. 03 Goethes Wilhelm Meister kann hier keinesfalls einer eingehenden, sicher zu einem differenzierteren Ergebnis führenden Analyse unterzogen werden. Vielmehr folge ich hier einfach dem Hinweis Lukács’, wonach sich in den Vorarbeiten zur Phänomenologie des Geistes ausführliche Auseinandersetzungen mit Goethes Werk finden. „Der Weg, auf welchem Goethe seinen ,Wilhelm Meister‘ oder ,Faust‘ findet, ist in einem großen historischen Sinn derselbe Weg, den der Geist in der hegelschen ,Phänomenologie‘ durchläuft.“ (Lukács, Georg, „Die Entäußerung als philosophischer Zentralbegriff der ,Phänomenologie des Geistes‘“, in: Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“, hrsg. v. Dieter Henrich u. a., Frankfurt am Main, 1992, S. 276–325, hier S. 323 f.)

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leologische Aufhebung in einen Zustand wirklicher Reife, ist jedoch unsicher. Eher scheint es sich um eine Folge ziellos verlaufender Episoden nach dem Muster schlecht unendlicher Reflexionen zu handeln. Das legt auch das folgende „Metamorphosen“-Kapitel nahe, welches sich um eine Erweiterung der platonisch-sokratisch-diotimaschen Bestimmungen der Liebe und um (für die zeitgenössische Leserschaft) schockante Formulierungen bemüht. „Die Liebe ist nicht bloß das stille Verlangen nach dem Unendlichen; sie ist auch der heilige Genuß einer schönen Gegenwart.“4 Noch skandalöser war um 1800 die „dithyrambische Fantasie über die schönste Situation“, in der Schlegel eine „wunderbare sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit“5 sieht. Gleichviel, ob diese Beschreibungen der Androgynie und sadomasochistischer Frivolitäten – in denen der „tiefe Schmerz“ so wenig vermieden wird, „wie die liebende Geliebte im Enthusiasmus der Wollust die kleine Verletzung achtet“6 – auf Sensation zielendes Kalkül oder poetologische Notwendigkeiten waren: Die Abscheu der Zeitgenossen war eindeutig.7 Hinter den Schlüssellochschlüpfrigkeiten aus dem Hause Schlegel8 liegt das entscheidende poetologische Skandalon jedoch in der Machart des Romans, in seiner „allegorischen Frechheit“, so der Titel des vierten Kapitels, und der ständigen Verschmelzung von Registern und Diskursformen, die eigentlich getrennt sein sollten. Am deutlichsten wird dies in „einer Reflexion“ des „gebildeten und sinnigen Menschen“ über das „schöne Rätsel seiner Bestimmung“.9 In Fichte’scher Terminologie10 wird da, zur Erregung der Zeitgenossen, eine Theorie des Beischlafs geboten, welche den Roman endgültig dem Vorwurf der Obszönität aussetzte. Auch Hegel wird das kritisieren, ohne dass seine Polemik allzu viel philologisches Kontextbewusstsein zeigt. Eher sind es einzelne Formulierungen, welche die Lucinde zu einem Hauptzielpunkt seiner Kritik werden lassen. Exemplarisch lässt sich das an einer Formulierung bereits des ersten Kapitels, „Julius an Lucinde“,

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Schlegel, Friedrich, Lucinde, Stuttgart, 1988, S. 80. Ebd., S. 15. Ebd., S. 14. Sogar der befreundete Friedrich Schleiermacher konnte nur mit Mühe dazu bewogen werden, eine Verteidigungsschrift zu veröffentlichen; zur Rezeptionsgeschichte vgl. Polheim, Karl Konrad, „Nachwort“, in: Schlegel, Lucinde, S. 110, 116 ff. 08 Noch der Widerstand seiner Frau gegen die Veröffentlichung ist von Schlegel in den Roman eingearbeitet worden: „,Wie kann man schreiben wollen, was kaum zu sagen erlaubt ist, was man nur fühlen sollte?‘ – Ich antworte: Fühlt man es, so muß man es sagen wollen, und was man sagen will, darf man auch schreiben können.“ (Schlegel, Lucinde, S. 15) 09 Ebd., S. 95 f. 10 „Das Universum selbst ist nur ein Spielwerk des Bestimmten und des Unbestimmten und das wirkliche Bestimmen des Bestimmbaren ist eine allegorische Miniatur auf das Leben und Weben der ewig strömenden Schöpfung“ (ebd., S. 97). Bernd Bräutigam sieht in dieser Parodierung Fichtes bereits eine Bewegung Schlegels hin zu Schelling; vgl. Bräutigam, Bernd, Leben wie im Roman. Untersuchungen zum ästhetischen Imperativ im Frühwerk Friedrich Schlegels 1794–1800, Paderborn u. a., 1986, S. 154.

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zeigen. „Ich genoß nicht bloß, sondern ich fühlte und genoß auch den Genuß“11, heißt es dort. Das Irritationspotenzial des Satzes liegt speziell in seinem zweiten Teil. Die ethische Verfehlung liegt in der bewussten Bejahung des ansonsten bloß anzüglichen Genießens. In analogen Formulierungen, als ausdrücklich selbstbewusste Bejahung, definiert Hegel alsdann das Böse.

1. Das Böse (Hegel) Das Thema des Bösen diskutiert Hegel an exponierter Stelle seiner Phänomenologie des Geistes von 1807. Er legt dort jene negative Sichtweise der Romantik dar, welche er auch während der nächsten Jahrzehnte nur minimal revidieren wird. Obwohl die später so aufdringlich in den Vordergrund gerückte Ironie hier noch nicht namentlich erwähnt wird – die jeweiligen konkreten Begründungen für die ablehnende Haltung werden erst in späteren Werken nachgereicht und mit einzelnen Personennamen versehen –, ändert das nichts an der grundsätzlichen Einschätzung und dem Verurteilungsschema, das auch in späteren Problematisierungen immer wieder durchscheint. Hegel entwickelt seine Kritik an einer im Aufbau seines Systemwerks entscheidenden Stelle. Die Überlegungen über das Gewissen „Die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung“ beschließen den Abschnitt über den „Geist“; alles Folgende findet sich bereits in dem logischen Bereich von „Religion“ und „absolutem Wissen“ aufgehoben. Auf schlüssige Weise wird die philosophiegeschichtlich bekannte Dichotomie von antiker Sittlichkeit (die griechische Polis und ihr Denker Aristoteles) und neuzeitlicher Aufklärung (Kant als exemplarischer Theoretiker der beginnenden bürgerlichen Gesellschaft in all ihren Ambivalenzen) von Hegel als Ausgangspunkt der philosophischen Bemühungen der damaligen Zeit gesehen. Als zentrales Unterscheidungsmerkmal dient ihm sein Verständnis von ‚Gewissen‘ als Zeichen subjektiver Vereinzelung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Hegels Analyse zufolge steht das Gewissen disparat zu den gegebenen geschichtlichen Verhältnissen. Es „erkennt keinen Inhalt für es als absolut, denn es ist absolute Negativität alles Bestimmten“.12 Dieser noch rein formale Tatbestand wandelt sich jedoch in eine „als Inhalt vorgestellte unmittelbare Gewißheit seiner selbst, d. h. überhaupt die Willkür des Einzelnen“. Der Term ‚unmittelbar‘ kündigt hier bereits die spätere Aufhebung an. Die Reinheit der „Anschauung des Ich = Ich worin dieses Ich alle Wesenheit und Dasein“13 hat, stellt sich nämlich, in kritischer Anspielung auf die von Fichte geprägte Terminologie, als Armut an Substanz dar. Die „absolute Gewißheit, in welche sich die Substanz aufgelöst hat, ist die absolute Unwahrheit, die in sich zusammenfällt“.14 Ein unglückliches Be11 12 13 14

Schlegel, Lucinde, S. 8. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes, in: ders., Werke, Bd. 3, S. 473. Ebd., S. 482. Ebd., S. 483.

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wusstsein folgt daraus insofern, als Gewissen allein nicht ausreicht. Was fehlt, ist „die Kraft der Entäußerung, die Kraft sich zum Dinge zu machen und das Sein zu ertragen“.15 Das Böse resultiert somit nicht nur zufällig aus der Abstraktheit der Pflicht, die es jedwedem Inhalt zugänglich macht, sondern es geht mit innerer Notwendigkeit aus obiger Position hervor. Wenn Bewusstsein nämlich durch das „Selbst und das Ansich“16 konstituiert wird, so entsteht im Falle der Gewissheit seiner selbst eine Verschiebung zu Lasten des Ansich, des Allgemeinen. Aus der Warte allgemeiner Pflicht nun muss das Gewissen böse erscheinen und in der Folge als Heuchelei, weil es „sein Tun als Gleichheit mit sich selbst, als Pflicht und Gewissenhaftigkeit ausspricht“.17 Der genaue Entstehungsort des Bösen ist mit Hegel exakt da zu verorten, wo die Reflexion zur bisherigen Verhärtung gegen das Allgemeine hinzutritt, wo das Böse somit sich und den anderen eingesteht: „Ich bin’s.“18 Denn, mit Kierkegaards Johannes dem Verführer gesprochen, „in diesem Bewußtsein lag das Böse“.19 Praktisch gleichlautende Formulierungen finden sich dann im Kapitel über die „Hauptformen, die mit der Fichteschen Philosophie zusammenhängen“ aus den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, die nun auch namentlich „Ironie“ erwähnen. Dass Hegel hier von „Hauptformen“ spricht, zeigt schon an, dass Schlegels romantische Ironie aus einer teleologisch voranschreitenden Philosophiegeschichte verdrängt werden muss, weil sie nicht mehr in deren vernünftige Struktur integrierbar ist. Die literarische Provokation und das theoretische Sakrileg Schlegels, der selbstbewusst genießerische Gebrauch von Fichtes philosophischer Terminologie, sind umfassend. Die dadurch hervorgerufene Irritation kann Hegel nicht mehr für seine spekulative Teleologie verpflichten. Für ihn hat der „Fichtesche Standpunkt der Subjektivität […] seine nichtphilosophisch ausgeführte Wendung behalten“20 und in Schlegel eine seiner Hauptformen gefunden. Dieser habe ein „nur negatives Ruhen“ in sich selbst konzipiert, welches Hegel nun endgültig als die Ironie Schlegels, der ihr „Anführer“21 gewesen sein soll, identifiziert. 15 Ebd. Die Sekundärliteratur hat hinter diesen Formulierungen mit einigem Recht einen Angriff auf Jacobis Woldemar (vgl. hierzu Hirsch, Emanuel, „Die Beisetzung der Romantiker in Hegels Phänomenologie“, in: Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“, S. 245–275, hier S. 254), aber auch Bezüge zu Hölderlin gesehen, welcher für Hegel „in der Angst, die Herrlichkeit seines Innern durch Handlung und Dasein zu beflecken“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 483) die Berührung mit der Wirklichkeit fliehe. Der hohle Gegenstand, den die „schöne Seele“ – der von Jacobi selbst verwendete Begriff wird polemisch gegen diesen selbst gerichtet – in sich verglimmend erzeugt, sei Leerheit. Diese Extravaganz der Subjektivität werde häufig Verrücktheit, von Hegel andernorts geschmacklos, aber konsequent „Seelenschwindsucht“ genannt. 16 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 485. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 490. 19 Kierkegaard, Sören, Entweder – Oder, München, 1988, S. 355. 20 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: ders., Werke, Bd. 20, S. 415. 21 Ebd., S. 416.

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Der Appell an gemeinsame Werte, der in konservativer Kulturkritik stets mit einer Kritik ausdifferenzierter Individualität einhergeht, ist bekannt. Ebenso das dazugehörige Feindbild: „Das Subjekt weiß sich als das Absolute, alles andere ist ihm eitel; alle Bestimmungen, die es sich selbst vom Rechten, Guten macht, weiß es auch wieder zu zerstören. Alles kann es sich vormachen; es ist aber nur Eitles, Heuchelei und Frechheit.“22

In den halbstenographischen Aufzeichnungen von Hegels Rechtsphilosophie heißt es dazu: „Das einzelne Subjekt als solches hat deswegen schlechthin die Schuld des Bösen“23, weil das „Böse […] nach der formellen Seite das Eigenste des Individuums“24 ist. Die „abstruseste Form des Bösen“ freilich ist die sich „als das Absolute behauptende Subjektivität“25, die sich selbst als absolute genießende ironische Subjektivität. Für den Ironiker sei nämlich nicht die Sache „das Vortreffliche, sondern Ich bin der Vortreffliche und bin der Meister über das Gesetz und die Sache, der damit, als mit seinem Belieben, nur spielt und in diesem ironischen Bewußtsein, in welchem Ich das Höchste untergehen lasse, nur mich genieße.“26

Seit Hegel steht mit der Ironie immer auch die Frage nach ihrer Haltung zu Gesetzlichkeit im Raum: „Ihr nehmt ein Gesetz in der Tat und ehrlicherweise als an und für sich seiend, Ich bin auch dabei und darin, aber auch noch weiter als Ihr, ich bin auch darüber hinaus und kann es so oder so machen.“27 Negativität ist so als der konzentrierte Extrakt der Ironie bestimmt. Kein anderer Satz verdeutlicht besser, wie scheinbar nahtlos Kierkegaard an Hegel anknüpft, als die vielleicht zentrale Formel von Hegels Ironiekritik, wonach diese ihre „Meisterschaft über alles“ weiß, es ihr „Ernst mit nichts“ sei, Ironie vielmehr „Spiel mit allen Formen“28 sei. Mit einer grammatischen Wendung, mit der Substantivierung des „Nichts“, ist man bei Kierkegaard, der sich über weite Strecken seiner Analyse romantischer Ironie innerhalb der Hegel’schen Terminologie hält: „Die Ironie ist das unendlich leichte Spiel mit dem Nichts, ein Spiel, das sich durch das Nichts nicht erschrecken läßt, sondern noch einmal mehr den Kopf hochreckt.“29

22 Ebd. 23 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Werke, Bd. 7, S. 262. 24 Ebd., S. 267. 25 Ebd., S. 265. 26 Ebd., S. 279. 27 Ebd. Zur Frage nach Ironie und Gesetz vgl. unten den Abschnitt III. „Kafkas Gesetzeslogik“ in Kap. E. „Ironische Politiken“. 28 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, S. 416. Die Stelle lautet insgesamt: „Das Subjekt weiß sich in sich als das Absolute, alles andere ist ihm eitel, alle Bestimmungen, die es sich selbst vom Rechten, Guten macht, weiß es auch wieder zu zerstören. Alles kann es sich vormachen; es ist aber nur Eitles, Heuchelei und Frechheit. Die Ironie weiß ihre Meisterschaft über alles dieses; es ist ihr Ernst mit nichts, es ist Spiel mit allen Formen.“ 29 Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, S. 275.

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Entscheidend ist wiederum der subversive Gestus des selbstbewussten „noch einmal“, der nicht nur einen spielerisch-genussvollen Umgang mit dem Nichts indiziert, sondern dieses auch noch affirmiert. Speziell im Zusammenhang mit romantischer Kunst taucht dieser Vorwurf eines extremen Individualismus immer wieder auf. Es handelt sich um eine Kritik an den solipsistischen Konsequenzen radikaler „Ironie, als dieser Konzentration des Ich in sich, für welches alle Bande gebrochen sind und das nur in der Seligkeit des Selbstgenusses leben mag“.30 Der unwirkliche Genuss beruht Hegel zufolge auf einer bloß abstrakten „subjektiven Freiheit, welche in jedem Augenblick die Möglichkeit zu neuem Anfang in der Gewalt hat […]. Allem Anfang ist etwas Verführerisches eigen, weil das Subjekt eben noch seine Freiheit hat, und diesen Genuß eben begehrt der Ironiker.“31

Es ist diese abstrakte Subjektivität, die der zentrale Reibepunkt in Hegels einschlägigen Überlegungen ist. Auch was Kierkegaard später an der ironischen Redefigur als sich selbst aufhebender32 analysiert hat, gilt über deren rhetorische Dimension hinaus. Die „ironische Position ist“, und auf diese Zuschreibung Ludwig Heydes wird zurückzukommen sein, „parasitär zu nennen“33, weil sie sich (auch institutioneller) Voraussetzungen bedient, die sie gleichwohl solipsistisch verneint. In ihrer Negativität will sie sich nicht aufheben lassen. „Ironie – in ihrer abstrakten Form, als nicht aufgehoben in der Sittlichkeit – versperrt den Zugang zur Politik“34, ja zu jeglicher Verwirklichung im Allgemeinen, so lautet noch die Kritik heutiger Hegelianer am ironischen „Nietzscheanismus avant-la-lettre“ der Frühromantiker.35

2. Kierkegaards mit ständiger Rücksicht auf Sokrates geschriebene Dissertation Über den Begriff der Ironie Ich möchte hier vorschlagen, Kierkegaards Dissertation von 1841 selbst als ein exemplarisches Lehrstück eines ironisch gebrochenen akademischen Texts zu lesen. Und das keinesfalls ihres spottenden Stils wegen. Vielmehr ist die Dissertati30 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Ästhetik I, in: ders., Werke, Bd. 13, S. 95: „Für andere zwar kann meine Erscheinung, in welcher ich mich ihnen gebe, ein Ernst sein, indem sie mich so nehmen, als sei es mir in der Tat um die Sache zu tun, – aber sie sind damit nur getäuscht, pauvre bornierte Subjekte, ohne Organ und Fähigkeit, die Höhe meines Standpunktes zu erfassen und zu erreichen.“ In Hegels Paraphrase des Unverständlichkeitsaufsatzes vermeint man noch Nachwirkungen des ressentimentgeladenen Neids auf die Stars der literarischen Salons seiner Jugendzeit zu spüren. 31 Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, S. 257. 32 Mit dem gewichtigen Unterschied freilich, dass man anders als beim Ironiker im Falle der rhetorischen Ironie „im Augenblick des Hörens die Auflösung hat“ (ebd., S. 252). 33 Heyde, Ludwig, „Politik und Ironie“, in: Hegels Ästhetik. Die Kunst der Politik – die Politik der Kunst, hrsg. v. Andreas Arnd, Berlin, 2000, S. 30–35, hier S. 34. Zum Parasiten vgl. unten Kap. G. „Metaphysische Entgrenzungen“. 34 Ebd., S. 33. 35 Ebd., S. 32.

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on, noch und gerade in ihrem letztlichen Scheitern einer ausreichenden Beurteilung der romantischen Ironie, als Lehrstück ironischen Nachdenkens zu interpretieren.36 Bereits aus den Umwegen der über dreijährigen Entstehungsgeschichte können die unterschiedlichen Interessen und Herangehensweisen an das Dissertationsthema abgelesen werden. Schon zu Beginn seiner philosophischen ‚Karriere‘ zeigt sich Kierkegaards existenzielles Philosophieren eng gebunden an seine Biographie: Er beginnt sich mit dem Thema sokratischer Ironie um 1837/38 zu beschäftigen und schließt die Arbeit 1841 ab. Dazwischen fallen seine Verlobung, deren Auflösung, die intensive Hegellektüre sowie das vom Vater verordnete Theologiestudium. Die erste der von Kierkegaard seiner philosophischen Dissertation vorausgeschickten Thesen lautet denn auch: „Die Ähnlichkeit zwischen Christus und Sokrates ist vor allem in ihrer Unähnlichkeit gegeben“.37 Von Beginn an ist damit eine über die ursprüngliche Aufgabenstellung einer begrifflichen Klärung von Ironie hinausdrängende Thematik indiziert. Kierkegaards Ziel ist es, mit Seitenblick auf theologische Fragehorizonte eine (Selbst-)Kritik seiner Zeit zu formulieren. Die Mehrzahl der gegen die Romantik gerichteten Argumente sind dann immer auch in diesem Sinn zu verstehen.38 Der Schlüssel zur problematischen inneren Anlage der Dissertation und zugleich der Grund ihres für Kierkegaard letztlich befreienden Scheiterns liegt in seinem Verhältnis zur Philosophie Hegels, speziell deren Einschätzung der (romantischen) Ironie. „Hegel hat bei der Beschreibung der Ironie nur die neuere, nicht so sehr die alte im Auge“39, fasst die zwölfte der Dissertation vorangestellte These die Problemlage zusammen. Kierkegaards radikalisiertes Verständnis schon der sokratischen Ironie kann sich nicht mehr mit der vereinfachenden Lösung begnügen, der zufolge sich eine gute sokratische von einer bösen romantischen Ironie trennen lässt. Ironisch ist Kierkegaards Dissertation zunächst in ihrer untergründig vorbereiteten Verabschiedung von der akademisch-hegelianischen Philosophie. Ironisch ist einerseits das unentschlossene Lavieren, wie es sich am deutlichsten an den hegelkritischen Ansätzen zeigt, die Kierkegaard indes durchgehend in dessen Terminologie formuliert. Und andererseits ist es plausibel, auch das abschließende, siebenseitige Kapitel („Ironie als beherrschtes Moment. Die Wahrheit der Ironie“) nicht ganz ernst, sondern eben ironisch zu verstehen. Hegelianisierende Plattitüden anhäufend, fordert Kierkegaard da gegen Ende der Studie auf einmal eine Beherrschung der Ironie. Dass dies zuvor als unmöglich beschrieben wurde 36 Vom ersten Teil von Kierkegaards Dissertation, „Der Standpunkt des Sokrates verstanden als Ironie“, war schon die Rede. Hier interessiert vornehmlich das letzte Drittel „Über den Begriff der Ironie“. 37 Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, S. 3. 38 Schon These XIV der Dissertation gibt die Richtung von Kierkegaards Romantikkritik an: „Nicht durch Frömmigkeit des Gemüts bewogen, sondern verführt durch Mißgunst des Geistes deshalb, weil er nicht imstande war, das Negative zu denken und denkend zu bewältigen, hat Solger seinen Akosmismus vollbracht.“ (Ebd., S. 4) 39 Ebd.

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und dass Goethe, bei dem die „Ironie in strengstem Sinn ein beherrschtes Moment gewesen“40 sei, in späteren Werken Kierkegaards selbst in Verdacht gerät, unmoralische Belanglosigkeiten zu produzieren, muss deswegen allerdings noch nicht als bewusste ironische Intention des Dissertanten gelesen werden: Es genügt, eine ironische Spannung innerhalb der Dissertation zu konstatieren und diese in ihrer innertheoretischen Notwendigkeit nachzuvollziehen. Denn einerseits kritisiert Kierkegaard hier noch akademisch regelkonform die romantische Ironie mit hegelianischen Überzeugungen (selbstbeherrschte Vernunft, dialektische Synthese), andererseits ist da sein in der Folge immer stärker werdender Antihegelianismus, also der von Adorno analysierte ständige Versuch, Masse heilbringend in Einzelne zu zerschlagen. Auch wenn hier nicht versucht werden soll, Kierkegaards Denken insgesamt darzustellen oder zu beurteilen, bedarf die Herausarbeitung der Funktionsweisen der Kierkegaard’schen Ironie doch des Rückgriffs auf dessen Konzeption von Religiosität.41 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der allerletzte, dem Humor gewidmete Absatz der Studie. Der Humor, den Kierkegaard in späteren Werken, im Gegensatz zu der zwischen ‚Ästhetischem‘ und ‚Ethischem‘ agierenden Ironie, als Kontinuum zwischen ethischem und religiösem Stadium verorten wird, soll schon in der Dissertation „den Menschen zum Gottmenschen“ machen. Kierkegaard verweist an dieser Stelle nur kurz auf den Humor, denn, so seine letzte Volte, dies stehe „alles jenseits der Grenze dieser Untersuchung, und insofern man Stoff zum Nachdenken begehren sollte, möchte ich hinweisen auf Professor Martensens Anzeige von Heilbergs neuen Gedichten“.42 Drei verschiedene Lesarten dieses (heute) nur mit Mühe ernst zu lesenden Abschlusses von Kierkegaards komplexer Studie sind möglich. Erstens als letzte ironisch-verabschiedende Verbeugung vor den Akademikern, denen von nun an seine offen bekundete Abneigung gelten wird. Aber genauso muss, zweitens, Kierkegaards Kompromiss in seiner Unentschlossenheit ernst genommen werden. Sein eigentliches, religiöses Interesse ist schon angedeutet, liegt aber jenseits der expliziten Fragestellungen der Dissertation, die damit selbst mäeutischen43 Charakter hat. Drittens schließlich befindet sich die gesamte Studie in einem hilflosen 40 41 42 43

Ebd., S. 330. Vgl. Adorno, Theodor W., Kierkegaard, Frankfurt am Main, 1986. Ebd., S. 334 f. Was Kierkegaard selbst an Sokrates analysiert hat und oben an Platons Theaitetos zu zeigen versucht wurde, das gilt also in gleicher Weise für Kierkegaards Œuvre selbst. Eher gewaltsam erzwungen erscheint die Deutung, dieser Sprung in die paradoxe Selbstaufgabe sei die wahre ironische Existenz. Rückblickend schreibt Kierkegaard 1851 in einem Aufsatz „Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller“: „Der Anfang wurde, maieutisch, gemacht mit ästhetischer Hervorbringung, und die gesamte pseudonyme Schriftstellerei ist solch ein Maieutisches.“ (Kierkegaard, Sören, Die Schriften über sich selbst, Gütersloh, 1985, S. 6.) So verstanden wären seine Texte nichts anderes als ein „pädagogischer Betrug im Dienste des Christentums“ (Pivčević, Edo, Ironie als Daseinsform bei Sören Kierkegaard, Gütersloh, 1960, S. 96; dort auch ein Kierkegaards „Inversion der Ironie“ gewidmetes Kapitel). Entgegen diesem Versuch, den eigenen ‚ästhetischen‘ Schriften nur ironisch „hineintäuschenden“ Wert zu geben, versuche ich diese auf ihren Wert als eigenständige Reflexionen hin zu befragen.

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Zwiespalt zwischen Hegel und den Romantikern. Denn weder kann sich Kierkegaard am Allgemeinen Hegels dauerhaft beruhigen, noch ist der romantische Individualismus einfach in die in den Folgejahren konzipierte religiöse Vereinzelung konvertierbar.

3. Religiöse Inversion der Ironie In seinen späteren Werken operiert Kierkegaard mit ebenden konstruierten ‚Begriffspersonen‘44 ‚Hegel‘, ‚Ironie‘, ‚Ästhetiker‘ etc., die sich schon in der Dissertation finden. Trotz der theoretischen Ausdifferenzierung dreier verschiedener Sphären von Ästhetischem, Ethischem und Religiösem changieren diese in ihrer Bedeutung. Dem entspricht durchaus, dass seitens der Forschung immer wieder mit guten Gründen gegen eine strikte Trennung der verschiedenen Sphären argumentiert wurde. So wird sich auch in der folgenden Analyse die innere Verwandtschaft von ästhetischer Innerlichkeit und Religiosität erweisen. Im Gegensatz dazu ist die sogenannte ethische Sphäre für die innere Ausdifferenzierung der Ironie von geringerer Bedeutung.45 Ausgangspunkt von Kierkegaards Überlegungen ist, wie angedeutet, eine zugespitzte Sokrates-Darstellung. Diese bildet die notwendige Kontrastfigur, um Hegels romantischen Antipoden umso klarere Konturen zu geben. Allmählich aber verfällt auch Hegels System der Kritik. Besondere Bedeutung für Kierkegaards ‚Subjektivität‘ zentral setzenden Ansatz hat wiederum Ironie. Die von Kierkegaard in seiner Untersuchung der Romantik mithilfe von Hegel kritisch herausgearbeitete Performanz von Ironie wird von ihm – dies die ironische Volte seiner Ironietheorie – in seinem späteren Werk gegen Hegel selbst gewendet. Parallel zum Scheitern seiner bürgerlichen Konsolidierung, als welche er seine zwischenzeitliche Verlobung konzipiert zu haben scheint, konzipiert Kierkegaard ein „Auswander[n] aus dem Land des Allgemeinen“46. Aus der Sicht des solipsistischen Religiösen zeigt sich der versteckte Nihilismus in Hegels säkularisierter Theologie eines die göttlichen Pläne nachvollziehenden Weltgeistes. Und in der Tat: Nichts ist Hegels stolzem Versuch fremder als Kierkegaards zerknirschte Unterwerfung.

44 Zum Konzept der Begriffsperson vgl. Deleuze, Gilles und Guattari, Félix, Was ist Philosophie?, Frankfurt am Main, 1996. 45 Überhaupt ist zu bezweifeln, ob das Ethische von Kierkegaard je als mögliche eigenständige Sphäre beschrieben wurde, kommt doch – im Unterschied zum ästhetischen ‚Entweder‘ – nicht einmal das ‚Oder‘ des Gerichtsrats Wilhelm ohne Bezug auf Transzendenz aus. Selbst diese wohl expliziteste Ausformulierung ethischer Argumentation bei Kierkegaard verweist letztlich auf transzendente Argumentationen. Anders die ästhetische Sphäre. Denn auch wenn Kierkegaard eine dauerhafte ‚ästhetische Existenz‘ nicht für möglich gehalten hat: Die relevanten pseudonymen Verfasser – und auf die kommt es in seinem pseudonymen Œuvre an – beschreiben diese weitgehend autonom. 46 Kierkegaard, Sören, Furcht und Zittern, Gütersloh, 1980, S. 131.

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In all ihrer Radikalität zeigt sich die Inversion (auch von Subjektivität) in Johannes de Silentios47 Lektüre des biblischen Abraham in dem schon 1843 erschienenen Furcht und Zittern: „Der Glaube ist nämlich dies Paradox, daß der Einzelne höher ist als das Allgemeine, […] der Einzelne sich isoliert als höher denn das Allgemeine.“48 Auch diese Definition des Einzelnen wird vor dem Hintergrund von Hegels Allgemeinem zugespitzt. „Denn wenn das Ethische, will sagen das Sittliche, das Höchste ist“, dann kann im Menschen etwas Inkommensurables nur zurückbleiben in der „Weise, daß dies Inkommensurable das Böse, d. h. das Einzelne ist“49, das vom Allgemeinen nicht vollständig ausgedrückt, erfasst oder verstanden werden kann. Denn ‚verstehen‘ bedeutet allgemein zugänglich machen. Die radikalste Gegenposition zu einem (hegelianischen) Verständnis von Sprechen als Verallgemeinern, im Sinne eines denkenden Allgemeinmachens, verkörpert Abraham in seinem verschwiegenen Entschluss, den eigenen Sohn zu opfern. Einzig diese alttestamentarische Position nachzuvollziehen würde wahren Glauben bedeuten.50 Der erbitterte Kampf mit der einem solchen emphatischen Glauben diametral entgegengesetzten institutionalisierten Kirche war für Kierkegaard die logische Konsequenz. Der spätere Fanatismus des fundamentalen Gläubigen hat seinen Vorläufer im Sadismus der Verführer-Phantasien seiner hier im Zentrum stehenden frühen ästhetischen Texte. Nur mittels Pseudonymen scheint Kierkegaard ein wenig Distanz zu den hochgradig mit Grausamkeit aufgeladenen Konstellationen seiner Phantasie gewonnen zu haben. Auf diese mildernde Distanzierungsfunktion scheint sich der ironische Umgang mit den diversen Inhalten zu beschränken. Neben ihrer Funktion als allgemeines Distanzierungsmittel wird aber an dieser Ironie auch ihre Affinität zu jenen persönlichen Abgründen sichtbar, von denen Abstand zu gewinnen sie eigentlich helfen sollte. Die ironischen Masken und Pseudonyme werden so zu Komplizen der sadistischen Distanzierung. Letztlich sind hinter den verschiedenen Pseudonymen von Kierkegaards Büchern immer wieder dieselben zwangsneurotischen Konstellationen (Angst und Gewaltphantasien in den Reflexionen über Verführung nicht anders als in denen über den biblischen Abraham) zu entziffern. Sowohl das religiös motivierte als auch das lustvolle ästhetische Maskenspiel gleichen deswegen oft angstbeladenen Versteckspielen.

4. Entweder Ästhetik – Oder Ethik Scheitern und Gelingen liegen in Kierkegaards Theorie nicht einfach eng nebeneinander, vielmehr treffen sie im selben Punkt zusammen: dem letztlich nach ästhetischem Muster vorgestellten paradoxen Sprung in einen wahren Glauben. Das 47 48 49 50

Eines der vielen Pseudonyme Kierkegaards, die in ihrer ironischen Performanz mitzubedenken sind. Kierkegaard, Furcht und Zittern, S. 58. Ebd. Für diesen wahren Glauben überhaupt erst wieder ein Verständnis zu schaffen, ist Kierkegaards Anliegen, ohne dass der hinter einem Pseudonym verborgene Autor diesen Glauben für sich in Anspruch nimmt.

I. BÖSE ROMANTIK BEI HEGEL UND KIERKEGAARD

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Vorhaben der Gewinnung einer sublimen Religiosität durch Entschlackung von jedweder ethischen Allgemeinheit wiederholt aber nicht nur den in Entweder – Oder skizzierten ästhetisierten Solipsismus. Die undurchdringliche Konfusion der drei Sphären zeigt sich etwa in der keinesfalls nur religiösen Notwendigkeit eines letztlich auch für den ethischen Bereich gebotenen Entscheidungsakts. Spiegelbildlich zur ästhetischen Patina der religiösen Sphäre verhält sich die Verzerrung der ästhetischen Sphäre, die allzu oft aus ethischen (hegelianischen) Argumentationsstrategien hervorgeht. Auch deswegen ist Adorno in seinem Urteil zuzustimmen, dass Kierkegaard letztlich Erfahrungsgehalte thematisiert, denen er ästhetisch keineswegs gewachsen ist.51 Das betrifft etwa jene Hegel’schen Argumentationsmuster, die sowohl die Gesamtkonzeption des Textes strukturieren als auch den Inhalt von dessen ästhetischem Finale, das ironische Experiment von Johannes dem Verführer. Und das gilt auch schon für die – ebenso wie die Verführungsthematik bereits in der Dissertation angelegten – ästhetischen Analysen verschiedener Mozart-Opern, exemplarisch etwa für die Kulmination dieser Analysen in einer Darstellung der unendlichen Verführungsserien Don Giovannis.52 Trotz ihrer wechselseitigen Diffusion ineinander hat die theoretische Ausdifferenzierung speziell der ästhetischen Sphäre aber doch ihren heuristischen Wert für die Phänomenologie moderner, ästhetischer Subjektivität. Wiederum sind es zwei kurze Kapitel der Lucinde, welche die für Kierkegaards Analysen einschlägigen Themen ‚Unreife‘, ‚Kindlichkeit‘ und ‚Auflösung‘ vorgeben. Wie stets bei Schlegel sind diese Motive zugleich aufgeladen mit allegorisch formulierten poetologischen Intentionen.53 So bietet das dritte Kapitel eine „Charakteristik der 51 Vgl. dazu Adorno, Kierkegaard, speziell das Kapitel „Formalismus“, S. 32–37. In der Tat formuliert Kierkegaard oft recht konventionelle gattungstheoretische Überlegungen bzw. an Lessings Laokoon orientierte repräsentative Zuschreibungen an Raum- und Zeitkünste (vgl. hierzu etwa Kierkegaard, Entweder – Oder, S. 199). – Ein Versuch, eine romantische Theorie ästhetischer Erfahrung sowohl von Adorno als auch von Kierkegaard abzugrenzen, findet sich bei Juliane Rebentisch mit der Begründung, dass „die ästhetische Erfahrung in einem Verhältnis der reflexiven Unterbrechung zu denjenigen Vollzügen und Leistungen steht, die für diese Sphären [des Praktischen und Theoretischen; A. A.] jeweils konstitutiv sind. Zudem aber ist die Gestalt, die das Subjekt in der ästhetischen Erfahrung annimmt, weder – wie in Kierkegaards Interpretation der Romantik – subjektivistisch verstanden als konstituierender Grund der ästhetischen Phänomene noch aber – wie bei Adorno – objektivistisch aufs Dabeisein im Werk reduziert. Vielmehr wird das ästhetische Subjekt nun gedacht als ein konstitutives Element im Spiel zwischen Subjekt und Objekt. Mit der romantischen Kunstphilosophie zeichnet sich mit anderen Worten ein Horizont ab, in dem die abstrakte Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt in einer ästhetischen Praxis des Spiels überwunden wird.“ (Rebentisch, Juliane, „Kunst – Leben – Liebe. Ästhetische Subjektivität nach Kierkegaard“, in: Bühne des Lebens/Rhetorik des Gefühls, hrsg. v. der Städtischen Galerie im Lenbachhaus München, Köln, 2006, S. 15–32, hier S. 30.) 52 Schon in der Dissertation (Über den Begriff der Ironie, S. 298 f.) evoziert Kierkegaard eine nicht mehr sprachlich, sondern höchstens durch „gebieterische Bogenstriche Mozarts“ nachvollziehbare sinnliche Dualität Don Juans. Dieser ist ein sinnlicher „Dämon, der da keine Vergangenheit, keine Entwicklungsgeschichte“ hat, im expliziten Gegensatz zu Julius, dem Protagonisten von Schlegels Lucinde, den Kierkegaard als eine „in Reflexion gefesselte Persönlichkeit“ begreift. 53 Zur Bedeutung der kindlich-künstlerischen ‚Mimesis-Nachahmung‘ vgl. Lacoue-Labarthe, Philippe, „Die Abtreibung der Literatur“, in: Über das Weibliche, hrsg. v. Mireille Calle, Düsseldorf, 1996, S. 19–36, hier S. 28.

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kleinen Wilhelmine“, die leicht ersichtlich gegen Goethes scheinbar immer erwachsener werdenden Wilhelm gerichtet ist. Die Protagonistin des Kapitels zeichnet sich durch „lebhaftesten Ausdruck von Ironie“ sowie „viel Sinn für Bouffonerie“54 aus, welcher sie zu einer mimetisch-künstlerischen Sprache befähigt. Gleichzeitig soll Wilhelmine die herkömmlicher Sittlichkeit entgegengesetzte, weiblich konnotierte Natürlichkeit allegorisieren. Denn „diese liebenswürdige Wilhelmine findet nicht selten ein unaussprechliches Vergnügen darin, auf dem Rücken liegend mit den Beinchen in der Höhe zu gestikulieren, unbekümmert um ihren Rock und um das Urteil der Welt“.55 Es ist typisch für Schlegel, dass er das Konzept ‚Natürlichkeit‘ exzessiv über sich hinaustreibt und provokativ auf das Motiv des Kleinkinds zuspitzt. Kapitel fünf, eine „Idylle über den Müßiggang“, fordert dessen Studium und gibt zugleich einen höchsten Entwicklungspunkt an: „[J]e göttlicher ein Mensch oder ein Werk des Menschen ist, je ähnlicher werden sie der Pflanze; dies ist unter allen Formen der Natur die sittlichste, und die schönste. Und also wäre ja das höchste vollendetste Leben nichts als ein reines Vegetieren.“56

In ironischer Übertreibung macht Schlegel also Ernst mit Herders „Beschreibung der ästhetischen Natur des Menschen in Begriffen seiner tier-, ja pflanzenhaften Anfänge“.57 Das zweite Motiv, ‚Auflösung‘, ist in den späteren Verwindungen der Frühromantik (etwa für das Thema der ‚Dekadenz‘) vielleicht noch fruchtbarer geworden. Es findet sich vornehmlich gegen Ende des „Lehrjahre der Männlichkeit“ betitelten Kapitels. Im Gegensatz noch zu dem späteren ästhetischen Entweder Kierkegaards lassen sich die erotischen ‚Abenteuer‘ Julius’ nicht einmal mehr in ein Schema schlechter Unendlichkeit einordnen. Auch liegt das eigentliche Sakrileg Schlegels jenseits der ihm ebenfalls vorgeworfenen ‚Frivolität‘. Es handelt sich um das selbstbewusste Aufweisen einer eigenständigen, romantischen, und das bedeutet hier: ästhetischen Teleologie. Erst mittels der weiblichen Lucinde nämlich, die einen „entschiednen Hang zum Romantischen“58 hat, beseelen sich die Bilder des malenden Julius und scheint es ihm zu gelingen, den „flüchtigen[n] und geheimnisvolle[n] Augenblick des höchsten Lebens […] für die Ewigkeit“59 anzuhalten. Die nicht nur von Kierkegaard meist austauschbar gebrauchten Konzepte ‚Romantisieren‘ und ‚Ironisieren‘ sowie in der Folge das mehr und mehr missverständliche Konzept ‚Ästhetisieren‘ können und müssen jetzt ausdifferenziert werden. Denn es hieße den provokativen Gehalt der Lucinde bei Weitem zu verkür54 55 56 57

Schlegel, Lucinde, S. 16. Ebd., S. 18. Ebd., S. 35. Menke, Christoph, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt am Main, 2008, S. 51. Siehe dort auch detailliert zu Herders einschlägigen Formulierungen in seinem Vierten kritischen Wäldchen. 58 Schlegel, Lucinde, S. 70. 59 Ebd., S. 75.

II. ÄSTHETISIERUNG ALS IRONISCHER IMPERATIV?

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zen, würde man ‚Ästhetisieren‘ als ein Übergreifen ästhetischer Prinzipien auf einen nicht-ästhetischen Bereich, also auf eine anästhetische ethische Realität verstehen. Die Produktion von so etwas wie Realität vollzieht sich für Julius vielmehr überhaupt erst ästhetisch. So zeigt sich der existenzielle Einsatz des im vorigen Kapitel analysierten ‚Romantisierens‘. Julius „erinnerte sich an die Vergangenheit und sein Leben ward ihm, indem er es [Lucinde; A. A.] erzählte, zum erstenmal zu einer gebildeten Geschichte“.60 Romantisches ‚Erzählen‘ meint hier eine zunehmende Identifizierung von Leben und Roman. Kein Unterschied soll dann mehr zwischen Kunst und Leben bestehen. Einzig der künstlerische Vorgang narrativer Verkettung ermöglicht noch eine irgend zusammenhängende Biographie. „Wie seine Kunst sich vollendete und ihm von selbst in ihr gelang, was er zuvor durch kein Streben und Arbeiten erringen konnte: so ward ihm auch sein Leben zum Kunstwerk, ohne daß er eigentlich wahrnahm, wie es geschah.“61

Der Zusatz „ohne daß er eigentlich wahrnahm, wie es geschah“ bezeichnet vielleicht die entscheidende Differenz Schlegels zu vielen seiner Kritiker. Wird ein erzählerisches Moment als Element jedes konstruktiv-gestalterischen Prozesses angenommen, dann erübrigt sich die Rede von einer ‚nachträglichen Ästhetisierung‘. De facto wird die (moralisierende) Diskussion um Ironie aber genau dies meist unbeachtet lassen. II. ÄSTHETISIERUNG ALS IRONISCHER IMPERATIV?

II. ÄSTHETISIERUNG ALS IRONISCHER IMPERATIV? „Alles spielt sich nämlich so ab, als ob die Schrumpfung des öffentlichen Raums und die Auslöschung des politischen Erfindungsreichtums zur Zeit des Konsenses den Mini-Demonstrationen der Künstler, ihren Sammlungen von Gegenständen und Spuren, ihren Anordnungen der Interaktion, Provokation in situ oder anderen, die Funktion einer Ersatzpolitik verleihen würde. Ob diese ‚Ersetzungen‘ politische Räume neu zusammensetzen können oder ob sie sich damit begnügen müssen, sie zu parodieren, ist sicherlich eine der Fragen der Gegenwart.“ Jacques Rancière62

In mehrfacher Hinsicht bedarf es an dieser Stelle einer Klärung des Konzepts der ‚Ästhetisierung‘. Einerseits hat sich schon ansatzweise gezeigt, welche zentrale Rolle Ironie bei Friedrich Schlegel für die Herausbildung eines eigenständigen 60 Ebd., S. 71. 61 Ebd., S. 75 f. 62 Rancière, Jacques, Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien, 2007, S. 46.

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ästhetischen Diskurses spielt. Dies hatte schon seine Zeitgenossen zu Frühformen des heute gebräuchlichen Vorwurfs einer ‚Ästhetisierung des Diskurses‘ bewogen. Auf der anderen Seite, und darin liegt das pragmatische Interesse einer Klärung des Ästhetisierungskonzeptes für vorliegende Studie, ist ohne ebenjene ‚Ästhetisierung‘ auch anderer Diskurs- und Handlungsfelder die ästhetikübergreifende Karriere von Ironie nicht nachvollziehbar. Speziell in diesem Zusammenhang bestätigt sich die eingangs erwähnte These, dass Ironie als Katalysator noch ihrer eigenen Karriere zu verstehen ist. In Schlegels Verständnis überschreitet Ironie erstmals das begrenzte Feld der Rhetorik genau in dem Maße, in dem seine Sprachtheorie ‚Realität‘ als sprachlich konfigurierte begreift. Von diesen diskursiven Verschiebungen profitiert die einstige rhetorische Trope ‚Ironie‘, die von daher als emblematischer Ausdruck unterschiedlicher (romantischer, moderner, postmoderner) Epochen verstanden werden konnte. Dadurch erst wird vollständig plausibel, warum Ironie in der Folge immer auch aus ihren gesellschaftlichsoziologischen Dimensionen heraus zu begreifen sein wird, ohne auf diese reduziert werden zu können. Zunächst bedarf es in diesem Kapitel anstelle vorschneller Aburteilungen von ‚Ästhetisierung‘ einer genaueren Lektüre der einzelnen Positionen. In vier Lektüreschritten wird sich die Argumentation entwickeln. Zu Beginn steht eine Lektüre 1) frühromantischer Ästhetisierung, welche die Aufhebung eines rein negativen oder polemischen Verständnisses vorbereiten hilft. Unter Hinzuziehung der 2) ästhetischen und politischen Theorien Jacques Rancières kann dann 3) ein anderes Verständnis von Ästhetisierung, nämlich das heuristisch präzisere einer immer schon von ästhetischen Modi durchwirkten Realitätswahrnehmung, aus dem Textkorpus der frühromantischen Avantgarde entwickelt werden. Was in der Debatte um ‚Ästhetisierung‘ auf dem Spiel steht, kann schließlich, quasi als Kritik an den Ästhetisierungskritikern, an 4) Nietzsche verdeutlicht werden, der die entsprechenden (früh)romantischen Theorieelemente zugleich beerbt und radikalisiert.

1. ‚Ästhetisierung‘ als self-fulfilling prophecy ihrer Kritiker Zu Beginn stellt sich die Frage nach dem Gehalt und heuristischen Wert des polemischen Gebrauchs des Begriffs ‚Ästhetisierung‘. Kritisch gefragt: Welche unhinterfragten, möglicherweise unberechtigten (kunsttheoretischen) oder gar widersprüchlichen (erkenntnistheoretischen) Voraussetzungen liegen dem Konzept selbst zugrunde? Es wird sich zeigen, dass der mit Bezug auf Ironie immer wieder geäußerte Vorwurf einer nachträglichen ‚Ästhetisierung‘ eine beträchtliche Einschränkung des Gesichtskreises darstellt. Statt Ironie selber zu verstehen, haben diverse Ästhetisierungskritiker sie vorschnell unter eher geschichtsphilosophischen Auspizien betrachtet und verurteilt. Im Kontrast dazu sind in der Folge sowohl die Rechtfertigung des im Zusammenhang von Ironie oft erhobenen Ästhetisierungsvorwurfs als auch die daraus abgeleiteten moralischen Beurteilungen zu hinterfragen.

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Am deutlichsten und gröbsten ist die geschichtsphilosophische Vermischung von Ironie und Ästhetisierung von Odo Marquard vorgebracht und immer neu variiert worden.63 Das Argumentationsmuster sei in der Folge kurz vorgestellt: Schon die Kritik der Urteilskraft, Kants „Wende zur Ästhetik“64, sei ein Bruch mit der angeblich traditionellen Künstlerfeindlichkeit der Philosophie gewesen – wobei Marquard unter ‚ästhetischen Phänomenen‘ eine depravierte, nicht zur Selbstreflexion gelangende Ausdrucksform menschlichen Geistes zu verstehen scheint. Kants zweifelhafte ‚Lösung‘ der Spannung oder des latenten Konflikts zwischen seinen ersten beiden Kritiken sei somit gewesen, das künstlerische Symbol als reine Versinnlichung der Moral zu fassen.65 Verdeutlicht sieht Marquard diese Haltung bei dem kantianischen Verfasser der Briefe über die ästhetische Erziehung, den es bekanntlich drängte, „es endlich einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“.66 Bezeichnenderweise lässt sich Marquard nicht näher auf die komplizierte ästhetische Dialektik oder die unterschwellige anthropologische Theorie der Kräfte ein, welche Schillers Versuch begleiten. Dem Geschichtsphilosophen genügt es, in Schillers Ästhetik letztlich einen typischen Ausdruck des Mankos aller Transzendentalphilosophie zu sehen. Da Schiller mangels Vertrauen in die politische Aufklärung eine ästhetische Erziehung des Menschen fordere, welche auf indirektem, symbolischem Weg zu einem besseren Staat führen soll, drücke er genau genommen nur ein von Beginn an in der Transzendentalphilosophie angelegtes Dilemma aus. Deren Thema sei nicht mehr Sein oder Geschichte, sondern deren Übergang: das Ich. Mit Marquard verstanden ziehen die Romantiker nur die schon in der Transzendentalphilosophie angelegten (ästhetischen) Konsequenzen. Alle Philosophie, die noch nicht System oder Historie ist, bedarf der Ironie, hatte Schlegel unter anderem dekretiert. Auf den ersten Blick scheint das Marquards Vermengung von Ironie, Überhebung bzw. Überstrapazierung des Ich und Ästhetisierung (im Sinne oberflächlicher Verhübschung) zu bestätigen. Doch Marquard begreift Ästhetik zugleich als ‚Wirklichkeitsüberbietung‘ und ‚Wirklichkeitsverlust‘. Letztlich sieht der Geschichtsphilosoph Marquard überall nur Verfallserscheinungen: Wo etwas später Schelling eine Verfallstheorie der Geschichte noch theologisch abwenden könne, werde in der Folge von Schopenhauer über Nietzsche bis Freud ‚Triebnatur‘ ohnmächtig privilegiert. Von den ästhetischen oder künstlerischen Innovationen der Romantiker ist bei Marquard nicht die Rede. Stattdessen liest man pathologisierende Anamnesen, etwa dass „aus der Pflicht

63 Ich beziehe mich hier hauptsächlich auf seine 1987 erschienene Habilitationsschrift Transzendentaler Idealismus – Romantische Naturphilosophie – Psychoanalyse, Köln, 1987, sowie auf die Aufsatzsammlung Aesthetica und Anaesthetica, Paderborn, 1989. 64 Marquard, Transzendentaler Idealismus, S. 137. 65 Ebd., S. 139. 66 Schiller, Friedrich, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders., Nationalausgabe, Bd. 20, Weimar, 1962, S. 309–412, hier 15. Brief, S. 359.

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zum Scheitern […] Neigung zum Scheitern [wird]“.67 Daraus folge konsequent die „Absage an den Alltag und überhaupt an den Tag – die Zuwendung zur Nacht, zur Zeit des Schlafes und der Träume als der eigentlich menschlichen Zeit“68, letztendlich also die Wendung zu Krankheit und Schwermut als Ausdruck eines dominierenden Todestriebs. Auch die expliziten Auslassungen Marquards über Ironie sind nach obigen Analysen leicht als Hegel- bzw. Kierkegaard-Paraphrasen zu erkennen. So zum Beispiel seine Kritik jeder ästhetischen Haltung oder Position: Als Ästhetik des Scheiterns wolle sie weg von der Wirklichkeit und dränge letztlich auf ein Nichts.69 Erst Ironie mache die unvollziehbare ästhetische Position vollziehbar, wobei der Vollzug darin bestehe, das Nichts als Effekt zu etablieren. Die Festschreibung der Ironie als Kunst, sich über sich hinwegzusetzen, Selbstnegation zu betreiben und diese zugleich folgenlos zu machen, ist in Wahrheit aber das Gegenteil einer Definition. Statt einer Grenzbestimmung verschwimmen dem Philosophiehistoriker Marquard ‚Ironie‘, ‚Ästhetik‘ und ‚Kunst‘ ineinander. Das Manko geschichtsphilosophischer Großthesen erweist sich hier als ein doppeltes, als sowohl ästhetisches wie auch philosophisches. Weder nimmt Marquard die von bloßer Kunsttheorie zu unterscheidende, auch historische Spezifität des Ästhetischen wahr, noch weiß er die genuine philosophische Innovationskraft der Frühromantiker zu würdigen, die sich gerade im Kontrast zu Marquards geschichtsphilosophischem Heroen Hegel erweist. Vom Standpunkt einer Literaturwissenschaft, die umgekehrt eher mit ästhetischer Sensibilität als mit abstrakten Epochenbegriffen operiert, hat demgegenüber Karl Heinz Bohrer zu Recht auf die entscheidende Differenz zwischen „Philosophie der Kunst oder Ästhetische[r] Theorie“70 verwiesen. Fragt man nach expliziten Ästhetisierungstendenzen im frühromantischen Denken, wird meist auf Ludovicos „Rede über die Mythologie“ aus Schlegels „Gespräch über die Poesie“ verwiesen, welche dann zusammen mit dem heute Schelling zugeschriebenen „Ältesten Systemprogramm“ als Zeichen mythologischer Reaktualisierungsversuche der deutschen Romantiker gefasst wird. Das „Älteste Systemprogramm“ ist jedoch eines des deutschen Idealismus. Frühromantische Theoriebildung und Ästhetik sind dagegen nicht einseitig als – noch dazu depravierte – Abkömmlinge idealistischer Philosophie zu lesen. Denn in 67 68 69 70

Marquard, Transzendentaler Idealismus, S. 189. Ebd. Ich paraphrasiere hier und im folgenden Satz Marquard, Transzendentaler Idealismus, S. 192 f. Bohrer, Karl Heinz, „Philosophie der Kunst oder Ästhetische Theorie. Das Problem der universalistischen Referenz“, in: ders., Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt am Main, 1994, S. 121–142; Bohrers Kritik einer bestimmten Form (rest)idealistischer Philosophie der Kunst zu folgen, bedeutet freilich nicht, seiner generellen Philosophiekritik zuzustimmen. Der ‚ästhetischen‘ Kritik der Geschichtsphilosophie folgt darum in vorliegender Studie auch keine Aufhebung philosophischer Ästhetik insgesamt. Im Speziellen also wird eine Herausstreichung der frühromantischen und, expliziter noch, der Sprachtheorie Nietzsches das philosophische Analogon zur ästhetischen Innovationskraft der Romantiker aufzeigen. Allgemein zu den diesbezüglichen Limitationen idealistischer Ästhetik vgl. Bürger, Peter, Zur Kritik der idealistischen Ästhetik, Frankfurt am Main, 1983.

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dem Ausmaß, in dem die eigenständige und nicht nur ästhetisch, sondern auch philosophisch innovative Leistung der Frühromantik verstanden wird, verändert auch die gegen sie gewendete Kritik an der ‚Ästhetisierung‘ radikal ihre Bedeutung. Wenn nämlich von versöhnenden und pazifizierenden Absichten in der Kunst gesprochen werden kann, dann eher in idealistischem Kontext. So etwa im „Ältesten Systemprogramm“, in dem die „Poesie […] dadurch eine höhere Würde [bekommt]“, dass sie wieder wird, „was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit.“71 So verstanden, bleibt Poesie rational funktionalisiert und letztlich ein für die vernünftige Überholung präparierter Popanz. Zudem muss man also zunächst, wie Marquard das tut, Ästhetik als so etwas wie eine verkappte Versöhnungswissenschaft, Kunst also dezidiert als Anästhesierungsmittel verstehen, um danach kritisch von ‚Ästhetisierung‘ sprechen zu können. Schlegels „Rede über die Mythologie“ argumentiert und organisiert sich nun um eine wichtige ästhetische Differenz anders. Sie bestimmt die Poesie als Versuch, die „Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter.“72

Mit Nachdruck ist dabei zu betonen, dass die „Rede über die Mythologie“ in „einen ästhetischen, nicht historischen oder geschichtsphilosophischen Diskurs“73 integriert ist. In Schlegels Götterhimmel herrscht unvernünftiges Chaos. Die Götter treten nur als Gewimmel auf und sind deswegen auch untauglich als Symbole im klassischen Sinn. Diese allegorische Götterferne ist nun aber nur teilweise melancholisch konstatiert. Ebenso wie Friedrich Schlegel die klassizistische Bedeutung von ‚Symbol‘ nur mehr gebrochen zitiert – das Götterchaos hat eben gerade nicht die repräsentative Funktion, menschliche Verwirrung darzustellen –, unterläuft er in dieser radikalen Phase der Frühromantik jenen Mythologisierungsdiskurs, an dem er gleichwohl noch ironisch partizipiert. Von besonderem Interesse in diesem Kontext ist Schlegels ästhetische Konzeption, die er in Abgrenzung zu Schillers Indienstnahme von Ästhetik formuliert: „Es gibt für die Kunst keinen gefährlicheren Irrthum, als sie in Politik und Universalität zu suchen wie Schiller.“74 „Zielte der sentimentalische Utopiker (Schiller) aus der Literatur zurück auf die Utopie Mensch, so der moderne Mythenbildner vom Menschen zurück auf das objektive Artefakt“75, lautet Bohrers 71 „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“, in: Hegel, Werke, Bd. 1, S. 234–236, hier S. 235. 72 Schlegel, „Gespräch über die Poesie“, S. 204. Vgl. die Analysen von Bohrer, Karl Heinz, „Metaphorik und Häresie. Die romantische Entstellung des Geistes“, in: ders., Die Grenzen des Ästhetischen, München/Wien, 1998, S. 58–88, speziell S. 62–65. 73 Bohrer, Karl Heinz, „Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie“, in: ders. (Hrsg.) Mythos und Moderne, Frankfurt am Main, 1983, S. 52–82, hier S. 57. 74 Zit. vgl. Bohrer, „Philosophie der Kunst oder Ästhetische Theorie“, S. 129. 75 Bohrer, „Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie“, S. 73.

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Resümee der beiden gegensätzlichen Positionen, die sich gleichwohl beide als demselben ästhetischen Denkregime zugehörig erweisen. Zu fragen ist von daher, ob das Konzept einer Ästhetisierung als Versöhnung nicht eher beim idealistischen Schelling und beim aufklärerischen Schiller anzutreffen ist als bei den Frühromantikern, denen es meist zugeschrieben wird. Denn der Bruch der (frühromantischen) ästhetischen Theorie mit der traditionellen Philosophie ist kein vages Aussetzen der traditionellen philosophischen Künstlerkritik. Vielmehr wird die „uralte Legitimierung des Schönen durch das Wahre (Platons Phaidros) aufgehoben“76. Daraus erst resultiert das Durchbrechen eines symbolischen Paradigmas von Kunst. Wo es nicht durch andere Terme wie ‚Arabeske‘, ‚Allegorie‘ etc. ersetzt wird, steht ‚Symbol‘ in der Frühromantik gerade nicht mehr ausschließlich für ein glückliches Gleichgewicht von Form und Inhalt. Dies nicht ausreichend zu berücksichtigen, bedeutet auch, die einschlägigen frühromantischen Theoreme zu entschärfen. So kritisiert etwa Bernd Bräutigam den „ästhetischen Imperativ im Frühwerk Friedrich Schlegels“77 und spricht den Frühromantikern ästhetische Progressivität in dem Maße ab, wie er den Klassiker Schiller als deren Gegenfigur favorisiert. Bräutigam zufolge lässt die „Entstehung einer Literatur, die den Eigenwert der Form bis zur Autarkie im Konzept der ,poésie pure‘ steigert, sich aus dem poetologischen Selbstverständnis der Frühromantik nicht ableiten. Die Selbstreferenz der Form kontrastiert so scharf zur Allegorie als dem philosophischen Begriff der romantischen Poesie.“78

Im Gegensatz zu dieser Einschätzung möchte ich versuchen, mittels einer genaueren Fassung des historischen Einsatzes der Frühromantik auch Schlegels vermeintlichem Ästhetisierungsprojekt einen genaueren Sinn abzugewinnen. Denn, noch einmal, nur dort kann von einer versöhnenden, verschönernden, ausgleichenden, vermittelnden – die Attribute sind austauschbar – Funktion von Ästhetik gesprochen werden, wo Kunst noch als eine des schönen Scheins begriffen wird. Davon kann aber bei Schlegel definitiv nicht mehr die Rede sein, will man nicht die philosophische, sprachtheoretische und letztlich poetologische Differenz ignorieren zwischen einer versöhnlichen Ästhetisierung idealistischer Provenienz und der frühromantischen Einsicht in die ästhetische Dimension jeder Konstruktion von Wirklichkeit.

2. Jacques Rancière Wenn ästhetische Prozesse in der Folge mit Jacques Rancière von ihrem Beitrag zu unterschiedlichen partages du sensible (Aufteilungen des Sinnlichen) her verstanden werden sollen, dann auch im Dienste eines anderen Verständnisses von nicht mehr nachträglicher ‚Ästhetisierung der Wirklichkeit‘, sondern einer ganz 76 Bohrer, „Metaphorik und Häresie“, S. 65. 77 So die Formulierung im Untertitel seiner Studie Leben wie im Roman. 78 Bräutigam, Leben wie im Roman, S. 134.

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grundsätzlich und unhintergehbar ‚ästhetischen‘, und das heißt zugleich ‚diskontinuierlichen‘ Wirklichkeitswahrnehmung. Rancière unterscheidet bekanntlich drei ‚Ordnungen‘ des Sichtbaren und Wahrnehmbaren, drei ‚Verwaltungen‘ bzw. ‚Systeme‘ der Strukturierung dessen, was sichtbar wird oder aus dem Wahrnehmungsbereich ausgeschlossen bleibt. Zugleich handelt es sich also um drei ‚Regulierungs‘- oder ‚Regierungsformen‘ – um noch weitere Bedeutungen des französischen ‚régime‘ anzuführen – des Ästhetischen. In der Antike sieht Rancière ein ethisches Kunstregime am Werk, in dem die Frage der Kunst unter diejenige nach akzeptablen oder unzulässigen Bildern subsumiert wurde.79 Davon unterscheidet er ein mittels der Differenz poiesis/mimesis operierendes poetisches oder repräsentatives Regime der Kunst, dessen Gültigkeit bis ins 18. Jahrhundert reiche.80 Mit dem modernen régime esthétique des arts wird dann eine durchgängige Verbindung künstlerischer und politischer Elemente – retrospektiv auch für frühere Regime – sichtbar. „Die Politik besteht darin, die Aufteilung des Sinnlichen neu zu gestalten, die das Gemeinsame einer Gemeinschaft definiert, neue Subjekte und Objekte in sie einzuführen, sichtbar zu machen, was nicht sichtbar war, und als Sprecher jene vernehmbar zu machen, die nur als lärmende Tiere wahrgenommen wurden.“81

Die Ursprungsszene des ästhetischen Kunstregimes findet sich Rancière zufolge in Schillers Ästhetischen Briefen, die Kants transzendentales Konzept eines ‚freien Spiels der Einbildungskraft‘ mit einem anderen in der Kritik der Urteilskraft angelegten, anthropologischen Moment verbinden. Das ästhetische Regime erweist die fundamentale politische Dimension der Kunst, weil es „die Dinge der Kunst durch ihre Zugehörigkeit zu einem Sensorium definiert, das unterschieden ist von jenem der Beherrschung. In der Kant’schen Analyse heben das freie Spiel und der freie Schein die Herrschaft der Form über die Materie, der Intelligenz über die Sinnlichkeit auf. Diese Kant’schen philosophischen Aussagen übersetzt Schiller im Kontext der französischen Revolution in anthropologische und politische Aussagen. Die Herrschaft der ‚Form‘ über die ‚Materie‘ ist die Herrschaft des Staates über die Massen, die Herrschaft der Klasse der Intelligenz über die Klasse der Empfindung, der Kulturmenschen über die Naturmenschen. Wenn das ästhetische ‚Spiel‘ und der ästhetische ‚Schein‘ eine neue Gemeinschaft begründen, dann deshalb, weil sie die sinnliche Widerlegung dieser Opposition zwischen intelligenter Form und sinnlicher Materie ist, welche wiederum eigentlich der Unterschied zweier Menschheiten ist.“82

79 Rancière führt Platon als Hauptexempel an. „Kunst existiert für ihn nicht, er kennt nur Künste im Sinne von Tätigkeitsformen. Und genau diese Künste unterteilt er in wahrhafte Künste, das heißt in Kenntnisse, die auf der Nachahmung eines Modells zu bestimmten Zwecken basieren, und in Trugbilder der Kunst, die einen bloßen äußeren Schein nachahmen.“ (Rancière, Jacques, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin, 2006, S. 36 f.) 80 Vgl. ebd., S. 37 f. 81 Rancière, Das Unbehagen in der Ästhetik, S. 35. 82 Ebd., S. 41 f.

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Mit Rancière können Schillers ästhetische Überlegungen als implizite Kritik an den nachrevolutionären französischen Verhältnissen gelesen werden, auch wenn der zu Beginn direkt benannte politische Bezug im weiteren Verlauf der Briefe nicht mehr aufgegriffen wird. Schiller parallelisiert nämlich die Dialektik zweier gesellschaftlicher Klassen – die gestalterische Macht der gebildeten Klassen gegen die sinnliche Passivität der formbaren Massen – mit dem Problem künstlerischer Produktion. Die gesellschaftliche Harmonisierung soll nach dem Vorbild der Versöhnung von ästhetischem Material und intellektuellem Formwillen vonstatten gehen. Gegen die abstrakte und deswegen in ihren Resultaten chaotische Freiheit der – von einigen sozial entwurzelten Intellektuellen konzipierten – Französischen Revolution setzt Schiller emphatisch auf eine andere, wahrere Freiheit. „Sowohl der materielle Zwang der Naturgesetze als der geistige Zwang der Sittengesetze verlor sich in ihrem höhern Begriff von Notwendigkeit, der beide Welten zugleich umfaßte, und aus der Einheit jener beiden Notwendigkeiten ging ihnen erst die wahre Freiheit hervor […]. [E]s ist keines von beiden, weil es beides zugleich ist.“83

Bekanntermaßen ist es das ‚freie Spiel der Einbildungskraft‘ Kants, das Schiller als Muster seiner ästhetisch gedachten Versöhnung gilt. „Auf den Flügeln der Einbildungskraft verläßt der Mensch die engen Schranken der Gegenwart“84, um mittels Spieltrieb versöhnend zu ihr zurückzukehren. Mittels Mimesis an die Antike der Griechen, die ihr Ideal noch glücklich aus der Natur nehmen konnten, skizziert Schiller eine moderne Produktion der Einheit der Vermögen – modern insofern, als sie jener Epoche zugehörig ist, welche ihr Ideal nur mehr aus der Kunst nehmen kann. Der Satz, wonach ‚der Mensch nur da ganz Mensch ist, wo er spielt‘, der eine Identität von Fühlen und Denken bezeichnet, soll, „ich verspreche es Ihnen, das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwürigern Lebenskunst tragen“.85 Diese doppelte Temporalität ist typisch für das Regime aller Kunstproduktion seit der Romantik. Immer wieder wird im Namen eines Vergangenen, dem gleichzeitig ein aller Kunst eigener Charakter zugesprochen wird, eine neue Tradition in die Zukunft hin entworfen. Rancières Skepsis gegenüber dem heuristischen Wert des Konzepts „Avantgarde“86 resultiert auch daraus, dass er Ästhetik insgesamt verstanden wis83 84 85 86

Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 15. Brief, S. 359. Ebd., 24. Brief, S. 390. Ebd., 15. Brief, S. 359. Meist werde vergessen, „dass der Modernismus selbst nur ein langer Widerspruch zwischen zwei gegensätzlichen ästhetischen Politiken war, gegensätzlich aber von einem selben gemeinsamen Kern aus, der die Autonomie der Kunst an die Vorwegnahme einer kommenden Gemeinschaft band, also diese Autonomie an das Versprechen ihrer eigenen Aufhebung. Gerade das Wort Avantgarde hat zwei gegensätzliche Formen desselben Knotens aus Autonomie der Kunst und Versprechen der Emanzipation, die darin enthalten war, bezeichnet. Es hat zwei gegensätzliche Dinge bedeutet, die manchmal mehr oder weniger vermischt, manchmal klar antagonistisch zueinander waren.“ (Rancière, Das Unbehagen in der Ästhetik, S. 147.)

II. ÄSTHETISIERUNG ALS IRONISCHER IMPERATIV?

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sen will als die Erfindung neuer Lebensformen, „als Erfindung sinnlicher Formen und materieller Rahmenbedingungen für ein künftiges Leben“.87 Der utopische Charakter der Schiller’schen Lebenskunst und auch der romantischen ästhetischen Überlegungen bleibt somit gültig für die gesamte (Post-)Moderne. Deswegen brauchen wir uns „also nicht irgend ein pathetisches Ende der Moderne vorstellen oder eine fröhliche Explosion der Postmoderne, die dem großen modernistischen Abenteuer der Autonomie der Kunst und der Emanzipation durch die Kunst ein Ende setzen würde. Es gibt keinen postmodernen Bruch. Es gibt einen ursprünglichen und unaufhörlich tätigen Widerspruch. Die Einsamkeit des Werks trägt ein Versprechen der Emanzipation. Aber die Erfüllung des Versprechens ist die Aufhebung der Kunst als getrennte Wirklichkeit, ihre Umwandlung in eine Form des Lebens.“88

Noch Lyotards späte Aufsatzsammlung L’inhumain, welche eine „réécriture de la modernité“89 selbst versucht und zum Widerstand gegen einzelne Formen des Postmodernismus aufruft, hält melancholisch an diesem romantischen Versprechen der Kunst fest. Zwar hat die sogenannte Postmoderne die prekären Zusammenhänge zwischen politisch-revolutionären und künstlerischen Utopien erkannt, aber gerade ihre namhaftesten Vertreter fühlten sich weiter melancholisch dem aufklärerisch-emanzipatorischen Gestus der modernen Kunst verbunden. Mittels eines Avantgardedenkens der Kunst schleicht sich der zuvor eskamotierte ethische Diskurs wieder in die ästhetische Diskussion ein – auch wenn dies nicht mehr unter dem Vorzeichen der politischen Versöhnung geschieht. Schillers ästhetischer Zustand, der état esthétique, wird dann nur mehr klein gelesen – eher als individueller Zustand denn als Staat oder „gesellschaftlicher Zustand“.90

3. Romantische Avantgarde Dass möglicherweise jeder ästhetischen Erfahrung ein utopisches Versprechen eingeschrieben ist, erschwert jedes Urteil über die romantische Ästhetik. Denn was anderes als Versöhnung verspricht jenes Gefühl der Kunsterfahrung, das von Kant als ‚Geistesgefühl‘ des Erhabenen konzeptualisiert wurde. Dessen Funktion ist es nicht zuletzt, dem Menschen ein weiteres Vermögen neben Verstand und Vernunft zur Kenntnis zu bringen, nämlich, wie Paul de Man kritisch herausge-

87 Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 48. 88 Rancière, Das Unbehagen in der Ästhetik, S. 47. 89 Lyotard, Jean-François, L’inhumain. Causeries sur le temps, Paris, 1988, S. 44; an dieser Stelle versucht Lyotard stimmigerweise die Postmoderne als eine réécriture der Moderne zu beschreiben, die bereits innerhalb der Moderne selbst nachzuweisen sei (vgl. ebd., S. 43). 90 So Heinz Dieter Kittsteiners Übersetzungsvorschlag der von Schillers 27. Brief thematisierten „Staaten“ (Kittsteiner, Heinz Dieter, „Von der Geschichtsphilosophie zur Ästhetik. Von der Ästhetik zur Geschichtsphilosophie“, in: Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker, hrsg. v. Georg Bollenbeck und Lothar Ehrlich, Köln u. a., 2007, S. 39–58, hier S. 46).

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arbeitet hat, dasjenige „der Einbildungskraft“.91 Deren entscheidende Rolle steht innerhalb von Kants Theorie der Wahrnehmung in der Kritik der reinen Vernunft unter den Vorzeichen sinnlicher Passivität und verstandesmäßiger Spontaneität. In der Kritik der Urteilskraft bemühte sich Kant dann bekanntlich weiter um eine genauere Ausarbeitung zweier vermittelnder Vermögen oder Kräfte: einerseits der ‚Urteilskraft‘, vermittelnd zwischen reinem, spontanem cogito und praktischer Vernunft; andererseits, und für vorliegende Fragestellung noch wichtiger, der zwischen rezeptiver Sinnlichkeit und ordnendem Verstand vermittelnden ‚Einbildungskraft‘. Diese ist symbolisch in zweifachem Sinn. So, wie der Dichter als Schöpfer von Symbolen verstanden werden kann92, so „eignet sich das ,freie Spiel der Einbildungskraft‘ zum Symbol der ,freien Gesetzmäßigkeit‘ der praktischen Vernunft“.93 Damit ist klar, was auf dem Spiel steht, wenn die Romantiker, Erben von Fichtes Produktionsdenken, Stück um Stück die bei Kant noch deutlich konturierten Unterscheidungen zwischen Phantasie und Einbildungskraft hinterfragen und zunehmend auflösen. Schon Kant hatte in seinen späten handschriftlichen Notizen in der Kritik der reinen Vernunft Einbildungskraft und Verstand einander angenähert, indem er Erstere als Teilaspekt des Verstandes selbst zu denken versuchte.94 Novalis dagegen deklariert umgekehrt: „Je poetischer, je wahrer“.95 Damit unterstreicht er den produktiven Part der Einbildungskraft bei der Entstehung von Erkenntnis und hebt mit dieser Ästhetisierung der Erkenntnis die scharfe Trennung von Verstand und Einbildungskraft tendenziell auf. Diese Konzeption einer aus der Vermischung von normaler sinnlicher Wahrnehmung und Einbildung resultierenden ‚kreativen Einbildungskraft‘96 ist symptomatisch 91 Vgl. dazu de Man, Paul, „Phänomenalität und Materialität bei Kant“, in: ders., Die Ideologie des Ästhetischen, S. 9–38, hier S. 17. Aus der postmodernen Sicht Lyotards galt: „[L]e sublime n’est autre que l’annonce sacrificielle de l’éthique dans le champ esthétique“ (Lyotard, L’inhumain, S. 149). Gerade in L’inhumain hat Lyotard auch auf die Bedeutung der Einbildungskraft, als Vermögen der Darstellung (présentation), in der komplizierten Architektur der Vermögen bei Kant hingewiesen. 92 Dichtkunst erweitert nach Kant das Gemüt dadurch, dass sie die „Einbildungskraft in Freiheit setzt und innerhalb den Schranken eines gegebenen Begriffs, unter der unbegrenzten Mannigfaltigkeit möglicher damit zusammenstimmender Formen, diejenige darbietet, welche die Darstellung desselben mit einer Gedankenfülle verknüpft, der kein Sprachausdruck völlig adäquat ist, und sich also ästhetisch zu Ideen erhebt“ – so der berühmte Paragraph 53 von Kants Kritik der Urteilskraft (B 215). Vgl. dazu auch Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 77, dessen minutiöser Rekonstruktion ich an dieser Stelle in weiten Teilen folge. 93 Vgl. Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 105. 94 Vgl. Fußnote 21 in Kap. B. „Rhetorologien“. 95 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 647. 96 Spezifisch für die Romantik aber ist ihre Identifizierung mit dem, was wir seither unter ‚Phantasie‘ verstehen. Die künstlerisch überhaupt nicht mehr versöhnlichen Werke vieler Romantiker werden ästhetisch verständlich vor dem oben dargestellten theoretischen Hintergrund. Der Weg zur zentralen romantischen Kategorie des ‚Phantastischen‘ führt über eine aufgeladene Bestimmung der ‚Einbildungskraft‘. – Oliver Kohns hat gezeigt, wie die Vermischung von Sinnlichkeit und Einbildung bereits für den Kant des „Versuchs über die Krankheiten des Kopfes“ und im Gegensatz etwa noch zu Hume als Normalfall verstanden wurde. Das setzt sich fort in der in der Kritik der reinen Vernunft als notwendig erachteten „Teilnahme der Einbildungskraft an jeder

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für das Denken des ästhetischen Regimes – und für die diesem Regime eigentümliche Ästhetisierung, in der die Einbildungskraft dann als „hervorbringend oder produktiv“97 verstanden wird. Die Frühromantiker sind somit zentrale Vertreter dessen, was unser noch zeitgenössisches ästhetisches Kunstregime ausmacht: das „Sinnlich-Werden jedes Gedankens und das Gedanken-Werden jeder sinnlichen Materie“.98 Dies ist nun wiederum nicht im Sinne einer ästhetischen Versöhnung zu verstehen. Ebenso ist der von Bernd Bräutigam in der frühromantischen Theorie ausgemachte ‚ästhetische Imperativ‘ nicht im Sinne eines künstlerischen Palliativs misszuverstehen. Es ist vielmehr ein wesentlicher Gehalt der ästhetischen Theorie und Praxis der frühromantischen Modernität, über idealistische kunstphilosophische Theoreme auf charakteristische Weise hinauszugehen; speziell gilt das für die (selbstverständlich auch bei Schlegel besonders nach 1800 wieder in den Vordergrund tretenden) Versuche, Kunstobjekte für die Vermittlung gesellschaftlicher Widersprüche zu instrumentalisieren. Was sich an ethisch-anthropologischen Elementen innerhalb des frühromantischen Diskurses findet, ist darum weniger als ästhetizistische Eigenheit der Romantiker abzutun, sondern vielmehr ein für das ästhetische Kunstregime typisches Moment. Es ist das in jedem Kunsterlebnis, jedem choc d’aistheton verborgene Versprechen, dass es noch ganz andere Formen des Erlebens geben könne als die uns bekannten. Dies ist zugleich Bedingung der Möglichkeit avantgardistischer Entwürfe und ihrer Ideen eines anderen Lebens, jenseits von Aktivität und Passivität, eines medialen Lebens als Kunst. Der im Denken der Romantiker immer wieder anvisierte ästhetische Imperativ ist kein diesen vorzuhaltender Kategorienfehler, etwa einer Verwechslung von Realität und ästhetischer Fiktion. Vielmehr handelt es sich um eine grundlegende Einsicht in ein strukturelles Moment von ästhetischer Kunst- und Wirklichkeitserfahrung seit Beginn der ästhetischen Moderne und verstärkt seit den Avantgarden des 20. Jahrhunderts.99

Wahrnehmung“ (Kohns, Die Verrücktheit des Sinns, S. 60). Dass die Selbstaffektion transzendentalen Charakter hat, bedeutet auch „eine neue Konzeption des Ich. Die Einbildungskraft ist nicht mehr etwas, das dem Ich äußerlich wäre und es ‚verführen‘ könnte.“ (Ebd., S. 64.) 97 So Christoph Menke in seinen grundsätzlichen Überlegungen zu den Konstitutionsleistungen des Ästhetischen in der Gründungszeit der Disziplin Ästhetik. Im philosophiegeschichtlichen Rückblick schon auf Descartes bezeichnet auch Menke, nicht anders als Rancière, den „Gegensatz von Passivität und Aktivität“ insgesamt als irreführend. Der Grund für das „doppelte Ungenügen – des Begriffs der Passivität für die Sinnlichkeit, des Begriffs der Aktivität für den Verstand – ist ein und derselbe: das Wirken der Einbildungskraft. Die Einbildungskraft gehört in das Feld der Sinnlichkeit (denn sie vermag ihren Vorstellungen nicht den Charakter von Repräsentationen, ihren Bildern nicht den Status von Erkenntnissen zu verschaffen), sie ist aber zugleich nicht bloß rezeptiv, nicht bloß der Abdruck eines Eindrucks.“ (Menke, Kraft, S. 15 f.) 98 Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 68. 99 Niklas Luhmann zufolge setzt die Romantik an die Stelle der ontologischen Leitunterscheidung von Sein/Nichtsein jene von endlich/unendlich und beginnt gleichzeitig mit der ‚Realität‘ zu spielen. (Luhmann, Niklas, „Eine Redeskription ‚romantischer‘ Kunst“, in: Systemtheorie der Literatur, hrsg. v. Jürgen Fohrmann und Harro Müller, München, 1996, S. 325–344, hier S. 336 f.)

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Der Begriff der ‚Avantgarde‘ – mit gutem Grund firmieren die Jenaer Romantiker bei Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy als historisch erste Avantgardisten100 – ist dabei in zwei Richtungen auszudifferenzieren. Einerseits im Sinne der oben analysierten doppelten Temporalität moderner ästhetischer Produktion. Denn die Romantik erlebt sich bewusst als ausgerichtet auf eine andere Zukunft hin und verweist zugleich schon mit ihrem Namen auf die Vergangenheit. Die zweite Bedeutung von ‚Avantgarde‘ ist die einer Ausweitung künstlerischer Praxis in die konkrete Lebenswelt hinein. Sie ist der mit der ästhetischen Verwendung auch alltäglichster Gegenstände einsetzende Versuch, bis dahin aufrechterhaltene Abgrenzungen zwischen zwei vermeintlich nicht miteinander kommunizierenden Sphären einzureißen. Peter Bürger hat dies vor allem anhand des Surrealismus beschrieben101, der in seinen Versuchen, ästhetische und ethische oder alltägliche Praktiken zu verbinden, frühromantische Konzeptionen beerbt und weiterentwickelt. Beide ‚Kunstrichtungen‘ teilen den Traum von einem Leben nicht in Kunst, sondern als Kunsterfahrung, den Traum von einem Leben voller Intensität, in dem jeder Augenblick intensivierte (Kunst-)Erfahrungen offenbart. Damit zeigen sich auch neue lebensweltliche Aspekte der zuvor philosophisch und theoriegeschichtlich analysierten ironischen Weiter- und Höherpotenzierung der Reflexion. Anders als bei Hegel handelt es sich hierbei nicht um eine Reflexion der Reflexion als bestimmender, sondern um eine Potenzierung der Reflexion im Sinne der Freilegung von Kräfterelationen. Der ästhetische Traum besagt nicht bloß, dass jeder für fünfzehn Minuten berühmt, sondern in jedem Moment seines Lebens kreativ sein kann. Hinter diesen ästhetischen Träumen, der Vorstellung eines ästhetisch regulierten Denkens, steht der gesellschaftliche Traum einer Aufhebung der (Klassen-)Trennung von aktivem Künstler und passivem Rezipienten, der politische Traum, im Spiel erstmals wirklich humane Verhältnisse zu schaffen.102 Für das Verständnis des Auftauchens der Ironie in ethischen Personifizierungen und Maskierungen (etwa des Ironikers als Flaneur oder Dandy) wird auf diese Überlegungen zurückzukommen sein. Einstweilen genügt es festzuhalten, dass Schlegels Programm einer Universalpoesie nicht als exzentrische Idee eines Kunstbesessenen missverstanden werden darf, sondern als erste Formulierung von Paradigmen der Produktion und Erfahrung von Kunst zu dechiffrieren ist, die für die nächsten beiden Jahrhunderte maßgeblich werden sollten. „Car l’art de l’âge 100 Vgl. Lacoue-Labarthe, Philippe und Nancy, Jean-Luc, L’Absolu littéraire. Théorie de la littérature du romantisme allemand, Paris, 1978. 101 Vgl. Bürger, Peter, Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main, 1974. 102 Nicht zufällig war sowohl der romantischen wie der surrealistischen Avantgarde ein experimentierendes Interesse an der Kategorie des ‚Phantastischen‘ eigen. Die phantastische Transzendierung dessen, was einstmals als Wirklichkeit empfunden wurde, und die Integration des Alltäglichen in den bis dahin sakral abgetrennten Bereich der Kunst folgen ein und derselben ästhetischen Integrationskraft: Phantastik und Universalpoesie, Wahnsinn und Readymade sind Bestandteile ein und derselben avantgardistischen und ästhetisierenden Gegenlogik.

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esthétique abolit des frontières et fait art de toute chose. Son roman a grandi avec le feuilleton, sa poésie s’est mise au rythme des foules et sa peinture s’est installée dans les guinguettes et les music-halls.“103 Freilich darf die angestrebte Verbindung von Künsten unter ästhetischen (Regime-)Bedingungen nicht als bloß additive Vermischung und Steigerung verstanden werden. Das würde schon dem Wagner’schen Gesamtkunstwerk nicht gerecht, dessen Utopie weder auf eine Vorläuferschaft für die nazistische Ästhetisierung der Politik noch auf eine bloße Vermengung unterschiedlicher Künste zu reduzieren ist. Wichtig ist „la réduction des procédures hétérogènes et des formes sensorielles différentes des arts à une commune dénomination, à une commune unité principielle de l’élément idéel et de l’élément sensoriel“.104

4. Drehscheibe Nietzsche Die zweite romantische Hintergrundformation, welche den üblichen Sinn einer Kritik an ‚Ästhetisierung‘ (verstanden als Einsickern künstlerischer Phänomene in die vermeintlich getrennte ethische Sphäre ‚Leben‘) unterläuft, erlangt ihre volle Bedeutung erst mit einem späten Erben der Romantik. Erst in einer radikalisierenden und zugleich vergröbernden Fassung erlangt die frühromantische Semontologie Popularität. Nietzsche, so lautet die These, überträgt sein Verständnis von Rhetorik auf Sprache überhaupt und begreift mit seinem spezifischen Konzept von ‚Ästhetik‘ die so unklare Kategorie ‚Leben‘. Auch bei ihm handelt es sich also nicht einfach um eine Beerbung eines irgendwie ästhetizistischen Kunstverständnisses, sondern sind es explizite sprachphilosophische Voraussetzungen, welche die theoretischen und praktischen Sphärentrennungen der Moderne (parallel zu ihrem Entstehen) unterlaufen. In der Folge Lacoue-Labarthes105 hat sich die Nietzscheforschung verstärkt mit der Bedeutung von Nietzsches Rhetorikverständnis für die Entwicklung seiner Philosophie auseinandergesetzt. Seine nur in wenigen, freilich bedeutungsvollen Details wirklich originellen Vorlesungsmanuskripte zu diesem Thema belegen, in welchem Ausmaß Nietzsche in der romantischen Tradition stehenden Texten

103 Rancière, Jacques, „Prologue: Une fable contrariée“, in: ders., La fable cinématographique, Paris, 2001, S. 7–30, hier S. 18; zu der von Schlegel mitherausgegebenen Zeitschrift Athenäum vgl. ebd., S. 15. 104 Rancière, Jacques, „La folie Eisenstein“, in: ders., La fable cinématographique, S. 31–42, hier S. 34. 105 Lacoue-Labarthe, Philippe, „Der Umweg“, in: Nietzsche aus Frankreich, hrsg. v. Werner Hamacher, 2. Aufl., Berlin, 2003, S. 125–163.

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folgt, etwa Gustav Gerbers Die Sprache als Kunst.106 In dieser Tradition wird Rhetorik zu dem „methodische[n] Instrument einer sprachkritisch fundierten Erkenntniskritik, die im Sinne Gerbers Kants Kritik der reinen Vernunft radikalisieren wollte, indem sie diese über eine ‚Kritik der Sprache‘ in eine ‚Kritik der unreinen Vernunft‘ verlängerte“.107

Diese sprachkritischen Annahmen werden von Nietzsche radikalisiert: „Die Rhetorik ist deshalb ehrlicher, weil sie das Täuschen als Ziel anerkennt.“108 Diese Idee einer überlegenen Ehrlichkeit der Rhetorik richtet sich vor allem gegen fundamentale Voraussetzungen der Metaphysik – Nietzsche weiß von einem sophistischen Willen der Rhetorik zur doxa, im Gegensatz zum platonischen Abzielen auf wahre episteme – und zugleich gegen Nietzsches bisherige Philosophie selbst. Seine rhetorisch informierte (Selbst-)Kritik wird sich vor allem gegen die in schopenhauerianischer Terminologie und für Wagner verfasste Geburt der Tragödie richten, speziell gegen deren letztlich ethische Rechtfertigung des ästhetischen Scheins, der beim frühen Nietzsche an die Stelle von Schillers Spiel getreten war. Bereits in der frühen Tragödienschrift visierte Nietzsche eine Abkehr von Platon an, konnte diese aber wegen des dieser Schrift inhärenten Dualismus von apollinischem Schein und dionysischem Wesensgrund noch nicht ausreichend artikulieren. „Meine Philosophie umgedrehter Platonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel“109, notiert Nietzsche seine Umdrehung, die Heidegger später als unzureichend kritisieren wird. Die zitierte Notiz stammt jedoch von 1871, ist also bei Weitem nicht Nietzsches letztes Wort. Und sie ist, darauf kommt es hier an, vor

106 Zentral neben Gerber (Die Sprache als Kunst, Bromberg, 1871) ist Richard Volkmanns Die Rhetorik der Griechen und Römer in systematischer Übersicht dargestellt (1885); zum Verhältnis Nietzsches zu den Romantikern allgemein vgl. Behler, Ernst, „Nietzsche und die frühromantische Schule“, in: Nietzschestudien, Bd. 7 (1978), S. 59–87; Heller, Peter, „Nietzsches Kampf mit dem romantischen Pessimismus“, ebenfalls in: Nietzschestudien, Bd. 7 (1978), S. 27–58; Hennemann Barale, Ingrid, „Subjektivität als Abgrund. Bemerkungen über Nietzsches Beziehung zu den frühromantischen Kunsttheorien“, in: Nietzschestudien, Bd. 18 (1989), S. 158– 181. 107 So Josef Kopperschmidt, „Nietzsches Entdeckung der Rhetorik. Rhetorik im Dienste der Kritik der unreinen Vernunft“, in: Nietzsche oder „Die Sprache ist Rhetorik“, hrsg. v. Josef Kopperschmidt und Helmut Schanze, München, 1994, S. 39–62, hier S. 42 f., bei dem auch die Zitate von Gerber belegt sind. Zu Nietzsches Rhetorikverständnis vgl. ferner Kaiser, Stefan, „Über Wahrheit und Klarheit. Aspekte des Rhetorischen in ‚Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn‘“, in: Nietzschestudien, Bd. 23 (1994), S. 65–78; außerdem Ellrich, Lutz, „Rhetorik und Metaphysik. Nietzsches ‚neue‘ ästhetische Schreibweise“, ebenfalls in: Nietzschestudien, Bd. 23 (1994), S. 241–272. 108 Nietzsche, Friedrich, Nachgelassene Fragmente, Anfang 1874 – Frühjahr 1874, 32[14], in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München, 1988, Bd. 7, S. 758. 109 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Ende 1870 – April 1871, 7[156], in: ders., KSA, Bd. 7, S. 199.

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seiner Beschäftigung mit rhetorischen Fragestellungen geschrieben. Deswegen ist der Zweiweltenlehre der Geburt der Tragödie noch ein konventionelles Modell nachträglicher Ästhetisierung implizit. Später wird Nietzsche – durchweg in selbstkritischer Auseinandersetzung mit den metaphysischen Dualismen der Geburt der Tragödie – mit der wahren auch die scheinbare Welt abschaffen. In dieser frühen Schrift wird dagegen Sprache noch der Musik nachgeordnet, welche über Korrespondenzen zu einem angeblich arationalen Urgrund des Willens verfügen soll. Um zu zeigen, inwiefern sich aus Nietzsches Überlegungen zur Rhetorizität von Sprache ein positives Verständnis von Ästhetisierung als immer schon ästhetischer Wirklichkeitsperzeption gewinnen lässt, genügt es, Nietzsches Rhetorikverständnis in groben Zügen zu referieren. Als Altphilologe folgt Nietzsche in diesem Zusammenhang Aristoteles, dem zufolge die Rhetorik weder episteme noch techne ist, sondern eine dynamis, welche zur techne erhoben werden kann. Von Bedeutung ist hier, in welchem Sinne Nietzsche dynamis nun als Kraft ausdeutet. Er bezieht sich dabei auf Aristoteles’ berühmte Definition der Rhetorik als Fähigkeit, „das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen“.110 Daraus schließt Nietzsche, dass die „Kraft, welche Aristoteles Rhetorik nennt, an jedem Dinge das heraus zu finden und geltend zu machen, was wirkt und Eindruck macht, […] zugleich das Wesen der Sprache [ist]“111, wobei er dasjenige, was Eindruck macht, als das antike pithanon (das Überzeugende und Überredende112) identifiziert. Nietzsche nähert Aristoteles somit der römischen (ciceronischen) Rhetoriktradition an, die neben den sachlogischen Überzeugungsmitteln, der „vernünftigen und sachzugewandten Argumentation […] unter dem Primat des logos“, stärker die affektrhetorischen pathetischen Mittel betont.113 Von rhetorischen Fragestellungen und Phänomenen wie Ironie selbst ist bei Nietzsche also nur deswegen so selten die Rede, weil diese in anderen Phänomenen aufgehen und sich an fast allen Stellen seines Werks wiederfinden. Denn Nietzsche setzt Sprache und Rhetorik als strukturidentisch. Auch für Sprache gilt – wie später in seinem Machtkonzept für Leben überhaupt –, was er am exzessiven Reden der Griechen beobachtet. Sprache „bezieht sich ebenso wenig wie die Rhetorik auf das Wahre, auf das Wesen der Dinge, sie will nicht belehren, sondern eine subjektive Erregung und Annahme auf Andere übertragen.“114 Daraus folgt, dass nicht „die Dinge […] in’s Bewusstsein [treten], sondern die Art, wie

110 Aristoteles, Rhetorik, Stuttgart, 1999, S. 11. 111 Zit. nach Lacoue-Labarthe, „Der Umweg“, S. 138. 112 Im Griechischen wird „zwischen den beiden Wortbedeutungen ‚Überzeugen‘ und ‚Überreden‘ nicht unterschieden […] – das Verb peithein bezeichnet beides“ (Ottmers, Clemens, Rhetorik, Stuttgart/Weimar, 1996, S. 117). 113 Vgl. ebd., S. 119; näher ausgeführt habe ich den Zusammenhang von Pathos und Logos bzw. Reflexion in: Avanessian, Armen, „Von Formeln und Formen des Pathos – ‚bei Gelegenheit‘ von Goethes ‚Über Laokoon‘“, in: Bewegte Erfahrungen. Zwischen Emotionalität und Ästhetik, hrsg. v. Anke Hennig u. a., Berlin/Zürich, 2008, S. 41–54. 114 Zit. nach Lacoue-Labarthe, „Der Umweg“, S. 89.

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wir zu ihnen stehen, das pithanon“, so Nietzsche, ohne dies als nahezu wörtliches Gerberzitat kenntlich zu machen.115 In den auf die Veröffentlichung der Geburt der Tragödie folgenden Jahren wird Nietzsches Tragödientheorie selbst durch sein neu gewonnenes Verständnis der Rhetorik affiziert. In der Fröhlichen Wissenschaft affirmiert Nietzsche etwa, was er zuvor an der platonischen Auffassung kritisiert hatte. Wohl gegen die aristotelische Bestimmung der Katharsis heisst es da: „Die Athener gingen in’s Theater, um schöne Reden zu hören! Und um schöne Reden war es dem Sophokles zu thun! – man vergebe mir diese Ketzerei“.116 Nietzsche denkt hier die rhetorische Trias von logos, pathos und ethos von der römischen Rhetoriktradition des delectare her weiter.117 Nur unter dieser Voraussetzung kann Platon umgedreht, kann das von diesem Kritisierte, das bloße Scheinen des Scheins in der Kunst, positiv gewendet und vor allem radikalisiert werden. Und in analogen Begriffen beschreibt Nietzsche auch das rhetorikaffine Apollinische in Unterscheidung zur in den Tiefen schlummernden, grausamen Wahrheit des rhetorikrepugnanten Dionysischen.118 Wenn Nietzsche künstlerische Verfahren an die Stelle wahrheitsorientierter Philosophie setzt, dann sind seine diesbezüglichen Überlegungen immer auch sprachtheoretisch motiviert. Schon der Aufsatz „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ lässt sich als programmatisch für Nietzsches spielerischen Umgang mit der Philosophie und ihrem Vokabular lesen, wie er teilweise auch schon bei Schlegel zu beobachten war. „Jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet, ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke: und wenn er es zerschlägt, durcheinanderwirft, ironisch wieder zusammensetzt, das Fremdeste

115 Nietzsche, Friedrich, Vorlesungsaufzeichnungen [Darstellung der antiken Rhetorik] (Sommersemester 1874), in: ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe (KGW), hrsg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari u. a., Bd. II.4, Berlin/New York, 1995, S. 426. Josef Kopperschmidts konzise Analysen haben auf die kleine Abänderung, die diese Unfeinheit vielleicht rechtfertigt, hingewiesen: Mit dem von Nietzsche selbst hinzugefügten Term pithanon kann sich Nietzsche nämlich wieder bei seiner Aristoteleslektüre einklinken. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Meijers, Anthonie und Stingelin, Martin, „Konkordanz zu den wörtlichen Abschriften und Übernahmen von Beispielen und Zitaten aus Gustav Gerber, Die Sprache als Kunst (Bromberg, 1871) in Nietzsches Rhetorik-Vorlesung und in ‚Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne‘“, in: Nietzsche-Studien, Bd. 17 (1988), S. 350–368. 116 Nietzsche, Friedrich, Die Fröhliche Wissenschaft, in: ders., KSA, Bd. 3, S. 343–651, hier S. 436. 117 „Schon in den ‚frühen‘ lateinischen Rhetoriken, in Ciceros De inventione und in der Rhetorica ad Herennium, kündigen sich die beiden entscheidenden Veränderungen gegenüber der aristotelischen Systematisierung an. Zum einen wird das ‚mittlere‘, ethisch bestimmte Überzeugungsmittel umgewandt zu einer unterhaltsamen ‚Stimmung‘, womit es eine Bedeutung erhält, die das ethos bei Aristoteles nie besessen hatte. Statt der ethisch motivierten Selbstdarstellung wird das delectare zu einer der realistischen Schilderung verpflichteten und um Wahrhaftigkeit bemühten Darstellung umfunktioniert.“ (Ottmers, Rhetorik, S. 124) 118 Vgl. dazu Niehues-Pröbsting, Heinrich, „Ästhetik und Rhetorik in der ‚Geburt der Tragödie‘“, in: Nietzsche oder „Die Sprache ist Rhetorik“, S. 93–107, hier S. 98.

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paarend und das Nächste trennend, so offenbart er, dass er jene Nothbehelfe der Bedürftigkeit nicht braucht.“119

Nicht nur Komödiant des asketischen Ideals ist Nietzsche, sondern daraus folgend auch jeder anderen Idealität. Mit dem Ziel, den Intellekt, jenen „Meister der Verstellung“120, aus den Zwängen monotheistischer Singularität zu befreien, bejaht er die Mehrdimensionalität des (ästhetischen Sprach-)Spiels. Nietzsche propagiert umordnendes ironisches Zitieren des Gegebenen, ohne ein daraus resultierendes ungebundenes Denken mit Willkür und Beliebigkeit zu identifizieren. Sein Versuch, im außermoralischen Sinn zu denken, bedeutet die Suche nach einem nicht mehr durch ein dogmatisches Wahrheitszentrum teleologisch strukturierten Diskurs. Wahrheit ist in den Augen des Ironikers, der um deren kontingente Konfiguration weiß, rhetorisch konstruiert und ebenso dekonstruierbar. Eine solche ‚Wahrheit‘ wird definiert als ein „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind.“121

Um sich beständig wenn nicht zu befreien, so zumindest beweglich zu halten, bedarf es Neudeutungen, Originalität, produktiver Selbstentwürfe. Konfrontiert mit der Lethargie vermeintlich ewiger Wahrheiten ist ein weiteres Mal (nur) das „künstlerisch schaffende Subjekt“122 gerechtfertigt. Nur ein kreatives, mit den bedeutungskontingenten (Sprach-)Vorgaben ironisch spielendes Subjekt kann sich dem Druck der Konformität einigermaßen entziehen. Alle Metaphern und Worte sind gewissermaßen ‚absolute Metaphern‘ im Sinne Blumenbergs, die sich in kein eigentlich Gemeintes übersetzen lassen. Das schreibt Nietzsche nahezu wortwörtlich von Gerber ab: „Es besteht in Wahrheit so wenig ein Unterschied zwischen der regelrechten Rede und deren sogenannten Figuren, wie zwischen den eigentlichen Wörtern und Tropen“, so Gerber, dem zufolge „eigentlich alles Figuration“ ist, „was man gewöhnliche Rede“ nennt.123 Dass nur vermeintlich rein geistige Operationen bei genauerer (rhetorischer, sprachanalytischer) Betrachtung ästhetischen Grundbedingungen unterliegen,

119 Nietzsche, Friedrich, „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, in: ders., KSA, Bd. 1, S. 873–890, hier S. 888. 120 Ebd. 121 Ebd., S. 880 f. 122 Ebd., S. 883. 123 Bei Nietzsche heißt es: „Ebensowenig wie zwischen den eigentl. Wörtern u. den Tropen ein Unterschied ist, giebt es einen zwischen der regelrechten Rede und den sogenannten rhetorischen Figuren. Eigentlich ist alles Figuration, was man gewöhnliche Rede nennt.“ (KGW, Bd. II.4, S. 427; vgl. Meijers und Stingelin, „Konkordanz“, S. 358.)

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verstärkt das ironische Potenzial der epistemischen Spaltungen und systemischen Ausdifferenzierungen der Moderne. Ethische Unterscheidungskriterien können höchstens zwischen gelungenen und befreienden Selbstdeutungen einerseits, aufgezwungenen und lebensfeindlichen andererseits ausgemacht werden, „denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt gibt es keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten“.124 Wie schon bei den Frühromantikern bedingen sich hier Erkenntnistheorie und ethische Überlegungen gegenseitig in ihrer Akzentuierung kontingent-ironischer Formung in jeweils neuen Kontexten. Was Nietzsche „ästhetisches Verhalten“ nennt, ist nun aber nicht mit dem oben analysierten Symbol (Kants oder Schillers) zu verwechseln. Weder um einen Ausdruck eines Inhalts durch seine Form handelt es sich, noch wird ein gelungenes Gleichgewicht intendiert, sondern die bewusste Akzentuierung jeder Bedeutungsgebung als eines poietischen Akts. Nietzsche gilt allgemein als Drehscheibe für die spätere, noch weiter gehende ‚Ästhetisierung des Diskurses‘. Schon bei Friedrich Schlegel finden sich freilich Ansätze zu einer Entgrenzung und Intensivierung der romantischen Universalpoesie in seinem Verständnis von Ironie als ars vitae, der „Kunst aller Künste, die Kunst zu leben“.125 Doch wirklich fruchtbar, weil radikaler und zugleich explizit gedacht, wird die Möglichkeit einer ästhetischen Weltauffassung erst bei Nietzsche. Erst bei ihm wird ausgeführt, was sich fragmentarisch schon bei Schlegel und Novalis angedeutet findet. Gleichwohl ist es erst die Radikalisierung der romantischen Sprachtheorie, die Nietzsche zu einem wirklich neuen subjekt- und wahrnehmungstheoretischen Ansatz und der Formulierung einer dementsprechend ästhetischen Realitätsauffassung führt. Letztere impliziert ein positivaffirmierendes Verständnis von Ästhetisierung insofern, als sie jener grundsätzlichen Metaphorizität unserer Apperzeption von Welt offensiv begegnet, die heute, weit weniger aufgeregt formuliert, kaum noch bestritten wird. Denn „unser alltägliches Begriffssystem, nach dem wir sowohl denken als auch handeln“, so George Lakoff und Mark Johnson über unser Leben in Metaphern, ist „im Kern und grundsätzlich metaphorisch“.126 Wie schon im Falle der Frühromantik wurden die weitreichenden Konsequenzen von Nietzsches auch seinen Zeitgenossen meist unbekannten sprachtheoretischen Überlegungen eher in Gestalt ethischer oder kultursoziologischer Phänomene prominent. Gleichwohl wird Nietzsches ironische Befragung der Metaphysik philosophisch erst von seiner rhetorischen Sprachphilosophie her einsichtig. Am Anfang steht die Frage, ob „es denn nicht erlaubt [ist], gegen Subjekt, wie gegen Prädikat und Objekt, nachgerade ein Wenig ironisch zu sein? Dürfte sich

124 Nietzsche, „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, S. 884. 125 Schlegel, KA, Bd. 2, S. 143. 126 Lakoff, George und Johnson, Mark, Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg, 1998, S. 228 f.

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der Philosoph nicht über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben?“127 Erst von diesen rhetorischen Fragen ausgehend kann Ironie (ethisch) konkret werden und sich in Figuren und Lebensstilen materialisieren. III. KOSTÜM UND MASKE

III. KOSTÜM UND MASKE „Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiss auch nicht verstanden werden.“128 „Hört mich! denn ich bin der und der. Verwechselt mich vor Allem nicht!“129 Friedrich Nietzsche

Wenn im Folgenden die Themenbereiche von ‚Kostümierung‘ und ‚Maske‘ diskutiert werden, dann soll das nicht nur mit Bezug auf die zugrunde liegende Ironietheorie der jeweiligen Autoren geschehen, sondern auch im Hinblick auf sozialgeschichtliche Phänomene wie das Entstehen bestimmter Formen von Dandyismus und Flanerie. Erst abschließend soll dann Nietzsches von romantischen Errungenschaften nicht zu trennende Kritik seines romantisch-dekadenten 19. Jahr-hunderts für die Fragestellung der Ironie fruchtbar gemacht werden. Das Vorhaben ist somit ein zweifaches. Einerseits bedarf es des Nachweises, inwiefern die sozialgeschichtlichen Typen ‚Dandy‘ und ‚Flaneur‘ als Konfigurationen des zunächst von Kierkegaard skizzierten ironischen Daseins verstanden werden können. Der von Kierkegaard als Prophezeiung und zugleich als spiegelbildliche Provokation seiner oberflächlichen Gegenwart konstruierte ‚Ironiker‘ findet nämlich erst in diesen späteren Beschreibungen seine wirkungsvollsten Rollen. Wenn das dann zumeist unter anderen Namen geschieht, so ändert das nichts an deren ironischer Disposition. Was Kierkegaard in seiner Dissertation erstmals am Typus ‚Ironiker‘ analysiert, wird in der Folge bei fast gleichbleibendem Argumentations- und Beschreibungsarsenal zu festen Merkmalen von Ästhetiker, Flaneur und Dandy. Nach dem schon rhetorologisch und sprachtheoretisch diskutierten Muster motivieren der umfassende Geltungsanspruch und die zunehmende Eroberung von sozialem Terrain auch die ethische Ironie zu Gestaltwechseln und nominellen Ausdifferenzierungen und Abwandlungen. Zuallererst an Ironie kritisch beobachtete Momente werden in der (zeitlichen) Folge zu allgemeinen Charakteristika der Epoche. Ihre Durchsetzung ist so vollständig, genauer: ihre variantenreiche Immersion ist eine so geschmeidige, dass die diversen Ausformulierungen und Anwendungen nur selten offen als solche von Ironie 127 Nietzsche, Friedrich, Jenseits von Gut und Böse, in: ders., KSA, Bd. 5, S. 9–243, hier S. 54. 128 Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, S. 633 f. 129 Nietzsche, Friedrich, Ecce Homo, in: ders., KSA, Bd. 6, S. 255–374, hier S. 257.

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sichtbar sind. Tatsächlich ist es so, dass die kulturell und historisch ausdifferenzierten Transformationen der Ironie mit deren nominellem Verschwinden einhergehen und somit oft überhaupt erst als ironische rekonstruiert werden müssen. Aber wie genau transformiert sich Ironie in ihre diversen ästhetischen oder ästhetizistischen Manifestationen? Und wie vollzieht sich im Laufe einiger Jahrzehnte der Wandel eines philosophisch-sprachtheoretischen Konstrukts einiger verstiegener frühromantischer Ästhetiker zu einem Kampfbegriff im kulturkritischen Jargon? Um das zu verstehen, muss nachvollzogen werden, wie und mit welcher inneren Konsequenz das zu Beginn des Jahrhunderts (bei Schlegel) in fragmentarischen Ansätzen Vorgedachte und Formulierte, dann durch eine auf Missverständnissen beruhende und doch zielsichere Kritik (Hegels) fast gänzlich aus der offiziell praktizierten Philosophie Verdrängte in der Folge von an Zeitströmungen direkter angeschlossenen kunsttheoretisch-literarischen Diskursen wieder aufgenommen wird.130 Nach der rhetorologischen Transformation der modernen Ironie steht nun die zweite Verschiebung, hin zu ethischen Fragen, zur Diskussion. Gegen die noch immer vorhandene „tendency of critics […] to regard irony as little more than a series of techniques and strategies“ hat Alan Wilde darauf aufmerksam gemacht, dass Ironie spätestens seit Kierkegaard „as a mode of consciousness, an all-encompassing vision of life“ in Erscheinung tritt.131

1. Noch einmal: Nietzsches ästhetische Existenz „Sich selbst dichten, stimmen“ und sein Leben daraufhin „poetisch genießen“, so lauteten die zentralen Beschreibungen des Ironikers bei Kierkegaard. Schon in seiner beherrschten Dissertation definiert er, „Goethes Dichterexistenz“ sei „eben deshalb so groß gewesen, weil er sein Dasein als Dichter in Übereinstimmung zu bringen wußte mit der Wirklichkeit seines Lebens. Dazu gehört wiederum Ironie, jedoch wohlzumerken beherrschte Ironie“.132 Mit dem radikalisierten Verständnis von Ironie schon in Entweder – Oder verschwindet dieses Unterscheidungsmerkmal zwischen realer und dichterischer Existenz. Mehr noch und in Konsequenz daraus: Gerade dass diese Grenze nicht mehr aufrechterhalten werden kann, wird Kierkegaard dem Ästhetiker – aus dem ‚Ironiker‘ ist in Entweder – Oder folgerichtig der ‚ästhetisch Lebende‘ geworden – vorhalten. 130 In der zweiten Hälfte des philosophisch-ernsten 19. Jahrhunderts werden Grenzgänger wie ‚Ästhet‘, ‚Ironiker‘, ‚Flaneur‘ oder ‚Dandy‘ kaum akademisch thematisiert. Und schon davor spannt sich die Beziehung zwischen (universitärer) Philosophie und Literatur immer mehr – exemplarisch dabei wieder Kierkegaards Entweder –, bis die Kommunikation fast zur Gänze abreißt. Der von Hegel angestrebte Ausschluss der ansonsten weiterhin allgegenwärtigen Ironie aus der vernünftigen Philosophie(geschichte) war lange Zeit erfolgreich. Auch von dieser Seite her zeigt sich eine Verschiebung des Ironiediskurses Mitte des 19. Jahrhunderts, welche zugleich eine Verabschiedung der Philosophie von vorrangig literarisch-lebensweltlichen Problemen gewesen ist. 131 Wilde, Horizons of Assent, S. 3. 132 Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, S. 329.

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So stellt sich der Herausgeber des Tagebuchs des Verführers die Frage nach der „dichterischen Natur des Verfassers“, soll heißen nach dem Selbstgenuss als dem poetischen Surplus des Verführers. „Das Poetische war das Mehr, das er selbst mitbrachte. Dieses Mehr war das Poetische, das er in der poetischen Situation der Wirklichkeit genoß […]. Dies war der zweite Genuß, und auf Genuß war sein ganzes Leben berechnet.“133 Gemäß einer bereits mehrfach diskutierten paradoxen Denkfigur folgt daraus, dass „sich seine Persönlichkeit [verflüchtigte], und so genoß er denn die Situation und sich selbst in der Situation“.134 Die Wirklichkeit ist dem Ästhetiker nur mehr okkasioneller „Anlaß, als Moment“, um schließlich im Poetischen zu ertrinken.135 Erst Nietzsche aber hat das Konzept poetischen Lebens dann theoretisch stichhaltig in ein Projekt philosophischer Lebenskunst zu integrieren versucht. Nur in Entsprechung zu seiner Transformierung von Moral in Ethik macht Nietzsches ‚Lebenskunstlehre‘ philosophisch Sinn.136 Nicht zu Unrecht wurde in diesem Zusammenhang auf die Ähnlichkeit mit Ricoeurs „lebendiger Metapher“ hingewiesen, welche „eine andere Dimension der Wirklichkeit“ aufdecken und damit eine „neue Deutung der Welt und unserer selbst“137 freisetzen soll. Nietzsches Aufforderung zur bewussten Metaphernbildung ist nicht als Ausdruck artifizieller Beliebigkeit zu lesen, sondern als präziser ethischer Imperativ, ‚derjenige zu werden, der man ist‘. Also sprach Zarathustra: „Eure eignen Sinne sollt ihr zu Ende denken! Und was ihr Welt nanntet, das soll erst von euch geschaffen werden: eure Vernunft, euer Bild, euer Wille, eure Liebe soll es selber werden!“138

133 Kierkegaard, Entweder – Oder, S. 354. 134 Ebd. 135 Ebd. Trotz Kierkegaards klarer Distinktion zwischen dem poetischen Christen, der sich von Gott dichten lasse, und dem Ironiker, der sich im griechischen Sinn selbst dichte – „[d]aß man ein Narr in dieser Welt werde, das hat der Ironiker auf seine Weise verwirklicht, nur daß er nichts dem Martyrium Ähnliches empfindet, denn für ihn ist es der höchste poetische Genuß“ (vgl. Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, S. 287) –, können beide für das Interesse an einer Hermeneutik poetischen Lebens herangezogen werden. 136 Wie schon bei seinen antiken Vorgängern (Epikur, den Stoikern etc.) ist Nietzsches Lebensphilosophie eingebettet in einen Kosmos skeptischer Ontologie. Wo das nicht ausreichend thematisiert wird, liegt die Gefahr einer rein ‚lebenstechnischen‘ Nietzschelektüre nahe. Exemplarisch dafür ist Nehamas’ Reduktion der ewigen Wiederkehr auf eine „theory of the self“ (vgl. Nehamas, Alexander, Nietzsche. Leben als Literatur, Göttingen, 1991; zum Thema vgl. in diesem Zusammenhang Schmid, Wilhelm, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt am Main, 1992, speziell S. 181–199). Deswegen gilt es hier Nietzsches ‚Ästhetik der Existenz‘ im Zusammenhang seiner Sprachtheorie zu analysieren. Nie gehen Nietzsches philosophische Konzepte in Lebensratschlägen auf. Paradoxerweise scheint die Unlebbarkeit von Nietzsches radikalen Überlegungen ihrer Attraktivität keinen Abbruch zu tun; vgl. in diesem Zusammenhang auch Schacht, Richard, „On Self-Becoming. Nietzsche and Nehamas’ Nietzsche“, in: Nietzschestudien, Bd. 21 (1992), S. 266–280, sowie zu Nehamas’ Lehrer Rorty: Conway, Daniel W., „Disembodied Perspectives. Nietzsche contra Rorty“, ebenfalls in: Nietzschestudien, Bd. 21 (1992), S. 281–289. 137 Zit. vgl. Tebartz-van Elst, Anne, „Ästhetischer Weltbezug und metaphysische Rationalität“, in: Nietzsche oder „Die Sprache ist Rhetorik“, S. 109–125, hier S. 122. 138 Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra, in: ders., KSA, Bd. 4, S. 109.

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Die Frage der Darstellung ist solcher Philosophie keine äußerliche. So sieht sich Nietzsche über „viele Möglichkeiten des Stils“ verfügen, „die vielfachste Kunst des Stils überhaupt, über die je ein Mensch verfügt hat“, wie in Ecce homo139 zu lesen ist. ‚Stil‘ ist nun wie ‚Rhetorik‘ nicht als etwas Äußerliches zu verstehen, sondern als eine Möglichkeit innerer Aneignung. Nietzsche schafft sich ironisch selber aus dem vorgefundenen oder angelesenen und aus dem selbstproduzierten oder -geschriebenen Material. Seine Bücher, die immer auch seine Lebenskunstbücher sind, weisen stets eine bestimmte Formproblematik auf, nämlich das Schwanken zwischen exzessivem Wuchern und klassischem Formideal der Kohärenz. Zu Gebote steht Nietzsche hier eine wiederum von nachträglich verklärender Ästhetisierung zu unterscheidende konstruktive Stilisierung. Immer weiter entfernt er sich so von transparenter Kohärenz, welche die Voraussetzung allgemeiner Verständlichkeit ist. Typisch für Nietzsches eigentümliche Denkbewegung sind Fragmente wie das folgende. „Es ist Mythologie zu glauben, daß wir unser eigentliches Selbst finden werden, nachdem wir dies oder jenes gelassen oder vergessen haben. So dröseln wir uns auf bis ins Unendliche zurück: sondern uns selber machen, aus allen Elementen eine Form gestalten – ist die Aufgabe! Immer die eines Bildhauers! Eines produktiven Menschen! Nicht durch Erkenntniß, sondern durch Übung und ein Vorbild werden wir selber! Die Erkenntniß hat bestenfalls den Werth eines Mittels.“140

Ironisch ist diese Stilisierung im Wissen um die Kontingenz des Vorhabens und des jeweiligen Ergebnisses, melancholisch ist die Einsicht, dass das produzierte Selbstbild auch ganz anders hätte ausfallen können. Parodistisch vervielfältigen Nietzsches Stile die textuellen Vorgaben, von denen die Figur des Zarathustra nur eine ist. Derridas Analyse von Nietzsches stilistischen Strategien hat auf die idiosynkratische Komponente von dessen Aussagen auch über Frauen hingewiesen.141 Die genaue sprach- und metaphernbewusste, dekonstruktive Lektüre erweist die textuellen Effekte, welche die misogynen Plattitüden ihres Autors konterkarieren. Inhaltlich entspricht dem, dass auch Schauspielerei und Verstellung, also Dekadenzphänomene, denen Nietzsche oft (mit machistischem Zynismus) halbherzige Geradlinigkeiten entgegensetzt, an jenen Stellen, an denen Nietzsches Denken auf der Höhe seiner Einsichten und letztlich seines Stils ist, ausdrücklich affirmiert werden. Was an den Griechen als ‚Oberflächlichkeit aus Tiefe‘142 gelobt wird, ist Frauen dann geradezu wesentlich zu eigen. Denn es „giebt Frauen, die, wo man bei ihnen auch nachsucht, kein In-

139 Nietzsche, Ecce homo, S. 304. 140 Nietzsche, Friedrich, Nachgelassene Fragmente, Ende 1880, 7[213], in: ders., KSA, Bd. 9, S. 361. 141 Vgl. Derrida, Jacques, „Sporen, die Stile Nietzsches“, in: Nietzsche aus Frankreich, hrsg. v. Werner Hamacher, Frankfurt am Main, 1986, S. 129–168, hier S. 152, und Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, S. 170–178. 142 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 352.

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neres haben, sondern reine Masken sind“.143 „Man hält das Weib für tief – warum? weil man nie bei ihm auf den Grund kommt. Das Weib ist noch nicht einmal flach.“144 Aber auch die gängige Metaphorik von Tiefe und Flachheit, mit der Nietzsche hier operiert, ist keine endgültige. Seine paradox-ironische Theorie – als ‚Philosophie der Gänsefüßchen‘ hat er sie auch definiert – wird letztendlich von der metonymischen Qualität von Sprache zu einer Verabschiedung jedweder Konzeption authentischer Subjektivität überredet. Den Zusammenhang zwischen ‚Weib‘ und ‚Wahrheit‘ anders zu fassen, ist dabei nicht zuletzt das Verdienst schon der Anfangstakte von Jenseits von Gut und Böse. „Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist –, wie? ist der Verdacht nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden? dass der schauerliche Ernst, die linkische Zudringlichkeit, mit der sie bisher auf die Wahrheit zuzugehen pflegten, ungeschickte und unschickliche Mittel waren, um gerade ein Frauenzimmer für sich einzunehmen? Gewiss ist, dass sie sich nicht hat einnehmen lassen“.145

Auch dazu fehlt den Dogmatikern jedwede Potenz. Denn „jede Art Dogmatik steht heute mit betrübter und muthloser Haltung da. Wenn sie überhaupt noch steht!“146 Das Geheimnis uneinnehmbarer, kulturell oft weiblich konnotierter veritas ist dasjenige des Lebens selbst. Nach dem Tod des christlichen Herrensignifikanten performiert Nietzsche gerade in seinem Schreiben das ursprünglich lebensspendende Moment der Scheinhaftigkeit. In mimetischer Annäherung an von ihm als ‚feminin‘ Apostrophiertes verschwimmen die Grenzen zwischen Erkenntnisinteresse und fröhlichem Spiel der Masken. Mit metaphysischen Eindeutigkeiten ist weder Staat zu machen noch ein modernes Leben zu führen. Deswegen setzt Nietzsche gegen den ‚deutschen Ernstdiskurs‘147 seiner Zeit immer wieder ironiestrategisch auf Frankreich und Italien.

2. Das Nachleben der Ironie als Maske Wenn der Altphilologe Nietzsche von ‚Maske‘ spricht, bedeutet das nicht einfach einen entfernten Bezug zu dem verstellenden Phänomen der Ironie, sondern eine präzise Wiederbelebung ihrer philosophischen Bedeutsamkeit unter anderem Namen. Schon Cicero übersetzte „ea dissimulatione, quam Graeci ειρώνεια vo143 Nietzsche, Friedrich, Menschliches, Allzumenschliches, in: ders., KSA, Bd. 2, S. 270. Zum Verhältnis von ‚Oberflächlichkeit‘ und ‚Tiefe‘ vgl. auch Kositzke, Boris, „Rhetorik und Erotik bei Nietzsche“, in: Nietzsche oder „Die Sprache ist Rhetorik“, S. 183–195, hier S. 187. 144 Nietzsche, Friedrich, Götzen-Dämmerung, in: ders., KSA, Bd. 6, S. 55–161, hier S. 63. 145 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, S. 11. 146 Ebd. 147 Zum deutschen Ernstdiskurs (auch) zu Nietzsches Zeiten vgl. Bohrer, Karl Heinz, „Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes: Das Problem“, in: ders. (Hrsg.), Sprachen der Ironie. Sprachen des Ernstes, Frankfurt am Main, 2000, S. 11–35.

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cant“.148 Das greift Nietzsche mit dem Term ‚Verstellung‘ altphilologisch korrekt auf. Es sind die ihm suspekten romantischen Konnotationen von Ironie, welche ihn diese andere, unscheinbare Bezeichnung wählen lassen. Er wendet den Begriff wieder zurück auf ein erkenntnistheoretisch wie lebensphilosophisch relevantes Gebiet, ohne das moderne Reflexionsniveau zu verlassen, das schon für Schlegel Mittel, Anlass und Möglichkeit zur Rekonzeptualisierung von ‚Ironie‘ war.149 Und selbst Quintilians rhetorische Umkehrdefinition der Ironie, „contrarium ei quod dicitur intelligendum est“150, findet ihren Nachhall bei Nietzsche. So formuliert Abschnitt 40 von Jenseits von Gut und Böse die in der Folge bejahte Frage: „Alles, was tief ist, liebt die Maske […]. Sollte nicht erst der Gegensatz die rechte Verkleidung sein […]?“151 Überhaupt liest sich der Abschnitt, der viel von einer um Verständnis bittenden Selbstbeschreibung hat, wie eine seltene Referenz an Sokrates. „Es giebt Vorgänge so zarter Art, dass man gut thut, sie durch eine Grobheit zu verschütten und unkenntlich zu machen“152, lautet ein Topos, der noch einmal die bekannte Figur in Erinnerung ruft, nämlich Sokrates’ Silenmaske in der Beschreibung des Alkibiades in Platons Symposion: äußerlich unangenehm, aber voll innerer Schönheit. ‚Maske‘ steht bei Nietzsche immer auch unter den defensiven Vorzeichen von ‚Heilung‘ und ‚Schutz‘. „Ein solcher Verborgener, der aus Instinkt das Reden zum Schweigen und Verschweigen braucht und unerschöpflich ist in der Ausflucht vor Mittheilung, will es und fördert es, dass eine Maske von ihm an seiner Statt in den Herzen und Köpfen seiner Freunde herum wandelt; […] um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske, Dank der beständig falschen, nämlich flachen Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er gibt.“153

Sieht man einmal von Nietzsches elitärer Tiefenmetaphorik ab, so wird Maskenironie begreifbar nicht als bewusst eingesetzte Mystifizierung, sondern als schützender und vor allem automatisch sich vollziehender Reflex. Solches ‚Pathos der Distanz‘ funktioniert letztlich auch als kontextueller Effekt – unbeherrscht vom jeweiligen Träger. Nur mehr als ironisch gebrochene lässt sich die Sehnsucht nach Verständigung aufrechterhalten.

148 Cicero, Marcus Tullius, Akademische Abhandlungen Lucullus, Hamburg, 1995, S. 22. Zu Ciceros Definition vgl. auch Behler, Ernst, „Nietzsches Auffassung der Ironie“, in: Nietzschestudien, Bd. 4 (1975), S. 1–35. 149 Nietzsche scheint Schlegels ästhetische Ironie nicht rezipiert zu haben. Zum Verhältnis Nietzsches zur Romantik vgl. generell Hennemann Barale, Ingrid, „Subjektivität als Abgrund. Bemerkungen über Nietzsches Beziehung zu den frühromantischen Kunsttheorien“. 150 Vgl. ebd. 151 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, S. 57. 152 Ebd., S. 58. 153 Ebd.; vgl. hierzu auch Bräutigam, Bernd, „Verwegene Kunststücke. Nietzsches ironischer Perspektivismus als schriftstellerisches Verfahren“, in: Nietzschestudien, Bd. 6 (1977), S. 45–63.

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IV. DANDYISMUS UND VERWANDTES IV. DANDYISMUS UND VERWANDTES

„Seine Liebe zum Dandysmus war keine glückliche. Er besaß die Gabe nicht, zu gefallen, welche ein so wichtiges Element in der Kunst des Dandys, nicht zu gefallen, ist.“ Walter Benjamin154

1. Ästhet, Flaneur, Dandy – Baudelaire Als bekanntester Modus ästhetischer Existenz kann wohl der Dandy gelten. Trotzdem oder gerade deswegen ist es schwierig, aus den teilweise widersprüchlichen (Selbst-)Beschreibungen dieses Typs ästhetischer Existenz ein kohärentes Bild zu gewinnen. Gleichwohl ist eine hinreichend präzise Definition des Dandys notwendig, um ihn von anderen historischen Entfaltungen ‚stilisierter Existenz‘ abgrenzen zu können.155 Einer Aufzählung Walter Benjamins zufolge gab es im 19. Jahrhundert neben dem „Passanten, welcher sich in die Menge einkeilt […] auch noch den Flaneur, welcher Spielraum braucht und sein Privatisieren nicht missen will […]. So protestiert er gegen die Arbeitsteilung, die die Leute zu Spezialisten macht. Ebenso protestiert er gegen deren Betriebsamkeit. Um 1840 gehörte es vorübergehend zum guten Ton, Schildkröten in den Passagen spazieren zu führen.“156

Der Flaneur spaziert als Privatmann und Persönlichkeit und weiß sich noch sicher von der Menge abzugrenzen. Und er flaniert in dem so kurzzeitigen architektonischen Phänomen der Passage, welche Benjamin als sein „natürliches“ Terrain beschrieben hat. Deren „Verfallsform [...] Warenhaus“ ist dann nur noch „der letzte Strich des Flaneurs“, der nun „durchs Labyrinth der Ware wie vordem durch das städtische“157 irrt. Ähnliche Gefahren begleiten auch den Dandy. Doch unterscheiden sich die beiden ästhetischen Existenzweisen in wichtigen Nuancen. Zwar ist schon der Flaneur „ein Preisgegebener in der Menge“158, doch noch von keiner Masse bedroht. „Être hors de chez soi, et pourtant se sentir partout chez soi“159, war das 154 Benjamin, Walter, „Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, S. 509–690, hier S. 600. 155 Schon Baudelaire war in seinen Überlegungen zum Dandyismus um Abgrenzung und Bereinigung von Missverständnissen bemüht: „Le dandysme n’est même pas, comme beaucoup de personnes peu réfléchies paraissent le croire, un goût immodéré de la toilette et de l’élégance matérielle.“ (Baudelaire, Charles, „Le peintre de la vie moderne“, in: Œuvres complètes, hrsg. v. Claude Pichois, Paris, 1975–1976, Bd. 2, S. 683–724, hier S. 710.) 156 Benjamin, „Charles Baudelaire“, S. 556. 157 Ebd., S. 557. 158 Ebd. 159 Baudelaire, „Le peintre de la vie moderne“, S. 692.

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von Baudelaire beschriebene Ideal des beobachtenden Flaneurs, der überall sein Inkognito wahrt, also zumindest noch etwas zu bewahren hat. Als Beobachter ist er „un moi insatiable du non-moi“, aber eben noch ein moi, das wie ein immenser Spiegel, wie ein mit Bewusstsein ausgestattetes Kaleidoskop, die Welt in sich selbst reflektiert. Letztlich genießt dieser flanierende Beobachter also sich selbst, er ist ein „prince qui jouit partout de son incognito“.160 Mehr noch aber sind ihm die frühen Dandies, die Baudelaire in der Serie von Aufsätzen mit dem Titel „Le Peintre de la vie moderne“ in den frühen 1860er Jahren, also bereits aus zeitlicher Distanz beschreibt, ein repräsentatives Phänomen der Moderne, tauglich, diese verständlich zu machen. Ähnlich der Schutzfunktion, die Nietzsche der ironischen Maske zuspricht, interpretiert Baudelaires Essay „L’artiste, homme du monde, homme des foules et enfant“ den Künstler unter dem Aspekt von „Genesung“: „[L]a convalescence est comme un retour vers l’enfance“.161 Ausgehend von dem Vergleich mit einem Kaleidoskop sinniert Baudelaire dann über die Möglichkeit einer wiedergefundenen kindlichen Unschuld, welche aber, um sich auszudrücken, männlicher Organe und eines analytischen Geists bedürfe. Erst die Verbindung dieser beiden Elemente ermöglicht Baudelaire zufolge Genie, also das Auffinden von Bleibendem und Schönheit gerade in der per definitionem flüchtigen Moderne. In der Analyse des eigentümlichen Genies des mit ihm befreundeten Karikaturisten Constantin Guys zögert Baudelaire, diesen einen Künstler zu nennen. Präziser meint er ihn als Dandy fassen zu können. „[C]ar le mot dandy implique une quintessence de caractère et une intelligence subtile de tout le mécanisme moral de ce monde; mais, d’un autre côté, le dandy aspire à l’insensibilité.“162 Diese Weigerung mitzufühlen resultiert aus einem Wahrnehmungsmodus, in welchem der Wahrnehmende seine Umgebung nicht mehr als einheitliche und zugleich differenzierte aufzufassen vermag. Statt eine durch welche qualitativen Kriterien auch immer konkretisierte Menge aufzufassen, steht der Dandy einer anonymen Masse solipsistisch gegenüber und weigert sich, diese zur Menge zu individualisieren. Dieser Widerstand des Dandys gegen jede Form von Empathie lässt sich als seine ‚Widernatur‘ bezeichnen. Seine Artifizialität macht den Dandy für Baudelaire zum Träger von Modernität. Diese Ästhetik der Existenz entspricht Baudelaires künstlerischer Suche nach Ewigem im Flüchtigsten. Die Suche nach Modernität muss jedoch über das Genießen des beständigen Wechsels, über das Flanieren hinausgehen. Baudelaires berühmter Aufruf dazu lautet: „de dégager de la mode ce qu’elle peut contenir de poétique dans l’historique, de tirer l’éternel du transitoire“.163 Schon der Essay über den „Héroïsme de la vie moderne“164 von 1846 vari160 161 162 163 164

Ebd. Ebd., S. 690. Ebd., S. 691. Ebd., S. 694. Dessen romantischer Ausgangspunkt lautet noch immer: „Il est vrai que la grande tradition s’est perdue, et que la nouvelle n’est pas faite“ (Œuvres complètes, Bd. 2, S. 493). Trotzdem glaubt Baudelaire aber schließlich die moderne Schönheit bestimmen zu können. Denn das „élément

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iert die beiden entscheidenden Themen: erstens die Suche nach den für die Moderne typischen Leidenschaften und Schönheiten, zweitens die damit verbundene ethische Haltung des Dandyismus, Letzterer verstanden als apollinisches Erfassen des Flüchtigen. Damit wird Baudelaires Abgrenzung von einem trivialen Dandyverständnis deutlich. Der Dandy wird nicht durch eine äußerliche Behübschung etwa seiner Kleidung definiert, sondern vor allem durch eine am ehesten spekulativ zu nennende Ethik, eine intensive ethische Auseinandersetzung mit den in der Moderne explizit gewordenen ironischen Spaltungen. Auch Roland Barthes zufolge ist „das Dandytum etwas anderes […] als nur eine Frage der Aufmachung“, nämlich zuallererst „eine Ethik“ und „auch eine Technik“.165 Äußerlichkeiten wie tadellose Kleidung sind „pour le parfait dandy qu’un symbole de la supériorité aristocratique de son esprit“, nur Mittel zur „distinction“.166 Das Baudelaire’sche Pathos der Distanz begreift den Dandy als typisches Phänomen von Übergangsepochen. „Le dandysme est le dernier éclat d’Héroïsme dans les décadences“167, schreibt Baudelaire dreifach unübersetzbar. Er ist der letzte Splitter, der einen Glanz vergangener Epochen in eine Zeit hinüberrettet, in welcher dieser nur mehr als ein Skandalon erscheinen kann. Dies ist der innere Kern aller Provokationen jenes übertriebenen „culte de soi-même“ – Baudelaire beschreibt den Dandyismus als Religion, als Spiritualismus, als Stoizismus oder geistige Gymnastik168 – und zugleich die Wurzel des Heroismus des Baudelaire’schen Dandys. Der Dandy muss Kälte ausstrahlen. Coolness ist die notwendige Voraussetzung eines gleichzeitig ethischen und ästhetischen Imperativs Baudelaires, um sich nicht, wie noch der Flaneur, von der Faszination der Menge hinreißen zu lassen. Es sind betont virile Metaphern, mit denen Baudelaire den Dandyismus als Sport und „règle monastique la plus rigoureuse“ umschreibt. Analog dem heroischen Genie, das Ewiges in den flüchtigsten Augenblicken aufzufinden weiß, wird so auch der Dandyismus als ewige Widerstandshaltung „aux époques transitoires“ lesbar. Sein Schlachtruf lautet: „détruire la trivialité“.169 Eine verwandte Problemstellung wird sich an der großen Romanliteratur – von Cervantes bis Flaubert und über diesen hinaus – zeigen: als Mangel an literarisch beschreibbaren Helden. Schon Balzacs Welt ist die großstädtische von Paris, in der Lucien de Rubempré kein Held mehr, höchstens noch ein Dandy ist. „Denn der moderne Heros ist nicht Held, sondern Heldendarsteller. Die heroische Moderne erweist sich als ein Trauerspiel, in dem die Heldenrolle verfüg-

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particulier de chaque beauté vient des passions, et comme nous avons nos passions particulières, nous avons notre beauté“ (ebd.). Barthes, Roland, „Das Dandytum und die Mode“, in: Riten der Selbstauflösung, hrsg. v. Verena von der Heyden-Rynsch, München, 1982, S. 304 f. Baudelaire, „Le peintre de la vie moderne“, S. 710. Ebd., S. 711. Eine „gymnastique propre à fortifier la volonté et a discipliner l’âme. En vérité, je n’avais pas tout à fait tort de considérer le dandysme comme une espèce de religion“ (ebd.). Ebd.

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bar“170, aber, so muss Benjamin hier ergänzt werden, nicht mehr überzeugend zu besetzen ist. Symptomatisch für das Wechselspiel von kalter Ästhetik und heroischer Ethik bei Baudelaire ist denn auch der Abschluss des Essays über einen literarischen Helden der Moderne: „Ô Honoré de Balzac, vous le plus héroïque, le plus singulier, le plus romantique et le plus poétique parmi tous les personnages que vous avez tirés de votre sein!“171 Heroisch sind nicht mehr seine Helden, heroisch ist der Autor selbst – nicht so sehr des Versuches wegen, noch einmal Heroisches zu (be)schreiben, sondern in seiner genuinen Tätigkeit als Künstler überhaupt.

2. Ökonomie des Dandyismus Trotz aller faszinierenden Beschreibungen gelingt es Baudelaire aber letztlich nicht, den Typus Dandy historisch präzise und in seinen zeitspezifischen Unterschieden zu definieren. Er findet ihn überall in der Geschichte, wo noch Reste von Aristokratie bestehen, aber zugleich die uniformierenden Tendenzen demokratischer Politik sich durchzusetzen beginnen.172 Dagegen ist historisch einzuwenden, dass in Wahrheit erst ein ganz bestimmter Mechanismus politischer und ökonomischer Veränderung dazu beigetragen hat, die Dandy-Mode des 19. Jahrhunderts hervorzubringen. Nicht zufällig taucht der Dandy im England der beginnenden Industrialisierung auf, hatte es doch der Adel dort – im Gegensatz etwa zu Frankreich – weniger nötig, sich angestrengt durch sichtbaren Luxus vom aufstrebenden Bürgertum zu unterscheiden. Was bis dahin keiner Revolution gelungen war, das schaffte der Dandy Beau Brummel am englischen Hof Georges IV: Er gab stilistisch den Ton vor. Als „Angehöriger einer Generation, die die Revolution in Frankreich hatte entstehen und vergehen sehen, wollte er mit seinem Stil nicht mehr an die augenfällige Prunksucht der alten Aristokratie erinnern, sondern Eleganz mit Wissen vorstellen. Der erste Dandy war eher ein Vertreter von Klarheit und Strenge als von ausufernder modischer Innovation.“173

Zur Legende: Beau Brummel soll drei Friseure, Spezialisten für Hinterkopf, Schläfen und Stirnlocken sowie einen zusätzlichen Schneider für den Daumen seiner Handschuhe beschäftigt haben und brauchte – nur um dann aber später keinen Gedanken an sein Äußeres verschwenden zu müssen – eigenen Angaben zufolge bis zu zehn Stunden, um sich anzukleiden. Brummel bespielte somit exakt ein bestimmtes Paradox: mit höchstem Aufwand nicht aufzufallen oder um170 Benjamin, „Charles Baudelaire“, S. 600. 171 Baudelaire, Charles, „De l’héroïsme de la vie moderne“, in: Œuvres complètes, hrsg. v. Claude Pichois, Paris, 1975–1976, Bd. 2, S. 493-496, hier S. 496. 172 Vgl. Baudelaire, „Le peintre de la vie moderne“, S. 711; als Beispiele führt Baudelaire Caesar, Catalina sowie Alkibiades an. 173 Poschardt, Ulf, Anpassen, Hamburg, 1998, S. 133.

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gekehrt ohne sichtbaren Luxus allen aufzufallen. Mit Balzacs Traité de la vie élégante gesprochen: „Die wesentliche Wirkung der Eleganz ist: den Aufwand, den sie erfordert, zu verbergen.“174 Folgt man Ulf Poschardt, nimmt Beau Brummel einen entscheidenden Platz in der Geschichte der Konstruktion bürgerlicher Identität ein. Das dem Dandy gewidmete Unterkapitel seines Buches Anpassen trägt interessanterweise den Titel „Dekadenz“, also genau die Kategorie, gegen die Baudelaire den Dandy stark gemacht hatte. Und in der Tat lässt sich der Dandy nur schwer einordnen. Sein Status als ‚rudimentäres Zeichen‘ (Barthes) erklärt auch aktuelle Einschätzungen, wonach Beau Brummel eine subversive Wirkung auf bestehende Klassenprivilegien gehabt haben soll.175 Der „Dandy war abwechselnd Idol und Haßfigur der englischen Society, und mit ihm begann die Geschichte einer Begriffsverwirrung“.176 Entweder wurde der Dandy als Dekadenter oder, von konservativer Seite, als Vertreter einer gewissen steifen Eleganz des viktorianischen Zeitalters betrachtet. Beau Brummel als Vorläufer späterer Dandys und Exzentriker zu interpretieren, ihn also zwischen dem Willen, den Skandal zu provozieren, und dem Ideal unauffälliger Eleganz zu verorten, ist sicher nicht falsch. Aber es genügt nicht, den Dandy auf ein modisches Phänomen, auf seine Beziehung zur Mode zu reduzieren. Denn zunächst widersprechen obige Einschätzungen einander nicht unbedingt. „Ironie und Zynismus“ als wichtigste Waffen der dandyistischen „Geschmacksavantgardisten“177 beinhalten immer ein Moment aristokratischer Verachtung für das modisch Neue. Deswegen ist es unumgänglich, den Dandyismus vor dem Hintergrund seiner ambivalenten Haltung zur Mode als vergänglicher Ware schlechthin zu verstehen. Nur unter starker Betonung eines versuchten heroischen Widerstands gegen diese Vergänglichkeit macht die ironische Engführung von Modischem und Heroischem Sinn. Schon 1855, also zwölf Jahre bevor Marx versuchen wird, diese mit dem Begriff der ‚Fetischisierung‘ zu konzeptualisieren, registriert Baudelaire bei der Pariser Weltausstellung eine Veränderung im Begriff der Ware. Mit dem Beginn der Industrialisierung und dem damit verbundenen Überhandnehmen von Massenwaren ereignet sich eine doppelte Verschiebung: Immer mehr in den Vordergrund tritt der Warencharakter von Objekten, und umgekehrt – daran haben Marx und nach ihm Fritz Haug bei ihren Analysen von Warenästhetik und Warenfetischismus angesetzt178 – tritt die Sichtbarkeit individueller Ar174 Balzac, Honoré de, „Physiologie des eleganten Lebens“, in: Der Dandy. Texte und Bilder aus dem 19. Jahrhundert, hrsg. v. Hans-Joachim Schickedanz, Dortmund, 1980, S. 77–97, hier S. 77. 175 Vgl. Dazu Fillin-Yeh, Susan, Dandies. Fashion and Finesse in Art and Culture, New York/London, 2001, S. 8. 176 Poschardt, Anpassen, S. 135. 177 Ebd., S. 136. 178 Vgl. Wolfgang Fritz Haug (Kritik der Warenästhetik, Frankfurt am Main, 1971, S. 66), der zu ideologischer Vorsicht mahnt: „Es bringt aber nicht weiter, vorschnell diesen Prozeß in Kategorien einer planmäßigen Verschwörung zur Korruption der Massen zu beschreiben. Es ist das Ideal der Warenästhetik, das gerade noch durchgehende Minimum an Gebrauchswert zu lie-

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beitskraft in den Hintergrund. Die von dem Dandy für Adel und Bürgertum gleichermaßen ausgehende Faszination rührt letztlich von diesen Veränderungen her. In Abwandlung von Roland Barthes’ bekannter These, dass die Modeindustrie das Ende des Zeitalters des Dandys eingeläutet habe, kann dieser auch verstanden werden als „der Erlöser der Dinge, derjenige, der mit seiner Eleganz ihren Sündenfall, die Ware, auslöscht“.179 Das ist die neue Religion des Dandys, die raison d’être der offensichtlichen Fetischisierung seiner Kleidungsstücke wie zuletzt seiner selbst. Der Propriofetischismus des Dandys kann also als als eine neuartige Form ökonomischer Besetzung verstanden werden. Auf der einen Seite steht der melancholische Abzug allen Interesses von der Außenwelt. Freudianisch gedacht, wird Libido ins Ich zurückgezogen, was den extremen Narzissmus des Dandys bedingt. Zugleich entleert sich das Dandy-Ich aber auch jedes Inhalts: „Which of the lakes do we prefer“, so soll Beau Brummel eine an ihn gestellte Frage an seinen Diener weitergeleitet haben. Dass er noch seine persönlichen Vorlieben delegierte, ist Ausdruck seiner maskenhaften Oberfläche, von reiner personaler Hülle ohne Individualität. Dies ist der zu entrichtende „Preis, den die absolute Freiheit von der Notwendigkeit zu zahlen hat, in einem gewissen Sinn das Leben selbst, bzw. seine Lebendigkeit; der Preis, um den allein man der Last des Lebens ledig sein kann, ist, daß eine Art Ersatzleben zurückbleibt, ein künstliches Leben, das seine natürliche Lebendigkeit verloren hat“180,

so Hannah Arendt mit Bezug schon auf antike Autoren. Der ambivalenten Überhebung der Warendinge entspricht auf Seiten des Subjekts eine Verdinglichung. Das hat schon Brummels ehrfürchtiger Biograph Barbey d’Aurevilly beobachtet, dem zufolge dieser sich selbst zum Objekt erhöhte. In der Folge Benjamins hat Giorgio Agamben in diesem Zusammenhang auf die spezifische Doppelrolle von Dandy und Künstler hingewiesen. Der Heroismus des Dandys der Ware gegenüber spiegelt sich in der Situation des freien Schriftstellers Baudelaire. Wie kaum ein Schriftsteller vor ihm sah dieser sich mit dem neuen Phänomen eines kapitalistischen Kunst- und Literaturmarkts konfrontiert. Seine Werke wie seine Konzeption und Vorstellung eines dem entsprechenden Künstlertums zeugen von der Erfahrung zunehmender Kapitalisierung. „Wie das Kunstwerk sich selbst zerstören und entäußern muß, um eine absolute Ware werden zu können, so muß der Künstler-Dandy ein lebender Leichnam werfern, verbunden, umhüllt und inszeniert mit einem Maximum an reizendem Schein, der per Einfühlung ins Wünschen und Sehnen der Menschen möglichst zwingend sein soll“. 179 Agamben, Giorgio, Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur, Zürich/Berlin, 2005, S. 86. 180 Arendt, Hannah, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, 1981, S. 108: „Mit Hilfe ihrer Sklaven konnten die Herren sogar für ihre fünf Sinne einen Ersatz finden, auch die ‚Last‘ des Sehens und Hörens konnte ihnen von ihren Stellvertretern abgenommen werden“. Arendt argumentiert hier mit Bezug auf Herodot oder noch deutlicher Plinius: „Wir gehen mit fremden Füßen, wir sehen mit fremden Augen, wir grüßen mit fremder Erinnerung, wir leben von fremder Arbeit.“ (Ebd., S. 343.)

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den, fortwährend auf ein Anderes gerichtet, ein seinem Wesen nach nicht menschliches und antihumanes Geschöpf.“181

Der Künstler-Dandy vampirisiert sich selber. Die ökonomischen Extreme, die sich in den dadurch paradoxen Äußerungen des Dandys treffen, sind Minimalismus und äußerste Verschwendung. Minimalismus meint hier nicht einfach modische Zurückhaltung, sondern beschreibt den Kern von Brummels Auftreten. „Er hat ein Minimum des Witzes erreicht, indem er ihn, mehr oder weniger treffsicher, zu einem beinahe unsichtbaren Punkt hinführte. […] Die Bedeutung [all seiner Bonmots; A. A.] ist so zurückgenommen, daß zwischen ihnen und dem Nonsens ‚nichts lebt‘: Sie schweben am Rande des Leeren und kommen in ihrer schattenhaften Komposition der Nichtigkeit ganz nahe […]. Wahrlich, seine Kunst liegt darin, aus Nichts Etwas zu machen.“182

Richtig verstanden, gelingt es einzig dem asketischen Minimalisten, Understatement und Arroganz zu vereinen. „Beau Brummels Ironie diente der Mystifikation“183, was ihm, will man den Worten seines ersten Biographen glauben, sphinxhafte Züge verlieh. Seine Antworten brachten für gewöhnlich – und erst das rechtfertigt, von Brummels Ironie zu sprechen – das Gegenteil des Erwarteten, denn „wie alle Dandys liebte er noch viel mehr, Staunen zu erregen, als zu gefallen“.184 Der gesellschaftliche Erfolg von Brummels Arroganz ist auf einen weichlichen Masochismus der society zurückzuführen, die sich blenden, verführen und ihren moralischen Prinzipien Gewalt antun lässt. Impassibilité, coolness, Leidenschaftslosigkeit des Dandys erscheinen so in sadistischem Licht. Mittels Ironie findet Brummel seine Rolle in der Gesellschaft. Schon Baron d’Aurevilly führt die Triumphe Brummels auf eine „insolence du désintéressement“185 zurück. Die Frechheit, sich nicht zu interessieren, verstößt jedoch nicht notwendig gegen die guten Sitten. Sein „ironischer Respekt für Sitte und Anstand, die puritanische Moral“186 bedeutet eine Haltung, die exemplarisch für die ethische Problematik der Ironie ist. Ironisch ist selbst noch das Lavieren zwischen (unklar ob geheucheltem oder echtem) Desinteresse auf der einen, spielerischem Respekt vor den puritanischen Sitten auf der anderen Seite. Dass gerade diese Unantastbarkeit das Interesse an seiner Person noch mehr gesteigert hat, war des Dandys ironischer Triumph. Sexuelle Affären Brummels sind nicht überliefert. Vielmehr bedeutet Unantastbarkeit die ästhetische Abgrenzung gegen jede, auch sexuelle, Vulgarität 181 Agamben, Stanzen, S. 90 f. 182 William Hazlitt, zitiert nach Agamben (dort keine genaue Seitenangabe der Primärquelle; vgl. Agamben, Stanzen, S. 95); die auf Brummel applizierte Terminologie ist nicht zufällig eine romantische (Witz, invisibility, Nonsens, Nichtigkeit etc). 183 Gnüg, Hiltrud, Kult der Kälte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur, Stuttgart, 1988, S. 23. 184 Barbey d’Aurevilly, Jules Amédée, Vom Dandytum und von G. Brummel, Nördlingen, 1987, S. 78. 185 Barbey d’Aurevilly, Jules Amédée, Œuvres complétes, Paris, 1926, Bd. 9, S. 246. 186 Gnüg, Kult der Kälte, S. 51.

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und gegen jedes Sich-Gemeinmachen. Hierin lag der Unterschied zu einem „Richelieu und Verführern: kein Lebemann mit Triumphen und Beutestücken des Siegers“ zu sein. „Die Verachtung, die er als Sieger zur Schau trug, erhöhte seine Triumphe. Von dem Schwindel, den er erregte, blieb er selbst frei.“187 Die oben beschriebene Langsamkeit inmitten der Hektik der Masse und der eigentümliche Sinn für Schönheit finden hier zusammen. Gert Mattenklott hat darauf hingewiesen, dass des historischen „Dandys Kleidung zu Langsamkeit [zwingt] und gegen Berührung als Schönheitsverlust“188 gerichtet ist. Der Dandy ist also herausgehoben aus der Menge, aber seine Verführungskraft liegt nicht nur in seiner extravaganten Schönheit. „Der Müßiggänger wird“, glaubt man Balzac, „immer seinesgleichen beherrschen; nachdem er die Dinge nach ihrem Wesen befragt hat und dessen müde geworden ist, verspürt er die Lust, mit den Menschen zu spielen.“189 Unschwer verweisen diese Verhaltensformen und Neigungen auf die enge Verwandtschaft des Dandys mit dem (Kierkegaard’schen) Verführer. Beide verbleiben dem Sexus gegenüber, zumindest über lange Strecken, in einer Position ironischer Indifferenz. Das geistig sublimierte Genießen dieses Inkognitos wird von beiden jedweder Lustempfindung radikal vorgezogen. Um das zu verstehen, ist nur Nietzsches Einsicht zu folgen, wonach man „zu dem Preis Künstler [ist], daß man das, was alle Nichtkünstler ,Form‘ nennen, als Inhalt, als ,die Sache selbst‘ empfindet. Damit gehört man freilich in eine verkehrte Welt: denn nunmehr wird einem der Inhalt zu etwas bloß Formalem, – unser Leben eingerechnet.“190

In dieselbe Richtung gehende Gedanken finden sich schon bei den dandyistischen Lebenskunst-Theoretikern des 19. Jahrhunderts. Dies ist speziell dort der Fall, wo diese wie d’Aurevilly auch auf den Stellenwert von Ironie zu sprechen kommen, also etwa Ironie als Kunst, als Kunst des Lebens definieren: „Die Ironie ist eine Begabung, die alle andern entbehrlich macht.“191 Die geistige Lust an vermeintlich Äußerlichem, an formalen Aspekten stilisierten Lebens, wird also sowohl dem Künstler als auch dem Dandy zugesprochen. Was hier immer wieder als sadistischer Impuls ironischen Spiels in den Blick kommt, verkörpert der ideale Dandy noch natürlicher als der meist emotional (an sein Objekt) gebundene Verführer. Der Dandy von Brummels historischem Format nähert sich einem Zustand reiner Ablösung und versucht die Vergeistigung auf die Spitze zu treiben.192 Baudelaire hat diese Roland Barthes zufol187 Barbey d’Aurevilly, Vom Dandytum, S. 66. 188 Mattenklott, Gert, „Der ästhetische Mensch“, in: Kunst. Die Geschichte ihrer Funktionen, hrsg. v. Werner Busch und Peter Schmoock, Weinheim/Berlin, 1987, S. 233–252, hier S. 238 f. 189 Balzac, „Physiologie des eleganten Lebens“, S. 59. 190 Nietzsche, Friedrich, Nachgelassene Fragmente, Nov. 1887 – März 1888, 11[3], in: ders., KSA, Bd. 13, S. 9 f. 191 Barbey d’Aurevilly, Vom Dandytum, S. 77. 192 Dass auch ein Verführer von der Verführung absehen kann, ist weder eine contradictio in adiecto noch mit der grundsätzlichen Blasiertheit des Dandys zu erklären.

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ge „asketische Philosophie des Dandytums“193 mit misogyn-sadistischer Strenge formuliert und die lange diskutierte Frage, ob ein weiblicher Dandy oder eine ‚Flaneuse‘ denkbar wären194, für das 19. Jahrhundert mit symptomatischer Schärfe zu entscheiden versucht: „La femme est le contraire du Dandy“195, so sie sich nicht selber der Künstlichkeit weiht. Natur bedeutet Verbrechen, dekretiert Baudelaire in seinem „Lob der Schminke“: „La vertu, au contraire, est artificielle, surnaturelle.“196 Es sei geradezu die Pflicht der Frau, „magique et surnaturelle“ zu erscheinen, sich mit allen Mitteln der Künstlichkeit, die ihr zu Gebote stehen, über die Natur zu erheben. „Le rouge et le noir représentent la vie, une vie surnaturelle et excessive; ce cadre noir rend le regard plus profond et plus singulier, donne à l’œil une apparence plus décidée de fenêtre ouverte sur l’infini.“197 Und strukturanalog zu Schlegels oben diskutiertem ästhetischen Wechselspiel von Enthusiasmus und Ironie denkt auch Baudelaire die „deux qualités littéraires fondamentales“ als „surnaturalisme et ironie“.198 Baudelaires (Lebens-)Ästhetik in nuce in seinem Essay über Schminke findet ihre maskuline Verkörperung im Dandy. „Self-purification and anti-humanity“ lautet einer der Formeln seiner „Fusées“199, mit der die oben begonnene ökonomische Deutung des Dandys nun fortgesetzt werden kann. Schon die auf die Spitze getriebene Eleganz Brummels war sich selbst genug, war Selbstzweck, l’élégance pour l’élégance. Es ist ein und derselbe autodestruktive Gestus, der sich bei Dandy und Künstler zeigt: radikale Potenzierung des ästhetischen ‚Moments‘ in ein Jenseits aller inhaltlichen Bedürfnisse und Bestimmungen. Was in der ständigen Weiterreflexion der Frühromantiker nur angedeutet war, teilweise erst hundert Jahre später in Benjamins Dissertation in seiner Relevanz für die Moderne auf den Begriff gebracht wurde, das hat der Künstler-Dandy Baudelaire am eigenen Leib erfahren: die unerbittliche Logik künstlerischer Produktion als selbstzerstörerische, welche durch ein rein immanentes Verständnis von Kunst noch drastischer wird. Kunst folgt auf Kunst folgt auf Kunst. Ein Kunstwerk verdrängt das nächste und fordert bereits ein folgendes. Mehr noch: Die Logik frühromantischer künstlerischer Selbstreflexion hat diesen deproduktiven Konstruktionsprozess bereits innerhalb eines jeden Werks aufgezeigt, welches die Zuschreibung ‚Kunst‘ verdient, in jedem Kunstwerk also, welches in den Worten Friedrich 193 Barthes, „Das Dandytum und die Mode“, S. 307. 194 Zu dieser Diskussion vgl. Fillin-Yeh, Dandies, S. 12. 195 Baudelaire, Charles, „Journaux intimes“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 647–708, hier S. 677; ebd. auch: „La femme est naturelle, c’est-à-dire abominable. Aussi est-elle toujours vulgaire, c’est-à-dire le contraire du Dandy“. 196 Baudelaire, „Le peintre de la vie moderne“, S. 715. 197 Ebd., S. 717. 198 Ebd.; auch die Dialektik von transitoire und éternel wird von Baudelaire analog der frühromantischen Ironie zwischen Endlichem und Unendlichem verortet: „La dualité de l’art est une conséquence fatale de la dualité de l’homme. Considérez, si cela vous plaît, la partie éternellement subsistante comme l’âme de l’art, et l’élément variable comme son corps.“ (Ebd., S. 685 f.) 199 Baudelaire, „Journaux intimes“, S. 659.

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Schlegels wert ist, weiterpotenziert, weiterreflektiert und letztlich zerstört zu werden. Möglicherweise ist der veränderte Objektbezug, der mit dieser dandyistischen Logik einhergeht, am besten als absolutistischer gefasst. Gegen das kapitalistische Warenverständnis, gegen die Verabsolutierung des Tauschwerts, setzt der Dandy auf den Fetisch Kunst. Denn auch die Marx’sche Utopie ist ihm als bürgerlichem Subjekt verschlossen. „Der kapitalistischen Akkumulation des Tauschwerts und dem Genuß des Gebrauchswerts des Marxismus und der Befreiungstheoretiker setzen der Dandy und die moderne Dichtung die Möglichkeit eines neuen Umgangs mit den Dingen entgegen: die Aneignung der Irrealität.“200

Der historische Anspruch des Dandys ist es gewesen, so ließe sich von daher formulieren, die Form/Inhalt-Dichotomie der Ware in einer Weise zu verdrehen, dass sie als ganze zerspringen möge. Unterlaufen wird damit noch jene Logik, die den Versuch einer utilitaristischen Reduzierung der Ware auf ihren Gebrauchswert steuert. Marx’ selbst unter Fetischismusverdacht201 stehende Deutung des Fetischismus tendiert demgegenüber zu einem Verständnis des Tauschwerts als Entfremdung vom ursprünglichen Objektgebrauch. Die hier skizzierte dandyistische Ökonomie verweist dagegen auf einen magischen Ursprung (der Bedeutung) der Objekte. An ihrem Ursprung sind die Dinge nicht zuhanden. Diese Erfahrung bahnt sich in wundervollen Gegenständen, Stoffen und Materialien noch einmal ihren – freilich konsumatorischen – Weg. So wird auch die Durchlässigkeit verständlich, die Brummels Minimalismus gegenüber seinem vermeintlichen ökonomischen Gegenpol auszeichnet: der exaltierten Verschwendungssucht des Dandys. Diese ist die moderne Version des Potlatsch, jener „totale[n] Leistung agonistischen Typs“.202 Nichts lässt einen das (Glücks-)Spiel der Dandys des 19. Jahrhunderts, welches schließlich auch den Ruin Beau Brummels mitverursachte, besser verstehen als dessen scheinbar absurde Logik. Noch die Börse wurde den extremen Dandys zum Spielplatz, um – dies der Unterschied zu professionellen Brokern – auch die Verluste mit stoischem Genuss zu ertragen. Auch der Marcel Mauss zufolge entscheidende Faktor des Potlatsch, nämlich das aristokratisch-stoische Ertragen der Vernichtung des 200 Agamben, Stanzen, S. 90. 201 Vgl. dazu Hartmut Böhmes (Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg, 2006) parallele Kritik am Marxismus (der Konsumismus kaum anders denn als Entfremdung und Verdinglichung begreifen kann) und an der Psychoanalyse (die den sexuellen Fetischismus auf eine Perversion reduziert). Zu Marx’ Theorie des Warenfetischismus vgl. auch Mulvey, Laura, „Some Thoughts on Theories of Fetishism in the Context of Contemporary Culture“, in: October, Bd. 65 (1993), S. 3–20, speziell S. 9 f. 202 Dies ist Marcel Mauss’ Kurzdefinition des Potlatsch, den ich hier eher als ein die Grenzlogik des Kapitalismus berührendes Phänomen verstehe (Herstellung von Handelsbeziehungen, Ursprung der Kreditwesens einerseits und faszinierende Wertvernichtung andererseits) denn im Sinne Batailles als eine Überschreitungslogik (Mauss, Marcel, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, in: ders., Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, Frankfurt am Main, 1997, S. 9–144, hier S. 18).

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Eigentums, gehorcht der hier an Beau Brummel verifizierten Dandyökonomie. Dadurch, dass der vom Dandy verlorene Spieleinsatz jemand anderem zugutekommt, ist schon indiziert, dass die Logik des Potlatsch im modernen Kapitalismus nicht als (politische, ökonomische) Widerstandshaltung taugt. Vielmehr ist sie in die gesellschaftskritisch oft monierte Spirale von Konsum und Verbrauch eingepasst. Hier interessiert freilich ein anderes, vorrangig psychologisch-ethisches Kriterium: die Anziehungskraft des Immer-höher-Setzens und Immer-höhereBeträge-Verlierens. Dies mit würdevoller Haltung zu ertragen, macht den melancholischen spleen aus.203 Je höher der Verlust, desto größer der masochistische Spleengenuss – es sind solche Nischen, in die sich die archaischen Phänomene von Heroismus und Potlatsch zurückgezogen haben.204 ‚Negative Produktivität‘ lässt sich so als Sinn alles Spielens innerhalb dieser dandyistischen Logik verstehen. Selbst Verluste sind hier produktiv, wenn auch freilich nicht mehr dialektisch aufhebbar. Wenn den sogenannten Primitiven205 der Potlatsch zur Anbahnung von Handelsbeziehungen diente, so ist er den Dandys nur mehr theatralisches Mittel der Zurschaustellung von Zerstörung und blasierter Coolheit. In diesem spezifischen Sinn ist der Dandy ein extrem zeitbezogenes Phänomen, auch wenn einzelne seiner Verhaltensformen stets ihre Anwendung finden werden. Schon allein deswegen ist Susan Sontags These einer Erschöpfung von Ironie und Satire nicht zuzustimmen.206 Wie schon im Falle der Ironie als rhetorischer Trope, so kann hier von einer analogen ethischen Ausweitung diesmal einer dandyistischen Logik gesprochen werden. Wobei ohne Bedauern festzuhalten ist, dass mit der Verbreiterung des 203 Zur Herleitung des „spleen“, von lt. splen als Milz, die während des Mittelalters zeitweise als für Melancholie verantwortliches Organ verstanden wurde, vgl. Földenyi, László F., Melancholie, München, 1988, S. 209. 204 Der Logik der Dekadenz folgend, schien es immer höherer Verluste zu bedürfen, um die schwachblütigen Engländer und Aristokraten noch aufzuregen. Walter Benjamin zitiert eine grandiose Beschreibung aus Captain Gronows Aus der großen Welt (Stuttgart, 1908, S. 59, zit. nach Das Passagenwerk, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V.1, S. 613): Es geht um den „Grafen Hunyady, den größten Spieler jener Tage, der damals die ganze Gesellschaft in Aufruhr brachte […]. Hunyadys Glück war lange Zeit wunderbar; keine Bank konnte seinem Angriff widerstehen, und sein Gewinn muß sich auf annähernd zwei Millionen Franken belaufen haben. Sein Benehmen war auffallend ruhig und höchst vornehm; er saß augenscheinlich ganz gleichmütig da, die rechte Hand in seinem Rockbusen, während Tausende von dem Fallen einer Karte oder dem Rollen eines Würfels abhingen: Sein Kammerdiener vertraute indessen einem indiskreten Freund an, dass seines Herren Nerven nicht so eisern wären, wie er die Leute glauben machen wollte, dass vielmehr der Graf am Morgen blutige Spuren seiner Nägel trüge, die er bei einer gefährlichen Wendung des Spiels vor Aufregung sich in das Fleisch seiner Brust drückte.“ 205 Baudelaire verweist auf Dandys in Chateaubriands Berichten aus dem indianischen Amerika. 206 Vgl. ihren Essay „Notes on ‚Camp‘“, in: dies., Against interpretation and other Essays, New York, 2001, S. 275–292. Gewiss unterscheidet den postaristokratischen Dandy einiges von seiner 20.Jahrhundert-Variante Camp und dessen frivol-genießerischem Umgang mit Vulgärem. Was sie aber beide vereint, ist eine extravagante (ethische) Künstlichkeit, das transzendentale Phänomen ästhetischer Modernität schlechthin. Vgl. allgemein zur subversiven Kraft von Ironie oder Humor weiter unten das Unterkapitel zu Ironie und Humor bei Gilles Deleuze im Kap. E. „Ironische Politiken“.

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Phänomens der Verlust seiner sichtbarsten Spitzen einherzugehen scheint. Denn so wie die Zeiten sich ändern, so mit ihnen die Möglichkeiten der Selbststilisierung.207 Was dazwischen verloren ging und was als Fehlen die Differenz zu der späteren kitschigen Dekadenz – etwa von Huysmans Esseintes-Reflexionen in rotem Möbelsamt und geschminkter Luft – überhaupt bezeichnet, ist vielleicht am deutlichsten gefasst mit dem, was Nietzsche und Baudelaire als antiromantisches Gegengift propagierten: Heroismus.

V. HEROISCHE MELANCHOLIE V. HEROISCHE MELANCHOLIE

„Und des Verhältnisses zu sich selbst kann ein Mensch nicht quitt werden, so wenig wie seines Selbsts, was übrigens eines und dasselbe ist, sintemal das Selbst das Verhältnis zu sich selber ist.“ Anti-Climacus208

1. Von (romantischer) Melancholie, Schwermut und Verzweiflung Zu Beginn dieser Studie hat sich Manfred Franks Definition der Ironie als einer Verbindung von Metapher und Metonymie nicht unbedingt als falsch, aber als einseitig erwiesen. Zu vielfältig schillert das Phänomen, als dass eine solche definitorische Festschreibung Bestand haben könnte. Andererseits kann Ironie nicht umfassend verstanden werden, wenn man es unterlässt, die beiden von Frank hervorgehobenen Phänomene zu diskutieren. Deswegen kommen die zwei Strukturmomente einer nicht mehr rein rhetorisch verstandenen Ironie in der Moderne, der metaphorische ‚Witz‘ und vor allem die metonymische ‚Melancholie‘, hier auch als ethische Phänomene in den Blick. Auch unabhängig von dieser rhetorologischen Beerbung bedarf eine Phänomenologie der ethischen Dimensionen der Ironie in jedem Fall einer Klärung des im Zusammenhang der Thematisierung von Ironie ständig wiederkehrenden Motivs der Melancholie. Damit verwandt tauchen auch ‚hypertrophe Phantasietätigkeit‘ und ‚Unvernunft‘ (kalkulierter Wahnsinn qua übersteigerter Witz) über den vermeintlichen Umweg einer Rekonstruktion des theoretischen Gehalts der 207 Der Mod als typischer Dandy der unteren Klassen trug kurze Haare und unsichtbares Haarspray. Spätestens mit ihm wurden dandyistische Verhaltensformen alltagstauglich. Ebenso ist auch Baudelaires noch elitistische Forderung, der Dandy müsse selbst vor Spiegeln schlafen, zu einem bestimmenden Motiv der Dekadenzliteratur der Jahrhundertwende und in den Newwave-Kneipen der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts schlicht unumgänglicher Alltag geworden (vgl. dazu Gnüg, Kult der Kälte, S. 10). 208 Kierkegaard, Furcht und Zittern, S. 13.

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Frühromantik immer wieder als Symptomzuschreibungen der Ironie auf. Einerseits versucht dieses Kapitel also, bisher bloß nebenbei Berührtes resümierend auszuführen und zu systematisieren, andererseits eine Basis für spätere Analysen zu liefern: eine Theorie des Subjekts, der Geburt des Ichs aus dem melancholischen Geist zum Scheitern verurteilter ironischer Nachahmung. Schon beim frühen Schlegel findet sich ein Melancholiker, Hamlet, als emblematische Figur. Peter Szondi ist diesem Motiv (vielleicht zu weit) nachgegangen und hat den frühromantischen Ironiker vornehmlich mit Blick auf dessen Bewusstsein eines Mangels an Welt analysiert. Diesem Mangel begegne Ironie mit dem Versuch, die „kritische Lage durch Abstandnahme und Umwertung auszuhalten“.209 Die ironische „Umwertung läßt dieses Dasein annehmbar erscheinen und verführt zum Verweilen im Bereich des Subjektiven und Virtuellen“210, ist also, mit Szondi verstanden, kaum noch von blindem amor fati zu unterscheiden. Gegen Ende seiner subtilen Analyse greift Szondi zu Argumentationsmustern, die man ansonsten eher aus der Tradition bodenständiger Antiironiker kennt. Szondi zufolge verbietet die „Annahme der eigenen Unfähigkeit […] dem Ironiker die Achtung vor dem dennoch Vollbrachten: darin liegt seine Gefahr. Daß er durch diese Annahme den Weg der Vollendung sich selber verbaut, daß sie sich immer wieder ihrerseits als untragbar erweist und schließlich ins Leere führt, bildet seine Tragik“.211

Bruchlos bindet Szondi den ironischen Künstler an den distanzierenden Beobachter zurück. Dem kühlen Betrachter dann aber die Unvollendetheit als selbstverschuldet vorzuwerfen, scheint hinter die Fragestellung zurückzufallen, welche nicht zuletzt darin besteht, den intrinsischen Zusammenhang der ästhetischen und ethischen Phänomene Ironie und Melancholie herauszuarbeiten. Niemand hat Ironie gründlicher und detaillierter auf diesen ihren melancholischen Untergrund hin untersucht als Kierkegaard. Seine Reaktualisierung des traditionellen Topos Melancholie findet sich hauptsächlich unter den Bezeichnungen ‚Verzweiflung‘ und ‚Schwermut‘. Diese kennzeichnen zunächst die Nachtseiten ästhetischen Existierens. Ihre eingehendere Theoretisierung führt Kierkegaard dann aber zu den zentralen Bestimmungen seiner religiös geprägten Zeitkritik. Auch deswegen sind seine Überlegungen nicht als metaphysische im Sinne einer ewigen conditio humana zu verstehen. Stattdessen ist ihre sozialkritische Prägnanz hervorzuheben. Scheinbar oxymoral formuliert ließe sich von Kierkegaards spekulativen Analysen als ‚zeitspezifisch-ontologischen‘ sprechen. Die Beschreibungen und Analysen des Ironischen und Ästhetischen sind nämlich immer auch als solche der Kehrseiten der aufgeklärten Moderne zu lesen.

209 Szondi, Peter, „Friedrich Schlegel und die romantische Ironie“, in: ders., Schriften, hrsg. v. Jean Bollack u. a., Bd. II, Frankfurt am Main, 1978, S. 11–31, hier S. 24. 210 Ebd., S. 25. 211 Ebd.

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Trotz oder vielleicht gerade wegen seines von Adorno konstatierten ‚altlutherischen Erbes‘, der letztendlichen Sanktionierung des Gegebenen, zeichnet sich Kierkegaard nämlich doch durch eine starke Sensibilität gegenüber den frühkapitalistischen gesellschaftlichen Veränderungen aus. Gegen die ihn umgebenden subjektivitätsfeindlichen Tendenzen der Hegel’schen Philosophie, in der das „Äußere (die Entäußerung) höher [ist] als das Innere“212, setzte Kierkegaard bekanntlich auf eine Zuspitzung von Innerlichkeit. In dieser oben bereits diskutierten213 dramatischen Radikalisierung gegen das ethisch Allgemeine finden sich Ästhetisches und Religiöses vereint im Kampf, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung. „[E]inzig und allein diese Macht“ des Religiösen kann „das Ästhetische herausretten aus seinem Kampf mit dem Ethischen“214. Obwohl Kierkegaard durch diese Anbindung dem Ästhetischen jeden Eigenwert zu nehmen scheint, hat seine Analyse der ästhetischen Sphäre heute noch theoretische Brisanz. Vor allem gilt das für das Moment emphatischer Betonung des Einzelnen in seiner weder vernachlässigbaren noch superioren Exzentrizität. In einer Zeit, die „stark an die Auflösung des griechischen Staats“215 erinnert, hält Kierkegaard an der Illusion der autonomen, heilen Insel Person fest und bewahrt gerade darin ein Stück neuzeitlicher Utopie. Die modernitätstheoretischen Bezüge von Kierkegaards Kritik melancholischer Ironie werden gerade im Vergleich mit einem Autor deutlich, der ihm vordergründig vollkommen entgegengesetzt ist, ihm aber durch Zeitgenossenschaft und ein gemeinsames hegelianisches Erbe näher steht, als es auf den ersten Blick scheint. So entwickelt Marx seine Bestimmung der auch im privaten Bereich wirksamen ‚ökonomischen Charaktermaske‘ vor einem ähnlichen zeitgeschichtlichen Beobachtungshintergrund wie Kierkegaard seine Kritik am maskenhaften Inkognito. Kierkegaards Beschreibung einer weit verbreiteten „Verzweiflung, die einem nicht allein keine Scherereien im Leben verursacht“216, sondern im alltäglichen Betrieb unsichtbar bleibt, hat die Dimension einer kritischen Prophezeiung. Mit Recht wurde in diesem Zusammenhang auf die sozialen Voraussetzungen von Melancholie hingewiesen. Subtil beschreibt Kierkegaard den ethischen Zustand seiner ironischen Gestalten als eine Form schleichenden Selbstverlusts, durch den man „ganz und gar verendlicht wird, daß man anstatt ein Selbst zu sein eine Zahl geworden ist […]. Auf diese Form der Verzweiflung wird man nun in der Welt so gut wie gar nicht aufmerksam. Solch ein Mensch hat, gerade dadurch daß er sich selbst verloren hat, die Vervollkommnungsfähigkeit gewonnen um im Handel und Wandel so richtig mitzugehen, ja um sein Glück zu machen in der Welt. Hier gibt es keinen Aufenthalt, keine Schwierigkeit mit seinem Selbst und dessen Verunendli212 Kierkegaard, Furcht und Zittern, S. 75. 213 Vgl. oben den Abschnitt „Religiöse Inversion der Ironie“ in Kap. C. I. „Böse Romantik bei Hegel und Kierkegaard“. 214 Kierkegaard, Furcht und Zittern, S. 105. 215 Vgl. Adorno, Kierkegaard, S. 56. 216 Kierkegaard, Sören, Die Krankheit zum Tode, Gütersloh, 1985, S. 30.

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chung; er ist abgeschliffen wie ein rollender Kiesel, kursfähig wie eine gangbare Münze. Es ist so weit davon, daß ihn jemand für verzweifelt ansähe, daß er vielmehr gerade ein Mensch ist wie es sich schickt.“217

2. Stimmungslehren Baudelaire hatte die Romantik als eine neue Art zu fühlen bestimmt. Zieht man nunmehr seinen älteren Zeitgenossen Kierkegaard zu Rate, erhält diese Definition zusätzliche Nuancen. Allein die verschiedenen Abschnitte von Entweder lassen sich als eine analytische Variation verschiedenster Facetten der Kategorie ‚Stimmung‘ lesen. So am Beginn des Buches, den diapsalmata, welche zunächst ein passives Verhältnis beschreiben. „Ich scheine dazu bestimmt, alle möglichen Stimmungen zu durchleiden, Erfahrungen in allen Richtungen zu machen.“218 In der folgenden „Wechselwirtschaft“, dem „Versuch einer sozialen Klugheitslehre“, geht es bereits darum, „Stimmungen gebrauchen [zu] können“219 und jeden okkasionellen Lebensmoment voll auszunutzen. Die Aktivität des Subjekts beschränkt sich hier darauf, „Stimmungen in seiner Gewalt“ zu haben, denn „daß man sie beliebig erzeugen könnte, ist eine Unmöglichkeit“.220 In der letzten Zuspitzung des Entweder wird das Unwiderstehliche des Verführers schließlich – dies seine Nähe zur Musik – als seine Herrschaft über das „Reich der Stimmungen“221 bestimmt. So wie schon Schlegel beliebiges ‚Sich-stimmen-Können‘ als einen seiner romantischen Imperative ausgerufen hatte, bringt es Kierkegaards monastischer Verführer („ich bin biegsam, geschmeidig, unpersönlich, fast wie eine Stimmung“222) schließlich auf den Punkt. Dieser Punkt ist der von Karl Heinz Bohrer als Spezifikum der romantischen Zeitwahrnehmung herausgearbeitete Augenblick223, der aus Sicht des ethischen Allgemeinen als substanzlos erscheinen muss. Kierkegaards Dissertation hatte dieses fragmentierte, aus einer Vielzahl unzusammenhängender Augenblicke bestehende Subjekt in Farben des ennui gezeichnet.

217 Ebd., S. 29 f.; zu dieser Parallele vgl. auch Fink-Eitel, Hinrich, „Kierkegaard und Foucault. Frag-würdige Gemeinsamkeiten zweier ungleicher Denker“, in: Kierkegaardiana, Bd. 16, Kopenhagen, 1993, S. 7–27. 218 Kierkegaard, Entweder – Oder, S. 41. 219 Ebd., S. 346. 220 Ebd., S. 347. 221 Vgl. ebd., S. 467. 222 Ebd., S. 444. 223 Bohrer beschreibt zugleich das bei Tieck auftauchende Motiv, dass das Subjekt „vollends dem Wahnsinn der Vermischung der Zeiten“ verfällt; vgl. ders., „Denn Gedanken stehn zu fern? Moderne aus dem Geist der Musik“, in: ders., Die Grenzen des Ästhetischen, S. 37–57, hier S. 43; vgl. auch S. 47 f.

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„Indem nun der Ironiker dergestalt, mit größtmöglicher poetischer Freiheit, sich selbst und seine Umwelt dichtet, indem er solchermaßen ganz und gar hypothetisch und konjunktivisch lebt, verliert sein Leben alles Stetige und Zusammenhängende.“224

Die Kosten dieses fragmentierten Bewusstseins sind ein bedeutungsloses Dahinleben, welches einzig „besteht aus lauter Stimmungen“.225 Letztere sind einerseits ständig wechselnd, andererseits sind relative Konstanz und Einheit des Ironikers wiederum nur einer Stimmung zu verdanken. „Langeweile ist das einzige Stetige und Zusammenhängende, das der Ironiker besitzt. Langeweile, diese inhaltslose Ewigkeit, diese genußlose Seligkeit, diese oberflächliche Tiefe, diese hungrige Übersättigung.“226 In Entweder präsentiert sich der Protagonist A als allerfahrener, übersättigter Genussmensch, den nur mehr phantasievolle Möglichkeiten reizen können. Dass der „Genuss enttäuscht, die Möglichkeit nicht“227, moduliert dabei ein typisches Thema aller (späteren) Dekadenzliteratur. Nicht um ein ‚Mehr‘ an Genuss geht es, sondern um etwas anderes: um eine andere, zerebrale Lust, die gewonnen wird mittels geistiger Kategorien. Zu diesen gehören vorab ‚Phantasie‘ und ‚Möglichkeit‘. Mittels Phantasie versucht das Subjekt die mögliche Freiheit von den anderen Modalkategorien ‚Notwendigkeit‘ und ‚Wirklichkeit‘ zu erreichen, die noch im Zeichen des Allgemeinen stehen. Die Heilmittel gegen die von Kierkegaard schon in seiner Dissertation analysierte ironisch induzierte existenzielle Langeweile, also ‚Phantasie‘ und ‚Möglichkeit‘, beschleunigen freilich wiederum nur deren katastrophische Dynamik. Wie eine hypertrophe Phantasietätigkeit zu Unvernunft oder Wahnsinn tendiert, so führt die Radikalisierung der Möglichkeitskategorie zu einer krankhaften Intensivierung des Ich. Die Betonung der Möglichkeit geht auf Kosten vor allem der Wirklichkeit. Wie schon der Ironiker der Dissertation kein gemeinsames Maß mit der Wirklichkeit hatte, schlägt auch das von den diversen Möglichkeiten gelangweilte Ich (sich) mit diesen die Zeit tot. Von einer augenblicklichen Möglichkeit zur nächsten wird jede Zeit beanspruchende Verwirklichung ver(un)möglicht. „Die Möglichkeit wird immer intensiver, aber im Sinne der Möglichkeit, nicht im Sinne der Wirklichkeit.“228 Gerade die Intensivierung der Möglichkeiten ist es, welche die Wirklichkeit aushöhlt und die resultierende Leere wiederum nur mit Langeweile zu füllen droht. Zudem folgen die augenblicklichen „Phantasmagorien so geschwinde“ aufeinander, dass das Individuum im „letzte[n] Augenblick […] ganz und gar selber zu einer Luftspiegelung geworden ist“.229 Auch wenn man die von Kierkegaard favorisierte christliche Kategorie eines „letzten Augenblicks“230 nicht übernimmt, bleiben diese Äußerungen doch als kulturkritische Diagnose 224 225 226 227 228 229 230

Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, S. 290. Ebd. Ebd., S. 291. Kierkegaard, Entweder – Oder, S. 53. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, S. 33. Ebd. Die 1849 erschienene Krankheit zum Tode deklariert sich dezidiert als erbauliche Schrift eines „christlichen Heroismus“ (vgl. ebd., S. 3).

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relevant. Schlüssig beschreiben sie einen Ausdünnungsprozess des Individuums bereits zwischen, ja, wie sich zeigen wird, paradoxerweise in den diversen Möglichkeitsvariationen. Langeweile – Leopardi zufolge „der im Reinzustand gebliebene Wunsch nach Glück“231 –, jene ‚hungrige Übersättigung‘ aus Kierkegaards Dissertation, ist in ihrer aussichtslosen Suche nach Genuss ein weiterer Vorläufer dessen, was er später ‚Verzweiflung‘ nennen wird. Angesichts einer existenziellen Leere liegen beide Stimmungen eng beieinander. Das Paradox ‚hungriger Übersättigung‘ deckt sich zugleich erstaunlich präzise mit den Freud’schen Symptombeschreibungen der Melancholie. „Der melancholische Komplex verhält sich wie eine offene Wunde, zieht von allen Seiten Besetzungsenergien an sich […] und entleert das Ich bis zur völligen Verarmung.“232 Was nach Schlegel die ironische Disposition romantisch-moderner Menschen bedeutete, dass wir uns zugleich endlich und unendlich fühlen, spitzt Kierkegaard hegelianisch weiter zu, ohne sich jedoch an Hegels Vernunftphilosophie nachhaltig beruhigen zu können. Jene ‚Treue zum Ding‘, die Benjamin dem Melancholiker angesehen hat, die mitunter weinerliche Treue zum unerreichbaren ‚Ding an sich‘, welche Hegel an den Romantikern kritisierte, sie findet sich als variierte Denkfigur auch in Kierkegaards heroischem Glauben wieder. Schließlich ist das „Selbst“ nichts anderes als „die bewußte Synthesis von Endlichkeit und Unendlichkeit, die sich zu sich selbst verhält“.233 Bereits der erste Abschnitt der Krankheit zum Tode zieht diesbezüglich alle dialektischen Register und tötet den Hegel’schen Geist mit seinen eigenen Waffen. Die Hegel’schen Synthesen werden mit den Mitteln der Dialektik selbst gesprengt. „Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnisse, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.“234 Der Mensch – einer Lesart der Ironie zufolge die romantische Synthese aus Endlichem und Unendlichem – fällt in dieser antihegelianischen, sich der Synthese verweigernden Dialektik durch den Rost: „Auf die Art betrachtet ist der Mensch noch kein Selbst.“235 Das macht den Unterschied zu den emphatischen Reflexionen aus Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion aus, die letztlich doch wieder in einen griffigen ‚Meisterdiskurs‘ münden: „Ich bin, und es ist in mir für mich dieser Widerstreit und diese Einigung; Ich bin in mir selbst als unendlich gegen mich als endlich und als endliches Bewußtsein ge-

231 Zit. nach Agamben, Giorgio, Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt am Main, 2003, S. 72; zu Melancholie und Trauer bei Leopardi vgl. auch Bohrer, Karl Heinz, Der Abschied. Theorie der Trauer, Frankfurt am Main, 1996. 232 Freud, Sigmund, „Trauer und Melancholie“, in: ders., Studienausgabe, Bd. III, S. 193–212, hier S. 206. 233 Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, S. 25. 234 Ebd., S. 8. 235 Ebd.

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gen mein Denken als unendliches bestimmt. Ich bin […] die Arbeit des Gemütes, dieses Gegensatzes Meister zu werden.“236

Wo eine Lesart der Frühromantik noch deren Intention eines Ausgleichs von Witz und Melancholie, von Erreichen und Verfehlen betonte, zeichnet Kierkegaard die Ironie einseitig in den düsteren Farben der Melancholie. Beide verschwimmen ineinander und verschwinden letztlich in seiner Bestimmung der ‚Verzweiflung‘, welche noch einmal melancholische Züge trägt. Johannes Klimakos, der Autor der Scala Paradisi, hat diese lateinische acedia als „Freude schaffende Trauer“, als „Trauer der Seele und eine Herzensbeklemmung, die stets dasjenige sucht, wonach sie am meisten dürstet“ beschrieben. Nach dieser Vorstellung werden die Schmerzen derjenigen belohnt, die nach dem Unerreichbaren streben. Deswegen gilt von der acedia, dass „das größte Unglück ist, sie nie gehabt zu haben“.237 Anti-Climacus, der pseudonyme Autor der Krankheit zum Tode, argumentiert bezüglich der Verzweiflung gar nicht so gegensätzlich: „Verzweiflung ist […] diejenige Krankheit, von der es gilt: es ist das größte Unglück sie nie gehabt zu haben.“238 Antike Gemeinschaftsreligion und säkulare Neuzeit hatten in den Zügen des Melancholikers bevorzugt die Traurigkeit gesehen, das Mittelalter, so könnte man sagen, eher die Verzweiflung. Der protestantische Namensvetter des Climacus verstärkt diese später auch an Baudelaires Dandy markant hervorgetretenen mönchischen Züge der acedia. Und er tut dies, indem er, ohne Fichtes Namen zu nennen, dessen Annahme einer Selbstsetzung des Ich vehement widerspricht. Ganz im Sinne des pointierten Individualismus seines dänischen Herausgebers lautet die Auffassung des Anti-Climacus: Würde das Ich sich selbst setzen, wäre Verzweiflung nur denkbar als die Tendenz, verzweifelt „sich selbst los werden zu wollen, aber es könnte nicht davon die Rede sein, daß man verzweifelt man selbst sein will“.239 Es ist dieser existenzielle Spalt, auf den Kierkegaard seine Phänomenologie ewig beunruhigter Subjektivität baut. Auch unabhänigig von Kierkegaards qualitativem Entscheidungssprung in die Religiosität zeigt sich der frühromantische Reflexionsbegriff als Hintergrund der Konzepte ‚Stimmung‘, ‚Angst‘, ‚Plötzlichkeit‘. Ohne diesen Hintergrund könnten die so entscheidenden Bestimmungen von ‚Möglichkeit‘ und ‚Phantasie‘ arbiträr erscheinen. Die ganze Unverhältnismäßigkeit des Menschen liegt in der für seine Existenz zugleich notwendigen reflexiven Spiegelung des Selbst. Deswegen sind die in folgendem Zitat von mir hervorgehobenen Momente nur in ihrer wechselseitigen Bedingung und Potenzierung möglich: „Er ging hingegen seines Selbst dadurch verlustig, daß dies Selbst phantastisch sich reflektierte in der Möglichkeit.“240 236 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, in: ders., Werke, Bd. 16, S. 69. 237 Zit. nach Agamben, Stanzen, S. 29 f., dort ohne Quellenangabe. 238 Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, S. 22. 239 Ebd., S. 9. 240 Ebd., S. 33.

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Auch an dieser Stelle erweist es sich für die Analyse der ethischen Manifestationen der Ironie als vorteilhaft, eher Kierkegaards kritischen Impulsen zu folgen als seinen religiösen Rekonstruktionen, in denen er noch einmal – weiterhin Ebenbild seines Schöpfergottes – ein ideales Spiegelstadium zu imaginieren versucht. Manifest wird der Rückfall hinter das kritische Potenzial seines Denkens in der Beschuldigung des allegorieaffinen Objekts schlechthin: „Denn von diesem Spiegel gilt es in höchstem Sinne, daß er unwahr ist.“241 Doch hatte schon die Romantik mit dem Ideal einer ungebrochenen Reflexion gebrochen. Die durch romantische Spiegelung erzeugte Reflexion beleuchtet keinen teleologisch abgesicherten Weg ins Unendliche. Vielmehr macht es die ästhetische Produktivität der romantischen Spiegelreflexion aus, nur immer weiter zu reflektieren. Wie diese Progression in reflektierte Zustände des Wahnsinns, der Unvernunft, sind so gut wie alle Topoi, die Kierkegaard schon in seiner Dissertation um die Ironie versammelt hatte, abgestürzte Erben der hochfliegenden romantischen Reflexion(sphilosophie). Unabhängig von seiner philologischen Verankerung in den Überlegungen der Frühromantiker kann aber der Versuch, Melancholie oder Schwermut als phantastisches Überfunktionieren von Reflexion zu denken, auch psychologisch diskutiert werden. Giorgio Agamben hat in diesem Zusammenhang auf die erstaunliche Konvergenz von psychoanalytischen Theoremen sowohl mit mittelalterlichen aristotelischen Theorien (der Imagination) als auch mit (auf neuplatonischen, teilweise magischen Pneuma-Theoremen aufbauenden) Renaissancetheorien hingewiesen. Letztere verstehen „Phantasie (phantasticon pneuma, spiritus phantasticus) als eine Art feinstoffliche[n] Leib der Seele, der […] die Bildeindrücke der Dinge empfängt, Traumbilder formt“.242 Diese Bestimmung führte in der Folge bei Ficino zu einer phantasmatischen Theorie der Liebe, welche über die Troubadourlyrik sowie die Poeten des dolce stil novo den abendländischen Liebesdiskurs insgesamt revolutionierte. Nicht äußere Objekte sind es demnach, denen wir liebend verfallen, „sondern ein inneres Bild, d. h. ein Phantasma, das sich den Phantasiegeistern über den Blick eingeprägt hat“.243 Im Antlitz der solchermaßen ‚unendlich Verliebten‘ zeichnen sich die Züge ewig melancholischen Begehrens ab, die sich noch in den Gesichtszügen der ins Unendliche verliebten Romantiker ablesen lassen. Es ist überbordende Phantasietätigkeit, exemplarisch in der Tagträumerei, welche Melancholie und andere unvernünftige Verrückungen des Geistes produziert. „Solcherart spricht Hippokrates einmal von den Melancholikern als den aus sich selbst Heraustretenden, sich in Ekstase Befindlichen, und die Verwendung des medialen, reflexiven Verbes (εξισταμενοισι) deutet auf tiefgreifende Beobachtungen

241 Ebd., S. 34. 242 Agamben, Stanzen, S. 51. 243 Ebd.

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hin: das Subjekt ist nicht nur einem ihm selbst fremden Willen ausgeliefert, sondern auch Gegenstand seines eigenen Handelns.“244

Das ist der befreiende Effekt des Sich-aus-sich-heraus-Imaginierens. Dessen Widerpart hat am schönsten Gaston Bachelard formuliert. „Mittels der Imagination verlassen wir den gewöhnlichen Gang der Dinge […]. Imaginieren heißt sich entfernen.“245 Das Phänomen der Melancholie hat sich in untergründiger Weise als an Fragen der Produktion und Verarbeitung von Bildern gebunden erwiesen. Deswegen auch wird das Unendliche als phantasmatisch erkannt. Woher aber stammen die Bilder, welche ‚Ich‘ phantasiert? Woher stammt letztlich dieses Ich, und woraus gewinnt es seine phantasierten Eigenschaften?

VI. UNECHTES ICHWERDEN ODER DIE ENTSTEHUNG DES ICH AUS DEM GEIST IRONISCHER WIEDERHOLUNG VI. UNECHTES ICHWERDEN

„[D]ies war die starke, alles verstellende antikische Maske, hinter der die Welt zum Gesicht zusammenschoß.“ Rainer Maria Rilke246

1. Griechische Gegensichtigkeit Dass sich jeder Mensch zu einem guten Teil aus seiner Umgebung verstehen lässt, ist eine auf den ersten Blick banale Feststellung. Dass jede Ich-Konstitution unter dem Einfluss von Vorbildern vonstattengeht, das geht schon aus der etymologischen Bedeutung von ‚Subjekt‘ hervor. Nur als den es umgebenden Gestalten unterworfenes kann das Ich es selbst werden. Und selbst das ist noch nicht sicher. Was genau hat es mit diesem ‚Hervorgehen‘, mit der Kategorie ‚Entstehung‘ auf sich? Wie entstand etwa Flauberts Figur Madame Bovary, wie lässt Flaubert seine Protagonistin aus Lektürevorbildern entstehen? Das sind vielfach behandelte, literaturtheoretisch relevante Fragestellungen, die noch eingehender zu untersuchen sein werden.247 An dieser Stelle stellt sich die Frage freilich in noch grundsätzlicherer Weise: als Frage nach der ursprünglichen Matrix melancholischer Subjekt244 Földenyi, Melancholie, S. 19. 245 Übers. zit. nach Bohrer, Der Abschied, S. 116; im Orginal: „Par l’imagination nous abandonnons le cours ordinaire des choses. […] Imaginer c’est s’absenter.“ (Bachelard, Gaston, L’air et les songes. Essai sur l’imagination du mouvement, Paris, 1990, S. 10.) 246 Rilke, Rainer Maria, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt am Main, 1982, S. 181. 247 Vgl. speziell Kap. D. VI. „(Ent-)Bildungsromane und ironische Autobiographie“.

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generierung. Jede Nachahmung ist melancholisch, denn sie kann nie vollständig gelingen, ist also nie ganz echt. Jedes den Vorbildern unterworfene Subjekt wird ‚Ich‘ nur als ein anderes. In diesem Teilkapitel ist also der Frage nachzugehen, ob und inwiefern dies zugleich als ironischer Triumph unterlegener Subjektivität gedeutet werden kann. Die folgenden Überlegungen können durchaus als theoretische Untermauerung einer zentralen Intuition Kierkegaards verstanden werden. Bereits die These VIII seiner Dissertation behauptet eine Genese des Subjekts aus ironischem Geist und ironischer Praxis. Ironie wird da als „unscheinbarste Bezeichnung der Subjektivität“ apostrophiert. Diese erste vage Beziehung wird in der These XV noch zugespitzt: „Ebenso wie die Philosophie mit dem Zweifel, ebenso beginnt ein Leben, das menschenwürdig genannt werden kann, mit der Ironie.“248 Schon die ersten bewussten „Erfahrungen der Kindheit [sind] nicht ganz ‚echt‘. Stets enthalten sie etwas von Nachahmung, Spiel, Andersseinwollen.“249 Einige andeutende Überlegungen wie diese aus Adornos Minima Moralia können hier als Leitfaden dienen. „Nicht bloß ist das Ich in die Gesellschaft verflochten, sondern verdankt ihr sein Dasein im wörtlichen Sinn. All sein Inhalt kommt aus ihr, oder schlechterdings aus der Beziehung zum Objekt. Es wird um so reicher, je freier es sich in dieser entfaltet und sie zurückspiegelt.“250

Adorno evoziert hier eine spielerische Genesis des Ich aus dem Geist kreativer Mimesis schon in den ersten verschwommenen Nachahmungsversuchen von Säuglingen. Diese kindliche Nachahmung ließe sich, denkt man an evolutionstheoretische Erklärungsversuche251 der Herausbildung der Gattungsspezifika des Menschen, auch als überlebenstechnisch notwendige Mimikry fassen. Die schon im Kontext ironischer Maskierung gestreifte Frage nach dem Entstehen des Gesichts ist hier in mehrfacher Hinsicht zentral. Anstelle der auf ein endgültiges Besitzen hinweisenden Gesichtsbeherrschung möchte ich mit Deleuze und Guattari eher von einem reversiblen „Hineinschlüpfen in ein Gesicht“252 sprechen, welches auch – da es niemals ein Individuum ohne Gesicht geben kann – als ein Hineinschlüpfen in Individualität gedacht werden kann. Gleich am Beginn von Françoise Frontisi-Ducroux’ aufschlussreicher Studie Du masque au visage steht der wichtige Hinweis auf das griechische prosopon, Ausdruck für die Maske der griechischen Schauspieler und zugleich für das reale Gesicht eines lebenden Menschen. Und auch für das lateinische persona verweist eine mögliche ursprüngliche Bedeutung von per-sonare (durch-tönen) auf die Funktion der 248 Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, S. 3 f. 249 Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main, 1993, S. 202. 250 Ebd., Hervorh. v. A. A. 251 Vgl. dazu etwa Donald, Merlin, Origins of the Modern Mind. Three Stages in the Evolution of Culture and Cognition, London, 1991. 252 Deleuze, Gilles und Guattari, Félix, Tausend Plateaus, Berlin, 1992, S. 243.

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Maske.253 Mit Deleuze und Guattari lassen sich nun zwei unterschiedliche Maskenfunktionen unterscheiden. „Entweder sichert die Maske, wie in den primitiven Semiotiken, die Zugehörigkeit des Kopfes zum Körper und sein Tier-Werden oder sie sichert im Gegenteil die Errichtung, die Überhöhung des Gesichts, die Schaffung eines Gesichts für Kopf und Körper, was heute der Fall ist.“254

Genau diese doppelte Logik ist es, welche ich vorschlage an der griechischen Theatermaskenpraxis abzulesen. Diese ist einerseits von der ‚primitiven‘ Anstrengung gezeichnet, ein kohärentes Bild von sich selbst zu gewinnen, andererseits gibt sie das Muster der späteren Funktionen von ‚Maske‘ im Abendland vor. Mein Vorschlag lautet nun, die beiden Logiken nicht als streng getrennte zu verstehen. Denn zur Bildung eines kohärenten Körperbildes gehört schon die Überkodifizierung und Überhöhung des dazugehörenden Kopfes als Gesicht. Was Nietzsche die griechische ‚Oberflächlichkeit aus Tiefe‘255 nannte, fände so seine theatralische Bestätigung. Wenn die klassischen Griechen zunächst ‚Gesicht‘ und ‚Maske‘ mit ein und demselben Begriff belegt haben, dann findet das seinen Ausdruck in dem für uns Spätere erstaunlichen Fehlen einer Phrase, die zugleich auf die Frage der Ironie verweist: „[L]’expression hupo tou prosopou, qui voudrait dire ‚sous la masque‘, n’est pas attestée.“256 Die Gesichtsmaske des griechischen Aristokraten kennt also nur die ersten beiden der von Henry Pernet herausgearbeiteten Funktionen der abendländischen Maske. Von „représentation, identification, et dissimulation, seules les deux premières sont présentes dans le masque grec“.257 Selbst die griechischen Schauspieler der klassischen Tragödie waren für die Zeit der jeweiligen Vorstellung (représentation258) unverstellt als die jeweiligen Helden zu identifizieren. Und wo, später, ein bestimmter Schauspielerkult und also erste individuelle Stilisierungen aufkamen, wie sie heute an Schauspielern bewundert werden, scheint dies von den Altvorderen mit sicherem Gespür als Dekadenzerscheinung kritisiert worden zu sein.

253 Vgl. dazu Krämer, Sibylle, „Verschwindet der Körper?“, in: Raum – Wissen – Macht, hrsg. v. Rudolf Maresch und Niels Werber, Frankfurt am Main, 2007, S. 49–68, hier S. 62. 254 Deleuze und Guattari, Tausend Plateaus, S. 249; zur Kategorie des ‚Tier-Werdens‘ vgl. in diesem Zusammenhang auch S. 242, wo auf den gemeinsamen Einsatz von Tiermasken und Drogen in ursprünglichen Mysterienkulten hingewiesen wird. 255 Alexander Nehamas hat diese Tiefenwirkung von Masken auch für die sokratische Ironie konstatiert. „Irony seems to create a mask. It does not know what, if anything, is masked. It suggests depth.“ (The Art of Living. Socratic Reflections from Plato to Foucault, Berkeley, 1998, S. 67.) 256 Frontisi-Ducroux, Françoise, Du masque au visage. Aspects de l’identité en Grèce ancienne, Paris, 1995, S. 41. 257 Ebd., S. 39, dort auch der Hinweis auf Henry Pernets Buch Mirages du masque, Genf, 1988. 258 Das französische représentation, im Gegensatz zur Kino-Seance, zeigt gerade das spätere, von den griechischen ‚Ursprüngen‘ abweichende Verständnis von Vorstellung. Im griechischen Theater, so lässt sich spekulieren, wurde nicht kunstvoll vor-gestellt, sondern für die Zeit der Vorstellung in die Maske geschlüpft.

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Auch außerhalb des Theaters scheint das griechische Maskengesicht seinen Träger vollständig repräsentiert zu haben. Die ewige Faszination der griechischen Klassik macht aus, dass sich in ihr die griechischen Aristokraten gegenseitig ihre Individualität erspiegeln konnten. Innere Monologe machen im griechischen Kosmos wenig Sinn. Griechische Dialoge vollziehen sich selbst bei verschwörerischsten Absichten redlich, bei ausreichender Beleuchtung und von Angesicht zu Angesicht. Dies hat für die Erfinder des Narzissmythos entscheidende Bedeutung, war doch die Verwendung von Spiegeln lange Zeit dem weiblichen Geschlecht vorbehalten. Sich gegenseitig zu sehen, musste insofern herausragende Bedeutung haben, als das Gesicht zugleich auch als Spiegel funktionieren konnte.259 Dass diese archaischen Griechen sich gegenseitig spiegelhafte Garanten ihrer Individualität zu sein versuchten, diese spekulative (Ur-)Szenerie lässt zwei Hypothesen zu. Einerseits gelingt es da einer wenn auch kleinen Gruppe von Männern, sich schon als schöne Individuen zu projizieren, andererseits ist dieses griechische Spiegelstadium noch ein intersubjektives. Diese Hypothesen werden bereichert durch aktuelle neurobiologische Spekulationen, vornehmlich zu einer Gruppe spezieller Neuronenkomplexe, die von ihrem ‚Entdecker‘ Giacomo Rizzolatti mirror-neurons getauft wurden. Schon die ersten Kontakte von Säuglingen beruhen demnach auf einem zyklischen Austausch von Signalen und Zeichen mit der (mütterlichen) Umwelt. „Für das Gelingen des Signalaustausches, des wechselseitigen Verstehens und Aufeinander-Eingehens zwischen Mutter und Säugling spielt ein besonderes, erst kürzlich entdecktes Nervenzell-System des Gehirns eine entscheidende Rolle: Das Gehirn besitzt Nervenzell-Netzwerke, die darauf spezialisiert sind, bei anderen Menschen wahrgenommene Signale so abzuspeichern, dass sie selbst nacherlebt und reproduziert werden können.“260

Immer schon war bekannt, dass Säuglinge die von ihnen aufgenommenen Signale imitativ zurückspiegeln. Aufgrund von Rizzolattis Entdeckung kann nun versucht werden, diese erstaunlich frühe Fähigkeit auch neurobiologisch zu erklären. Demnach wären es Spiegelneuronen, mittels derer wir uns „das, was wir bei anderen Menschen beobachten, so einprägen, dass wir es selbst fühlen, aufgrund dessen aber auch besser nachfühlen können“.261

259 „Visage-miroir“ (Frontisi-Ducroux, Du masque au visage, S. 28), in den Worten FrontisiDucroux’, deren französischem ‚visage‘ nicht automatisch der schöne deutsche Doppelsinn von ‚Ge-sicht‘ zur Verfügung steht: „L’homme grec ne doit chercher à se mirer que sur le visage, ou dans l’œuil de son vis-à-vis.“ (Ebd., S. 30.) Zur interessanten Überlieferung durch Diogenes Laertius, dass ausgerechnet Sokrates psychologische Experimente mittels Spiegeln angestellt haben soll, vgl. Melchior-Bonnet, Sandrine, Histoire du miroir, Paris, 1994, S. 118. 260 Bauer, Joachim, Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern, München, 2006, S. 65. 261 Ebd., S. 12. Die methodische Problematik von Joachim Bauers populärwissenschaftlicher Diskussion von Rizzolattis Thesen – fraglich sind speziell die Unterschiede zwischen Menschen und anderen Säugetieren, etwa ob die Spiegelneuronen nicht nur an Affen, sondern überhaupt schon am Menschen experimentell untersucht wurden – braucht an dieser Stelle nicht ausführ-

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Spiegelneuronen würden demnach „eine Art virtueller Realität“, eine „innere Simulation“262 äußerer Vorgänge produzieren, welche von entscheidender Bedeutung für die onto- wie phylogenetische Evolution der Menschen ist. In der populärwissenschaftlichen Verbreitung dieser Hypothesen findet sich dann auch eine für die folgenden Überlegungen anregende Spekulation darüber, „warum wir Menschen die einzigen Primaten mit ‚macchiavellistischen‘ Eigenschaften sind – geschickt darin, eine ‚Theorie des Geistes anderer‘ zu entwickeln, um deren Verhalten vorherzusagen“.263 Nicht zufällig handelt es sich bei dem soeben zitierten Vilayanur Ramachandran um einen angesehenen Neurobiologen, der zugleich die Hypothese einer an den evolutionsbiologischen Fortschritt gekoppelten „höhere[n] Ebene des Gehirns“264 lanciert. Damit versucht er eine zentrale zerebrale Steuerungsstruktur des Gehirns auf den Begriff zu bringen, nämlich die der „Repräsentation höherer Ordnung, die neuen Verarbeitungszielen dient“.265 Wenn er in seinen neurobiologischen Spekulationen „diese Metarepräsentation fast als ein zweites, parasitisches Gehirn“266 auffasst, steht damit die Hypothese eines mentalen, geistigen Parasitismus im Raum. Darauf wird noch zurückzukommen sein.267

2. Psychoanalyse I: Lacan Die Betonung einer für den Zusammenhang von ironischer Subjektivität wichtigen (phallischen268) Dimension von Maskerade findet sich bei Jacques Lacan. Die Beziehung zwischen den Geschlechtern wird diesem zufolge reguliert durch das „Dazwischentreten eines Scheins, der an die Stelle des Habens rückt, um es auf der einen Seite zu schützen, auf der andern den Mangel im andern [Geschlecht; A. A.] zu maskieren“269, und der den Phallus somit – nimmt man Freuds Definition des Fetisch als Kaschieren einer Abwesenheit ernst270 – als fetischistische Instanz fasst. Im Falle der durch besonders rigide (kulturelle, ökonomische, rassische) Ausschlussmechanismen gekennzeichneten griechischen Herr/Knabe-Dialektik ist der Sachverhalt ein besonders komplizierter. Zu einfach scheint da Judith Butlers Kritikansatz, dem zufolge das Faktum, dass lich kommentiert zu werden. Sie werden hier dezidiert nicht als wissenschaftliche Tatsachen angeführt, sondern als zusätzliches Intuitionsarsenal. 262 Ramachandran, Vilayanur, Eine kurze Reise durch Geist und Gehirn, Reinbek, 2005, S. 51. 263 Ebd., S. 52. 264 Ebd., S. 114. 265 Ebd., S. 114 f. 266 Ebd., S. 115. 267 Vgl. Kap. G. „Metaphysische Entgrenzungen“. 268 ‚Phallus‘, das sei hier gleich zu Beginn nachdrücklich betont, verweist bei Lacan keinesfalls auf ein reales Körperorgan. Eher handelt es sich um einen symbolischen Penis als Signifikanten sexueller Differenz und phantasmatisches Attribut von Omnipotenz. 269 Lacan, Jacques, „Die Bedeutung des Phallus“, in: Schriften, Bd. II, 3., korr. Aufl., Weinheim, 1991, S. 119–132, hier S. 130. 270 Freud, Sigmund, „Fetischismus“, in: ders., Studienausgabe, Bd. III, S. 379–389.

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„die Frauen angeblich der Phallus ,sind‘, [also] bedeutet, die Frauen haben die Macht inne, die ,Realität‘ der selbstbegründenden Posen des männlichen Subjekts zu reflektieren oder zu repräsentieren: Würde diese Macht zurückgezogen, so würden die grundlegenden Illusionen der männlichen Subjektposition aufbrechen.“271

Im Gegensatz zu dieser optimistischen Einschätzung hat sich die Möglichkeit einer Konstitution dieser abendländischen Subjektposition auch unter völligem Ausschluss weiblicher Positionen, aus einem zugleich homophilen und patriarchalen Bemühen heraus, zumindest als spekulative Möglichkeit erwiesen. Gewiss lässt sich die „Maskerade als performative Hervorbringung einer sexuellen Ontologie“272 verstehen, doch ist die Analyse möglicherweise noch eine Ebene früher anzusetzen. Das soll in der Folge versucht werden. Lacans 1958 gehaltener Vortrag „Die Bedeutung des Phallus“ beschreibt die hier zuvor als ironisch verifizierte ‚Maskerade‘ einseitig als weibliches Begehren. „[D]ie Frau [bannt], um Phallus zu sein, Signifikant des Begehrens des Andern, einen wesentlichen Teil der Weiblichkeit, namentlich all ihre Attribute in die Maskerade zurück […]. Ausgerechnet um dessentwillen, was sie nicht ist, meint sie, begehrt und zugleich geliebt zu werden. Was indessen ihr eigenes Begehren anbelangt, so findet sie dessen Signifikanten im Körper dessen, auf den sich ihr Liebesanspruch richtet.“273

Aus der Rede von ‚wesentlichen Teilen der Weiblichkeit‘ und dem ‚eigenen Begehren‘ spricht eine weniger nietzscheanisch inspirierte als sich von Kierkegaard herleitende gewissermaßen existenzialistische Geschlechterontologie. Im Falle Lacans führt das später zu dem Versuch, noch weibliche Melancholie aus diesem scheiternden Anspruch, Phallus zu sein, zu erklären. Dagegen findet sich in seinem Seminar II von 1954/55 folgende rein formale, auch für die hier versuchte spekulative Rekonstruktion einer griechischen Initialsituation weitaus angemessenere Definition (der unmöglichen Widersprüchlichkeit274) des Begehrens: „Ich begehre das. Das ist nicht möglich. Nimmt man an, daß es da ein ich/je gibt, dann verwandelt sich das sofort in ein du begehrst das. Ich begehre das heißt – Du, anderer, der du meine Einheit bist, du begehrst das.“275 Die hypothetische Konstruktion einer archaischen Ursituation, in der griechische Aristokraten sich gegensichtig ihre Individualität widerspiegeln, verhilft in 271 272 273 274

Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main, 1991, S. 77. Ebd., S. 79. Lacan, „Die Bedeutung des Phallus“, S. 130 f. René Girard zufolge gilt: „Desire implies a contradiction; it aims at complete autonomy, at a near divine self-sufficiency, and yet it is!“ („The plague in Literature and Myth“, in: ders., To Double Business Bound. Essays on Literature, Mimesis, and Anthropology, Baltimore, 1978, S. 136–154, hier S. 139). Vgl. dazu auch Livingston, Paisley, Models of desire. René Girard and the psychology of mimesis, Baltimore, 1992, der allerdings stark gegen eine psychoanalytische Lesart von Girards (literaturtheoretischen) Konzepten argumentiert. 275 Lacan, Jacques, Das Seminar, Buch II: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Weinheim, 1991, S. 70. Lacan führt weiter aus, „daß wir da jene wesentliche Form der menschlichen Botschaft wiederfinden, die bewirkt, daß man seine eigene Botschaft vom anderen in inverser Form empfängt“.

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diesem Zusammenhang zu einer entscheidenden Bedeutungsverschiebung im Verständnis von ‚Maske‘ (qua ironischer dissimulatio). Denn deren performatives Funktionieren reduziert sich nicht auf das Aufstellen eines kohärenten Körperbilds mittels dazugehörigem Kopf/Gesicht. Der Triumph dieses imaginären archaischen Aristokratenrudels ist die spielerische Wiederholung des von Lacan als einmaliges Durchgangsstadium beschriebenen Moments. „[D]as Spiegelstadium ist ein Drama, [...] [in welchem das] an der lockenden Täuschung der räumlichen Identifikation festgehaltene Subjekt die Phantasmen ausheckt, die, ausgehend von einem zerstückelten Bild des Körpers [des Säuglings, dessen primordiale Unkoordiniertheit noch zu keiner geordneten Körper/GesichtEinheit gefunden hat; A. A.], in einer Form enden, die wir in ihrer Ganzheit eine orthopädische nennen könnten, und in einem Panzer, der aufgenommen wird von einer wahrhaften Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen werden.“276

Ich schlage vor, den Triumph der griechischen Herrenmenschen als Variation dieser frühkindlichen Illusionen zu verstehen.277 Den ursprünglichen griechischen Mannsbildern mögen Spiegel (oder deren Vorformen) als weibliche Verweichlichung gegolten haben – ihre (Selbst-)Bestätigung erfolgte nichtsdestotrotz imaginär. Das Subjekt des Spiegelstadiums ist imaginär insofern, als es sich vom imaginären Raum des Spiegelbilds abliest. Die hier spekulativ postulierte griechische Ursituation hat man sich als reziproke Spiegelsituation vorzustellen, nicht mechanisch fixiert, sondern intersubjektiv reflektiert und unendlich. Diese reflexive Situation setzt insofern eine komplizierte „Dialektik der Identifikation“278 in Bewegung, als sich von einem anderen abzulesen die originäre Unreinheit eines jeden Ichinhalts offenbart. Von ‚Verunreinigung‘ einer vermeintlich reinen (Ich-)Form kann insofern gesprochen werden, als es sich nicht mehr um ein reines Körperbild handelt, nicht mehr nur um die Projektion einer reinen Körperoberfläche279 samt dazugehörigem Kopf, sondern die griechische Maske erfüllt auch die zweite von Deleuze und Guattari evozierte Funktion einer ‚Schaffung des Gesichts‘. Neben der grundlegenden Körper/Kopf-Vereinigung katalysiert diese auch die Entstehung des individuellen, symbolischen Gesichts. 276 Lacan, Jacques, Schriften, Bd. I, Weinheim, 1973, S. 67. 277 Zur Unterscheidung von Illusion als notwendiger, weil subjektkonstitutiver, und bloßem Irrtum vgl. Lacan, Das Seminar, Buch II, S. 61. 278 Lacan beschreibt sein keinesfalls mythisches Spiegelstadium vor jeder Identifikation: „Die jubilatorische Aufnahme seines Spiegelbildes durch ein Wesen, das noch eingetaucht ist in motorische Ohnmacht und Abhängigkeit von Pflege, wie es der Säugling in diesem infans-Stadium ist, wird von nun an […] in einer exemplarischen Situation die symbolische Matrix darstellen, an der das Ich (je) in einer ursprünglichen Form sich niederschlägt, bevor es sich objektiviert in der Dialektik der Identifikation mit dem andern und bevor ihm die Sprache im Allgemeinen die Funktion eines Subjektes wiedergibt.“ („Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“, in: ders., Schriften I, S. 61–70, hier S. 64.) Das verunreinigte Gesichtsmaskenstadium wäre dann zu verstehen als Generator eines ausdifferenzierten Ich. 279 Dies eine spekulative Ausdeutung der Freud’schen Bestimmung aus „Das Ich und das Es“. „Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche.“ (Studienausgabe, Bd. III, S. 273–330, hier S. 294.)

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Die Verunreinigung der reinen Körperform ist bedingt durch eine symbolische, sprachliche, im Verständnis Lacans auch dialektische Identifikation. Der noch rein imaginären Feststellung des Körperstandbilds (bei den Griechen als Meistern der plastischen Kunst!) folgt die symbolische Bestimmung dieser reinen, freilich nie authentisch zu füllenden Ichform des (psychologischen) Gesichts. Beide hier bemühten Theoriestränge, sowohl der kulturanthropologische als auch der psychoanalytische, verweisen somit auf einen wesentlichen Hintergrund der Melancholie: keinen Abschluss des Begehrens zu finden, also das (unmögliche) Streben, sich gegenseitig den Phallus zu bedeuten. Kierkegaards Paradox abwandelnd, ließe sich also statt von der Verzweiflung, man selbst sein zu wollen, von der Melancholie sprechen, verzweifelt eins sein zu wollen. Was sich zeigt, sind die Limitierungen des oben diskutierten konstruktiven Gehalts von Masken. Noch einmal mit Judith Butler gesprochen: „[D]ie Maske verschleiert also einen Verlust, den sie dadurch zugleich bewahrt (und negiert). Demnach hat die Maske eine doppelte Funktion, die der doppelten Funktion der Melancholie entspricht. Denn man setzt sich die Maske durch den Prozeß der Einverleibung auf, der ein Weg ist, die melancholische Identifizierung in und auf den Körper einzuschreiben und dann gleichsam dort zu tragen.“280

3. Psychoanalyse II: Ichgenese bei Freud Was schon in den rhetorologischen Überlegungen als erkenntnistheoretisches Problem thematisiert wurde, kann nun auch psychologisch begründet werden. Die romantische Sehnsucht, gleich ob als Schwermut oder Melancholie gefasst, ist weniger als defiziente Struktur zu lesen denn als die unumgängliche Signatur jedweder Individuierung. Auf doppelte Weise überkreuzen sich Charakter der Melancholie und melancholische Maske. Als maskenhaft konstituierte scheitern Subjekte einerseits stets melancholisch an der vollständigen Individuation. Wie im Falle der Ironie resultiert aus der Ausweitung eines Konzepts aber andererseits dessen dialektisch-oszillierendes Umschlagen in sein vermeintliches Gegenteil: Im Falle der Melancholie wäre das eine jubilatorische Identifizierung. Tatsächlich ist jede Nachbildung nicht nur von resignativer Melancholie getragen, wie sie aus der Unmöglichkeit, ein sich vorgehaltenes Vorbild zu erreichen, resultiert. Ganz im Gegenteil ist die paradoxe Herausbildung von so etwas wie ‚Charakter‘ nur aus dem ironischen Überschuss von (wie auch immer abweichenden) Identifizierungsprozessen zu erklären. Über seinen früheren Text „Trauer und Melancholie“ schreibt Freud: „Es war uns gelungen, das schmerzhafte Leiden der Melancholie durch die Annahme aufzuklären, daß ein verlorenes Objekt im Ich wiederaufgerichtet, also eine Objektbesetzung durch eine Identifizierung abgelöst wird. Damals erkannten wir aber noch nicht die ganze Bedeutung dieses Vorgangs und wußten nicht, wie häufig und 280 Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 83.

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typisch er ist. Wir haben seither verstanden, daß solche Ersetzung einen großen Anteil an der Gestaltung des Ichs hat und wesentlich dazu beiträgt, das herzustellen, was man seinen Charakter heißt.“281

In den Formulierungen des sechs Jahre später entstandenen „Das Ich und das Es“ beschreibt Freud die gleiche Beobachtung und verdeckt zugleich deren entscheidendes Moment. Obige Analyse der Ich-Genese aus der melancholisch-ironischen Wiederholung sollte zugleich einer vorschnellen Pathologisierung der Melancholie vorbeugen bzw. widersprechen, zu der auch Freud neigt. Der Erfinder der Ich/Es/Über-Ich-Topik projiziert diese nämlich bereits in die mythische ontogenetische Frühzeit des Individuums. Zwar wiederholt Freud seine frühere Ansicht, „daß das Ich sich zum guten Teil aus Identifizierungen bildet, welche aufgelassene Besetzungen des Es ablösen, daß die ersten dieser Identifizierungen sich regelmäßig als besondere Instanz im Ich gebärden, sich als Über-Ich dem Ich entgegenstellen, während das erstarkte Ich sich späterhin gegen solche Identifizierungseinflüsse resistenter verhalten mag“.282

Indem er das Subjekt immer schon „Ich“ sagen lässt, verdeckt Freud die eigene frühere Einsicht, dass „[u]ranfänglich in der primitiven oralen Phase des Individuums […] Objektbesetzung und Identifizierung wohl nicht voneinander zu unterscheiden [sind]. Späterhin kann man nur annehmen, daß die Objektbesetzungen vom Es ausgehen, welches die erotischen Strebungen als Bedürfnisse empfindet.“283

Bereits die folgende Formulierung eines „anfangs noch schwächliche[n] Ich“ zeigt, inwiefern Freuds unbedingter Wille zur Topik ihn seine empirischen Beobachtungen verwischen lässt. Denn wenn Objektbesetzung und Identifizierung ursprünglich tatsächlich nicht zu unterscheiden sind, dann widerspricht das der These eines anfänglichen oder ursprünglichen Ich. Dass das Ich später erstarkt, verweist jedoch nicht unbedingt auf dessen frühere Schwäche. Plausibler scheint, dass anfangs weder Es noch Ich war. Der originäre Imperativ lautet also eher ‚Ich soll werden‘ und nicht „Wo Es war, soll Ich werden“, wie Freud formuliert –

281 Das „damals“ in obigem Zitat Freuds ist ein widersprüchlich doppeltes. Einerseits verweist es auf ein gesichertes ‚früher‘ innerhalb der psychoanalytischen Theoriebildung, welches Freud einfach in seine neue Es/Ich/Über-Ich-Topik glaubt inkorporieren zu können. Andererseits aber ist Freuds „Trauer und Melancholie“ ein herausragendes Beispiel für die seinem Denken eigene Unbedingtheit, immer neue Lösungen zu entwerfen. Zwangsläufig geraten seine Texte damit immer wieder auch in Widerspruch zu seither dominanten psychoanalytischen Kategorisierungen. – Das Zitat stammt von 1923 („Das Ich und das Es“, in: ders., Studienausgabe, Bd. III, S. 273–330, hier S. 296); „damals“ meint die sechs Jahre vorher entstandene Schrift „Trauer und Melancholie“. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass speziell die zweite Topik (Es/Ich/Über-Ich) nicht ohne Freuds Beschäftigung mit dem Phänomen ‚Melancholie‘ zu verstehen ist. Mein diesbezügliches Verständnis Freuds sowie Lacans verdankt Entscheidendes den in Wien abgehaltenen Seminaren Michael Turnheims sowie dessen Aufsätzen in Turnheim, Michael, Das Andere im Gleichen. Über Trauer, Witz und Politik, Stuttgart, 1999. 282 Freud, „Das Ich und das Es“, S. 315. 283 Ebd., S. 296 f.

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denn letzterer Imperativ ist erst nach der Konstituierung der einzelnen Instanzen sinnvoll.284 Das ‚pharmakologische Paradox‘ jedes ‚Ichwerdens‘ besteht darin, dass der Ermöglichungsgrund des Ich zugleich die Quelle seiner Gefährdung ist. Diese ironische Dialektik von Auf- und Abstieg des Ich aus und in ein und denselben Grund kehrt stets wieder. Immer wieder begegnet man demselben Beschreibungsmodell: Je ausgeprägter ästhetische (oder in der Folge: literarische) Individualität, so wird nicht zu Unrecht immer wieder gefolgert, desto gefährdeter ist diese in ihrer Exzentrizität. Der Fall des ersten Individuums der Philosophiegeschichte bestätigt dies. Und damit ist nicht die äußere, moralische Gefahr gemeint, die schließlich zur Hinrichtung des dämonischen Sokrates führt. Von Bedeutung ist hier vielmehr die innere, subjekttheoretische Dimension, welche zugleich ein Entwicklungsschema lebensweltlicher Ironie beschreibt: erstens Kindlichkeit als erst entstehendes Ich, zweitens reife, potenzierte Individualität, drittens deren Gefährdung in Unvernunft und Wahnsinn.

4. Die Entstehung des Ich aus dem Geist der Ironie Die These einer Genese des Subjekts aus ironischem Geist und ironischer Praxis findet sich bereits in den oben angeführten Thesen von Kierkegaards Dissertation, worin Ironie als unscheinbarste Bezeichnung der Subjektivität apostrophiert wird. Wenn Kierkegaard ein menschenwürdiges Leben erst mit Ironie beginnen lässt, dann nicht ohne sogleich den Preis nicht beherrschter, nicht überwundener Ironie festzulegen: das Verhaftetbleiben in einer quasi auf Dauer gestellten kindlichen285 Existenz. Menschenwürdig wird ein Leben jedenfalls erst mit Ironie, mit der und durch die Distanz, die das Subjekt zu sich und anderen braucht, um als eigenes überhaupt sich setzen zu können.

284 Vgl. auch ebd., S. 322: „Die Psychoanalyse ist ein Werkzeug, welches dem Ich die fortschreitende Eroberung des Es ermöglichen soll“, jenes Es, aus dem Freud das Ich allererst entstehen sieht. 285 Vgl. Kierkegaard, Entweder – Oder, S. 36 und 42. Es handelt sich hier um eine Zuschreibung Hegels, die, durch Heine bekannt geworden, bei Kierkegaard im Zusammenhang mit dem Ästhetiker A in Entweder wiederkehrt und erst durch Nietzsches Zarathustra eine positive Umwertung erfahren sollte. – Die bekannteste selber ironische Variation des Kindheitsmotivs stammt wohl von Heinrich Heine (Die Romantische Schule, in: ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. Bodo von Petersdorf, Augsburg, 1986, Bd. 5, S. 18): „Wahrlich so ging es namentlich unserem vortrefflichen Herrn Tieck, einem der besten Dichter der [romantischen; A. A.] Schule; er hatte von den Volksbüchern und Gedichten des Mittelalters so viel eingeschluckt, daß er fast wieder ein Kind wurde und zu jener lallenden Einfalt herabblühte, die Frau von Stael so sehr viel Mühe hatte zu bewundern.“

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„Das Subjekt ist niemand. Es ist zerlegt, zerstückelt. Und es blockiert sich, es wird angezogen von dem zugleich täuschenden und realisierten Bild des anderen und überhaupt von seinem eigenen Spiegelbild. Da findet es seine Einheit“286,

kann mit Lacan resümiert werden. Dass die Person niemand (personne) ist, weiß in Frankreich jedes Kind und war auch schon Odysseus nicht entgangen. Gerade der schlaueste, sich seiner Intelligenz am stärksten bewusste griechische Held rettete sein Leben bekanntlich nur durch Selbstverleugnung.287 In all seinen Abenteuern wird er nur von seiner Namensmaske zusammengehalten.288 Was Odysseus, den vielleicht ersten individuellen Helden der abendländischen Literatur, so einzigartig und unverwechselbar macht und ihn daher überleben lässt, ist nichts anderes, als dass er sich selbst verleugnet. Hierin liegt die ethische Analogie zur erkenntnistheoretischen Weisheit des Sokrates, welche darin bestand, nichts zu wissen. Nicht mit den idealistischen Tendenzen Platons, sondern dem existenzphilosophischen Mäeutiker Sokrates, der seine Umgebung in sich selber hineinzutäuschen pflegte, beginnt so verstanden subjektgerechte Philosophie. Sokrates’ Verurteilung als dämonischer Verführer der athenischen Jugend ist diesbezüglich nur ein äußeres Moment. Das sokratische Vermögen, Kinder in ein individuelles moralisches Gewissen und somit nicht mehr sittliches Leben hineinzutäuschen, hat in dessen daimonion seinen inneren Grund. Dieses daimonion macht ihn zum Archetypus potenzierter Individualität. Für Hegel setzt mit Sokrates eine lange gewissensethische Problematik ein, die bis zur hypertrophen Willkürfreiheit der romantischen Ironiker reicht.289 So formuliert auch Schlegel – in Absetzung von einem rhetorischen Verständnis von Ironie – ein ethisches Verständnis, wonach „Ironie […] wohl niemand haben [kann], der keinen Daemon hat. Dieß ist gleichsam die Potenz der Individualität“.290 Noch eindeutiger, und in diesem Punkt unabhängig von Schlegel, zeichnet Kierkegaard einen existenzphilosophischen Sokrates, dessen Ironie er an der Grenze des platonischen Idealismus ansetzt291: „Das Dämonische war dem Sokrates genug […]; dies aber ist eine Bestimmung der Persönlichkeit, jedoch natürlich bloß das egoistische Befriedigtsein einer partikularen Persönlichkeit. Sokrates erweist sich hier abermals als derjenige, der im Sprunge

286 Lacan, Das Seminar, Buch II, S. 73. 287 Dies eines der zentralen Motive von Horkheimers und Adornos Interpretation der Odyssee (in Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, Max, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main, 1987, S. 67–103). 288 Zur römischen persona (aus dem griechischen prosopon) als anfangs dem Adel vorbehaltene abstrakte Rechtsperson vgl. Mauss, Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, speziell S. 238 ff. 289 Diesen Hinweis verdanke ich einem gemeinsam mit Juliane Rebentisch im Wintersemester 2007/08 in Potsdam abgehaltenen Seminar. 290 Schlegel, Sta, Bd. 5, S. 64. Das Zitat stammt aus Schlegels Nachlass, ist daher Kierkegaard nicht bekannt gewesen. 291 „Die erste Erscheinungsform ist natürlich diejenige, in welcher die Subjektivität zum ersten Mal in der Weltgeschichte ihr Recht geltend macht.“ (Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, S. 246.)

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zu Etwas begriffen ist, jedoch in jedem Augenblick es unterläßt, in dies Andere hineinzuspringen, sondern beiseite und zurück in sich selber springt.“292

Durch diese „negative […] doch unendliche Freiheit“ erweist sich „der Standpunkt des Sokrates abermals als Ironie“.293 Denn „[a]nstatt diese Negativität spekulativ zur Ruhe zu bringen, beruhigt er sie weit eher in der ewigen Unruhe […]. Dasjenige aber, das ihn bei alledem zu einer Persönlichkeit macht, ist eben die Ironie.“294 Um ‚Ironie‘ als quasi existenzielle Bedingung handelt es sich nun deswegen, weil einzig das ironische Fragen als Konstante der sokratischen Persönlichkeit auszumachen ist. Den Späteren drängt sich unweigerlich der Verdacht auf, Sokrates hätte nur durch eine quasi vampirische Ironie, nur in parasitärer Umkehrung der verlorenen Sicherheit seiner jeweiligen Gesprächspartner, ein Minimum an charakterlicher Stabilität oder Kohärenz gewonnen. „Quand on n’a pas de caractère, il faut bien se donner une méthode“.295 So verstanden ist „die Ironie sein Standpunkt, mehr als sie besaß er nicht“296, wie Kierkegaards Zuschreibung lautet, die Sokrates als eine erste Variante jenes überreflektierten und ästhetisch überzüchteten Subjekts fasst, welches sich in seinen Stimmungen aufzulösen droht. Schon für das sokratische Subjekt gilt: Ironie hilft der Subjektivität, sich zu konstituieren, aber höhlt sie gleichzeitig aus. Dass Sokrates’ Standpunkt jeweils nur ironisch ist, nur Ironie ist, hat seine geschichtsphilosophische Analogie in der haltlosen frühromantischen Übersteigerung des dialektischen Prozesses, nämlich als eines seine Ursprünge in der Fichte’schen Ich/Nicht-Ich-Spannung hinter sich lassenden, autonom und ziellos weiterreflektierenden Prozesses. Aber auch der umgekehrte positive Aspekt von Sokrates’ ausschließlich ironischem Standpunkt ist relevant. Nur die mit Ironie einhergehende mentale Beweglichkeit macht zuallererst die Möglichkeit kritisch einforderbarer Persönlichkeit aus. Innere Leere – Hegels und Kierkegaards ‚Substanzlosigkeit‘ – hilft, im griechischen hypokaimenon das spätere Subjekt freizulegen. Während Sokrates beständig redet, bezieht sich seine wahrheitsliebende Methode immer nur taktisch auf sein Gegenüber. Nur von diesem her spiegeln sich (seine) Inhalte auf ihn zurück. Sprachtheoretisch fundiert wird das im 20. Jahrhundert zu einer keineswegs mehr sinnlichen Gewissheit: „[J]e ne peut être identifié que par l’instance de discours qui le contient et par là seulement.“297 ‚Sokrates‘ ist so verstanden das erste Personalpronomen der Philosophiegeschichte. Er ist mediales Gesprächsmittel und sonst gar nichts. Eine weitere Formulierung Émile Benvenistes aufnehmend, kann seine Rolle folgendermaßen bestimmt werden: 292 293 294 295 296 297

Ebd., S. 171. Ebd. Ebd., S. 181. Camus, Albert, La chute, Paris, 1956, S. 16. Ebd., S. 220. Benveniste, Émile, Problèmes de linguistique générale, Bd. 1, Paris, 1966, S. 252.

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„de fournir l’instrument d’une conversion, qu’on peut appeler la conversion du langage en discours. C’est en s’identifiant comme personne unique [‚einziges Niemand‘ wäre eine sinnreiche Übersetzung; A. A.] prononçant je que chacun des locuteurs se pose tour à tour comme ‚sujet‘.“298

Was an Sokrates empört haben mag, scheint heute ein linguistischer Gemeinplatz. Ich, Sokrates, „ne vaut que dans l’instance où il est produit […] la forme je n’a d’existence linguistique que dans l’acte de parole qui la profère“.299 Damit beschreibt Benveniste, worauf schon Kants transzendentale Apperzeption, das ‚Ich denke, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können‘300, abzielte. Kant zufolge ist es nur dadurch, „daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann“, möglich, „daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle, d. i. die analytische Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgend einer synthetischen möglich“.301 In der romantischen Nachfolge Kants zerlegt sich genau dieses synthetische Vermögen des Bewusstseins. Hegels schon diskutierte Einschätzung der frühromantischen Ironie beinhaltet präzise Einsichten in das Funktionieren jedes Ich. Die Ironie, so Hegel wirkungsmächtiger als ihm lieb sein konnte, muss alle Vorstellungen wahllos mit ihrem punktuellen Ich begleiten und schwebt frei noch über den disparatesten Vorstellungen. Ironisch kommuniziert das Ich selbstreflexiv mit sich selbst, so wie es das im Spiegelstadium gelernt hat.

5. Psychoanalyse III: Freuds Melancholietheorien und deren Dekonstruktion Wenn wir heute Sokrates’ daimonion nicht mehr als Stimme eines fremden Gottes, sondern als innere Gewissensstruktur identifizieren, so zeigt sich, dass ein und dieselbe (ironische) Bewegung bei der Entstehung des Ich wie bei dessen Potenzierung beschrieben wird. Und wie bei Kierkegaard ‚Subjektivierung‘ nicht von einem ihr inhärenten dämonischen Element getrennt werden kann, so findet sich später auch bei Freud eine Genese des Ich aus dem Geist der Melancholie: ‚Ich‘ und ‚Über-Ich‘ entstehen zusammen und bleiben von daher stets in einer unabschließbaren Dialektik aneinander gebunden. Deutlich wird das wiederum in der oben schon hervorgehobenen Spannung innerhalb von Freuds Theoriegebäude selbst. „Wir sehen bei ihm [dem Melancholiker aus ‚Trauer und Melancholie‘; A. A.], wie sich ein Teil des Ichs dem anderen gegenüberstellt, es kritisch wertet, es gleichsam zum Objekt nimmt“, so Freud mit einer an Luhmann erinnernden Formulierung.302 Was hier als Gewissen identifiziert wird, erfährt in „Das Ich und 298 299 300 301 302

Ebd., S. 254. Ebd., S. 252. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders. Werkausgabe, Bd. III, B 132. Ebd. Freud, „Trauer und Melancholie“, S. 201; Luhmann formuliert das folgendermaßen: „Individuen sind Selbstbeobachter. Sie individualisieren sich dadurch, dass sie ihr eigenes Beobachten

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das Es“ eine Präzisierung bezüglich Melancholie. „[B]ei der Melancholie aber ist das Objekt, dem der Zorn des Über-Ichs gilt, durch Identifizierung ins Ich aufgenommen worden.“303 Der Begriff der ‚Identifizierung‘ ist freilich mit demselben Makel behaftet wie das ursprünglich gleichbedeutende Konzept ‚Objektbesetzung‘. Auch im Falle der Identifizierung versucht Freud mittels der Unterscheidung von primärer, vor jeder dauerhaften Trennung von ego und alter-ego erfolgender, und sekundärer Identifizierung eine klare Trennung zu etablieren. Sowohl transitive wie intransitive Bedeutung der Identifikation sind aber ergänzungsbedürftig. Das Individuum kann erst identifiziert werden, wenn es sich mit dem Anderen identifiziert. Es ist jedoch unmöglich, von einem intransitiven Sich-Identifizieren zu sprechen, solange kein identifiziertes Ich existiert. Und selbst der Begriff der Identität, so viel ist klar geworden, steht dem heterogenetischen Ich schlecht an. Als Ergänzung obiger spekulativer Re-Konstruktion eines mythischen Entstehungsmoments des Ich ist vor allem die psychoanalytische Matrix aller Identifizierung von Belang. Das Muster für die Introjektion anderer Subjekte ins Ich bietet dabei vor allem die ‚Inkorporation‘. Erst der Prozess der Einverleibung des ersten emphatischen Anderen, der Mutter, gibt dem sich damit konstituierenden Subjekt die Möglichkeit, sich von anderen zu unterscheiden. Wenn aber erst die (ironische, pharmakologische) Identifikation mit dem Anderen die Mittel zur Unterscheidung von diesen gibt, dann ist darin wiederum ein Exempel für die doppelte psychotische Gefährdung des Ich zu erkennen. Einerseits besteht die Gefahr einer überidentifizierenden paranoiden Festschreibung, andererseits diejenige ihres (schizophrenen) Gegenpols: der Überlastung und schließlich Überwältigung der Ichfunktionen durch eine Vielzahl identifikatorischer Möglichkeiten. Mit Lacan hat sich zu Beginn des Abschnitts das imaginäre Entstehen des Individuums als „wahnhafte[r] Panzer“304 und das individuelle „Gesichtwerden“ als verunreinigende symbolische Identifikation zu erkennen gegeben.305 Wahnhafte, phantasmatische (Über-)Identifizierungen sind demgemäß als Möglichkeit schon im ursprünglichen Subjektivierungsprozess angelegt. Jacques Derrida hat im Zusammenhang von Nicolas Abrahams und Maria Toroks Weiterentwicklung des beobachten“ (Luhmann, Niklas, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main, 2. Aufl., 1998, S. 153). Erst durch ihre wechselseitige und reziproke Konstitution werden Es, Ich und ÜberIch zu distinkten psychischen Instanzen oder Objekten. Auch psychische „Objekte konstituieren sich, so gesehen, nur im Kontext einer Beobachtung zweiter Ordnung“ (Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main, 1997, S. 878). 303 Freud, „Das Ich und das Es“, S. 318. 304 Lacan, Jacques, „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“, in: ders., Schriften, Bd. I, 1973, S. 61–70, hier S. 67. 305 Ich übernehme hier Deleuzes und Guattaris Hypothese, wonach „Sprache immer mit Gesichtern verbunden [ist], die ihre Aussagen ankündigen und sie den gängigen Signifikanten und betroffenen Subjekten gegenüber aufladen. Entscheidungen werden von Gesichtern geleitet und Elemente werden auf Gesichtern organisiert: eine allgemeine Grammatik ist immer mit der Erziehung der Gesichter verbunden. Das Gesicht ist ein regelrechtes Sprachrohr.“ (Tausend Plateaus, S. 246.) Dort auch zur fraglichen etymologischen Herleitung der Person durch „personere“ (das, woher die Sprache kommt).

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Konzepts der ‚Inkorporation‘ den Versuch einer „redéfinition du Moi (le système des introjections) et du fantasme d’incorporation“306 unternommen. Seine Überlegungen kreisen um das ebenfalls nach einer ironischen Logik gedachte Konzept der Krypta307 als eines „lieu compris dans un autre mais rigoureusement séparé de lui“.308 Diesen eingeschlossenen Ort (for, forum) als Gewissen ausdeutend, spielt Derrida auf einen Zusammenhang von Phantasma und Gewissen an, jenes phantasmatische Gewissen, als welches ich oben die für dessen Zeitgenossen wohl eher psychotische innere Stimme des Sokrates zu bestimmen versucht habe. „‚Je‘ ne sauve un for intérieur qu’en le mettant en ‚moi‘, à part moi, dehors.“309 Tatsächlich verweist das Phänomen des Gewissens wie kaum ein anderes auf die letztendliche Porosität des Ich: die Unmöglichkeit, sich von jener Außenwelt abzugrenzen, aus welcher Ich allererst entstehen konnte.

6. Kleiner Exkurs über die spielerische Genese und den maskenhaften Untergang des Ich (Rilke) „Was nicht verdorren will, nimmt lieber das Stigma des Unechten auf sich. Es zehrt von dem mimetischen Erbe. Das Humane haftet an der Nachahmung: ein Mensch wird zum Menschen überhaupt erst, indem er andere Menschen imitiert […]. [D]ie Priorität des Selbst ist so unwahr wie die aller, die bei sich zuhause sind.“ Theodor W. Adorno310

Anhand der Themen ‚Verstellung‘ und ‚Kostümierung‘ sollen hier noch einmal Bandbreite und interner Zusammenhang der Phänomene ‚Maske‘ und ‚Spiel‘ verdeutlicht werden. Für das folgende close reading einer Passage aus Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge können zugleich obige neurobiologische Spekulationen wieder aufgenommen werden, denen zufolge Menschen einerseits ständig „virtuelle Realitäten herstellen, nützliche Simulationen der Welt, an denen wir unser Handeln ausrichten“, während andererseits unser „Selbst fast definitionsgemäß privat“, aber „entwicklungsgeschichtlich sogar aus einem sozialen Kontext hervorgegangen“ sei.311 Chris Knight hat die einschlägigen evolutionspsychologischen Hypothesen mit der Frage nach der imitativen Natur des Spracherwerbs verbunden. Denn „in seeking to explain early vocal preadaptions for 306 Derrida, Jacques, „FORS. Les mots anglés de Nicolas Abraham et Maria Torok“, in: Abraham, Nicolas und Torok, Maria, Le verbier de l’Homme aux loups, Paris, 1976, S. 7–73, hier S. 14. 307 Zum Zusammenhang Krypta–dissimulation vgl. ebd., S. 12, sowie Abraham, Nicolas und Torok, Maria, L’écorce et le noyau, Paris, 1997; speziell „La crypte au sein du moi“, S. 229–321. 308 Derrida, „FORS“, S. 12. 309 Ebd., S. 13. 310 Adorno, Minima Moralia, S. 204. 311 Ramachandran, Eine kurze Reise durch Geist und Gehirn, S. 122.

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speech […] we appear to have no alternative but to invoke ‚play‘“, wobei „[s]equences of thematically related representational play roughly coincide with first use of syntactic combinations in expressive language“.312 Und auch der weitere Ausbau der Sprachfähigkeit verläuft spielerisch. Von evolutionspsychologischer Seite wurde darauf hingewiesen, dass bei allen Säugetieren gerade die Jüngeren und Jüngsten am verspieltesten sind. Mit Bezug auf Huizingas einschlägige Studie zum Homo ludens und bei konstanter Argumentationsstruktur verweist Knight des Weiteren auf die Fortsetzung dieser spielerischen Elemente für die „elaboration of adult symbolic competence“.313 Eine analoge spieltheoretische Argumentation auf sozialbehavioristischer Ebene findet sich bei George H. Mead. Dieser entwickelt mittels kulturalisierter Begriffsschemata eine liberalistische Definition von ‚Spiel‘, verstanden als Durchorganisation von Reizen. So bestimmt er die Entstehung des sozialen Ich aus dem Geist von Spiel und Wettkampf, der „individuellen Spiegelung der allgemeinen, systematischen Muster des gesellschaftlichen oder Gruppenverhaltens“.314 Einer ersten Nachahmung folge diejenige des Wettkampfes, wobei der „grundlegende Unterschied zwischen dem Spiel und dem Wettkampf [darin] liegt […], daß in letzterem das Kind die Haltung aller anderen Beteiligten in sich haben muß“.315 Mit Mead lässt sich also die positive Funktion des aggressiven Ausscheidungswettkampfs – Baseball ist sein präferiertes Beispiel – als notwendige Einbeziehung aller Mitspieler beschreiben. Erst im Versuch, die anderen zu überwinden, versetzt sich das ‚I‘ in andere und wird so zum gesellschaftlichen ‚me‘. Deswegen stört es auch nicht, dass „keine scharfe Trennungslinie zwischen unserer eigenen Identität und der Identität anderer Menschen gezogen werden“316 kann. Sowohl theoretisch als auch literarisch opponiert diesem amerikanischen Optimismus eine der faszinierendsten Episoden aus der Kindheit des Malte Laurids Brigge. Die Szene, die ich hier kurz untersuchen möchte, zeigt den jungen Malte, wie er vor einem eigentümlich lebendigen Spiegel alte Kostüme probiert. „Wenn da etwas aus dem Trüben heraus sich näherte, langsamer als man selbst, denn der Spiegel glaubte es gleichsam nicht […]. Aber schließlich mußte er natürlich. Und nun war es etwas sehr Überraschendes, Fremdes, ganz anders, als man es sich gedacht hatte, etwas Plötzliches, Selbständiges, das man rasch überblickte, um

312 Knight, Chris, „Play as a Precursor of Phonology and Syntax“, in: The Evolutionary Emergence of Language, hrsg. v. Chris Knight u. a., Cambridge u. a., 2000, S. 99–122, hier S. 105 f. 313 Ebd., S. 112. 314 Mead, George Herbert, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt am Main, 1995, S. 201; zu einer allgemeinen Kulturtheorie des Spiels vgl. Huizinga, Johan, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg, 1960; zu einem radikalisierten Verständnis von Spiel vgl. unten den Abschnitt „Grenzen der Ironie“ im Kap. G. „Metaphysische Entgrenzungen“. 315 Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, S. 196. 316 Ebd., S. 206.

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sich im nächsten Augenblick doch zu erkennen, nicht ohne eine gewisse Ironie, die um ein Haar das ganze Vergnügen zerstören konnte.“317

Ironie wird hier als ein distanzierendes Moment gedacht. Solange Malte spielt, vermeint er die Masken zu beherrschen und den Überblick zu bewahren. Aber schon bald lernt er das aktive Potenzial der Kostüme kennen, welches er in einem ersten Moment noch als „Einfluß“318 fassen zu können glaubt. Kaum hat er aber „einen dieser Anzüge angelegt, mußte ich mir eingestehen, daß er mich in seine Macht bekam; daß er mir meine Bewegungen, meinen Gesichtsausdruck, ja sogar meine Einfälle vorschrieb“.319 Innerhalb eines Absatzes verschiebt sich dann der Zusammenhang von Worten, Dingen (Kleidern) und ihnen unterworfenem Subjekt. „Ich lernte damals den Einfluß kennen, der unmittelbar von einer bestimmten Tracht ausgehen kann“, beginnt der erste Satz des Abschnitts.320 Satz für Satz fließt dann die „Macht“ der probierten „Anzüge“ in den Protagonisten ein und scheint das Subjekt umzuwandeln. In der Folge legt sich Malte Kostüme an, legt sich aber auch mit ihnen an – und aus dem Spiel wird Ernst. Es ist ein nicht näher beschriebener Anzug, der zuerst – die Reihenfolge ist hier wichtig – die körperlichen Bewegungen, dann den Gesichtsausdruck und schließlich auch die Einfälle vor-schreibt. Damit hat das Einfließen und Einsickern endgültig zu einer Verschmelzung geführt. Rilkes Sprache ist dem Protagonisten an dieser Stelle weit voraus, und schreibt somit selber die Interpretation vor. Maltes Einsicht hinkt zu diesem Zeitpunkt noch hinterher. Seine „Verstellungen gingen indessen nie so weit, daß ich mich mir selber entfremdet fühlte“.321 Durch das Nebeneinanderstehen der Pronomina wird das logische Paradox deutlich, welches im Begriff einer ‚Selbstentfremdung‘ steckt. Wie soll ein mich von einem mir, und noch dazu selber entfremdet sein? „Im Gegenteil, je vielfältiger ich mich abwandelte, desto überzeugter wurde ich von mir selbst. Ich wurde kühner und kühner; ich warf mich immer höher.“322 Mehrfach schon hat sich das zyklische Wechselspiel von Genese, Ausprägung des Ich sowie dessen darauffolgendem Absturz erwiesen. Hier genügt es nun, sich einfach von Rilkes tonaler Präzision leiten zu lassen. Kühner – kühner – höher. Mit einer solchen wiederholenden Steigerung fordert das Selbst den Absturz heraus. Immer dünner wird die Luft angesichts dieser dreifachen Gefahr zwischen den Umlauten und diversen stumm drohenden Hs. Seine endgültige Unterwerfung besiegelt Malte durch die Entdeckung einiger Masken. „Ich hatte nie Masken gesehen vorher, aber ich sah sofort ein, daß es 317 Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 85. Mit anderen Schwerpunkten wird die bekannte Episode auch in Sandrine Melchior-Bonnets materialreicher Studie zur Histoire du miroir und in Ulf Poschardts Anpassen diskutiert. 318 Ebd. 319 Ebd., S. 85 f. 320 Ebd., S. 85. 321 Ebd., S. 86. 322 Ebd.

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Masken geben müsse“323, schreibt Malte, nicht wissend – platonisch gesprochen: sich nicht wiedererinnernd, denn wie anders ließe sich diese so selbstverständliche Einvernehmlichkeit erklären –, dass wir alle aus ebensolchen hervorgehen. Er probiert einige Masken, und „[d]as war nun wirklich großartig, über alle Erwartung“.324 Der imaginäre Triumph des Spiegelstadiums offenbart sich hier als einer über das Subjekt. Denn es ist ein subjektivierter Spiegel selbst, der nun nicht mehr zögert, sondern das Kommando übernimmt. „Der Spiegel gab es auch augenblicklich wieder, es war zu überzeugend.“325 Das „zu überzeugend“ ist ein ironisches – zu schön, um wahr zu sein. Dreifach nun ist diese Gefahr, weil es sich nicht einfach um ein quantitatives ‚Zuviel‘ oder um ein fälschliches Von-sich-Überzeugtsein handelt.326 Diese beiden Gefahren hätte Malte vielleicht noch abwehren können. Beides zusammen aber verbindet sich zu einem Dritten und besiegelt Maltes Sturz, hervorgerufen durch das wilde Durcheinanderstürzen der von ihm auf dem Dachboden durcheinandergebrachten Gegenstände. Malte kann sich aus dem Spiegelstadium nicht mehr befreien, „denn jetzt war er der Stärkere, und ich war der Spiegel. […] [E]s schien mir ungeheuerlich, mit ihm allein zu sein. Aber in demselben Moment, da ich dies dachte, geschah das Äußerste: ich verlor allen Sinn, ich fiel einfach aus. Eine Sekunde lang hatte ich eine unbeschreibliche, wehe und vergebliche Sehnsucht nach mir, dann war nur noch er: es war nichts außer ihm.“327

Malte wird der Spiegel, nicht anders als er selber wurde, nicht mehr als er selber ist. So wird er auf einmal nicht mehr er selber, sondern ist schon ein anderer. In den Worten von Roger Caillois’ Studie: Die Spiele und die Menschen – Maske und Rausch handelt es sich um den „Sieg des Trugs: Die Verstellung endet bei einer Besessenheit, die nun selber nicht simuliert ist.“328 Malte fällt aus wie eine Maschine. Dass das Ich bloß eine (maschinelle) Funktion ist, ist der Grund für die vergebliche Verzweiflung, ich selbst sein zu wollen, einer Sehnsucht nach mir. Rilkes tragikomische Szene wäre als kleines metaphysisches Theaterstück über das Entstehen eines eigenen Charakters zu lesen, würde Malte in dieser Episode nicht wieder zurück in sein früheres herrschaftliches Leben finden. Vor den lachenden Dienstboten – „ihre Grausamkeit war ohne Grenzen“329 – spielt sich die letzte Szene ab. „Ich weinte, aber die Maske ließ die Tränen nicht hinaus, sie rannen innen über mein Gesicht und trockneten gleich und rannen wieder und trockneten. Und endlich kniete ich hin vor ihnen, wie nie ein Mensch gekniet hat; ich kniete und hob 323 324 325 326

Ebd., S. 87. Ebd. Ebd. „[D]enn meine Geschicklichkeit im Auffangen war über allen Zweifel“, lautet die Fortsetzung und der Abschluss des bedrohlichen „Höherwerfens“ (ebd., S. 86). 327 Ebd., S. 89. 328 Caillois, Roger, Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, München, 1958, S. 98. 329 Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 89.

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meine Hände zu ihnen auf und flehte: ,Herausnehmen, wenn es noch geht, und behalten‘, aber sie hörten es nicht; ich hatte keine Stimme mehr.“330

Keiner kommt ihm zu Hilfe. „Sie waren es so gewöhnt von mir.“331 Malte wird aber schließlich doch aufgefunden, „wie ein Stück in allen den Tüchern, rein wie ein Stück“.332 Aber was ist das für ein Stück, als das Malte so nachdrücklich sich gefunden findet? Diese Frage kann durch eine Lektüre des kürzesten Textstücks der Aufzeichnungen beantwortet werden. Dieses Stück Rest, dieser Malte, der da gefunden wird, ist kein geretteter. Noch das gefundene Stück selbst, dieser letzte Rest des kleinen Malte, ist nicht dessen authentischer Charakter, sondern nur ein Stück Verkleidung. Das Textstück, ein kurzer Paragraph, sei seiner Schönheit zuliebe zur Gänze angeführt. Es variiert noch einmal die – von mir kursiv hervorgehobenen – Momente obiger Analysen zur ironischen Genese des Ich: „Aussen ist vieles anders geworden. Ich weiß nicht wie. Aber innen und vor Dir, mein Gott, innen vor Dir, Zuschauer: sind wir nicht ohne Handlung? Wir entdecken wohl, daß wir die Rolle nicht wissen, wir suchen einen Spiegel, wir möchten abschminken und das falsche abnehmen und wirklich sein. Aber irgendwo haftet uns noch ein Stück Verkleidung an, das wir vergessen. Eine Spur Übertreibung bleibt in unseren Augenbrauen, wir merken nicht, daß unsere Mundwinkel verbogen sind. Und so gehen wir herum, ein Gespött und eine Hälfte: weder Seiende, noch Schauspieler.“333

VII. VERTEIDIGUNG DER VERFÜHRUNG VII. VERTEIDIGUNG DER VERFÜHRUNG

„Die Verführung ist immer einzigartiger und sublimer als der Sex.“ Jean Baudrillard334

1. Literatur und Verführung Seit Kierkegaard begleitet die Gestalt des Verführers die ethischen Diskussionen um Ironie. Nicht nur aber seiner Prominenz in der Sekundärliteratur wegen wird das Thema ‚Verführung‘ hier verhandelt. Es bildet zugleich auch eine systematische Schnittstelle zum folgenden poetologischen Kapitel D. über „Roman – Moderne – Ironie“. Als Simulant oder Betrüger in Sachen Liebe berührt und 330 331 332 333 334

Ebd. Ebd. Ebd., S. 90. Ebd., S. 180 f. Baudrillard, Jean, Von der Verführung, München, 1992, S. 23.

VII. VERTEIDIGUNG DER VERFÜHRUNG

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resümiert der Verführer eine Vielzahl der bisher besprochenen ethischen Ironiemotive. Die anderen bearbeitend, agiert der Verführer im Wesentlichen nicht moralisch, sondern arbeitet unentscheidbar ästhetisch-ethisch an sich. Spielend dissimuliert er, immer ein anderer zu sein. Die damit verbundene Täuschung seines Gegenübers, seiner Opfer, lässt ihn hinter allen Masken als böse erscheinen. Vor diesen moralischen Identifizierungen aber interessiert in diesem Abschnitt eher eine (dem Pathos des Erhabenen genau entgegengesetzte) Sublimität: geistige Beherrschung im Dienste körperlicher Befriedigung. In diesem Grenzbereich führt Ironie den Verführer von allgemeinen Moralprinzipien weg, hin zu einer ästhetischen Ethik. Der Verführer, der in der Liebe seine Abenteuer sucht, ist mehr als ein arbiträres Thema einzelner Romane. Vielmehr sind ‚Liebe‘ und ‚Abenteuer‘ über lange Zeit das fast ausschließliche Thema der Literatur gewesen.335 ‚Verführung‘ als Romanmotiv eignet sich in mehrerer Hinsicht als Reflexionsfigur auf das Medium selbst. Wie jeder Liebende sieht sich auch der einem vorgeprägten, klischeehaften Sprachmaterial gegenüberstehende Autor zur Verführung gezwungen. Nur eine neuartige Sprache oder zumindest neuartige Inhalte oder, im noch bescheideneren Fall des Liebenden, einzelne neue Bedeutungen (er)findend, vermeint er den Rezipienten fesseln zu können. Den Anspruch zu bezaubern teilen gebildeter Ästhet und Literat. Auf dieser Ebene gibt es keinen Unterschied zwischen Swanns Cateleya-Metapher und Prousts metonymischem Roman. Speziell der Liebesdiskurs strotzt nur so von verbrauchten Phrasen der Art ‚Ich liebe dich‘. Dass solchen Klischees nicht zu entkommen ist, ist aber nur ein scheinbares Hindernis. „La dérision du cliché n’exclut nullement son efficacité. Telle est l’ambiguïté fondamentale du rapport de l’écriture aux stéréotypes du discours amoureux.“ Laut Anne-Marie Paillet-Guth „cette ambiguïté s’accorde tout particulièrement à la définition pragmatique de l’ironie comme polyphonie énonciative“.336 Die grundsätzliche Polyphonie des ironischen Performativs unterscheidet sich von der oben diskutierten klassisch rhetorischen Deutung, wonach hinter jeder ironischen Aussage die gegenteilige Meinung verborgen werde. „Faire de l’ironie, ce n’est pas s’inscrire en faux de manière mimétique contre l’acte de parole antérieur ou virtuel, en tout cas extérieur, d’un autre. C’est s’inscrire en faux contre sa propre énonciation, tout en l’accomplissant.“337 Diese paradoxe intentionale Gleichzeitigkeit von gegeneinander gerichteten Aussagegehalten ist es zudem, welche eine ausschließlich rhetorische Deutung der Ironie auch hier zu kurz greifen ließe. Das zeigt sich nicht zuletzt an prekären linguistischen Bemühungen, durchschaubare Ironie und intransparente Lüge trennscharf zu unterscheiden. „Ironie wie Lüge sind das Ergebnis der Substitution eines Ausdrucks durch einen anderen, im Gegensatz zu ihm stehenden Ausdruck.“338 Der Unterschied zwi335 Vgl. dazu generell Auerbach, Erich, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen, 1994. 336 Paillet-Guth, Ironie et paradoxe, S. 105. 337 Berrendonner, Éléments de pragmatique linguistique, S. 216. 338 Müller, „Ironie, Lüge, Simulation, Dissimulation“, S. 191.

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schen beiden soll dann Wolfgang Müller zufolge darin bestehen, dass „bei der Ironie die semantische Inversion durchsichtig und die eigentliche Bedeutung rekonstruierbar ist, während bei der Lüge die semantische Inversion undurchsichtig und die wahre Meinung des Sprechers nicht rekonstruierbar ist“.339 Auf die Irrelevanz dieser Unterscheidung auf realem ethischem Terrain, also außerhalb der ideal-rhetorischen Versuchsbedingungen hat mit der ihm eigenen paradoxen Präzision Kafka verwiesen: „Das was man ist kann man nicht ausdrücken, denn dieses ist man eben; mitteilen kann man nur das was man nicht ist, also die Lüge“.340 Diese unaufhebbare Diskrepanz manifestiert sich in der Frage nach ‚Literatur und Verführung‘ und betrifft sowohl die Verführung des literarischen Schreibens selbst als auch die einzelnen simulierenden Protagonisten. Diametral entgegengesetzt ist die spannungsgeladene Koppelung Literatur/Verführung dem Versuch, eine „Homologie von Literatur und Liebe“341 zu formulieren. Anstatt nach identitätsstiftenden Echos im liebenden Anderen zu suchen, anstatt eine Transzendierung der diskursiven Grenzsetzungen zu beanspruchen, anstatt eine Aufhebung zwischenmenschlicher Widersprüche342 anzustreben, erden die listigen Verführer der Romantradition das Genre im Diesseits von sprachlicher und körperlicher Lust. Mittel dazu sind immer auch Ironie und Verstellung. Einer der exemplarischen Vertreter des Verführungsprinzips im modernen Roman, Madame Bovarys Verführer Léon, erweist sich nicht zufällig als erstes Medium innerhalb von Flauberts teilweise mit Bouvard et Pécuchet verwirklichtem Traum, einen reinen Klischeeroman zu schreiben. Schon seine Korrespondenz erweist Flaubert als einen der Ersten, die sich des literarisch produktiven Charakters des „mépris propre à l’ironie“343 bewusst wurden: „Je suis à faire une conversation d’un jeune homme et d’une jeune dame sur la littérature, la mer, les montagnes, la musique, tous les sujets poétiques enfin. – On pourrait la prendre au sérieux, et elle est d’une grande intention de grotesque. Ce sera, je crois, la première fois que l’on verra un livre se moquer de sa jeune première et de son jeune premier. L’ironie n’enléve rien au pathétique. Elle l’outre au contraire.“344

Flaubert könnte die Technik des ironischen Einsatzes von Figuren von der fast allegorisch zu nennenden Justine de Sades übernommen haben, an deren Protagonistin de Sade den Aufklärungsoptimismus eines Rousseau zu malträtieren suchte. Als Hintergrund aller späteren französischen Verführungsromane ist aber 339 Ebd. 340 Kafka, Franz, Nachgelassene Schriften und Fragmente, Bd. II, Frankfurt am Main, 1993, S. 378, Konvolut 1920. 341 „Beide dienen der Stabilisierung der Gesellschaft, die durch Entkoppelung von Funktionsbereich und Individuum auseinanderzufallen droht.“ (Klinkert, Thomas, Literarische Selbstreflexion im Medium Liebe, Freiburg i. Br., 2002, S. 250.) 342 Vgl. ebd. 343 Paillet-Guth, Ironie et paradoxe, S. 112. 344 Flaubert, Gustave, Lettre du 9 octobre 1852, in: Correspondance, hrsg. v. Jean Bruneau, Bd. II, Paris, 1980, S. 172.

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immer auch an Choderlos de Laclos’ Briefroman Les liaisons dangereuses zu denken, an denen sich zugleich in aller Deutlichkeit die eingangs angesprochene Analogie von Autor/Verführer bzw. Leser/Opfer ablesen lässt. Beinahe jeder der in den Liaisons dangereuses enthaltenen Briefe verdankt sich einer vorhergehenden exakten Kalkulation der strategischen Position des Empfängers. Valmont und die Marquise Merteuil setzen Klischees bewusst ein, ja steigern diese in kleinen Dosen nach genauer Relektüre ihrer eigenen Briefe. Die verführerische Macht dieser Briefe ist, wenn nicht tödlich, so zumindest stärker als die These, Laclos hätte es auf ein finales Freilegen wahrer Liebe abgesehen. „C’est par la mise en échec du système libertin que se fait la valorisation de l’amour vrai“345, meint etwa AnneMarie Paillet-Guth in ihrer Studie zu Ironie et paradoxe – Le discours amoureux romanesque. Im Gegensatz dazu sollen hier die – durchaus nicht automatisch einer Aufhebung in einen Diskurs ‚wahrer Liebe‘ zugänglichen – Aporien des Laclos’schen Libertins (Valmont) sowie dessen späterer dänischer Biedermeiervariante (Johannes des Verführers) genauer nachgezeichnet werden. Dazu ist vorab jedoch der motivische Zusammenhang von ‚Täuschung‘, ‚Intrige‘ und ‚Verführung‘ mit Bezug auf Ironie zu präzisieren. Von Interesse ist dabei vor allem die historische Kontextualisierung der besprochenen Phänomene aus der Sicht der Moderne.

2. Täuschung, Heuchelei, Lüge: Von Höflingen und privatisierenden Libertins „Hier, können wir sagen, sind wir zu Hause und können wie der Schiffer nach langer Umherfahrt auf der ungestümen See ‚Land‘ rufen“346, verkündete Hegel einst feierlich seinen Studenten in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie bei der Besprechung Descartes’. Doch der sichere Boden des neuzeitlichen Subjektivismus ist ein trügerischer. Schon in Descartes’ Discours de la méthode sieht sich das Subjekt zeitweise auf das punktuelle Moment des Zweifelns reduziert und heimgesucht von Phantasmen der Täuschung sowie einer möglicherweise teuflischen Intrige. Im 20. Jahrhundert ist die damit korrelierende Figur des Intriganten in ihrer umfassenden, politischen wie ästhetischen Bedeutung am prägnantesten von Walter Benjamins Trauerspielbuch angesprochen worden. „‚Verwirrung‘ ist nicht nur moralisch, sondern auch pragmatisch zu verstehen. Im Gegensatz zu einem zeitlichen und sprunghaften Verlauf, wie die Tragödie ihn vorstellt, spielt das Trauerspiel sich im Kontinuum des Raumes – choreographisch darf man’s nennen – ab. Der Veranstalter seiner Verwicklung, der Vorläufer des Ballettmeisters, ist der Intrigant […]. Der überlegne Intrigant ist ganz Verstand und

345 Paillet-Guth, Ironie et paradoxe, S. 32. 346 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, S. 120.

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Wille. Darin entspricht er einem Ideal, das Machiavelli zum ersten Mal gezeichnet hatte.“347

Das revolutionäre Moment freilich von Machiavellis Theorie, so stellt es sich aus Benjamins Perspektive der Zwischenkriegszeit dar, liegt in der rein immanenten Begründung von Politik. Analog funktioniert „Ironie, die aus dem Munde des Intriganten zurücktönt“ und ihn so zum „Herr[n] der Bedeutungen“348 macht, in einem solchen kontinuierlichen Raum ohne transzendente Garantie. Die damit korrelierende Verhaltenslehre hat zur etwa gleichen Zeit Helmuth Plessner unter Zuhilfenahme von paläontologischen, medizinischen und zoologischen Untersuchungen zu konzipieren versucht. Auch bei ihm geschieht das mittels einer historischen Reaktualisierung von barockem Wissen. „Die Grundsätze seiner Anthropologie“, die Helmut Lethen deswegen vor dem Hintergrund von Gracians höfischer Weisheitslehre diskutieren konnte, „lauten lapidar: der Mensch ist von Natur aus künstlich. Er wird in einer ‚exzentrischen‘ Position zu seiner Umwelt geboren und bedarf der Künstlichkeit einer zweiten Natur“349, um überhaupt am Leben zu bleiben. Laut Plessner „verallgemeinert und objektiviert sich“ der Mensch „durch eine Maske, hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne jedoch völlig als Person zu verschwinden“.350 Diese artifizielle Basis von Humanität ist es aber auch, welche die Möglichkeit zu Manipulationen jeder Art an die Hand gibt. Deswegen herrschte besonders im Mikrokosmos des Hofes die Angst vor der Täuschung aller anderen Höflinge. Dass der Höfling versucht, die Welt als Mechanismus persönlicher Leidenschaften zu seinen Gunsten zu bedienen, lässt ihn den ersten Schritt des Atheismus tun. „Wissen, nicht Handeln ist die eigenste Daseinsform des Bösen“351, so die zugleich dem Zusammenhang von exaltierter Freude und Trauer nachspürende Formulierung Benjamins. Ironische Mäeutik erscheint hier letztlich als eine aus dem Geist des Bösen. „Ehe in der Trauer Satan schrickt, versucht er. Als Initiator leitet er zu einem Wissen, das da zum Grund des sträflichen Verhaltens liegt. Wenn Sokrates’ Belehrung darin liegen mag, daß Wissen um das Gute Gutes tun macht, so gilt für Wissen um das Böse dies weit eher.“352

347 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 274; Adorno (Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main, 1993, S. 330) hat die Funktion der literarischen Intrige dann mit der musikalischen Durchführung parallelisiert. 348 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 383 f. Als Beleg dafür zitiert Benjamin (ebd., S. 401) aus Shakespeares Richard III: „Gloster (beiseit): So, wie im Fastnachtspiel die Sündlichkeit, / Deut’ ich zwei Meinungen aus Einem Wort.“ 349 Lethen, Helmut, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main, 1994, S. 80. 350 Plessner, Helmuth, Grenzen der Gemeinschaft, in: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Günter Dux u. a., Bd. V, Frankfurt am Main, 1981, S. 82. 351 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 403. 352 Ebd., S. 402.

VII. VERTEIDIGUNG DER VERFÜHRUNG

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Geht man von der Hypothese einer seit dem Mittelalter historisch stets zunehmenden Internalisierung von Moral aus, so ergeben sich zwei geschichtliche Perspektiven. Erstens zeigt sich, wie die „alte Fassung der Ethik, die sich an die Unterscheidung des guten und schlechten Verhaltens und der Tugenden von den Lastern gehalten hatte […] durch einen Vergleich von Intention und Handeln ergänzt“353 wird. Zweitens wird dadurch eine Aufklärungsprozessen inhärente Dialektik insofern katalysiert, als die Ausweitung der (Selbst-)Kenntnis mit einer Verkomplizierung von Selbst- und Fremdeinschätzungen einhergeht. Trotz aller Nähe zum Pathologischen, die es mitunter hat, ist das Vorhaben, (stets) ein anderer sein zu wollen, keine Form des Wahnsinns, sondern bewusst kalkulierte Unvernunft. Die Genese potenzialisierter Individualität aus dem Geist moralisch ambivalenter Selbstkontrolle zeigt sich als „klug kontrollierte Erscheinung“, nicht mehr als „Repräsentation eines Seins, sondern Präsentation eines Selbst“.354 Das gilt zunehmend auch für die den ironischen Figuren (Ästhet, Verführer, Dandy) vorausgehenden Gestalten (Heuchler, Höfling) der Vormoderne. So führt nach Niklas Luhmann die mit obiger Wandlung entstehende Erklärungslücke im 16. Jahrhundert zur Heranziehung der „Heuchelei (hypocrisy als neuer Begriff)“.355 Nur vor diesem Hintergrund ist die Wiederaufnahme stoischen Gedankenguts im 17. Jahrhundert gerade im Zusammenhang der Höflingsdiskurse diskursanalytisch nachvollziehbar. „Es geht um die Möglichkeit moralischer (= sozialer) Existenz und noch nicht, wie im späteren 18. Jahrhundert, um die Begründung spezifischer moralischer Urteile. Noch gilt die Sprache der Tugenden und Laster als bindend […], aber zugleich sucht das Individuum eine in sich selbst ruhende Position, die dann später mit dem Begriff des Subjekts formuliert werden wird.“356

Auch diese subjekttheoretische Komponente hat ihr etymologisches Vorspiel in der Antike. „Hypokrisie war im griechischen ‚Antwort‘, womit auch die Rede der Schauspieler im Dialog auf der Bühne gemeint war. Das Wort nahm später die Bedeutung ‚eine Rolle spielen‘, ‚schauspielern‘ an und konnte sowohl auf das Rollenspiel auf der Bühne wie auf das im sozialen Leben angewendet werden.“357

Immer wieder hat es sich als hilfreich erwiesen, den Ironischen (als zeitweise ironisch Sprechenden) vom Ironiker zu unterscheiden. Nur Letzteren zeichnet eine 353 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1036; zum Zusammenhang von Gracian’schem ‚Höfling‘ und ‚Spiegel‘ als Möglichkeit, nicht nur andere zu sehen, ohne gesehen zu werden, sondern auch als Möglichkeit, sich selbst beobachtend sein soziales Auftreten zu proben und zielgerichtet zu steuern, vgl. Melchior-Bonnet, Histoire du miroir, S. 146. 354 „Sie ist Seiendes mit Gedächtnis“, folgert Luhmann weiter (Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 907). Freilich handelt es sich vor der Moderne noch nicht um ein historisches Gedächtnis des 19. Jahrhunderts, sondern um ein raumzeitlich kürzeres, den eigenen Lebensabschnitt und -ort erst allmählich transzendierendes. 355 Ebd., S. 1037. 356 Ebd. 357 Müller, „Ironie, Lüge, Simulation, Dissimulation“, S. 197.

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vollständige Inkorporation der Ironie aus. Sucht man nun in dem Zeitraum von der frühen Neuzeit über das Barock bis zum späten 18. Jahrhundert nach einer diesem verwandten durchgehenden ironischen Personifizierung, so bietet sich die Figur des Verführers an. Auch im Sinne einer kontrastiven Vorgeschichte des modernen Ironikers soll hier ein kurzer skizzenhafter Abriss des gesellschaftlichen Abstiegs des Verführungsdiskurses versucht werden. Exemplarisch auch in ihrer historischen Position zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert werden im Kontrast zu den Liaisons dangereuses in der Folge die Unterschiede zu den kleinen bürgerlichen Varianten dieser aristokratischen Verführer deutlich werden. In den französischen Libertins von Laclos’ Roman prallen zwei nur scheinbar völlig divergente geschichtliche Konstellationen aufeinander: einerseits der politische Absolutismus, der in seiner französischen Spielart bekanntlich eine weitgehende Entmachtung des Adels bedeutete. Die überkodifizierte höfische Nabelschau des privatisierten Adels war andererseits, dies die zweite Tendenz, zugleich Spielplatz aufklärerischer Ideen, wobei sich der vorrevolutionäre Libertin freilich eher durch privat-erotische denn öffentlich-politische Ränke auszeichnet. Mit Elias lässt sich der Libertin soziogenetisch als Spezialfall des ‚verhöflichten Kriegers‘ verstehen, der nach seiner politischen auch seine „physische Durchsetzungsfähigkeit“ verloren hat und dessen „sexuell-aggressive Potenz“358 sich in einer Art Rückzugsgefecht neue Betätigungsfelder und -strategien suchen muss. Diesen zunehmend kastrierten libertinen Höflingen begegnet die Marquise Merteuil als die rächende Meisterin ihres Geschlechts vor oder am Beginn jeder Emanzipationsbewegung. Das unterscheidet Laclos’ Roman von den anderen hier thematisierten literarisch-philosophischen Beschreibungen des Geschlechterverhältnisses. So war die deutsche Frühromantik dem Thema Gleichberechtigung zwar metaphysisch affirmativ, praktisch aber eher unbeholfen begegnet. Seyla Benhabib hat gezeigt, inwiefern Hegels Widerstand gegen „freie Liebe“ auch Schlegels Roman als „Wegbereiter der Libertinage und Promiskuität“359 gegolten hat. Aber auch die Lucinde ist kein Text der Frauenbefreiung; den Frauen bleibt nur „die Rolle idealisierter Reisegefährtinnen, Begleiterinnen der Männer auf deren Weg zu geistiger Vollendung“.360 Die Wahrheit über Schlegels Ausblendung der weiblichen Sexualität mittels einer abstrakten Androgynität schreibt Johannes der Verführer in Kierkegaards reaktionärem Nachfolgetext zum frühromantischen Diskurs über den ironischen Eros. Kierkegaards Tagebuch des Verführers ist mönchisches Biedermeier. Sein Protagonist ist weniger (erotischer) Vampir, als welchen Kierkegaard den Ironiker bezeichnete, denn asexueller Exorzist. So betrachtet ist die Kierkegaard’sche Verführung, mitsamt ihrer unbedarften Jungfrau als asexuellem 358 Schröter, Michael, Wo zwei zusammenkommen in rechter Ehe … Sozio- und psychogenetische Studien über Eheschließungsvorgänge vom 12. bis 15. Jahrhundert, Hannover, 1982, S. 184. 359 Benhabib, Seyla, Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne, Frankfurt am Main, 1995, S. 269. 360 Ebd., S. 273.

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Inventar, eine armselige Reduktion auf ihr häusliches Milieu.361 Aus dem französischen Höfling ist ein halbes Jahrhundert später ein verklemmter dänischer Privatgelehrter geworden. Auch er intrigiert nur mehr auf zwischenmenschlichem Terrain, zwischen den Geschlechtern. Gerade sein biblischer Satanismus ist es aber, der Johannes, den sadistischen Verführer, noch einmal ästhetisch interessant werden lässt.362 Er unterscheidet sich vom quälerischen Dasein Fausts, der sich des ironischen Satans Mephistopheles bedienen muss. In Gegensatz zu diesem hegelianischen Teufel, der stets das Böse will und dann doch Gutes schafft, steht hier eine radikalere Tendenz im Vordergrund. Diese hat ihre vollständigste Ausformulierung bei de Sade gefunden: das Phantasma einer bewussten Opferung und vollständigen Annihilation des jeweiligen Objekts des Begehrens. Mag deswegen de Sades écriture auch eine ironische heißen – sein Phantasma einer absoluten Vernichtung ist es deswegen noch lange nicht. Ein emphatisch verstandener ‚ironischer Sadismus‘ müsste sich dagegen insofern selbst aufheben, als sich das handelnde Subjekt nicht mehr vom gequälten Objekt zu unterscheiden wüsste. Dieser ironischen, medialisierten Form gilt in der Folge mein eigentliches Interesse. Dem Versuch, ihre faszinierende Dialektik noch in den Kierkegaard’schen Altherrenchauvinismen ausfindig zu machen, ist der folgende Abschnitt gewidmet, der die Verführung als ein Spiel der Reflexion extrapolieren will. Deswegen kann es nicht verwundern, die am Beginn der Studie definierten Reflexionsunterschiede auch hier wiederzufinden. Die Differenz zwischen dem nach dem Muster beherrschter Ironie zwanghaft selbstbestimmten, das gegnerische Opfer überreflektiert ausrechnenden Verführer und der ebendiese Unterscheidungen auflösenden, höherpotenzierenden Verführungsreflexion braucht somit in der Folge nur mehr konkretisiert und nicht noch einmal reflexionstheoretisch herausgearbeitet zu werden.

3. Verführer oder Verführung: eine Differenz ums Ganze (Les liaisons dangereuses) Was bei Sade später real phantasiert wird, findet sich als brutaler (symbolischer) Kern schon bei Gracians Klugem Weltmann angelegt. Die weltmännisch Urteilskräftigen „sezieren so eine Person bis in die Eingeweide und bestimmen sie dann in ihren Eigenschaften und ihrem Wesen.“363 Die Tatsache, dass wir „hauptsächlich 361 Vgl. dagegen Valmonts Ablehnung „de seduire une jeune fille qui n’a rien vu, ne connait rien“ als aristokratischer Ehrenkodex oder Ethos eines Dandys, der mit seinen Aufgaben wachsen will, in: Laclos, Choderlos de, Les liaisons dangereuses, Paris, 1972, S. 39; zu Kierkegaard und dem Verführer im Allgemeinen vgl. die materialreiche Studie Walter Rehms (Kierkegaard und der Verführer, München, 1949) sowie Konrad Paul Liessmanns Essay Ästhetik der Verführung. Kierkegaards Konstruktion der Erotik aus dem Geiste der Kunst, Frankfurt am Main, 1991. 362 Schon Schlegel hatte von der „Neigung der modernen Poesie zum Satanismus“ (Sta, Bd. 5, S. 11) gesprochen. 363 Gracian, Balthasar, Der kluge Weltmann, Frankfurt am Main, 1996, § 19, Hervorh. v. A. A.

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auf Erkundigungen“ hin agieren und leben, macht „unsere ganze Aufmerksamkeit vonnöthen, damit wir die Absicht des Vermittelnden herausfinden und schon zum voraus sehn, mit welchem Fuß er vortritt“.364 Diese Überlegungen Gracians werden von der Marquise Merteuil, Laclos’ zentraler Protagonistin, meisterhaft praktiziert. Sie unterscheiden sich jedoch erstens in ihrer höfischpolitischen Ausrichtung, zweitens in ihrer aphoristischen Manier. Baudelaires Vermutung, dass „les livres libertins commentent donc et expliquent la Révolution“365, muss hier so umfassend wie möglich verstanden werden. Revolutionär sind die Libertins der Aufklärung in ihrer methodischen Radikalisierung. Merteuil visiert nichts anderes an denn ihre Selbstbefreiung. Als Frau am patriarchalen Hof bekommt ihre ethisch-ästhetische Arbeit an sich selbst und „à mes plaisirs“366 zugleich, zumindest ansatzweise, eine politische Stoßrichtung. „Ce travail sur moimême avait fixé mon attention sur l’expression des figures et le caractère des physiognomies.“367 Sie operiert also mit einem Wissen, das im nächsten Absatz zugleich seine politischen Wurzeln im höfischen Leben evoziert. „Je n’avais pas quinze ans, je possédais déjà les talents auxquels la plus grande partie de nos Politiques doivent leur réputation, et je ne me trouvais encore qu’aux premiers éléments de la science que je voulais acquérir.“368 Mit von ihr selbst entwickelten Mitteln versucht die Merteuil ihr gesamtes Geschlecht zu rächen. Als spekulative Vorgeschichte von Laclos’ Roman kann durchaus ein mythischer Ursprung des Begehrens angenommen werden: die am Ende unmögliche Vereinigung, „the attainment of the One“.369 Nicht der auch Valmont eigene cartesianische Wille zur „pureté de méthode“370 trennt die beiden späteren Kontrahenten und auch nicht, den eigenen Prinzipien nicht bloß aus „habitude“ zu folgen, sondern, so Merteuil, als „fruit de mes profondes réflexions“.371 Beide eint anfänglich auch derselbe „amour du combat. La tactique, les règles, les méthodes. La gloire de la victoire […]. L’amour de la gloire. Valmont et la Merteuil en parlent sans cesse, la Merteuil moins.“372 Diese zuletzt genannte, von Baudelaire ausgemachte minutiöse Differenz kann nur aus der (historisch) unterschiedlichen Geschlechterperspektive der beiden Beteiligten erklärt werden. Lust zu gewinnen hat für die Merteuil auch einen befreienden Effekt. Durch ihre Initiation kann ihr Liebhaber Danceny in der Folge als aufgeklärt gelten. Konträr dazu geht Valmonts aus Langeweile verschärfter machismo mangels anderer Abenteuer auf Kosten seiner Opfers: „[J]’ai le projet qu’elle garde de moi toute sa vie une idée supé364 Ebd., § 80. 365 Baudelaire, Charles, „Notes sur Les liaisons dangereuses“, in. ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 66–75, hier S. 68. 366 Laclos, Les liaisons dangereuses, S. 370. 367 Ebd., S. 223. 368 Ebd.. 369 „In the beginning there was the successful relationship, the attainment of the One“ (Zupančič, Alenka, Ethics of the Real. Kant, Lacan, London, 2000, S. 108). 370 Laclos, Les liaisons dangereuses, S. 364. 371 Ebd., S. 222. 372 Baudelaire, „Notes sur Les liaisons dangereuses“, S. 69.

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rieure à celle de tous les autres hommes.“373 Mit Baudelaire sind Valmonts Eskapaden als Ausdruck eines erotischen Willens zur Macht zu lesen: „Valmont, ou la recherche du pouvoir par le Dandysme“.374 Was ihn von der sublimen Heuchlerin, jenem Baudelaire zufolge ironischen „tartuffe femelle“375, unterscheidet, „par quoi il est inférieur à la Merteuil“, ist paradoxerweise „un reste de sensibilité“376, eine verweichlichte, gerade nicht lustvolle Sensibilität. Nicht anders als in de Sades Histoire de Juliette erweist sich die weibliche Logik als schärfere. Unvermittelt, durchaus nicht dialektisch vermittelt, geht das mit erhöhtem Lustgewinn einher. Schon an Kierkegaards Verführer hat sich eine invers-proportionale Beziehung zwischen Sinnlichkeit und Sensibilität erwiesen. Lustfeindliche Vergeistigung verbindet sich leicht mit (alttestamentarisch verbürgtem oder kulturell säkularisiertem) Frauenhass. Speziell bei Kierkegaard wird das religiöse Erbe seines Verführungsdiskurses deutlich. Walter Benjamin hat darauf hingewiesen, dass lebensfremde Spekulierer schon in Augustinus’ Gottesstaat als Dämonen und Kontrastfiguren zur wahrhaften Kontemplation figurierten. „Als Wissen führt der Trieb in den leeren Abgrund des Bösen hinab, um dort der Unendlichkeit sich zu versichern.“377 Vor dem Hintergrund von Benjamins Beschreibung des barocken Satan – „höllische Spaßhaftigkeit des Intriganten, […] Intellektualität, […] Wissen um Bedeutung“378 – liest sich dann Hegels zuvor diskutierte Definition der bösen Romantiker in einem anderen Licht. „Grad im Gelächter“ des sadistischen Verführers „nimmt mit höchst exzentrischer Verstellung Materie überschwenglich Geist an“.379 Der befreiende Effekt des Lachens ist hier ein Effekt ironischer Sublimierung. Ironisch deswegen, weil die Erhebung über die Materie in die Immaterialität des geistig Bösen nur scheinbar gelingt. Sublimierung ist sie gemäß der psychoanalytischen Definition einer „Umsetzung von Objektlibido in narzißtische“.380 In ihrer minutiösen lacanianischen Lektüre der Gefährlichen Liebschaften hat Alenka Zupančič diese unmoralische „ethical dimension“ als „essential eighteenth-century theme“ herausgearbeitet.381 Der

373 374 375 376 377 378 379

Laclos, Les liaisons dangereuses, S. 337. Baudelaire, „Notes sur Les liaisons dangereuses“, S. 71. Ebd. Ebd., S. 73. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 404. Ebd., S. 401. Ebd. – Schon Hildegard von Bingens detaillierte Imagination des Sexuallebens des Melancholikers spricht dessen Sadismus an. „Die Melancholiker haben grobe Knochen, die wenig Mark enthalten, welches aber so heftig brennt, daß sie im Verkehr mit Frauen zügellos wie Schlangen sind […]. Sie verkehren mit den Frauen und hegen nichtsdestoweniger Haß gegen sie.“ (Hildegard von Bingen, Causae et curae, hrsg. v. Paul Kaiser, Leipzig, 1903, S. 73, 20 f.) 380 Freud, „Das Ich und das Es“, S. 298. 381 Zupančič, Ethics of the Real, S. 110; Zupančič’ glatte Unterscheidung (vgl. ebd., S. 106 f. und 135) eines „Sadeian movement“ (ewige Annäherung eines unerreichbaren Objekts des Begehrens, Geschlechtsakt als ewiges fait à accomplir) und eines „Don Juanian movement“ (ständig überhastetes Überlaufen des Objekts, jeder Geschlechtsakt als fait accompli) braucht hier jedoch nicht übernommen werden.

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„path to autonomy leads through evil […]. Knowledge itself is not enough. It is in fact the ground of superiority, yet in order for this superiority to be effective, something more is required: the decision for the evil and the strength to persist in it regardless of the consequences, even at the expense of one’s own well-being.“382

Jenseits der Plattitüde, dass jede Form von Sadismus (qua Aktivität) Elemente von Masochismus (qua Passivität) in sich trägt, gilt es, die auf der Ebene von Freuds zweiter Triebdualität (Eros und Thanatos) erfolgte Ableitung ernst zu nehmen, die die metapsychologische Hypothese eines Todestriebs mit dem Konzept eines ‚primären Masochismus‘ verbindet. Jede „Identifizierung hat den Charakter einer Desexualisierung oder selbst Sublimierung. Es scheint nun, dass bei einer solchen Umsetzung auch eine Triebentmischung stattfindet. Die erotische Komponente hat nach der Sublimierung nicht mehr die Kraft, die ganze hinzugesetzte Destruktion zu binden, und diese wird als Aggressions- und Destruktionsneigung frei.“383

Nicht nur ist jede Liebe von Aggression grundiert, vielmehr produziert sie diese mit. Deswegen trifft das triumphierende Urteil der Marquise Merteuil, nachdem Valmont die Präsidentin hat fallen lassen, voll ins Schwarze und ist doch zu präzisieren: „Oui, Vicomte, vous aimiez beaucoup Madame de Tourvel, et même vous l’aimez encore; vous l’aimez comme un fou.“384 Valmont liebt aber nicht nur wie ein Wahnsinniger, vielmehr ist diese Liebe in ihrem Wesen eine wahnsinnige Identifizierung, der Versuch einer Einverleibung des Anderen. Es ist die daraus folgende sadistische Rache des Über-Ich an den masochistischen Neigungen des Ich, welche Valmont nach dem Tod der von ihm einverliebten Präsidentin zu sterben zwingt. Das Über-Ich der Marquise ist das französische Lacans. Es gebietet ihr zu genießen. Es kommt ihrer Methode nicht in die Quere, begründet vielmehr deren Strenge. Merteuils weibliche Rache besteht in jener (heimlichen) Lust, jener positiven Seite der Aufklärung, deren zerstörerischen Gegenpol gerade der sentimentalische Idealismus Valmonts verkörpert. Alle cartesianische Furcht vor einem täuschenden Gott und der Menschenmaschine scheint für einen Moment in dieser weiblichen Utopie eingeklammert. Deren kämpferisches Ziel lautet, sich dem Status einer sexuell wehrlosen oder ausgelieferten Vergnügungsmaschine (machine à plaisir) zu entziehen. Die strategischen Zeichen dieser wechselseitigen Verführung stehen damit auf ‚Spiel‘, die involvierten Körper sind Instrumente der Lust. In Analogie zu den drei rhetorologischen Ironien formuliert: Merteuil ist der Verführung als umfassendem medialem Prinzip weit näher als der zwanghaft aktive und (von seinen Zwängen) beherrschte Verführer Kierkegaards und selbst der sehnsüchtige Valmont, deren beider Kontrollfanatismus einseitig aggressive Züge trägt. Ihr Begehren sublimierend, wird die Merteuil vom ehemaligen willenlosen Opfer zum Subjekt lustvoller Aktivität. Schon deswegen arbeiten 382 Ebd., S. 111. 383 Freud, „Das Ich und das Es“, S. 321. 384 Laclos, Les liaisons dangereuses, S. 411.

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ihre Ansprüche immer schon dem Phantasma einer absoluten Kontrolle von oben zuwider. Gegen die Beherrschung der widerständigen ironischen Dialektik befolgt sie Seyla Benhabibs einschlägigen Rat: „Was Frauen heute tun können, ist, der Dialektik ihre Ironie zurückgeben“.385 Auch an dieser Stelle ist es eine abgründige Bemerkung Freuds – im Zusammenhang des sadistischen „Schmerz zufügen[s]“386 –, welche die unterschiedlichen Verführungslogiken unterscheiden hilft: „Das aktive Verbum wandelt sich nicht in das Passivum, sondern in ein reflexives Medium.“387 Diese Formulierung verweist auf eine Medialität auch sprachlichen Agierens, welche den Kern der hier als medial konzipierten Verführung ausmacht. Bei dieser Medialität der Verführung handelt es sich um die rhetorologisch bereits an der Ironie analysierte. Anders als bei den drei wertfrei rhetorologisch zu trennenden ironischen Funktionsweisen ist eine Wertung ihrer drei ‚ethischen Performanzen‘ durchaus sinnvoll. Ob ironische Verführung der Erniedrigung des Anderen dient, dem ängstlichen Versuch eines Ausgleichs von Unterlegenheit oder der versuchten Hingabe, also dem unbedingt aussichtslosen Willen, sich selbst zu verschenken, sind ethische Differenzen ums Ganze. Dies freilich nicht in einem moralischen Sinne. Worum es sich handelt, ist eine ästhetische Stil- und ethische Haltungsfrage nach der maximalen Einlösung der in dem jeweiligen Phänomen angelegten Möglichkeiten. Entsprechend der rhetorologisch ausdifferenzierten, autopoietisch sich höherpotenzierenden und die Polarität von Reflektierendem und Reflektiertem auflösenden Reflexion durchbricht auch mediale Verführung die abstrakte Trennung von aktivem Verführer und passivem Opfer. Nicht aus künstlicher Empörung oder moralischen Geschmacksgründen, sondern weil Verführung erst als mediale ihr volles Potenzial einzulösen vermag, kann dieser auch ein ethischer Vorrang zugesprochen werden. Das zeigt sich am doppelten Vergnügen der Marquise. Da, wo sich Valmont, und noch mehr Johannes, mit ihrem geistigen Sadismus begnügen müssen, triumphiert die Merteuil körperlich – und empfindet den geistigen Genuss der Überlegenheit über einen bewussten Konkurrenten gleich noch dazu. In dem von Laclos kunstvoll inszenierten kurzen Spätsommer der (sprachlichen, brieflichen) Verführung decken sich in Person der Marquise körperliche und geistige Befriedigung auf raffinierte Weise. Keine größere Distanz ist denkbar als die zu Kierkegaards bornierter Frauenangst, welche seinen Verführer, der sich auf das Spiel einzulassen fürchtet, tadellos an einem entscheidenden Moment von Verführung vorbeistreifen lässt.

385 „Die Dialektik in Hegels System lässt sich nicht vom Anblick der Opfer trennen, die sie überrollt hat. Die Geschichte fordert Opfer, und die Frauen haben immer wieder zu den Opfern gehört. Was von dieser dialektischen Bewegung bleibt, sind gerade jene Aspekte, die Hegel glaubte beseitigen zu können: Ironie, Tragödie, Kontingenz. […] [I]n Hegels System wird die Ironie immer wieder getilgt.“ (Benhabib, Selbst im Kontext, S. 277.) 386 Zit. nach Laplanche, Jean und Pontalis, Jean-Bertrand, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt am Main, 1991, S. 449. 387 Ebd.

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4. Von der dissimulatio zur Simulation Baudrillards Die zuvor begründete ethische Unterwanderung der rhetorischen Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Lüge und Ironie wiederholt eine seit der Antike virulente Diskussion zweier unterschiedlicher Formen der Verstellung: „Simulation – das Vorspiegeln falscher Tatsachen – und Dissimulation – das Verbergen des Wahren.“388 Diese beiden Formen decken sich, gerade auch in ihrer tendenziellen Ununterscheidbarkeit, mit Ironie und Lüge. Das wiederholt auch die eingangs diskutierte Unterscheidung von großtuendem Alazon und ironischem Kleintuer: Der „Eiron ist der Dissimulator, derjenige, der sich selbst herabsetzt, seinen wahren Charakter und seine wahre Meinung verleugnet, der Alazon, der Simulator, der aufschneidet, mehr scheinen will, als er ist“.389 Die oszillierende Bewegung, welche sich schon an Nietzsches sowohl Simulation als auch Dissimulation umfassendem Verständnis der Maske andeutete, kann als eine Variante der dritten (rhetorisch-reflexionsphilosophischen) Logik der Ironie gelesen werden. Sie impliziert die Auflösung einer weiteren rhetorischen Grenzziehung, diesmal der definitorischen Teilung ironischer Prozessualität in eine „simulatorische Ironie“, die „in der durchsichtigen Vortäuschung eines gegenteiligen Standpunkts“ besteht, und eine „dissimulatorische“, die eine „erkennbare Verheimlichung der eigenen Überzeugung“390 bedeutet. Nach einer beruhigten rhetorischen Fassung des Anders-Sagens, einem dynamisierten Oszillieren bis zu, hat sich Ironie drittens als paradoxes Bewusstsein von Unmöglichkeit und Wahnsinn, als selbstbewusste Unvernunft erwiesen. Ironie, nun eher als ‚Vortäuschung‘ denn ‚Verstellung‘ gedacht, ist eine Variante und zugleich eine Weise des Umgangs mit dieser dritten Sprach- und Wirklichkeitssituation. Wo zuvor Substanzielles verborgen werden sollte, verstellen Masken jetzt nur mehr den Blick auf – nichts.391 Wiederum lassen sich die drei ironischen Verführungsperformative vor dem Hintergrund der drei eingangs analysierten rhetorologischen Modi trennschärfer konturieren. Sie lauten erstens: aggressive Beherrschung, zweitens: angstvoller Ausgleich und drittens: beabsichtigter Kontrollverlust. Die hier diskutierte mediale Selbsthingabe erweist sich bei exakter Betrachtung als qualitative Verschiebung des rhetorologisch analysierten Paradoxons einer bewusst kalkulierten Unvernunft. Diese Verschiebung ist dem unterschiedlichen ethischen Terrain geschuldet, in dem die rhetorischen Unterscheidungen wiederum ihre feldspezifische Umwertung erfahren. Für das von Hegel und Kierkegaard beobachtete iro388 Müller, „Ironie, Lüge, Simulation, Dissimulation“, S. 193; schon Quintilian (Ausbildung des Redners, S. 748) versteht die beiden Begriffe als „benachbart und fast identisch“ (vicina e prope eadem). 389 Ebd., S. 200. 390 Oesterreich, Peter L., Fundamentalrhetorik. Untersuchung zu Person und Rede in der Öffentlichkeit, Hamburg, 1990, S. 139. 391 Dieses aufgeklärt fetischistische Performativ wird sich weiter unten als dasjenige einer simulierten Präsenz abwesender Wahrheitsobjekte erweisen.

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nische Spiel mit dem Nichts bedeutet dies: dass es möglicherweise nichts mehr zu verstellen gibt. ‚Simulation des Nichts‘ meint von daher vor allem zweierlei: einerseits den Umgang mit einem Mangel an Bedeutung, andererseits die Produktion dieses Nichts, das heißt anzuerkennen, dass Nichts ausreicht als Anlass für fetischistische Spiele des Begehrens. Dass nichts vorgetäuscht wird, meint also nicht zuletzt, dass Verführung nicht auf hintergründiger List und Täuschung beruhen muss. Nach Kierkegaard hat den Zusammenhang zwischen Verführung und Ironie keiner nachdrücklicher betont als Jean Baudrillard, dessen aus einer kritischen Lektüre des Tagebuchs des Verführers hervorgehende Verführungstheorie zugleich hilft, Kierkegaards subjektive Limitierungen transparent zu machen. Zu diesem Zweck ist kurz die geschichtsphilosophische Rahmenhandlung Baudrillards, in welcher Ironie eine so prominente Rolle einnimmt, in groben Zügen darzustellen. Von seinem 1976 erschienenen Hauptwerk Der symbolische Tausch und der Tod über seine drei Jahre später erschienene Studie Von der Verführung bis zu den Fatalen Strategien von 1983, die als eine analytische Anwendung seiner ironischen Verführungstheorie auf gesellschaftliche Prozesse gelesen werden kann, zieht sich ein bestimmtes Dreiphasenmodell durch Baudrillards Werk. Darin kennzeichnet die Imitation (eines Originals) des ‚klassischen‘ Zeitalters von der Renaissance bis zur Französischen Revolution die erste historische Phase, die Produktion (einer Serie) als bestimmendes Schema des industriellen Zeitalters die zweite und die gegenwärtige Simulation (Modulationen eines Codes) die dritte.392 Die Feststellung, dass das „coole Universum der Digitalität das der Metapher und der Metonymie [absorbiert]“393 habe, kann als Resümee dieser Bewegung gelesen werden. Die kalte, jeden Platz für ein ironisches Spiel mit Nuancen ausschließende Logik von 0/1 verläuft Baudrillard zufolge parallel zur technokratischen Entleerung von Sprache und Ökonomie. „Im ‚neokapitalistischen‘ (techno- und semiokratischen) Rahmen systematisiert sich diese Form auf Kosten der ‚objektiven‘ Referenz: Signifikate und Gebrauchswerte verschwinden mehr und mehr zum ausschließlichen Vorteil des Codes und des Tauschwertes.“394

Baudrillard hat seit dem Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts den Triumph bedeutungsentleerter Zurichtungen leeren Designs postuliert, dessen voller Präsenz wir heute teilhaftig seien. Damit nähert er sich wohl mehr als ihm bewusst war einer melancholischen Entfremdungstheorie, die ihm doch an anderer 392 Vgl. Baudrillard, Jean, Der symbolische Tausch und der Tod, München, 1991, speziell das Kapitel „Die Ordnung der Simulakren“, S. 77–130; ausgehend von den drei in Von der Verführung (das Kapitel trägt den Titel „das duale, das polare, das digitale“) vorgestellten Zeitaltern der Regel/Ritualität, des Gesetzes/der Sozialität und der Norm ließe sich noch einmal die Konzentration vorliegender Studie auf das mittlere Zeitalter als für ein Verständnis der Ironie vorrangiges begründen. Vom Zeitalter des Gesetzes her können die beiden anderen verstanden werden. 393 Ebd., S. 119. 394 Ebd., S. 181; ausführlicher zum Thema der Entleerung der Sprache vgl. bei Baudrillard Kapitel 6, speziell S. 306 f.

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Stelle nur im Zusammenhang mit dem Stadium der „subjektiven Ironie“ möglich schien und die er scharf getrennt hatte von einer Bedrohung durch eine „objektive Ironie […], von der Ironie der Verwirklichung des Objekts, die ohne Rücksicht auf das Subjekt und seine Entfremdung stattfindet“.395 Bevor diese Überlegungen auf die Verführungsthematik zurückgewendet werden können, sind an dieser Stelle noch zwei begriffliche Ausdifferenzierungen notwendig: neben der Unterscheidung Baudrillards zwischen einer subjektiven und objektiven Ironie diejenige Baudelaires, die er in Bezug auf die Epoche Laclos’ vornimmt: „Ce n’était pas l’extase, comme aujourd’hui, c’était le delire.“396 Jenseits der epochenspezifischen Anwendung der beiden Terme interessiert hier nur das zugrunde liegende sublimatorische Paradox, wonach dem körperlichen Element des Deliriums ein geistiges Korrelat zukommt. Es ist die Betonung des Spiels in der Verführung, welche den Unterschied macht zu – in Baudrillards Diktion – ‚paranoiden‘ und ‚pornographischen‘ Versuchen, das Reale zu beherrschen. Schon de Sades Gewaltphantasien eignete ein Moment von redesüchtiger Obszönität, nicht zuletzt in dem Phantasma, alles in Kommunikation auflösen zu können.397 Auf der Seite des heißen Universums der Verführung finden sich also Szene, Leidenschaft und Baudelaires ‚Delirium‘. Auf Seiten des Coolen finden sich dagegen Faszination und „Obszönität all dessen, was sich vollkommen in der Kommunikation auflösen läßt“.398 In diesem Zustand herrscht keine theatralische Pathologie des Ausdrucks, keine „Hysterie mehr, auch keine projektive Paranoia [der Organisation und der rigiden und eifersüchtigen Strukturierung der Welt; A. A.] im eigentlichen Sinne, sondern jener besondere Zustand, der den Schrecken des Schizophrenen ausmacht: die zu große Nähe aller Dinge“.399

Damit hat sich das Problem umgekehrt. Denn nicht „dem Begehren kann man nicht entgehen, sondern der ironischen Präsenz des Objekts, seiner Indifferenz […], kurz gesagt: dem Prinzip des Bösen“.400

395 Baudrillard, Jean, Die fatalen Strategien, München, 1985, S. 221: „Die subjektive Ironie, die ironische Subjektivität, ist das höchste Gut eines Universum des Verbots, des Gesetzes und des Begehrens. Die Kraft des Subjekts erwächst ihm aus dem Versprechen der Verwirklichung, während die Sphäre des Objekts die Ordnung dessen bedeutet, was verwirklicht ist und dem man aus diesem Grund nicht entkommen kann“ (ebd.); zusätzlich beschreibt Baudrillard die „symbolische Wohltat der Entfremdung, die darin bestand, dass die Identitätslosigkeit sich sowohl zum Besten wie zum Schlechtesten wenden konnte“ (ebd., S. 80). 396 Baudelaire, „Notes sur Les liaisons dangereuses“, S. 69. 397 Zur Obszönität, freilich ohne den Verweis auf de Sade, vgl. bei Baudrillard das Kapitel „Das Obszöne“ in ders., Die fatalen Strategien, S. 60–84, sowie ders., Von der Verführung, S. 17: „[D]ie Verführung [repräsentiert] die Beherrschung des symbolischen Universums […], während die Macht lediglich die Beherrschung des realen Universums repräsentiert“. 398 Baudrillard, Die fatalen Strategien, S. 81. 399 Ebd., S. 83. 400 Ebd., S. 221.

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Im Gegensatz zu diesem tendenziell apokalyptischen Diskurs soll hier die Möglichkeit eines (die beteiligten Kontrahenten) integrierenden401 Verständnisses einer wohltemperierten Verführung ausgeleuchtet werden. Die Passion der Verführung ist es, pathologische Paranoia nicht anders als zwangsneurotische Hysterie und noch die ekstatische Liebe hinter sich zu lassen. Gewiss verwirklicht Johannes der Verführer Teile dieses Programms einer Überführung von Ethik in Ästhetik. Sein Projekt war es ja, das Begehren seines Opfers zu erwecken, die keusche Maid aus ihrer Naivität in den unglücklichen Zustand der Reflexivität zu befördern. „Die Ethik, das ist die Einfachheit (auch des Begehrens), die Natürlichkeit, wozu auch die naive Anmut und der spontane Elan des Mädchens zählen. Die Ästhetik ist das Spiel der Zeichen, der Kunstgriff – eben die Verführung.“402 Die Ästhetik des Verführers ist, folgt man hier weiter Baudrillard, einem der genauesten Leser des Tagebuchs des Verführers, „ironisch und teuflisch“, aber nicht pervers. Die „Ästhetik der Ironie“ zielt so verstanden darauf ab, „die vulgäre Erotik der Körper in Leidenschaft und Geistesblitz zu verwandeln“.403 Im Kontrast zu diesen Beobachtungen über das praktische Potenzial der Verführung offenbart sich das Scheitern von Kierkegaards theorielastigem Verführer, der an seinen eigenen Beschränkungen lächerlich wird. Beinahe in jeder seiner Eintragungen drückt sich dieselbe konstante Angst aus, selbst verführt zu werden, und spricht der zwanghafte Wahn, der alleinige und allmächtige Verführer zu sein. Johannes wendet die traditionellen Attribute des anderen Geschlechts (Schein und Verstellung) gegen dieses selbst. Warum dabei der Lustgewinn zugunsten der Absicherung gegen Verführungseffekte in den Hintergrund tritt, ist mittlerweile nachvollziehbar. Johannes, dieser mal hegelianische, mal mönchische, stets aber chauvinistische Verführer, bleibt bei der rachsüchtigen Antithese stehen, ohne sich der Herausforderung des Spiels zu stellen. Von vornherein gibt es für ihn weder etwas zu verlieren noch etwas zu gewinnen. Während mediale Verführung quer steht zu herkömmlichen (und teilweise noch Freuds) Unterscheidungen von weiblicher Verführung einerseits und sexueller Libido als männlicher andererseits, bleibt der vermeintlich asexuelle Verführer mitsamt seinen paranoiden Omnipotenzphantasien in einer Vorlust stecken, welche dadurch sadistisch wird. „Kierkegaards Verführer ist schier besessen von […] diesem noch unverletzten, noch geschlechtslosen Stadium […]: sie muß verführt werden, sie muß zerstört werden, da sie es ist, die von Natur aus mit aller Verführung begabt ist.“404 Der Exorzismus des Verführers liegt in seiner Faszination begründet. Des-

401 Vgl. zu dieser Unterscheidung Eco, Umberto, Apokalyptiker und Integrierte, Frankfurt am Main, 1989. 402 Baudrillard, Von der Verführung, S. 159. 403 Ebd. 404 Ebd., S. 137. Auch die realitätsfremde Unterscheidung Baudrillards zwischen einer quasi natürlichen Verführungskraft der Verführerin (mittels Schein) und der strategischen des männlichen Verführers (mittels Strategie) wird freilich von jedem einzelnen der Briefe der Marquise unterlaufen.

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wegen wird ihm das stets fetischistische Objekt, „der feticho, […] das Lockmittel“405 zum bösen Objekt. Der selbstverliebte Johannes hat schon verloren, zettelt aber trotzdem einen sinnlosen Kampf an, in dem es nichts zu gewinnen gibt. Gewiss besitzt er die Meisterschaft, teilweise die „Zeichen flottieren zu lassen“406, aber mehr als die kleine Cordelia verführt er nicht. Für ihn bleibt es bei dem Versuch (Allmachtsphantasien, einer der verführerischsten Aspekte der Ironie!): nur Cordelia in Schwebe zu halten und selber die Kontrolle zu bewahren. Deswegen plaudert Johannes wochenlang desinteressiert mit der Tante, führt selbst einen langweiligen Verehrer ein und erwidert – ganz Klischee des körperlosen Intellektuellen – keine der langsam erwachenden erotischen Regungen Cordelias. Für ein rechtes Duell bedarf es aber eines satisfaktionsfähigen Gegenübers; weil er sich einem solchen aber nicht stellen will, auch deswegen steht Johannes letztendlich nicht seinen Mann. Denn wenn „es ein natürliches Gesetz des Sex gibt, ein Lustprinzip, dann besteht die Verführung darin, das Prinzip daran zu verleugnen und durch eine Spielregel zu ersetzen, eine arbiträre Regel, und in diesem Sinne ist sie pervers“.407 Die Verführung operiert in einem Modus symbolischer Codes und sprachlicher Artikulation, also „im Modus einer duellhaften Affinität zur Struktur des anderen – der Sex kann als Zugabe daraus resultieren, nicht jedoch notwendigerweise“.408 Die hier propagierte medial-ironische Verführung ist eine paradoxen Gelingens, der Vereinigung von Disjunktem. Denn wozu auch sollte man verführen, was man nicht auch begehrt, dem man nicht schon längst verfallen ist? Das wäre nicht bloß eine (noch dazu meist allzu leichte) Zeitverschwendung, sondern vor allem eine entscheidende Reduktion von Verführung. Johannes’ Versuch, den Schein zu beherrschen, bedeutet, die Verführung – strukturanalog dem autoritären Versuch einer Beherrschung der Ironie in Kierkegaards Dissertation – zu verfehlen. Die medial-ironische Verführung bedeutet dagegen Bejahung der Simulation in ihrer oben als fetischistisch bestimmten Dimension.409 Der qualitative Unterschied zur dritten rhetorologischen Dimension ist somit, wie zuvor angedeutet, einer Verschiebung des Anwendungsfelds geschuldet. Auf ethischem Terrain kann die Anerkennung der Unverständlichkeit kaum bei einer Konstatierung textuellen Unsinns stehenbleiben, sondern muss eine Konsistenz simulieren, ohne die Interaktion unmöglich wäre. Sie ist Spiel mit dem Schein ohne das Phantasma von dessen Beherrschung; eine verführerische Tätigkeit, die keineswegs auf Intentionalität verzichtet, aber die Verkomplizierung und Durch405 „Das Objekt hingegen ist immer der Fetisch, das Falsche, der feticho, die Attrappe und das Lockmittel.“ (Baudrillard, Die fatalen Strategien, S. 223.) 406 Ebd., S. 151. 407 Ebd., S. 173. 408 Ebd., S. 63. 409 Der „Typ von Synekdoché, auf den es im Fetischismus ankommt (pars-in-loco-totius), vereinigt die Eigenschaften von Metapher und Metonymie, von Verdichtung und Verschiebung […]. Die Selektion des einen Signifikanten ist endgültig, ‚fatal‘. Darum kann man den Fetischismus, eine Formel Jean Baudrillards aufgreifend, eine ‚fatale Strategie‘ nennen […] eine Art paradoxes Verhalten.“ (Böhme, Fetischismus und Kultur, S. 393)

VII. VERTEIDIGUNG DER VERFÜHRUNG

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kreuzung der eigenen Ziele zugleich lustvoll als Problematisierung der jeweiligen Handlungsmotive erfahren lässt. Einzig die „Duellbeziehung setzt das Tauschgesetz außer Kraft“.410 Ziel ist die Passion als Verführung gegen den hysterischen Liebesdiskurs. Die Liebe ist immer auch ein Zeichen der „Schwäche, denn sie verlangt ständig etwas vom anderen“.411 Dagegen ist die Leidenschaft „ein Zustand, etwas, das dich überkommt, das sich deiner bemächtigt, das dich festhält, das keine Pause kennt und keinen Ursprung hat. Tatsächlich weiß man nicht, woher das kommt. Die Leidenschaft ist einfach da.“412 Der Diskurs der Hysterie ist jener der symptomalen Erpressung, der Tränen und der Liebe, von Tausch und (Selbst-)Täuschung. ‚Wenn du das (nicht) machst, dann liebe ich dich nicht mehr.‘ Auch gegen das erpresserische Tauschdenken der Liebe ist eine Vorstellung von täuschender Verführung zu erwägen, die über deren chauvinistische Reduktion hinausgeht. Denn „[k]rank ist nur, wer sich ganz und gar außerhalb der Verführung befindet, selbst wenn er oder sie durchaus noch fähig ist, zu lieben und Lust zu empfinden“.413

410 Baudrillard, Von der Verführung, S. 175. 411 Foucault, Michel, „Gespräch mit Werner Schroeter“, in: ders., Schriften, hrsg. v. Daniel Defert, Frankfurt am Main, 2005, Bd. 4, S. 303–314, hier S. 304. 412 Ebd., S. 303. 413 Baudrillard, Von der Verführung, S. 168.

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C. ETHICA

D. ROMAN – MODERNE – IRONIE D. ROMAN – MODERNE – IRONIE I. GESCHICHTSPHILOSOPHIE UND GATTUNGSPOETIK

„Für die Gattung des Romans ist nicht das Bild des Helden an und für sich charakteristisch, sondern vielmehr das Bild einer Sprache.“ Michail M. Bachtin1

Der ästhetische, speziell poetologische Einsatz der Ironie wird in diesem Kapitel am wohl wichtigsten literarischen Genre der ironischen Moderne, dem Roman, herausgearbeitet. Am Beginn stehen dabei literaturwissenschaftliche Ansätze schon aus den Anfängen expliziter Theorien des Romans (bei Lukács, Bachtin und deren Vorläufer Friedrich Schlegel), in denen es immer auch um die Frage nach dem Zusammenhang von Roman, Ironie und Moderne ging. Der zweite Abschnitt konzentriert sich auf eine erzähltheoretische Fragestellung und bemüht sich um die Ausdifferenzierung der drei rhetorologisch ermittelten Ironien im Feld des literarischen Erzählens. Darauf folgt, drittens, eine literarische Detailanalyse. Um einen Exkurs handelt es sich in dem Abschnitt über Robert Musils Mann ohne Eigenschaften auch deswegen, weil sich hinter der ironischen Fassade des Romans eine darüber hinausgehende poetologische Dimension zeigt. Die auf Ironie und satirische Absichten des Romans irreduziblen Aspekte verweisen auf die Außengrenzen der Ironie, auf ein in der Folge noch gesondert zu diskutierendes materialistisches Jenseits des rhetorischen Topos Ironie.2 Das vierte Unterkapitel schließt wieder an die narratologischen Fragestellungen an und baut auf den an Musils Roman erarbeiteten Einsichten auf. Untersucht werden hier sowohl ironische Verfahrensweisen als auch Gattungen (Zitat, Pastiche, Parodie), die sich als Konstituens jedes Romanschreibens erweisen und in ihren unterschiedlichen poetologischen Funktionen analysiert werden. Ein gesonderter fünfter Abschnitt ist den Effekten der Ironie gewidmet, hauptsächlich dem ‚Illusionsbruch‘, dem durch ironische Verfahrensweisen evozierten ständigen Durchbrechen der Grenzen von Realität und Fiktion. Als ein Spezialfall ironischen Schreibens erweist sich abschließend die Autobiographie durch ihre zentrale Trope der Prosopopöie. Diese ist Paul de Man zufolge als alle autobiographischen Texte per se konstituierende Figur zu verstehen. Im Kontext des angestrebten Versuchs, unterschiedliche Funktionen der Ironie im Roman zu systematisieren, bedeutet dies: Autobio-

01 Bachtin, Michail M., „Das Wort im Roman“, in: ders., Die Ästhetik des Wortes, hrsg. v. Rainer Grübel, Frankfurt am Main, 1979, S. 154–300, hier S. 223. 02 Mit dem Fortlauf der auch einem historischen Verlauf folgenden Studie wird diese Außendimension der Ironie sich immer stärker in den Vordergrund drängen. Besonders deutlich ist das im anschließenden Politikkapitel. Den aus systematischen Gründen notwendigen Abschluss der Studie bildet deswegen das Kap. G. „Metaphysische Entgrenzungen“.

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D. ROMAN – MODERNE – IRONIE

graphien sind, egal ob freiwillig oder unfreiwillig, immer schon per se ironisch. Maskierung und Simulation sind die Konstituenten und Voraussetzungen jedes Schreibens über sich.

I. GESCHICHTSPHILOSOPHIE UND GATTUNGSPOETIK „Der Roman ist die Form der Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit, nach Fichtes Worten, und muß die herrschende Form bleiben, solange die Welt unter der Herrschaft dieser Gestirne steht.“ Georg Lukács3

„Drei herrschende Dichtarten. 1) Tragödie bei den Griechen 2) Satire bei den Römern 3) Roman den Modernen“4, notiert Schlegel und gibt damit den thematischen Ausgangspunkt dieses Kapitels vor. Mit dieser Unterscheidung versucht er keinesfalls, an eine hierarchische Gattungspoetik im Geiste des repräsentativen Kunstregimes anzuknüpfen. Gleichwohl ist damit festgehalten, dass es das (Reflexions-)Medium Roman ist, dem es zu seiner Zeit am vollständigsten gelingt, das erst im 18. Jahrhundert sich durchsetzende Bewusstsein von der Wandelbarkeit auch geschichtlicher Gattungen zu inkorporieren. Deswegen und weil Schlegel sein Konzept romantischer Ironie zu einem Gutteil aus den in seinem Sprachgebrauch ‚romantischen‘ Romanen Cervantes’, Sternes und Goethes gewinnt, konzentriert sich die folgende Untersuchung der poetologischen Aspekte der Ironie auf die Gattung Roman. Anhand zweier wichtiger Theoretiker des Romans soll zu Beginn die Beziehung des Romans zu den zwei zentralen Fragebereichen dieser Studie, Ironie und Modernität, analysiert werden. Georg Lukács’ 1920 in Buchform erschienene Theorie des Romans ist durchdrungen von Hegels geschichtsphilosophischem Denken, zugleich aber in teilweise versteckter Auseinandersetzung mit Schlegel geschrieben.5 Sie unterscheidet sich von den explizit gegen Lukács geschriebenen

03 Lukács, Die Theorie des Romans, S. 137. 04 Schlegel, Sta, Bd. 5, S. 187. 05 Zum Verhältnis Lukács’ zu Schlegel vgl. Szondi, Peter, „Friedrich Schlegels Theorie der Dichtarten. Versuch einer Rekonstruktion aufgrund der Fragmente aus dem Nachlaß“, in: ders., Schriften, Bd. II, S. 32–58, hier S. 37, 53. Zu der Frage, inwiefern Lukács’ Theorie von den Überlegungen Schlegels geprägt ist, über den er sogar ein Buch geplant hatte, vgl. Campe, Rüdiger, „Form und Leben in der Theorie des Romans“, in: Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, hrsg. v. Armen Avanessian, Winfried Menninghaus und Jan Völker, Zürich/Berlin, 2009, S. 193–211.

I. GESCHICHTSPHILOSOPHIE UND GATTUNGSPOETIK

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Reflexionen Bachtins schon durch ihren elegischen6 Ton. Während Lukács den Roman nämlich melancholisch im Schatten großer Epik beschreibt, ermöglichen Bachtins stets auch sprachtheoretische Überlegungen ein tiefenschärferes Verständnis seiner ästhetischen Progressivität.7 Diese stilistische Differenz berührt den Kern der hier angestellten Überlegungen, nämlich Eckpunkte einer Poetik des – von seinem epischen Hintergrund losgelösten – ironischen Romans zu skizzieren und davon ausgehend die spezifischen Wahrnehmungs-, Beschreibungsund Erzählmodi des Genres herauszuarbeiten. Immer wieder werden dazu auch Theoreme aus dem Kreis der russischen Formalisten heranzuziehen sein, die ebenfalls stark von Schlegels romantheoretischen Überlegungen beeinflusst wurden. Ohne konkret über Ironie zu forschen, haben Letztere doch eine Vielzahl ironischer Verfahrensweisen und Praktiken in der Romanprosa erstmals zu konzeptualisieren und systematisieren versucht und im Falle Šklovskij sogar zu der grundsätzlichen Formel gefunden: „Im Grunde genommen ist die Kunst ironisch und destruktiv.“8 Obwohl letztlich unbeantwortbar, ist es für das Verständnis des (modernen) Romans hilfreich, die Frage nach den Ursprüngen des Genres zu stellen. Wie schon Schlegels moderne Ironiekonzeption zu nicht unerheblichen Teilen aus seinen poetologischen Analysen von Romanen des 17. und 18. Jahrhunderts resultiert, so soll auch hier eine kurze, allerdings in die Antike zurückreichende Vorgeschichte ironischer Elemente für das genaue Verständnis der modernen Romanironie dienstbar gemacht werden. Die allem vorausliegende Frage lautet in diesem Zusammenhang, worin exakt die Leistung jenes selbst mythisch zu nennenden Autors – oder der Autorin oder des Eunuchen9 – mit dem Namen ‚Homer‘ besteht. Die ihm zugeschriebene schriftliche Aufzeichnung bedeutet eine einschneidende Veränderung am Ende einer langen Tradition epischen Singens. Eine Vielzahl mythischer Einzelereignisse konnte damit erstmals in einer Weise komponiert werden, die über chronologisch-zyklische Zeitorganisation hinausgeht. Der Autor der Ilias beherrscht sein Material und vermag es kunstvoll anzuordnen und zu komponieren. Alles bleibt an der Oberfläche gelingender Beschreibbarkeit, indem „sich der Dichter selbst vollständig in die Welt versenkt, die er vor unseren Augen entfaltet“.10 Genauer: Die Welt des Autors scheint noch ungebrochen die seiner Helden, weswegen Hegel den „große[n] epische[n] Stil“

06 Vgl. dazu de Man, Paul, „Georg Lukác’s Theory of the Novel“, in: ders., Blindness and Insight, S. 51–60. Allgemein vgl. auch Neubauer, John, „Bakhtin vs. Lukács. Inscriptions of Homelessness in Theories of the Novel“, in: Poetics Today 17 (1996), S. 531–546. 07 Zum Verhältnis Bachtins zu Lukács, dessen Theorie des Romans er kurzzeitig zu übersetzen plante, vgl. Freise, Matthias, Michail Bachtins philosophische Ästhetik der Literatur, Frankfurt am Main, 1993, speziell S. 58–61. 08 „Sie belebt die Welt. Ihre Aufgabe ist, Ungleichheiten zu schaffen. Sie schafft sie durch Vergleiche.“ (Šklovskij, Viktor, Sentimentale Reise, Frankfurt am Main, 1974, S. 321.) 09 Diese umstrittene These hat zuletzt Raoul Schrott vertreten: Homers Heimat. Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe, München, 2008. 10 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 336.

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D. ROMAN – MODERNE – IRONIE

dadurch charakterisiert sehen konnte, „daß sich das Werk selbst fortzusingen scheint und selbständig, ohne einen Autor an der Spitze zu haben, auftritt“.11 Ein anderer Modus schriftlicher Notierung epischen Erzählens findet sich in der später entstandenen Odyssee. In ihrer Distanz zur Ilias könnte sie auch von einem anderen Autor stammen, welcher gleichwohl als Vorbild gedient haben mag.12 Im Unterschied zur Ilias ist die Odyssee gewissermaßen schon unterwegs zum Roman. Vor allem die Schilderung alltäglicher und somit unheroischer Tätigkeiten sticht in ihr hervor. Trotz seiner, mit Adorno und Horkheimer gesprochen, „aufklärerischen“ Veranlagung bleibt Odysseus aber sagenhaft heroisch. Nur ist es paradoxerweise sein Trickstertum und nicht mehr seine Natürlichkeit, welche ihn zum Helden machen. Nurmehr mit viel phantastischem Aufwand kann seine Welt als heldenhafte erzählt werden. Die exakteste Allegorie dieser (literatur-)geschichtlichen Konstellation ist der Verlust seiner Männer, welche vor Kirke zu Schweinen werden. Sie vergessen ihre heroische Vergangenheit und genießen lieber die ihnen von Natur aus zugedachten Lotospflanzen. Diese Verwandlung ist Ausdruck einer Exotisierung von Odysseus’ Umwelt. Es bedarf schon eines ausgeprägten Tricksters, um nicht nur in fernen Märchenländern und gegen Ungeheuer zu bestehen, sondern um überhaupt noch heroisch zu erscheinen. Dass der „récit“ mit diesem „Grec de la décadence“, der das Spiel der Götter nur mehr spielt und deswegen auch schon nicht mehr mitspielt, zum „roman“ geworden ist, darin ist Maurice Blanchot zuzustimmen.13 Diese Fragwürdigkeit des Helden und die eingangs aufgeworfene Frage nach der Zeitorganisation des epischen Texts hängen zusammen. Und auch für die späteren Romane wird das formale Problem lauten: zu Hause anzukommen, zwischen der Scylla klassizistischer Formverödung und der Charybdis novellistischen Ausuferns. Dass Odysseus heil nach Hause navigiert, ist letztlich Homers episches Gelingen.14 Wenn später im modernen Roman noch einmal eine Heimkehr stattfindet, dann bedeutet das keine Lösung mehr. So kommt Leopold Bloom in Joyces Ulysses zwar irgendwie zu Hause an. Aber gerade die Banalität seiner Rückkehr zeitigt in ihrer Differenz zur Odyssee ironische Effekte.15 Sie ist nicht mehr triumphale Einholung einer teleologisch ausgerichteten Potenzialität, 11 Ebd. 12 Zum teilweise parallelen Aufbau auch der Höhepunkte beider Epen vgl. die „Einführung“ von Alfred Heubeck in: Homer, Odyssee und Homerische Hymnen, München, 1990, S. 7–50, speziell S. 27. 13 Blanchot, Maurice, Le livre à venir, Paris, 1959, S. 11 f. 14 Ebd., S. 14 stellt Blanchot die interessante Frage: „Qu’arriverait-il si Ulysse et Homer […] étaient une seule et même personne?“ 15 Nicht die wichtigste, aber doch vielleicht die „deutlichste von allen Formen der Ironie, die im Ulysses vorkommen, ist die Bloßstellung der Unzugänglichkeit und inneren Widersprüchlichkeit der Helden, die scharfsinnige, alle Schwächen aufdeckende Ironie, die Joyces Gegenüberstellung der edlen und weiträumigen Welt Homers mit der schalen Verderbtheit der Gegenwart zugrunde liegt“, so Samuel Louis Goldberg in seiner Studie The Classical Temper von 1961 (zit. nach der Kapitelübersetzung „Formen der Ironie in ‚Ulysses‘“, in: Ironie als literarisches Phänomen, hrsg. v. Hans-Egon Hass und Gustav-Adolf Mohrlüder, Köln, 1973, S. 240–256, hier S. 240).

I. GESCHICHTSPHILOSOPHIE UND GATTUNGSPOETIK

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sondern, so Hans Blumenberg, „[s]eine Heimkehr ist die belangloseste und gleichgültigste aller Stationen“.16

1. Georg Lukács Die Frage nach dem Helden ist also zugleich direkt eine nach der Form. Der Roman als das flüssigste literarische Medium ist stets im Werden und darum am besten prozessual zu verstehen. Dafür ist die Reise des Odysseus ein gelungenes Bild. Lukács’ Theorie des Romans, welche auf eigentümliche Weise klassische Erfüllungsethik und romantische Sehnsuchtsästhetik verbindet, bringt dies auf den Punkt. „Die Ethik oder –, da wir jetzt von Kunst sprechen – die Form“17, sind bei Lukács austauschbare Begriffe. Eine quasi schriftlich aus dem Leben gehauene Form ist ihm der Name der Ethik in der Kunst. Wie Bachtins Konzept der ‚Dialogizität‘ oder das Konzept des ‚skaz‘ (eines mündliche Kommunikation simulierenden Erzählstils) bei den russischen Formalisten zeigt, ist der Roman aber auch mit einer anderen, am ehesten ‚ästhetisch‘ zu apostrophierenden Ethik verbunden. Auch ist seine Aisthesis möglicherweise eine multiple, synästhetische insofern, als sie auch andere Sinne (Stimme, Gehör) anspricht. Diese bleiben dem Romanwort stets präsent, auch wenn wir oft vergessen, „daß das Wort an sich mit dem Buchstaben nichts gemein hat – daß es eine lebendige, bewegliche Tätigkeit ist, die von der Stimme, der Artikulation und Intonation gebildet wird, zu denen dann noch Gesten und Mimik hinzutreten“.18 Für das Verstehen der literarischen Bedeutung der ursprünglich rhetorischen Sprechtechnik Ironie ist Boris Ejchenbaums Beobachtung einer kaum unterdrückbaren Oralität literarischen Schreibens von nicht zu unterschätzender Bedeutung. So denken wir nur, dass „der Schriftsteller schreibt. Das trifft aber nicht immer zu, und für den Bereich des künstlerischen Wortes gilt es meistens nicht.“19 Vielmehr „verbergen sich Elemente des Erzählers und der lebendigen mündlichen Improvisation auch im Schrifttum. Der Schriftsteller denkt sich oft als Erzähler und bemüht sich, durch verschiedene Verfahren seiner geschriebenen Rede die Illusion des skaz zu verleihen.“20

16 So das Diktum Hans Blumenbergs in Die Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main, 1996, S. 92; vgl. dort auch zur „Ironie des Mythischen gegenüber dem Faktischen“ im Ulysses. 17 Vgl. Lukács, Georg, „Reichtum, Chaos und Form. Ein Zwiegespräch über Lawrence Sterne“, in: ders., Die Seele und die Formen, Neuwied/Berlin, 1971, S. 179–217, hier S. 214. In einem anderen Aufsatz desselben Bandes schreibt Lucács: „Kierkegaards Heroismus bestand darin: er wollte Formen schaffen aus dem Leben.“ („Das Zerschellen der Form am Leben. Sören Kierkegaard und Regine Olsen“, in: ders., Die Seele und die Formen, S. 44–63, hier S. 61.) 18 Ejchenbaum, Boris, „Die Illusion des skaz“ [1918], in: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, hrsg. v. Jurij Striedter, München, 1971, S. 161– 167, hier S. 161. 19 Ebd. 20 Ebd.

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D. ROMAN – MODERNE – IRONIE

Im Roman hört die Sprache nicht nur, sondern sie hat, wie in der Folge herausgearbeitet werden soll, auch Augen, eine Nase und vor allem einen Mund. Diese sprachlichen Realitätssinne produzieren einen literarischen Realismus, der nur wenig mit dem rigiden Formverständnis des späteren Parteiideologen Lukács zu tun hat. Es ist die Sprachwahrnehmung des Romans, welche ihn immer wieder aus allen Formungen ausbrechen lässt. Und wenn die ‚natürliche‘ Form des Realismus gebietet, brav dem Romanhelden zu folgen, dann liegt es an diesem, sich danebenzubenehmen. Exemplarisch vorgemacht hat dies etwa Gombrovics’ Ferdydurke, darin ein echter Verwandter von Dostojewskis Protagonisten, die auf oft tragische Weise stets gegen alle, auch die eigenen Erwartungen agieren. Gerade „Dostojevskijs Held ist stets bestrebt, die abrundende und ihn gleichsam abtötende Einfassung der fremden Worte über ihn zu zerstören […]. Der Mensch fällt niemals mit sich selbst zusammen. Die Identitätsformel A=A ist auf ihn nicht anwendbar.“21

Vor diesem Hintergrund ist es nun von Vorteil, das letztendliche Scheitern der so gedankenreichen Theorie des Romans als ironisch zu verifizieren. ‚Ironisch‘ ist dieses Scheitern, weil Lukács an seinen eigenen geschichtsphilosophischen Vorgaben und in der Folge an seiner Einschätzung der Ironie scheitert. Das zeigt sich an seiner Beschreibung der doppelten Gefährdung des Romans. „Nichtgestaltenkönnen“ und „Trivialität“ sei die Gefahr einer von Cervantes sich herleitenden Romantradition des ‚abstrakten Idealismus‘. „Zerfallen, die Formlosigkeit“ ist Lukács zufolge „die Gefahr der anderen Art, des Desillusionsromans“.22 Dazwischen sucht der Hegelianer an Wilhelm Meister sowie an Tolstoi die Versöhnung des von einem „erlebte[n] Ideal geführten Individuums mit der konkreten, gesellschaftlichen Wirklichkeit“.23 Dass ein solches Ideal nicht gefunden wird, verstellt Lukács nun die Sicht auf das Gelingen des Romans. Die „,Prosa‘ des Lebens“ ist dem Vorwort von 1962 zufolge „nur ein Symptom […] dafür, daß die Wirklichkeit nunmehr einen ungünstigen Boden für die Kunst abgibt“.24 Nicht zuletzt weil ihr Autor (noch) keine Versöhnung erpressen will, kann die Theorie des Romans von dieser kulturkritischen Warte aus zu keiner „Lösung“ finden. Zwar seien in Tolstois Realismus „Ahnungen eines Durchbruchs in eine neue Weltepoche sichtbar“25, aber letztlich reicht dazu selbst die angeblich „größere Nähe zu den organisch-naturhaften Urzuständen“26 der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts nicht aus. Deswegen wird Ironie nach altbekanntem Deutungsmuster, diesmal poetologisch, funktionalisiert. Diese Instrumentalisierung geht auch auf Kosten der Ironie bzw. der genaueren Einsicht in ihre poetischen Verfahrensweisen. Letztlich muss Lukács auf Versöhnungsironie setzen, also auf eine Ironie, die 21 Bachtin, Michail M., Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt am Main, 1990, S. 99 f. 22 Lukács, Die Theorie des Romans, S. 117. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 11. 25 Ebd., S. 137. 26 Ebd., S. 130.

I. GESCHICHTSPHILOSOPHIE UND GATTUNGSPOETIK

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eine sehnsüchtig erwartete Auf- und Erlösung leisten, also sowohl die jeweilige Konfliktsituation wie auch sich selbst aufheben soll. Die Ironie der „Ästhetiker der Frühromantik“, jener „ersten Theoretiker des Romans“, wie Lukács voreilig – und bezüglich deren Originalität philologisch nicht ganz korrekt – schließt, ist „die Selbsterkenntnis und damit die Selbstaufhebung der Subjektivität“.27 Indem er ihr die „weltbefangene“ Verstricktheit, „jede kalte und abstrakte Überlegenheit“ der verengenden Sichtweise der Satire nimmt28, zeichnet Lukács ein sympathisches, wenn auch eingeschränktes Bild der Ironie. Im Falle Lukács’ handelt es sich jedoch um mehr als eine der üblichen Reduktionen der Ironie – diese „Ironie ist die Selbstkorrektur der Brüchigkeit“29 – auf eine dem jeweiligen Autor genehme Form. Im Falle der Theorie des Romans katalysiert die gängige Verengung der Ironie auf nur eine ihrer drei eingangs analysierten rhetorologischen Funktionsweisen (nämlich auf die erste, die Versöhnungsironie) eine literaturtheoretisch-moralistische Koalition, welche zu normativen Fehleinschätzungen der Ironizität des Genres Roman insgesamt führt. Analog dieser einen und einseitigen Ironie soll der Roman „die Form der gereiften Männlichkeit“ sein. Seine Gefahr sei die doppelte, „daß entweder die Brüchigkeit der Welt kraß und die formgeforderte Sinnesimmanenz aufhebend zutage tritt […] oder daß die allzu starke Sehnsucht, die Dissonanz aufgelöst, bejaht und in der Form geborgen zu wissen, zu einem voreiligen Schließen verführt, das die Form in disparater Heterogenität zergehen läßt, weil die Brüchigkeit nur oberflächlich verdeckt, aber nicht aufgehoben werden kann“.30

Die Theorie des Romans lässt sich lesen als Produkt eines unglücklichen Hegelianers, der in einer „von Gott verlassenen“31 Welt an „transzendentaler Obdachlosigkeit“ leidet. Gegen deren „schlechte Unendlichkeit“32 hofft er dann, gänzlich unhegelianisch, auf eine „Ethik der schöpferischen Subjektivität“ und auf die „Weisheit des Dichters […] als Ironie“.33 Was Lukács’ Analyse an dieser Stelle jedoch fehlt, ist eine Unterscheidung der spezifischen Historizität des Romans von jener Korrelation formlosen Inhalts und inhaltsloser Form, die Hegel ‚abstrakte Unendlichkeit‘ nennt. Denn der Roman blickt nicht zurück, sondern nach vorne, seine Parole ist die einer inklusiven Progressivität. Das hat Lukács schon bei Schlegel nachlesen können, in dessen bereits öfter zitiertem Athenäumsfragment 116 es heißt: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen […]. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen […], die Formen der Kunst mit gediegnem 27 28 29 30 31 32 33

Ebd., S. 64. Ebd., S. 65. Ebd. Ebd., S. 61. Ebd., S. 77. Ebd., S. 70. Ebd., S. 73.

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D. ROMAN – MODERNE – IRONIE

Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen.“34

Peter Szondi hat das hier thematische komplexe Verhältnis von Gattungspoetik und Geschichtsphilosophie in der auch für Lukács richtungsweisenden Romantheorie Schlegels analysiert, die es hier darum kurz darzustellen gilt. Szondi verweist darauf, dass es vor allem die Theoretisierung des Genres Roman gewesen war, die Schlegel zu einer Kritik strenger Gattungspoetik geführt hatte. Schon sein „Studiumsaufsatz“ hatte diese Positivierung von Moderne, Roman und Ironie vorbereitet.35 Und wie später ein weiterer Theoretiker des russischen Formalismus, Jurij Tynjanov, der den Roman „als veränderliche Gattung“ versteht, in der „selbst die Gattungsmerkmale evolutionieren“36, fasste schon Schlegel diesen in seiner inneren Beweglichkeit. In dem oben angeführten Athenäumsfragment über progressive Universalpoesie qua romantische Dichtart heißt es dann nämlich weiter, dass nur „sie […] gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden [kann]. Andere Dichtarten sind fertig, und können nun vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.“

Die beiden Gedankenteile des Fragments – möglichst vollständige Absorption der gesamten Realität des Zeitalters sowie die Aufhebung von festen Gattungsgrenzen, die das ‚Werden‘ des Romans bestimmen – gilt es zu verbinden. Hans Blumenbergs Vorschlag, die „Möglichkeit des Romans als eine ontologische“37 zu begreifen, ist dabei weiterzudenken. Jeder Roman will nämlich eine Welt schaffen. Enzyklopädischen Charakter hat der Roman seines Wissensdurstes wegen, der in groß angelegten Projekten wie der Comédie Humaine, Les Rougon-Macquart oder dem Ulysses zu sich selber findet. Mit dem weiten gesellschaftlichen Panorama geht unweigerlich ein Erkenntnisgewinn einher. Essays, wissenschaftliche Abhandlungen, Briefe, Tagebuchbätter, poetische Einschübe – nichts ist dem Roman zu fremd, alles erweitert seinen Horizont. 34 Schlegel, „Athenäumsfragmente“, Nr. 116, S. 114. Und vielleicht noch deutlicher: „Der Roman als progressive Poesie zu betrachten. “ (Schlegel, Sta, Bd. 5, S. 218). 35 Trotz seiner Tendenz, Schlegel immer wieder als eine Art unvollendeten Idealisten zu interpretieren, kann Szondis folgender Einschätzung uneingeschränkt zugestimmt werden: „Indem Schlegel im Studium-Aufsatz die klassizistische Position, die zu stärken seine ursprüngliche Absicht war, zugunsten eines Selbstverständnisses und einer Selbstrechtfertigung der Moderne aufgibt, wird das mit der griechischen Poesie zusammenfallende System gesprengt […]. Die Reihenfolge dramatisch-episch meint den Gegensatz von klassischer Tragödie und modernem Roman, zwei Formen, in denen die beiden Epochen für Schlegel, und nicht nur für ihn, ihren charakteristischsten Ausdruck gefunden haben.“ (Szondi, „Friedrich Schlegels Theorie der Dichtarten“, S. 48, vgl. auch S. 35.) 36 Tynjanov, Jurij, „Über literarische Evolution“, in: ders., Die literarischen Kunstmittel und die Evolution in der Literatur, Frankfurt am Main, 1967, S. 37–60, hier S. 45 f. 37 Blumenberg, Hans, „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in: Nachahmung und Illusion, hrsg. v. Hans Robert Jauß, München, 1991, S. 9–27, hier S. 19.

I. GESCHICHTSPHILOSOPHIE UND GATTUNGSPOETIK

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In diesem Kegel virtueller Welten sind alle Perspektiven frei, historischer Roman oder Science-Fiction sind gleich plausibel. Der Roman lebt nicht mehr von antiken Vorbildern. Er will sich keine urzeitliche Geschichte erklären, wie es noch das neuzeitliche Epos versucht. Schon für die späteren epischen (Neu-)Versuche waren ‚antike Organik‘ und ‚Dante’sche Architektonik‘ – dies die zutreffende Metaphorik Lukács’38 – vollkommen vergangen. Don Quichote aber setzt nicht einmal mehr dazu an, Vergil’sches Epos, mittelalterliche Ordnung und neuzeitlichen Geist zusammenzuzwingen, wie es Spencer, Tasso und Milton im 16. und 17. Jahrhundert auf je verschiedene Weise zu tun versucht waren. Letzteres gilt selbst noch für Ariost – ansonsten in vielem Vorbild der Romantiker – und seinen kosmologisch inspirierten Versuch, Ordnung in die Geschichte zu bringen. Trotz aller desillusionierenden Ironie ist die symbolische Reise des Ariost’schen Ritters noch keine in die Zukunft prosaischen Schreibens. Das wird in den späteren Romanen anders sein. Deren gattungsbedingte Offenheit hat nicht nur beängstigende, sondern auch befreiende Dimensionen. Die dem Roman eigene Ironie ist nie nur melancholisch.

2. Indirekt-mimetisches Erzählen Trotz des Versuchs, mit Lukács die Vorgeschichte des Romans zu beleuchten, soll hier keinesfalls mittels logischer Klassifikation von Etappen und Gattungen eine feste Ordnung in die spätere Entwicklung des Genres gebracht werden. Hilfreich für eine Klärung der herauszuarbeitenden Romanironie scheint mir stattdessen ein eher historisch-deskriptiver Zugriff, im Speziellen: ein Blick auf die (verspätete) ästhetische Nobilitierung des Romans im 18. Jahrhundert. Hans Robert Jauß hat gezeigt, inwiefern eine solche Wertschätzung dem 16. und 17. Jahrhundert mit seiner neoaristotelischen Poetik und deren auf ‚höhere‘ Literatur bezogenem Theorieprimat noch nicht möglich war. Bis dahin wird der Roman als Prosa-Epos verstanden und ihm die Stilgesetzlichkeit des Epos auferlegt.39 Analog dem heroisch-galanten Roman in Frankreich findet auch der spanische Schelmen- und Schäferroman lange keinen Einlass in den offiziellen literarischen Kanon. Erst das 18. Jahrhundert findet sich im Roman wieder und findet zu dessen Neubewertung. In Diderots Eloge du Richardson (1762) und Blankenburgs Versuch über den Roman (1774) ist die grundsätzliche Wesensdifferenz zum Epos dann erkannt. Mit ebender inneren Notwendigkeit, die Romanfiguren nicht mehr als epische Mitbürger, sondern als private handeln lässt, steigt der Roman zur höchsten poetischen Form in der bürgerlichen Gesellschaft auf.

38 Zur Zweiweltenstruktur der Dante’schen Welt vgl. Lukács, Theorie des Romans, S. 59. 39 Vgl. dazu Jauß, Hans Robert, „Nachahmungsprinzip und Wirklichkeitsbegriff in der Theorie des Romans von Diderot bis Stendhal“, in: ders., Nachahmung und Illusion, S. 157–178; vgl. auch S. 157, wo Jauß Huets Traitté de l’origine des romans (1670) in diesem Kontext analysiert.

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D. ROMAN – MODERNE – IRONIE

Der Einsatz von Ironie ist an dieser Stelle ein zweifacher. Als indirekte Mimesis ist Ironie das passende Medium in der langsamen Abwendung von einer einfachen, nach repräsentationslogischem Vorbild gedachten Imitation. Streng genommen zeigt die Geschichte des Romans auch weniger Versuche, das Konzept des ‚Realismus‘ zu überwinden, als vielmehr ‚nur‘ die jeweiligen Realitätsauffassungen. So ist Mrs. Ramseys Realität möglicherweise komplexer und gefächerter als die von Rameaus Neffen – der Anspruch, imitatio naturae zu sein, gilt für beide. Dahinter steht eine der entscheidenden Neuerungen des Romans sowie der ästhetischen Theorie des 18. Jahrhunderts insgesamt: „Gegenstand der Nachahmung im Roman ist bei Diderot die alltägliche Wirklichkeit und Umwelt, nicht aber eine idealschöne Natur in ihrer überweltlichen Harmonie.“40 Dieser indirekt-mimetische Impuls der Ironie des Erzählers gegenüber den Schwächen seiner Protagonisten zeigt sich im englischsprachigen Roman bereits bei Fielding.41 Unübertroffen aber ist Sternes Einfallsreichtum, wenn es um die Zerstörung jener erzählerischen, biographischen Illusionen geht, welche einst die anschmiegsame Mimesis an die Lebenswelt der Helden ermöglichte. In dialektischer Umkehr erhöht gerade der disgressive Erzählstil Sternes die mimetische Kraft des Romans, hilft ihm also, sich an Tristram Shandys zerklüftete Lebensentwicklung anzuschmiegen. Um eine indirekt-ironische Mimesis des Sujets an seine fabelhaften Gestalten handelt es sich zudem, weil gerade die diegetische Gestaltung der Figuren die Gebrochenheit der dargestellten Subjekte zeigt. Nicht besser als in ständigen (Unter-)Brechungen ist Onkel Tobys analoger Vertracktheit beizukommen, und ganz unmöglich ist es, diese Figur ohne Ironie zu beschreiben. „Sternes Charaktere erscheinen in einer eigenartigen Doppelpoligkeit: sie verkörpern einerseits die moralischen Qualitäten der Aufklärung wie good-nature, generosity, tenderness, frankness, sind aber andererseits bestimmt durch eine ruling passion.“42

Diese vielleicht weniger voraufklärerischen als aufklärungsresistenten humours charakterisieren Sternes Helden und geben den ironischen Stil des Romans vor. (Roman-)Ironie fungiert auch als Aufhebung eines zeitgenössischen Sprachgebrauchs und der darauf aufbauenden philosophischen Psychologie. ‚Humour‘, im 18. Jahrhundert mit ‚Laune‘ übersetzt43, findet sich später in Kants Kritik der Urteilskraft einer ausdifferenzierenden Wertung unterzogen.

40 Ebd., S. 160. 41 Zu Fieldings erzählerischer Ironie vgl. Pavel, Thomas, „The Novel in Search for itself. A Historical Morphology“, in: The Novel, hrsg. v. Franco Moretti, Princeton, 2006, S. 3–31, speziell S. 19. 42 Warning, Rainer, „Fiktion und Wirklichkeit in Sternes Tristram Shandy und Diderots Jacques Le Fataliste“, in: Nachahmung und Illusion, S. 96–112, hier S. 96. 43 Vgl. Menninghaus, Winfried, Lob des Unsinns. Über Kant, Tieck und Blaubart, Frankfurt am Main, 1995, S. 41.

I. GESCHICHTSPHILOSOPHIE UND GATTUNGSPOETIK

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„Laune im guten Verstande bedeutet nämlich das Talent, sich willkürlich in eine gewisse Gemütsdisposition versetzen zu können […]. Wer solchen Veränderungen unwillkürlich unterworfen ist, ist launisch; wer sie aber willkürlich […] anzunehmen vermag, der und sein Vortrag heißt launicht.“44

Ironie, von Kierkegaard später als Versuch einer ästhetischen Meisterschaft über Stimmungen verstanden, wird diese Ambivalenz erben. Stets ist ihr ein Wissen um die Unbeherrschbarkeit angenommener Gefühlsstile eingeschrieben. Auch das verkörpert sich in den Figuren Sternes, der nicht zufällig einer der paradigmatischen Gewährsmänner für Schlegels Analyse der Ironie im Roman ist.45 Niemals ist klar über die Ernsthaftigkeit der Vorhaben Onkel Tobys zu urteilen. Die Antwort auf die Frage, ob dieser launisch oder launicht sei, geht in dem unentwirrbaren Dickicht von Autorintentionen, literarischem Erzähler und den Aktionen der literarischen Figur verloren. Die spleenigen hobby-horses von Sternes Helden bilden zugleich das Bindeglied zu einer anderen Funktion von Ironie qua indirekt-mimetischer Erzählweise. Sternes sehr britische Protagonisten sind bürgerlich-bequeme Erben des großen spanischen Wahnsinnigen Don Quichote. Bei Sterne ist die „ruling passion […] im Shandean humour zu einer Kategorie der Subjektivität geworden“, erläutert Rainer Warning das einschlägige Konzept der assimilation. „Das Geschehen wird den Illusionswelten der Hobby-Horses anverwandelt“46, und das Verhältnis zwischen beiden spiegelt sich wider in den Verfahrensweisen des Erzählers. Nur so ist zu verstehen, warum die Entstehung des modernen Romans mit einem realistisch-humoristischen Erzählstil einhergehen musste. Nur mittels der Darstellung schrulliger Alltagsverrichtungen konnte sich das Medium Roman an die banale Alltäglichkeit gewöhnen, welcher später das Hauptaugenmerk der realistischen Romanciers galt.47 Im Gegensatz zu Don Quichote sind die Figuren Sternes zumindest begrenzt im Alltag einsatzfähig. Auch der Irrsinn der Figuren Diderots, des im 18. Jahrhundert wohl konsequentesten Erben der Sterne’schen Parekbase, ist streng funktional. Das Doppel von Jacques le fataliste und seinem Herrn ist die Umkehrung der Konstellation von Don Quichote und seinem Diener Sancho Pansa. Die Kombination beider 44 Kant, Kritik der Urteilskraft, B 230. 45 Im Gegensatz zu seiner Aufwertung bei Bachtin und trotz seiner Prominenz noch in Die Seele und die Formen ist Sternes Bedeutung für Lukács’ Theorie des Romans gering. 46 Warning, „Fiktion und Wirklichkeit in Sternes Tristram Shandy und Diderots Jacques Le Fataliste“, S. 97. 47 Diese anfängliche satirische Beschreibung seiner gebrochenen Helden des genreparodistischen Romans wird sich fortsetzen bis zu den späten Ausläufern eines grotesken Realismus. Dies entspricht erstens dem von den russischen Formalisten aufgezeigten Zusammenhang zwischen ästhetischen Irritationsverfahren und Sichtbarmachung des Alltäglichen und zweitens deren Postulat, dass „die Mehrzahl der V-Verfahren [Verfremdungsverfahren; A. A.] aus einer ‚Ästhetisierung‘ von Verfahren entstanden ist, die in der konventionellen Praxis als komische Verfahren transitiv eingesetzt werden“, wie „im Witz, in der Anekdote, der Satire, Persiflage […]. Dieser Akt der ästhetischen Isolierung, Umfunktionierung bekannter, kanonisierter ‚komischer Strukturen‘ ist selbst ein primärer V-Akt.“ (Hansen-Löve, Aage A., Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien, 1978, S. 200.)

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D. ROMAN – MODERNE – IRONIE

Elemente – entweder durch die intellektuelle Luzidität der dienenden Klasse oder in Gestalt der kynischen Frechheit von Rameaus fiktivem Neffen als Gast an verschiedenen Tafeln – erlaubt Diderot die Kritik auch der höheren Gesellschaftsschichten. Die geschichtliche Herleitung dieses Romantyps und seiner komischen Typen – als spätere Aktualisierungen sind Myschkin und der geistig limitierte Hans Castorp zu nennen – ist wiederum Bachtin zu verdanken.

3. Ironie als sublimiertes Lachen (Bachtin) Bachtins Rabelais und seine Welt erklärt die Geburt des modernen Romans aus dem (untergehenden) Geist des Karnevals. Seine These einer karnevalistischen Verkehrung und Verdrehung naturalisierter Verhältnisse wird es in der Folge ermöglichen, Ironie als Erbin der oxymoralen Logik des Karnevallachens zu verstehen. Diese Logik hat Bachtin in seinen späteren Studien außer an Rabelais eingehend anhand der großen russischen Romanliteratur beschrieben.48 So hat er an der bekannten Arschwisch-Episode des Pantagruel, einer seitenlangen Aufzählung möglicher Gegenstände zu ebendieser Verwendung, diverse Effekte ironischer Verfremdung49 herausgearbeitet. „Das Ding oder die Person werden auf eine ihnen fremde, oft der eigentlichen Bestimmung genau entgegengesetzte Art genutzt (aus Zerstreutheit, aufgrund von Missverständnissen, in der Intrige) und dies ruft Lachen hervor und lässt den Gegenstand in seiner neuen Umgebung neu erscheinen.“50

48 Gegen die auch Bachtin eigene Tendenz, eine zunehmende Verdrängung und Disziplinierung des Lachens anzunehmen, hat jüngst Eckart Schörle (Die Verhöflichung des Lachens. Lachgeschichte im 18. Jahrhundert, Bielefeld, 2007) gerade für die Schwelle zwischen Absolutismus und Aufklärung zu einer ausgewogeneren Darstellung gefunden. Lachen ist immer schon Gegenstand von Reglementierungen und historisch variierenden Wertungen. 49 Im Gegensatz zur gewissermaßen formalen Verfremdung, die mit Bezug auf Šklovskijs Theorie der Prosa Ironie als Versetzen eines Worts in andere semantische Reihen verstehbar werden lässt (vgl. dazu Honnef-Becker, Irmgard, „Ulrich lächelte“. Techniken der Relativierung in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, Frankfurt am Main u. a., 1991, S. 117), untersucht Bachtin eher Verfremdungsreihen, die sich aus unterschiedlichen Anwendungen von Materialien und Gegenständen ergeben. Historisch-systematischer hat Aage A. Hansen-Löve den Zusammenhang zwischen Ironie und Verfremdungsprinzip analysiert, wobei er die „rhetorischen und dramatischen V-Techniken“ bis zur „sokratischen Ironie als philosophischem Prinzip des bewußten Verlernens des gesellschaftlichen common sense“ (Der russische Formalismus, S. 22) zurückführt. „Die wesentliche methodische Analogie zwischen dem Schlegelschen Kritikbegriff und dem methodischen bzw. methodenimmanenten V-Prinzip im Formalismus ist die Übereinstimmung zwischen der im Werk realisierten Ironie und dem in der Reflexion wirksamen kritischen Akt […]. Benjamins Differenzierung des Schlegelschen Ironiebegriffs in eine subjektivistische Stoff-Ironie und die objektive (konstruktive) Form-Ironie entspricht“ demgemäß der formalistischen Unterscheidung zwischen werkkonstitutiven und konstruktiven Verfremdungsverfahren (ebd., S. 36 f.). 50 Bachtin, Michail M., Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt am Main, 1995, S. 419.

I. GESCHICHTSPHILOSOPHIE UND GATTUNGSPOETIK

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Bei Gogol, um ein späteres Beispiel anzuführen, wird „die Zone des Lachens“ später auch zur „Zone des Kontakts“51 zwischen an und für sich Heterogenem. Es ist das sokratische Erbe des sich ironisch Dumm-, Einfältig-, Beschränkt- oder tendenziell Wahnsinnigstellens seiner Figuren, welches dem unvernünftigen Roman zu größtmöglichem Kontakt mit verschiedenen Realitätsbereichen verhilft. So hilfreich Bachtins theoretische Einsichten für ein historisch trennscharfes Verständnis der Romanironie sind, so wichtig erscheint mir zugleich eine kritische Lektüreanweisung, speziell was das resignative Pathos des Rabelais-Buches betrifft. Dieses braucht nicht übernommen zu werden, vielmehr kann eine differenzierte Lektüre Bachtins theoretisch weitreichende Funde von deren pessimistischer Tönung trennen. So ist es stimmig, von einem Verfall des Karnevals in der Neuzeit zu sprechen, weil dessen Manifestationsformen „verstaatlicht“ werden „und Paradecharakter bekommen, und auf der anderen Seite ‚domestiziert‘, d. h. ins häusliche, private Leben verbannt“52 werden. Nur ist das nichts anderes als ein Ausdruck von allgemeinen kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen, nicht zuletzt solchen demokratischer Natur. Auch auf der Ebene der Literatur kann – in den Komödien Molières, den Romanen Diderots – von einer aufklärerischen Sublimierung karnevalesker Formen gesprochen werden. Die Romantik entdeckt groteske Elemente an Autoren wie Shakespeare und Cervantes wieder, versteht diese aber dann in den für das 19. Jahrhundert eingänglicheren Kategorien von Humor, Ironie und Sarkasmus. Mit der zunehmenden Säkularisierung der bürgerlichen Gesellschaft verliert die „groteske Degradierung verschiedener kirchlicher Riten und Symbole mittels ihrer Übertragung auf die materiell-leibliche Ebene“ ihren ursprünglichen Sinn. „Völlerei und Saufen direkt auf dem Altar, unanständige Körperbewegungen, Entblößungen etc.“53 haben zwar immer wieder künstlerische Reanimationen erfahren. Einen gesamtgesellschaftlich subversiven Aspekt kann man ihnen aber nicht mehr zusprechen. Das ist auch der Grund, warum „Lachen und Ironie (eine der reduzierten Formen des Lachens)“54 hier vornehmlich als jene integralen Bestandteile des (modernen) Romans diskutiert werden, denen auch Schlegels bereits analysierte Ironiedefinition aus dem Lyceumsfragment 42 entspricht. „Es gibt alte und moderne Gedichte, die durchgängig im Ganzen und überall den göttlichen Hauch der Ironie atmen. Es lebt in ihnen eine wirkliche transzendentale Buffonerie. Im Innern, die Stimmung, welche alles übersieht, und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigne Kunst, Tugend, oder Genialität: im Äußern, in der Ausführung die mimetische Manier eines gewöhnlichen guten italiänischen Buffo.“55

51 Bachtin, Michail M., „Rabelais und Gogol’. Die Wortkunst und die Lachkultur des Volkes“, in: ders., Die Ästhetik des Wortes, S. 338–348, hier S. 345. 52 Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 84. 53 Ebd., S. 125. 54 Ebd., S. 179. 55 Schlegel, „Lyceumsfragmente“, Nr. 42, S. 242.

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D. ROMAN – MODERNE – IRONIE

Mit der Bestimmung des Buffo als transzendentaler Bedingung der Möglichkeit von Romanliteratur geht Schlegel noch über die Einschätzung hinaus, dass Goethes Ironie stets über dem Werk schwebe. Schlegel beschreibt diesen „Äther der Fröhlichkeit“ als beinahe „zu zart und zu fein, als daß der Buchstabe seinen Eindruck nachbilden und wiedergeben könnte“.56 Der Buffo ist somit streng genommen strukturell, er schwebt nicht über dem Werk, sondern ist im Romanwort selbst verankert. „Die Sprache bildet im Roman nicht nur ab, sondern sie dient auch selbst als Gegenstand der Abbildung. Das Romanwort ist allemal selbstkritisch“57 und nur indirekt mimetisch. Dass der Buffo im sublimierten bürgerlichen Roman strukturell verankert ist, unterscheidet diesen drastisch etwa von der Volkskomödie des Mittelalters. Als eminent sprachbewusstes Genre bleibt dem Roman seine dialogische Vorgeschichte als Strukturmoment inhärent. Was ihm als ästhetisches Wissen eingeschrieben ist, muss er nicht mehr als äußerliche Sprachmaske am Körper tragen.

4. Die Sprachen des Romans a. Hoch- versus Niedersprache An der Sprache des Romans, am „Romanwort“ Bachtins, sind im Zusammenhang mit Ironie vor allem drei Momente relevant. Erstens ein volkstümliches Moment, die Entstehung der Romansprache in Absetzung von der lateinischen Hochsprache. Exemplarisch beschreibt Bachtin diesbezüglich die Mischung des ciceronischen Lateins mit einem Küchenlatein, und zwar nicht so sehr durch falsche grammatische Konstruktionen, sondern durch Mischung der italienischen Vulgärsprache mit beispielsweise lateinischen Endungen. Anhand dieser Schreibpraktiken der Maccaronisten sowie der humanistischen Dunkelmänner-Briefe kann Bachtin zeigen, „wie bewußt der Prozeß der wechselseitigen Erhellung der Sprachen, ihrer Anpassung an die Wirklichkeit und an die Epoche verlief“.58 Die Figuren der Commedia dell’Arte sind ursprünglich Dialektmasken, Sprachmasken, für die gilt, was Julia Kristeva von den „Prämissen des Realismus“ der Sprache der Menippea, von satirischer Prosa insgesamt sagt. Diese Sprache sei die „ihren Raum produzierende Empirie“, in welchem der Mensch „sich inszeniert und letztlich ‚Personen‘ und ‚Charaktere‘ schafft“.59 Auf die schon angedeutete Hy56 Ebd. 57 Bachtin, Michail M., „Aus der Vorgeschichte des Romanwortes“, in: ders., Die Ästhetik des Wortes, S. 301–337, hier S. 309. 58 Vgl. dazu und in der Folge ebd., S. 335 f. Zu den Maccaronisten vgl. Bachtin, Literatur und Karneval, S. 9. 59 Kristeva, Julia, „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“, in: Literaturwissenschaft und Linguistik, Bd. 3, hrsg. v. Jens Ihwe, Frankfurt am Main, 1972, S. 345–375, hier S. 368; zur Volkskultur, „in der alle ‚Sprachen‘ Masken waren“, vgl. Bachtin, „Das Wort im Roman“, S. 166.

I. GESCHICHTSPHILOSOPHIE UND GATTUNGSPOETIK

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pothese, dass die realistischen Tendenzen des Romans möglicherweise als Erbe grotesker und satirischer Elemente zu verstehen sind, komme ich später noch zurück.

b. Sensibilität der Romansprache Ein zweiter Aspekt ironischer Romansprache betrifft deren einzelne Worte. Das Prosawort dringt als flüssiges in die selbst schon sprachlich geformten Helden ein und definiert oder deformiert diese ständig neu. Das ist der Gegensatz der Romanprosa zum tragischen Vers, der „scharf und hart, isolierend und Distanzen schaffend“60 verfährt. Hegel, für den die Prosa bekanntlich mit den Sklaven beginnt61, sieht in Poesie und Prosa geradezu „zwei unterschiedene Sphären des Bewußtseins“.62 Durch seine Sprachsensibilität hat der Roman je schon ein historisches Bewusstsein und erzählt von der diachronen Geschichte seiner Worte. Die „Entfaltung des Romans [geht] mit dem Zerfall stabiler verbal-ideologischer Systeme“63 einher, wodurch sich die historische Perspektive von Romanen potenziell verunendlicht. Schon in den sokratischen Dialogen – nach Schlegel den Romanen ihrer Zeit – ist Ironie kontrapathetisch. In ironischen Romanen hat jeder Held seinen Sancho als profanisierenden Kommentator, und wenn es der Erzähler ist, dem ein poetologisches Gedächtnis an ein ursprünglich mündliches Vortragen eingeschrieben bleibt.

c. Nähe zum Unsinn Drittens zeigt sich eine Nähe der ironischen Romansprache zu Phänomenen des Unsinns. Manifest wird das in den endlosen Aufzählungen Rabelais’, die gleichwohl als erste Inventarisierungen der französischen Sprache fungieren konnten. Nichts anderes als dieser enzyklopädische Aspekt des Romans ist es, der schon lange vor Flauberts Bouvard et Pécuchet in Sinnlosigkeit abzudriften droht. Rhetorologisch hat sich diese Tendenz der Ironie als eine zur Unverständlichkeit gezeigt. Paul de Mans oben diskutierte Bestimmung der Ironie war diejenige einer trope of the tropes, weil sie die rhetorischen Konventionen der Sprache freilege. Auch poetologisch erweist sich diese Bestimmung als hilfreich. Das zeigt sich an Rainer Warnings Analyse der im Tristram Shandy häufig zu findenden Formulierung ‚to drop my metaphor‘.64 Diese zentrale Devise Sternes verweist auf ei60 Lukács, Die Theorie des Romans, S. 47. 61 „Im Sklaven fängt die Prosa an, und so ist auch diese ganze Gattung prosaisch.“ (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 497) 62 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 244. 63 Bachtin, „Das Wort im Roman“, S. 255. 64 Vgl. dazu Warning, „Fiktion und Wirklichkeit in Sternes Tristram Shandy und Diderots Jacques Le Fataliste“, S. 102.

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nen geläufigen Modus ironischer Hinterfragung. Die Metaphern werden ironisch in einem Maße ernst und wörtlich genommen, dass deren rhetorische Sprachfunktion untergraben wird. Nicht erst bei Kafka führt das humoristisch-ironische Überbefolgen der Gesetze65 zur Krise von deren Begründungslogik. Diese Subversion kann prinzipiell auf zweierlei Art geschehen: entweder mittels „parodistische[r] Zerstörung der syntaktischen Konstruktionen […], die dadurch erzielt wird, daß einige ihrer logischen Elemente und expressiven Akzentmomente (zum Beispiel Prädikation, Erläuterungen usw.) ins Absurde getrieben werden“66;

oder das blinde Hören auf diverse Metaphern führt, wie bei Sterne, zu einer „Parodie auf die logische und expressive Struktur“67 von Sprache überhaupt. Wie die Ironie operiert auch die Parodie indirekt mimetisch, verstößt also gegen die Regel einer ungebrochenen Angleichung des Erzählverhaltens an das erzählte Geschehen. So findet sich Prousts durch Deleuze berühmt gewordener Imperativ, man müsse in der eigenen wie in einer fremden Sprache schreiben, schon in Bachtins Analysen historisch weit früherer Romane. Wenn Marcel zum Autor geworden sein wird, dann nur auf dem Umweg über verwirrend viele Salons, nur durch die daraus resultierende Sprachsensibilität, also nur durch „ein Sprechen nicht in einer Sprache, sondern durch eine Sprache, ein fremdes sprachliches Medium“.68

Kurzer begriffsdefinitorischer Exkurs zu Kants Kritik der Urteilskraft: Unsinn und Wahnsinn „Aller Reichtum der Einbildungskraft“, warnt Kant, „bringt in ihrer gesetzlosen Freiheit nichts als Unsinn hervor.“69 Innerhalb der kunsttheoretischen Architektonik Kants ist es das Genie, das, durch Geschmack gebändigt, seine Produktion vom Unsinn abgrenzen kann. Es wäre nicht Kant, wenn dabei nicht alles seine strikt organisierten Gefahren und einen gewissen architektonischen Aberwitz hätte. Denn auch Geschmack und Genie sind ihrerseits gefährdet. Mit Winfried Menninghaus gesprochen: „Wie das Genie zum Unsinn, so gravitiert der Geschmack zum Grotesken.“70 Wie beim Schönen, so ist es auch im Feld des Erhabenen „nöthig […], den Schwung einer unbegrenzten Einbildungskraft zu mäßigen, um ihn nicht bis zum Enthusiasm steigen zu lassen“, denn in seiner zügellosen Form ist „der Enthusiasmus mit dem Wahnsinn“ zu vergleichen.71 Die beiden ästhetischen Übertreibungsformen – deren Entwicklungsverlauf noch bis hin zu Pynchons ästhetischen 65 66 67 68 69

Vgl. dazu unten das Unterkapitel III. „Kafkas Gesetzeslogik“ in Kap. E. „Ironische Politiken“. Bachtin, „Das Wort im Roman“, S. 199. Ebd. Ebd., S. 203. Kant, Kritik der Urteilskraft, B 203. Mit diesem Zitat setzt Winfried Menninghaus’ Studie Lob des Unsinns ein, auf deren Argumentationen ich mich hier in hohem Maße stütze. 70 Menninghaus, Lob des Unsinns, S. 35. 71 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, B 126/A 124.

II. HALTUNG DES ERZÄHLERS UND SPRACHSTILE DES ROMANS

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Verarbeitungen von ‚Schizophrenie‘ und ‚Paranoia‘ nachgezeichnet werden könnte – sind somit schon bei Kant klar benannt. Es sind ‚Unsinn‘ und ‚Wahnsinn‘. In den Worten der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: „1) Unsinnigkeit (amentia) ist das Unvermögen, seine Vorstellungen auch nur in den zur Möglichkeit der Erfahrung nöthigen Zusammenhang zu bringen […]. Diese erste Verrückung ist tumultuarisch. 2) Wahnsinn (dementia) ist diejenige Störung des Gemüths, da alles, was der Verrückte erzählt, zwar den formalen Gesetzen des Denkens zu der Möglichkeit einer Erfahrung gemäß ist, aber durch falsch dichtende Einbildungskraft selbstgemachte Vorstellungen für Wahrnehmungen gehalten werden. […] Diese zweite Verrückung ist methodisch.“72

II. HALTUNG DES ERZÄHLERS UND SPRACHSTILE DES ROMANS II. HALTUNG DES ERZÄHLERS UND SPRACHSTILE DES ROMANS

1. Der traditionelle Erzähler Die Erkenntnis, dass die große Zeit des ungebrochenen mündlichen Erzählens vorbei sei, hat als einer der Ersten Walter Benjamin für ein historisches Verständnis des Romans fruchtbar gemacht. „Erfahrung, die von Mund zu Mund geht, ist die Quelle, aus der alle Erzähler geschöpft haben. Und unter denen, die Geschichten niedergeschrieben haben, sind es die Großen, deren Niederschrift sich am wenigsten von der Rede der vielen namenlosen Erzähler abhebt.“73

Einen mythischen – oder (groß)mütterlichen –, jedenfalls immer schon gestorbenen Erzähler scheint Benjamin also dabei im Auge zu haben. Der früheste im Okzident überlieferte Erzähler ist Homer. Und schon der ist kein Erzähler im eigentlichen Sinne mehr, sondern Schriftsteller; als textuelle Schnittstelle ordnet und fasst er die mündliche Überlieferung zusammen. Die Ausfächerung der Vielfalt der überlieferten Erzählungen zeigt sich auch an dem dezentrierten Personeninventar. Die Aufforderung der Musen, den Zorn des Achilles zu besingen, führt in der Ilias noch nicht zu einer dementsprechenden Handlungskonzentration. Achilles ist noch keineswegs der zentrale Handlungsträger, und folgerichtig ist das Epos auch nicht nach ihm benannt. Das ändert sich bereits mit der romanhafteren Gestalt des Odysseus. In den späteren Romanen ordnen sich die schriftlichen Erzählungen mehr und mehr um einen ausge72 Kant, Immanuel, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders., Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1907 ff., Bd. 7, S. 214 f. 73 Benjamin, Walter, „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.2, S. 438–465, hier S. 440.

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D. ROMAN – MODERNE – IRONIE

suchten Helden, dessen Vielzahl an persönlichen Erlebnissen somit als narratives Verkettungsprinzip wirksam wird. Vollends heben Lebensweise des Bürgertums und Erfindung des Buchdrucks die traditionellen Formen des (Sich-)Erinnerns und der Gedächtnisorganisation auf. Was mit den vage umrissenen historischen Eckpunkten antikes Epos, neuzeitlicher Buchdruck und moderner Roman benannt ist, sind je unterschiedliche Etappen der Integration oraler Gedächtnisformen in Geschriebenes. Bei diesen Transformationen handelt es sich um Aufhebungen, nicht aber Verabschiedungen von Mündlichkeit. Unter Bezugnahme auf Ejchenbaums Skaz-Theorie und mit Rekurs auf den für Benjamins Analyse zentralen Nikolai Leskov hat deswegen Jurij Striedter dessen bekanntes Theorem eines (endgültig vergangenen) naiven Erzählens kritisiert, welches „laut Benjamin für das echte mündliche Erzählen konstitutiv“74 gewesen sein soll. Trotz der historischen Durchlässigkeit der Unterscheidung von naivem mündlichen Erzählen einerseits und gebrochener schriftlicher Narration andererseits bleibt gültig, was ein anderer russischer Formalist, Viktor Šklovskij, hinsichtlich des Romans konstatiert hat. Dieser tendiert „seit dem Tag seiner Entstehung und sogar schon vorher zum Buch“.75 Dem Aufschreibesystem Buch ist demnach unhintergehbar eingeschrieben, dass nicht mehr unbedingt erinnert werden muss, sondern mehr und mehr nachgelesen werden kann. Das hat erzähltheoretische wie auch produktions- und wirkungsästhetische Konsequenzen. Analog zu Autor und Held ist der Romanleser einsam in seiner Lektüre. Und speziell für den Roman gilt, dass sich auch die Struktur der Erinnerung mit dem Medium Buch ändert. Das verweist auf die jedem modernen Erzählen eigene Tendenz zu ironischer Gebrochenheit. Der Romancier ist gezwungen zu gestalten, statt vorgeblich transparentes Medium der Überlieferung zu sein. „Der Roman“, so lässt sich mit Adorno trotz Zweifels an dem folgenden Imperfekt sagen, „war die spezifische literarische Form des bürgerlichen Zeitalters. An seinem Beginn steht die Erfahrung von der entzauberten Welt“76 des Don Quichote. An die Stelle des Zaubers tritt in dialektischer Umkehrung der Versuch des Romanciers, überhaupt erst Illusion zu erzeugen. Was Don Alonso zu erkennen misslingt, macht das ironische Gelingen Cervantes’ aus. Mit ebendem (literarischen) Impuls, mit dem er die Illusion Don Quichotes durchbricht, hält er den 74 Es zeigt sich, so Striedter, „wie leicht mangelnde Berücksichtigung des sprachlich-stilistischen Aspekts zu einem Verkennen oder Verzeichnen der literatur-historischen Eigenart führen kann, selbst bei so historisch interessierten, versierten und auch für Strukturfragen des Erzählens so aufgeschlossenen Kritikern wie Benjamin“ (Striedter, Jurij, „Zur formalistischen Theorie der Prosa und der literarischen Evolution“, in: Der russische Formalismus, hrsg. v. Jurij Striedter, Bd. 1, S. VII–LXXXIII, hier S. LIX). 75 Šklovskij, Viktor, Theorie der Prosa, hrsg. v. Gisela Drohse, Frankfurt am Main, 1966, S. 81. 76 Adorno, Theodor W., Noten zur Literatur, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main, 1990, Bd. 11, vgl. auch ders., Ästhetische Theorie, S. 157: „Eher könnte der phantasmagorische Aspekt, der die Illusion des Ansichseins der Werke technologisch verstärkt, als Widerpart des romantischen Kunstwerks gelten, das durch Ironie den phantasmagorischen Aspekt vorweg sabotiert.“

II. HALTUNG DES ERZÄHLERS UND SPRACHSTILE DES ROMANS

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Leser erst recht (und mit neuem ästhetischem Recht) in seinem illusionistischen Bann. Am Gebilde Roman kann und wird vornehmlich noch im Abbruch ironisch gebaut.

2. Elemente der Romanerzählung Die formkonstitutive Funktion von ‚Bildung‘ und zugleich ‚Brechung‘ habe ich oben bereits angedeutet. Speziell für seine romantheoretischen Überlegungen hatte Schlegel ein weiteres Mal ein poetologisches Konzept der Antike reaktualisiert und transformiert. Die Parekbasis der antiken Komödie versteht er als eine „Rede, die in der Mitte des Stücks vom Chor im Namen des Dichters an das Volk gehalten wurde. Ja, es war eine gänzliche Unterbrechung und Aufhebung des Stükkes, in welcher, wie in diesen, die größte Zügellosigkeit herrschte und dem Volk von dem bis an die äußerste Grenze des Proszeniums heraustretenden Chor die größten Grobheiten gesagt wurden. Von diesem Heraustreten (εκβασις) kommt auch der Name“.77

Die Verletzung der dramatischen Illusion ist Schlegel zufolge aber keineswegs „Ungeschicklichkeit, sondern besonnener Mutwille, überschäumende Lebensfülle […]. Die höchste Regsamkeit des Lebens muß wirken, muß zerstören; findet sie nichts außer sich, so wendet sie sich zurück auf einen geliebten Gegenstand, auf sich selbst, ihr Werk; sie verletzt dann, um zu reizen, ohne zu zerstören.“78

Die als antithetisch synthetisierten Elemente des Fragments erinnern nicht zufällig an Schlegels Formulierungen zur Ironie. Parekbase und Ironie sind bei Schlegel strukturell verwandt, Ironie ist eine auf Dauer gestellte, „permanente Parekbase“.79 Diese auf Dauer gestellte Ausnahme bedarf naturgemäß ausladenderer Formen. Die Kürze des Fragments kann dieser Ironiefunktion daher nur bedingt den notwendigen Entfaltungsraum gewähren. Die ihr gemäße Kunstform ist der auf extensive Fülle angelegte Roman. In ihm soll die Parekbase indirekt und „verhüllt sein, nicht offenbar wie in der alten“ und wohl auch neueren romantischen ‚Komödie‘ Tiecks. Schlegels Roman als moderne Kunstform verabschiedet so die direkte karnevaleske Parekbase zugunsten eines permanenten Zustands sprachlichmedialer Kritik. Wenn Schlegel nämlich fordert, die Parekbase müsse im Roman permanent sein, dann lässt sich das unzweifelhaft als eine Aufforderung zur Ironie lesen. Die Bestimmung, wonach „Parekbase und Chor jedem Roman notwendig (als Potenz)“80 seien, ordnet sich dann ein in die oben analysierten Definitionen

77 78 79 80

Schlegel, KA, Bd. 11, S. 88. Ebd., Bd. 1, S. 130. Ebd., Bd. 18, S. 85. Ebd., Bd. 16, S. 265.

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von Reflexion als Steigerung von ästhetischer Lebendigkeit. Je tiefer die innere Durchbildung eines Werkes, desto intensiver seine Lebendigkeit, ließe sich die optimistische These Schlegels auf den Punkt bringen. Mithilfe von Schlegels ästhetischen Überlegungen lässt sich eine genaue Trennung dreier parekbatischer Funktionsweisen der Ironie im Roman herausarbeiten. Damit sind auch drei verschiedene Funktionsweisen der Ironie zu benennen, welche die Spezifika des Romans auf entscheidende Weise mitgestalten; drei verschiedene Ironien, drei Stellungen und Rollen des Erzählers, die sich in beinahe allen großen ironischen Romanen der Weltliteratur – mit jeweils anderer Gewichtung – finden; drei Idealtypen somit auch, die, um trennscharf sichtbar zu werden, in der Folge getrennt analysiert werden sollen. Niemals sind diese rein vorhanden, und doch ist in jedem Roman eine von ihnen vorherrschend. In Analogie zu den drei rhetorischen Ironielogiken sind diese drei Typen vorab grob zu benennen: 1) Ironie zwischen Erzähler und Leser, 2) ironische Behandlung der Protagonisten durch den Erzähler, 3) Erzählironie.

3. Die drei strukturellen Romanironien a. Ironie zwischen Erzähler und Leser Die erste der hier herausgearbeiteten drei idealtypischen Formen ironischer Erzählersituierung ist die Ironie zwischen Erzähler und Leser. Diese ist die direkteste Weise der ironischen Illusionszerstörung im Roman. In aller Deutlichkeit findet sich dieses Verfahren bereits im englischen Roman des 18. Jahrhunderts, exemplarisch in Fieldings humoristischer Wirklichkeitsinszenierung. Nie war der auktoriale Erzähler mächtiger als in dessen Comic epic poems in prose, in denen er nahezu mit dem Autor identisch ist. Dem Zweifler, der sich fragt, wer denn spreche, wird in allen parekbatischen Disgressionen versichert, dass es Fielding sei, der hier erzähle. Die illusionszerstörenden Einschübe wirken dabei ebenso formkonstitutiv wie die ständige Parodie klassisch-epischer Stilelemente. In allmächtiger Manier behält es sich Fielding vor, der Spannung, des Verständnisses oder der Aufrechterhaltung der Illusion zuliebe in den Ereignisplot einzugreifen. Deutlicher in seiner subversiven Kraft ist diesbezüglich Sternes zugleich disgressiver und progressiver Erzählstil. Die komischen Effekte von Tristram Shandys Selbsterzählung resultieren ja nicht zuletzt daraus, dass er die von ihm zu erzählende (Entwicklungs-)Geschichte vor lauter Unterbrechungen verfehlt. Leere Seiten, das im dritten Band nachgereichte Vorwort, die eingeschobenen Abhandlungen etc., all das macht Tristram Shandy wohl zum zweiten exemplarischen Muster dieser Romanironie, deren Helden meist eine gewisse Lächerlichkeit eigen ist. Exemplarisch sind die beiden ansonsten so unterschiedlichen Romane schon deswegen, weil sie zugleich die zwei Pole des durch sie verkörperten Romantyps verkörpern. Wo Fielding stets seine Hauptgeschichte im Auge behält, folgt deren Verlust bei Tristram einer wahnwitzigen Methode. Die ständigen

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Wendungen an den Leser sind zugleich Um- und Kehrtwenden der nicht fortschreitenden Berichterstattung. Die erzählerische Redelust geht klar auf Kosten des vorgeblich erwünschten autobiographischen Berichts. Erzählt wird in dieser ersten strukturellen Gestalt der Romanironie letztlich immer etwas anderes. Die Ironie zwischen auktorialem oder chaotischem Erzähler und dem beherrscht folgenden Leser funktioniert also zumindest in einem Punkt analog zur ersten rhetorologischen Ironie. Das Anderssagen droht nirgends zu einem tragischen Scheitern der Kommunikation zu führen.

b. Ironisches Verhältnis zwischen Erzähler und Held Ein ironisches Verhältnis zwischen Erzähler und seinem Helden kennzeichnet die zweite Form erzählerischer Ironie, die literaturwissenschaftlich wohl am häufigsten behandelt wurde. Ein Beispiel unter vielen ist der Literaturwissenschaftler Beda Allemann, der ohne genauere erzähltheoretische Ausdifferenzierung ausgehend von der Ironie über den ironischen Erzähler beim Ironikerautor landet. „Die Kunst des ironischen Autors liegt darin, diese schwebende Zwischenlage auf geradezu seiltänzerische Manier einzuhalten, ohne Fehltritt weder in den trivial verstandenen Ernst der Aussage (was eine sublimere Ernsthaftigkeit auch des ironischen Stils keineswegs ausschließt) noch nach der anderen Seite in die auf ihre Art ebenso plane Paradoxie der zur Entlarvung umfunktionierten Aussage (was seinerseits wiederum nicht besagt, dass nicht eine gewisse Verwandtschaft des ironischen Stils zu dem der satirischen Entlarvung besteht – eine Verwandtschaft, die in der häufig in ironischer Literatur anzutreffenden gesellschaftskritischen Tendenz sich manifestiert).“81

Konzentriert man sich weniger auf die seiltänzerischen Qualitäten oder Fehltritte diverser Autoren, dann zeigt sich sogleich die Notwendigkeit, trennschärfere Definitionen zu etablieren. Ironisches Schreiben ist kein Selbstzweck, vielmehr ist von Fall zu Fall über ästhetischen Sinn und Sinnhaftigkeit ironischen Schreibens zu entscheiden. Welche Funktion hat Ironie beispielsweise in den realistischen Romanen des 19. Jahrhunderts, in welchen diese zweite Erzählerironie vornehmlich ihren funktionalen Sinn gefunden hat? Um das genaue Funktionieren dieser realistischen Erzählironie zu verstehen, muss man sie zwischen den anderen operativen Elementen des Romans jener Epoche verorten. Diese Romanform bedarf eines idealischen Helden und einer festgefügten Realität, welche auch der Erzählillusion Halt gibt. Das daraus resultierende Missverhältnis ermöglicht und fordert die ironische Kommentierung durch den Erzähler. Ironie ist hier das perfekte taktvolle Medium, sich von den Illusionen des Helden zu distanzieren, ohne zugleich die Erzählillusion zu durchbrechen. 81 Allemann, Beda, „Ironie als literarisches Prinzip“, in: Ironie und Dichtung, hrsg. v. Albert Schaefer, München, 1970, S. 11–37, hier S. 21 f.

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Nach der ersten, versöhnlichen (Roman-)Ironie des Anderssagens lässt sich auch bei dieser Spielart eine Analogie zu den drei rhetorologisch differenzierten Ironiefunktionen festmachen. Dem zweiten epistemologischen Moment indirekter Mitteilung korrespondiert an dieser Stelle die Spannung zwischen der Sehnsucht der Protagonisten einerseits und der erzählerischen Distanznahme von deren Heldenaspirationen andererseits. Ebenso wenig wie Flaubert, trotz seines identifikatorischen ‚C’est moi‘, mit seinen Helden identisch ist, ist das Beyle’sche Weltbild mit dem der Stendhal’schen Helden identisch. Die Romane selbst sprechen eine andere Sprache. Die Romanautoren Stendhal und Flaubert kommunizieren ihre Distanz zu den Protagonisten mittels indirekter literarischer Mitteilung. Darauf kommt es poetologisch an – nicht darauf, welchen weltanschaulichen Idealen sie als bürgerliche Subjekte angehangen haben mögen. „La Politique de la littérature n’est pas la politique des écrivains.“82 Schon der Wissensvorsprung Cervantes’ vor Don Quichote war ein indirekter oder negativer, der eines Mangels an Illusion. Und was die Romanciers Stendhal und Flaubert zu den eindrücklichsten Vertretern dieser Erzählerironie macht, ist, dass sie zwar noch von den Illusionen ihrer Helden gezeichnet sind, diese aber immer weniger teilen. Im Gegensatz zu denen der Helden Balzacs scheitern die Tataspirationen der Flaubert’schen Helden nicht mehr, vielmehr kommen sie erst gar nicht in Gang. Illusionszerstörung bedeutet hier auf der Handlungsebene zunächst, dass sich heroische Illusionen angesichts der bürgerlichen Realität in nichts auflösen. Auf formaler Ebene entspricht dem die Problematik des Erzählers, der in der prosaischen Welt des Bürgertums kaum mehr Eklatantes zu erzählen hat. Das Bedürfnis nach Beschreibung in dieser Romanform ist auch als Reaktion darauf zu verstehen, dass nicht mehr genug im traditionellen Sinn Erzählenswertes passiert. Zunehmend wird das Innenleben der Personen psychologisch beschrieben, um wenigstens noch dessen ironischen Kontrast zur Wirklichkeit dramatisieren zu können. Immer wieder stößt der Roman dabei an Grenzen reiner poetischer Wahrnehmungen: Mitten in seinen Sätzen taucht da manchmal die, freilich gar nicht mehr ironische, Utopie eines anderen Schreibens auf – die Utopie einer Sprache als eines welthaltigen Trägers auch anderer Wirklichkeiten. Die Schwierigkeit, erzählerisch mit Phantasie und Imaginationen mitzuhalten, lenkt den Blick auf die nur mehr zu beschreibenden Dimensionen einzelner Wahrnehmungen, führt also zu der Möglichkeit purer Wahrnehmungsbeschreibungen von Mikro-Ereignissen (micro-événements83) jenseits narrativer Relevanz. Diese zweite Erzählerironie ist die den realistischen Romanen des 19. Jahrhunderts affinste Ironieform. In ihr zeigt sich der Erzähler im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und steht noch und erstmals – vielleicht also ein einsamer heroischer 82 Vgl. dazu Rancière, Jacques, Politique de la littérature, Paris, 2007, S. 4: „La Politique de la littérature n’est pas la politique des écrivains. Elle ne concerne pas leurs engagements personnels dans les luttes politiques ou sociales de leurs temps […]. L’expression ‚politique de la littérature‘ implique que la littérature fait de la politique en tant que littérature.“ 83 Zu Rancières Anwendung dieses Deleuze’schen Konzepts speziell auf Flauberts Prosa vgl. ebd., S. 35.

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Höhepunkt dieses bürgerlichen Genres – im Zentrum der Realität. Die subtile Beherrschung der bourgeoisen Welt ist auch diejenige des Erzählers: seiner Zwänge nicht anders als der von ihm ausgeübten Herrschaft. Seine Ironie ist kontrolliert und punktgenau, kaum je verschwimmen ihm die Grenzen zu seinen Antihelden.84 Wo diese zweite Form der Erzählerironie außerhalb des realistischen 19. Jahrhunderts auftritt, etwa im Don Quichote, wird die Erzählerrolle meist selbst affiziert. Was Flaubert und Cervantes unterscheidet, ist nicht die erzählerische Ironie angesichts des Scheiterns ihrer Helden – schon Don Quichote reitet anfangs einen Tag lang aus, „ohne daß ihm etwas zustieß, das des Erzählens wert gewesen wäre“ – und auch nicht der Wille der Protagonisten, ihre Heldentaten als niedergeschriebene zu imaginieren.85 Selbst noch Don Quichotes Desillusionierung wird von einem ironischen Erzählerblick begleitet. Wo aber Don Quichote an der Wirklichkeit gesunden könnte, da scheitert Frédéric Moreau gerade an der banalisierten Realität. Auch wo sich die späteren Vertreter dieser Erzählerironie nicht direkt abschätzig gegen ihre Helden äußern, eignet ihnen doch eine zynische psychologische Subtilität. Zudem sind es im 19. Jahrhundert immer weniger in sich kompakte Wirklichkeiten, die einander in dem beschriebenen Romangeschehen begegnen, sondern zunehmend nur noch Fetzen von Wirklichem, die an solchen der Sprache hängen. So kann das ironische Als-ob (comme si) Flauberts einmal eine Beschreibung, ein andermal deren Fiktionalität freilegen. Wenn sich in einer Skizze zum Roman Madame Bovary bei einem Theaterbesuch hinsetzt „avec une aisance de marquise, de femme à châteaux, et comme si elle eût eu dans la rue son équipage“86, dann handelt es sich um einen realistischen Vergleich, der Madame Bovarys illusionäre Anverwandlung der großen Welt bloßlegt. Hier bleibt das ironische Als-ob das spöttische des Erzählers, ohne damit schon das Romangeschehen per se zu strukturieren. Immer wieder brechen aber auch bei Flaubert Partikel reiner Deskription aus dieser Form aus und kompromittieren damit die Autorität des realistischen Erzählers als eines Beherrschers der Fiktion. „‚Bah! à quoi bon? autant ça qu’autre chose! la vie n’est pas si drôle!‘ alors il frisotta, pris d’une tristesse glaciale, comme s’il avait aperçu“ – also nur als ob er wahrgenommen hätte – 84 Bei professoralen Romanvarianten findet sich diese Spielart von Kontroll- und Beherrschungsironie noch im 20. Jahrhundert. Umberto Ecos Nachschrift zum „Namen der Rose“ ist diesbezüglich bis hin zur Anrufung von Thomas Manns Doktor Faustus überdeutlich: „Das Wechselspiel mit zwei Erzählstimmen hat mich immer sehr fasziniert und gepackt. Auch weil ich, um noch einmal auf die Frage des Maske zurückzukommen, durch diese Verdopplung Adsons die Reihe der schützenden Trennwände zwischen mir als realer Person, als erzählendem Autor, erzählendem Ich, und den erzählten Romanpersonen samt dem fiktiven Erzähler-Ich noch einmal verdoppeln konnte. Ich fühlte mich immer geborgener.“ (Eco, Nachschrift, S. 41.) 85 Vgl. hierzu Cervantes, Miguel de (Saavedra), Don Quijote de la Mancha, in: ders., Gesamtausgabe in vier Bänden, hrsg. v. Anton M. Rothbauer, Stuttgart 1963–1970, Bd. 2, S. 47; zum Willen der Romanprotagonisten, Helden der Romanliteratur zu werden, vgl. Pott, Hans-Georg, Literarische Bildung. Zur Geschichte der Individualität, München, 1995. 86 Flaubert, Gustave [Skizze zu Madame Bovary], zit. n. Genette, Gérard, „Silences de Flaubert“, in: , ders., Figures I, Paris, 1966, S. 223–244 hier: S. 229.

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„des mondes entiers de misère et de désespoir, un réchaud de charbon près d’une lit de sangle, et les cadavres de la Morgue en tablier de cuir, avec le robinet d’eau froide qui coule sur leurs cheveux.“87 Es handelt sich um ein Als-ob von ganz eigentümlicher Struktur, denn „cette fois rien n’induit à penser que le terme de comparaison ou la vision elle-même se trouve dans l’esprit du personnage: comme s’il avait aperçu, mais il n’aperçoit probablement rien“.88 Anhand Musils Romanprosa wird diese Grenzfunktion von Ironie noch eingehender zu untersuchen sein. Schon hier zeigt sich jedoch, dass die literarisch avancierteren Momente realistischer Romane des 19. Jahrhunderts oft nicht mehr dessen ironische Passagen sind. Durch seine relativierenden Als-ob hindurch evoziert schon Flaubert eine Vision, die den Rahmen seines zeitkritischen Romans immer wieder sprengt.89 Nur mehr eingeleitet werden die entsprechenden Passagen durch ein ironisches Als-ob. Die poetischen Beschreibungen selbst sind nicht mehr ironisch. ‚Antiheroische Entpathetisierung‘ wäre in diesem Zusammenhang als weiteres Ironiemerkmal zu nennen. Exemplarisch dafür ist der ironische oder, mit Bachtin gesprochen, ‚dialogische‘ Kontrast, der sich durch Don Quichotes ständigen Begleiter Sancho Pansas ergibt. Der Kontrast zwischen dem Idealismus des Ersteren und der Profanität des Tölpels wirkt durch deren mit Fortdauer des Romans zunehmende Ähnlichkeit nur umso stärker. Stark sublimiert erscheint diese kontrastive Polarisierung eines Heldendoubles noch im 20. Jahrhundert. Die Erzähler Umberto Ecos (Der Name der Rose) und Thomas Manns (Doktor Faustus) beispielsweise sind fast schon Einlösungen der Schlegel’schen Forderung nach durchgehend-struktureller Brechung der Romanerzählung, sind also an der Grenze zwischen der hier als ‚Erzählerironie‘ gefassten und der im Folgenden zu explizierenden dritten Spielart, der ‚Erzählironie‘ anzusetzen. In beiden Fällen handelt es sich nicht mehr einfach um eine ironische Behandlung des einzelnen Helden – beispielhaft in seiner Überdeutlichkeit hier der Erzähler des Zauberberg –, sondern die Verzerrung oder Verfremdung ist durchgehend insofern, als der Erzähler offensichtlich das Komplexitätsniveau des zu erzählenden Geschehens unterschreitet. Das Erbe des Karnevalsnarren und seiner verkehrten Welt, die Verwandlung des begleitenden Tölpels wird in Ecos Name der Rose sinnbildlich. Jahrzehnte nach den Geschehnissen wird Adson, der schon seinerzeit nicht allzu viel verstanden hatte, zum einfältigen Erzähler der so vielfältig gelehrten Geschichte. Die Einfalt des Erzählers produziert einen der Romanerzählung strukturell implantierten dialogischen Bruch. Ebenso steigert bei Thomas Mann die Be87 Flaubert, Gustave, L’éducation sentimentale, in: ders., Œuvres, hrsg. v. Albert Thibaudet und René Dumesnil, Paris, 1982–1983, Bd. 2, S. 155. 88 Die zwei Beispiele stammen aus verschiedenen Fassungen von Flauberts Madame Bovary und finden sich genauer kommentiert in Gérard Genettes Aufsatz „Silences de Flaubert“, speziell S. 230. 89 Als Zeitgenosse des nouveau roman hat Roland Barthes den effet du réel bei Flaubert dann nicht mehr repräsentationslogisch zu verstehen versucht, sondern umgekehrt anhand exzessiver poetischer Überschüsse; vgl. Barthes, Roland, „Der Wirklichkeitseffekt“, in: ders., Das Rauschen der Sprache, Frankfurt am Main, 2006, S. 164–172.

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kanntschaft Zeitbloms mit Adrian Leverkühn nicht einfach die realistische Illusion. Die kolloquial gehaltenen Ausführungen Zeitbloms dienen umgekehrt der Verfremdung durch Skaz-Effekte.90 Eine ähnliche Funktion von Ironie in Bezug auf Erzählhaltung und -erwartung findet sich in dem Roman LETTERS, in dem Personen diverser früherer Romane John Barths wie in Kierkegaards Gastmahlparodie auf einmal zuammentreffen. Einzig eine in der Forschung meist als ‚postmodern‘ bestimmte Ironie erlaubt hier noch einmal den naiven Akt des Erzählens.91 Ironie operiert hier auf zweifache Weise: einerseits konservierend, indem sie doch noch einmal traditionelle Erzählerhaltungen ermöglicht, deren deformierende Artifizialität sie andererseits freizügig ausstellt. Das sublim-ironische Gegenstück konservierender Ironie hat Adorno zu fassen versucht, indem er Flaubert als literaturgeschichtlichen Wendepunkt ironischer Romanreflexion zu verstehen suchte. Adorno zufolge war Ironie vor Flaubert stets „moralisch: Parteinahme für oder gegen Romanfiguren. Die neue ist Parteinahme gegen die Lüge der Darstellung, eigentlich gegen den Erzähler selbst, der als überwacher Kommentator der Vorgänge seinen unvermeidlichen Ansatz zu berichtigen trachtet. Die Verletzung der Form liegt in deren eigenem Sinn. Heute erst läßt Thomas Manns Medium, die enigmatische, auf keinen inhaltlichen Spott reduzierbare Ironie, sich ganz verstehen aus ihrer formbildenden Funktion: der Autor schüttelt mit dem ironischen Gestus, der den eigenen Vortrag zurücknimmt, den Anspruch ab, Wirkliches zu schaffen, dem doch keines selbst seiner Worte entrinnen kann“.92

Auch bei formkonservativen Autoren des 20. Jahrhundert hat Ironie somit noch residual rettende Funktionen zugleich konservierender und konstruktiver Natur.

90 „Eigenwillige Interpretationen von schriftsprachlichen und besonders ausländischen Ausdrücken, Mischformen der Syntax, Inkongruenz von syntaktischer Bewegung und lexikalischer Füllung, überhaupt ein kompliziertes Amalgam von Elementen verschiedener Dialekte, lebendiger und künstlich gebildeter, eingefügt in den vermeintlichen Rahmen einer literarisch-stilistischen Aufmachung à la gebildete Leute – das alles charakterisiert die narrativen Monologe dieser erfahrenen Leute.“ Was Viktor Vinogradov („Das Problem des skaz in der Stilistik“, in: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, hrsg. v. Jurij Striedter, München, 1971, S. 170–207, hier S. 189) 1925 an einigen russischen Erzählern (auch Tolstoi) analysiert, passt auch auf den ihm zeitgenössischen Roman Thomas Manns. 91 Prägnant ist das wiederum in Ecos Nachschrift zum „Namen der Rose“ (S. 27) formuliert: „Kann einer, der erzählen will, heute noch sagen: ‚Es war ein klarer spätherbstlicher Morgen gegen Ende November‘, ohne sich dabei wie Snoopy zu fühlen? Was aber, wenn ich Snoopy das sagen ließe? Wenn also die Worte ‚Es war ein klarer spätherbstlicher Morgen …‘ jemand sagte, der dazu berechtigt war, weil man zu seiner Zeit noch so anheben konnte? Eine Maske, das war’s, was ich brauchte.“ 92 Adorno, Theodor W., „Standort des Erzählers“, in: ders., Noten zur Literatur, S. 41–48, hier S. 45.

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c. Kontextuelle Ironie Die Schnittstelle bzw. der Übergang zwischen einer kontrastiven und einer durchgehend-kontextuellen Ironie kann zugleich für die Unterscheidung einer dritten Form erzählerischer Ironie herangezogen werden. Nach Illusionszerstörung des Lesers durch den Autor, ironisch-distanzierter Begleitung der Romanfiguren durch den Erzähler folgt die Erzählironie. Diese kommt Schlegels paradoxer Forderung nach permanenter Brechung und Illusionszerstörung am nächsten. Die polyphone oder polylogische Romanironie breitet und legt sich unbeherrscht über und in alles Geschehen.93 Wenn „bei Proust der Kommentar derart mit der Handlung verflochten ist, daß die Unterscheidung zwischen beiden schwindet, so greift damit der Erzähler einen Grundbestand im Verhältnis zum Leser an: die ästhetische Distanz. Diese war im traditionellen Roman unverrückbar.“94

Auch Proust bewegt sich an der Grenze dieser narrativen Form, welche nicht mehr die klar umrissene Ironie eines Autors oder gesetzten Erzählers ist. Keine der Figuren der Recherche bleibt von dieser strukturellen Ironie verschont. Jeder, der sich in ein Wesen eines anderen Salons verliebt, gibt an dessen Eingang seine Reputation ab. Möglicherweise wird er dort nicht einmal mehr verstanden, so wie er selbst dort vieles nicht versteht. Alle Handlungs- und Gefühlsträger des Romans werden durch ihre sprachlichen Kontexte strukturiert, konturiert und kritisiert. Deshalb senden die Geliebten nur Zeichen aus, die immer erst zu entschlüsseln sind.95 Dass jeder sich in den exklusiven Salons so leicht lächerlich macht, beruht darauf, dass die Beherrschung eines Jargons nicht unbedingt für die Aufnahme in einem anderen Salon qualifiziert. Eher schon schließen die verschiedenen Kontexte einander sprachlich (stilistisch, manchmal auch semantisch) aus. Der Aufstieg Odettes sowie des kleinen Kreises um Madame Verdurin ebenso wie der Abstieg Swanns und Charlus’ haben ihre Ursache nur teilweise in den 93 Bei Bachtin, der den dialogischen Roman gegen monologe Formen stark machen will, findet sich der interessante Vorschlag, Dialogizität als einen Versuch zu verstehen, Redevielfalt in den Roman einzubringen. „Die Rede des Autors und die Rede des Erzählers, die eingebetteten Gattungen, die Rede der Helden sind nur jene grundlegenden kompositorischen Einheiten, mit deren Hilfe die Redevielfalt in den Roman eingeführt wird.“ („Das Wort im Roman“, S. 157.) Versteht man im Gegensatz zu Bachtin jedoch Ironie nicht nur als ein subjektives Stilmittel, sondern auch in ihrer medialen Qualität, dann kann der polyphone Roman insgesamt, kann die „Dreidimensionalität der Prosa“ (ebd., S. 205) in ihren ironischen Effekten begriffen werden. Exemplarischer Beleg für Bachtins Tendenz zu einer vorschnellen Trennung zwischen Ironie entweder als Stilmittel oder als kontextuellem Effekt ist folgendes Zitat: „Deshalb ist auch dort, wo es keinen Humor, keine Parodie, Ironie usw. und wo es keinen Erzähler, keinen fiktiven Autor oder erzählenden Helden gibt, die Vielfältigkeit der Rede, die Gespaltenheit der Sprache, die Grundlage des Romanstils.“ (Ebd.) 94 Adorno, „Standort des Erzählers“, S. 45 f. – Als traditionell scheint Adorno hier den großen realistischen Roman des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Dieser ist aber nur ein Seitenstrang einer von Rabelais und Cervantes herkommenden Tradition. Nur im Umfeld realistischen Erzählens bleibt Ironie oft auf ihre individualisierte Variante der Erzählerironie beschränkt. 95 Vgl. dazu Deleuze, Gilles, Proust und die Zeichen, Berlin, 1993.

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zeitbedingten Gedächtnisverlusten. Noch tiefer liegt das Auf und Ab der Figuren jedoch in deren sprachlicher Beschaffenheit begründet. Die Protagonisten sind nominelle ‚Aktanten‘96, deren Handlungseffekte einzig noch verbale sind. Als Sprechende gehen sie in den Situationen auf – und unter. Die Gesellschaft tut ihnen dabei nicht einmal Unrecht. Sie leben auf in ihren Sprachhandlungen im Salon und sind darüber hinaus nichts. Einzig ihre Eigennamen halten die Proust’schen Figuren über tausende von Seiten zusammen, sicher nicht ein geschlossen kohärentes Verhalten. Wo den Illusionen der Flaubert’schen Helden noch der Erzähler stilistisch widersprochen hat, ist es bei Proust je nach Salonkontext zunehmend die Sprache selbst. In den Sprachspielen der Salons verliert auch der Erzähler Marcel seine Illusionen. Diese finden nirgendwo Halt. Denn die Sprache im polyphonen Roman ist eine polylogische, die jedes Wort in seinem veränderten Kontext etwas anderes bedeutet lässt. „Das Leben des Wortes besteht im Übergang von Mund zu Mund, von Kontext zu Kontext, von Kollektiv zu Kollektiv, von Generation zu Generation.“97 Im Sinne dieser literarischen „Soziologie der Sprache“98 ist jeder Salon Prousts ein kontextuelles Milieu, in dem sich die Worte verlieren und manchmal gar nicht mehr zu einer Eindeutigkeit finden. Die Wiederfindung authentischer Erinnerung bleibt aus. Deswegen ist auch Bachtins Annahme, dass „das Wort seines Weges eingedenk“99 bleibe, nur bedingt zuzustimmen. Denn auch wenn die Worte wie die Personen ihr Gedächtnis verlieren, funktionieren die unterschiedlichen sprachspielerischen Milieus weiterhin als kritische Testformationen für Worte und Sprachstile einzelner Personen. Wir betten das Wort „in neue Kontexte ein, passen es an neues Material an, stellen es in eine neue Situation, um von ihm neue Antworten, neue Nachrichten seines Sinns und neue eigene Wörter zu erhalten“.100 Immer sind es mehrere polyphone Stimmen, die im Roman sprechen und handeln. 096 Zur Diskussion der einschlägigen strukturalistischen Theorien von Greimas, Todorov sowie Kristeva vgl. Hoffmann, Gerhard, „Das narrative System der Postmoderne und die Auflösung des Charakters im Erzähltext. Die Reduktionsformen von Handeln und Bewußtsein“, in: Der zeitgenössische amerikanische Roman. Von der Moderne zur Postmoderne, hrsg. v. Gerhard Hoffmann, München, 1988, Bd. 1, S. 145–224, hier S. 153. 097 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 129 f. 098 Zu Marcel Mauss’ fast zeitgleichem Traum einer „Soziologie der Sprache“ und Antoine Meillets diesbezüglichen Ansätzen (vgl. Meillet, Antoine, „Comment les mots changent de sens“, in: L’année sociologique 1904–1905, 9, 1906, S. 1–38) schreibt Erich Hörl: „Meillet hatte zu zeigen versucht, daß, wenn die Worte ihren Sinn verändern und einen anderen Wert annehmen, sie das im Verlauf des Austauschs zwischen koexistierenden oder aufeinander folgenden sozialen Milieus tun.“ (Hörl, Erich, Die heiligen Kanäle. Über die archaische Illusion der Kommunikation, Zürich/Berlin, 2005, S. 165) 99 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 130. Eher ist es so, dass das Wort ständig verliert und zugleich (durch neue Kontexte) gewinnt. 100 Bachtin, „Das Wort im Roman“, S. 233; auch darin beerbt der polyphone Roman karnevalistische Techniken, in denen Dinge oder Personen Bachtin zufolge auf eine ihnen ganz fremde Art eingesetzt werden, was dann nicht nur komische Effekte zur Folge hat, sondern die jeweiligen Kontexte und Umgebungen auch in neuem Licht erscheinen lässt.

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Nach Ironie zwischen Autor und Leser sowie Erzählerironie gegenüber einzelnen Protagonisten findet sich nun – wiederum mit einer feldspezifischen Verschiebung zur rhetorologisch verifizierten Ironie der Unverständlichkeit – eine dritte Konstellation von Erzählung und Ironie. Erzählironie ist vornehmlich dadurch charakterisiert, dass sie nicht mehr an die Autorität der Erzählerfunktion gebunden ist. Damit ist keineswegs ausgeschlossen, dass sich bei dem jeweiligen Autor (etwa Proust) nicht auch noch obige zweite Erzählerironie findet. Aber beide folgen entsprechend ihren verschiedenen Auslösern auch unterschiedlichen literarischen Wegen. Im Fall stark polyphoner Romane ist es die Eigenständigkeit der Kontexte, welche einzig noch die zweifelhafte Unterscheidbarkeit der Personen und ihrer Motivationen gewährleistet. Ironische Effekte können sich dort ergeben, wo verschiedene Kontexte durch die verloren umherirrenden Aktanten miteinander in Berührung kommen. Dann scheitern Verständnis und Kommunikation, weil die Worte ihre kontextuell limitierte Bedeutung zeigen und die Sprache eine ironische Differenz zu sich selbst offenbart. Dass Sprache sich ihrer ursprünglichen Rhetorizität gemäß immer schon anders sagt, findet in dieser dritten Ironie ihren adäquaten erzähltechnischen, indirekt-mimetischen Ausdruck. Die drei Verfahren zur Herstellung dieser Mehrstimmigkeit, die zugleich Verfahren der Sprache sind, sich selbst zur Darstellung zu bringen, lauten in Bachtins Terminologie: reine Dialoge, dialogisierte Wechselbeziehung von Sprachspielen und Hybridisierung.101 Überhaupt ist für Bachtin jede „Parodie, jede Travestie, jedes Wort, das mit Vorbehalt, mit Ironie gebraucht wird, das in intonatorische Anführungszeichen gesetzt ist, jedes indirekte Wort überhaupt […] eine beabsichtigte Hybride“.102 Die hier analysierte mediale Ironieform unterläuft freilich noch die Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen intentionaler oder nichtintentionaler Hybridität. Wie oben am Beispiel der von Marcel frequentierten Salons angedeutet, rückt die Sprache selbst ins Zentrum. In ihrer Verwendung selber drückt Sprache die Geschichte der sie Sprechenden aus, und sie erzählt diese expliziter, als jede Beschreibung von deren äußerer Gestalt es könnte.

III. EXKURS ZU MUSILS (IRONISCHEM) STIL – SPRACHE UND WIRKLICHKEIT III. EXKURS ZU MUSILS (IRONISCHEM) STIL – SPRACHE UND WIRKLICHKEIT

1. An den Grenzen traditioneller satirischer Ironie An Untersuchungen zu verschiedenen Arten von Ironie im Sinne der ironischen Behandlung seiner Figuren oder der Fabel insgesamt besteht in der Sekundärliteratur zu Musil kein Mangel. Philip H. Beard etwa unterscheidet zwei Ironien. 101 Zu den drei Verfahren vgl. Bachtin, „Das Wort im Roman“, S. 244. 102 Bachtin, „Aus der Vorgeschichte des Romanwortes“, S. 330.

III. EXKURS ZU MUSILS (IRONISCHEM) STIL – SPRACHE UND WIRKLICHKEIT

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Zunächst benennt er eine „Ironie des Lebens“ oder „hämische Schicksalsironie“, deren passives Opfer man werde, von der er eine zweite „Spielart“ von Ironie unterscheidet.103 Diese von ihm „strategisch“ genannte Ironie ähnelt der hier eingangs als beherrscht diskutierten. „Ich sage zwar x, meine jedoch vielleicht ein verborgenes y, oder vielleicht beides gleichzeitig; aber auf das vielleicht kommt es eben an, und darin liegt der schillernde Reiz meiner Worte, und darum kann mich auch keiner an irgendeine eindeutige, unwiderrufliche Interpretation meiner Aussage festnageln.“104

Selbstverständlich ist diese Form von Ironie Musil ebenso wie unzähligen anderen Autoren auch eigen. Kein Roman gibt eindeutig die Meinung seines Autors kund. Spezifischer für Musil ist die Verwendung der von Musil selbst so bezeichneten „konstruktive[n] Ironie“105, die meist mit Blick auf den ersten Teil des Romans angeführt wird. Dabei lässt sich auch auf Musils eigene Hinweise zur Ironie in seinem Tagebuch verweisen, wonach „Ironie […] etwas leidendes enthalten [muß]. (Sonst ist sie Besserwisserei) Feindschaft und Mitgefühl.“106 Joseph Strelka zufolge besteht eine der wichtigsten Funktionen der Ironie zu Beginn des Romans darin, Kakanien und die damit verbundene Parallelaktion „nicht radikal zu negieren, sondern durch eine Mischung von frei ironischer Kritik mit Lob und Preis eine Art relativierenden Schwebezustand herzustellen, dessen sanfte Ironie mindestens soviel Zustimmung wie Ablehnung erhält. Hauptziel des ersten Buches ist indessen die Realität.“107

Ironie ist hier eine „Art“, eine idiosynkratische Manier, sie ist zugleich sanft und frei, ein Phänomen der ausgleichenden Mischung. Für die in vorliegender Studie verhandelte Fragestellung ist diese Ironiekonzeption freilich zu eng, auch was deren Bedeutung im Mann ohne Eigenschaften betrifft. So ist die Rede von einem „Hauptziel Realität“, selbst im Bezug auf den Romananfang, problematisch. Denn spätestens mit der Einführung von Figuren wie Clarissa oder Moosbrugger, also nach wenigen Kapiteln, verlässt der Mann ohne Eigenschaften die engen Grenzen einer alltagsverhafteten, realitätsbezogenen Satire. Damit soll nicht ge103 Beard, Philip H., „‚Beginn einer Reihe wundersamer Erlebnisse‘. Prüfstein einer Umwandlung in Musils Gebrauch von Essayismus und Ironie“, in: Robert Musil. Essayismus und Ironie, hrsg. v. Gudrun Brokoph-Mauch, Tübingen, 1992, S. 105–114, hier S. 105 f. Als Beispiel für Schicksalsironie nennt Beard die Tatsache, dass ausgerechnet mystisches Gedankengut den Geschwistern Ulrich und Agathe einen Weg zu reichhaltiger Wirklichkeit zeigen soll. 104 Ebd., S. 106. 105 Musil, Robert, Der Mann ohne Eigenschaften, 2 Bde., Hamburg, 1988 (Bd. I: Buch 1 und 2; Bd. II: Aus dem Nachlass), hier Bd. II, S. 1939. Der erste Band (bis S. 1041) wird im Folgenden als MoE, der zweite Band als MoE II zitiert. 106 Musil, Robert, Tagebücher, hrsg. v. Adolf Frisé, Hamburg, 1983 (zitiert als TB), S. 973. 107 Strelka, Joseph, „Zu den Funktionen der Ironie in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften“, in: Robert Musil, hrsg. v. Gudrun Brokoph-Mauch, Tübingen, 1992, S. 37–47, hier S. 41 f. Die radikalere Ironie des zweiten Teils des Romans sei dann nicht mehr konstruktiv sondern destruktiv.

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sagt werden, dass der Erzähler des Mann ohne Eigenschaften seine Figuren nicht mit Vorbehalt, Distanz, Witz – oder was sonst noch ironisch sein kann – behandelt. Dies ist sicher oft der Fall. Zudem muss diese Distanzierung nicht unbedingt auf den Erzähler zurückgehen. Oft ist es Ulrich selber, der sich ironisch Luft macht, während der unbemerkt fungierende Erzähler eher einem transparenten Medium gleicht.108 Auch ist damit weder behauptet, dass der Musil’sche Erzähler sich nie von der Fokalisierung seiner Figuren entferne, noch sind damit die Grenzen von Musils (Roman-)Ironie auch nur ansatzweise ausgelotet. Die abstrakte Gegenüberstellung von satirischem und poetologischem Anspruch und Gelingen bedingt auch die Einschätzung, dass in „einem äußeren, auf den Handlungsablauf bezogenen Sinn […] der musilsche Roman an der Utopie des anderen Zustandes und ihrer Übertreibung in Kriegsausbruch und Inzest [scheitert]“.109 Jenseits des vorschnellen Werturteils scheint mir an dieser These das vorrangige Abzielen auf Musil als wohlwollend-konstruktiven Satiriker110 unzureichend. Es wird in der Folge näher darauf einzugehen sein, inwiefern Ironie bei Musil auch Mittel zum Zweck sein kann. Doch schon hier ist klar, dass noch die am stärksten satirisch gefassten Personen mit Fortlauf des Romans an Leben gewinnen. Sogar General Stumm von Bordwehr entwickelt sich aus einem ungebetenen Sancho Pansa der Parallelaktion zu einem der wenigen wirklichen Handlungsträger sei es auch einer Witzaktion – bis wir ihn dann im späteren Verlauf ausgerechnet mit Clarissa träumend auf einer Wiese auflesen. Schon an einem der ersten Auftritte des Generals, der in dieser Sprachmaske die Erinnerung an Ulrichs Vergangenheit beim Militär wachhält, wird deutlich, worin die sowohl memorative Funktion als auch personen- und handlungskonstituierende Kraft einzelner Worte und Phrasen liegt. „Obgleich dem Soldaten im Beratungszimmer eine bescheidene Rolle angemessen sei, hatte er begonnen, wage er doch zu prophezeien, daß Staat die Macht sei, sich im Völkerkampf zu behaupten, und daß die militärische Kraft, die man im Frieden entfalte, den Krieg fernhalte.“111

Auf diesen vom General gern vorgebrachten Treitschke-Allgemeinplatz – am Beginn des Romans scheint er sich nur marionettenhaft innerhalb der engen Grenzen des Horizonts seiner Sprachklischees zu bewegen – antwortet Diotima „zitternd vor Zorn“. „Alles Leben ruht auf Friedenskräften; selbst das Geschäftsleben, 108 „Ich spotte nur weil ich es liebe“ (MoE, S. 752), antwortet dieser etwa nach der Kritik seiner „Schwester Mensch“ (MoE, S. 761) an dem spöttischen Stil einer seiner Monologe über Heilige. 109 Allemann, Beda, Ironie und Dichtung, Tübingen, 1956, S. 200. 110 Ein, trotz oder wegen der bloßen Umkehrung der Vorzeichen, an Lukács erinnernder Versuch der Beherrschung von satirischer Ironie findet sich bei Helmut Arntzen (Satirischer Stil. Zur Satire Robert Musils im „Mann ohne Eigenschaften“, Bonn, 1960, S. 38 f.). Arntzen sieht in „konstruktive[r] Ironie […] nichts anderes als das Ergebnis satirischen Stils“. Ihm zufolge wäre es „ironische Satire, die, indem sie erkennt, dass in allem etwas Falsches und etwas Richtiges ist, zeigt, dass alles falsch ist, damit im Gedächtnis bleibe, dass alles auf dem Wege sein soll, richtig zu werden“. 111 MoE, S. 320.

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wenn man es richtig zu betrachten weiß“, wie ihrer Meinung nach der Militärindustrielle Arnheim, „ist eine Dichtung“.112 Die bewusste Montage und Konfrontation der jeweiligen Sprachklischees beweist das satirische Talent Musils. Ebenso kann man im Zusammenhang der diversen bürokratischen Pastiches von einer bewussten sprachlich-stilistischen Anverwandlung an den karikierten Gegenstand sprechen.113 Leben gewinnen Musils Figuren jedoch oft erst durch Irritation, Störung oder gar Austritt aus ihren satirischen Sprachmasken. Gewiss können sie den ihnen eigenen, sie ja überhaupt erst konstituierenden Klischees niemals entrinnen. Aber mitten in und aus ihren Klischees – was wäre Stumm ohne militärische Anschauungen, die Verliebtheit zwischen Diotima und Arnheim ohne ästhetizistische Verklärungen? – werden die Figuren eigentümlich konkret und lebendig. Inwiefern dieses Zum-Leben-Erwachen mit einem Einschlafen der satirischen Auktorialität des Erzählers einhergeht, möchte ich in der Folge an einer beliebigen Episode zu zeigen versuchen. Die leitende Hypothese lautet dabei, dass dort, wo die Protagonisten lebendig werden, die Erzählerironie keine satirische mehr ist. Stattdessen wird sich der Erzähler dann als von der Sprache seiner Figuren infiziert erweisen. Wo sich der Erzähler nicht mehr satirisch absetzt, sondern mit seinen leibhaftigen Aktanten identifiziert, handelt es sich um so etwas wie ‚Sprachberührungen‘ und um eine zwischen den Protagonisten und dem Erzähler Kontakt herstellende Ironie, die noch den Leser mitberührt.

2. Ansteckende Nachahmung Was unter ‚ansteckender Nachahmung‘ zu verstehen ist, möchte ich exemplarisch an einem Kapitel des Mann ohne Eigenschaften zeigen. Es handelt sich um das Kapitel 26, mit einem für Musils ‚desillusionistische Ironie‘114 typischen Titel: „Die Vereinigung von Seele und Wirtschaft. Der Mann, der das kann, will den Barockzauber alter österreichischer Kultur genießen.“115 In seiner Unscheinbarkeit ist es zugleich eines der stilistisch prägnantesten Kapitel des Romans. 112 Ebd. 113 Vgl. MoE, S. 195, S. 225 f., wo der karikierte Gegenstand, die kakanische Bürokratie, in den Erzählstil übergeht und einzelne Passagen somit zum Pastiche werden. Zur „hypotaktische[n] Bauform“, die „in ihrer Verschlungenheit das Kompetenzgewirr der Bürokratie“ spiegelt, vgl. Alt, Peter-André, Ironie und Krise. Ironisches Erzählen als Form ästhetischer Wahrnehmung in Thomas Manns Der Zauberberg und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, 2. Aufl., Frankfurt am Main u. a., 1989, S. 160. Dort auch zu den indirekt-mimetischen Qualitäten von Musils Stil: „So spiegelt die Parenthesen-Konstruktion nicht erzählerische Ohnmacht, sondern den Orientierungs-Verlust der Krise, den sie nachbildet.“ 114 Zum ironischen Effekt bei Musil durch Desillusionierung (statt durch Retardierung) von vorher Angekündigtem vgl. ebd., S. 168. 115 Dass „Der Parallelaktion […] dadurch eine Idee geboren [wird]“ – so die weitere Überschrift –, macht den Kontext des Gesprächs zu einer zentralen Reflexion über die die Romanhandlung strukturierende Parallelaktion. Damit, dass deren zentrale Idee im Zusammenhang mit einem Mann, der „in seinen Programmen und Büchern“ – allein diese Zusammenstellung würde ge-

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Nachdem Ulrich seine Große116 Kusine verlassen hat, finden wir Diotima allein vor. Die Frau von Sektionschef Tuzzi wird präsentiert in ihren begehrlichen Tagträumen, welche metonymisch um den kleinen Mohrendiener Arnheims kreisen. „Das Gesellschaftsleben ist heute seelenlos geworden“, lautet ihr erster Gedanke, der schon alle folgenden Klischeebedürftigkeiten ankündigt. „Es war etwas in ihrem Herzen, das für den kühnen Außenseiter Partei nahm, der es noch wagte, sich einen Mohren zu halten, für den inkorrekt vornehmen Bürgerlichen, den Eindringling, der die erbgesessene Macht beschämte, wie der gelehrte griechische Sklave einst seine römischen Herren beschämt hat.“117

Alles an diesen Vergleichen hinkt, jedes einzelne Element ist falsch – umso exakter jedoch spricht die Passage die Wahrheit über Hermine-Diotimas spätbürgerliche Phantasmen. Als Wiener Bürgerin ist ihr nicht einmal die Phantasiewelt realer Kolonialmächte gegeben. Doppelt schief spricht sie die lasche Exotik eines recht unsympathischen, jedenfalls aber an dem an ihn herangetragenen Bildungsprogramm gescheiterten Mohrensklaven dessen gebildetem Herren zu. Dieser everybody’s darling wird dadurch – der Bovary’sche Reflex befiehlt das – zum beschützenswerten armen Helden. So erscheint Arnheim ihr abwechselnd als „kühner“ oder „genialer Außenseiter“, wobei letzterer Attribuierung im Zusammenhang zeitgenössischer Genialität besondere Signifikanz zukommt. Gerade das (journalistische) Gerede von „genialen Rennpferden“ war ja einer der Auslöser für Ulrichs Entschluss gewesen, Urlaub vom Leben zu nehmen. Diotima jedenfalls ist unumstößlich entschlossen, sich hinreißen zu lassen. Damit ist sie durchaus im Einklang mit dem anderen Subjekt des Begehrens. Denn „auch Arnheim wurde entzückt, als er in Diotima eine Frau antraf, die nicht nur seine Bücher gelesen hatte, sondern als eine von leichter Korpulenz bekleidete Antike auch seinem Schönheitsideal entsprach“.118 Art und Reihenfolge der Vergleiche verrät zweierlei. Erstens, inwiefern dieses Begehren ein lektüregefärbtes ist. Dies zu konstatieren bedeutet nicht, eine mangelnde Authentizität zu monieren. Ironisch entlarvt wird jedoch die Artifizialität der Beziehung durch die abgetragenen künstlerischen Ideale der Protagonisten. Schon Diotimas Phantasien sind ästhetizistisch verbrämte. Und aus der holprigen Syntax der darauf folgenden Beschreibungen springt dem Leser die mühselig kaschierte Gewöhnlichnügen! – „die Vereinigung von Seele und Wirtschaft oder von Idee und Macht [verkündet]“, ist bereits alles über deren Stichhaltigkeit gesagt, was Musils ironische Feder dazu sagen muss. 116 Mit gutem Grund erläutert Peter-André Alt seine präzise Analyse von Musils „Stilmittel der Diskrepanz“ (Ironie und Krise, S. 165) an dem Attribut „groß“. Und nicht zufällig verlieben sich die „Große Kusine“ und der „Großschriftsteller“. Mit Bachtin kann hier von einem Mikrodialog gesprochen werden. Fast immer, wenn im Mann ohne Eigenschaften etwas „genial“ ist, gilt es diverse Obertöne aus anderen Kontexten mitzudenken. Ähnliches ließe sich an dem zuvor genannten Einsatz des Attributs „groß“ oder gar des substantivierten „Groß“ analysieren. Viel häufiger noch als „ironische Einzelwort[e]“ verwendet Musil aber eine „ironische Syntax“ zur „Fortführung einer Verfremdung durch willkürliche Komposition auseinanderklaffender Stücke“; zur Analyse beider ironischer Stilmittel vgl. ebd., S. 158. 117 MoE, S. 107 f. 118 Ebd., S. 109.

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keit von Arnheims Schönheitsideal entgegen, „das hellenisch war, mit ein bisschen mehr Fleisch, damit das Klassische nicht so starr ist“.119 Es lohnt sich, das von Musil hier angewendete Verfahren der Stilisierung eingehender zu bestimmen. Denn die Ironie dieser Stelle ist keine bloß negativ-satirische, sondern im produktiven Kern des Erzählstils zu verorten. Genauer zu beleuchten ist diese erzähltechnische Produktivität mittels des wichtigen poetologischen Konzepts des russischen Formalismus, des skaz als schriftlicher Simulation mündlicher Kommunikation. Eine Eigenart obiger Erzählpassage besteht darin, die Einbettung des mündlichen „Redeflusses in den Strom eines Sprachbewusstseins“ vorzuführen. Dies ist geboten, „wenn das Bedürfnis entsteht, die semantische Bindung der Erzählung an eine individuelle Figur mit einer bestimmten psychologischen und gesellschaftlichen Färbung zu knüpfen. Für die Stilistik ist die Frage nach den Funktionen des Erzählens ein Problem der Semantik. Es ist die Frage nach […] der Verbindung der Bedeutung von Symbolen mit der Person und dem Milieu, an das der skaz angepasst ist.“120

Entgegen der einseitigen Annahme einer bloß negativ-kritischen, satirischen Funktion hat Ironie in der oben angeführten Passage auch einen umgekehrten, produktiven Aspekt. Mittels ironischem skaz gelingt die sprachliche Mimesis an die Sprechweise der Protagonisten und damit deren Verlebendigung wie auch die ihres sozialen und intellektuellen Milieus. Andere Aspekte dieses ironischen skaz als eines produktiven Erzählstils zeigen sich im weiteren Verlauf dieses kurzen Romankapitels, dessen hauptsächlicher Gegenstand ein von Diotima erinnertes Gespräch ist. Wiederum kann Musils literarisches Verfahren am besten mittels einer Passage aus Viktor Vinogradovs „Skaz in der Stilistik“ verdeutlicht werden. Die grundlegende Annahme lautet, „daß viele der Intonationsvariationen und der Formen der Wortstellung im narrativen Monolog (besonders im Milieu literarisch gebildeter Leute) aus Büchern stammen oder überhaupt sekundären Ursprungs sind, d. h. entstanden durch Anpassung von syntaktischen Gebilden der Schriftsprache oder überhaupt von komplizierten sprachlichen Bildungen, die in irgendwelchen mnemonischen Zeichen verankert sind, an das System des mündlichen Vortrags.“121

In Diotimas Erinnerung an einen Dialog mit Arnheim verstärken sich beide Momente gegenseitig. Trotz der weiten Entfernungen – von Musil zum Erzähler, von diesem zu Diotima, von deren Erinnerung an Arnheim zu diesem selbst – charakterisiert der folgende Eingangssatz von Arnheims direkter Figurenrede, dem noch viele ähnlicher Prägung folgen werden, seinen Sprecher ausgesprochen präzise. „‚Ja‘, hatte er gesagt ‚wir haben keine inneren Stimmen mehr; wir wissen heute zuviel, der Verstand tyrannisiert unser Leben.‘ Da hatte sie geantwortet: ‚Ich verkehre gern mit Frauen; weil sie nichts wissen und ungebrochen sind.‘“ An 119 Ebd. 120 Vinogradov, „Das Problem des skaz in der Stilistik“, S. 175. 121 Ebd., S. 187.

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dieser Dialogpassage direkter Figurenrede interessiert weniger die performative Selbstwidersprüchlichkeit des Inhalts – es sind ein Großer Verstandesmensch und eine Frau, welche hier sprechen – als zwei formale Oszillationsaspekte. Erstens ein narratologisches Oszillieren: Zwischen narrativem Erzählen und dramatischem Zeigen steht hier nicht einfach eine transponierte Rede; erzählt wird vielmehr ein innerer Monolog, und zwar ein von der Protagonistin selbst erinnerter und transponierter Dialog. Es wird sich später zeigen, inwiefern diese paradoxe Modalisierung von Distanz und Mitteilbarkeit des Erzählten auch den anderen narratologischen Modus der Fokalisierung (also der Perspektivierung des Erzählten) ins Schwanken bringt. Zweitens zeigt sich in obiger Passage mit dem Wort ‚hatte‘ gleich zu Beginn ein grammatisch-semantisches Oszillieren zwischen einem Besitz indizierenden Imperfekt (‚haben‘) und reiner grammatischer Konstruktion als Plusquamperfekt. „Und Arnheim hatte gesagt …“, spult sich dieses für Diotima so wunderbare, stereotype Gespräch noch einmal in Erinnerung weiter. Gezählte zehn „hatte“ finden sich trotz Arnheims Neigung zu langen Monologen in dieser vierundzwanzigzeiligen Episode. Meist sind diese von ungelenken „da“ und „damit“ begleitet, welche den Geruch verträumter Deutschstunden in einem Mädchengymnasium der Provinz noch verstärken. Von diesen lange vergangenen zähen gymnasialen Vormittagen her datieren die Träume der kleinen Hermine. Und diese Tatsache macht den Leser ihre Engstirnigkeit nicht vergessen, sondern empathisch nachvollziehbar. Denn höchstwahrscheinlich kann sie besser schreiben. Und ganz sicher könnte dies Musil. Aber „je stärker die Erregung des Erzählers, seine Affektbeziehung zum Gegenstand seiner Rede, desto entfernter ist der Monolog von der logischen Geschlossenheit der Schriftsyntax und der Lexik der Schriftsprache“.122 Diotima und Arnheim markieren ansonsten eher einen inhaltlichen und damit auch stilistischen Gegenpart zu Musils komplizierter satirischer Syntax (der adäquaten Ausdrucksform der ironisch-gebrochenen Utopie des Mann ohne Eigenschaften). Doch wenn wir Diotima in ihrer früheren Gestalt vom Glück träumen und mit ihr die Sonne durch das Fenster scheinen sehen, dann sehen wir ihr ihre Naivität manchmal sogar nach. Und auch der ansonsten stilsichere Erzähler muss sich dann erst wieder langsam fassen. Der Geruch dieser auf einmal sympathischen Frau bezwingt auch ihn. So schmiegen sich die erzählenden Rahmensätze zu dieser Episode stilistisch an den Sprachduktus Diotimas sowie ihre teilweise altertümelnde Wortwahl an, sind also Beispiele für die auch Musil eigene und von Tynjanov analysierte „ironische Verwendung von Archaismen“.123 An dem oben hervorgehobenen Imperfekt sei das noch einmal verdeutlicht. Die semantische Klammer dieser Passage, einer Gesprächserinnerung in indirek122 Ebd. Dieser stilistischen Porosität entspricht auf der Makroebene des Romans eine Hingabe an eine Unzahl ideologischer Diskurse und gesellschaftlicher Idiome. Hartmut Böhme (Anatomie und Entfremdung. Literatursoziologische Untersuchungen zu den Essays Robert Musils und seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, Kronberg, 1974, speziell S. 253) hat auf die daraus resultierende Gefahr des Mann ohne Eigenschaften verwiesen, selbst der Ideologie zu verfallen. 123 Tynjanov, „Über literarische Evolution“, S. 42.

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ter Rede, bildet das schon im Einleitungssatz angeführte „hatte“. Das Gleiche gilt für den die Episode abschließenden Satz. „Es sei eine so heitere Seelenhaftigkeit in der Stadt – hatte Diotima erwidert, und sie war es zufrieden.“ Ein weiteres „hatte“, diesmal des Erzählers, schließt die Episode ab. „Diotima hatte sich das Gespräch wörtlich wiederholt, aber an diesem Punkt löste es sich in Glanz auf.“ Zu hoch beginnt ihr Geist zu schweben, wie ein „Kinderballon“. „Und im nächsten Augenblick zerplatzte er. Da war der großen Parallelaktion eine Idee geboren.“124 Weitere Ansätze zu einem genauen Verständnis des hier von Musil angewendeten erzähltechnischen Verfahrens finden sich bei Bachtin. Meiner Ansicht nach verortet Bachtin ‚Stilisierung‘ aber zu sehr im engen Rahmen der schon von Tynjanov skizzierten genretheoretischen Verwandtschaft zur ‚Parodie‘ und in Abgrenzung zu ‚Nachahmung‘ und ‚Einfluss‘.125 „Die stilistische Bearbeitung des objekthaften Wortes, das heißt: des Wortes des Helden, ordnet sich, als seiner höchsten und letzten Instanz, den stilistischen Aufgaben des Verfasserkontextes unter.“126 Musils Beschreibungsprosa unterläuft die Klarheit dieser Unterscheidung auf doppelte Weise. Erstens sind es seine Helden oft selbst, allen voran Ulrich, welche die Ernsthaftigkeit ihrer Rede in Frage stellen. Der Held redet also, anders als Bachtin unterstellt, gerade nicht „immer in vollem Ernst“.127 Damit entfällt zweitens Bachtins Unterscheidung zwischen originaler Nachahmung und epigonaler Stilisierung.128 An solchen Stellen geht dem Erzähler des Mann ohne Eigenschaften mit der sprachlichen Beherrschung immer wieder auch die satirische Besserwisserei verloren. Günter Martens hat die in diesem Zusammenhang wichtige Unterscheidung zweier in Musils Roman vertretener Formen der Ironie mit der wichtigen Forderung verbunden, deren „genaue Verteilung […] mit einem gemischt rhetorisch-narratologischen Instrumentarium“129 präziser zu bestimmen. Als Beitrag dazu ist obiger Versuch zu verstehen, eine „komplexierende Ironie“ durch die ihr eigene „mimetische Übernahme“ von gedanklichen und (rede)stili-

124 MoE, S. 110. 125 „Stilisierung [liegt] vor“, wenn „der Autor nicht dem fremden Stil [folgt]“, sondern „eher sein Spiel damit [treibt]“. Von „Stilisierung zu Parodie [führt] nur ein Schritt“, denn die „Stilisierung grenzt an Parodie“ (Tynjanov, Jurij, „Dostoevskij und Gogol“, in: ders., Die literarischen Kunstmittel und die Evolution in der Literatur, S. 78–133, hier S. 82 f.). 126 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 110. 127 Ebd., S. 114. 128 „Wenn die Ernsthaftigkeit eines Stils in den Händen seiner Nachahmer und Epigonen nachläßt, werden seine Kunstmittel vorbehaltlich; aus Nachahmung wird halbe Stilisierung“ (ebd., S. 114). Gerade wo der Musil’sche Erzähler seinen Figuren am nächsten kommt, gestalten diese jedoch seinen Stil und entfernt er sich vom distanzierten Vorbehalt der Satire. Allgemein zu einer Relativierung der Unterscheidung Originalität und Epigonalität vgl. Meyer-Sickendiek, Burkhard, Die Ästhetik der Epigonalität. Theorie und Praxis wiederholenden Schreibens im 19. Jahrhundert: Immermann – Keller – Stifter – Nietzsche, Tübingen, 2001. 129 Martens, Günter, Beobachtungen der Moderne in Hermann Brochs Die Schlafwandler und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Rhetorische und narratologische Aspekte von Interdiskursivität, München, 2006, S. 120.

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stischen Idiosynkrasien einzelner Protagonisten von einer „aggressiv-entlarvende[n] Satire“130 zu unterscheiden.

3. Der Mann ohne Eigenschaften als Reflexionsmedium Mehr noch als bei vielen anderen kann von Musils Roman als von einem Reflexionsmedium gesprochen werden. Besonders an der erzähltechnischen Funktionalität des umfangreichen Figurenkabinetts kann das dargelegt werden. Mit der fortschreitenden Anreicherung des Romanpersonals gehen sprachliche und stilistische Perspektivwechsel einher, die stets auch den Wahrnehmungshorizont des Romans erweitern. Ein Beispiel für die genauere Bestimmung der reflexionsmedialen Personenkonstellationen des Romans sind Ulrichs Frauenbekanntschaften. Bevor in der Folge die für die Sprachstilisierung der Erzählung zentralen Elemente detailliert analysiert werden, gilt es deswegen kurz die Funktion der verschiedenen Liebeskonstellationen zu betrachten. Fast jede Grundkonstellation und eine Vielzahl von Situationen des speziell den zweiten Teil des Romans tragenden Geschwisterpaares sind an anderen Stellen bereits angedacht oder vorgebildet. Auch spiegelt sich in allen Überlegungen Ulrichs die Angst, derjenigen Lächerlichkeit anheimzufallen, welche die nicht weniger überreflektierte Parallelaktion schließlich voll trifft. „Medium der literarischen Erkenntnissuche unter ironischen Vorzeichen“ ist „vor allem der Roman […], Reflexionsmedium ist dabei vor allem der Protagonist“131, die ständig über sich und andere reflektierende Figur Ulrich. Ausnahmslos sind die Liebeleien des ersten Romanteils annäherndvorbereitende Reflexionen auf die spätere, von Musil selbst als eine letzte Liebesgeschichte der Weltliteratur konzipierte Vereinigung. Das gilt für Soliman und Rachel (eine nicht reflektierte, ungeschickte Form dumpfen Begehrens) ebenso wie für Diotima und Arnheim (schlecht sublimierte, ästhetizistische Sexualität) oder das Paar Walter und Clarissa (die sich verweigernde Wahnsinnige und der gescheiterte Vereinfacher). Sie alle genügen den Ansprüchen des Autors nicht; genauso wie auch Ulrich selbst zwar erotische Momente mit jeder dieser Frauen hat – und zusätzlich mit Gerda, der kleinen Unbekannten, der Kurzzeitfreundin Bonadea, vielleicht einer Prostituierten etc. –, nirgends aber in einem emphatischen Sinn zu lieben beginnt. Ulrichs letztendlicher Entschluss, „lange Zeit keine Frau anders zu lieben, als wäre sie meine Schwester“132, bereitet dann zwingend den auf der nächsten Seite erfolgenden Eintritt Agathes in das komplizierte Figurengeflecht vor. Nur in Agathe findet Ulrich die zu ihm passende Parallelfigur (auch einer anderen Erotik), welche alle bis dahin anvisierten und sporadisch reflektierten Möglichkeiten verblassen lässt. An dieser Stelle ist Ulrichs Metapher

130 Ebd. 131 Honnef-Becker, „Ulrich lächelte“, S. 143. 132 MoE, S. 891.

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wörtlich ernst zu nehmen: „Eine besondere Art der gegenseitigen Ergänzung, wie zwei Spiegel einander dasselbe Bild zuwerfen, das immer inständiger wird.“133 Analog zur erotischen verläuft auch die künstlerische Fragestellung des Romans. Das betrifft neben der Parallelaktion vornehmlich Ulrichs reflexive Suche nach anderen Wahrnehmungen und einem Zustand reiner Präsenz. Mittel dazu sind die sich spiegelnden Geschwister, also zwei Spiegel, die sich parallel gegenüberstehend nicht ins Unendliche reflektieren, sondern in dieser ständigen Reflexion als Doppel geradezu auflösen wollen. Ziel ist eine Vereinigung im Sinne der Produktion (künstlerischer) Intensität, welche alle Darstellungsvariationen, Figurenkonstellationen und Handlungsoptionen des ersten Teils überschreitet. „Es kommt also überhaupt auf nichts an!“, ruft Agathe einmal aus und fährt sogleich, alle ethischen und gesellschaftskritischen Aspekte des ersten Romanteils hinter sich lassend, fort: „Nicht auf das, was einer ist, nicht auf das, was er meint, nicht auf das, was er will, und nicht auf das, was er tut.“134 Wo Ulrich der Kollegin Dr. Strastil – in deren Doppelbegabung sich „außerordentliche Entwicklung des begrifflichen Denkens mit auffälligem Schwachsinn des Seelenverstands“135 verbindet – auf ihr Begehren nach „ein wenig Natur“ mit herablassendem Sarkasmus antwortet, darf Agathe scheinbar ähnliche Wünsche äußern, ohne eine ironische Replik befürchten zu müssen. Der Unterschied liegt im Detail: „Ich wollte so gern auf einer Wiese liegen, bescheiden zur Natur zurückgekehrt wie ein weggeworfener Schuh!“136 Abgesehen von der noch zu kommentierenden eigentümlichen Metaphorik Musils ist hier von Interesse, inwiefern die indirekte Kommentierung der satirischen Szenerie hauptsächlich mittels Ulrichs blödelndem Sarkasmus funktioniert. „Dr. Strastil empörte sich ehrlich. Sie könne die ganzen drei Tage auf der Alm liegen, ohne sich zu rühren: wie ein Felsblock! verkündete sie. ‚Höchstens weil Sie Wissenschaftlerin sind!‘ warf Ulrich ein. ‚Ein Bauer würde sich langweilen!‘ […] Fräulein Strastil bezweifelte, daß er elementar genug fühle. Ulrich behauptete, elementar sei neben Essen und Liebe die Bequemlichkeit, aber nicht das Aufsuchen einer Alm.“137

Wo Ulrich, um ein weiteres Naturbeispiel zu geben, angesichts von Diotimas Eichendorff-Reminiszenzen im Wienerwald („Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben“) mit dem Verweis auf Forstwirtschaft und Zellulosefabrikation gegen bildungsbürgerliche Kunstrezeption Sturm läuft, verliert er sich später (auch ohne Agathe) im Beobachten beliebiger Blumen in seinem Garten. Auch an dieser Stelle ist die Differenz zwischen Ulrich und Diotima eine sowohl ästhetische wie ethische. Ulrichs ironische Negation, sein bestimmter Widerstand gegen das konditionierte Aufsagen von Gedichten steht im Dienste der Utopie 133 134 135 136 137

MoE II, S. 1353. Ebd., S. 1222. MoE, S. 867. MoE II, S. 1090; Hervorhebungen hier und im weiteren Verlauf des Kapitels D. III. von A. A. MoE, S. 866.

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des ästhetischen Kunstregimes und seines emphatischen Kunstverständnisses als verfremdender Verschiebung unserer naturalisierten Konditionierungen von Wahrnehmungen und Empfindungen. „Kombinationsfähigkeit, Fähigkeit ,mit neuen Augen zu sehn‘ d. h. von alten Bindungen sich unabhängig zu bewahren“138, mit dieser Tagebucheintragung ist der multiperspektivische Anspruch des Romans deutlich benannt. Der zu Lebzeiten Musils veröffentlichte Teil des Mann ohne Eigenschaften endet mit einer an das Proust’sche Wiederfinden der Zeit erinnernden Versammlung fast aller Figuren. „Ein großes Ereignis ist im Entstehen. Aber man hat es nicht gemerkt“, lautet der Titel des Kapitels 38 des dritten Teils. Nicht der ironische Effekt, dass die Parallelaktion trotz namentlicher Ankündigung wieder zu keiner konkreten Idee oder Aktion findet, ist dabei von vorrangiger literarischer Bedeutung. Auch nicht das satirische Moment, dass das wirklich vom Autor antizipierte Ereignis, der Erste Weltkrieg, ohnehin alle noch so nebulösen Friedensbemühungen scheitern lassen wird. Das Ereignis, welches Musil in Ulrichs Abgang von der Parallelrealität finden wird und das ihm vorher nur zwischendurch aufblitzt, ist eine neue aisthetische Rezeptivität seiner Sprache. Dazu, zu Aufnahme und Ausdruck ästhetischer Wahrnehmungen und Eindrücke, dient ihm die ironische Polyphonie. Und auch bezüglich der pseudo-verallgemeinernden Funktion des obigen ‚man‘ wurde zu Recht auf eine fundamentale auktoriale Gebrochenheit hingewiesen: als „Verkörperung des nullfokalisierten Redens […] [besitzen] das ‚man‘ und ‚wir‘ immer einen polyphonen, oszillierenden Charakter“.139 In der Modalisierung der auktorialen Rede zeigt sich ein drittes narratologisches Oszillationsphänomen in Musils ironischem Roman. Nach dem narratologischen Modus der Mitteilung des Erzählten, seiner dramatischen oder narrativen Distanzierung, betrifft das nun den Modus der Perspektivierung, die Fokalisierung des Erzählten. Gegen Franz Stanzels Verständnis auktorialer Erzählstrategien als „Nullstufen der Mittelbarkeit“140 und gegen den Vorwurf eines ästhetischen Fehlens erzählerischer Polyphonie hat wiederum Günter Martens die „metareflexive, illusionszerstörende“ Kapazität von Musils modernem, gerade nicht traditionellen oder konventionellen Auktorialerzähler betont.141 Ursprünglich war ein Freund Ulrichs – der früheren Skizzen zufolge bekanntlich noch ‚Anders‘ heißen sollte142 – als Erzähler des Mann ohne Eigenschaften vor138 TB I, S. 490. 139 Martens, Beobachtungen der Moderne, S. 178. 140 Vgl. dazu Stanzel, Franz K., Theorie des Erzählens, 4. Aufl., Göttingen, 1989, speziell das Kapitel „Mittelbarkeit und die Person des Erzählers“. 141 Martens, Beobachtungen der Moderne, S. 39. „Musils Beobachtung der Modernität ist in hohem Maße von der Inszenierung und Beobachtung der eigenen Beobachterposition abhängig“ (ebd., S. 259). 142 Die komplexe Entstehungs- und Editionsgeschichte des Romans kann hier nicht eigens thematisiert werden. Für die Frage nach der Ironie, genauer: ihren literarisch-ästhetischen Grenzen, genügt die Auseinandersetzung mit dem durch die Frisé-Ausgabe vorhandenen Material. – Walter Fanta (Die Entstehungsgeschichte des „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil, Wien u. a., 2000, S. 375 f.), dem die bisher wohl umfassendste werkgeschichtliche Untersuchung zu

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gesehen. Die schlussendliche heterodiegetische Erzählweise des essayistischen Romans hat dann wie bei kaum einem anderen immer wieder die Versuchung nahegelegt, weite Passagen als autodiegetische Einlassungen Musils zu lesen. Diese nicht weniger als die zuvor diskutierten narratologischen Oszillationen haben ihre konkreten sprach- und literaturtheoretischen Gründe. Selbst für die „am wenigsten autobiographischen Romane“ gilt nämlich, dass „die Meinungen einer Vielzahl von Personen aufeinanderprallen, sich kreuzen, wobei jede Meinung von den Perzeptionen und Affektionen einer jeden abhängen, je nach deren sozialen Situation und ihren individuellen Abenteuern, das ganze erfaßt von einem breiten Strom: der Meinung des Autors, die sich freilich aufspaltet und wieder auf die Personen zurückschlägt“.143

Deswegen haben auch Deleuze und Guattari, in der Folge der russischen Formalisten und Bachtins, zu Recht von einer „‚parodistische[n]‘ Grundlage des Romans“ gesprochen – „glücklicherweise bleibt er da nicht stehen“.144

4. Helligkeitskontraste Die These, dass sich die Sprache des Romans mit der jeweiligen Fokalisierungsperson ändern kann, gilt für Musils Roman in dreifacher Hinsicht. Erstens hat sich gezeigt, inwiefern jeder Protagonist über seine ihm eigentümliche direkte Rede verfügt. Dies hat sich auch daran erwiesen, dass sich der sehr indirekte Erzähler immer dann, wenn er seinen Protagonisten direkt zugewendet ist, als einer ohne Eigenschaften zeigt, dies aber nun so verstanden, dass er seinen eigenen (neutralen oder ironischen) Sprachstil nicht durchhalten kann. Gegenstand der Analyse wird in diesem Abschnitt nun ein dritter Aspekt sein, der sich auch als Konsequenz der beiden ersten Elemente erweist: Die narrative Struktur des Mann ohne Eigenschaften selbst ist durch eine Mimesis an seine Figuren vorgegeben und nicht einfach als willkürliche Ordnung durch einen von diesen ein für alle Mal getrennten Erzähler bestimmt. Mit der Aufgabe distanziert-beherrschter Ironie und der mit ihr verbundenen sprachlichen Distanz zugunsten einer unbeherrschten, kontextuellen, polyphonen Ironie riskiert der Musil’sche Erzähler den Verlust seiner kontrollierten (Text-)Beherrschung.145 verdanken ist, kommt zu folgendem einseitigem Schluss: Musils impersonaler Erzähler wechsle ständig „Ort und Modus, ohne dass aber in dieser Schreibweise echte Polyphonie und Asyntagismen zugelassen werden. Es spricht eine einzige Stimme.“ Dem entspreche eine „Sprachmacht, die Musils Ironie zur Schau stellen will. Es erhebt sich ja tatsächlich in Musils ironischem Erzähl- und Essaystil unüberhörbar und durchlaufend eine Stimme mit einer ‚Meinung‘, die im Text nirgends auf Widerspruch stösst“ (ebd., S. 377). 143 Deleuze und Guattari, Was ist Philosophie?, S. 201. 144 Ebd. 145 Deswegen auch unterscheidet sich die oben analysierte Affizierung des Musil’schen Erzählers von der erzähltheoretisch wohlbekannten „‚Ansteckung‘ der Erzählersprache durch die Figurensprache“ als einer „Art indirekten Zitierens“ (Stanzel, Theorie des Erzählens, S. 249).

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Das zeigt sich schon an einem sich hinziehenden Abschied Bonadeas bei Ulrich. „Ulrich fühlte sich, als er wieder seine Betrachtungen aufnahm, durch dieses Warten gereizt und geriet in eine unbestimmte Ungeduld […]. Und plötzlich zogen sich seine Gedanken zusammen, und als ob er durch einen entstandenen Riß blickte, sah er Christian Moosbrugger, den Zimmermann, und seine Richter.“146

Die beiden Sätze, der Schlusssatz des 29.147 und der Einleitungssatz des 30. Kapitels, markieren eine Zäsur: das Einreißen eines ungeduldig gespannten Bewusstseinszustands. Dass Ulrich ausgerechnet in diesem Moment der Gewaltverbrecher Moosbrugger in den Sinn kommt, verweist zugleich auf dessen reflexionsmediale Funktion innerhalb des Romans. Auch kurz darauf (in Kapitel 31) wird Ulrich durch Bonadeas Anwesenheit aus seinen Phantasien gerissen, bevor im darauffolgenden Kapitel 32 eine entscheidende Etappe seines Lebens reflektiert wird. Wiederum findet Ulrich nur mittels Gedanken an Moosbrugger Zugang zu diesem ‚Anderen‘. „Moosbrugger ging ihn durch etwas Unbekanntes näher an als das eigene Leben, das er führte“148 und von dem er sich nicht zuletzt aus solchen unbekannten Gründen gerade erst beurlaubt hatte. Moosbrugger „ergriff ihn wie ein dunkles Gedicht, worin alles ein wenig verzerrt und verschoben ist und einen zerstückt in der Tiefe des Gemüts treibenden Sinn offenbart.“149 Ulrich selbst ist es, nicht der Erzähler, der mit dem Ausruf „Schauerromantik“ das dunkle Gedicht sofort zu relativieren sucht. Mehr und mehr merkwürdige Erinnerungen steigen in diesem Moment in Ulrich auf. Erstmals, und wieder im Zusammenhang mit Moosbrugger, berührt der Mann ohne Eigenschaften an dieser Stelle den später zentralen mystischen Erfahrungsbereich. Trotz der Abneigung gegen einen Satz (des ungenannt bleibenden) Maeterlincks, welchen bezeichnenderweise Diotima zitiert hatte, wird Ulrich von diesen „echten Sätzen jener geheimnisvollen Sprache“ angezogen. Wiederum wird es dunkel in Musils Sätzen, aber diesmal kommt mit einem neuen Motiv Farbe und eine neue Stimme in Ulrichs Gedanken. „Sie lagen – solche Sätze, die ihn mit einem Laut von Geschwisterlichkeit ansprachen; mit einer weichen dunklen Innerlichkeit […] – wie Inseln zwischen seiner Beschäftigung.“150 In immer neuen Versuchen kreist die Beschreibung und versucht 146 MoE, S. 117. 147 Zwischen diesen und dem oben genauer analysierten 26. Kapitel liegen Kapitel 27, welches die (Nicht-)Idee der Parallelaktion ‚erzählt‘, sowie Kapitel 28, „das jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine besondere Meinung hat“. 148 MoE, S. 121. Wolf Kittler hat diese Stelle als einen Ausgangspunkt seiner spannenden thermodynamischen Deutung des Romans genommen. „Funktion der Mystik in Musils Werk“ sei es, die menschliche Psyche nur mehr als „Teil größerer Systeme“ zu studieren. Moosbruggers Anfälle nicht anders als die „mystische Verzückung [bedeuten] eine Verkehrung von Innen und Außen“ (Kittler, Wolf, „Der Zustand des Romans im Zeitalter der Zustandsgleichung. Über die kinetische Gastheorie in Robert Musils ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘“, in: „Fülle der combination“. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, hrsg. v. Bernhard J. Dotzler und Sigrid Weigel, Paderborn/München, 2005, S. 189–215, hier S. 204). 149 MoE, S. 121. 150 Ebd., S. 122.

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sich in immer neuen umwegigen, Motiv um Motiv ansammelnden Annäherungen: „Er fühlte das Weiche von Meer, Nebel und niedrigen schwarzen Landrücken, die in gelbgrauem Licht schlafen. Er erinnerte sich an eine kleine Seereise.“151 Mit dieser „unmittelbaren Erinnerung“ nun löst sich das Rätsel von Ulrichs Suchen. Die Seereise hatte Ulrich einmal angetreten, um vor seiner „große[n] Liebe“ zu flüchten, und zwar mit der Begründung, dass „echte Liebe kein Verlangen nach Besitz ist, sondern ein sanftes Sichentschleiern der Welt“.152 Hinter der Distanz zwischen dem jungen Ulrich und dem späteren Mann ohne Eigenschaften, die noch als textuelle Zeitspannung verstanden werden kann, wird eine zeitliche Diskrepanz – Ulrich wiedererinnert über diesen Gedanken seine Lektüre der Mystiker, deren Erfahrungen er mit seiner Schwester in der Zukunft erst erkunden wird – sichtbar, die auf die grundsätzliche zeitparadoxale Signatur von Musils tagheller Mystik verweist.153 Der junge, geflohene Ulrich wird von der erinnernden Erzählung irgendwo zwischen Land und Meer – „er tat es seinem Gefährten [einem in der Nähe weidenden Esel; A. A.] gleich und stieg auf einen der Steinriegel“ –, „am Inselrand zwischen die Gesellschaft von Meer, Fels und Himmel“154 niedergelegt, wiedergefunden. „Das ist nicht anmaßend gesagt, denn der Größenunterschied verlor sich, so wie sich übrigens auch der Unterschied zwischen Geist, tierischer und toter Natur in solchem Beisammensein verlor und jede Art Unterschied zwischen den Dingen geringer wurde. Um das ganz nüchtern auszudrücken, diese Unterschiede werden sich wohl weder verloren noch verringert haben, aber die Bedeutung fiel von ihnen ab, man war ‚keinen Scheidungen des Menschentums mehr untertan‘, genau so wie es die von der Mystik der Liebe ergriffenen Gottgläubigen beschrieben haben, von denen der junge Reiterleutnant damals nicht das geringste wußte.“155

Woran der junge Ulrich intellektuell hilflos ausgeliefert war, das versuchen der die Zusammenhänge von Mystik und Liebe ahnende Mann ohne Eigenschaften sowie sein ratioider Erzähler nüchtern zu begreifen. Die jeweiligen emotionalen und sprachlichen Gedächtniszustände beeinflussen die Handlung nicht einfach, sondern steuern die narrative Ordnung selbst. Wenn der junge Ulrich in der oben genannten Stelle unbeholfen versucht, sich mit den Steinen zu vermählen und zu irgendeinem Tier zu werden, dann liegt in diesen undeutlich begrenzten Erlebnissen zugleich ein Nukleus für die ästhetischen Metamorphosen des ganzen Romanunternehmens. 151 Ebd., S. 123. 152 Ebd. 153 Vgl. dazu Goldschnigg, Dietmar, Mystische Tradition im Roman Robert Musils. Martin Bubers „Ekstatische Konfessionen“ im „Mann ohne Eigenschaften“, Heidelberg, 1974, S. 124: „Jede mystische Entgrenzung beruht vor allem darauf, daß die Grenzen von Zeit und Raum ihre Gültigkeit verlieren; erst durch die ‚Abkehr von Raum und Zeit‘ können ‚Welt und Ich in eins zerfließen‘.“ 154 MoE, S. 125. 155 Ebd.

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Der Mann ohne Eigenschaften versucht später noch eine erwachsenere Flucht in eine Parallelrealität. Doch schon in dieser ersten Weltverliebtheit treten deren materialistische Züge hervor. Der ganze Einsatz der Musil’schen Poetik liegt bereits in dieser steinigen Stelle. Eine Tagebuchnotiz Musils kann verdeutlichen, worum es geht: „In diesem milden lyrischen Affekt wird eines zum Gleichnis des anderen. Bei Rilke werden nicht die Steine oder Bäume zu Menschen – wie sie es immer getan haben, wo Gedichte gemacht wurden –, sondern auch die Menschen werden zu Dingen oder zu namenlosen Wesen und gewinnen damit erst ihre letzte, von einem ebenso namenlosen Hauch bewegte Menschlichkeit.“156

Anstatt diese poetologischen Überlegungen, wie Musil das in seinem Tagebuch getan hat, im Sinne einer „Sprache der Versöhnung“157 zu verstehen, möchte ich abschließend eher die Frage nach dem vage angedeuteten „lyrischen Affekt“ stellen. Das zielt auf ein Interesse, das narratologisch kaum mehr gerechtfertigt werden kann, sondern über das nur mehr noch ontologisch zu spekulieren ist.

5. Materialistische Mystik in Farben „Würde der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald leicht, bald schwer sein, ein Mensch bald in diese, bald in jene tierische Gestalt verändert werden […], so könnte meine empirische Einbildungskraft nicht einmal Gelegenheit bekommen, bei der Vorstellung der roten Farbe den schweren Zinnober in die Gedanken zu bekommen, oder würde ein gewisses Wort bald diesem, bald jenem Dinge beigeleget […], ohne daß hierin eine gewisse Regel, der die Erscheinungen schon von selbst unterworfen sind, herrschete, so könnte keine empirische Synthesis der Reproduktion statt finden.“ Immanuel Kant158

Ulrichs Suche nach einer taghellen Mystik verläuft parallel und analog zu Musils dichterischem Bemühen. In dem Maße, in dem der Roman andersartige Erfahrungen zu inkorporieren versucht, tritt das zu Beginn zu den Reflexionen Ulrichs und des Erzählers parallel und gleichberechtigt verlaufende Geschehen mehr und mehr in den Hintergrund. Folgerichtig verliert auch die Parallelaktion nicht nur für Ulrich, sondern auch für den Erzähler an Interesse. Hin und wieder tritt eine

156 Musil, Robert, „Rede zur Rilke-Feier in Berlin am 16. Januar 1927“, in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. v. Adolf Frisé, Bd. II, S. 1229–1242, hier S. 1237. 157 Für das Tagebuchzitat vgl. Kaiser, Gerhard R., Proust – Musil – Joyce. Zum Verhältnis von Literatur und Gesellschaft am Paradigma des Zitats, Frankfurt am Main, 1971, S. 133. 158 Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders. Werkausgabe, Bd. III, A 100 f.

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Figur durch das Lichtgitter in den Garten der Geschwister und berichtet hektisch von der immer unwichtiger werdenden (Parallel-)Handlung. Die Fragen, die sich damit stellen, lauten: Worauf drängt die Handlung? Was ist das eigentliche Motiv des Romans? Und gibt es überhaupt das eine Thema des Mann ohne Eigenschaften? Für eine mögliche Antwort auf diese Fragen scheint es mir zielführend, das Motto des zweiten Teils des Romans, dem zufolge „die Weltgeschichte mindestens zur Hälfte eine Liebesgeschichte“ sei, heranzuziehen. Die Reflexionen der ‚Liebe‘ sind dem Mann ohne Eigenschaften, wie schon erwähnt, Mittel poetologischer Selbstreflexion. Mit jeder Frau, die Ulrich über den Weg läuft, beginnt eine Reflexion in Richtung Geschwisterliebe. Selbst wenn Ulrich auf der Straße einer Unbekannten zu folgen beginnt, „träumte er daneben und abwechselnd damit von einer Frau, die sich in keiner Weise erreichen läßt. Sie schwebte ihm vor wie die späten Herbsttage im Gebirge, wo die Luft etwas zum Sterben Ausgeblutetes hat, die Farben aber in höchster Leidenschaft brennen.“159

Das aisthetische „Sichentschleiern der Welt“160, als welches sich die Liebeskrankheit zu erkennen gegeben hat, wird speziell im zweiten Teil des Romans deutlich. Liebe macht blind, aber „Liebe macht auch sehen“161, und das zeigt sich im Falle des Mann ohne Eigenschaften am klarsten an den Farbwahrnehmungen sowohl der Protagonisten als auch des Erzählers. Am Tag vor dem Wiedersehen mit Agathe zum Beispiel kommt die Erinnerung zu der in seiner Jugend verehrten Frau Majorin zur Sprache. „Es graute der Tag und mischte seine Fahlheit in die rasch abwelkende Helligkeit des künstlichen Lichts. Ulrich sprang auf und dehnte seinen Körper. Es war etwas darin zurückgeblieben, das sich nicht abschütteln ließ. Er strich sich mit dem Finger über die Augen, aber sein Blick behielt etwas von der Weichheit einer einsinkenden Berührung der Dinge. Und mit einemmal erkannte er in einer schwer beschreiblichen, abströmenden Weise, einfach so, als verließe ihn die Kraft, es länger abzuleugnen, daß er wieder dort stand, wo er sich schon einmal vor vielen Jahren befunden hatte. […] Einen ‚Anfall der Frau Major‘ nannte er sein Befinden spöttisch.“162

So wie diese wird auch jede andere erotische Begegnung Ulrichs von einer Intensivierung der Wahrnehmung begleitet. Die erhöhte (visuelle) Sensibilität der Personen überträgt sich auf die Erzählersprache und führt diese zugleich an ihre Grenzen. Immer wieder stehen dabei Fragen nach Farbwahrnehmungen zur Diskussion. Schon die den Roman einleitenden Reflexionen zu Erzählstil und Genauigkeit widmen sich bekanntlich dem Problem der Farbbeschreibung. Gleich auf der ersten Seite wird das Ungenügen geäußert, dass „man sich bei einer roten Nase ganz ungenau damit begnügt, sie sei rot, und nie danach fragt, welches besondere Rot sie habe, obgleich sich das durch die Wellenlänge auf Mikromilli159 160 161 162

MoE, S. 878 Ebd., S. 123. MoE II, S. 1108. MoE, S. 664.

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meter genau ausdrücken ließe“.163 Und immer wieder heben sich aus dem Erzählgeschehen des ersten Teils Phrasen und Satzgruppen von hoher poetischer Intensität heraus. Mitten zwischen zwei profanen Absätzen, die Ulrich gelangweilt von Bonadeas Anwesenheit und deren Ängsten zu altern zeigen, steht ein Satz, der so gar nichts zum narrativen Geschehen beitragen will. Zur Beruhigung der unausgeglichenen Bonadea bietet Ulrich Alkohol anstelle von Empathie. „Der Whiskey war dünngoldig und wärmte wie Maisonne.“164 In völliger Ausgeglichenheit atmet alles in diesem Satz, von Laut- und Schriftbild, von den Umlauten bis zu den Doppelkonsonanten, völlige Ausgewogenheit. Und zugleich verweist „Maisonne“ mitten im Winter auf eine andere Temporalität. Diese materiale Komponente von Musils Beschreibungen, dass sie unter dem Einfluss des Geschehens zuweilen unterschiedliche Farben annehmen, lässt sich mit einem weiteren Beispiel verdeutlichen und zugleich um ein neues Motiv bereichern. „Die Rinde der Bäume war noch vom Morgen feucht. Draußen auf der Straße lag veilchenblauer Benzindunst. Die Sonne schien hinein und die Menschen bewegten sich lebhaft. Es war ein Asphaltfrühling, ein jahreszeitenloser Frühlingstag im Herbst, wie ihn die Städte hervorzaubern.“165

Hier steht die Zeit noch nicht still wie in den verschiedenen nachgelassenen Versionen des „Atemzüge-eines-Sommertags“-Kapitels. Aber zumindest die Jahreszeiten sind schon aus den narrativen Fugen geraten. Oft sind es Vergleiche, die komprimierte Bilder produzieren und in denen meist intensiv dunkle Farben vorherrschen: „Die kleine Rachel kauerte vor dem Schlüsselloch, ihr schwarzes Kleid spannte sich um Knie, Hals und Schultern, Soliman kauerte in seiner Livree neben ihr wie eine heiße Tasse Schokolade in einer dunkelgrünen Schale“.166 Dieser dunklen, heißen Intensität steht das oft gleißende Licht um die wahnsinnige Clarissa gegenüber, für die – ähnlich den Epileptikern Dostojewskis in Momenten höchster Klarheit – manchmal alles in intensiver Helle strahlt. Auch das Verhältnis der Geschwister wird immer wieder anhand von Hell-dunkel-Kontrasten beschrieben. Es handelt sich um Kontraste, die gewissermaßen den optischen oder visuellen Ausdruck der Annäherung an das innere Geschehen darstellen. So werden Ulrichs Räume, nachdem Agathe einzieht, von „[h]elle[n] Wellen anmutiger Heiterkeit, dunkle[n] Wellen menschlichen Vertrauens“167 gefüllt. An anderer Stelle ist es geradezu ein ephemeres Licht-/ Schattengitter168, welches die Geschwister von der Außenwelt trennt.

163 Interessant sind in diesem Zusammenhang einige Tagebuchnotizen mit ihren überbordenden Farbunterscheidungen, die als Vorstudie zu den Gartenkapiteln gelesen werden können; speziell zu den erstaunlichen Rotdifferenzierungen: TB I, S. 999–1001, 1022. 164 MoE, S. 259. 165 Ebd., S. 114. 166 Ebd., S. 336. 167 Ebd., S. 937. 168 Vgl. MoE II, S. 1336.

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Vieles, das im ersten Teil des Romans nur entworfen wird, verdichtet sich in den unveröffentlichten Teilen zu konkreten lyrischen Zuständen. Das gilt etwa für emotionale Erlebnisse, die mit einem optischen Verschwinden der „Bildfläche“ und einem Gleißen ohne Umrisse einhergehen. „Natürlich sind darin auch noch unzählige einzelne Wahrnehmungen enthalten, Farben, […] Bewegungen, Gerüche und alles, was zur Wirklichkeit gehört: aber […] die Einzelheiten besitzen nicht mehr ihren Egoismus, durch den sie unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, sondern sie sind geschwisterlich und im wörtlichen Sinn ‚innig‘ untereinander verbunden. Und natürlich ist auch keine ‚Bildfläche‘ mehr da, sondern irgendwie geht alles grenzenlos in dich über.“169

Die reinen Wahrnehmungsbilder, die hier mit der besitzlosen mystischen Geschwisterliebe analogen Metaphern beschrieben werden, ereignen sich später wirklich. Und stets sind solche reinen Empfindungen und Wahrnehmungen verbunden mit Zuständen erhöhter Emotionalität. „Muß man die Welt nicht lieben, wenn man sie bloß sieht und riecht?!“170, fragt Ulrich emphatisch. Immer wieder sind es Momente der Liebe, der intensivierten Sensibilität aller Sinne, welche die Welt künstlerisch verwandeln. Nahezu alle Momente eines solchen ‚absoluten Präsens‘ (Bohrer), „grenzenlose[r] Gegenwart“ tragen die Merkmale einer begrifflich paradoxen Sinnlichkeit: „Ihre Aufmerksamkeit schien nun nicht bei den Sinnen, sondern gleich tief innen im Gemüt geöffnet zu sein, dem nichts einleuchten wollte, als was ebenso leuchtete wie es selbst“.171 In solchen ‚moments of being‘ (Virginia Woolfe), Momenten intensiven Seins, wird die Sprache von Empfindungen durchkreuzt und öffnen sich Musils Sprachformen der von ihnen beschriebenen Materialität. Das folgende Zitat präzisiert obiges Paradox der Sinne. Nicht einfach als Farbe „drang durch die Scheiben das Weiß der Schneeflächen herein“172, vielmehr verkörpern sich mit den einzelnen Farben auch Wahrnehmungsprozesse in Gestalt materieller Inkarnationen. In einem solchen „Augenblick geschah ihr nun, was nicht aus ihrem Willen zu kommen schien, sondern von außen, daß das quellende Wasser vor den Fenstern plötzlich fleischig wurde wie eine aufgeschnittene Frucht und seine schwellende Weichheit zwischen sie und Ulrich drängte. Vielleicht schämte sie sich oder haßte sich deswegen sogar ein wenig, aber eine völlige sinnliche Ausgelassenheit – und gar nicht nur, was man Entfesseln der Sinne nennt, sondern auch, ja weit eher, ein freiwilliges und freies Ablassen der Sinne von der Welt! – begann sich ihrer zu bemächtigen“.173

Singuläre Momente wie diese lassen ein ansonsten unsichtbares Materialitätskontinuum der Dinge offen zutage treten. Das Wahrnehmungszentrum – an dieser Stelle das Auge – scheint in der Materie selbst zu liegen. Darüber hinaus werden 169 170 171 172 173

MoE, S. 762. Ebd., S. 945. Ebd., S. 857 f. Ebd., S. 352. MoE II, S. 1061.

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mit dem Selbstverlust der Protagonisten auch die durch ihre Fokalisierung berichteten Geschehnisse fragwürdig. Dem korreliert, dass der nur mehr bedingt ironische Erzähler einem unbedingten Beschreibungswillen zu folgen beginnt, für den die äußerlichen Geschehnisse nur Anlässe tiefergehender Wahrnehmungen sind. Der taghellen Mystik der Erlebnisse folgt eine entsprechende Wahrnehmungstheorie. Das Licht scheint dabei aus den gegenständlichen Personen selbst zu kommen, aus einem je unterschiedlichen inneren Leuchten. Konträr zum gleißenden Wahnsinnslicht Clarissas mit seinem Effekt höchster Tiefenschärfe – einem „gnadenlosen Licht, das alle Gegenstände umzingelte“174 – ist es im Garten von Ulrich und Agathe ein intensives Flimmern, in welchem die Dinge ihre Konturen verlieren. Nach dem Verlust einer geordneten Bildfläche zergehen im geschwisterlichen Garten auch die geometrischen Koordinaten des Raumes selbst. Die eigentümliche Sichtbarkeit etwa im Kapitel „Mondstrahlen bei Tage“ löst die Dinge gleichsam aus ihrem Zusammenhang und ihren „inneren Ordnungsreihen“.175 Dann „steht man auch, […] wenn aus irgendeinem Anlaß diese Zusammenhänge versagen und keine der inneren Ordnungsreihen anspricht, allsogleich wieder vor der unbeschreiblichen und unmenschlichen, ja vor der widerrufenen und formlosen Schöpfung!“176

Wiederum gilt es dem Missverständnis vorzubeugen, es handle sich um phänomenologische Vereinzelung im Dienste einer kontrastiven Hervorhebung von Dingen oder Objektperzeptionen. Was die Szenen tagheller Mystik produzieren, sind auf keinen Allgemeinnenner zu bringende Singularitäten. Zudem lösen die den geheimen Fokussierungspunkt des Romans darstellenden Szenen die Einheit der Objekte in deren intensivierter Betrachtung auf. Dies geschieht zugunsten eines Aufgreifens und Sich-Ergreifenlassens von Ereignissen, bevor sich diese „in einem Dingzustand, einem Individuum, einer Person verkörper[n]“.177 Dem entspricht, dass es sich auch nicht mehr um Subjektperzeptionen handelt, sondern um Empfindungen ohne Subjekt. Der Mann ohne Eigenschaften produziert, in Deleuzes Terminologie, singuläre Perzepte sowie Empfindungsblöcke etwa einer „Freude, die sie aneinander fanden“, die Musil nicht einfach als Gefühl versteht, sondern als „eine Erregung des Auges: Die Farben und Formen, die sie sich darboten, waren aufgelöst und grundlos, und doch scharf hervorgehoben wie ein Strauß von Blumen, der auf einem dunklen Wasser treibt.“178 Farben und Formen machen den Eindruck eines ungenauen Gefühls, „und gerade das machte […] zwischen Innen und Außen schweben, wie der angehaltene Atem zwischen Einatmen und Ausatmen schwebt“179. 174 175 176 177 178 179

MoE, S. 352. MoE II, S. 1090. Ebd. Deleuze, Gilles, Logik des Sinns, Frankfurt am Main, 1993, S. 189. MoE II, S. 1087. Ebd.

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Musils metonymische Poetizität ist auf der Höhe der von ihm anvisierten materialistischen Mystik, welche in solchen Momenten die Grenzen von Innen und Außen zu überschreiten sucht. Vor allem mit dem zweiten Teil des Mann ohne Eigenschaften setzen eine Reihe wundersamer Spracherlebnisse ein, welche das eigentliche Ziel seiner Dichtung ausmachen. „Nicht nur schmelzen die äußern Verhältnisse dahin und bilden sich neu im flüsternden Beilager von Licht und Schatten, sondern auch die inneren rücken auf eine neue Weise zusammen: Das gesprochene Wort verliert seinen Eigensinn und gewinnt Nachbarsinn.“180

Diese metonymische Abdrift in die Materie, die Musil hier am gesprochenen Wort beschreibt, gilt obigen Ausführungen zufolge natürlich ebenso für das geschriebene Wort. Dazu bedarf es, in den Worten Deleuzes und Guattaris, „des Stils – der Syntax eines Schriftstellers, der Tonarten und Rhythmen eines Musikers, der Striche und Farben eines Malers –, um sich von den erlebten Perzeptionen zum Perzept, von den Affektionen zum Affekt zu erheben“.181 „La métaphore seule peut donner une sorte d’éternité au style“182, lautet die damit korrelierende berühmte Formel Prousts aus seinem Flaubert-Essay. Sieht man von der idealistischen Komponente seiner (frühen) Ästhetik ab, so umschreibt Proust an den Imperfekten Flauberts exakt jene Auflösung linearer Zeitmomente, welche auch die zeitweilige Sinnlichkeit der Prosa Musils produziert. In dieser herrscht eine andere Kontiguität. Es ist nicht mehr diejenige einer mimetisch-personalen Durchlässigkeit zwischen Erzähler und Aktanten, sondern zwischen Wort und Welt (mot et monde, word und world). Musils Wortwelt ist, wie die jedes Dichters, diejenige seiner Sprache. Die materialistische Komponente ist somit an den Rändern seiner Romansprache auszumachen. An ihren äußersten Enden franst diese zur Welt hin aus, berührt die poetischen Intensitätsspitzen der Verliebten, die dann – in der hier vorgeschlagenen Lesart – nicht einmal mehr Aktanten, sondern im besten Fall noch Träger von (lyrischen) Affekten, von „Empfindungen ohne Eigenschaft“183 sind. An den Fransen von Musils Sprache zeigt sich am deutlichsten das Eigentümliche seines Stils – jenseits von Ironie. Dessen wichtigstes Element liegt weniger in syntaktischen oder inhaltlichen Satirespitzen als in der mimetischen Weichheit seiner Prosa. Worin besteht aber nun diese Kraft, die Worte an die Dinge zu schmiegen, bis jene sich verfärben? Karl Heinz Bohrer hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass nie davon abzusehen ist, „daß Musil von der Faszination durch die metaphorisch gefaßte Sprache her denkt, das heißt von der Bildwirkung her, ihrem Imaginären“.184 Diesen Anspruch ernst zu nehmen, bedeutet zugleich, das 180 Ebd., S. 1084. 181 Deleuze und Guattari, Was ist Philosophie?, S. 200. 182 Zitiert nach Genette, Gérard, „Métonymie chez Proust“, in: ders., Figures III, Paris, 1972, S. 41–63, hier S. 60. 183 Nolting, Winfried, Die Objektivität der Empfindung, Stuttgart, 1989, S. 19. 184 Bohrer, Karl Heinz, „Zeit und Imagination. Das absolute Präsens der Literatur“, in: ders., Das absolute Präsens, S. 143–183, hier S. 170.

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Wesen seines Imaginären zu erkunden. Es handelt sich nicht einfach um das Lacan’sche Reale, welches etwa die paranoide Weltsicht Moosbruggers heimsucht. Vielmehr sucht Musil mystische Erfahrungsgehalte im Symbolischen, mittels seiner Romansprache, zu fassen. Wo Moosbrugger die Worte „wie Gummi am Gaumen“185 festkleben, Hans nur leere Satzphrasen ohne Inhalt drischt186, sucht der Mann ohne Eigenschaften eine andere Sprache rationaler Mystik – und das gerade im Wissen um die Arbitrarität nicht nur des Signifikanten, sondern auch des Begriffs ‚Liebe‘.187 Bohrer zitiert Musils einschlägige Reflexionen zu Metaphorik und Vergleich. „Je unähnlicher das Bild dem Abgebildeten, desto größer die Aussagekraft“, oder: „Ein anderer Sinn von Gleichnissen: entfremden, entfernen.“188 Damit tritt die Frage in den Vordergrund, wie sich diese Entfernungen und Annäherungen der Sprache von beliebigen Vergleichen abgrenzen lassen. In Frage steht die Möglichkeit metonymischer, über bloße willkürliche Vergleiche hinausgehender Metaphern und ihrer Kapazität, sich vom Erzählten berühren zu lassen. Diese explizit ontologische Dimension einer Berührung durch Gegensätzliches auch in anderen Stilmitteln Musils kann hier nur angedeutet werden; etwa an der „Grundfigur von Musils Ironie“, der „Interaktionsfigur der Hypallage“, die nun aber nicht als Verschiebung der logischen Wortbedeutung zu verstehen wäre, sondern deren oxymorale und chiastische Verbindungsfähigkeit als ontologische Sprachfunktion verstanden werden muss. Das Problem der Farbgebung (nicht Farbmetaphorik!) von Musils Prosa geht aber über diesen ironietheoretischen Rahmen noch hinaus. Von zu viel Oberflächenkontakt werden die Musil’schen Wörter manchmal ganz dunkel. Das kann geschehen, weil sich in ihrer Tiefe Formen und Zusammensetzungen der Dinge mischen. Wie im Falle Prousts lässt sich von einer metonymischen Ansteckung der poetischen Einbildungskraft sprechen. Deswegen ist der prinzipiellen Einsicht, nicht aber der abgrenzenden Definition Walter Strauss’ bezüglich Prousts (Vorrang der Empfindungen) und Musils (Ideal einer Verschmelzung von Intellekt und Gefühl) zuzustimmen: „[T]he Proustian metaphor is, as the narrator declares at the very end of the book, an instrument of vision […], whereas the metaphor in Musil is an instrument for analysis that abolishes itself in something higher and for which the term ‚metaphor‘ would be, strictly speaking, no longer adequate.“189

185 MoE, S. 238. 186 Vgl. ebd., S. 557. 187 „Aber die ‚große Liebe‘, das war für diese zwanzigjährigen Offiziere, wenn sie überhaupt Verlangen danach hatten, etwas anderes, das war ein Begriff; er lag außerhalb der Reichweite ihrer Unternehmungen und war so arm an Erfahrungsinhalt und eben darum auch so blendend leer, wie es nur ganz große Begriffe sind.“ (Ebd., S. 123.) 188 Zitate vgl. Bohrer, „Zeit und Imagination“, S. 169. 189 Strauss, Walter A., „In Search of Exactitude and Style“, in: Narrative Ironies, hrsg. v. Raymond A. Prier und Gerald Gillespie, Amsterdam, 1997, S. 3–20, hier S. 16.

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Richtig verstanden zeigt sich die metonymische Abdrift der Prosametapher bei beiden Klassikern der Moderne. Denn „in both cases, Proust’s and Musil’s, language has to be by necessity the agent of metamorphosis“.190 Von Musil selbst stammt die folgende Mahnung: „Man sollte niemals vergessen, dass der innerste Brunnen einer Literatur ihre Lyrik ist.“191 Nicht nur für seine Prosa bedeutet diese Relativierung der Genregrenzen auch eine Relativierung ontologischer nicht weniger als rhetorischer Abgrenzungen. Letztere hat mit Bezug auf vorliegende Fragestellung am prägnantesten Roman Jakobson formuliert, dem zufolge sich der Vers „auf die Ähnlichkeitsassoziation“ stützt, während „der Grundantrieb der erzählenden Prosa […] die Berührungsassoziation [ist]“.192 In dem Maße, in dem die von der Rhetorik identifizierte Aufteilung von Poesie als (sinnlicher) Ähnlichkeit und Prosa als (sinnvoller) Annäherung durchbrochen wird, hat das eine ontologische Öffnung der Sprachdimension zur Folge. Über Genettes genaue Ausdifferenzierung193 hinausgehend, soll hier darum von ‚materialer Metonymie‘ gesprochen werden. Mehr und mehr sind es im zweiten Teil des Mann ohne Eigenschaften nämlich die Gegenstände (Objekte und Subjekte) selbst, die sich öffnen. Contiguïté in Musils Prosa ist also nicht nur im Sinne einer assimilation oder analogie194 von Dingen und Wahrnehmungen zu verstehen, sondern als quasi osmotisches Ineinanderübergehen von selber perzeptiven Gegenständen und einer in den Dingen sich verlierenden Perzeption (Augen, Ohren, Körper). Dem korreliert eine semontologische Öffnung der Sprache selbst. Zu dieser bedarf es einer ästhetischen Verfremdung, die uns erst daran erinnert, „dass das Wort mit dem Buchstaben nichts gemeinsam hat – dass es eine lebendige bewegliche Tätigkeit ist, die von der Stimme, der Artikulation und Intonation gebildet wird, zu denen dann noch Gesten und Mimik hinzutreten“, so wiederum Boris Ejchenbaum mit dem Verweis auf die Notwendigkeit einer „Oh-

190 Ebd. 191 Musil, Robert, „Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu (September 1931)“, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. II, S. 1203–1225, hier S. 1211. 192 Jakobson, Roman, „Randbemerkungen zur Prosa Pasternaks“ [1935], in: ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, Frankfurt am Main, 1993, S. 192–211, hier S. 202. 193 Gérard Genette hat speziell in seinem Aufsatz „La rhétorique restreinte“ die Geschichte einer (nicht nur französischen) Reduktion der vier klassischen Tropen nachgezeichnet, also von Metapher (Ähnlichkeit), Metonymie (Zusammenhang durch Berührung), Synekdoche (Verbindung qua Abhängigkeit) sowie Ironie (Kontrast). Resultat vielfältiger Vereinfachungsversuche – wie der Gleichsetzung von Synekdoche und Metonymie oder der Ausschließung der Ironie („trope en plusieurs mots, et donc pseudo-trope“) – ist unser heutiges Doppel von Metapher und Metonymie und die Tendenz, die eine eher der Poesie, die andere eher der Prosa zuzuordnen. Diese einschränkende Distanzierung hat Genette hauptsächlich mit Bezug auf Prousts Erzählstil, speziell dessen Beeinflussung durch die jeweilige Umgebung – exemplarisch die Kirchtürme Balbecs –, aufzulösen versucht. „Dans tous ces cas, la proximité commande ou cautionne la ressemblance, dans tous ces exemples, la métaphore trouve son appui et sa motivation dans une métonymie.“ (Genette, Gérard, „La rhétorique restreinte“, in: ders., Figures III, S. 21–40, hier S. 25; vgl. auch ders., „Métonymie chez Proust“, S. 45). 194 Vgl. dazu Genette, „Métonymie chez Proust“, S. 61.

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renphilologie“ anstelle der in der Literaturwissenschaft üblichen „Augenphilologie“.195 Deswegen und weil es im Roman einzig die Sprache ist, die perzipiert, schlage ich vor, von Sinnesorganen der Musil’schen Prosa zu sprechen. In den längeren oder kürzeren emphatisch beschriebenen Augenblicken sind deren taktile und sensorielle Enden von größtmöglicher Aufnahmebereitschaft. Der poetische Kern des Mann ohne Eigenschaften zwingt zu einer Auseinandersetzung mit den (un)möglichen materialen Dimensionen von Sprache. Diese hat so gesehen nichts Ironisches mehr, sofern man nicht der Tatsache, dass die schönsten Erlebnisse der Geschwister aus Unmengen von Mystikerzitaten montiert sind, noch eine ironische Dimension abgewinnen kann.196 Jenseits konstruktiver Ironie ist Musils Roman auf der Suche nach einer verborgenen mystischen Dimension der Kunst. Und seine bloße Unvollendetheit gereicht nicht zur Entscheidung der Frage seines Gelingens. Deswegen hat auch Bohrers These eines aus einer angeblichen „Vorherrschaft der ,Idee‘“197 resultierenden Scheiterns Musils an der Vereinigung von Sinnlichkeit und Denken nur relative Gültigkeit. Denn auch Musils Ideen selbst sind nur von mäeutischer Vorläufigkeit. Seine literarischen Visionen „ne sont pas des fantasmes, mais de véritables Idées que l’écrivain voit et entend dans les interstices du langage, dans les écarts de langage. Ce ne sont pas des interruptions du processus, mais des haltes qui en font partie.“198 Gerade weil sein Gebrauch von Ideen ein ironischer ist, ist Ironie Musil kein Letztes. Der ironische Ideenroman ist nur der Vordergrund für innere Geschehnisse metarhetorischer Natur. Seine Protagonisten sind emotionale Aktanten und Träger lyrischer Affekte. Darauf, und nicht auf die satirische Reflexion zeitgenössischer Klischees, zielt das Sprachkunstwerk Der Mann ohne Eigenschaften letztendlich ab: reine Wahrnehmungen, pure Beschreibungen jenseits jeder erzählerischen Verwertbarkeit, wie sie sich mit Fortdauer des Romans immer öfter finden. Als „fabellose“199 Beschreibungen sind sie tendenziell ohne Bezug auf eine äußere Realität und jenseits jeder Narrativität. Eher intensiv als exzessiv übersteigen sie die affizierten Subjekte. Es handelt sich um reine Perzepte und Blöcke von Sensationen, die das Niveau von Alltagswahrnehmungen überschreiten. „Was er [Ulrich, aber wohl auch Musil selbst; A. A.] ausheben wollte, war das Unfassbare der Einzelerlebnisse“.200 Analog seinem Hauptprotagonisten, der gegen den Dampfplauderer Arnheim an der Ereignishaftigkeit der Liebe festhält, hält sich Der Mann ohne Eigenschaften an eine Liebe zu zeitlich apersonalen201 Ereignissen, wel195 Ejchenbaum, „Die Illusion des skaz“, S. 161. 196 Zu einzelnen philologischen Rekonstruktionen vgl. wiederum Kaiser, Proust – Musil – Joyce, speziell S. 130–133. 197 Bohrer, „Zeit und Imagination“, S. 170. 198 Deleuze, Gilles, Critique et Clinique, Paris, 1993, S. 16. 199 Vgl. dazu Tomaševskij, Boris, Theorie der Literatur, Poetik, nach dem Text der 6. Auflage (Moskau/Leningrad 1931), Wiesbaden, 1985, S. 215. 200 MoE II, S. 1090. 201 Joseph Vogl („Was ist ein Ereignis?“, in: Deleuze und die Künste, hrsg. v. Peter Gente und Peter Weibel, Frankfurt am Main, 2007, S. 67–83, hier S. 69), hat mit Deleuze zwei Ereignisarten

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che sich per definitionem nicht mehr in einem Erzählkontext bergen lassen. Denn, so Friedrich Balke, „der andere Zustand ist ein eigenschaftsloser Zustand“.202 Für all dies hat Musil selbst treffende Vergleiche gefunden: „Stilleben ohne Mensch“203 und: „die Augen zur Wirklichkeit aufzuschlagen, wenn sie noch seelenvoll sind“.204 Intendiert sind damit reine Zustände, jene von Musil propagierte „Haecceität“205 des Duns Scotus, jenseits subjektiver Gefühle – Man ohne Eigenschaften, reines Man als Empfindung! „Der Mensch denkt aus der Zeit, die Engel aus dem Zustand.“206 Auf Letzteren drängt Musils Prosa, denn „Dichten ist keine Tätigkeit, sondern ein Zustand“.207 Zum Abschluss sei einer jener riskanten Zustände angeführt, die auf ein anderes ‚Tausendjähriges Reich‘ verweisen. Sommer und Winter sind hier zeitextern verbunden. Nichts Negatives ist mehr gesagt, keine Zeit ist mehr, „kein“ synkopiert nur mehr den dichterischen Rhythmus von Musils Prosa. „[O]bgleich die Umstände gewechselt hatten, kam es ihnen kaum als Veränderung zu Bewußtsein. Ja eigentlich tat dies auch nicht der Stillstand des Gesprächs; es war hängen geblieben, ohne einen Riß verspüren zu lassen. Ein geräuschloser Strom glanzlosen Blütenschnees schwebte, von einer abgeblühten Baumgruppe kommend, durch den Sonnenschein; und der Atem, der ihn trug, war so sanft, daß sich kein Blatt regte. Kein Schatten fiel davon auf das Grün des Rasens, aber dieses schien sich von innen zu verdunkeln wie ein Auge […]. ‚Da ward mir das Herz aus der Brust genommen‘, hat ein Mystiker gesagt: Agathe erinnerte sich dessen.“208

IV. VON DER MIKROIRONIE DES ZITATS ZUR MAKROIRONISIERUNG VON GATTUNGEN IV. VON DER MIKROIRONIE DES ZITATS ZUR MAKROIRONISIERUNG VON GATTUNGEN

1. Ironische Zitatzerstörung Solange das Genre Roman eher vom Standpunkt des Erzählens aufgefasst wird, kommt Ironie tendenziell mehr in ihren beherrschteren Formationen in den Blick. In der Folge soll nun die oben eingeführte dritte Verhältnisform von Er-

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unterschieden. „Die aktuelle Gegenwart, die als mobiler Jetztpunkt vergeht und die handelnden, leidenden Körper betrifft, übersteigt sich hin zu einer achronischen Vergangenheit und Zukunft, […] eine apersonale Zeit jenseits der geschehenden Gegenwart“. Balke, Friedrich, „Auf der Suche nach dem ‚anderen Zustand‘. Robert Musils nominalistische Mystik“, in: Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900, hrsg. v. Moritz Baßler und Hildegard Châtellier, Strasbourg, 1998, S. 307–316, hier S. 314. Vgl. MoE II, S. 1230. Ebd., S. 1103. Ebd., S. 1142. Ebd., S. 1202. TB I, S. 470. MoE II, S. 1232.

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zählung und Ironie, eine nicht mehr notwendig an die Autorität des Erzählenden oder Schreibenden gebundene kontextuelle Ironie, anhand verschiedener ironischer Verfahrensweisen und Gattungen (Zitat, Pastiche, Parodie) sowie Formen von Intertextualität analysiert werden. Nicht so sehr die Beschreibung eines Unbeherrschbarwerdens einer radikaler gefassten Ironie soll dabei im Vordergrund stehen als vielmehr die möglichst genaue Ausdifferenzierung unterschiedlicher heterogener Effekte der Ironie. Nur mit Blick auf den jeweiligen poetischen Kontext ist dann noch über ästhetischen Sinn und Unsinn einzelner ironischer Effekte zu befinden. Deutlich wird das schon an einer ersten Form literarischer ‚Intertextualität‘209, dem Zitat, welches sich nur als ausgewiesenes von anderen transtextuellen Spielarten wie Plagiat und Anspielung unterscheidet. Wenn Aussagen (oder ganze Redefiguren bzw. Handlungen) aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst erscheinen, können sie beginnen, neue Bedeutungen anzunehmen. Nur als werdende sind sie ironisch oder zeitigen komische Effekte. Des Öfteren ist in diesem Zusammenhang auf die „Wiederholung als Hauptmöglichkeit der Ironie“210 hingewiesen worden. Und in der Tat kann jede Aussage, ausreichend perpetuiert, zum ironisierbaren Klischee erstarren. Darin gründet nicht zuletzt Prousts Meisterschaft, seine Figuren mittels der von diesen (re)produzierten Klischees, ihres hohlen Pathos, zu entlarven. Zugleich erforscht in den diversen Salons, etwa dem der Verdurins, gewissermaßen jeder die Sprache – nicht nur von Berufs wegen wie Cottard, dem symptomatischerweise meist die Ironie entgeht.211 Um kontextuelle Ironie in der hier vorgeschlagenen Bedeutung und ihre verfremdenden Effekte handelt es sich des Weiteren, wenn in der Recherche oft das nicht Mitzitierte ein veränderndes Licht auf Zitat und Zitierenden wirft. Nicht selten dient der meisterhafte Einsatz dieser Technik der Entlarvung Halbgebildeter, und das sind aus der Sicht Marcels nahezu alle. Eine solche satirische Funktionalisierung der Ironie liegt aber auch weiterhin nicht im Fokus des Interesses. Am Zitat interessieren hier eher seine romankonstitutiven Funktionen. Bei den drei Säulenheiligen der klassischen Moderne, Proust (handlungskonstitutives

209 Gérard Genette (Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt am Main, 1993, S. 11– 14) führt Intertextualität als erste von fünf Formen von Transtextualität an: 1. Intertextualität (literarische Einflüsse), 2. Paratexte (Untertitel etc.), 3. Metatextualität (Kommentare), 4. Hypertextualität (Überlagerung verschiedener Texte), 5. Architextualität (taxonomische Zugehörigkeit, zum Beispiel Roman oder Gedicht). 210 Allemann, „Ironie als literarisches Prinzip“, S. 18. 211 Hierin gleichen sich die Salons, da Proust auch von Orianes „style toujours comme dans italique“ spricht; zum Klischee bei Proust vgl. Lumpkin, Sarah Benzaquen, Irony and Clichés in Marcel Proust’s „A la recherche du temps perdu“, Ann Arbor, Mich., 1989. Ungeklärt bleibt in Lumpkins Buch jedoch, wie die einerseits nur als Sprachstil verstandene Ironie andererseits zu ungeklärten Konfigurationen wie „Ironie des Schicksals“ führen kann. Eine rein inhaltliche Begründung (etwa weil Mme. Verdurin zur Prinzessin Guermantes wird; vgl. ebd., S. 27) reicht dazu nicht aus.

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Zitat), Musil (personaler Zitatgebrauch) und Joyce (vielfältige Zitatformen) sollen in der Folge anhand kurzer Beispiele drei verschiedene Zitattechniken herausgearbeitet werden.

a. Proust: handlungskonstitutives Zitat An Prousts Zitattechnik lässt sich dessen handlungskonstituierende Kapazität gut nachvollziehen. Jede der zitierenden Figuren der Recherche kann als Sprachmaske verstanden werden. Zitierfähig ist die literarische Mutter Sevigny ebenso wie das Liebesverhalten Swanns. Weil alles nachgeahmt und zitiert werden kann, ist alles literaturfähig. Nur als ethisches Kriterium ließe sich formulieren, dass es darum geht, seine Zitate selbst zu bestimmen. Fast wäre von einem stoischen Ideal zu sprechen, danach zu streben, selber ein nachahmenswertes Zitat zu werden (oder analog für den Schriftsteller: einmal pastichiert zu werden). Weniger die weltanschaulichen Aspekte von Prousts Vertrauen in die Racine’sche Psychologie sind hier von Interesse als sein produktiver Umgang mit dieser. Eines der bekanntesten Beispiele für das Leben und Spielen Marcels in und mit Zitaten ist die Verwendung von Racines Phädra. Von Beginn des Romans an lebt der kleine Marcel in der Phädrawelt, lernt auswendig, denkt in und identifiziert sich mit dem Phädrakosmos. Daraus braucht nicht der methodische Fehlschluss gezogen zu werden, die Realität des Romans sei von literarischen Simulakren durchsetzt. Das gesamte Projekt der Recherche unterläuft solche strikten Abgrenzungen. Trotz aller Vorschusslorbeeren für die Schauspielerin wird Marcel bei seinem ersten Theaterbesuch von Racines Phädra doch enttäuscht. Wirklichkeit bekommt das Schauspiel (dessen Inhalt wie das Spiel der Berma) erst später in seinem Leben. In Wirklichkeit machen die Zitate aus Phädra und Esther erst in seinen eigenen Liebschaften Sinn; erst dann werden sie lebendig, aktualisieren sich in Marcels Erlebnissen und helfen dem späteren Autor bei den Beschreibungen von Swann zu Beginn des Romans. Es wäre falsch, hier von einem ‚Einfließen‘ der Zitate Racines in den Gedankenkosmos der Handlungsträger der Recherche zu sprechen. So verfehlt noch Gerhard Kaiser, der mit Akribie die Rolle literarischer Zitate in der Recherche untersucht hat, die eigentümliche Temporalität ironischer Aneignung, wenn er schreibt: „Phèdre – insbesondere die ‚scène de la déclaration‘ – offenbart sich am Ende der Recherche […] als künstlerisches Vorbild des gereiften Marcel und als Offenbarung der Gesetze, die er in seinen Liebesverhältnissen erfahren mußte.“212 Aber die retroaktive Logik eines auf Dauer gestellten ironischen Futur II des Immer-schon-gewesen-Seins ist keine an teleologische Notwendigkeit gebundene. Die Bewegungen der Recherche sind solche künstlerischer Freiheit. Die zitierten Stellen eröffnen nicht nur neue Deutungs- und Erfahrungsmuster. Mehr noch: Möglicherweise wäre ohne vorgeprägte literarische Schemata überhaupt gar nichts 212 Kaiser, Proust – Musil – Joyce, S. 73.

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zu erleben. Daher bekommt die ästhetische Qualität, die psychologische Raffinesse der Vorbildtexte eine lebenstechnische Bedeutung: Je komplexer diese sind, desto vielfältiger und umfangreicher ist auch das Erleben der Protagonisten mittels ihrer existierenden Sprachmasken. Dass in der Prisonnière einmal sogar von Albertine-Esther gesprochen wird, raubt der Recherche keineswegs etwas von ihrer künstlerischen Originalität. Ihre Wiederholungen von Leben und Literatur produzieren ausreichend ästhetische Differenz. In diesem Punkt unterscheiden sich Swanns und Marcels Schicksal auf exemplarische Art und Weise nicht zuletzt deswegen, weil Marcel die künstlerische Befreiung später gelingen wird. Gerade das Wissen um die Vorgeprägtheit der persönlichen Weltapperzeption lädt zu einem produktiven Umgang mit ebendieser Welt ein. Schon der satirische Einsatz von Zitaten verdeutlicht den Wissensvorsprung des Erzählers als künstlerischen. Poetische Sensibilität ist es, welche in den Worten die Bachtin’sche Mikrodialogizität auffinden lässt. In Prousts Worten: „[C]haque mot garde, dans sa figure ou dans son harmonie, du charme de son origine ou de la grandeur de son passé, a sur notre imagination et sur notre sensibilité une puissance d’évocation au moins aussi grande que sa puissance de stricte signification.“213

Jede neue Beziehung zwischen altem und neuem Kontext des Zitats vergrößert das polyphone Geflecht des Romans und dessen ironisch konfigurierte Undurchdringlichkeit. Kein Zitat verlässt ungestraft seinen angestammten Kontext. Die neuen Obertöne sind, einmal aufgetreten, nur mehr schwer zu überhören. Die Recherche weiß um die ironische Abweichung jedes Zitierens und gewinnt gerade daraus immer neue Handlungsoptionen.

b. Musil: personenkonstituierendes Zitat Deutlicher als bei Proust zeigt sich bei Musil eine zweite konstitutive Funktion des Zitats im Roman: das personenkonstituierende Zitat. Noch die Erwartungen kleinerer Nebenfiguren wie Klementine Fischel, die ihren Bankiersgatten am Goethe’schen „sausenden Webstuhl der Zeit“214 sehen will, werden von literarischen Vorbildern angetrieben. Musil hat sich das in einer Notiz aus dem Nachlass vor Augen gehalten: „Menschen zeigen, wie sie ganz aus Reminiszenzen zusammengesetzt“ sind, denn „Menschen wollen, daß andre handeln, wie es ihrer literarisch typisch bestimmten Vorstellung entspricht“.215 Wie sich schon am Verhältnis Diotima/Arnheim gezeigt hat, verwendet Musil literarische Vorlagen zuweilen als typologische Muster. Wenn Zitate bei Musil eher personenkonstitutiv sind, 213 Zit. nach ebd., S. 82. 214 MoE, S. 203. Zu Musils ganz ungoethescher Anwendung dieses Ausdrucks aus dem Faust vgl. Kaiser, Proust – Musil – Joyce, S. 95. 215 Zit. ebd.

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dann aus dem Mann ohne Eigenschaften poetologisch inhärenten Gründen. Dessen Polyphonie baut sich auf Variationsreihen sowie spezifisch ironischen Differenzen zwischen deren einzelnen Elementen auf. Thomas Manns Reflexionen über seinen Doktor Faustus haben das Zitat bewusst als eine Möglichkeit der Sphärendurchmischung beschrieben.216 Noch treffender als die bildungsbürgerlichen ‚Aneignungsgeschäfte‘ und das ‚höhere Abschreiben‘ Manns charakterisiert die verfremdende Verfahrensweise das Proust’sche Zitieren217: nicht zum Zwecke eines Verschwimmens der Grenze zwischen Wirklichkeit und irrealer Phantastik, sondern im Dienste der Durchdringung heterogener Realitäten. Mittels einiger Racine-Zitate nähern sich so Marcels jugendliche Verliebtheit, die Dandyliebe Swanns und Charlus’ Erniedrigungsweg einander an. Fast jede Person oder Personengruppe hat bei Musil ihren Hauptautor oder zumindest einen bestimmten Zitatenpool.218 Trotzdem ist Gerhard Kaisers diesbezüglicher These, wonach Musil etwa anhand der Arnheim’schen und Lindner’schen Goethezitate zugleich Literatur- oder zumindest Rezeptionskritik betreibe, nur teilweise zuzustimmen. Dasselbe gilt von der Aussage, dass die „meisten Gestalten des Romans Gefangene spezifischer Idiome“219 sind. Diese Feststellungen sind nicht falsch, nur betonen sie das generative Moment der Zitate nicht ausreichend. So kann die Frage nach dem literarischen Gelingen nicht ausschließlich anhand der Tatsache diskutiert und entschieden werden, dass Musil seine vermeintliche Utopie in den Farben der Ägäischen Inseln zeichnet. Schöpferisch ist er in und durch seine Zitate. Aus ihnen heraus wachsen seine Figuren ins Leben. Im Mann ohne Eigenschaften ist die Grenze der Welt der Protagonisten durch die Reichweite ihrer Zitate gegeben. Dass uns unsere Sprache definiert, gilt hier somit in einem doppelten Sinn. Zitate haben, ihrer ironischen Doppellogik gemäß, zugleich begrenzende und entgrenzende Funktion. Mit Fortlauf des Romans entfernt sich dieser, wie oben zu zeigen versucht wurde, von seinen satirischen Ansätzen. Von Ironie als medialer ist hier dann deswegen zu sprechen, weil im Mann ohne Eigenschaften generell mittels Zitaten kommuniziert wird. Diese

216 „Das Zitat als solches hat etwas spezifisch Musikalisches, ungeachtet des Mechanischen, das ihm eignet, außerdem aber ist es Wirklichkeit, die sich in Fiktion verwandelt, Fiktion, die das Wirkliche absorbiert, eine eigentümlich träumerische und reizvolle Vermischung der Sphären“ (Mann, Thomas, Die Entstehung des Doktor Faustus, Frankfurt am Main, 1993, S. 25). 217 Aage Hansen-Löve (Der russische Formalismus, S. 34) hat die für diesen Zusammenhang wichtige Unterscheidung getroffen „zwischem dem transitiv-affirmativen Einsatz der Ironisierung, die sich im intellektuellen ‚Lustgewinn‘ des Erratens des Enthymema und damit der Identifikation mit einer Bildungstradition erschöpft […], und dem intransitiv-verfremdenden Einsatz der Ironie im poetischen Kontext: In diesem kann es keinen klar definierbaren, ein für allemal auflösbaren Subtext geben.“ 218 Zu einer vollständigeren Zuordnung einzelner Personengruppen und ihrer Zitatreservoire vgl. wiederum Kaiser, Proust – Musil – Joyce, speziell S. 143. 219 Ebd., S. 105.

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Zitate müssen nicht immer literarische sein, es kann sich auch um sprachliche Stereotype, unhinterfragte Redewendungen und dergleichen handeln. Im Vergleich zu den Bildungsfanatikern der Recherche sprechen die Protagonisten bei Musil allerdings in geringerem Ausmaß in Zitaten. Zuweilen belässt es Musil beim Aufzeigen der Grenzen von deren Denkhorizont als den Grenzen ihres jeweiligen Zitatwortschatzes.

c. Joyces Zitatsinngebung Fast alle bisher zum Thema ‚Zitat‘ analysierten Elemente werden von James Joyces Ulysses auf die Spitze getrieben. Der Ulysses ist für die poetologische Fragestellung nach der Rolle des Zitats im Roman und im Hinblick auf ironische Intertextualität der wohl materialreichste und umfassendste Roman der klassischen Moderne. Nicht mehr nur geben Zitate in ihm die Handlungen vor, nicht mehr nur umreißen sie den Horizont der Aktanten, sondern bei Joyce findet sich das Zitat in seiner dritten konstitutiven Form, als den gesamten Sinnhorizont simulierend. Die ironische Paradoxie im Zusammenhang mit Musils Figuren wiederholt sich hier auf fundamentaler textueller Ebene. Wie eine Unzahl montierter Zitate den Sinngehalt des Romans untergraben kann, belegt Joyces Finnegans Wake. Im Ulysses ist es umgekehrt gerade eine mythologische Vorgeschichte (des Romans), welche noch einmal eine traditionelle Romanstruktur zu simulieren hilft. Im Unterschied zu nur handlungs- oder personenkonstituierenden Instrumentalisierungen von Zitaten zeigt der Ulysses eine einzigartige funktionale Differenziertheit der Zitatverwendung. Anders als die bildungsbürgerlichen Shakespeare-Zitate Stephens zitiert etwa Molly beliebige Liedertexte und Reklamefetzen, welche ihr im Kopf herumschwirren. Gerade der – noch vor Döblin, Dos Passos und Aragon – damit verbundene neuartige Realismus verschiebt aber das herkömmliche Verständnis von ‚Zitieren‘. Zitate tauchen unbewusst und unfreiwillig auf und wieder unter, ohne sich vom Assoziationsfluss merklich zu unterscheiden. Gleichwohl kann „sich ein leitmotivisches Zitatgeflecht [konstituieren], das thematische Schwerpunkte und symbolische Kristallisationen ermöglicht“220, wie etwa um das Thema der Eifersucht als eines der handlungskonstituierenden Themen des Romans. Zu den eher traditionellen Techniken des Ulysses gehören demgegenüber unterschiedliche satirische Formen sowohl gegenüber Personen wie dem Zitierten selber. Zum Beispiel richtet sich eine Erzählerironie gegen Stephens Doppelwahn, alles an Shakespeare biographisch sowie seine eigene Biographie mittels Shakespeare erklären zu wollen. Auch angesichts von Zitaten tendiert Ironisierung zugleich zur Profanierung oder gar Blasphemierung des Zitierten. Ironie wirkt dann zunächst antipathetisch und distanzauflösend. Gemäß ihrer teils karnevalesken 220 Ebd., S. 185.

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Logik funktioniert sie also auch erniedrigend. Exemplarisch wäre dafür im Ulysses die ständige Koppelung liturgischer Zitate mit sexuellen Themen zu nennen. In Joyces literarischer Technik, vorgegebene Sprachelemente zu banalisieren, können grob zwei Verfahrensweisen unterschieden werden. „Entweder er verfremdet dieses Material durch das Wortspiel – sinnverkehrende Umstellungen beispielsweise oder Lautmalerei –, oder er baut ein, isoliert gesehen, durchaus ernstes Zitat in einen Kontext ein, welcher es wenn nicht der Lächerlichkeit, so doch der Nivellierung überantwortet.“221

Hier verliert sich das Zitat in seine angrenzenden Verfremdungstaktiken (Pastiche, Satire, Parodie), welche also nicht nur einzelne Zitate unterwandern, sondern die Funktion des Zitats insgesamt. Wie schon im Falle von Stephens Shakespeare-Identifikation ist es auch hier das „Scylla-and-Charybdis“-Kapitel, welches den negativen und zugleich selbstzerstörerischen Effekt des satirischen Einsatzes des Zitats durchexerziert. Die Mehrzahl der Shakespearezitate wird da kommentarlos zitiert, somit streng genommen plagiiert. Auch wenn man die Nähe zu Shakespeares Sprache fühlt: Was beabsichtigtes Pastiche, zufälliger Anklang oder verstecktes Zitat ist, vermag der Leser kaum definitiv zu sagen. Ein weiteres Mal zeigt sich damit, dass sich der enzyklopädische Charakter des Romans definitorischen Gepflogenheiten und terminologischen Unterscheidungen widersetzt.

2. Pastiche Eine zweite stilistische Ironietechnik, das Pastiche, zeigt das noch deutlicher. Was in Romanen Pastiche, was Zitat, was Plagiat ist, lässt sich meist nicht entscheiden und ist im nicht auf klare Sphärentrennungen abzielenden Romankosmos auch ohne Bedeutung. Für Joyce und über diesen hinaus gilt, was Gérard Genette schon als Stendhals „goût presque hystérique pour le travestissement“222 identifiziert hat: eine Tendenz zur Ununterscheidbarkeit von Plagiat, Apokryphem und eben Pastiche. Was ist nun ein Pastiche, und was ist seine Funktion und genaue Bedeutung im Roman? Genette hat den interessanten Vorschlag gemacht, das Pastiche als „Übersetzung in die Fremdsprache“ zu definieren, als eine Übertragung „eine[s] in einem vertrauten Stil geschriebenen Text[es] in einen ‚fremden‘, d. h. entfernteren Stil“.223 Für die große polyphone Romanliteratur bedarf diese auf bewusste, beherrschte Pastiches gemünzte Bestimmung allerdings einer Differenzierung. Was Genettes Definition nämlich nicht ausreichend berücksichtigt, ist die Möglichkeit von Pastiches als Effekten, die jenseits der Sprachgewalt noch des stili221 Ebd., S. 188. 222 Genette, Gérard, „Stendhal“, in: Figures II, Paris, 1969, S. 155–193, hier S. 186. 223 Genette, Palimpseste, S. 107. Seiner Definition, der zufolge die Nachahmung sich „zu den Figuren (zur Rhetorik) so wie das Pastiche zu den Gattungen (zur Poetik)“ verhält (ebd., S. 105), muss deswegen freilich nicht zugestimmt werden.

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stisch vielfältigsten Schriftstellers liegen. Auch das nämlich kann die Proust’sche Formel meinen, die Romankunst bestehe darin, in seiner eigenen Sprache wie in einer nicht vollständig beherrschten Fremdsprache zu schreiben. In seiner Funktion, die Stilbedingungen und -restriktionen der (eigenen fremden) Sprache an die Oberfläche treten zu lassen, wird das Pastiche zu einem Merkmal des Romanstils überhaupt. Obwohl er dem Pastiche namentlich nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt hat, kann dessen entscheidende Funktion im Roman mithilfe von Bachtins Analysen genauer verstanden werden. Das Pastiche vereint auf spezifische Weise zwei oben bereits angedeutete Elemente, die bei Bachtin erstens als ‚Mikrodialogizität‘ einzelner Worte und zweitens als dialogisch-distanzierende Darstellung von Meinungen und Äußerungen überhaupt konzeptualisiert werden. Denn „dialogische Beziehungen [sind] auch zwischen Sprachstilen und Sozialdialekten möglich, sofern sie als Bedeutungspositionen aufgefaßt werden, gewissermaßen als Sprach-Weltanschauungen“.224 In seinen Pastiches erkundete etwa Proust die Sprachgrenzen Flauberts und seines Gegenpols Sainte-Beuve. Dass dem beinahe unmerklich ein satirischer Effekt entspringt, ist aber schon nicht mehr notwendiger Bestandteil der als ‚Pastiche‘ bezeichneten stilistischen Nachahmung. Mit Roland Barthes’ Überlegungen über Die Vorbereitung des Romans sind bedeutungskonstitutive Pastiches darum auch abzugrenzen von „Pastiches, die auf Ironie beruhen, um jemanden ‚auf die Schippe zu nehmen‘“225. Wie schon bei obiger Diskussion der Ästhetisierungskritik gilt es auch hier einem ideologischen Reflex Einhalt zu gebieten. Denn die sprachliche Nachahmung und die durch sie eingeführte ironische Differenz sind nicht primär als satirisch oder parodistisch zu verstehen. Auch das von Proust pastichierte und stilistisch übertriebene Balzac’sche Original ist in sich differenziert. Balzac ist nicht immer pathetisch und nur selten unfreiwillig komisch. Und wer weiß, wie viel davon wir erst durch die von den Proust’schen Pastiches eingeführte Differenz in das Balzac’sche Original hineinsehen und -hören? Die von Frederic Jameson zuletzt wieder in ganz anderem Kontext vorgebrachten Vorwürfe gegen das Pastiche gilt es daher auf mehreren Ebenen zu relativieren. Das Pastiche ist Jameson zufolge „like parody, the imitation of a peculiar or unique, idiosyncratic style, the wearing of a linguistic mask, speech in a dead language. But it is a neutral practice of such mimicry, without any of parody’s ulterior motives, amputated of the satiric impulse, devoid of laughter and of any conviction that alongside the abnormal tongue you have momentarily borrowed, some healthy linguistic normality still exists.“226

224 Bachtin, Literatur und Karneval, S. 105. 225 Barthes, Roland, Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 1978–1979 und 1979–1980, Frankfurt am Main, 2008, S. 216. 226 Jameson, Frederic, Postmodernism. Or, the Cultural Logic of Late Capitalism, London, 1991, S. 17.

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In seiner politisch sicher nicht ungerechtfertigten marxistischen Empörung hypostasiert Jameson zunächst einen originären politischen Impuls, der skandalöserweise nachträglich amputiert worden sei. Dem entspricht ironietheoretisch, dass Jameson für seine Analysen des zeitgenössischen Verhältnisses von Pastiche und Parodie ohne methodische Bedenken auf das von Wayne Booth analysierte Schema einer stable irony des 18. Jahrhunderts zurückgreift.227 Im Unterschied zu Jamesons Identifizierung verstehe ich in der Folge das ‚Pastiche‘ als Nachahmung eines Stils, als Stilisierung im Sinne Tynjanovs228, ‚Parodie‘ dagegen als Nachahmung von Inhaltlichem, wenn nicht sogar einer ganzen Gattung. Mehr noch, beider Logik scheint umgekehrt proportional. In dem Maße, in welchem das Pastiche als solches (durch Übertreibungen oder sonstige Markierungen) erkennbar wird, widerspricht es dem ihm eigenen technischen Ideal der Unerkennbarkeit. Gerade darin scheint mir der provokative Aspekt des Pastiches zu liegen, nicht teleologisch auf Verständlichkeit oder Erkennbarkeit angelegt zu sein. Das iterierende Pastiche kann nicht zuletzt deswegen eine der Formen unbeherrschter literarischer Ironie werden, weil es ihm nicht notwendig um etwas geht. Das zu übersehen und das Pastiche theoretisch zu instrumentalisieren, ist mit ein Grund für das ideologische Nicht-sehen-Können und -Wollen auch von Ironie. Diese soll beherrscht sein, weil sonst das Pastiche nicht als Satire und Parodie, also letztlich nicht als Entlarvung im Dienste der gesunden Moral dienstbar wäre. Und auch der zweite Teil der Jameson’schen Definition des Pastiches als Parodie einer toten Sprache ist problematisch. Denn die Rede von einer dead language ist zumindest ungenau. Das ideale Pastiche ist, vom anvisierten Resultat her betrachtet, gleichbedeutend mit dem epigonalsten Sprachstil. Nur ist die Voraussetzung dazu im Falle des Pastiches nicht das Sterben einer Sprache, sondern bloß die Distanz zu einer unreflektiert-‚naiven‘ Sprachverwendung. Wie für die Ironie im Allgemeinen, so stellt sich auch für eine ihrer literarischen Verfahrensweisen die Frage nach dem ‚Wozu‘. Was ist der Sinn dieses aufgeklärten Epigonentums auf Zeit, wenn es sich um mehr als eine Unterwanderung ebendieser Unterscheidung handeln soll? Diese Frage ist nur zu beantworten, wenn sie produktionsästhetisch gewendet wird, wenn also nicht vorrangig danach gefragt wird, welche möglicherweise befreiende Wirkung die Proust’schen Pastiches auf ihren Autor gehabt haben mögen – denn ganz sicher wusste Proust schon im Voraus, inwiefern und von welchen Stilvorbildern er sich nach dem Verfassen seiner Pastiches unterschieden haben wollte. Statt der für einzelne Subjekte „reinigende[n] und exorzierende[n] Kraft des Pastiche“229 wird hier des227 Vgl. ebd. 228 Tynjanov bevorzugt aus methodischen Gründen den Begriff der ‚Stilisierung‘ gegenüber ‚Nachahmung‘ oder ‚Einfluss‘. Vgl. ders., „Dostoevskij und Gogol“, S. 82 f. 229 Vgl. Proust, Marcel, Tage des Lesens, Frankfurt am Main, 1995, S. 69: „Deshalb kann ich bei einer Flaubert-Vergiftung Schriftstellern nichts mehr empfehlen als die reinigende und exorzierende Kraft des Pastiches.“ Von einer „kathartischen“ Wirkung des Pastiches spricht auch Uwe Japp (Theorie der Ironie, Frankfurt am Main, 1983, S. 274). Bei Japp rächt sich aber eine mangelnde sprachtheoretische Reflexion: Ironie operiert hier nicht in einem durchweg und immer

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sen poetologische Funktion im Roman wirksam. Es ist das enzyklopädische Streben des Romans, das ihn immer wieder pastichieren lässt, um der Vergangenheit habhaft zu werden. Bachtin hat um diesen diachronischen Ehrgeiz des Romans gewusst. „Der Dialog der Sprachen ist nicht lediglich ein Dialog der sozialen Kräfte in ihrer statischen Koexistenz, sondern auch ein Dialog von Zeiten, Epochen und Tagen, die sterben, leben, geboren werden.“230 Ein Roman wie die Recherche, deren verlorener Held die Zeit selbst ist, findet diese, wenn überhaupt, dann nur mittels des Pastichierens alter Sprechweisen wieder.231 Nur mit Hilfe von Pastiches wird die Vergangenheit zwar nicht mehr lebendig, aber darstellbar: So war Swann, so hat Charlus geredet, und jetzt sind sie vielleicht nicht mehr ganz so tot. Und wenn doch, dann hat Proust zumindest etwas von ihrer Zeit überleben lassen. Seiner enzyklopädischen Tendenz gemäß führt der Roman seine Helden, von Don Quichote232 bis zu Pynchons pikaresken Romanen, durch eine Unzahl von Milieus.233 Er tut dies mittels verschiedener Sprachen, indem er die jeweiligen Sprachwelten pastichierend aufgreift und sich ihnen sprachmimetisch anschmiegt. Dies folgt aus Bachtins in der literarischen Praxis freilich nie ganz einlösbarem kategorischem Romanimperativ, nicht nur in, sondern aus dem Text möge sich eine Welt reflektieren. „Im Roman müssen alle sozioideologischen Stimmen der Epoche vertreten sein, das heißt, alle wesentlichen Sprachen der Epoche, kurz, der Roman muß ein Mikrokosmos der Redevielfalt sein.“234

3. Parodie – Parasitäre Wiederholung von Genre- und Gattungsspezifika Bereits auf inhaltlicher Ebene sind Roman und Parodie eng verbunden. Gattungsgeschichtlich lässt sich nahezu von einer Gleichursprünglichkeit sprechen. Aus einer parodistisch wiederholenden Praxis entwickelte sich der Roman als

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schon sprachlich organisierten Universum, sondern wird verstanden als „ein Versuch zur Versprachlichung der Welt in Form einer gleichzeitigen Gegenrede“ (ebd., S. 279). Bachtin, „Das Wort im Roman“, S. 250. Dass nicht nur Schreib-, sondern auch Sprechstile pastichetauglich sind, zeigt sich daran, wie der kleine Marcel Swann nachahmt oder Gilberte später Marcelpastiches produziert. Zu Cervantes’ ‚Romanenzyklopädie‘ vgl. Šklovskij, Viktor, „Wie Don Quijote gemacht ist“, in: ders., Theorie der Prosa, S. 89–130, hier S. 90. Bei Pynchon etwa in V, in den zu verschiedenen Zeiten spielenden und in verschiedenen Stilen geschriebenen Stencil-Kapiteln mittels Pastiches von Melville, Conrad und anderen. Zur Fortführung der pikaresken Tradition durch Pynchon vgl. Pordzik, Ralph, „Twins abroad. Towards a Dyadic Theory of the Picaro“, in: Das Paradigma des Pikaresken, hrsg. v. Christoph Ehland und Robert Fajen, Heidelberg, 2007, S. 301–314. – Allgemein zur enzyklopädischen Natur des Pikaro vgl. den immer noch einschlägigen Aufsatz von Claudio Guillén: „Zur Frage der Begriffsbestimmung des Pikaresken“, in: Pikarische Welt. Schriften zum europäischen Schelmenroman, hrsg. v. Helmut Heidenreich, Darmstadt, 1969, S. 375–396; Christoph Schubert („Irony as a Pragmalinguistic Strategy of Picaresque Masking“, in: Das Paradigma des Pikaresken, S. 159–175) hat jüngst Guilléns These eines grundsätzlich ironischen Sprachgebrauchs des Pikaroromans weitergeführt. Bachtin, „Das Wort im Roman“, S. 290.

IV. VON DER MIKROIRONIE DES ZITATS ZUR MAKROIRONISIERUNG VON GATTUNGEN

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Gattung in solche realistische Höhen, dass diese grotesken Ursprünge mitunter aus den Augen verloren werden konnten. Doch gerade der zersetzende Virus parodistischer Kritik brachte das – ohnedies eher in der Romantheorie als in den eigentlich realistischen und naturalistischen Romanen beheimatete – dogmatische Ideal eines flachen Realismus wieder zu Fall. 235 Die oben nachgezeichnete Abspaltung einer Romanlogik aus den Gattungsgesetzen des Epos kann nun wieder aufgenommen und konkretisiert werden. Ein typisches Gattungsmerkmal schon des griechischen Epos waren dessen stereotype Formulierungen von fast refrainhaftem Charakter. Gerade die in den Wiederholungen zu Klischees geronnenen Bedeutungen wurden zum Anlass der par-odia, des individualisierenden Nebengesangs der kritischen Romanlogik. Was sich gerade erst zu epischer Einheit zusammengefunden hatte, zerspringt mit logischer Konsequenz. Deswegen lässt sich vom Ursprung des Romans als einem Absprung sprechen – ein dekonstruktives Verlaufsschema, welches nicht aufhört, sich an ironischen Phänomenen zu wiederholen. Interessanter als die müßige, weil unbeantwortbare Frage, wann der erste Roman geschrieben wurde, ist diejenige nach seinen (prä-)ironischen Wurzeln. Wo immer man in der Literaturgeschichte – in welchem Genre auch immer, egal ob in der euripideischen Tragödie, aristophanischen Komödie oder menippeischen Satire – auf Vorformen des Romans stößt, verstimmen deren Aufklärungstendenzen den herrschenden (Kunst-)Gesang auf parodistische Weise. „Nicht zufällig stellt die beste Arbeit über die Geschichte des antiken Romans – das Buch von Erwin Rohde – weniger dessen Geschichte dar, sondern vielmehr den Zersetzungsprozeß aller großen hohen Genres in der antiken Welt.“236

Die hohen, geschlosseneren Genres „werden dialogisiert, nehmen ferner in starkem Maße Lachen, Ironie, Humor, Elemente der Selbstparodisierung auf“.237 Ironisch ist der Roman hier insofern, als er das Konventionelle anderer Genres enthüllt. Das geht einher mit seiner oft parodistischen Qualität, die darum nicht unbedingt komische Effekte zeitigen muss. Die beiden Pole der Frage Ist es eine Tragödie? Ist es eine Komödie?238 verlieren im Sog der für den Roman typischen 235 Zum Spannungsverhältnis eines historischen und typologischen Verständnisses von ‚Realismus‘ vgl. Jakobson, Roman: „Über den Realismus in der Kunst“, in: ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, S. 129–139. 236 So Bachtin (Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt am Main, 1989, S. 211), der die geschichtliche Rückführung so weit treibt, dass sie letzten Endes zu einer Beschreibung einer kulturpsychologischen Matrix mutiert. Zu der Unzahl schon antiker (und mittelalterlicher) Travestien der griechischen Epen, die teilweise Homer selbst zugesprochen wurden, vgl. speziell Bachtin, „Aus der Vorgeschichte des Romanwortes“, S. 312 f., sowie Genette, Palimpseste, S. 181. – Erwin Rohde (Der griechische Roman und seine Vorläufer, Leipzig, 1876), der altphilologische Kollege und langjährige Freund Nietzsches, hat den griechischen Roman in seiner genetischen Verwurzelung in der erotischen Persiflage beschrieben. Zu denken ist auch an die antiken Romane von Apuleius und Petronius. 237 Bachtin, Formen der Zeit im Roman, S. 214. 238 Dieser Titel eines Dramoletts von Thomas Bernhard ist zugleich die bestimmende Frage fast aller seiner Romane.

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additiven Logik ihre Eigenständigkeit. „Die Parodie einer Tragödie wird eine Komödie sein“239, so Jurij Tynjanov. Romane mögen traurig sein, immer aber haben sie auch entlarvend-komische Elemente. Der (ironische) Roman sieht in jeder Tragödie noch die Komödie des Lebens – auch das verrät sein parodistisches Erbe. Mehr noch: Die scheinbaren Gattungswesen Tragödie und Komödie lösen sich in ihm auf, weil sichtbar wird, dass ihre Trennung außerhalb eines repräsentativen Kunstregimes und seiner hierarchischen Normen nicht aufrechterhalten werden muss. An allen Gattungen wiederholt der Roman jene durchaus nicht an Humor oder Komik gebundene parodistische Kritik, die eingangs anhand von Schlegels ‚progressiver Universalpoesie‘ besprochen wurde. Der Roman inhaliert alles und jedes, ist essayistisch, Briefroman, wissenschaftliche Abhandlung und ist es gleichzeitig nicht. Er ist Roman und immer schon Antiroman zugleich. Wie die Frage nach dem ersten Roman ist deswegen auch die nach der letzten novel to end all novels eine nur perspektivisch beantwortbare. Wenn es im Rahmen der hier behandelten Fragestellung um den grundsätzlichen Zusammenhang von Ironie und Modernität geht, ließen sich selbstverständlich Ansätze bei Sterne, Diderot und anderen erkennen. Aber mit der Ironie ändert um 1800 auch eine ihrer poetischen Gestalten ihre Bedeutung. Als Par-odia wird sie vom Neben- immer mehr zum Gegengesang, zum „Parasit[en] aller ptolemäischen Sprachwelten, der die geschlossene Einheit von Wort und Welt, Form und Inhalt auflöst, um die Form der Form – die Gattungsmaske – hervorzuheben. Die bevorzugtesten Mittel dazu sind die verfremdende Gegenüberstellung von hohem Stil und niedrigem Inhalt oder von hohem Inhalt und niedrigem Stil. Wenn die indirekte Rede zur Stilisierung des Stils führt, so führt die Parodie zur Formalisierung der Form hin, deren Theorie wir dann in der Frühromantik finden.“240

In Gesellschaften abnehmender Stratifizierung, so kann gefolgert werden, sublimiert die moderne Kunst die Parodie zu einer Form impliziter Gegenrede. Einige sogenannte ‚postmoderne‘ Romane haben dieses Wissen relativ fröhlich reflektiert. Nabokovs Lolita ist Pastiche diverser Denk- und Schreibstile (etwa die genussvolle Ausbreitung psychoanalytischer Banalitäten) und Parodie diverser Genres (Liebesroman, crime-story etc.), die sich „gegenseitig ironisieren“241. „Ironisieren“ mag hier von Herbert Grabes ungefähr im Sinne von ‚relativieren‘ gemeint sein. Wörtlich genommen meint es ein Wissen um den autodestruktiven

239 Tynjanov, „Dostoevskij und Gogol“, S. 83. 240 Roberts, David, „Genealogie der Literatur. Zur Selbstbeobachtung in stratifizierten Gesellschaften“, in: Systemtheorie der Literatur, hrsg. v. Jürgen Fohrmann und Harro Müller, München, 1996, S. 292–309, hier S. 307 f. Zum Thema des Parasiten vgl. unten Kap. G. „Metaphysische Entgrenzungen“. 241 Vgl. dazu Grabes, Herbert, „Die parodistische Aufhebung der Grenze zwischen Fiktion und Realität in den Romanen Vladimir Nabokovs“, in: Der zeitgenössische amerikanische Roman, Bd. 3, S. 231–245, hier S. 237.

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Impuls einer unbeherrschten Ironie, die nicht mehr zuhanden oder einfach anwendbar ist. Am Roman des 20. Jahrhunderts ist diese Spannung besonders gut abzulesen. Denn neben deren auflösenden Effekten ist dem Ulysses zugleich das Bemühen seines Autors anzumerken, mittels einmontierter Zitate und ironisierter Mythologeme die Handlung zu ordnen. Abschließend soll noch eine letzte literarische Form von Parodie erwähnt werden: Das Parodieren von ganzen Handlungsmustern „führt zu einem ‚Überschuß‘ an plot und löst trotz der Vielfalt der Plotelemente, ja gerade durch ihre Multiplizierung“ einen korrosiven Effekt aus, „so daß wiederum die einzelne Situation in den Vordergrund rückt“.242 Was als parodistische Strategie gegen klischeehafte Handlungsmuster begonnen haben mag (Nabokov) oder Handlung zuallererst konstituieren half (Eco), geht in einem Prozess ironischer Selbsterfassung weit darüber hinaus. So zeigt sich der apokalyptische Mordleitfaden gegen Ende des Namens der Rose als notwendige fiktive Simulation: zugleich textkonstitutiv und deutungsforciert. Am deutlichsten hat die paranoide Motivierung jeder Plotsuche bis heute wohl Thomas Pynchon markiert. In seinen Romanen ist jede Deutung potenziell auch nur eine weitere der Protagonisten selbst, welche mehr oder minder verzweifelt versuchen, die divergenten Momente des Geschehens kohärent zu machen. Dabei stehen alle Beteiligten unter einem generellen Paranoia-Verdacht.

V. WIRKLICHKEIT UND ILLUSION V. WIRKLICHKEIT UND ILLUSION

„God wasn’t too bad a novelist except he was realist.“ John Barth243

Ein getrennt zu behandelnder Aspekt literarischer Ironie ist deren, in frühromantischer Diktion formuliert, ‚parekbatisches Oszillieren zwischen Realität und Illusion‘. Mit dieser im Detail noch zu explizierenden Formel soll keine Entgegensetzung einer vorgängigen ‚Realität‘ und einer von ihr abhängigen ‚Illusion‘ suggeriert, sondern auf das ironische Spiel zwischen verschiedenen und in dieser Verschiedenheit gleichberechtigten Wirklichkeiten hingewiesen werden. Von den unterschiedlichen möglichen Lesarten von Schlegels Formel des „transzendentalen Buffo“ wurde bisher eher der transzendentale Aspekt betont (das Über-allemSchweben des Autorenlächelns). Der buffoneske Aspekt des ‚Brechens‘ ist dage-

242 Hoffmann, Gerhard, „Situationalismus als epistemologisches bzw. ethisches Grundmuster des zeitgenössischen amerikanischen Romans und die Umwandlung der erzählten Situation ins Fantastische“, in: Der zeitgenössische amerikanische Roman, Bd. 1, S. 108–144, hier S. 130. 243 Zit. nach Hoffmann, Gerhard, „Perspektiven der Sinnstiftung. Das Satirische, das Groteske, das Absurde und ihre Reduktion zur ‚freien Komik‘ durch Spiel und Ironie“, in: Der zeitgenössische amerikanische Roman, Bd. 1, S. 225–307, hier S. 240.

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gen bisher im Hintergrund geblieben. In der Folge, auch im Hinblick auf die grotesken Momente von Ironie, soll nun genau diese parekbatische Dimension obiger Formel verdeutlicht werden.

1. Realitätsverkennende Lektüre Wenn es um Realitätsverkennung durch ein Übermaß an Lektüre geht, werden aus guten Gründen immer wieder Don Quichote und Madame Bovary als exemplarische Fallbeispiele angeführt. Anders als in den zahlreichen Studien zu diesem Thema soll es in der Folge aber weniger um ‚Vorbildfunktionen‘ bzw. den (negativen) Einfluss ‚literarischer Bildung‘ gehen.244 Auch im Sinne einer leichten methodischen Verschiebung soll eher danach gefragt werden, ob es sich denn wirklich um Vorbildfunktionen literarischer Werke handelt oder ob diese nicht noch grundsätzlichere, konstitutive Funktion übernehmen. Dass viele literaturwissenschaftliche Behandlungen des Themas dies nicht ausreichend beachten, liegt wohl auch an den literarischen Werken selbst. Gerade im paradigmatischen Don Quichote bleiben die Grenzen meist klar sichtbar: Gewiss träumt Don Quichote, aber solange er dem Urteil des Erzählers folgt, können seinem wachen Leser dessen Lektürefehler nicht entgehen. Don Quichotes Herumirren und Sich-Verlieren resultiert umgekehrt aus einem doppelten Lektürefehler. Gegen seine prosaische Realität versucht er sich noch einmal als Held zu gerieren, den er nach dem Vorbild gelesener Ritterromane imaginiert. So glaubt Don Quichote „keineswegs, dass die Windmühlen Riesen sind, sondern in Windmühlen verzauberte Riesen, also als Dinge Windmühlen sind und bleiben und sozusagen semantisch zu Riesen werden. Sie sind Zeichen geworden, die etwas anderes bedeuten, als es den Anschein hat. Windmühlen bedeuten Riesen.“245

Sein Wahnsinn legt, so könnte man sagen, die Symbolizität dessen, was gemeinhin Wirklichkeit genannt wird, offen. In seinem Wahn offenbart sich nicht so sehr die oberflächliche Metaphorisierung der Dinge, sondern die symbolische Verfasstheit alles bildlich Wahrgenommenen. So zeigt sich dieses als wahrhaft Imaginäres. Weniger um „Phantasie haben“ im Thomas-Mann’schen Sinn eines „sich etwas ausdenken […], sich aus den Dingen etwas machen“246 handelt es sich. Vielmehr werden im Fall Don Quichotes die realitätsstiftenden Synthesen (der Einbildungskraft) selbst phantastisch. In diesem Prozess tritt der fiktive, 244 Zuletzt war es unter anderem Hans-Georg Potts Studie Literarische Bildung, welche anhand von literarischen Lektüren zugleich eine Geschichte der Individualität zu beschreiben suchte. Mit Blick auf Goethes Werther etwa schreibt Pott, dass „[b]esonders in Liebesangelegenheiten Kunst und Literatur Vorbildfunktionen für Lebensformen […] übernehmen“ (Pott, Literarische Bildung, S. 75). 245 Ebd., S. 23. 246 Zit. nach Bohrer, Karl Heinz, Plötzlichkeit. Zum Augenblick ästhetischen Scheins, Frankfurt am Main, 1981, S. 89.

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phantasmatische Ursprung des Symbolischen selbst an die literarische Oberfläche. Immer wieder wird diese Radikalität mit Verweis auf die scheinbare Krankheit, das angebliche Scheitern Don Quichotes an der Realität verschleiert. Mehr noch als Cervantes’ Roman beruhigen und beschränken sich diverse andere Parodien und Genrenachahmungen hauptsächlich darauf, komische Effekte des Kontakts zwischen einer allgemein verbindlichen Realität und subjektiven Wahnvorstellungen auszuschlachten. Ein Beispiel für die diesbezügliche Kalmierung oder Reduktion der epistemologischen Abgründigkeit der Parodie ist diejenige des Schäferromans in Charles Sorels Le Berger extravagant von 1627.247 Der mit Schäferidyllen gefüllte Kopf der Hauptfigur Lysis missversteht seine Umwelt ohne Unterlass. Aber der Kopf lässt sich leeren, und die Missverständnisse lassen sich dadurch aus dem Weg räumen. Bezeichnend ist, dass Lysis selbst seinem Wahn nicht hemmungslos ausgeliefert scheint, wie auch Don Quichote erst auf irgendeinen realen Ritterschlag wartet, um seine Phantasien auszuleben. Zwar stürzt Lysis sich vorbildlich in einen Fluss, er tut dies aber vorsorglich ausgerüstet mit als Schwimmhilfe dienenden Schweinsblasen. Das verdankt er seinem Realitätssinn, der ihn genau von einem Wahnsinnigen oder tatsächlichen Selbstmörder trennt. Erst diese Voraussetzung ermöglicht die schlussendliche Aufklärung durch seine Umgebung, welche gemeinsam mit der amüsierten Leserschaft scheinheilig triumphiert. Halbwegs geheilt wird er verheiratet, wobei ihm noch der Wunsch, Schäferkleidung zu tragen, mit der Begründung ausgetrieben wird, dass Schäfer in den Idyllen ja nicht heiraten. Anstatt die Heirat zu verweigern, stützt sich der ehemalige Lysis ganz rational auf diejenigen Elemente des Wahns, welche realitätskompatibel sind. Sein komischer Irrsinn ist so geartet, dass mittels der dem parodistischen Verfahren eigenen kritischen Komponente Aufklärung aus dem Wahn möglich ist. Wo der Wahn der Protagonisten nur auf verfehlter Lektüre(applikation) beruht, bleibt die Grenze zwischen Realität und verträumter Idealität somit erkennbar. Das gilt auch für diejenigen Romane, in denen eher die Helden und nicht so sehr die Romane selbst tragisch enden. So sorgt etwa Madame Bovarys Einsicht am Ende des Romans für geordnete ontologische Verhältnisse. Die Gesellschaft ist hier immer schon in ihr Recht eingesetzt, glaubt die Wirklichkeit definieren zu können, und der gesunde Menschenverstand kann ein weiteres Mal als Sieger vom Platz gehen. Dem Berger extravagant diametral entgegengesetzt sind diesbezüglich zum Beispiel Nabokovs Transparent Things, wo die Worte „reality“ und „dream“ jeweils nur in Anführungszeichen geschrieben werden. Hugh Person erwürgt versehentlich seine Frau beim schlafwandelnden Versuch, sie von einem geträumten Brand zu retten, und komplementär dazu stirbt er, weil er einen wirklichen Brand nicht als solchen erkennt.248 247 Sowohl zum Berger extravagant als auch zu Don Quichote vgl. Kap. XXV („Antiroman“) in Genette, Palimpseste. 248 Weiter geht dabei nur noch Look at the Harlequins!, Nabokovs letzter Roman. Sinngemäß mischt der Roman die Autorenangst des Helden, nur eine Kopie Nabokovs zu sein, mit der parodistischen Verwechslung von Zeit- und Raumstruktur. Auch die Einheit des Raums wird

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2. Literarische Ironie als parekbatische Brechung An den Werken Tiecks hat die germanistische Forschung zumindest drei unterschiedliche Formen der Ironie ausgemacht.249 Ein erstes Motiv wäre das ‚Leben als Traum‘ (mit dem Ich als einzigem Gesetzgeber) wie im William Lovell; ein zweites der Aspekt des ‚Illusionsbruchs‘, speziell im Gestiefelten Kater; ein drittes Thema dasjenige der verkehrten Welt. Offensichtlich handelt es sich hier um drei Formen des karnevalistischen Erbes parekbatischer Ironie. Karnevalistisch ist im Gestiefelten Kater die stete Unterwanderung der zwischen aktiven Schauspielern und passiven Zuschauern trennenden Rampenfunktion genauso wie die damit korrelierende traumhafte Verkehrung der Welt. „Den Karneval schaut man sich nicht an, man lebt ihn“.250 Deswegen stehen die Tieck’schen Schauspieler zusammen mit den Zuschauern im Dialog, und deswegen verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Illusion wie später vielleicht erst wieder in den Theaterstücken Pirandellos. „Was das Theater anlangt, so muß in ihm die Illusion, aller Wahrscheinlichkeit nach, einen flimmernden Charakter haben, d. h. teils erscheinen, teils völlig verschwinden“,251 so Viktor Šklovskij in „Wie Don Quichote gemacht ist“. Dass der „Zuschauer […] in sich einen Wechsel in der Wahrnehmung des szenischen Geschehens erfahren [muß]“, ist jedoch auch für die epische Verfremdung von Bedeutung.252 Dass die Parekbase im Roman permanent sein muss, darf nicht als Feststellung gelesen werden, sondern ist von Schlegel präzise als Forderung formuliert worden. Eine wirkliche Durcharbeitung der Parekbase kann dem Roman dort zugesprochen werden, wo er Käte Hamburger zufolge die „romantischer Ironie“ eigene gleichzeitige Störung und Stärkung der „Illusion der Fiktion“253 ästhetisch produktiv macht. Im Roman wird die (permanente) Unterbrechung zu einem produktiven Moment, welches noch in der Bloßlegung der Illusion die

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hier kopfschmerzenverursachend aufgehoben, etwa wenn sich im Gesichtsfeld des Helden rechts und links vertauschen. Auch in diesem Zusammenhang sei auf den schon erwähnten Aufsatz Herbert Grabes zu Nabokov („Die parodistische Aufhebung der Grenze zwischen Fiktion und Realität in den Romanen Vladimir Nabokovs“) hingewiesen. Immerwahr, Raymond, „The Practice of Irony in Early German Romanticism“, in: Romantic Irony, hrsg. v. Frederick Garber, Budapest, 1988, S. 82–96, hier S. 88 ff. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 55. Šklovskij, „Wie Don Quichote gemacht ist“, S. 121. „Eins ist sehr interessant: im zweiten Buch des Romans weiß Don Quijote, dass der erste Teil erschienen ist; gleichzeitig polemisiert er gegen den unechten, von einem gewissen Avellaneda aus Tordesillas verfassten zweiten Teil. So entsteht eine merkwürdige Situation. Eine Romangestalt empfindet sich als real, bleibt aber gleichzeitg eine Romanfigur.“ (Ebd., S. 120 f.) Hamburger, Käte, Die Logik der Dichtung, 2., stark veränderte Auflage, Stuttgart, 1968, S. 126. „Daß er ein Spiel ‚romantischer Ironie‘ ist, ist keine neue Feststellung. Die Einmischung des Autors in seine Erzählung oder das Auftreten von Dichter, Regisseur und einem fingierten Publikum im (romantischen) Drama wurde immer als Brechung der Illusion bezeichnet. Aber es wurde nicht scharf genug gesehen, daß eben dadurch die Illusion der Fiktion weit weniger gestört als gerade betont, unterstrichen wird.“

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Kreativität der Imagination darstellen kann. So zum Beispiel bei Milan Kundera. Der Autor geht schwimmen und beobachtet eine ungefähr sechzigjährige Frau, die am Beckenrand entlanggeht und dem Badelehrer noch einmal zuwinkt. „In diesem Augenblick krampfte sich mir das Herz zusammen. Dieses Lächeln, diese Geste gehörten zu einer zwanzigjährigen Frau! Ihre Hand schwang sie mit bezaubernder Leichtigkeit in die Höhe. Es war, als würfe sie ihrem Geliebten einen bunten Ball zu […]. Eine von der Zeit unabhängige Essenz ihrer Anmut hatte sich für einen Augenblick in einer Geste offenbart und mich geblendet. Ich war auf merkwürdige Weise gerührt. Und vor mir tauchte das Wort Agnes auf. Ich habe nie eine Frau mit diesem Namen gekannt.“254

Von den frühen Erzählungen über die tschechischen Romane und noch über die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins hinaus scheint das Werk Kunderas in der schaumgeborenen Unsterblichkeit seinen Höhepunkt an zauberhafter Leichtigkeit und Ausgeglichenheit gefunden zu haben. Alle sieben Teile des Romans kommunizieren miteinander, greifen vor, kündigen sich an, Hemingway trifft Goethe, Kundera redet über seinen Roman während dessen Niederschrift – und das scheinbar ohne alle avantgardistische Anstrengung. So geschmackvoll hat sonst vielleicht nur Italo Calvino den unkünstlerischen Illusionsbruch, sich direkt an den Leser zu wenden, poetisch integriert. „Der Roman beginnt auf einem Bahnhof, eine Lokomotive faucht, Kolbendampf zischt über den Anfang des Kapitels, Rauch verhüllt einen Teil des ersten Absatzes“255 – so lautet der erste Satz des Kapitels „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ von Calvinos gleichnamigem Roman, der eine weitere allerletzte Liebesgeschichte erzählt, zugleich aber nichts anderes als die Suche nach Leserinnen, Autorinnen und Texten reflektiert. Diese poetologischen Bausteine als produktives Element der narrativen Gestaltung einzusetzen, gelingt nun nicht mittels Ironie, sondern ist eine schon mehrfach erwähnte Funktionsweise medialer Ironie, der auf Dauer gestellten Parekbase. Nicht immer kann die Integration oder Aufhebung der parekbatischen Illusionsbrechung in die ästhetische Illusion so umstandslos gelingen. Wo der Autor die Kompositionsfäden aus der Hand verliert, stehen sich nicht einfach Realität und Erzählillusion gegenüber. Vielmehr sind es zwei oder im sogenannten postmodernen Roman zunehmend mehrere Welten, die sich gegenseitig in ihrem Realitätsanspruch behindern. Exemplarisch sind hierfür sicher Pynchons Romane, die eine Unzahl verschiedener Themen in einer Vielzahl verschiedener Stile behandeln. Gerade im scheinbar detailversessensten Realismus findet der Übergang zu Pynchons „Irrealismus ohne klar markierte Grenze“ statt, mit „zahlrei-

254 Kundera, Milan, Die Unsterblichkeit, München/Wien, 1990, S. 10; gerade bei Kundera handelt es sich um einen hochreflektierten Einsatz ironischer Strategien; vgl. hierzu Kundera, Milan, Die Kunst des Romans, Frankfurt am Main, 1989. 255 Vgl. Calvino, Italo, Wenn ein Reisender in einer Winternacht, München/Wien, 1985.

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chen verschiedenen, ständig wechselnden Stilarten von der Farce zur Tragödie und vom Symbolismus zum Absurden“, die es dem Leser fast unmöglich machen, „das Geschehen zu verfolgen und vor allem es als ein Ganzes zu sehen“.256

VI. (ENT-)BILDUNGSROMANE UND IRONISCHE AUTOBIOGRAPHIE VI. (ENT-)BILDUNGSROMANE UND IRONISCHE AUTOBIOGRAPHIE

1. Bildungsdekadenz Zwei Spezialfälle der im vierten Abschnitt diskutierten ironischen Verfahrensweisen und Gattungen stehen nun abschließend zur Diskussion. Sowohl für den Bildungsroman wie für die Autobiographie ist dabei an zuvor, speziell in Kapitel C. VI. („Unechtes Ichwerden oder Die Entstehung des Ich aus dem Geist der Wiederholung“) Diskutiertes anzuschließen. Egal ob unfreiwillig epigonisch oder freiwillig parodistisch – in beiden Gattungen lassen sich die Spannungen nicht hintergehbarer Ironizität leicht verifizieren, wobei sich die Fragen nach Autor und Held in vielfacher Weise überkreuzen und überdecken. Offensichtlich ist das im Fall der Autobiographie. Aber auch für den Bildungsroman gilt tendenziell, dass die Probleme seiner Figuren die Problematik der jeweiligen Autoren verdoppelt. Speziell im deutschen Kulturkreis ist der Begriff ‚Bildung‘ mit einer Fülle von Konnotationen überfrachtet. Im Zusammenhang des Bildungsromans korrespondiert ihm zudem das ebenfalls bedeutungsgeladene Konzept von ‚Meisterschaft‘, welche Goethes Wilhelm Meister, vor allem dessen Lehrjahre, in schon für seine Zeitgenossen paradigmatischer Weise vorstellte. Wenn das Thema des Bildungsromans hier auf seine ironischen, Subjekte zugleich konstituierende und unterwandernde Implikationen hin untersucht werden soll, dann muss dies in einem doppelten Sinn geschehen. Neben ihrer literarischen Spezifik sind Bildungsromane immer auch als konkrete Erziehungsprogramme verstanden worden. Im Bildungsroman, so wäre die theoretische Indienstnahme auf eine knappe Formel zu bringen, soll ein Subjekt (qua selbstreflexives Bewusstsein) zu einem ausdifferenzierten Individuum (qua eigenständigem Entscheidungsträger) gebildet werden. Die damit verbundene Doppelung von Literatur und Lebenserziehung innerhalb und außerhalb des Romans hält sich bis in die Dekadenzvarianten des Genres durch. In Thomas Manns Familienchronik der Buddenbrooks, dem nach Goethe prägnantesten Exempel des Genres innerhalb der deutschen Literatur, setzt der massive Zerfall natürlicher, organisch gewachsener Bildung bekanntlich bereits bei 256 Vgl. Saariluoma, Liisa, Der postindividualistische Roman, Würzburg, 1994, S. 151.

VI. (ENT-)BILDUNGSROMANE UND IRONISCHE AUTOBIOGRAPHIE

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Thomas Buddenbrook ein. Schon bei diesem, nicht erst bei seinem Bruder, ist die gesunde Kaufmannschaft angegriffen von künstlerischer Dekadenz. Es ist nun genau die übertriebene kulturelle Bildung, speziell die Schauspielkunst, die Goethes Wilhelm noch mehr oder minder gesund überstehen konnte, die in Thomas Manns polarer Weltanschauung unter eindeutig negativen Vorzeichen steht. Vom Virus dandyistischer Dekadenz angegriffen, war „Thomas Buddenbrooks Dasein […] kein anderes mehr als das eines Schauspielers, eines solchen aber, dessen ganzes Leben hin bis auf die geringste und alltäglichste Kleinigkeit zu einer einzigen Produktion geworden ist, einer Produktion, die mit Ausnahme einiger weniger und kurzer Stunden des Alleinseins und der Abspannung beständig alle Kräfte in Anspruch nimmt und verzehrt“.257

Das lässt sich zugleich auf den Romancier Mann selber anwenden, der seinen „Sinn für das Abgeschmackte“ alter Kunstmittel später seinem Protagonisten Adrian Leverkühn in den Mund legt. „Warum muß es mir vorkommen, als ob fast alle, nein, alle Mittel und Konvenienzen der Kunst heute nur noch zur Parodie taugten.“258 Doch schon lange vor Thomas Mann, bei Gottfried Keller und Adalbert Stifter etwa, wird im Schatten Goethes unter bewusster Reflexion auf eine ‚Spätzeit‘ und die Figur des ‚Spätlings‘ geschrieben. Und bereits die Helden von Karl Immermanns Epigonen (1836) leiden unter den bekannten Symptomen. Sie sind ‚Frühgereifte‘, mit einem Übermaß an „Verstand und Erfahrung“ ausgestattet, die etwa im Falle des Protagonisten Hermann von dem Gefühl durchdrungen sind, „seine Vergangenheit [gehe] vor ihm“.259 Die Problematik eines nur mehr ironisch gebrochenen Schreibens im Schatten Goethes reflektiert sich in diesen deutschen Romanen in den Schwierigkeiten ihrer unselbständigen Helden. Aber schon um 1800 ließen avancierte Texte wie Goethes Wanderjahre ein Wissen um die ungedeckten idealistischen (Authentizität, Originalität) und geschichtsphilosophischen Voraussetzungen von Konzepten wie ‚Epigonalität‘ erkennen. Generell kann von einem Ideenkonstrukt ‚Bildungsroman‘ gesprochen werden, welches seit seiner Konzeptualisierung durch Dilthey zwar seine Faszination ausübt, sich in literarischen Werken aber nie explizit verifizieren lässt. In gewisser Weise hatte schon die frühromantische Kritik durch das Aufzeigen des poetischen Überschusses des Wilhelm Meister an diesem selbst das Konzept ‚Bildungsroman‘ avant la lettre widerlegt. Immermanns Epigonen tragen dann ihre Gebrochenheit schon im Titel, und erst recht Kellers Grüner Heinrich ist treffender als „Desillusions“- bzw. „Antientwicklungsroman“260 beschrieben. Das liegt an der dialektischen Gebrochenheit des konzeptuellen Doppels Bildungs-Roman, 257 Mann, Thomas, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, Frankfurt am Main, 1990, S. 614. 258 Mann, Thomas, Doktor Faustus, Frankfurt am Main, 1997, S. 181. 259 Zit. vgl. Meyer-Sickendiek (Die Ästhetik der Epigonalität, S. 126), der nicht zufällig seine zahlreichen Einsichten in die Prinzipien des Bildungsromans unter den Auspizien der Epigonalität (und vice versa) formuliert. 260 Ebd., S. 99.

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worin sich diejenige von ironischen Aufklärungsprozessen überhaupt spiegelt. Letztere sind ambivalent, sowohl was ihre Konsequenzen als was ihre Auslöser betrifft. Einerseits müssen sich Epigonen doch immer wieder an ihren Vorbildern überheben. Andererseits will sich das von einer invisible hand geführte Subjekt auch weiterhin aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien.

Vom Helden zum Subjekt Für den Bildungsroman gilt in verschärfter Form jene strukturelle Problematik der Rolle und Funktion des Helden im Roman, die sich grob so resümieren lässt: Entweder sind die Protagonisten nach unseren realistischen Erwartungshaltungen und Einschätzungen keine wirklichen Menschen, oder sie sind keine Helden mehr. Das 19. Jahrhundert hat in fast allen Nationalliteraturen mit dem Konzept des Helden gebrochen. Schon die Byron’schen Helden werden mit einer „sublime irony“261 konfrontiert, und wenn Lermontovs Held unserer Zeit byronisiert, dann läuft er ebenso Gefahr, sich lächerlich zu machen, wie seine pastichierenden Kollegen bei Puschkin. Die Helden des Romans sind Suchende. Wo der deutsche Roman eher die Bildungssuche seiner Protagonisten betont, da hat der französische diese stets auch im Kontext zeitgenössischer politischer Transformationen konturiert. Bei Balzac, Stendhal und Flaubert ist das soziale Scheitern oder Gelingen der Protagonisten deutlich aus einem detailliert beschriebenen politischen und gesellschaftlichen Hintergrund entwickelt. Die éducation Frédérics, seine Gefühlsbildung, scheitert gerade politisch an der Dichotomie von homme und citoyen. Diese komplexe Sicht auf die soziale Realität versucht sich der zeitgleiche deutschsprachige Roman – mit wenigen Ausnahmen wie Raabe262 – zu ersparen. Nicht zuletzt ist es ein idealistischer Theoriehintergrund, der konkrete literarische Auswirkungen auf die (un)realistische Zeitgenossenschaft der Romanhelden deutschsprachiger Bildungsromane hat. Paradigmatisch steht dafür ein seit Fichte gebräuchlicher, speziell für die Hegel folgende Ästhetik in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzender Begriff: ‚Ideal-Realismus‘ bei Friedrich Theodor Vischer und Otto Ludwig bezeichnet eine Wirklichkeitsaneignung und deren Versöhnung, die auf eine erzählende Heilung der Wirklichkeit zielt. Das humanistische Ideal persönlicher Vervollkommnung deckt sich mit dem idealistischen Gehalt der klassischen Ästhetik. Dies erhellt ein Zitat aus dem Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe: „Lehrjahre sind ein Verhältnisbegriff, sie fodern ihr Correlatum, die Meisterschaft, und zwar muß die Idee von dieser letzten jene erste erklären und begründen. Nun kann aber diese Idee der Meisterschaft, die nur das Werk der gereiften und vollendeten Erfahrung ist, den Held nicht selbst leiten, sie kann und darf nicht, als sein 261 Schon in Byrons Don Juan findet sich eine „sublime irony“, deren „satirical impuls […] ridicules the Romantics“ selbst; vgl. dazu Colebrook, Claire, Irony, London, 2004, S. 117. 262 Zu Raabes Versuch, einen zeitgeschichtlichen Sittenroman als kritischen Gegenentwurf zu etablieren, vgl. Göttsche, Dirk, Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexion und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert, München, 2001, S. 25.

VI. (ENT-)BILDUNGSROMANE UND IRONISCHE AUTOBIOGRAPHIE

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Ziel und Zweck, vor ihm stehen, denn sobald er das Ziel sich dächte, so hätte er es eo ipso auch erreicht; sie muß also als Führerin hinter ihm stehen. Auf diese Art erhält das Ganze eine schöne Zweckmäßigkeit, ohne daß der Held einen Zweck hätte, der Verstand findet also ein Geschäft ausgeführt, indes die Einbildungskraft völlig ihre Freiheit behauptet.“263

Der Bildungsbegriff aus Schlegels radikaler Zeit unterscheidet sich von dem der klassizistischen Ästhetik und ihrer populären literarischen Einlösungen insofern, als er den ästhetischen Eigenwert der Einbildungskraft nicht vorab philosophisch zu meistern versucht. Vor allem dass Schlegel der Reflexion eine autonome Funktion zuspricht, bedeutet eine entscheidende Wendung des Bildungsbegriffs. Einem Fragment von 1797 zufolge „[ist] Bildung […] antithetische Synthesis und Vollendung bis zur Ironie“.264 Im darauffolgenden Jahr erschien Schlegels Wilhelm-Meister-Rezension, die eine Einlösung seines Kritikbegriffs – Kritik hier verstanden als Höherpotenzierung – ist, an der aber auch die Differenzierung seines Verständnisses von ‚Bildung‘ als subjektiver oder allgemein-moralischer Kategorie deutlich wird. Innerhalb von Schlegels Konzeption einer autopoietischen Reflexion der progressiven Universalpoesie bekommt ‚Bildung‘ eine werkimmanent konstitutive Bedeutung. Goethes Roman mache deutlich, „daß diese Lehrjahre eher jeden andern zum tüchtigen Künstler oder zum tüchtigen Mann bilden wollen und bilden können, als Wilhelmen selbst. Nicht dieser oder jener Mensch sollte erzogen, sondern die Natur, die Bildung selbst sollte in mannichfachen Beispielen dargestellt“265

werden. Einzig diese derealisierende Auffassung ermöglicht Schlegel eine am ehesten musikalisch zu nennende Interpretation des Romans, welche die Zusammenhänge und Spiegelungen in ihrem kunstvollen Aufbau einzig ästhetikimmanent nachvollziehbar machen soll. „Man lasse sich also dadurch, daß der Dichter selbst die Personen und die Begebenheiten so leicht und so launig zu nehmen, den Helden fast nie ohne Ironie zu erwähnen, und auf sein Meisterwerk selbst von der Höhe seines Geistes herabzulächeln scheint, nicht täuschen, als sei es ihm nicht der heiligste Ernst. Man darf es nur auf die höchsten Begriffe beziehn und es nicht bloß so nehmen, wie es gewöhnlich auf dem Standpunkt des gesellschaftlichen Lebens genommen wird: als einen Roman, wo Personen und Begebenheiten der letzte Endzweck sind.“266

263 So Schiller an Goethe am 8. Juli 1796, in: Goethe, Johann Wolfgang und Schiller, Friedrich, Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs hrsg. v. Hans Gerhard Gräf und Albert Leitzmann, Frankfurt am Main u. a., 1964, S. 175. 264 Schlegel, KA, Bd. 18, S. 82. 265 Schlegel, „Über Goethes Meister“, S. 168; in seinem Kommentar zu Schlegels Bildungsbegriff zitiert Bernd Bräutigam (Leben wie im Roman, S. 45) zustimmend Clemens Menzes Studie Der Bildungsbegriff des jungen Friedrich Schlegel, Ratingen, 1964: „Bildung realisiert sich in der letzten Trennung des Ich von der Außenwelt als eine cultura animi, die sich in der Unerschöpflichkeit ihres eigenen Selbst gefällt und verliert.“ 266 Schlegel, „Über Goethes Meister“, S. 161.

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Wie üblich bedarf die Schlegel’sche Terminologie einer Erläuterung. Dies gilt im Speziellen für das durch die strukturelle Parekbase hervorgerufene eigentümlich ironische Schweben wie auch für die Zuschreibung eines „Genius“ an den Roman.267 Nicht mehr das geschmackvolle Genie garantiert das Gleichgewicht, sondern das Reflexionsgebilde Roman selbst muss von innen heraus seinen eigenen Halt, seine eigenen Kompositionsprinzipien ausbilden. Das will die ästhetisch raffinierte Intuition Schlegels besagen. Winfried Menninghaus hat dieses Paradox in der nachkantischen Ästhetik als Oszillieren zwischen „Selbstpotenzierung und Kollaps“ beschrieben. „Die Romantiker nannten eine solche Figur das ‚Schweben‘: einen Suspens, der zugleich nihiliert, was er potenziert, und der zugleich potenziert, was er eben darin nihiliert.“268 Gerade im märchenhaften Unsinn mancher romantischer Werke lässt sich mit Menninghaus eine erlösende Kraft als Befreiung von Motivations- und Bedeutungszwängen mythischer Provenienz ausmachen.

2. Romantische Bildungsparodie Das vielleicht beste Beispiel einer unvernünftigen Beerbung der kantischen Ästhetik qua galoppierender Einbildungskraft und (Ent-)Bildungsroman sind E. T. A. Hoffmanns Lebensansichten des Kater Murr. Kapitelüberschriften wie „Gefühle des Daseins – Die Monate der Jugend“, „Lebenserfahrungen des Jünglings – Auch ich war in Arkadien“, „Die Lehrmonate – Launisches Spiel des Zufalls“, „Ersprießliche Folgen höherer Kultur – Die reiferen Monate des Mannes“ spielen parodistisch auf die in der Folge Goethes üblich gewordenen Schemata in Bildungsromanen an.269 Wie Kellers Heinrich Lee versteht sich auch Murr rousseauistisch der Wahrheit verpflichtet. Und wie alle anderen (zur Kunst) Auszubildenden reflektiert auch der Kater tiefsinnig das Romanvorhaben. Was die Spiegelungen des Romans an die Grenzen des Irrsinns treibt, ist dann allerdings sein Sprachbewusstsein. Schon zu Beginn findet sich eine absurde Variante des bekannten romantischen Spiels eines Herausgebers, welcher bedauernd anmerkt, der Kater habe Zettel aus einem biographischen Manuskript herausgerissen. Die zerfetzte Biographie ist diejenige des Kapellmeisters Kreisler, auf deren Rückseiten Murr seinen (demolierten) Bildungsroman montiert. Weniger als Ausdruck der gespaltenen Künstlerpersönlichkeit möchte ich diese Doppelung270 267 „Hat irgendein Buch einen Genius, so ist es dieses.“ (Ebd., S. 162) 268 Menninghaus, Lob des Unsinns, S. 189 f. 269 Hoffmann, E. T. A., Lebensansichten des Kater Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturen, in: ders., Sämtliche poetischen Werke, Sonderausgabe, Bd. 3, Wiesbaden, 1972. 270 Diese These wird etwa in der Hoffmann-Biographie Rüdiger Safranskis vertreten (E. T. A. Hoffmann. Eine Biographie, Hamburg, 1992, S. 437). Auch die politischen, antirestaurativen Anspielungen liegen außerhalb des mich hier interessierenden Themas: der Darstellung ironischer Stilmittel und Techniken im Roman.

VI. (ENT-)BILDUNGSROMANE UND IRONISCHE AUTOBIOGRAPHIE

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lesen denn als Zeichen ironischer Sphärenmischung. Zunächst ist Murr nur ein weiterer allzu belesener Romanheld. So zitiert Murr noch in Todesangst, was der Erzähler „herrlich“ findet: „Wie wenn selbst dieser unschuldsweiße Trank – wie wär es Gift, das er mit schlauer Kunst hier zubereitet, mir den Tod zu geben? […] Herrlicher Murr, selbst in der Todesangst denkst du in Jamben, lässt’s nicht aus der Acht, was du im Shakespeare, Schlegel einst gelesen!“

Sarah Kofman ist in ihrem Kommentar zu dieser Stelle so weit gegangen zu konstatieren, dass „das ganze ‚Leben‘ des Katers, seine gesamte Erfahrung ein einziges literarisches Zitat ist, eine Wiederholung dessen, was er in den Büchern gelesen hat […]. Der Text des Lebens und der der Schrift sind eng miteinander verschränkt.“271

Die Radikalität der Lebensansichten liegt in einer signifikanten Umdrehung und ironischen Höherstellung sprachlicher Formalia über gedankliche Inhalte. Der Herausgeber der 1820 erschienenen Lebensansichten bestimmt die literarische Produktivkraft external: „Wahr ist endlich, daß Autoren ihre kühnsten Gedanken, die außerordentlichsten Wendungen oft ihren gütigen Setzern verdanken, die dem Aufschwunge der Ideen nachhelfen durch sogenannte Druckfehler.“272 Aber noch über diese Stufe einer offensichtlichen Materialisierung von Intertextualität hinaus macht Hoffmann Ernst mit dem Prinzip einer Mischung unterschiedlicher Sphären, vornehmlich derjenigen von realistischer Wirklichkeit und literarischer Phantastik. Denn was Kreisler, dem selber „phantastische Überspanntheit, mit dieser herzzerschneidenden Ironie“273 vorgeworfen wird, schon ahnt, darauf weist Murr später selber direkt hin. „Ja, mein Leser, ich hatte einen Ahnherrn, einen Ahnherrn, ohne den ich gewissermaßen gar nicht existieren würde […], der niemand anders war als der weltberühmte Premierminister Hinz von Hinzenfeldt, der der Welt so teuer, so über alles wert worden unter dem Namen des gestiefelten Katers.“274

Der Kater und seine wilde Ironie, die ständig neue Verbindungen herstellt, um den Verwirrungsgrad immer höher zu schrauben, produzieren eine groteske Textur, die sowohl menschliche Verhaltensformen als auch humanistische Theoreme der Lächerlichkeit preisgibt.

271 So Sarah Kofman (Schreiben wie eine Katze …, Wien, 1985, S. 108), deren Deutung des Kater Murr ich hier in großen Zügen folge. 272 Zit. ebd., S. 69. 273 Hoffmann, Lebensansichten des Kater Murr, S. 62. 274 Ebd., S. 61.

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3. Ironische Autobiographik Aus zwei Gründen findet die Untersuchung des facettenreichen Verhältnisses von Ironie und Roman hier mit der Analyse ironischer Autobiographik ihren Abschluss. Beide lassen sich anhand eines kurzen Texts von Paul de Man verdeutlichen. Die erste Begründung kreist um die auch für biographische Sinnzusammenhänge grundlegende Konstituierung von Bedeutung durch Schreibakte. Wie stellt sich die im vorigen Kapitel beschriebene Genese des Ich aus dem Geist der Ironie nun innerhalb der (autobiographischen) Literatur dar? Was ist deren konstitutive Figur oder Trope? Wie vermögen Texte, jenseits des Problems intertextueller Überlagerungen, Subjekte gestalterisch zu individualisieren? Dies geschieht mittels der „Figur der Prosopopöie, [der] Fiktion der Apostrophierung einer abwesenden, verstorbenen oder stimmlosen Entität […]. Eine Stimme setzt einen Mund voraus, ein Auge und letztlich ein Gesicht, eine Kette, die sich in der Etymologie des Namens der Trope manifestiert: prosopon poiein, eine Maske oder ein Gesicht (prosopon) geben. Die Prosopopöie ist die Trope der Autobiographie.“275

Dass die Bedeutungsgebung der Prosopopöie nicht nur für offenkundig autobiographische Romane gilt, dient als zweite Rechtfertigung, die Untersuchung von ironischen Operatoren im Roman mit der Frage nach der Subjektkonstruktion und nach Individuationsprozessen in autobiographischen Texten zu beenden. Mit de Man lässt sich die Autobiographie nicht einfach als eine Gattung oder spezifische Textsorte verstehen, sondern als „eine Lese- und Verstehensfigur, die in gewissem Maße in allen Texten auftritt“.276 Diese Feststellung variiert die These, dass kein Text im strikten Sinn die traditionellen Ansprüche seines Genres erfüllt. Ermöglichungs- und Verunmöglichungsgrund der Konstitution fester Gattungsgrenzen gehen Hand in Hand. Bei dem hier immer wieder als ironisch verifizierten Paradox handelt es sich um das „jedem Verstehensprozeß eignende Moment der wechselseitigen Spiegelung“, welches „die jeder Erkenntnis, auch der Selbsterkenntnis, zugrundeliegende tropologische Struktur“277 offenbart. Thomas Bernhards Holzfällen – Eine Erregung ist dabei aus mehreren Gründen ein geeignetes Untersuchungsobjekt. Erstens spielt gerade dieses Werk Bernhards virtuos zwischen Autobiographie und Selbstfiktion. Im Gegensatz zu seinen ebenfalls mit fiktionalen Elementen durchsetzten ‚offiziellen‘ autobiographischen Texten ist Holzfällen nicht explizit als autobiographisch deklariert. Trotzdem hat der Roman zum Eklat geführt, weil die Identifizierung einzelner Personen zu offenkundig schien. Zweitens arbeiten sich alle jeweils andere apollinische Zwangsanstalten bewohnenden Helden Bernhards an den zentralen Themen (kultur)bürgerlichen Selbstverständnisses ab. Selbst bei totalem Scheitern ist das 275 De Man, Paul, „Autobiographie und Maskenspiel“, in: ders., Die Ideologie des Ästhetischen, S. 131–146, hier S. 140. 276 Ebd., S. 134. 277 Ebd.

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Thema seiner Romane doch stets ‚Bildung‘. Und drittens unterläuft er einen für die Moderne typischen ‚autobiographischen Pakt‘ (Lejeune)278, die Vorstellung einer Identität des Protagonisten der Autobiographie mit ihrem Verfasser. Speziell die beiden rezenten Prämissen von „Autobiographieberechtigung“ und „Authentizitätserwartung“ werden zugunsten einer intertextuellen Montage künstlerischer und stilistischer Vorbilder (exempla) hintangestellt. 279 Darüber hinaus ist Bernhards Œuvre hier von Interesse, weil es im Gegensatz zu der Mehrzahl der zuvor angesprochenen romantischen und Nachkriegsromane weiterhin einem strengen Modernismus verpflichtet ist, weswegen sich an ihm weitere Facetten ironischen Schreibens aufzeigen lassen. Weder romantische noch postmoderne Phantastik nämlich haben in Bernhards kargen Sujets ihren Platz. Gerade aus seinen reduzierten Beschreibungen aber, aus den endlosen Monologen wie irrwitzigen Dialogen, entwickelt Bernhards Romansprache eine spezifisch groteske Qualität. Ironie als literarische Technik bedeutet bei Bernhard dauernde syntaktische Wiederholungen, welche sich ständig zu gegenseitigen Übertreibungen aufzufordern scheinen.280 Dieses Sprachmoment ist der Eingangsschlüssel in die nur mehr unter ironischen Vorzeichen als autobiographische lesbaren Bernhard-Welten, in denen das Ich sich nur mehr in hyperbolischen Schreibexzessen behaupten und kurzfristig beruhigen kann.

a. Thomas Bernhards Sprachästhetik Der erste Eindruck von Bernhards Romanen ist der einer oft vage als ‚musikalisch‘ apostrophierten Sprache. Den mit sprachmusikalischer Sensibilität ausgestatteten Leser erfasst bei der Lektüre der diversen Wortkaskaden leicht ein Schwindelgefühl. Meist beginnen die jeweiligen Sprachfugen mit zwei oder drei ‚Hauptmotiven‘, also kurzen Behauptungen, die, angereichert durch einige Nebenthesen, in immer anderen Kombinationen während einer Romanszene variiert werden. Immer wieder und in immer schnellerem Tempo, in immer neuen Variationen einer scheinbar seriellen Kombinatorik gehorchend, scheinen sich diese melodisch um eine imaginäre Achse, um ein nicht vorhandenes Zentrum zu drehen. Die Bolero-Referenz aus Holzfällen drängt sich als Analogie auf. Doch der

278 Lejeune, Philippe, Der autobiographische Pakt, Frankfurt am Main, 1994. 279 Vgl. dazu Enenkel, Karl A. E., Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius, Berlin/New York, 2008, S. 2 f. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass das „Verhältnis zwischen dem Anspruch des Selbst- und Fremddokumentarischen (Referenzauthentizität) und dem künstlerischen In-Form-Setzen […] ein seit der Moderne virulentes Dilemma [konstituiert], insofern als Referenzauthentizität autobiografiebegründend ist und durch den Vorgang des In-Form-Setzens der Ereignisse zugleich massiv in Frage gestellt wird.“ (Knaller, Susanne, Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität, Heidelberg, 2007, S. 27.) 280 Zum Thema der Übertreibung vgl. Schmidt-Dengler, Wendelin, Der Übertreibungskünstler. Zu Thomas Bernhard, Wien, 1989.

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Ich-Erzähler in Holzfällen spielt auf einem barock-katholischen Flügel mit einer Klaviatur aus Übertreibungen. Bedient wird sie von einem raunzenden GlennGould-Verschnitt aus Österreich, dessen stupende Technik immer weitere Übertreibungskoloraturen zu produzieren hilft. Eine Überlegung, und sei es die banalste über das Verlieren von Abendhandschuhen, setzt ein, wird ausgebaut und variiert, um schließlich, kurz vor ihrer jeweiligen Demontage, hemmungslos zu einem der unzähligen aberwitzigen archimedischen Erklärungspunkte des Bernhard-Kosmos zu mutieren. „Aber ein solcher Gedanke wird nicht ernst genommen, denke ich, obwohl es doch, wie ich weiß, immer nur solche nicht ernst genommenen Gedanken sind und sein werden, es gibt überhaupt immer nur solche nicht ernst genommenen Gedanken, die die ernsten sind. Wir denken nur mit solchen nicht ernst genommenen ernsten Gedanken, um überleben zu können, denke ich.“281

Nach demselben Muster steigert sich der allen Anwesenden unverständliche, titelgebende Ausbruch des betrunkenen Schauspielers: „Wald, Hochwald, Holzfällen“ – immer ist es ein Radikalschlag, der einem Spasmus ein Ende setzt und dann einen neuen Anlauf zu wieder anderen Erinnerungen und immergleichen Gedanken ermöglicht. Bernhards Artifizialitätsspasmen enden häufig mit einem geradezu existenziellen Moment. „Was suche ich in dieser Gesellschaft“ – der unvermittelte Folgesatz zu obigem Zitat ist solch ein Moment und zugleich eine weitere zentrale Frage des Textes. Mikrostrukturell ist bei Bernhard jeder Zeile ein Wissen eingeschrieben, welches der Ich-Erzähler nur kontrapunktisch einzuschieben vermag. „Um uns aus einer Notsituation zu erretten, denke ich, sind wir selbst genauso verlogen wie die, denen wir diese Verlogenheit andauernd vorwerfen […]; wir sind überhaupt um nichts besser, als diese Leute, die wir andauernd nur als unerträgliche und widerliche Leute empfinden, […] und sind selbst um nichts weniger unerträglich und widerwärtig und sind vielleicht noch viel unerträglicher und widerwärtiger als sie, denke ich. Ich habe zur Auersberger gesagt, daß ich froh bin darüber, die Verbindung zu ihnen, den Eheleuten Auersberger, wieder aufgenommen zu haben“.282

Diese unerwarteten Übergänge, abrupten Wechsel erklären sich aus den für Bernhards Romanwelten typischen (residual karnevalistischen) Ausschweifungen und disjunktiven Vereinigungen von Entgegengesetztem. In seinen Sprachkunststücken hat der melodiöse Charakter einzelner Thesen, Weltanschauungen oder Vorwürfe den Vorrang vor den sie vertretenden oder betroffenen Personen. Auch die Personen stehen in einem grundsätzlich musikalischen Verhältnis zueinander, als Einsatzwortgeber oder kontrapunktische Kontraste. Entweder– oder, sie oder wir: Entweder

281 Bernhard, Thomas, Holzfällen. Eine Erregung, Frankfurt am Main, 1984, S. 139. 282 Ebd., S. 315 f.

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„wir entkommen ihnen und machen sie herunter, verleumden sie, verbreiten Lügen über sie, dachte ich, um uns zu retten, verleumden sie, wo wir nur können, um uns aus ihnen zu erretten, laufen ihnen um unser Leben davon und bezichtigen sie überall, sie hätten uns auf dem Gewissen. Oder sie entkommen uns und verleumden uns und bezichtigen uns, verbreiten alle möglichen Lügen über uns, um sich zu erretten“.283

Ein anderes Beispiel ist der stets wiederholte Vorwurf, nicht aus Wien weggegangen zu sein, ein Vorwurf als Funktion, frei zur jeweiligen Variation, eine mediale Waffe in der Hand beliebiger Personen, auf textueller Ebene jedoch eher Anlass zu einer allgemeinen Selbstdestruktion. Was letztlich jeder jedem an den Kopf wirft284, verliert an inhaltlicher Bedeutung. Wo alle am Grab der von allen285 verratenen Freundin Joana im Mittelpunkt stehen wollen, bewahrt einzig der Text eine avancierte Übersicht. Diese entspricht der Einsicht, dass kein Vorsprung möglich ist. Auch gibt es keinen Romanmittelpunkt. Der unappetitliche Neid der Romanprotagonisten untereinander und ihr lächerlicher Hass aufeinander belegen ihre Inferiorität noch vor irgendeiner bestimmten Beschuldigung. Der Text Holzfällen fällt sein Urteil über Personen und Einzelmeinungen auf seine Weise. Aus dem Mund des besoffenen Auersperger werden etwa die von Bernhardinern als grundsätzliche kulturanthropologische Weisheiten gelesenen Spanienklischees des Bauernbündlers Thomas Bernhard als diejenigen Banalitäten erkennbar, die sie sind. Die Antwort des Autors auf die Frage nach dem ‚Warum‘ der vernichtenden Äußerungen über den sonst doch geschätzten Pianisten Friedrich Gulda ist Legende: „Ta-tam, ta-ta-tam … wird sich wohl mit dem Rhythmus besser ausgegangen sein.“ So erscheint Auerspergers typischer Bernhard-Satz „Die Menschheit gehört ausgerottet“ dem Ich-Erzähler wenig originell – immerhin skandiert dieser aber „als Musiker mit exakt-mathematischer Rhythmisierung“.286 Und selbst was der den zweiten Teil des Romans beherrschende Schauspieler über den Prado sagt, macht ihn nicht zum alter ego seines Autors. Auch er ist nur eine weitere Sprachmaske des Romans. So lässt der Roman Personen und Meinungen auftreten, ja gegeneinander antreten. Szenen, immer nur Szenen, und dass es in seinen Romanen fast nur Sprachszenen sind, macht das Spezifikum Thomas Bernhards aus. Besonders Holzfällen ist bevölkert von einer Vielzahl kleiner Thomas Bernharde, die alle dieselbe Sprache sprechen und analoge Anschuldigungen in analogem Sprachduktus vorbringen. Der strahlend einsame Held in Bernhards Romanen ist so gesehen die Sprache selbst. Alle, noch die intimsten Feinde der jeweiligen Ich-Erzähler, sprechen dieselbe Bernhard-Sprache. Allen hat sich dieser Schreibstil und der aus ihm resultierende Denkstil aufgezwungen. Das Kriterium dieser literarischen Ethik lautet, ob man sich selbst pro283 Ebd., S. 162. 284 Nur „weil sie sich in Grinzing angekauft haben […], deshalb sagt Ihnen das Theater schon so lange Zeit nichts mehr, sagte die Jeannie zum Burgschauspieler“, nachdem ihr zuvor seitenlang vom Ich-Erzähler Ähnliches vorgehalten worden ist (ebd., S. 282). 285 Das gilt auch für den Ich-Erzähler; vgl. ebd., S. 220. 286 Ebd., S. 247 f.

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sopopöisch ein Gesicht zu geben, sich immer wieder in Reflexionen über andere zu (er)spiegeln vermag, statt in deren Projektionen unterzugehen, ob es gelungen ist, sich mittels Sprachmasken eigenständig und nachahmenswert zu konstruieren oder nicht.

b. Es lebe der Tod – Romankunst und Leben „Dachte ich“, „denke ich“, „im Ohrensessel sitzend“, lauten die typischen Formeln in Holzfällen. Die Kunst des Romans ist auch die Kunst der indirekten Rede. In einer Welt, in der es keine direkte Bedeutung gibt, ist jeder der ironische Schauspieler seines Seins, ‚weder ganz Seiender noch Schauspieler‘. Im zweiten Teil des Romans ist es dann ein wirklicher Schauspieler, der das Wort ergreift, die Sprache aufgreift, aber wiederum nur im Medium der Bernhard’schen Romansprachenmaschine gedrechselte Sätze hervorbringt. Die dialogisch verfassten Monologe von Thomas Bernhards Ich-Erzähler sind parekbatische Drahtseilakte, die eine ästhetische Distanz produzieren, welche der Identifikation mit Inhalten und Protagonisten zuwiderläuft oder zumindest deren Künstlichkeit exponiert. „[I]ch bin nicht in Wahrheit und in Wirklichkeit hier bei ihnen in der Gentzgasse, sondern ich spiele ihnen nur vor […]. Ich habe ihnen immer alles vorgespielt, sagte ich mir.“287 Was bis jetzt noch irgendwie als Bekenntnis eines belanglosen Lügners gelesen werden könnte, wird in der strengen Konsequenz von Bernhards Sprachmühle zu einer luziden Selbstreflexion eines Romans. „Ich habe ihnen immer alles vorgespielt, sagte ich mir. Ich habe allen alles immer nur vorgespielt, ich habe mein ganzes Leben nur gespielt und vorgespielt, sagte ich mir auf dem Ohrensessel, ich lebe kein tatsächliches, kein wirkliches, ich lebe und existiere nur ein vorgespieltes, ich habe immer nur ein vorgespieltes Leben gehabt, niemals ein tatsächliches, wirkliches, sagte ich mir, und ich trieb diese Vorstellung so weit, dass ich schließlich an diese Vorstellung glaubte. Ich atmete tief ein, und sagte mir und zwar so, dass es die Leute im Musikzimmer hören mussten, Du hast nur ein vorgespieltes Leben, kein wirkliches gelebt, nur eine vorgespielte Existenz, keine tatsächliche, alles, was dich betrifft und alles, das du bist, ist immer nur ein vorgespieltes, kein tatsächliches und kein wirkliches gewesen.“288

Der Ich-Erzähler bricht in der Folge diese nicht lebbare Reflexion ab, „um nicht verrückt zu werden“.289 Doch sie lebt weiter im Roman, ja sie ist der Roman. In Holzfällen feiert sich, reflektiert sich, potenziert sich eine eigene künstlerische Welt, in Abgrenzung zu den scheinbaren Tatsachen. Ironisch wie die Höherpotenzierung ist auch noch der ironische Abbruch der Reflexion. Wenn es so etwas wie das oben diskutierte ‚Bewusstsein des Wahnsinns‘ gibt, dann als Einsicht in die der Ironie eigene paradoxe Un-Möglichkeit. Bei diesem Bewusstsein von 287 Ebd., S. 105. 288 Ebd., S. 105 f. 289 Ebd., S. 106.

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Wahnsinn handelt es sich um jene bereits mehrfach berührte Unvernunft, Kants den methodischen und formalen Gesetzen des Denkens nicht widersprechende Verrückung. Hier kann eine zu Beginn des Kapitels (bei Lukács) berührte ethische Dimension ironischer Literatur in anderer Bedeutung wiederauf genommen werden. Vergangenes neu zu formulieren – wie es auch in Holzfällen versucht wird –, kann der ‚ethische Imperativ literarischer Ironie‘ genannt werden. Jeder Neuheitsanspruch ist, auch noch in dem Wissen um seinen Schein, ein ästhetischer. Darum ist auch nicht notwendig von einem Gelingen Thomas Bernhards selbst zu sprechen; dem zeitweisen Triumph der Romane entspricht die Identifikation der Überwältigten mit den autofiktiven Protagonisten. Das kann abschließend an Bernhards dandyistischer Beerbung diverser Aristokratismen gezeigt werden. Nur ästhetisch lassen sich diese rechtfertigen. Ein dem Faubourg Saint-Germain in seiner Funktion für den Roman nicht unähnliches Personeninventar bevölkert auch den Salon der Auerspergers. Holzfällen ist selber eine Suche nach einer verlorenen Zeit. Nach langer Zeit treffen sich alle wieder im Salon, wobei es anders als in Prousts wiedergefundener Zeit nicht bei ein paar verrutschten Perücken bleibt, sondern Bernhard ein mitternächtliches Ess- und Trinkgelage in grotesken Farben zeichnet. Auch die Auerspergers, wie schon die Verdurins, „[e]rschöpften sich als Aristokraten-Kopisten in ihrem Aristokratenfimmel […]. Gaben sich den Künstleranschein, dachte ich, und waren doch nur Kleinbürger.“290 Holzfällen sagt also die Wahrheit noch über Bernhards eigenes lächerliches Aristokratenfaible. Dieses folgt weniger einem utopischen Ideal herrschaftsfreier Kommunikation und von ökonomischen Zwängen entlasteter Umgangsformen denn einem gewalttätigen ironischen Pathos der Distanz: sich als selbstdisziplinierende Maßnahme überall unbeliebt zu machen. Ob es dieser exorzistischen Grobheit gelingt, sich ein klein wenig von der eigenen kleinbürgerlichen Gefallsucht zu distanzieren, bleibt dahingestellt. Im Gesellschaftsroman sind die unterwürfigen Reverenzen an die Aristokratie jedenfalls nur dann nicht peinlich, wenn sie sich auf textueller Ebene selbst zerstören. Der beste Aktant dieses alles aufhebenden Romanzustands ist der Burgtheaterschauspieler, der gerade aus einer Vorstellung von Ibsens Wildente kommt. Die intertextuelle Referenz ist eine leere Allegorie. Gerade die selbstzerstörerische Aufklärungssucht bedeutet dem Schauspieler wenig. Es hat alles nichts zu bedeuten. Ähnlich verhält es sich mit der intertextuellen Anspielung auf Stifters Erzählung Hochwald.291 Auch dessen Beschaulichkeiten werden gefällt. Der Auftritt einer Horde gebildeter Idioten macht den Bildungsroman kaputt. Nicht im Widerspruch zum stolzen Vierkanthofbesitzer Thomas Bernhard steht Holzfällen somit, sondern als Roman spielt er schlicht auf einer anderen Ebene.

290 Ebd., S. 169. 291 Allgemein zu den unzählbaren intertextuellen Montagen, vor allem in den Theaterstücken, vgl. Klug, Christian, Thomas Bernhards Theaterstücke, Stuttgart, 1991.

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Woher rührt aber die groteske Übertreibungskraft des Romans, woher stammt die plötzliche „Erregung“, welche der Untertitel des Romans anzeigt? Alfred Pfabigan hat in einer aufschlussreichen Studie zum „österreichischen Weltexperiment“ auf die homosexuelle Konnotierung der Berufsgruppe Holzfäller in Bernhards Œuvre hingewiesen und eine mögliche homoerotische Bindung Bernhard/Lampersperger (Ich-Erzähler/Auersperger) evoziert.292 Hier interessieren jedoch ausschließlich die ästhetischen Aspekte dieses Vatermords an der Avantgarde wie auch an Stifters altväterischem Hochwald.293 In Holzfällen wird Stifters Konzeption des Bildungsromans gekappt. Kein die Lehrjahre des Jünglings leitender Meister wird mehr akzeptiert. Nicht wenig vom Hochmut des Siegers mag in der Arroganz Bernhards durchscheinen. Da ist einer weggegangen, statt unterzugehen. Da ist einer in England und Deutschland etwas geworden, während die anderen es sich als lokale Avantgardisten recht gemacht haben in der Heimat. Die sanfte Verzweiflung in dem Versuch, sich aus ihnen zu erretten, musste den Wiener Lokalmatadoren entgehen. Dass es letztlich ein todkranker Erzähler ist, der da als Sieger erstrahlt, das gibt dem Text eine Milde, welche ihn von einer simplen Abrechnung unterscheidet. Schon bei Proust waren die Zeichen der Kunst aufgeladen mit denen homoerotischer Geistesbildung. Woran scheitert Swanns ebenfalls nie vollendete Studie über Vermeer, dessen malerische Ästhetik umgekehrt die Recherche literarisch zu inkorporieren vermochte? Woran scheitern all die lächerlichen Universitätsprofessoren, woran noch die späten Journalisten in Bernhards Œuvre mit all ihren möglicherweise auch vollendeten Kleinstudien über Mendelssohn-Bartholdy oder andere austauschbare Sujets? Woran lässt sich, aus Sicht des Romans, ihr Scheitern schon im Ansatz erkennen? Daran, dass sie klein sind. Klein nicht unbedingt an Umfang, aber in ihrem Anspruch; klein angesichts des übermenschlichen Willens des Romans, eine eigene Welt zu erschaffen. So lautet der literarischem Schreiben eigene ethische Imperativ. Auch Bernhards hilflose provinzielle Invektiven gegen die experimentelle Avantgarde verlangen eine prosaische Lektüre. Die banale Fehllektüre der lyrischen Mikrokosmen Weberns (in Gestalt ihres Nachkriegsadepten Auersperger) weisen dabei die Richtung. Weil diese einer Prosaisierung der Welt diametral entgegenstehen, verfallen sie der Romankritik. Deswegen eröffnet sich die Möglichkeit einer ethischen Lektüre von Romanen erst auf dem Fundament einer ethischen Ästhetik der Prosa. Der Roman ist so als Testfall in doppeltem Sinn zu verstehen. Nicht wenige hat das ästhetische Sprachkunstwerk Holzfällen in seine Welt gezogen und damit auch seine Kriterien aufgezwungen. Der Triumph 292 Pfabigan, Alfred, Thomas Bernhard. Ein österreichisches Weltexperiment, Wien, 1999. 293 „Stifter, der den geistlosen und kopflosen Kitsch in die große und hohe Literatur eingeführt und der mit einem kitschigen Selbstmord geendet hat, ist jetzt höchste Mode, sagte Reger. Es ist gar nicht so unverständlich, daß jetzt, wo das Wort Wald und das Wort Waldsterben so in Mode gekommen sind und überhaupt der Begriff Wald der am meisten gebrauchte und mißbrauchte ist, der Hochwald von Stifter so viel gekauft wird, wie noch nie.“ (Bernhard, Thomas, Alte Meister, Frankfurt am Main, 1988, S. 86.)

VI. (ENT-)BILDUNGSROMANE UND IRONISCHE AUTOBIOGRAPHIE

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Thomas Bernhards ist deswegen aber nicht sein persönlicher. Es ist der Triumph seiner Romane, eine eigene Welt, ein eigenes virtuelles Paralleluniversum errichtet zu haben. Das notwendige Scheitern aller anderen in einem Bernhard-Roman ist darin begründet. Keiner der anwesenden Schriftsteller wird diese Welt beschreiben, Auersperger wird sie nicht vertonen und seine Frau nicht ihr Hohelied singen. Der Triumph ist ein literarischer – des Romans. Sich keine eigene Erinnerung geschaffen zu haben, bedeutet, sich nicht erinnert zu haben. Das ethische Vergehen lautet, seine Vergangenheit nicht auf sich genommen zu haben. Wer sich nicht schöpferisch aus der Virtualität gestaltet, wird sich nie befreien. Wie in Swanns ästhetizistischer Verkennung Odettes (als Nachleben der Madonna Giottos) gehen ästhetische Unwissenheit und ethische Kraftlosigkeit Hand in Hand. Wer nichts aus sich macht, findet sich eines Tages als Abbild, als eigene Totenmaske im fremden Roman wieder. Wer sich nicht neu erzählt, der wird nacherzählt und stirbt. Deswegen ist Auersperger ein unlebendiger Epigone, nicht einfach weil er musikalisch in der Webern-Nachfolge steckengeblieben ist. Auch von dieser Warte aus ist das Thema von Holzfällen der Tod, sind die Objekte der Erinnerung tendenziell immer schon mortifiziert. Schockhaft setzt die trauernde memoria ein und findet nur so die Verlorenen wieder. Mit dem Tod der Joana beginnt die Suche des Erzählers an deren Grab. Nur vordergründig sucht dieser am „Graben“, der einst noblen Wiener Einkaufsstraße, das Ehepaar Auersperger. Im Salon, und schon am Friedhof, findet er seine Vergangenheit – und findet sie doch nicht. Alle sind gekommen: Vater Mentor, die geliebte Mäzenatenmutter, Brüder und Schwestern im Geiste. Doch die Erinnerung an halbnackte Joanas und Jeannies in diversen Betten ist eine an Tote, und seien diese auch noch am Leben. Die zu Papier gebrachte Erinnerung von Holzfällen – Eine Erregung konserviert ihren Gegenstand und hält so eine Vergangenheit lebendig. Dies geschieht freilich um den Preis der Mumifizierung ihrer Protagonisten. Wer sich nicht erinnert, wird erinnert. Nicht die Masken sind es, die töten. Vielmehr beschreiben diese die – hier immer wieder in ihrer ironischen Logik nachgezeichnete – doppelte Richtungsbewegung. Im Zusammenhang der Autobiographie ging es dabei um „Geben und Nehmen von Gesichtern, um Maskierung und Demaskierung, Figur, Figuration und Defiguration“.294 Auch Holzfällen ist also eine Auslöschung, ein ef-facement der anderen Art.

294 De Man, Die Ideologie des Ästhetischen, S. 140.

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D. ROMAN – MODERNE – IRONIE

E. IRONISCHE POLITIKEN E. IRONISCHE POLITIKEN E. IRONISCHE POLITIKEN

„[W]enn man in Kant die terroristische Konvention und in Fichte das napoleonische Kaiserreich sieht, so sieht man in Herrn Schelling die restaurierende Reaktion, welche hierauf folgte.“ Heinrich Heine1

Keinesfalls nur aus Gründen scheinsystematischer Vollständigkeit ist ein Kapitel vorliegender Studie ironischen Reflexionen im Feld des Politischen gewidmet. Vielmehr zeigt sich, dass die als ironisch herausgearbeiteten Paradoxien der Moderne auch deren politische Reflexionsstrukturen auf eigentümliche Art prägen. Eine Phänomenologie des ironischen Geistes der Moderne muss sich auch für die historischen Verschiebungen innerhalb derselben interessieren. Vorab lässt sich dazu konstatieren: Im 20. Jahrhundert ist Ironie in dem Maße auch als politisches Phänomen zu verstehen, wie sie im 19. unter moralischen Auspizien beurteilt wurde. Dazu kommen wiederum sprachphilosophische Grundbedingungen, welche nicht allein politische Thesen über Ironie betreffen, sondern auch die zuerst von Hannah Arendt in aller Deutlichkeit betonte sprachliche Verfasstheit der politischen Sphäre2, also die Möglichkeiten politischer Rede und Diskursivierung überhaupt. Die jeweiligen sprachpolitischen Voraussetzungen werden unter anderem an politischen Theoremen aus dem Umkreis des französischen strukturalistischen Postmarxismus, des amerikanischen pragmatischen Liberalismus bzw. Kommunitarismus sowie der deutschen Systemtheorie aufzuzeigen sein. Historischer Ausgangspunkt ist auch hier fast selbstverständlich die Französische Revolution, die als welthistorisches Ereignis den Denkhorizont nicht nur der auf sie folgenden Jahrhundertwende bestimmte. Neben dem bereits diskutierten Wilhelm Meister Goethes und Fichtes Ich-Begriff hatte sie schon der Zeitgenosse Friedrich Schlegel als die dritte Tendenz seines neuen Zeitalters bestimmt und dieses politische Ereignis von der Problematik unendlicher Freiheit her gedacht. In seinem von Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ inspirierten „Versuch über den Begriff des Republikanismus“ von 1796 zeichnet er Freiheit in romantischen Zügen. „Die bürgerliche Freiheit ist eine Idee, welche nur durch eine ins Unendliche fortschreitende Annäherung wirklich gemacht werden kann.“3 Postrevolu01 Heine, Heinrich, Zur Geschichte der Religion und Philosophie, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 169. 02 Arendt, Vita Activa, S. 10: „Wo immer es um die Relevanz der Sprache geht, kommt Politik notwendigerweise ins Spiel; denn Menschen sind nur darum zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind.“ 03 Schlegel, Friedrich, „Versuch über den Begriff des Republikanismus“ [1796], in: ders., Sta, Bd. 1, S. 51–61, hier S. 52.

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tionär ist der Romantiker Schlegel somit nicht einfach in dem Wissen um das Nicht-Gelingen der Revolution. Die Erfahrung einer jüngeren Generation, welche die Hoffnungen zu Beginn der Französischen Revolution nur bedingt miterlebte, bringt vielmehr eine Perspektivänderung des Prinzips Hoffnung selbst mit sich. Nicht mehr heftet sich diese an ein singuläres geschichtliches Ereignis, welches über das Schicksal der Menschheit entscheiden könne, sondern das Prinzip Hoffnung selbst wird prozessualisiert: Freiheit wird bürgerlich, wird Idee. 1796 jedenfalls steht das utopische Konzept ‚Idee‘ – nicht anders als die ideale Utopie – noch nicht im Zeichen seiner Selbstauflösung, sondern eben am Horizont unendlicher, sehnsuchtsvoller Annäherung. Endgültig aufgestoßen, weil demokratisiert, wurde der Raum des Politischen nach Machiavelli und der Souveränitätsdebatte des 17. Jahrhunderts erst mit der Französischen Revolution. Zugleich erweist sich dieser neu gewonnene Raum als ein unendlicher, dessen mangelnde soziale Definiertheit Gefühle von Unfreiheit evoziert. Gegen die Möglichkeit der Unwirklichkeit von Freiheit setzt Schlegel einen kategorischen Imperativ praktisch-politischer Philosophie. In den Worten der Republikanismusschrift: „[D]as Ich soll sein; lautet in dieser besondern Bestimmung: Gemeinschaft der Menschheit soll sein, oder das Ich soll mitgeteilt werden. Diese abgeleitete praktische Thesis ist das Fundament und Objekt der Politik“.4 Dem selbst schon fragwürdigen Ich soll mittels ebenso prekärer indirekter Mitteilung der Schritt zur intersubjektiven Vereinigung gelingen. Nicht anders wird Hans Kelsen später „Mitteilbarkeit der Willensbildung, die Tatsache, daß der staatliche Wille nicht unmittelbar durch das Volk selbst, sondern durch ein allerdings vom Volke geschaffenes Parlament erzeugt wird“5, als entscheidendes Element von Demokratie analysieren. Was oben am Subjekt als grammatische Leerstelle analysiert wurde, findet hier sein politisches Pendant. Analog dem vollen Subjekt als psychotisch-unbeweglichem ist auch die geschlossene Gesellschaft totalitär. Jenseits der psychotischen Totalisierung bleibt die Frage nach der Selbststeuerung des Gesellschaftssubjekts und damit zusammenhängend diejenige nach seiner strukturierten Selbstdarstellung. Gegen Kant, dem demokratische Volkssouveränität unter Despotismusverdacht zu stehen schien, zielt Schlegel, wie nach ihm Kelsen, auf ‚Repräsentation‘. 04 Ebd., S. 53; gleichlautend später: „Der Staat soll sein, und soll republikanisch sein“ (ebd., S. 58). Selbstverständlich ist damit nur eine der politischen Positionen Schlegels benannt, dessen Festschreibung auch auf politischem Gebiet, wie sich zeigen wird, schwierig bis unmöglich ist. Jan Niklas Howe hat dies in seiner Magisterarbeit (Ornament und Politik. Zum Verhältnis von Beiwerksästhetik und Staatstheorie der deutschen Frühromantik, Magisterarbeit, FU Berlin, 2007, S. 27) folgendermaßen zugespitzt: „Friedrich Schlegel auf eine einheitliche, sein gesamtes Werk durchziehende politische Position festzulegen, ist ohnehin kaum möglich: Zwischen den frühen Versuchen, Kantisches Gedankengut republikanisch zu radikalisieren, und den eschatologischen Entwürfen zu einer katholischen politischen Theologie, um die die unablässige Arbeit an den Fragmenten zu Geschichte und Politik kreist, findet ein so vollständiger Sinneswandel statt, dass von jungem und altem Schlegel als ein und demselben Theoretiker der Politik zu reden schlicht unsinnig erscheint.“ 05 Kelsen, Hans, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen, 1981, S. 29.

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„Wie Kant also den Begriff der Volksmajestät ungereimt finden kann, begreife ich nicht.“ Die „Volksmehrheit“ sei „das einzige gültige Surrogat des allgemeinen Willens“6, dekretiert er gegen den großen Aufklärer. Mittels Repräsentation stellt sich jedenfalls für Schlegel die republikanische Gesellschaft in jener differenzierten Einheit dar, welche zur demokratischen Gewaltenteilung notwendig ist. Wie so oft finden wir auch hier einem Text Schlegels ein (ästhetisches) Misstrauen gegen sich selbst eingeschrieben. In diesem Fall wird den eigenen Kategorien ein fiktiver oder Surrogatcharakter zugeschrieben: „Form der Fiktion und die Form der Repräsentation.“7 Wo der Glaube an revolutionäre Demokratie verschwunden ist, bedarf es also auch politiktheoretisch fiktiver Stützungen der Realität. So wie sich ‚Ästhetisierung‘ als Konstitutionsbedingung erwiesen hat, so zeigt sich – „Politik ist eine Fiktion“ (Eva Horn) – Fiktionalisierung schon im Herz der Politik.8 Diese von Schlegel unaufgelöste Spannung bleibt auch bei späteren Theoretikern bestehen. Mit neukantianischer Klarheit hat Hans Kelsen diesbezüglich die Funktion der „demokratische[n] Ideologie der Freiheit“ darin gesehen, die „Illusion der in der sozialen Wirklichkeit unrettbaren Freiheit aufrecht zu erhalten“.9 ‚Surrogat‘, ‚Volksmehrheit‘, ‚Illusion‘ und letztlich ‚Repräsentation‘ lauten von Schlegel über Kelsen bis in die späteren Debatten die zentralen Metaphern immer dort, wo das kantische, spezifisch aufklärerische Erbe missverstanden und verfehlt wird; oder vorsichtiger ausgedrückt: wo dieser aufklärerische Optimismus nicht mehr geteilt wird. Als Gemeinsamkeit der hier zu analysierenden Positionen wird sich nicht zuletzt eine vorschnelle Übernahme der abstrakten Gegenüberstellung von Formalem und Materialem zeigen.10 Dagegen hat Ingeborg Maus die „Einheit von materieller und formeller Komponente des frühbürgerlichen Rechtsstaatverständnisses […] bei Kant“ zu explizieren vermocht. Dieses hat den „präzisen Sinn, daß die materielle Komponente überhaupt nur als formelle existiert“.11 Analog obiger Diskussion von Theorien Jacques Rancières werde ich in der Folge vorschlagen, auch Kants Rechtstheorie als spezifisch ‚formateriale‘12, nicht als 06 Schlegel, „Versuch über den Begriff des Republikanismus“, S. 58. 07 Ebd., S. 56. 08 Horn, Eva, Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt am Main, 2007, S. 35: „Politik ist eine Fiktion in dem Sinne, dass ihre Verlautbarungen und Legitimationen, ihre Selbstrepräsentationen und -verortungen immer nur die eine präsentable Variante unter mehreren plausiblen, ebenso möglichen aber vielleicht nicht so opportunen Versionen eines Geschehens ist.“ 09 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 78. 10 Das gilt auch für die jeweiligen historischen Analysen. Bestes Beispiel hierfür ist das von demokratischen Juristen wiederaufgegriffene Selbstverständnis des NS-Staats als eines materialen (auf ‚Werten‘ beruhenden) Rechtsstaats gegenüber dem formalen Gesetzesstaat der Weimarer Republik. 11 Maus, Ingeborg, „Entwicklung und Funktionswandel in der Theorie des bürgerlichen Rechtsstaates“, in: dies., Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, München, 1986, S. 11–82, S. 14. 12 Zu einer philosophischen Diskussion dieses Begriffs, dessen politischen Einsatz ich hier ansatzweise zu entwickeln versuchen werde, vgl. Kap. G. „Metaphysische Entgrenzungen“.

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formalen Aspekten entgegengesetzt materielle zu lesen. Dem entspricht die kantische Vermittlung der beiden Glieder des vermeintlichen Gegensatzpaares von Naturrecht und normativem positivem Recht in „einem Schema reflexiver Legitimation […], in dem die Rechtfertigung positiver Rechtsinhalte von der vorausgehenden Rechtfertigung prozeduralen Rechts abhängt“.13 Während die Berufung auf ein hypostasiertes Naturrecht stets zu dessen dezisionistischer Verwertung zu Legitimationszwecken tendiert, markiert für Ingeborg Maus „Kants politische Philosophie die historische Zäsur […], in der die Legitimationsprinzipien der Gesellschaft auf einen prozessualen Typus umgestellt werden“.14 Dass wir uns selbst bei einem so aufrechten Demokraten wie Kelsen auf dem schon bekannten postkantischen Gebiet paradoxer Simulationen befinden, das verweist auf die auch politikwissenschaftliche Relevanz von Ironie. Deshalb soll politische Ironie im ersten Abschnitt („Drei politische Reflexionen um Ironie“) in ihren unterschiedlichen Beschreibungsvarianten und Ausformulierungen analysiert werden. Zunächst sind das drei Varianten von politischem postfoundationalism (Postmarxistische Ironie, Systemtheoretische Ironie des Staates, Carl Schmitt), die im weiteren Verlauf dann noch um einen Exkurs zu „Liberalismus und Kommunitarismus“ erweitert werden. Noch vor der Analyse der Produktivität der drei zu Beginn rhetorisch-philosophisch ermittelten Logiken steht dabei der Nachweis der ironischen Matrix auch der politischen Diskurse der Moderne im Vordergrund; und zwar auch dort, wo nicht explizit von Ironie die Rede ist, sondern nur deren implizite Logiken zum Vorschein kommen. Stets handelt es sich um den Nachvollzug verschiedener Beschreibungen und Ausformulierungen im Anschluss an eine gemeinsame (kantische) Ausgangsebene. Im zweiten Teil des Kapitels („These und Antithese“) werden dann die zahlreichen expliziten politikwissenschaftlichen, historischen und theoretischen Belege zu konservativer oder reaktionärer politischer Ironie einerseits, progressiven oder subversiven Positionen ironischer Politik andererseits antithetisch gegenübergestellt. Statt einer Auflösung, statt eines endgültigen Urteils oder einer Entscheidung über die politische Ironie sollen in einem dritten Teil („Kafkas Gesetzeslogik“) anhand von Kafkas humoristischen und grotesken Erzählungen und Romanen die Bedingungen der Möglichkeit solcher (politischen) Entscheidungen per se hinterfragt werden.

13 Maus, Ingeborg, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant, Frankfurt am Main, 1994, S. 161. 14 Ebd., S. 23.

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I. DREI POLITISCHE REFLEXIONEN UM IRONIE

I. DREI POLITISCHE REFLEXIONEN UM IRONIE

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I. DREI POLITISCHE REFLEXIONEN UM IRONIE

„Die Ironie der Politik ist so alt wie diese selbst; es gibt sie, wo immer es Politik gibt. Keine Politik entgeht der Ironie, jede ist ihr ausgesetzt. Aber nicht jede Form oder Gestalt der Politik ist ihr ausgeliefert. Was die verschiedenen Formen und Gestalten der Politik unterscheidet, ist, wie sie der Ironie begegnen, wie sie sich zu der Ironie der Politik verhalten.“

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Christoph Menke

1. Postmarxismus Dass die politische Moderne untrennbar mit der Erfahrung demokratischer Revolution verbunden ist, diesen historischen Befund teilen die in der Folge diskutierten Autoren über alle sonstigen Differenzen hinweg. Zwei Sätze Claude Leforts können dabei als Ausgangspunkt dienen. „Du point de vue politique, le procès de la modernité est le procès de la démocratie“16, und der „lieu du pouvoir“, was freilich nicht heißt: derjenige des Politischen selbst, „devient un lieu vide“.17 Im Gegensatz dazu war monarchische ‚Macht‘ im leiblichen Körper des Königs präsent und konnte sich im Falle von dessen Tod sofort im Körper des Prinzen inkorporieren. Prinzipiell anders ist die exemplarisch von Foucault beschriebene moderne Erfahrung von Macht. Der Ort der Macht wird, wiederum in den Worten Leforts, „infigurable“, weil mit der Dekapitation eine „désincorporation“ vor sich ging. Postrevolutionär fällt auch der Glaube an die einfache Revolution. 15 Menke, „Von der Ironie der Politik zur Politik der Ironie“, S. 19. 16 Lefort, Claude, „Hannah Arendt et la question du politique“, in: ders., Essais sur le Politique, Paris, 1986, S. 59–72, hier S. 71. 17 Lefort, Claude, „Les droits de l’homme et l’État-providence“, in: ders., Essais sur le Politique, S. 17–30, hier S. 27. In der Folge Leforts und Marcel Gauchets vgl. dazu auch Rödel, Ulrich, Frankenberg, Günter und Dubiel, Helmut, Die demokratische Frage, Frankfurt am Main, 1989. – Rancière hat Lefort in diesem Punkt widersprochen. „I don’t think the place of power is empty. Unlike Claude Lefort, I don’t tie democracy to the theme of an empty place of power. Democracy is first and foremost neither a form of power nor a form of the emptiness of power, that is, a form of symbolising political power“ („Politics and Aesthetics. Interview with Peter Hallward“, in: Angelaki 8, 2003, S. 191–212, hier S. 199). Aber auch am Fluchtpunkt von Rancières Demokratieprinzip, darauf hat Juliane Rebentisch mit Blick auf Das Unvernehmen hingewiesen, zeigt sich eine Leere. Wie die „Mitteilbarkeit der Sprache nie als solche erscheinen kann, ist die unbedingte Gleichheit aller sprechenden Wesen, die auf ihr basiert, Fluchtpunkt aller demokratischen Politik. Sie ist denn auch bei Rancière weder ein positiver Begriff noch ein als solcher zu realisierender Zustand – sie ist notwendig leer.“ (Rebentisch, Juliane, „Zur Unterscheidung von Politik und Politischem“, in: Techniken der Übereinkunft. Zur Medialität des Politischen, hrsg. v. Hendrik Blumentrath u. a., Berlin, 2008, S. 99–112, hier S. 111.)

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Dass es mit dem Abschlagen des Kopfes des Königs getan sei, können die Nachrevolutionäre nicht mehr hoffen. Macht wird diffus und konstituiert immanent alle sozialen Beziehungen, welche der Substanzialität verlustig gegangen sind. „[N]i l’Etat, ni le peuple, ni la nation ne figurent des réalités substantielles. Leur représentation est elle-même dans la dépendance d’un discours politique et d’une élaboration sociologique et historique toujours liée au débat idéologique.“18

‚Ni la classe‘, kann obige Aufzählung im Sinne der Konzeption von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe ergänzt werden. Aus deren postmarxistischer Sicht wird – ob aus historischen oder theoretischen Gründen, kann hier nicht diskutiert werden – ein polarer Klassenantagonismus, welcher letztendlich zu einer Entscheidung führen muss19, durch die Einsicht in die Multiplizität antagonistischer Kräfte abgelöst. Im Gegensatz zu einem orthodoxeren marxistischen Ansatz, in dem die Leere selbst nur der Effekt eines Antagonismus, quasi der Kreuzungspunkt unvermittelter ökonomischer Positionen ist, besitzt das Proletariat bei Laclau und Mouffe kein ontologisch-politisches Primat und auch kein epistemologisches Privileg, das soziale Feld als ein transparentes zu durchschauen. Dementsprechend vermag kein einfacher Antagonismus den Ort der Macht zu füllen. Eine minimale, schon im Zusammenhang der Frage nach ironischer Melancholie angedeutete Begriffsverschiebung kann das verdeutlichen. Dem durch Inkorporation gefüllten Ort absolutistischer Macht stehen die hegemonialen Inkarnationsversuche der modernen Politik gegenüber. Deswegen ist die prinzipielle Freisetzung und Offenlegung des Politischen (jenseits unterschiedlicher Politiken!) als Austragungsort grundsätzlicher Konflikte modern.20 Laclau und Mouffes Reformulierung marxistischer Strategien positioniert sich also unter den metaphysikkritischen Entwürfen des anti- oder postfoundationalism. Gegen die totalisierenden Effekte der Metaphysik hatte Derrida, einer der Hauptgewährsmänner speziell Laclaus, in der Folge Saussures auf sprachtheoretische Grundlagen verwiesen.21 Und in seinem Kielwasser argumentiert der Diskurstheoretiker Laclau gegen die totalitaristischen Effekte der Politik. Der Raum des Politischen sei immer offenzuhalten für ein breites Spektrum von Interventionen.

18 Lefort, „Les droits de l’homme et l’État-providence“, S. 28. 19 Die extremste Variante dieses evolutionären Prozessualismus war vielleicht die durch eine teleologische Geschichtsauffassung motivierte praktische Passivität des Austromarxismus. 20 Ich folge hier der bekannten Unterscheidung Rancières, der zufolge das Politische die administrative Tätigkeit der Politik ebenso übersteigt wie es polizeilichen Regulierungen und Ordnungsversuchen entgegengesetzt ist. So verstanden ist „le politique“ das „terrain de la rencontre entre la politique et la police dans le traitement d’un tort“ (Rancière, Jacques, La Mésentente. Politique et philosophie, Paris, 1995, S. 113), also die Auseinandersetzung von polizeilicher Administration, und „la politique“ der Prozess der Emanzipation. 21 Vgl. dazu Torfing, Jacob, New Theories of Discourse. Laclau, Mouffe and Žižek, Oxford, 1999, S. 86.

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„[E]mptying of a particular signifier [zum Beispiel Universalität, Demokratie; A. A.] of its particular, differential signified is […] what makes possible the emergence of ‚empty‘ signifiers as the signifiers of a lack, of an absent totality.“22

In Paul de Mans Terminologie könnte man vom Term ‚Demokratie‘ als ermöglichender Allegorie seiner eigenen realen Unmöglichkeit sprechen. Alle beziehen sich auf ihn, füllen ihn mit einem je partikularen Sinn – kaum Gemeinsames etwa zwischen amerikanischer und gegenwärtig in China praktizierter ‚Demokratie‘ – und halten so das hegemoniale Spiel am Leben. Laclau wäre nicht Poststrukturalist, würde er die jeweiligen Interventionen in der Folge nicht nach dem Muster symbolischer Artikulationen verstehen. Mit dem Anspruch auf ‚direkte‘ Politik ist einerseits auch derjenige auf eine endgültige Revolution aufgegeben, welche noch dem (ironiefreien) Phantasma verhaftet bliebe, den Raum des Politischen wieder einer Schließung zuführen zu können. Auf der anderen Seite gilt jedoch: „[L]iberal democratic theory and institutions have […] to be deconstructed“23, weil sie den antagonistischen Charakter des Politischen auszublenden versuchen, was angesichts des heterogenen Charakters der gegenwärtigen Gesellschaft erst recht wieder, qua Vereinheitlichung, totalisierend wirke. Damit ist ein Modell demokratischer Unabschließbarkeit formuliert, die zunächst von einer Sehnsuchts-Ironie geprägt wird. Gemeinsam mit dieser taucht aber auch die zu verabschiedende Liberalität wieder auf, und zwar als Wissen der Gesellschaft um ihre eigene Unabschließbarkeit. Beide Elemente hängen zusammen. Denn eine „liberale Gestalt der Politik“ zeichnet sich Christoph Menke zufolge „dadurch aus, nicht mehr nur der Gegenstand von Ironie, sondern selbst ironisch zu sein; eine liberale Politik antwortet der Ironie der Politik durch Selbstironie“.24 Eine Phänomenologie der Aktualisierungen ironischer Logiken auch im Feld der Politik erkennt also ironische Theoriekonsequenzen auch in politischen Diskursen, im vorliegenden Fall: im Scheitern an den eigenen metaironischen Ansprüchen. So bleibt Laclau und Mouffes Ansatz gegen ihren Willen dem Konzept einer liberaldemokratischen Idee verbunden25, weil sich politische Theorie (und Praxis) ihnen zufolge mit „Artikulation als eine[r] Praxis, die Knotenpunkte instituiert, die in einem organisierten Differenzensystem die Bedeutung des Sozia22 23 24 25

Laclau, Ernesto, Emancipation(s), London, 1996, S. 42. Ebd., S. 33. Menke, „Von der Ironie der Politik zur Politik der Ironie“, S. 19. Zudem gilt: Was zur Zeit der Formulierung des methodischen oder theoretischen Unterbaus dieser poststrukturalistischen Auflösung des Marxismus noch ausreichende Plausibilität gehabt haben mag, zeigt sich heute angesichts der realen (geo)politischen Konflikte des neuen Jahrtausends als theoretische und praktische Hilflosigkeit – auch von Ironie. Die Aporien der einzelnen Theoriepositionen können hier freilich nur ansatzweise herausgearbeitet und auch nur teilweise anderen, politisch möglicherweise adäquateren Positionen gegenübergestellt werden. Aufgabe dieses Abschnitts I. ist nur, die ironischen Diskursformationen auch innerhalb des politischen Felds nachzuzeichnen. Auch die Kritik an einzelnen Autoren (sowie die skizzenhafte Kontrastierung politisch eventuell weiterführender Ansätze) dient nur der Nachzeichnung der genauen Grenzen ironischer Theorie.

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len teilweise fixieren“26, begnügen muss. Die Anwendung des Lacan’schen Stepppunkte-Konzepts macht zugleich den poststrukturalistischen Einsatz Laclau und Mouffes deutlich. Es ist nicht mehr Lacans berühmter Herrensignifikant (S1), welcher die Signifikantenkette (S2) organisiert. Diese stützt sich nun selber autopoietisch, mittels verschiedener Knotenpunkte, die nur gemeinsam eine jeweils auswechselbare ‚ironische Kampfkohärenz‘ simulieren. „Demokratisch nennt Laclau jene Gesellschaft, die ironisch die stets fortsetzende politische Verhandlung zwischen Sollen und Sein, den ‚unendlichen Prozeß von Einsätzen und Besetzungen‘ anzeigt“.27 Inwiefern der politische Einsatz der poststrukturalistischen Diskurstheorie unter den Auspizien der rhetorologisch zweiten, sehnsuchtsvollunendlichen Ironie steht, zeigt des Weiteren ein genauerer Blick auf die Beschreibung der artikulatorischen Praxis der Hegemonie. Im Gegensatz zu Foucault und klar antimaterialistisch formulieren Laclau und Mouffe folgende Theorie politischer Bedeutungsgebung: „Der entscheidende Punkt ist, daß jede Form der Macht auf pragmatische Art und Weise und dem Sozialen innerlich durch die entgegengesetzten Logiken von Äquivalenz und Differenz konstruiert wird – Macht ist niemals grundlegend. Das Problem der Macht kann deswegen nicht im Sinne einer Suche nach der Klasse oder dem dominanten Sektor gestellt werden, die oder der das Zentrum einer hegemonialen Formation bildet, da sich uns ein solches Zentrum definitionsgemäß immer entziehen wird.“28

Dieses sich nach streng romantischem (Denk-)Muster entziehende Zentrum ist aber anderen Textstellen zufolge – ohne dass diese aus dem Rahmen der hier konzeptualisierten romantischen Moderne heraustreten – weder präsent noch politisch notwendig. Offen bleibt die Frage, inwiefern sich der politische Kampf hegemonialer Artikulationen von bloßen symbolischen Machtspielen unterscheidet und ob das politische Aktionsfeld damit nicht voreilig limitiert wird. Wiederum streng entlang einer erstmals von den Frühromantikern entwickelten Logik gedacht, existiert „Ordnung“ für Laclau und Mouffe nur „als partielles Begrenzen der Unordnung“, „Bedeutung […] angesichts der Bedeutungslosigkeit nur als Exzess und Paradox“.29 Statt eines Zentrums sind es nun einige Stepp- oder Knotenpunkte, welche als Sinn- und Entscheidungskriterien über die Bedeutung eines politischen Systems entscheiden. Und diese Orientierungspunkte unterliegen einem ironischen Kampf gebrochener Überzeugungen. Die hier bisher epistemologisch und poetologisch als ironische Evokation des Unendlichen durch Endliches beschriebene Bewegung hat Jacob Torfing an Laclaus Terminologie und Theorie folgendermaßen beschrieben: „The universal emerges out of the particular as an irreducible dimension of the chain of equivalence expanded as a 26 Laclau, Ernesto und Mouffe, Chantal, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien, 1991, S. 193. 27 García Düttmann, Philosophie der Übertreibung, S. 84. 28 Laclau und Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, S. 202. 29 Ebd., S. 262.

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result of the negation of the particular identities.“30 Von entscheidender Bedeutung angesichts dieser Differenzialität ist somit ein Prozess ironischer ‚Äquivalenzierung‘, der einzig die Kohäsion heterogener, nur in ihrer Frontstellung gegen einen gemeinsamen Feind miteinander verbundener, aber nicht befreundeter Gruppierungen ermöglichen kann. Denn antikapitalistische, antirassistische, antifeministische Gruppierungen kämpfen keinen gemeinsamen Kampf. Einerseits bleiben sie stets differenziell zueinander. Andererseits können sie gerade dadurch in ein Äquivalenzverhältnis treten. „An diesem Punkt beginnt die Überdeterminierung von mit der demokratischen Revolution verbundenen Effekten die Demarkationslinie zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten zu verschieben und die sozialen Verhältnisse zu politisieren, das heißt die Räume, in denen die neuen Äquivalenzlogiken die differentielle Positivität des Sozialen auflösen, zu vervielfältigen“.31

Auf indirekten Wegen und ohne dass sie es wissen müssen, kämpfen unterschiedliche Minoritäten so einen gemeinsamen Kampf. ‚Ironische List der Vernunft‘ wird das gemeinhin hoffnungsvoll genannt, wenn etwa homophobe Rapper, ohne es zu wissen, angeblich indirekt den Widerstand anderer, ihnen ideologisch verhasster Minoritäten unterstützen. Postmarxistisch sind obige Theoreme des Weiteren auch deswegen, weil Ökonomie hier nicht mehr als Träger von Hauptwidersprüchen fungiert, aus denen in der Folge lediglich sekundäre Nebenwidersprüche (Rassismus, Patriarchalismus etc.) ableitbar wären. Letztere sind am ehesten metonymisch aufeinander verwiesen. In „relations of difference we have neither metaphor nor metonymy. However, the equivalential disruption of relations of difference tends to produce metonymical relations of contiguity [etwa der verschiedenen ‚Antis‘ wie Antiatomkraft-, Antigeschlechterdiskriminierungs- und Antirassismusbewegungen; A. A.], and when the paradigmatic sameness of contiguous elements is fully realized we see the construction of metaphors.“32

Metaphern sind hier so etwas wie witzig arretierte Metonymien, welche zeitweilige taktische Koalitionen qua ironischer Äquivalenz ermöglichen. Organisch sind sie so wenig wie die sie prägenden Intellektuellen. So wird verständlich, warum Laclau und Mouffe – auch in Absetzung von dem von oben her wirkenden ‚symbolischen Arbeiter‘ Gramscis – auf generalisierbare Abstrakta wie ‚Minderheit‘ setzen. Was Foucault (und vor ihm Clausewitz) als Taktik ohne deklariertes strategisches Endziel konzipierte, das ist Laclau und Mouffe von ihren diskurstheoretischen Voraussetzungen her verschlossen. Letztendlich können sie von der „representative role in the constitution of […] a will“ nicht absehen, denn „there is a gap in the identity of the represented that requires the process to […] fill it“.33 30 31 32 33

Torfing, New Theories of Discourse, S. 174 f. Laclau und Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, S. 246. Torfing, New Theories of Discourse, S. 98. Laclau, Emancipation(s), S. 99.

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Zwischen liberaler Freiheit und demokratischer Gleichheit gefangen, bleibt es bei einem ironischen Lavieren zwischen und inmitten von Differenz und Äquivalenz.34 Die Theorie des Postmarxismus ist somit ein exemplarisches Beispiel dafür, dass „[r]ecent discussions of political community are […] haunted by the spectre of scepticism“.35 Ein Zitat Mouffes kann das deutlich belegen. „It is vital to recognize that since to construct a ‚we‘ it is necessary to distinguish it from a ‚them‘, and that all forms of consensus are based on acts of exclusion, the condition of the possibility of the political community is at the same time the condition of impossibility of its full realization“.36

Alessandra Tanesinis Kommentar zu Mouffes Theorieeinsatz trifft genau den theoriegeschichtlich wunden Punkt, nämlich den eines Verharrens im Paradoxalen. „This paradox deserves the label ‚deconstructive‘ because of its structural similarities with Jacques Derridas views about meaning“37, es verdient aber auch das Label der ‚romantischen Sehnsucht‘, weil die vollständige politische Gesellschaft als eine stets sich entziehende konzeptualisiert wird. Selbst wenn Laclau und Mouffe also behaupten, keiner Sehnsucht nach einer abschließenden Realisierung politischer Ziele nachzuhängen, die, mit dem Ironiekritiker Hegel gesprochen, schlechte oder abstrakte Unendlichkeit ständiger Neubesetzungen lässt die Struktur romantischer Sehnsucht wieder hervortreten.

Exkurs: Kants rationalistische Volkssouveränität Zwischen den verschiedenen hier angeführten surrogathaften, und in diesem Sinn ironischen, politiktheoretischen Stabilisierungsversuchen besteht eine strukturelle Übereinstimmung. Wie bei Schlegel hat sich auch bei Kelsen ein Spannungsverhältnis zwischen Repräsentation und ihren fiktiven Stützen angedeutet. Deutlich wird dies, wenn Kelsen etwa den Parlamentarismus als „Kompromiss zwischen der primitivierenden Idee der politischen Freiheit und dem Prinzip differenzierender Arbeitsteilung“38 versteht. Als nicht weniger ironisch haben sich die theoretischen Notoperationen in Laclau und Mouffes postmarxistischem Politikkonzept erwiesen. Im Kontrast zu deren bürgerlich verdünntem Maoismus – etwa in den theoretisch unklaren Aufrufen zu Inkarnationen oder zivilgesellschaftlichen Impulsen aller Art – möchte ich hier noch einmal auf Kants Konzept von Souve34 Vgl. dazu Torfing (New Theories of Discourse, S. 252) mit den entsprechenden Literaturnachweisen zu Mouffes Ideen zu einer liberalen Demokratie. 35 Tanesini, Alessandra, An introduction to feminist epistemologies, Malden, Mass. u. a., 1999, S. 12. 36 Mouffe, Chantal, „Democratic politics and the question of identity“, in: The identity in question, hrsg. v. John Rajchman, New York, 1995, S. 33–46, hier S. 36. 37 Tanesini, An introduction to feminist epistemologies, S. 13. 38 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 33. Mit dem Hinweis auf diese diskursanalytischen Parallelen sollen freilich keineswegs die inhaltlichen Unterschiede (etwa die Betonung eines agonistischen Moments mit antikapitalistischer Stoßrichtung bei Laclau und Mouffe) nivelliert werden.

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ränität hinweisen. Nur auf einer ersten Ebene nämlich argumentiert Kant gegen das unbedingte, konstitutive (Widerstands-)Recht des Volkes. Nur vor einem Hintergrund von ursprünglicher Volkssouveränität macht diese kantische Einschränkung Sinn, welche weder den Gedanken einer translatio imperii noch das Konzept des Herrschaftsvertrags akzeptiert, wie es für die Übergangszeit zwischen Ständestaat und Konstitutionalismus typisch war. Dort aber, wo sich wirklich das Volk qua Gesellschaft Gesetze gibt, kann es sich gar nicht Widerstand leisten – in diesem reinen Sinn versucht Kant Freiheit zu denken. In den Worten der Metaphysik der Sitten kann gesetzliche Freiheit nur bestehen, wenn der gesetzgebende Souverän, „nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein anderer als das vereinigte Volk selbst sein kann“.39 Gleichzeitig kann materielle Gerechtigkeit nicht über (rein materiale) Werte, vielmehr nur durch formale Konstruktionen hergestellt werden. Analog kann aus dem Grad der demokratischen Organisationsform auf die Sachrichtigkeit der Entscheidungen rechtssetzender Instanzen geschlossen werden. Ingeborg Maus’ bestechenden Analysen zufolge liegt gerade der „progressivsten Version rechtsstaatlicher Tradition“ ein Demokratieverständnis zugrunde, welches „nicht inhaltliche Zielvorgaben und Werte gegenüber den demokratischen Verfahren verabsolutierte, sondern Allgemeinheit der Partizipation als deren alleinige Bedingung ansah“.40 Damit ist nicht auf eine rein formale Konzeption von Politik abgezielt. Vielmehr garantiert nur die Möglichkeit des Einschlusses unterprivilegierter Schichten bzw. bisher exkludierter Minderheiten in den Entscheidungsprozess effektive Gerechtigkeit. So verstanden lassen Rechtsgesetzgebungen ihren formalen Charakter hinter sich und zeigen einen auf materiale Strukturen übergreifenden ‚formaterialen‘ Aspekt. Denn tatsächlich, ohne dass dies hier ausführlicher als in einem für das kontrastive Verständnis der Ironie nötigen Exkurs angedeutet werden konnte, ist es „gerade aus der Perspektive der Lebenswelt von höchster Relevanz […], welchen Charakter die Rechtsnormen haben, die die interne Struktur von Wirtschaft oder Staat bestimmen“.41

2. Systemtheoretische Ironie des Staates Nicht zuletzt aufgrund der Frage, wie sich die einzelnen Bereiche, Felder oder Sphären einer Gesellschaft zueinander verhalten, kommen systemtheoretische Überlegungen in den Blick. Der Titel dieses Abschnitts ist Helmut Willkes Studie Ironie des Staates entnommen, deren Untertitel Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft bereits den systemtheoretischen Ansatzpunkt ihres Autors anzeigt. Der von Polanyi entlehnte Begriff ‚polyzentrischer‘ Gesellschaft 39 Kant, Immanuel, Metaphysik der Sitten, in: ders., Werkausgabe, Bd. VIII, Rechtslehre, § 47, B 198. 40 Maus, Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, S. 57. 41 Ebd., S. 314.

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soll dabei mit dem der ‚Heterarchie‘ den begrifflichen Gegenpol zu einer autoritativ-hierarchischen Gesellschaftsauffassung bilden. Letztere führt notwendig zum „Scheitern einer Staatsform und einer Form der Politik“, weil sie auf die letztlich unmögliche „Entdifferenzierung moderner Gesellschaften abzielt. Keine moderne Gesellschaft lässt sich gegen die Entfesselung funktionaler Differenzierung, gegen die zentrifugale Dynamik eigensinniger Teilsystemrationalitäten, gegen die explodierende Innovativität dezentraler Spezialisierung organisieren.“42

Damit ist zunächst noch einmal die Einsicht in die Problematik ausdifferenzierter Gesellschaften der Moderne reformuliert. Ihre zentrifugalen Kräfte lassen sich in der Praxis kaum unter Kontrolle bringen. Gleichwohl benötigen soziale Systeme naturgemäß „Mechanismen der Kontrolle von Kontingenz und Verfahren zur Dissimulierung der Konsequenzen verlorengegangener Einheit“43, also eigentlich der Simulation einer (eventuell nie existent gewesenen) Einheit. Sowohl das Thema artikulierter (Nicht-)Kommunikation verschiedener gesellschaftlicher Subsysteme als auch die Frage nach deren gesamtgesellschaftlicher Legitimität verweist systemimmanent auf ironische dissimulatio. Anstelle umfassender Gesellschaftssteuerung, die Fehlentwicklungen durch strukturell notwendige Missverständnisse nur noch verstärke, geben systemtheoretische Überlegungen (formeller) Kontextsteuerung und (informeller) Selbstorganisation den Vorzug. Auch Planung wird durch eine analoge systemtheoretische Formaldefinition bestimmt als „Entscheiden über Entscheidungsprämissen“.44 Damit ist zugleich dem im nächsten Abschnitt zu diskutierenden Souveränitätsheroismus eines Carl Schmitt widersprochen. Aber trotz der prozessualen Umformulierung von Legitimität als „Konditionalisierung von Herrschaft“45 bleibt deren Problematik weiter virulent, weil auch die Rechtsstaat-Formel nur eine den Letztbegründungsanspruch verdeckende Zwischenstufe einführt. Als Systemtheoretiker ist Willkes Selbstverständnis dasjenige eines postfoundationalist. Inwiefern aber auch er wieder über die scheinbar ausgeschlossenen Begründungsfragen stolpert, wird nicht zuletzt anhand seiner (restriktiven) Auslegung von Ironie darzustellen sein. Das theoretische Dreieck von ‚Politik‘, ‚Gesellschaft‘ und ‚Staat‘ wird von Willke in eigentümlicher Art variiert. Mit Hegels Definition der bürgerlichen Gesellschaft als Sphäre des universalen Egoismus im Rücken wendet sich Willke gegen den zugleich wohlfahrtsstaatlichen Optimismus diverser Konzeptionen – trotz aller sonstigen inhaltlichen Differenzen betrifft das Laclau und Mouffe sowie Arendt nicht anders als Habermas – von ‚bürgerlicher‘ oder ‚ziviler‘ Gesellschaft. Gleichzeitig versteht er den neoliberalen Ruf nach ‚weniger Staat‘ als ideologische Wiedereinführung eines starken Politikbegriffs. „Es ist keine Instanz 42 Willke, Helmut, Ironie des Staates. Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft, Frankfurt am Main, 1996, S. 313. 43 Ebd., S. 91. 44 Ebd., S. 113. 45 Ebd., S. 52.

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und kein System ersichtlich, das die Gesellschaft insgesamt repräsentieren könnte. Auch nicht die Politik.“46 Worauf Willke abzielt, ist eine Spielart des postfoundationalism jenseits von arbiträr-souveränen Entscheidungsakten einerseits und metaphysischer Repräsentation andererseits. Letztlich kann er diesen Anspruch aber nicht einlösen. Statt auf Politik und Gesellschaft ist er gezwungen, auf eine bestimmte Spielart von ‚Staat‘ zu rekurrieren. Im Gegensatz zum Konzept Minimalstaat zielt Willkes Vorschlag auf einen Aktivstaat. „Erforderlich ist in erster Linie, die Idee des aktiven Staates zu einer Staatsform zu verdichten, welche ihre Legitimität aus dem Zusammenhang mit einer entsprechenden Form von Gesellschaft schöpft […]. Da trifft es sich gut, daß eine solche Beschreibung in einer nach wie vor frappierend elaborierten Version vorliegt: Etzionis Theorie der aktiven Gesellschaft.“47

Die Konvergenz von Systemtheorie und gesellschaftspolitisch konservativem Kommunitarismus verdankt sich aber nur auf den ersten Blick einem glücklichen Zufall. Bei näherem Hinsehen verweist sie auf eine systemimmanente Schwachstelle des Willke’schen Entwurfs. Auf den ästhetizistischen Spuren Rortys48 greift auch Willke zu einer Form von Versöhnungsironie, nunmehr statt auf subjektivethischem eben auf gesellschaftlich-politischem Terrain. „Der Dezentrierung des Subjekts läßt sich am besten noch mit Ironie beikommen, so lassen sich ernstzunehmende Ironiker, von Nietzsche über Kierkegaard bis zu Rorty vernehmen. Meine Annahme ist nun, dass Analoges für die Gesellschaft der Moderne gilt“.49

Diese reaktive „Ironie kommt“ also nach Willke nur „ins Spiel zur Abfederung der Schockwellen dieses Strukturumbruches“50 der Moderne. Die „wechselseitige Beeinflussung selbstreferentieller Systeme nach dem Muster intersubjektiver Verständigung“ zu verstehen, wie Habermas das versucht, mutet Willke „abenteuerlich“ an – ein Vorwurf, den der Angesprochene nicht weniger deutlich kontert. „Die Überlegungen zu einer ‚sozietalen Steuerungstheorie‘ von H. Willke […] sind vor allem deshalb interessant, weil der Autor inkonsequent genug verfährt, um die wechselseitige Beeinflussung autopoietischer Systeme nach dem Muster intersubjektiver Verständigung zu analysieren.“51

46 Ebd., S. 136. 47 Ebd., S. 119. 48 Einerseits ist Willkes Kritik einer „mythische[n] oder mythologisierende[n] Überschätzung der Kunst“ (ebd., S. 322) bei Rorty zuzustimmen. Andererseits aber lautet der in der Folge zu erhärtende Verdacht, dass Willke selbst, Rorty’sche Kategorien anwendend, wiederum zu einer Variante (im negativen Sinn) ästhetisierender Deparadoxierung greift. 49 Ebd., S. 317. 50 Ebd. 51 Die Zitate beider Autoren finden sich in Habermas, Jürgen, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main, 1993, S. 422, wo Habermas auf Willkes Entzauberung des Staates (Königstein i. Ts., 1983, S. 129 ff.) Bezug nimmt.

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Dem Wortlaut nach spricht Willke weniger von intersubjektiver Kommunikation als von „Steuerung aus der kunstvoll arrangierten Interaktion und Abstimmung autonomer Akteure“ in einer historischen Situation, in der kein „,natürlicher‘ Führungsanspruch“52 mehr existiert. Lässt man den Rauch der argumentativen Polemik einmal verziehen, dann zeigen sich teilweise symptomatische Parallelen in den beiden Theorien. Denn „der Kern des Problems [ist] die Unwahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation […]. Die Herausforderung ist, Kompatibilität zwischen unterschiedlichen Sprachspielen herzustellen“ – so formuliert nun nicht Habermas, sondern wiederum Willke53, der fast alle politischen Theorieprobleme mit Ironie zu lösen versucht. Dies gilt noch für die Frage nach „Legitimität“, welche sich Willke zufolge nur über „formale Regeln des Prozessierens von Widersprüchen und Konflikten“54 herstellt. Nach diesem Muster wird Ironie hier wieder einmal als Krisensymptom und Heilmittel zugleich interpretiert. „Die Fähigkeit komplexer Gesellschaften zur Selbstbeobachtung und zur Reflexion läßt sich als Folge und als komplementäre Seite ihrer Selbstgefährdung begreifen. In einer einzigen Ressource könnte dem destruktiven Potential dieser Gesellschaften ein Gegengewicht erwachsen: in besserem Wissen über sich selbst.“55

Sozusagen in Umkehrung von Benjamins Formel aus dessen Romantikdissertation – aus ‚am Werk noch im Abbruch zu bauen‘ wird ‚im Nicht-Wissen besser zu wissen‘ – werden Politik und Staat auf ein sokratisches Ironie-Ideal verpflichtet. Dieses soll dann noch einmal paradox die Aufrechterhaltung und Lebbarmachung der Diskrepanzen der Moderne gewährleisten. Die systemtheoretische Einsicht in deren Paradoxien „zwingt die Politik zu einem ironischen Umgang mit sich selbst und mit gesellschaftlichen Systemen und empfiehlt eine Ironie des Staates, die das politische Spiel der Organisationen und Korporationen darin ernst nimmt, daß es ein Spiel ist, in dem alle es besser wissen, als sie es zugeben mögen“.56

Nicht einfach dass die Umkehrung der Benjamin’schen Formel die produktive Spitze von dessen These über die romantische Reflexionsironie schleift, ist Willke vorzuhalten. Wichtiger scheint mir der Verdacht, dass sich hinter diesen Zeilen wieder ein nicht eingestandener Aufklärungsoptimismus verbirgt. Was, so muss die Frage lauten, wissen die einzelnen Subsysteme? Wissen sie letztlich doch voneinander? Und wenn ja, ist damit nicht der systemtheoretischen Ausgangsthese einer strukturellen Nicht-Kommunikation zwischen einzelnen gesellschaftlichen Teilsystemen widersprochen? Gewiss ist es eine eminent ironische Strategie, „durch Verfremden Verstehen produzieren“57 zu wollen. Aber Willke stellt fest, 52 53 54 55 56 57

Willke, Ironie des Staates, S. 154. Ebd., S. 345. Ebd., S. 48. Ebd., S. 105. Ebd., S. 142. Ebd., S. 167.

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dass „ausschließlich die Beobachtung zweiter Ordnung das Problem der (notwendigen) blinden Flecken jeder Beobachtung zu prozessieren erlaubt“.58 Freilich handelt es sich um ein Prozessieren, welches nach einem Modell naiven Aufklärens gedacht zu sein scheint und von dem Phantasma einer unpolitischen Auflösung gesellschaftlicher Konflikte kaum zu unterscheiden ist. Ein weiteres Beispiel für die Paradoxien oder, polemisch formuliert, die Selbstwidersprüche von Willkes ironischem Politikverständnis: Einerseits „[wiederholt sich in] den diversifizierten Gesellschaftsbeschreibungen […] das Drama der Dialektik von Exklusion und Inklusion“.59 Andererseits „[verfangen sich] für den Tragiker die Systeme in ihren selbst gestellten Fallen […]. Für den Ironiker dagegen eröffnet die unabänderliche Distanz zwischen den Systemen den Spielraum für die Möglichkeit einer Akkordierung von Kontingenzen“.60

Als vermeintlich postmetaphysischer Theoretiker Rorty’scher Prägung hatte Willke ‚Repräsentation‘ aufgrund der spezifischen Blindheit selbstreferenzieller Systeme verabschiedet. Während er anderswo auf dezentrale Kontextsteuerung umzustellen vorschlägt, spricht Willke hier von einem „Entwicklungsschritt zur internen Repräsentation der eigenen Einheit“61, bei dem sich Organisationen gezielt auf andere gewählte Identitäten hin verändern sollen. Damit ist der Luhmann’sche Reflexionsbegriff eingeholt, von dem her ‚Umwelt‘ als reaktionsfähige „selbst-transformative Einheit“62 verständlich wird. Mittels (ihrer Strukturlogik gemäß) paradoxaler Ironie, so scheint es, werden die eigentlichen Kernprobleme verdeckt. In Willkes Theorie soll Ironie – analog allen Konzeptionen nachträglicher Ästhetisierung – die generellen Systemparadoxien überwinden helfen. Wie ihr die Auflösung der sowohl innertheoretischen als auch innergesellschaftlichen Spannungen gelingen soll, bleibt fraglich. Und diese Ungeklärtheit verweist auf ein theoretisches Ungenügen in Willkes (ironischem) Politikverständnis insgesamt. Auf dem Umweg über das nicht konsequent durchgehaltene ironische Spiel zwischen Innen und Außen taucht nämlich die gute alte Repräsentation wieder auf. Zunächst polemisiert Willke – im Namen von ‚Wertfreiheit‘ – gegen inhaltlich-soziale Optionen etwa des Verfassungsgerichts. Ebenso wie die ironische Reflexion scheint aber auch der systemtheoretische Ansatz nicht radikal durchgehalten zu werden. So wird „Macht“ von Willke, im Gegensatz zu „Zwang“, als „sehr wichtige Steuerungsressource“63 gehandelt. Wenn Willke aber an anderer Stelle von „Selbstzwang“ als „rationale[r] Strategie der Interaktion komplexer Sozialsysteme“64 spricht, dann verfällt er in eine prä58 59 60 61 62 63

Ebd., S. 209. Ebd. Ebd., S. 321. Ebd., S. 73. Ebd. Ebd., S. 187. Mit Foucault und Deleuze ließe sich auch sagen, dass Formen von Disziplinarmacht in einer Kontrollgesellschaft schlicht und einfach unproduktiv bzw. inpraktikabel werden. Vgl. dazu unten in Teil III. dieses Kapitels den Abschnitt „Politische Umsetzung“. 64 Ebd., S. 329.

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moderne Machttheorie, welche noch zwischen einem Innerhalb und Außerhalb der Macht, Eigenem und Fremden, unterscheiden zu können glaubt. Im Gegensatz zu einer potenzierten ironischen Reflexion, die auch die Polarität von Innen und Außen oder Form und Materie erfasst, optiert Willke für eine versöhnlichere Reflexionsvariante: Gewiss arbeitet „Politik auch mit einer geldbasierten Infrastruktur […], [ist] also (fiskalisch getöntes) Geld zu einem wesentlichen Faktor der politischen Machtausübung geworden […]. Denn nun entspricht es nicht mehr der Rationalität gesellschaftlicher Akteure, sich gegen den Machtanspruch der Politik zur Wehr zu setzen und die Politik (von außen) zu begrenzen; vielmehr suchen sie aktiv eine Förderung und Ausweitung wohlfahrtsstaatlicher Politik“.65

Hier muss noch nicht – dies ist der Gegenstand des zweiten Teils (II. „These und Antithese“) dieses Kapitels – über die grundsätzliche Konservativität oder Progressivität von Ironie entschieden werden. Und auch der beim späten Luhmann virulenten Frage nach in einzelnen Subsystemen geschaffenen generalisierten Kommunikationsmedien (Geld, Macht) kann nicht nachgegangen werden. Nur hinzuweisen ist wiederum darauf, inwiefern Willkes politisch vermeintlich wertfreie Ironie Gefahr läuft, ihren kritischen Impuls zu verlieren. Denn wenn es um (den Wert von) Geld geht, dann fordert Willke an anderer Stelle ganz unironische „Pufferzonen“ zur Vermeidung langfristig irrationaler Operationsbedingungen. Dass deren erste „Zentralbanken zur Sicherung der Autonomie der Ökonomie“ sind, spricht für sich selbst. Es bedarf keiner marxistischen Überzeugungen, um in dieser Vorrangstellung des Finanzsystems einen blinden Fleck auch des systemtheoretischen Ansatzes auszumachen. Gerade im Zusammenhang der Rede von geldbasierter Machtausübung läge eine Beobachtung – welcher Ordnung auch immer – des Komplexes ‚Kapitalismus‘ nahe, welcher ja gerade die Innenund Außengrenzen der Macht zu seinen Gunsten relativiert. Die systemtheoretische Supervision qua Beobachtung der Beobachtung, welche „die Differenz von Innenperspektive und Außenperspektive [verdoppelt]“66, erweist sich an dieser Stelle als postfoundationalist im negativen Sinn. Reflexion ist in ihr nicht als formaterial normsetzende – also aus formalen Prozeduren inhaltliche Progressivität gerierende – gedacht, sondern als Reflexivität im Sinne Luhmanns. Sie ist kein Denken des Denkens, auch keine kraftentfaltende Höherpotenzierung, sondern „das Strukturprinzip der Ausdifferenzierung von Prozessen, die aufeinander angewandt werden“.67 Diese Bezugnahme von Prozessen aufeinander mit Mitteln des Prozesses selber hat (system)theoretisch kompromittierende Implikationen. Letztlich besteht ein „Primat der Ökonomie“ (Luhmann) vor den anderen gesellschaftlichen Teilsystemen und vor konkreten Inhaltsbestim-

65 Ebd., S. 333 f. 66 Ebd., S. 342. 67 Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, S. 252; vgl. auch S. 257.

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mungen der Verfassung.68 Irrationale Operationsbedingungen können so ohne Weiteres mit sozialpolitischen Maßnahmen westlicher Wohlfahrtsstaaten identifiziert und als solche in der Folge weggekürzt werden. In den Worten von Ingeborg Maus: „Das Postulat wirtschaftlicher Eigengesetzlichkeit enthält […] ein selektives Prinzip. Es schließt unter den denkbaren politischen, z. B. gesetzgeberischen Interventionen nur diejenigen aus, die als Konkretisierungen sozialer Verfassungspostulate dem ökonomischen Prozeß ,sachfremde‘ Zielsetzungen auferlegen.“69

3. Carl Schmitt „Ein Politicus, das ist ein Statist, das ist ein Machiavellist, das ist ein Atheus, das ist kein Christ.“ Anonymes Traktat von 167470

Pseudopolitische Totalisierung: Moralisch, ökonomisch, ästhetisch Die Vorläuferrolle von Carl Schmitts Studie über die Politische Romantik für seine späteren fundamentalistischen Schriften ist von der Forschung klar erkannt worden. Karl Heinz Bohrer hat Schmitts Text zudem auf seine poetologische Sensibilität speziell gegenüber der Romantik hin untersucht. Dabei zeigt sich, dass „Schmitt politische Begriffe negativ verwendet, die alle eine poetologische Entsprechung haben, aus denen der Modernitätsanspruch ableitbar wird“.71 Zahlreiche Kernbegriffe von Schmitts politischer Theorie sind demnach umgewertete Kategorien der ästhetischen Moderne. Bezüglich des Verständnisses der politischen Dimension der ironischen Romantik kulminiert Schmitts konzeptueller Beitrag in dem der klassischen causa entgegengesetzten Begriff der occasio. Nichts anderes nämlich ist ihm zufolge die Romantik, als „subjektivierter Occasionalismus, d. h. im Romantischen behandelt das romantische Subjekt die Welt als Anlaß und Gelegenheit seiner romantischen Produktivität“.72 Schmitt bezichtigt das moderne romantische Subjekt somit der Ästhetisierung. Fasst man diese jedoch nicht als nachträgliche, sondern als konstitutiv, dann wird deutlich, inwiefern Schmitts reduziertes Ironie- und Ästhetikverständnis in einer langen Tradition antidemokratischer Ästhetikkritik steht. So ist der Demokrat, wie Juliane Rebentisch mit Verweis auf Luc Ferry

68 Vgl. die diesbezügliche Kritik Luhmanns durch Maus, Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, S. 318. 69 Ebd., S. 218. 70 Zit. nach Brandstetter, Thomas, Der hohle Zirkel. Politische Philosophie und der Diskurs des Höflings im 17. Jahrhundert, unveröff. Diplomarbeit, Universität Wien, 2001, S. 28. 71 Bohrer, Die Kritik der Romantik, S. 285. 72 Schmitt, Carl, Politische Romantik, 6. Aufl., Neusatz auf Basis der 1925 erschienenen 2. Aufl., Berlin, 1998, S. 18.

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schreibt, „bereits bei Platon ein homo aestheticus, und ein solcher soll aus den genannten Gründen in seinem Staat nichts zu suchen haben“.73 In altbekannter Weise taucht in Schmitts Diskussion der Romantiker dann Hegel als deren klassischer Gegenspieler auf. Dessen philosophische Wahrheit sei, „daß aller Geist gegenwärtiger Geist ist, präsent, und weder in barocker Repräsentation, noch gar in romantischem Alibi zu finden oder zu suchen“.74 An dieser wie an anderen Stellen operiert Schmitts manichäisches Denken mit zugespitzten Dichotomien, die sich unter der Wirkung einer pessimistischen Anthropologie, der Voraussetzung seines hypostasierten Freund/Feind-Schemas, in politische Tautologien verwandeln. Daraus, dass der Mensch böse und unfrei ist, folgt einem üblichen Denkmuster gemäß eine bedingungslose Rechtfertigung politischer Ordnung und die Argumentation gegen die staatsfeindlichen Diskurse anarchistischer wie liberaler Träumer. Schmitts moderner Begriff des Politischen muss somit den barocken Inkorporationsgedanken verwerfen, und mit diesem verschwindet jegliches Vertrauen auf natürliche bzw. organische oder symbolische Bindungen. Neben der monarchischen Inkorporation – der jeweilige Prinz vermag nicht länger ein Volksganzes metonymisch auf und in sich zu metaphorisieren – ist auch der Gang des erzieherischen Rationalismus der Aufklärung verschlossen. Mit dem Einspruch gegen romantisches Als-ob-Politisieren ist Schmitt zufolge auch noch die zweite Bedingung der Möglichkeit von Demokratie, das blutiger Konfliktlösung entgegengesetzte, genuin romantische „ewige Gespräch“, widerlegt. In den klaren Worten der Politischen Theologie: „Diktatur ist der Gegensatz zu Diskussion.“75 Damit argumentiert Schmitt genau umgekehrt zu Kelsens Verteidigungsschrift Vom Wesen und Wert der Demokratie, der zufolge „das ganze parlamentarische Verfahren mit seiner dialektisch-kontradiktorischen, auf Rede und Gegenrede, Argument und Gegenargument abgestellten Technik auf die Erzielung eines Kompromisses“76 gerichtet ist. Der Kompromiss gehorcht einer Logik der Konfliktlösung, der auf epistemologischer Ebene eine pragmatische Grundhaltung entspricht. „Die von den Romantikern lancierte Gesprächssemantik“77, gegen die Schmitt sich mit aller theoretischen Gewalt wendet, verweist ihm zufolge auf die historische Transformation modernen Denkens. Als subjektives steht dieses keinen objektiv geordne73 Auf die Ähnlichkeiten zwischen Platons Demokraten und dem Ironiker der Romantikkritik hat Juliane Rebentisch jüngst in einem noch nicht publizierten Vortrag hingewiesen. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts sieht sie dabei als zentral den Begriff „der (romantischen) Ironie. Tatsächlich liest sich Platons Charakterisierung des Demokraten wie eine Vorstudie zu jenem kritischen Porträt, das Kierkegaard im ‚Tagebuch des Verführers‘“ präsentiert hat. Zum homo aestheticus vgl. Ferry, Luc, Der Mensch als Ästhet. Die Erfindung des Geschmacks im Zeitalter der Demokratie, Stuttgart, 1992 (franz.: Homo aestheticus. L’invention du goût à l’âge démocratique, Paris, 1991). 74 Schmitt, Carl, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin, 1996, S. 62. 75 Schmitt, Carl, Politische Theologie, Berlin, 1996, S. 67. 76 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 57. 77 Balke, Friedrich, Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts, München, 1996, S. 106.

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ten Entitäten gegenüber, sondern verbleibt in ironischer Distanz zu allem Gegebenen. Konsistenz gewinnt es durch die „stets nur provisorische Relationierung des sich permanent verändernden Gedankenmaterials“, die sich Friedrich Balke zufolge „strukturell nicht von der Arrangierung der Redebeiträge in einer Gesprächssituation unterscheidet“.78 Die in ihrer Konfliktaustragung aufs Unendliche gerichtete Demokratie wird von Schmitt noch aus einem weiteren Grund als romantisch apostrophiert. „Verschwindet hier das Politische im Ökonomischen oder Technisch-Organisatorischen, so zergeht es auf der anderen Seite in dem ewigen Gespräch kultur- und geschichtsphilosophischer Allgemeinheiten, die mit ästhetischen Charakterisierungen eine Epoche als klassisch, romantisch oder barock goutieren. In beidem ist der Kern der politischen Idee, die anspruchsvolle moralische Entscheidung, umgangen. Die aktuelle Bedeutung jener gegenrevolutionären Staatsphilosophen [wie Donoso Cortes oder Joseph de Maistre; A. A.] aber liegt in der Konsequenz, mit der sie sich entscheiden. Sie steigern das Moment der Dezision so stark, daß es schließlich den Gedanken der Legitimität, von dem sie ausgegangen sind, aufhebt.“79

Die Voraussetzungslosigkeit barocker Repräsentation verweist Schmitt zufolge zugleich auf die moderne Unmöglichkeit der Monarchie. Das führt angesichts seines Manichäismus, der den nach seiner Lesart stets antikatholischen80 und demokratischen Romantizismus nicht akzeptieren kann, zur Notwendigkeit von Diktatur. Ich kann mich wiederum nicht näher auf die komplexe Argumentation Schmitts zum Verhältnis von Recht und Macht, Faktizität und Geltung, Legalität und Legitimität etc. einlassen.81 Festzuhalten ist an dieser Stelle nur die von ihm in aller Deutlichkeit forcierte Eskamotierung aller Zwecke aus der Sphäre des Rechts. Dieser antiempirischen Purifizierung entspricht eine Arbitrarität der Inhalte, die am deutlichsten aus Schmitts schiefem Vergleich spricht, wichtig sei nicht wann, sondern nur dass die Züge pünktlich fahren. Trotz seiner an Luhmann gemahnenden Sphärentrennung, welche jeder Sphäre eine ihr eigene Unterscheidung zuweist82, ist aber auch Schmitt keineswegs frei von Präferenzen. 78 Ebd. 79 Schmitt, Politische Theologie, S. 69, Hervorh. v. A. A. 80 Explizit verneint Schmitt die These einer katholischen Romantik. Die Zurückweisung der Diktatur in Schlegels früher Republikanismusschrift (vgl. Sta, Bd. 1, S. 53) ist Schmitt „zu tief im rationalistischen Denken fundiert, als daß es wie ein totes Stück von ihm hätte abfallen können. Im Gegenteil sind oft gerade intellektualistische und rationalistische Elemente als etwas wesentlich Romantisches empfunden worden.“ (Politische Romantik, S. 32) Zu Schmitts massiver Verankerung im Katholizismus vgl. u. a. Lethen, Verhaltenslehren der Kälte, S. 122. 81 Vgl. dazu Balke, Der Staat nach seinem Ende, S. 164 f. und 308. 82 Vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 26: Schön/hässlich im Ästhetischen, gut/böse im Moralischen, nützlich/schädlich im Ökonomischen; dieser Ansatz Schmitts wird im Nomos der Erde zum Ausgangspunkt seiner impliziten Verteidigung NS-Deutschlands: „Tatsächlich ist der große Versuch einer internationalrechtlichen Kriminalisierung des Krieges damals in eine Reihe schwieriger, für das Rechtsgefühl des einfachen Menschen undurchdringlicher Antithesen hineingeraten: in den Gegensatz von juristischer und politischer Denkweise, den Unterschied von moralischer und rechtlicher Verpflichtung, den Gegensatz politischer und ökonomischer Probleme.“

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Seine vordergründige Präferenz des Politischen zeigt sich in Wahrheit durchdrungen von entscheidungsresistenten moralischen, ökonomischen und ästhetischen Phänomenen. Dass diese drei Sphären jenseits politischer Souveränität angesiedelt sind, wirkt auf Schmitts Zentralbegriffe zurück. So ist auch die Kategorie der ‚Entscheidung‘ nicht rein sphärenautonom bestimmt, sondern hat zunächst einmal stets moralische und epistemologische Dimensionen. Mit Friedrich Balke gesprochen besteht „[k]eine Entscheidung ohne eine vorgängige Unterscheidung, die die Komplexität des Geschehens auf eine binäre Alternative bzw. eine ethische Wahl, auf ein ‚Entweder-Oder‘ reduziert“.83 Der Aufweis einer weiteren theoretischen Unreinheit verdankt sich einmal mehr Ingeborg Maus, die auf das versteckte bürgerliche (Besitz-)Interesse in Schmitts Forderung nach einer „von sozialen Momenten gereinigte[n] […] substanzhafte[n] Ordnung“84 aufmerksam gemacht hat. Die Trennung von Legitimität und Legalität – bzw. höherer und niederer Legalität – läuft dabei mittels eines bloß inhaltlichen Verständnisses des ‚materialen Rechtsstaats‘ auf eine fragwürdige und instabile Herrschaft jeweiliger Verfassungen hinaus. Anstelle formaler Prozeduren wird unter Ausschluss unterprivilegierter Schichten inhaltlichen ‚Werten‘ der Vorzug gegeben, die den herrschenden Klassen konvenieren und zugleich vorgeben, überzeitlichen Charakter zu haben. Die faschistische Entscheidung zeigt sich somit angesichts revolutionärer Gefahren von links auch als ökonomisch motiviert. Zwar verwirft Schmitts Politische Theologie soziale oder materialistische Erklärungsversuche des Politischen, wie sie sich mit der ökonomischen Geschichtsauffassung im Laufe des 19. Jahrhunderts etablierten, mit der Begründung, diese sähen überall nur „Projektion, Reflex, Spiegelung“.85 Obwohl er aber heutigen (auch linken) Theoretikern als argumentative Speerspitze gegen einen rein technisch-ökonomischen, administrativen Politikbegriff dient, lehnt sich sein Entscheidungsbegriff, darauf hat Helmut Lethen hingewiesen, doch „immer an den Grundpfeiler der ‚gesunden Wirtschaft im starken Staat‘“86 an. Trotz seiner Kritik zugleich an „[a]merikanische[n] Finanzleute[n] und russische[n] Bolschewisten“87 bleibt Schmitt somit letztlich, nicht anders als Max Weber oder Helmuth Plessner, den ökonomischen Dogmen des liberalen Zeitalters verhaftet.88 Analog seinem in der Folge noch zu thematisierenden verkürzten Verständnis von (Volks-)Souveränität argumentiert Schmitts Lehre von der verfassunggebenden Gewalt (der pouvoir constituant) ganz im Sinne des angeblich unpolitisch wirtschafttreibenden deutschen Kleinbürgertums. Bei Schmitt wird der

83 84 85 86 87 88

(Schmitt, Carl, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Ius Publicum Europaeum, Berlin, 1997, S. 244.) Balke, Der Staat nach seinem Ende, S. 26. Vgl. die entsprechenden Schmitt-Zitate in: Maus, Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, S. 42. Schmitt, Carl, Römischer Katholizismus und politische Form, München, 1925, S. 29. Lethen, Verhaltenslehren der Kälte, S. 122. Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, S. 19, vgl. auch S. 22 f. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Ulmen, Gary L., Politischer Mehrwert. Eine Studie über Max Weber und Carl Schmitt, Weinheim, 1991, speziell S. 210.

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„scheinbar basisdemokratische Appell an die ursprüngliche verfassungsgebende Gewalt des Volkes […] nur als Sperre gegen das Parlament relevant: Diesem ist als bloßem pouvoir constitué die Kompetenz zur radikalen Verfassungsänderung aberkannt“89,

was einem Ausschluss des Politischen, nämlich aller nicht von ökonomischen Interessen geleiteten Entscheidungen materiell fortschrittlichen Charakters gleichkommt. Maus’ detaillierte Analyse von Schmitts verfassungstheoretischen Ausarbeitungen erweist deren limitierte, weil ökonomisch wohldosierte Radikalität. Immer geltendes ursprüngliches Recht wird zwar gegen die „Welt der Erscheinungen, d. h. gegen die Reform-okkupierte Positivität des Rechts [gesetzt]. Das immer Geltende aber […] sind die bürgerlichen Essentials einer jeden denkbaren Verfassung, sei diese auch nur noch auf die Garantie der Freiheit des Eigentums und die Regelung exekutivischer Befugnisse im Ausnahmezustand reduziert. Das scheinbar dynamische Prinzip permanenter Revolution dient nur der Stabilisierung bürgerlicher Verfassungsinhalte, deren Bestand innerhalb liberaler politischer Verkehrsformen nicht mehr erwartet wird.“90

Nach erstens moralischen und zweitens ökonomischen Faktoren scheint mir der politische Rigorismus Schmitts schließlich entgegen seinen eigenen methodischen Vorgaben drittens ästhetisch bestimmt. Auch an dieser Stelle erweisen sich Ästhetisierungsprozesse als konstitutiv. Nur mittels eines letztlich ästhetischen Urteils lässt sich jene für die politische Sphäre angeblich konstitutive Unterscheidung von Freund und Feind bilden. Viel mehr als seine klassizistische Vorliebe pro Klarheit und contra Ambivalenz bietet Schmitt nicht zur Begründung seiner Kategorien. Zur Verdeutlichung: Die Elemente des Romantischen – in Schmitts Souveränitätsphantasmen nicht anders als schon in Kierkegaards melancholischer Wiederholungstheorie91 – lauten „Ironie, ästhetische Weltauffassung, Gegensätzlichkeiten von Möglichem und Wirklichem, Unendlichem und Endlichem, das Gefühl der konkreten Sekunde“.92 Der Romantiker kann sich jedoch „nicht entscheiden, ohne auf seine überlegene Ironie zu verzichten, d. h. ohne seine romantische Situation aufzugeben. Der Romantiker will nichts tun als erleben und sein Erlebnis stimmungsvoll umschreiben.“93 Schmitts Faible für die souveräne Entscheidung, nicht anders als die Bevorzugung des Ausnahmezustands gegenüber der Normalität, kann mit Bohrer als ein Indiz einer Sensibilität für die ästhetische Moderne gelesen werden. Darüber hinaus aber ist anzumerken, dass Schmitt seine Begrifflichkeit dezidiert nicht begründet. Würde er aber trotz seines theorieimmanenten Dezisionismus eine Begründung anstreben, das gilt es festzuhalten, dann könnte er es nur ästhetisch 89 Maus, Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, S. 156. 90 Ebd., S. 157. 91 Zur Verkürzung Kierkegaard’scher Kategorien bei Schmitt vgl. Gartler, Walter, „Wo es nicht war – Kollationen zur liberalen Pathologie“, in: Gegen den Ausnahmezustand. Zur Kritik an Carl Schmitt, hrsg. v. Wolfgang Pircher, Wien, 1999, S. 19–52, hier S. 25. 92 Schmitt, Politische Romantik, S. 76. 93 Ebd., S. 107.

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tun. Mehr noch: Der Punkt der Nicht-Begründung, der Moment der souveränen Entscheidung wird selbst eingeholt vom Ästhetischen. Zugespitzt formuliert ist der Ort der Souveränität nichts anderes als der Ort des Ästhetischen. Dass erst die occasio des Krieges die souveräne Entscheidung ermöglicht, zeigt die ästhetischen Züge von Schmitts auf dieser Hypostasierung aufbauendem Modell. Dass Schmitt dieses Immer-schon-Verunreinigtsein des Politischen ausblendet, dass er dessen Zersetzung durch ethische, ökonomische und ästhetische Momente nicht wahrhaben will, drückt sich aus in seinem klassizistischen Ästhetizismus, der ihn sowohl wichtige ästhetische Dimensionen als auch die entscheidende politische Dimension der Ironie verfehlen lässt. Wiederum ist gegen ein (Schmitt’sches) Verständnis nachträglicher Ästhetisierung auf die ursprüngliche Rhetorizität und Sprachlichkeit des Politischen zu verweisen.94 „Das ironische Gesetz des Afformativen“, so Werner Hamacher, „ist das Gesetz seiner Bastardisierung mit dem Performativen“.95 Und noch schlimmer für Schmitt: „Dies Gesetz der Ironie – es ist nicht das Gesetz einer ironischen Sprache im Unterschied zu einer anderen, unironischen, sondern das Gesetz der Ironie der Sprache selbst, das keine Entscheidung darüber zuläßt, ob sie Sprache oder Zeichen, Mitteilung oder Geschwätz, Unterredung oder Gesetz ist.“96

Reflexionsmedium dieser ironischen Politik der Ent-setzung im Sinne Benjamins ist die Sprache in ihrer unbeherrschbaren Rhetorizität. Auch in einem anderen Punkt erweist sich ein ironietheoretischer Einwand als relevant. Ironie kann nämlich verstanden werden als afformative Technik, die sich eignet, „den Grund der Entscheidung zu untergraben, den Ernst, ohne den kein praktisches Engagement und kein praktischer Eingriff möglich sind“.97 Dieser Antidezisionismus der Ironie erklärt sich aus ihrer reflexionslogischen Bewegung. Denn „Ironie [bewegt sich] zwischen Öffnung und Schließung, erweist sich dadurch gleichsam in sich selber als politisch, als strategische Verhandlung, als das Einnehmen eines Standpunktes, dem indes eigentümlich ist, daß Freund und Feind“ und andere Gegensatzpaare, so Alexander García Düttmann, „nicht ausdrücklich auseinandergehalten und anerkannt werden“.98 Schmitts Verlangen

94 „Politisch zu sein, in einer Polis zu leben, das hieß, daß alle Angelegenheiten vermittels der Worte, die überzeugen können, geregelt werden und nicht durch Zwang oder Gewalt. Andere durch Gewalt zu zwingen, zu befehlen statt zu überzeugen, galt den Griechen als eine gleichsam präpolitische Art des Menschenumgangs, wie er üblich war in dem Leben außerhalb der Polis“ (Arendt, Vita activa, S. 30). – Zur politischen Ambivalenz schon der antiken Rhetorik vgl. Ottmers, Rhetorik, S. 24: „Als politische Lobrede ist sie eng mit der monarchischen Staatsform verbunden, während die Beratungsrede (und auch die Gerichtsrede) demokratischer Institutionen bedürfen.“ 95 Hamacher, Werner, „Afformativ, Streik“, in: Was heißt „Darstellen“?, hrsg. v. Christiaan L. Hart Nibbrig, Frankfurt am Main, 1994, S. 340–371, hier S. 371. 96 Ebd., S. 370. 97 Garcìa Düttmann, Philosophie der Übertreibung, S. 82. 98 Ebd., S. 73.

I. DREI POLITISCHE REFLEXIONEN UM IRONIE

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nach absolut reiner Dezision wird dagegen getragen von einer zwangsneurotischen „Sorge um die Reinheit des Gegensatzes“99 („souci de la pureté oppositionelle“) (Derrida). Diese Sorge, „die sich bei Schmitt zu einer regelrechten Angst steigert“, ist ein Symptom des schlechten phallozentrischen Gewissens, das Derrida „zum Zentrum seiner ‚geschlechtspolitischen‘ Deutung“100 Schmitts gemacht hat und das speziell für dessen Lesart der Romantiker treffend ist. Derselbe Tenor, der sich oben in (u. a. Hegels) Invektiven gegen Schlegels Lucinde hörbar machte, findet sich auch in den einzelnen Metaphern101 der Polemik gegen Adam Müllers „unmännliche Passivität“ oder den Pantheismus „seiner weiblichen, pflanzenhaften Natur“.102 Derrida hat diesbezüglich auch auf die von der Antike bis zur abendländischen Moderne reichende Tradition verwiesen, der zufolge „das Politische tatsächlich der Phallozentrismus in Aktion ist“.103 Von dieser Warte aus betrachtet ist jede „politische Tugend (der Mut des Kriegers, der Einsatz auf Leben und Tod, die Tötung etc.) in ihrer androzentrischen Manifestation“104 stets männlich konnotiert. „Die Tugend ist männlich“ („La vertu est virile“).105 Auch die der romantischen gegenübergestellte klassische Politik gründet in der Sphäre männlicher Entscheidungskraft. So ist Schmitt zufolge das „Klassische […] die Möglichkeit eindeutiger, klarer Unterscheidungen“.106 Nur mit solchen hygienisch sauberen, restlosen und ambivalenzfreien Trennungen lassen sich Schmitts zwangsneurotische Abgrenzungen und politische Konstruktionen aufrechterhalten. Seit Martin Greiffenhagen ist als „Dilemma des Konservatismus“107 benannt, dass in der Moderne jede konservative Politikkonzeption auf einem ironisch gebrochenen Fundament steht, genauer: dass sie kritisiert, was die Voraussetzung ihrer eigenen konservierenden Position ist. Für Schmitts bewusst reaktionäre Position gilt, so könnte man sagen, in grotesk-übersteigertem Maße, was Panajotis Kondylis als fortschreitende Auflösung (der Bedingungen der Möglichkeit) des Konservativismus in der Moderne analysiert hat.108 Obwohl in der Schmitt-

099 Derrida, Jacques, Politik der Freundschaft, Frankfurt am Main, 2000, S. 333. 100 Balke, Der Staat nach seinem Ende, S. 319; zur strukturellen Abwesenheit der Frau in Schmitts Diskurs vgl. Derrida, Politik der Freundschaft, S. 214. 101 Die Institution der Kirche versteht Schmitt als Braut Christi und durch den väterlichen Papst getragene „wunderbare Verbindung des Patriarchalischen mit dem Matriarchalischen“ (Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, S. 12), deren „[H]ermaphroditische[s] (wie Byron sich über Rom ausgedrückt hat)“ (ebd., S. 7) er aber nicht weiter problematisiert. 102 Schmitt, Politische Romantik, S. 176. 103 Derrida, Politik der Freundschaft, S. 218. Auf Derridas Versuch, diesem ‚Entweder‘ ein ‚Oder‘ (ebd.), eine andere (Partisanen-)Logik des Politischen entgegenzustellen, kann ich hier nicht näher eingehen; vgl. aber bereits Schmitt, Carl, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin, 1963. 104 Derrida, Politik der Freundschaft, S. 218. 105 Ebd. 106 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 11. 107 Greiffenhagen, Martin, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, München, 1971. 108 Kondylis, Panajotis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart, 1986.

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E. IRONISCHE POLITIKEN

Forschung umstritten, zeigt sich das auch in seiner Haltung zu der paradigmatischen politischen Konstruktion der Neuzeit, dem Staat. Mit dem Ende der Epoche der Staatlichkeit geht nämlich auch „der ganze Überbau staatsbezogener Begriffe zu Ende […]. Aber seine Begriffe werden beibehalten und sogar noch als klassische Begriffe. Freilich klingt das Wort klassisch heute meist zweideutig und ambivalent, um nicht zu sagen: ironisch.“109

Der ironische Staatstheoretiker Schmitt bleibt indirekt stets orientiert an der (Garantie-)Sphäre des Rechts: Objektiv souverän ist darin, wer subjektiv über das Recht entscheiden kann. Die Frage erübrigt sich, ob „Legitimität“ wirklich, wie Schmitt nicht müde wird zu behaupten, „eine absolut unromantische Kategorie“110 ist. Auch Schmitts Diktatur bewegt sich gegen ihren Willen im Kosmos des romantisch-modernen postfoundationalism. Auch sie kann als ‚Opfer‘ der Säkularisierung die Letztbegründung nicht mehr leisten. Stattdessen setzt sie auf ‚Form‘ – eine eminent ästhetische Kategorie. Und sie tut dies im Tonfall schwärmerischer Melancholie. Nach dem Ende des Staates, des „Modell[s] der politischen Einheit“, des „Glanzstück[s] europäischer Form“111 wird auch Schmitt wie „jeder Staatstheoretiker unfreiwillig zum Staatsironiker“.112

Der Höfling als Vorstufe des politischen Romantikers Als Einsatzpunkt für die Frage nach vormodernen Figuren politischer Ironie taugt am besten Schmitts Verständnis von ‚Ästhetisierung‘. „[A]lles Geistige, auch die Kunst selbst, wird in seinem Wesen verändert und sogar gefälscht, wenn das Ästhetische verabsolutiert und zum Mittelpunkt erhoben wird.“113 Nach bekanntem Muster schlägt diese Ästhetisierung Schmitt zufolge auf die Kunst selbst zurück. „Die neue Kunst ist eine Kunst ohne Werke, wenigstens ohne Werke großen Stils, eine Kunst ohne Publizität und ohne Repräsentation.“114 Immer wieder wiederholt Schmitt formelhaft sein ästhetisch-politisches Dogma einer der romantischen Moderne inhärenten Unfähigkeit zu genuiner Repräsentation. Ästhetisierung steht dabei pars pro toto für eine durchgehende Verweichlichung und romantische Vermischung der Sphären (symptomatisch dafür die dem Marxismus insgesamt unterstellte Widerspiegelungstheorie). Konsequent leitet Schmitt auch in seiner Politischen Romantik seine politische Gegenwartskritik vom Simulacra-Begriff des Barock her. In der ästhetisierten Demokratie werde „überall gleich die ‚Kulisse‘ konstruiert, hinter der sich die eigentlich bewegende Wirklichkeit verbirgt. Darin verrät sich die Unsicherheit der Zeit und ihr tiefes Gefühl, betrogen zu sein. Eine Zeit, die aus ihren eigenen Voraussetzungen keine 109 110 111 112 113 114

Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 10. Schmitt, Politische Romantik, S. 126. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 10. Balke, Der Staat nach seinem Ende, S. 189. Schmitt, Politische Romantik, S. 17. Ebd., S. 16 f.

I. DREI POLITISCHE REFLEXIONEN UM IRONIE

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große Form und keine Repräsentation hervorbringt, muß solchen Stimmungen erliegen und alles Formale und Offizielle für einen Betrug halten.“115

So schließt sich bei Schmitt der circulus vitiosus von ‚Ästhetisierung‘, ‚Kraftlosigkeit‘, ‚falscher barocker Repräsentation‘, ‚Stimmung‘ und letztlich ‚Betrug‘. Mit Bezug auf die bekannte Kantorowicz’sche Theorie der „zwei Körper des Königs“116 stützt sich Schmitts Souveränitäts- und Diktaturtheorie in hohem Maße auf theologische Fundamente des spanischen Absolutismusdiskurses des 17. Jahrhunderts sowie auf dessen nachrevolutionäre Aktualisierungen im 18. Jahrhundert. Ohne mich näher auf die Nuancen der Benjamin-SchmittDebatte einlassen zu wollen, ziehe ich hier eine andere, indirekt an Benjamins Barockanalysen angelehnte Lesart des 17. Jahrhunderts vor. Neueren Untersuchungen zufolge erfährt der Begriff ‚Politik‘ im Laufe eines Jahrhunderts in der Folge Machiavellis – und wohl auch Spinozas – eine nicht zu unterschätzende Neubestimmung. Die „Spannungen im Bedeutungsfeld“ materialisieren sich „im Gebrauch des Wortes ‚Politik‘“.117 Innerhalb der Scholastik war es mangels von der Kirche unabhängiger Politik noch zu keiner Thematisierung autonomer Politik gekommen. Zuweilen war, Aristoteles folgend, ‚politisch‘ in Abgrenzung von Monarchie verstanden worden. Um 1660 lassen sich schließlich politikwissenschaftlich fünf Hauptbedeutungen von ‚Politik‘ festmachen. „1. Es gibt ‚Politik‘ nach wie vor als Lehre von den Staatsformen und ihren Gesetzen, nun freilich vor allem auf die Wirklichkeit der modernen Machtstaaten ausgerichtet. 2. Als ‚Politicus‘ gilt, wer mit staatlichen, vor allem diplomatischen Aufgaben betreut ist. 3. In betontem Gegensatz zur Geistlichkeit können auch allgemein die weltlichen Berufe als ‚politisch‘ bezeichnet werden. 4. Als ‚Politicus‘ gilt, wer sich in Kleidung und Umgangsformen höfisch-weltmännisch zu geben weiß. 5. ‚Politisch‘ handelt, wer in ‚kluger‘, auch skrupelloser Weise, unter konsequenter Ausnutzung sich bietender Gelegenheiten seinen individuellen Erfolg, sein irdisches ‚Glück‘ sucht.“118

Betrachtet man im Vergleich dazu Schmitts Diskussion des Politikbegriffs des 17. Jahrhunderts, dann lässt sich – abgesehen von den historisch fragwürdigen Simplifizierungen – von einer ‚Politikbetrachtung von oben‘ sprechen, welcher das Korrektiv einer Perspektive ‚von unten‘, quasi eine ‚kleine Politik‘119, entgegenzusetzen wäre. Dafür muss der Schmitt’sche, außer an Bodin hauptsächlich an Hobbes festgemachte Souveränitätsbegriff nicht widerlegt werden. Es genügt aufzuzeigen, inwiefern er in seiner Reinheit eine metaphysische Hypostasierung ist.

115 Ebd., S. 16. 116 Kantorowicz, Ernst H., Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München, 1990. 117 Brandstetter, Der hohle Zirkel, S. 13; hier und in der Folge stütze ich mich stark auf Thomas Brandstetters Studie, speziell auf das erste Kapitel zur „Politik im Diskurs des Staates“. 118 Barner, Wilfried, Barockrhetorik, Tübingen, 1970, S. 142. 119 In Anlehnung an Deleuzes und Guattaris Verständnis einer ‚kleinen Literatur‘ Kafkas (vgl. dazu unten das Unterkapitel III. „Kafkas Gesetzeslogik“).

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E. IRONISCHE POLITIKEN

Einen Beleg dafür sehe ich darin, dass der Ort des vermeintlich autonomen Politischen schon im 17. Jahrhundert von Höflingen besetzt war. Über diese Pluralität, die absolutistische Macht als eine immer schon von höfischen Machtpartikeln durchsetzte erweist, hat Schmitt stets von oben herab hinweggesehen. Die mit Höflingen verbundene ständige „Weitergabe von Geheimnissen und das klandestine Operieren [werden] zur entscheidenden Verwirrung des Politischen“120 nicht erst in den Spionageuniversen des Kalten Kriegs oder heute als deutungsöffnende „Ironie […] im Kontext der Politikberatung“121. Aus der Perspektive des (barocken) Höflings, also jenes höfischen Subjekts, das sich bereits in seiner privaten Funktion als Verführer als ein Generator oder Katalysator von Individualisierungsprozessen erwiesen hat, erscheint Macht immer schon anamorphotisch verzerrt. Seiner höfischen Stellung ist ein Wissen, wo nicht um die Macht, so ganz sicher um die Entscheidungsschwäche der ehedem gottgleichen Herrscher eingeschrieben. Deswegen sind die höfischen Ränke, Intrigen, Machtspiele feste Bestandteile einer nur ideologisch aufrechterhaltenen Souveränität. Nicht anders als das „Gesetz der Ironie“ das „Gesetz der Bastardisierung heißen [kann]“122, kann der Höfling als Parasit der höfischen Machtströme verstanden werden. „Seine Mimikry ist weit mehr als bloße Heuchelei“, schreibt Michel Serres über den Parasiten allgemein, „Heuchelei bedeutet Unterdeterminierung, also, was unter der Entscheidung liegt“123 – sie bedeutet, was Hegel einen „Heroismus der Schmeichelei“124 nennt. Der Höfling ist ein sein eigenes politisches Glück schmiedender Spieler. Brandstetter parallelisiert seine Aktivitäten mit der parallelen Erfindung und Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung.125 Das Interesse an dieser neuen mathematischen Wissenschaft ist auch Ausdruck des prekären Versuchs, Entscheidungen über qualitative Probleme mittels quantitativer Analysen näherzukommen. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist dabei nur eines aus jenem Arsenal an Phänomenen der (Beherrschung der) Simulation, dem auch die Faszination für Anamorphosen und diese auflösende Enttäuschungsspiegel zuzurechnen ist. Damit ist ein weiteres Mal das Problem der Epoche indiziert, jene Entscheidungsunfähigkeit und Unentschlossenheit, die sich exemplarisch in Hamlets Melancholie ausdrückt. Die diesbezüglich bedeutende Pointe von Benjamins (Schmitts Theorie verdrehendem) Trauerspielbuch ist darum auch weniger, dass das Ästhetische keine Entscheidungen kenne, sondern der Aufweis des politischen Raums selbst als eines ‚theatro-theologischen‘.126 Dieser (barocke) politische 120 121 122 123 124 125 126

Horn, Der geheime Krieg, S. 101. Krumm, „Die Ironie der Ironie“, S. 285. Hamacher, „Afformativ, Streik“, S. 370. Serres, Michel, Der Parasit, Frankfurt am Main, 1987, S. 318. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 378. Vgl. Brandstetter, Der hohle Zirkel, S. 72 f. Ich entnehme diesen Ausdruck dem Aufsatz Samuel Webers „Taking Exception to decision. Theatrical-theological Politics – Walter Benjamin and Carl Schmitt“, in: Walter Benjamin 1892–1940, hrsg. v. Uwe Steiner, Bern u. a., 1992, S. 123–137.

I. DREI POLITISCHE REFLEXIONEN UM IRONIE

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Raum gehorcht nicht mehr der perspektivischen Logik der Renaissance Brunelleschis. Selbst die strengste Perspektivik taugt nicht mehr zur Konstruktion eines virtuell-idealen Orts als Flucht- und zugleich Sichtpunkt produktiv-leerer Subjektivität. Für den absolutistischen Staatsdiskurs des Barock kann deshalb mit Lefort von einem „virtuellen Ort“ des Königs gesprochen werden. Symptomatisch dafür ist „Paladios teatro olympico in Vicenza“, in dem „die Blicke der Zuseher [im Gegensatz zu dem des Königs; A. A.] durch Hindernisse versperrt“127 waren. Nur mehr theatralisch inszeniert ließ sich also dort und anderswo ein absoluter, einzigartiger Blickpunkt konstruieren. Schon das Barock stellte Transzendenz nur mittels aufwendigster Konstruktionen her. Zugleich setzt eine schleichende metaphysische Korrosion souveräner Machtkonzeptionen ein. Mit der Revolution wird das manifest und ruft die hier thematischen ironischen Reaktionen hervor. Die Inkorporation der souveränen Macht in der Gestalt des Königs und ihre örtliche Fixierung am Hof konnten das noch teilweise verschleiern. Wie später die Figur des Ironikers ist der Höfling ein Gestalt gewordenes Pharmakon: Er ist beruhigende Personifikation der Anerkennung des Königs und zugleich ein subversiver Unruheherd. Mit dem zunehmenden Verschwinden des Typus ‚gewandter Höfling‘ änderte sich nicht einfach der Blick auf Ironie im Sinne einer Abwendung von ihrem Verständnis als charmantes Parlieren. Dieser Wechsel ist über diesen Bedeutungswandel hinaus genauer zu fassen. Jenseits parfümierter Scherze des 18. Jahrhunderts „irony suddenly assumed a prominent position“128 in dem Moment, als sich dieses Jahrhundert in der Französischen Revolution von sich selbst verabschiedete. In der Demokratie bricht die Krise der Macht offen aus und wird allen sichtbar. Der mit ihr einhergehende demokratische Diskurs stellt die fundamentale Unbegründbarkeit letzter Entscheidungen in seinen Mittelpunkt. Denn die Leistung der Demokratie – so sie sich nicht in postdemokratischer Administration erschöpft – ist unentwegte (kritische) Sichtbarmachung und Prozessualisierung (der Krise) von Macht. Dies ist nun nicht im Sinne einer Personifizierung zu verstehen, als ob einzelne Personen sich die gleichwohl existierende souveräne Macht streitig machten. ‚Korruption von Macht‘ muss in der Moderne vielmehr als umfassend verstanden werden: Die Macht selbst ist heteronom geworden; sie ist sichtlich gezeichnet von den Prozessen ihrer Selbstverunmöglichung. In diesem Sinne versuche ich die von Schlegel skizzierten drei (ästhetischen, philosophischen, politischen) Tendenzen der ironischen Moderne zusammenzudenken. Dass Schmitt deren epistemische Verbundenheit ignoriert, erklärt sowohl seine Feindschaft gegenüber den Romantikern als auch die verzweifelte Aussichtslosigkeit seiner Abgrenzungsversuche. Seine Argumentation beruht selbst

127 Brandstetter, Der hohle Zirkel, S. 110. 128 Furst, Fictions of Romantic Irony, S. 24.

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E. IRONISCHE POLITIKEN

auf den epistemischen Grundlagen des ästhetischen Regimes des Denkens (nicht nur über Kunst). Nur innerhalb desselben kann Schmitt ästhetische Produktion und politische Tätigkeit der literarischen Romantiker so selbstverständlich parallelisieren. Das Wesen der Romantiker war Schmitt zufolge „der Widerhall fremder Aktivität, auch sie suchten daraus ihre Produktivität zu gewinnen. Sozial und geistig ohne Halt, unterlagen sie jedem starken Komplex, der in ihrer Nähe mit dem Anspruch auftrat, als wahre Realität genommen zu werden. Sie konnten sich daher, ohne ein moralisches Bedenken, ohne ein anderes Verantwortungsgefühl als das eines diensteifrigen, servilen Funktionärs, für jedes politische System benutzen lassen, wie man das an Adam Müllers administrativer Tätigkeit feststellen kann. […] Einer künstlerischen Gestaltung im eigentlichen Sinne [Schmitt denkt hier wohl wieder an die von ihm propagierte ‚eigentliche‘ Repräsentation; A. A.] waren sie nicht fähig, weil sie […] Occasionalisten“129

blieben. Die Argumentation scheint von dem Gebiet der Ästhetik über ein politisches Argument wieder zu einem ästhetischen Urteil zurückzukehren. Genau genommen ist ironischer Occasionalismus für Schmitt ein generelles Verdachtsmoment. Darin ist Schmitt letztlich (aisthetisch) prämodern. Er will Macht sehen – und wenn es im diktatorischen Führer ist. Nur so erklären sich seine Invektiven gegen die romantischen Funktionäre. Die moderne Bürokratie zeigt – im Gegensatz zum literarisch am eindrücklichsten von Balzac beschriebenen Kauf- und Verwaltungsadel oder den von Zola minutiös ausgebreiteten kulturellen Auswirkungen des neuen Geldadels – Macht meist nur als gespensterhaftes Phantom. Analog Schlegels Neubestimmung der (romantischen, permanent parekbatischen) Ironie kann hier mit Blick auf ‚moderne Bürokratie‘ von einem ‚Strukturalwerden‘ oder ‚Medialwerden‘ diesmal des Höflings gesprochen werden. Nicht mehr einzelne höfische Individuen genießen das Privileg theatralischer Exponiertheit, sondern diese verteilt sich in geschwächter Form auf alle Bürger. Auf den exemplarischen literarischen Theoretiker der Bürokratie, Kafka, wird nicht zuletzt deswegen im Zusammenhang einer Ironisierung des Gesetzes noch zurückzukommen sein. Nach den hier erfolgten drei Reflexionen einer postfoundationalist und damit modernen Ironie ist zuvor aber noch über die Frage zu entscheiden, ob Ironie selbst letztlich in ihrem Einsatz im Feld des Politischen progressive oder regressive Züge trägt.

129 Schmitt, Politische Romantik, S. 111 f. Diese Einschätzung ist wiederum kunsttheoretisch begründet. Denn – so Schmitt anscheinend in Unkenntnis analoger Phänomene bereits in Bachs weltlichen Kantaten und religiösen Oratorien – die romantische „unbegrenzte Welt von Assoziationen und Andeutungen läßt sich mit jeder Melodie, mit jedem Akkord, ja mit einem einzelnen, angeschlagenen Ton in Beziehung bringen; die Deutbarkeit ist unbeschränkt. Dieselbe Melodie kann heute ein leichtfertiges Liebeslied und in einigen Jahren ein ergreifendes Bußlied sein.“ (Ebd.)

II. THESE UND ANTITHESE

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II. THESE UND ANTITHESE II. THESE UND ANTITHESE

„Wenn der israelische Zwerg den modernen Goliath wieder einmal geschlagen hat, leuchtet in den Augen des Siegers eine dreitausendjährige Ironie auf.“ Peter Sloterdijk130

1. These: Von der strukturellen politischen Subversivität der Ironie „Anders seyn und anders scheinen, / Anders reden, anders meinen, / Alles loben, alles tragen, / Allen heucheln, stets behagen, / Allem Winde Segel geben, / Bös- und Guten dienstbar leben; / Alles Thun und alles Tichten / Bloß auf eignen Nutzen richten: / Wer sich dessen wil befleissen, / Kan politisch heuer heissen.“ Friedrich von Logau131

Bei aller Unverlässlichkeit der Quellen über Sokrates steht eines mit Sicherheit fest: Einer Vielzahl von Athenern ist er als Gefahr erschienen. Gerade die Divergenz der Beschreibungen dieser ersten geschichtlich überlieferten durchgängig ironischen Figur würde bereits ausreichen als Beleg für die folgende These: Ironie ist subversiv, weil sie per se Verwirrung stiftet. Eine empirische Untersuchung über die Frage, ob innerhalb der letzten zweitausend Jahre ironische Aussagen überwiegend fortschrittlichen oder einen wie immer gegenteiligen Charakter gehabt haben, wäre ebenso sinnlos wie unsinnig. Die Aufzählung irgendwelcher konservativer Ironiker tut nichts zur Sache. Empirisch lässt sich Ironie nicht bewerten. Will man die Subversivität der Ironie belegen, genügt es, die ihr eigene Logik zu betrachten; zu verstehen, dass es nichts Endgültiges zu verstehen gibt. Entscheidend ist die rhetorische Logik ironischer Aussagen, nicht deren jeweiliger Inhalt. Wer diese Unterscheidung nicht bedenkt, verfällt den üblichen Vorurteilen. Gewiss gibt es konservative, rückschrittliche oder einfach dumme ironische Aussagen – aber das betrifft nicht den indirekten Sprechakt Ironie. Was diesen Sprechakt, so er überhaupt erkannt wird, intrinsisch auszeichnet, ist die Schwierigkeit, ja bisweilen Unmöglichkeit, ihn einzuordnen. Als Altphilologe wusste Nietzsche um die Rhetorik als spezifisch republikanische Kunst. Bei aller Gegnerschaft zur (unaristokratischen) Auflösungskraft des sokratischen Diskurses findet sich bei dem alltagspolitisch konservativen Deutschen doch eine vergleichbare stilistische Strategie. Gerade gegen den kunst- und also täuschungsfeindlichen Diskurs von zweitausend Jahren sokratisch-christlicher Philosophie wendet er dessen eigene Methode. Zum Beispiel „das asketische 130 Sloterdijk, Peter, Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt am Main, 1983, S. 425. 131 Zit. nach Brandstetter, Der hohle Zirkel, S. 29.

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E. IRONISCHE POLITIKEN

Ideal“, das „auch in der geistigsten Sphäre einstweilen immer nur noch eine Art von wirklichen Feinden und Schädigern [hat]: das sind die Komödianten dieses Ideals, – denn sie wecken Misstrauen“.132 Nietzsche will die Metaphysik ironisch unterlaufen, indem er sie mit ihren eigenen Waffen schlägt bzw. ihre eigene Logik gegen sie richtet. Gegen den Wahrheitswillen Platons, des Christentums und der Aufklärung skizziert er die paradoxen Konsequenzen des Untergangs der Wahrheit und des Glaubens an diese. Die Abgrenzung der Wahrheit von Lüge selbst wird von ihm als paradoxer Täuschungsakt erkannt. Dagegen setzt er weniger eine bewusste Täuschung als ein ironisches Sich-Abfinden mit deren prinzipieller Unumgänglichkeit. Was sonst als argumentative Paradoxie erscheinen könnte, zeigt sich vor diesem Theoriehintergrund als zentrales Moment von Nietzsches Stil, des Aufbaus seiner Aphorismen und noch der ihm eigenen Ironie. Neben Nietzsche ist es seitens der bisher behandelten Autoren vor allem die Sprach- und Worttheorie Bachtins, welche die strukturelle Subversivität von Ironie verdeutlichen hilft. „Alle karnevalesken Formen sind konsequent außerkirchlich und areligiös. Sie gehören zu einem völlig anderen Lebensbereich“133, lautet eine der zentralen Thesen von dessen Rabelaisstudie. Diese Beschreibung verliert im Zeitalter der von Marx konstatierten ‚realen Subsumption‘ ihre Gültigkeit. Dass es kein Außen der Macht (mehr) gibt, hat sich als eine der epistemischen Bedingungen des notwendigen kulturellen Wechsels von karnevalistischen zu ironischen Praktiken gezeigt. Weil alles in den kapitalistischen Konsum- und Produktionszyklus integriert ist, kommt Ironie zu ihrer modernen Bedeutung. Ironie ist, um eine zeitgenössische Kunstrichtung zu bemühen, eine site specific art zu reden, zu schreiben, zu denken. Es gibt „no possibility of victory in terms of an already acquired cultural authenticity. The increasing awareness of this fact explains the centrality of the concept of ‚hybridisation‘ in contemporary debates“134, so Ernesto Laclau über einen von Bachtins zentralen Begriffen. Zwar gehört eine hybride Konstruktion „ihren grammatischen (syntaktischen) und kompositorischen Merkmalen nach zu einem einzigen Sprecher“, in dem sich laut Bachtin „in Wirklichkeit aber zwei Äußerungen, zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei ‚Sprachen‘, zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen“.135 Das Skandalon der Ironie liegt darin, auf die grundsätzliche Vermischtheit sprachlicher Konstruktionen zu rekurrieren und diese immer weiter zu forcieren. Gerade Sinn bzw. Wertung einer ironischen Aussage sind an ihrer Basis niemals einstimmig oder eindeutig. Jede ironische Aussage kommuniziert die ihr zugrunde liegende Polyphonie und vermittelt darüber hinaus ein Gefühl bleibender Unruhe. Ironische Aussagen lassen sich nicht endgültig ausdeuten oder abschließend bewerten.

132 133 134 135

Nietzsche, Friedrich, Zur Genealogie der Moral, in: ders., KSA, Bd. 5, S. 245–412, hier S. 409. Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 54. Laclau, Emancipation(s), S. 50. Bachtin, „Das Wort im Roman“, S. 195.

II. THESE UND ANTITHESE

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Lobt er mich jetzt oder nicht? Meint sie das nun ernst? Auch Ironie ist nicht auf der Ebene bewusster Täuschung zu verstehen, sondern aus dem oben skizzierten paradoxen (Nicht-)Wissen, sie steht auf dem unsicheren Fundament der Unsicherheit aller sinnhaften Konstruktionen. Ironie sucht diese an ihrem ureigenen Ort auf, wie Sokrates seine Opfer auf dem Marktplatz. „Der gewissenlose und geschickte Polemiker“ und Ironiker „weiß genau, welchen dialogisierenden Hintergrund er den exakt zitierten Wörtern seines Gegners geben muß, um ihren Sinn zu entstellen. Besonders leicht ist es, den Grad der Objekthaftigkeit des fremden Wortes durch kontextuelle Einwirkung zu steigern […]. So kann man etwa eine ernstgemeinte Äußerung leicht in eine komische wenden.“136

Was sich zuvor mit Bachtin als eines der indirekten Sprachmomente der Romanprosa ergeben hat, das dekonstruktive Akzentuieren von Wörtern nämlich, funktioniert auch in politischem Sprechen „humoristisch, ironisch, parodistisch“.137 Vom karnevalistischen Volkslachen bis zum ideologiefeindlichen Romanwort gewinnt Bachtins Theorieeinsatz vor dem Hintergrund der stalinistischen Kulturpolitik und im theoretischen Widerstand gegen diese deutlichere Konturen. Unter Berufung auf seine Sprachpolitik haben deswegen, neben Deleuze und Guattari138, speziell Vertreter diverser Minoritäten auf dessen Theorievokabular zurückgegriffen. In Verbindung etwa der „early idea of black double consciousness and Bakhtin’s notion of double-voiced discourse, African American theorists have indirectly theorized irony in their discussions of ‚signifying‘ […]. This idea of an irony […] functions to repeat and yet to revise the white discourses“139,

ermöglicht also eine kritische Distanzierung und öffnet Fluchtwege. Analoges gilt für feministische Theoretisierungen ironischer Strategien, wie sich pars pro toto an Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter zeigen lässt. Dabei stützt sich Butler nicht zuletzt auf die mit Bachtin argumentierenden Analysen Monique Wittigs.140 Das Konzept einer „Literalisierung des Körpers“ oder „der Anatomie“141 richtet sich dabei gegen die Unterscheidung zwischen abstraktem Begriff und materieller Realität. Gender, Geschlechtsidentität – nicht zu verwechseln mit sex als dem anatomischen Geschlecht, das gleichwohl auch Effekt der Gender-Funktionen ist –, wird als eine diskurspolitisch konstruierte Kategorie 136 Ebd., S. 227. 137 Ebd., S. 190. 138 Vgl. zur Diskussion und Parallelisierung von black english und der Sprachsituation im alten Österreich Deleuze und Guattari, Tausend Plateaus, speziell S. 143. 139 Zu den einzelnen Nachweisen vgl. Hutcheon, Irony’s edge, S. 31. 140 Ich beziehe mich hier hauptsächlich auf Judith Butlers Diskussion ihrer Thesen in Das Unbehagen der Geschlechter (vgl. im Speziellen das Kapitel „Monique Wittig. Die Desintegration der Körper und das fiktive Geschlecht“, ebd., S. 165–189). Zum Thema Gender-Identifikation und Melancholie vgl. auch Joan Rivieres 1929 publizierten Text „Womanliness as a Masquerade“, in: International Journal of Psycho-Analysis, 10 (1929), S. 303–313. 141 Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 111 und 113.

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E. IRONISCHE POLITIKEN

verstanden. Die dementsprechenden „politischen Verfahrensweisen werden aber durch eine Analyse, die sie auf Rechtsstrukturen zurückführt, wirksam verdeckt und gleichsam naturalisiert, d. h. als ‚natürlich‘ hingestellt“.142 Gegen diese ideologische Natürlichkeit wendet sich Butler, wie schon der weniger feministische als fetischistische143 Baudelaire ein Jahrhundert vor ihr, mittels einer Radikalisierung der Kategorien ‚Künstlichkeit‘ sowie des jüngeren Begriffs ‚Hybridität‘.144 Mit Bezug auf Nietzsches Sklavenmoral-Polemik kritisiert Butler damit zugleich eine bestimmte Spielart von Identitätspolitik. Seit der Romantik wiederum ist Butler zufolge jenes Denkmuster, jene gedankliche Strategie bekannt, wonach „genau aus dieser Differenz, diesem Spalt, dieser Inkommensurabilität zwischen dem Realisierbaren und dem Idealen ein gewisses Streben hervor[tritt], das immer das Ideal zu realisieren versucht, es aber nie kann“.145 Gegen eine auch noch so „regulative“ Identitätspolitik kann sich die transformative und subversive Kraft einer „Ironie des Protests“146 nur innerhalb eines Verständnishorizontes genuiner Hybridität erweisen. Die postfeministische, „antifundamentalistische Methode“ soll so zu einer Praxis ohne „stabile, einheitliche und allgemein anerkannte Identität[en]“147 führen. Butlers Versuch geht dahin, mittels der üblichen kulturellen Zuschreibungen an ‚Weiblichkeit‘ zu einer Verzerrung des universalisierenden männlichen Diskurses zu gelangen. Ihr Ziel ist eine Verschiebung, die aber gerade nicht mehr einer Logik metonymischer Sehnsucht gehorcht, sondern ihres deformativen Potenzials eingedenk bleibt. ‚Reflexivität‘ operiert hier nicht im Dienste eines unerreichbaren vollen Geschlechts, sondern als hybridisierende Potenzierung. Ausgangspunkt der Überlegungen sind hier wieder psychoanalytische Überlegungen in der Folge Freuds und Lacans. Die zentralen Terme lauten ‚Einverleibung‘, schwaches ‚Über-Ich‘ und schließlich ‚Melancholie‘ angesichts der Unmöglichkeit, ‚Phallus‘ zu haben, zu sein oder ihn ausreichend repräsentieren zu können.148 142 Ebd., S. 17. 143 Zu ‚Fetischismus‘ als Zentralbegriff einer feministisch-politischen Ästhetik noch der 1970er Jahre vgl. Mulveys bereits angeführten Aufsatz „Some Thoughts on Theories of Fetishism“. 144 Vgl. in diesem Zusammenhang die generelle Übersicht von Bernd Wagner („Kulturelle Globalisierung. Weltkultur, Glokalität und Hybridisierung“, in: Kulturelle Globalisierung. Zwischen Weltkultur und kultureller Fragmentierung, hrsg. v. Bernd Wagner, Essen, 2001, S. 9–38, hier S. 17): „Hybridisierung meint die Vermischung verschiedener kultureller Stile, Formen und Traditionen, aus der etwas Neues entsteht, eine ‚globale Melange‘“. Ebenso wie ‚Kreolisierung‘ indiziert ‚Hybridisierung‘ eine positive Bewertung der Vermischung und Entwicklung ohnedies nicht als einheitlich verstandener Kultur. Als verwandte Phänomene wären noch zu nennen: ‚Glokalisierung‘ als Bezeichnung für die lokale Aneignung und Veränderung globaler Phänomene sowie ‚Metissage‘ als synthetische Auflösung von Unterschieden. 145 Butler, Judith, „Poststrukturalismus und Postmarxismus“, in: Das Undarstellbare in der Politik. Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus, hrsg. v. Oliver Marchart, Wien, 1998, S. 209–224, hier S. 216. 146 So ein Aufsatztitel von Bonacker, Thorsten, „Die Ironie des Protests. Zur Rationalität von Protestbewegungen“, in: Die Ironie der Politik, S. 195–212. 147 Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 36. 148 Lacans Aufsatz über „Die Bedeutung des Phallus“ zufolge drehen sich die Beziehungen zwischen den Geschlechtern ‚um ein Sein und Haben‘. Die Frauen hätten keinen, seien aber der

II. THESE UND ANTITHESE

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In radikaler Konsequenz folgt daraus die Substanzlosigkeit jeder ontologischen Bestimmung von ‚Geschlecht‘. Denn nicht nur tragen Frauen für Männer ihre Maske, vielmehr hat sich gezeigt, inwiefern wir uns alle in doppeltem Sinne maskieren. Als (dis)simulatorische decken Masken zu und auf zugleich. Verdeckungsund Abdeckungsprozess sind keine zeitlich aufeinander folgenden Vorgänge, sondern sind, der spezifischen Temporalität ironischer Figuren gehorchend, ein und derselbe Prozess, der immer schon stattgefunden hat. Im besten Falle entdecken wir uns ironisch immer wieder aufs Neue, um dann Einheit nur mehr mittels ebendieser Ironie zu simulieren. Aber nicht nur den anderen täuschen wir etwas vor, vielmehr begründen wir uns noch vor uns selber mittels Täuschung. Nur täuschend echt werden wir zu uns selbst. Je mehr wir darum wissen, desto freier und produktiver gestaltet sich dieser Prozess. „Und dieses beständige Verfehlen, sich ganz und ohne Inkohärenz mit diesen [normativen, heterosexuellen; A. A.] Positionen zu identifizieren, entlarvt die Heterosexualität selbst nicht nur als Zwangsgesetz, sondern auch als unvermeidliche […] wesenhafte Komödie, eine fortgesetzte Parodie ihrer selbst“.149

Mit Wittig verstanden bedeutet „[l]esbisch oder schwul“ oder queer zu sein, „nicht mehr zu wissen, was das eigene Geschlecht ist, d. h. an einer Verwirrung und Vervielfältigung der Kategorien teilzunehmen, die das ‚Geschlecht‘ zu einer unmöglichen Identitätskategorie macht“.150 Der Queer-Diskurs funktioniert, so verstanden, als ironisches Performativ, das straighte Identitätsmerkmale nur scheinbar übernimmt, diese in Wahrheit aber fetischistisch umkodiert. Tatsächlich aber bringt es sie mittels Simulation und Übersteigerung zu Fall, nicht anders als sich auf Authentizität berufende Unterscheidungen. „Denn Schwulsein verhält sich zum Normalen nicht wie die Kopie zum Original, sondern eher wie die Kopie zur Kopie.“151 Mit dem Unterschied von scheinbarer und wahrer Welt ist im ironischen Universum auch die Relation von Urbild und Abbild hinfällig geworden. „Die parodistische Wiederholung des Originals […] offenbart, daß das Original nichts anderes als eine Parodie der Idee des Natürlichen und Ursprünglichen ist.“152 Was hier innerhalb des (Post-)Feminismus konzeptionell vorgestellt wurde, kann verallgemeinert werden. Der ironische Imperativ lautet, auch politisch Verwirrung anzustiften, also sublim aus der defensiven Position übergangslos eine des

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Phallus für den Mann, sollen seine Allmächtigkeit widerspiegeln. Deswegen müssen sie sich angeblich auch immer schminken. Generalisiert und übersteigert man nun diese heute etwas seltsam anmutenden Betulichkeiten des psychoanalytischen Frauenbildes der fünfziger Jahre, dann eröffnet sich interessanterweise ein Panorama allgemeiner substanzloser Identität beider Geschlechter. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 181. Ebd. Ebd., S. 58. Ebd.

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E. IRONISCHE POLITIKEN

Angriffs zu machen. Ironie ist die Guerilla-Taktik diskursiver Minoritäten schlechthin: Aus der Notwendigkeit der Aneignung des majoritären Diskurses wird die Tugend, lokale Instabilitäten zu produzieren – Instabilitäten und somit Freiräume innerhalb eines Feldes vorgefasster Meinungen zu schaffen. Vor aller subversiven Strategie ist Ironie deswegen für die Fremde Lebenselixier schlechthin, der Raum, in dem sie frei schwebt, die Luft, die sie atmet. Die Fremden sind, und Julia Kristeva muss es wissen, „oft die besten Ironiker“153, weil sie wie niemand sonst von dieser perversen Lust der Entfremdung heimgesucht werden. Sie sind gesteuert und angefeuert von einem eingeborenen Fremdsein gegenüber den Anderen, welches sich auch mit den Auswirkungen der Globalisierung auf die kollektive Mobilität nicht wirklich reduziert hat. „Ohne Zuhause vollführt“ der Fremde auch weiterhin „das Paradox des Komödianten: Während er die Masken und die ‚falschen Selbst‘ vervielfacht, ist er niemals wirklich wahr und niemals wirklich falsch“154: Kultivierung seiner zumindest doppelten Identität, wenn nicht „Kaleidoskop von Identitäten“.155 Sein „Simulationstrieb“ oder „Impuls zur Simulation“ treibt dazu, so Roland Barthes, nicht ein anderer zu sein, sondern auf irgendeine Weise anders zu sein“.156 So kann der Fremde auch auf andere im Sinne eines Fremdwerdens wirken. „Der bewunderte Fremde drängt mich, treibt mich dazu, aktiv das Fremde in mir zu bejahen, den Fremden, der ich für mich bin.“157 Dieser ironische Fremde ist bei Weitem kein besserer Mensch. Er ist mimosenhaft, ungerecht in seinen Urteilen und (freilich nicht ganz zu Unrecht) paranoid. Er ist nicht einfach Pessimist und liegt in seiner Misanthropie doch nie wirklich falsch. „Optimismus ist nur ein Mangel an Information“, so Heiner Müller. Obwohl stets Katalysator und Projektionsfläche von Aggressionen, bleibt der Fremde Utopist. In seiner nervtötenden Art – „Mit dieser Welt gibt es keine Verständigung; wir gehören ihr nur in dem Maße an, wie wir uns gegen sie auflehnen“ (Adorno) – hält er ein Ideal hoch: die wilde Utopie, ein ganz anderes Leben zu leben. Wiederum Adorno, „Nach Steuermanns Tod“: „Der unerbittlich zarte Ironiker verkörperte das Gute, das in seiner Positivität versperrt ist. Er vollbrachte im falschen Leben ein richtiges“.158 Dazu gehört freilich, sich das Recht zu nehmen, sich danebenzubenehmen. Ständiger Verfolgungswahn gemischt mit parasitärer Arroganz. ‚Immer widersprechen‘ lautet die andauernde, fast schon genetische Wahrheit des stets widerständigen ironischen Fremden. Der Fremde ist Widerspruch selbst dann, wenn er nichts sagt. Um ein anderes Pathos der Distanz handelt es sich in der erhöhten 153 Kristeva, Julia, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt am Main, 1990, S. 20. 154 Ebd., S. 18. 155 „[D]iese erlesene Distanz, […] der Impuls meiner Kultur. Doppelte Identität, Kaleidoskop von Identitäten“ (ebd., S. 23). 156 Barthes, Die Vorbereitung des Romans, S. 220. 157 Ebd., S. 221. 158 Adorno, Theodor W., „Nach Steuermanns Tod“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 311–317, hier S. 317.

II. THESE UND ANTITHESE

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Sensibilität des Fremden, welche ihn letztlich auch von seinen linkischen Sympathisanten in Abstand hält. Dass er auch beim besten Willen überall fremdelt, das ist der tiefere Sinn, die Fruchtbarkeit seiner Mimosenhaftigkeit. Nicht nirgends, sondern an so vielen Orten wie möglich und anders zuhause zu sein.

2. Antithese: Der strukturelle Elitismus der Ironie „Weiblichkeit […] – die ewige Ironie des Gemeinwesens.“ Hegel159

Bei aller Neufundierung und Rekonzeptualisierung der Ironie darf man sich nicht täuschen lassen. Wenn Friedrich Schlegel Ironie zu einem seiner zentralen theoretischen Konzepte macht, dann wählt er damit einen gesellschaftspolitisch vorbelasteten Begriff. Ironie, das war im 18. Jahrhundert zumeist ein gesellschaftlicher Ton, eine Redeweise, gern gepflegt von den höheren, ja höfischen Kreisen. Diese parasitieren nicht nur ökonomisch, sondern auch ihre „Ironiesignale […] operieren parasitär auf den Faktoren, die an dem jeweiligen Sprechakt beteiligt sind“, wobei gilt: „Je höher […] die Signalschwelle […], desto mehr wird der Gegenstand der Ironie herabgestuft zum Anlaß einer Artifizialität seiner Vermittlung, die dem Kenner schmeichelt und solchen Verstehensgenusses der happy few wegen riskiert, daß das ironische sacrificium intellectus bei der Masse, wofern es sie überhaupt erreicht, nicht erkannt wird.“160

Von diesem elitären Hintergrund wird sich Ironie nie losmachen können. Ironie ist noch heute die Trope der blasierten upper classes, welche sich der Zudringlichkeiten von unten mit dem ihnen eigenen Pathos der Distanz zu erwehren suchen. Dazu bietet Ironie sich an: Jede noch so kurze ironische Aussage operiert mittels Ausschlussverfahren. Wer die Ironie versteht, bleibt drinnen, der Rest gehört nicht dazu. „In a negative sense, irony is said to play to in-groups that can be elitist and exclusionary.“161 Elitismus ist somit der Trope Ironie funktional eingeschrieben, selbst wenn, was gewiss oft der Fall ist, der Ironische allein bleibt. Von daher wird ihre Allgegenwart etwa in Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft verständlich. Ohne Ironie wäre weder der ‚Zynismus‘ genannte Modus aufgeklärten falschen Bewusstseins möglich noch die grundsätzliche Haltung des „ächten Cynikers“, den Novalis in seinen politischen Fragmenten auch als politischen „Indifferentisten“162 identifiziert hat. 159 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 352. 160 Warning, Rainer, „Ironiesignale und ironische Solidarisierung“, in: Das Komische, hrsg. v. Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning, München 1976, S. 416–427, hier S. 420 und 422. 161 Hutcheon, Irony’s Edge, S. 54. 162 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 500. Ein Kriterium ist für Novalis, wie leicht Könige „ihre Rollen wechseln“ können (ebd.).

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Als Abziehbild auch gegenwärtiger Kultur ist Ironie eine „convention for establishing complicity“, ein „screen of bad faith“ (Thomas Lawson), ja schließlich „a commodity in its own right“ (David Austin-Smith) geworden, deren „monadic relativism“ (Frederic Jameson) pseudokritisch bleibt, um nur einige ironiekritische Ansichten anzuführen.163 Dieser Mechanismus der Ironie hat sich oben als strukturaffin zum Fetischismus erwiesen. „Der ‚Fetischismus‘ als Praxis der Verleugnung, der Ichspaltung und des Operierens mit einer Einbildung der anderen ist“, wie Robert Pfaller unter Berufung auf Octave Mannoni deutlich gemacht hat, „keineswegs auf manifest sexuelle ‚perverse‘ Praktiken beschränkt“.164 Ironisch weiß man es zwar immer besser, aber das hindert einen keineswegs daran, ideologisch mitzumachen. Dazu stimmt Slavoj Žižeks immer wieder variierte These, dass gerade das ideologisch Falsche phantasmatisch genossen werde. Gehandelt wird, ‚als ob‘ man es nicht besser wüsste. Auch für politische Phantasmen gilt die in ethischem Kontext analysierte ironische Logik des Fetischismus. So fügt man sich mit Ironie leicht ins Wissen um die Lebensnotwendigkeit von Täuschung überhaupt. Gerade aus Täuschung und falschem Bewusstsein zieht Ironie ihre perverse Lust. Ihr politisches Schicksal, genauer: ihre politische Nutzanwendung, ist damit vorgezeichnet. Ironie ist ihrem ganzen Wesen nach rückschrittlich und aufklärungsresistent. Zu Recht ist deswegen auch die Kritik an Ironie in den letzten beiden Jahrhunderten nie verstummt. Für die Triftigkeit der Kritik spricht eine relative Stabilität der Argumentation innerhalb von drei hier der Überschaubarkeit halber getrennten Etappen: a) der ironischen Wendung der Spätromantiker zum Katholizismus165 und zur politischen Reaktion Metternichs; b) der ironisch-konservativen, vermeintlich unpolitischen Kritik Thomas Manns an Demokratie und den ihr zugehörigen Zivilisationsliteraten; c) der nachbürgerlichen Ironie einer spätkapitalistischen Postmoderne.

a. Reaktionäre Romantik Anstatt von einer reaktionären ‚Wendung‘ der deutschen Romantik zu sprechen, muss die oft thematisierte konservative ‚Wiener Wende‘ Schlegels vielmehr als schon in seinen frühen, ästhetisch-avancierten Arbeiten angelegt verstanden werden. Noch das aufklärerische Ideal einer ‚herrschaftsfreien Gesprächskultur‘ steht bei den Frühromantikern im Zeichen der von Schlegel zeitweise anvisierten äs163 Zit. vgl. Hutcheon (Irony’s Edge, S. 21), die neben Northrop Frye (Anatomy of criticism. Four Essays, Princeton, 1990) und Wayne Booth noch eine Vielzahl anderer Einschätzungen anführt. 164 Pfaller, Robert, Die Illusion der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur, Frankfurt am Main, 2002, S. 160. 165 Zum Zusammenhang von Schlegels „ästhetischen Regime[n] der Philologie“, die nachträglich teilweise lesbar werden als Vorposten seiner Konversion und des „politische[n] Projekt[s] einer religiösen Erneuerung“, vgl. Matala de Mazza, Ethel, „‚Alle Protestanten sind zu betrachten als ‚zukünftige‘ Katholiken‘. Schlegels Konversionen“, in: Athenäum 18 (2008), S. 101–121, hier S. 102.

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thetischen „Geschmacksdiktatur“.166 Bezeichnenderweise ist schon in der Lucinde die „öffentliche Meinung“ als „hässliches Untier“, „geschwollen von Gift“ beschrieben.167 Die frühromantische Geselligkeit stellt sich etwa in Bernd Bräutigams Beschreibung eher als eine von gesellschaftlich Gleichgeschalteten dar. Schon in den Hegels Argumentationslinien folgenden Hallischen Jahrbüchern von 1840 wurde der romantischen „Aristokratie der Geistreichen“ dann auch der Prozess gemacht. Die „genial Geselligen“ werden aus dem „Katechismus dieser ästhetischen Katholiken“168 abgeleitet. Als vorrangiges Feindbild taugte dazu zunächst Friedrich von Gentz, deutscher Dandy, zeitweiliger Berater Metternichs, und insgesamt „incarnirte[r] Esprit der Lucinde, die handgreifliche Personification der ironischen Genialität.“169 Argumentiert wurde damals unter Berufung auf Gentz’ Briefe, in denen dieser „von seiner ‚Weltverachtung‘, seinem ‚Egoismus‘ sowie seinem blasierten Desinteresse an allem berichtet, was über die ‚Einrichtung meiner Stuben‘, für das ‚Raffinement des sogenannten Luxus‘ und für das ‚Frühstück‘“170 hinausgeht. Im 20. Jahrhundert ist dann weniger Gentz’ privatistischer Dandyismus das Ziel vernichtender Kritik gewesen als der antisemitische Konvertit und Mitbegründer der Christlich-deutschen Tischgesellschaft Adam Müller. Wo bei Gentz, dem Übersetzer von Edmund Burkes gegenrevolutionären Betrachtungen über die Revolution in Frankreich, noch Ironie zu einer Haltung politischer Reaktion führte, da erscheint Müller gerade in seiner politischen Tätigkeit ironisch. Exemplarisch hat diesbezüglich der über jeden moralischen Verdacht erhabene Martin Walser aus den kunsttheoretischen Aphorismen Schlegels die politischen Doppelspiele seines Adepten Müller abgeleitet. Aus der frühromantischen Ironie als freiester aller Lizenzen folgt in Walsers Perspektive notwendig eine spätromantische Spionagetätigkeit im Dienste der reaktionär-katholischen Habsburger. „Schlegel lässt die Ironie über dem Wilhelm Meister schweben, Adam Müller lässt sie in seiner Lehre vom Gegensatz ‚prinzipiell‘ über allen nur denkbaren Gegensätzen schweben.“171 Ähnlich Novalis, dem zufolge der „Regent […] ein unendlich mannichfaltiges Schauspiel auf[führt], wo Bühne und Parterre, Schauspieler und Zuschauer eins sind, und er selbst Poet, Director und Held des Stücks zugleich ist“172, lautet auch eine von Müllers ‚Ideen der Schönheit‘: „Ich führe Ihnen die Staatskunst in der Reihe der schönen Künste mit auf, und würde sie obenan stellen, wenn es auf eine

166 Vgl. in diesem Zusammenhang David E. Wellberys Aufsatz „Rhetorik und Literatur. Anmerkungen zur poetologischen Begriffsbildung bei Friedrich Schlegel“. 167 Schlegel, Lucinde, S. 19. 168 Hallische Jahrbücher, 1840, Sp. 420; vgl. dazu generell Bohrer, Die Kritik der Romantik, v. a. das Kapitel „Die Entlarvung des Dandy. Die Fälle Gentz und Heine“, S. 210–220. 169 Ebd., Sp. 498. 170 Ebd., Sp. 499. 171 Walser, Martin, Selbstbewusstsein und Ironie, Frankfurt am Main, 1996, S. 80. 172 Novalis, „Glauben und Liebe“, in: ders., Schriften, Bd. 2, S. 473–498, hier S. 498.

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E. IRONISCHE POLITIKEN

Rangordnung der Künste ankäme.“173 Seinen Ideen in der (gemeinsam mit Heinrich von Kleist herausgegebenen) Zeitschrift Phoebus folgend, konzipiert Müller eine staatliche Public-Relations-Abteilung avant la lettre. Seine publizistischen Absichten zielten dereinst anscheinend darauf ab, eine gegenseitige ideologische Beeinflussung von Regierung und Öffentlichkeit zu katalysieren – außer man liest den ‚Pragmatismus‘ von Müllers „von der Ästhetik herkommender Politik“ schlicht als Versuch einer Etablierung „[ö]ffentlicher Meinung, als Kontrolle und Regulativ staatlicher Politik“.174 Wichtig sind hier Müllers Elemente der Staatskunst, die Benedikt Koehler zufolge „Staatskunst als bildende Kunst verstehen“ und entscheidend zur späteren Gleichsetzung von „politische[r] Romantik“ mit einer „Ästhetik der Politik“ beitrugen.175 Naturphilosophisch betrachtet Müller mit Schelling Natur und Weltall als (mögliche) Kunstwerke; zudem lässt sich eine starke Affinität zu Schlegels „frühromantische[m] Dialektikverständnis feststellen. Adam Müller weitet das Prinzip der Vermittlung von Gegensätzen durch ihre gemeinsame Grundierung in einer ästhetischen Ordnung auf die ökonomische Theorie aus, deren Aufgabe es ist, die ‚Mitte‘ zwischen den Extrempositionen von Colbert und Adam Smith zu finden“.176

Es ist diese ökonomische Komponente, welche es im Zusammenhang von Müllers antiliberaler Argumentation mitzudenken gilt und die ein endgültiges Urteil erschwert.177 So nehmen Müllers Versuche einer neuen Theorie des Geldes mit besonderer Rücksicht auf Großbritannien „die konstitutive Insolvenz zum Ausgangspunkt einer eigenen Staatstheorie“178, in der sich die Gewichtung von Ökonomischem und Politischem verschiebt. Man muss nun nicht so weit gehen – wie Martin Walser das tut –, Müller vorzuwerfen, mit dem jeweiligen Wohnort auch jeweils die politische Überzeugung gewechselt zu haben. Die ganze Ambivalenz aber von Müllers Unternehmungen lässt sich in dem Antrag eines von ironischer Ideologie-Gelenkigkeit getragenen Zeitschriftenprojekts nachlesen – wo Jacob Grimm dessen „Gewandheit“ lobte, 173 Zit. nach Koehler, Benedikt, Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik, Stuttgart, 1980, S. 79. 174 So Koehler ebd., S. 120. 175 Ebd., S. 29. 176 Howe, Ornament und Politik, S. 69. 177 Der publizistische Widerstand gegen die zunehmende Laissez-faire-Ökonomie der preußischen Wirtschaftsgesetzgebung unter der Regierung Hardenberg war zumindest mit ein Grund sowohl 1810 für die finanziellen Repressionen gegen die von seinem Freund Heinrich von Kleist geleiteten Berliner Abendblätter wie auch für Müllers spätere, eher an eine Abschiebung erinnernde Entsendung nach Wien; vgl. dazu Koehler, Ästhetik der Politik, S. 124 f. 178 Bei Müller werden „dynamische Prozesse (die ökonomische Zirkulation) mit stabilen Strukturen (Sozialvertrag) koordiniert und ergeben einen Zusammenhang, der tief in die politische Repräsentation selbst hineinreicht: Im Zentrum des Staates steht nun“, und dies ist nunmehr nicht reflexionsphilosophisch, sondern ökonomisch begründet, „weder ein Monarch noch ein Kodex von Gesetzen oder eine Polizeianstalt; sein Zentrum ist leer“ (Vogl, Joseph, „Romantische Wissenschaft“, in: Form und Medium, hrsg. v. Jörg Brauns, Weimar, 2002, S. 57–70, hier S. 66).

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sah sein Bruder Wilhelm nur „lügenhaften Schein“179 –, den Müller zuvor in Berlin gestellt hatte. Unabhängig von der Frage der Einlösung in einer konkreten realpolitischen Praxis liest sich Müllers Antrag eindeutig mehrdeutig: „Ich getraue mir 1. öffentlich und unter der Autorität des Staatsrats ein Regierungsblatt, 2. anonym und unter der bloßen Konnivenz desselbigen ein Volksblatt, mit anderen Worten eine Ministerial- und Oppositionszeitung zugleich zu schreiben“180,

lautet der berüchtigte briefliche Vorschlag an die preußische Regierung vom 20. August 1809. Obwohl Walser mit Schmitt teilweise widersprechenden Begründungen argumentiert, verurteilt auch er Adam Müller als exemplarisch für die Politik der ironischen Romantik insgesamt. Dabei verheddert sich Walsers kunstvolle Handhabung guter und böser, das heißt aufsässiger und bürgerlicher Ironien (Robert Walser und Kafka einerseits, die Romantiker und Thomas Mann andererseits) immer wieder in Widersprüche. Insofern ergeht es ihm nicht anders als den zeitgenössischen Kritikern der ‚politischen Romantik‘ – eine Zuschreibung, die überdies so überhaupt erst 1847, somit am Vorabend der Revolution, bei dem später in Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen zerzausten David Friedrich Strauß auftaucht.181 Sieht man von den kollektiven Verurteilungen ab, dann zeigen sich bald allenthalben innere Widersprüche innerhalb des „Konsens[es] im Vormärz über die Romantik“, der „sich in einem Dreischritt“ von Heine über die Hallischen Jahrbücher zu Strauß entwickelt und verfestigt hatte. So erscheinen die Romantiker etwa bei Heine eher als bigotte Sinnenfeinde, während Echtermeyer und Ruge sie umgekehrt für ihre „sinnliche Richtung“182 rügen. Mit der „konservative[n] Politisierung des Romantikbegriffs“, die „in den Jahren 1914 bis 1945 den höchsten Grad“183 erreichte, spitzten sich diese Deutungsgegensätze dann noch weiter zu. Versuche einer ‚konservativen Revolution‘ in der Weimarer Republik bedienten sich immer wieder eines Rückgriffs auf den romantischen Widerstand gegen die Aufklärung und deren logische politische Konsequenz, die Französische Revolution. 179 Vgl. dazu Koehler, Ästhetik der Politik, S. 109. 180 Zit. nach Schmitt, Politische Romantik, S. 51; vgl. dazu auch Walser, Selbstbewusstsein und Ironie, S. 70 f. 181 Vgl. dazu Koehler, Ästhetik der Politik, speziell S. 16. Bei David Friedrich Strauß (Der Romantiker auf dem Throne der Cäsaren, Mannheim, 1847, S. 20) heißt es: „Die geschichtlichen Stellen, wo Romantik und Romantiker aufkommen können, sind solche Epochen, wo einer altgewordenen Bildung eine neue gegenübersteht, welche, noch unfertig und unausgebildet, in Vergleichung mit den entwickelten Positionen von jener, als negativ erscheint.“ Zum Geschichtsverständnis der politischen Romantiker – aber auch zu Schlegel bzw. Ironie – vgl. in diesem Zusammenhang Marquardt, Jochen, „Vermittelnde Geschichte“. Zum Verhältnis von ästhetischer Theorie und historischem Denken bei Adam Müller, Stuttgart, 1993. 182 Koehler, Ästhetik der Politik, S. 16. 183 Kurzke, Hermann, Romantik und Konservativismus. Das „politische“ Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte, München, 1983, S. 36.

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E. IRONISCHE POLITIKEN

Das gilt auch für den katholischen Antiromantiker Schmitt, bei dem nicht allein die Vehemenz seines Angriffs die These einer „Projektion des Selbsthasses“184 auf Adam Müller nahelegt. Affinitäten zwischen romantischem Konservativismus und Schmitts reaktionärer Position zeigen sich schon in dem gegen die Kirche gerichteten Vorwurf ironischer Simulation, in dem Eindruck, ihre Funktion sei „überhaupt nur noch die Repräsentation [zu repräsentieren]“185. Ebenso romantikaffin ist der „wiederholte Vorwurf, daß die katholische Politik nichts ist als ein grenzenloser Opportunismus“.186 Schmitt deutet die effeminiert-hermaphroditische Natur der Kirche als Zeichen ihrer „Elastizität“. Die von ihm politisch autorisierte „katholische Kirche [ist] eine complexio oppositorum“ von „Fähigkeit zu männlichstem Widerstand und weiblicher Nachgiebigkeit“.187 Obwohl oder weil der Kirche „weder die Verzweiflung der Antithesen noch der illusionsreiche Hochmut ihrer Synthese“188, also weder die melancholisch-romantische noch die hegelianisch-idealistische Option offenstehe, wird das „Entweder-Oder“ von Altem und Neuem Testament mit dem von Schmitt ansonsten an den Romantikern gegeißelten „Sowohl-Als auch beantwortet“.189 Neben diesen politologischen und, wie zu zeigen sein wird, ontologischen Parallelen lassen sich auch konkrete inhaltliche Bezüge zwischen Schmitt und den von ihm verfemten Romantikern herstellen. Dies gilt sogar für einen Kernbereich seines politischen Denkens, die Bewertung des Kriegszustands, nicht nur bei Adam Müller190, sondern auch bei Clausewitz und Friedrich von Gentz, auf deren gegenseitige Nähe Raymond Aron hingewiesen hat.191 Selbst in Schmitts antiliberaler, totalitaristischer Kritik an den politischen Theorien der Romantiker zeigen sich eine Fülle von Affinitäten und erweisen sich deren Theorien somit auch von daher letztlich als reaktionär. Egal aus welcher Perspektive man die politische Romantik auch betrachtet, als kleinster gemeinsamer Nenner ihrer Kritiker lässt sich ihre grundsätzlich katholisch-konservative Tendenz bestimmen. Diese ist zum Beispiel keiner biographischen Idiosynkrasie oder Fehlleistung Schlegels geschuldet, sondern liegt schon weit vor seiner ideologischen Unterstützung Metternichs in seinen Fragmenten zu Geschichte und Politik. Dasselbe gilt für Novalis’ einschlägige Überlegungen über Die Christenheit oder Europa oder Eichendorffs berüchtigte Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands, in der „der Inhalt der Romantik“ bestimmt wird als „wesentlich

184 Krockow, Christian von, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Frankfurt am Main, 1990, S. 91. 185 Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, S. 26. 186 Ebd., S. 6. 187 Ebd., S. 10; Schmitt rechtfertigt die ideologische „Elastizität“ (ebd., S. 6) der Kirche mit deren letztlich fester Weltanschauung; zum Hermaphrodismus vgl. ebd., S. 9. 188 Ebd., S. 16. 189 Ebd., S. 11. 190 Vgl. Howe, Ornament und Politik, S. 68 f. 191 Vgl. Aron, Raymond, Clausewitz. Den Krieg denken, Frankfurt am Main u. a., 1980, S. 657 f.

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katholisch, das denkwürdige Zeichen eines fast bewusstlos hervorbrechenden Heimwehs des Protestantismus nach der Kirche“.192 Schlegels, Gentz’ und Müllers (Wiener) Aufstieg und reaktionärer Abstieg ist deswegen mit guten Gründen ein ironischer zu nennen. „Ironie ist eben für diesen speziellen bürgerlichen Gebrauch eine ganz besondere Freiheit. Nicht nur die Freiheit, dies oder das zu tun oder alles zu tun, was man will; Ironie, im Sinn von Friedrich Schlegel und Adam Müller, ist die Freiheit, etwas NICHT zu tun; nämlich sich zu engagieren für sein bürgerliches, für sein Menschenrecht.“193

b. Bürgerliche Spätzeitlichkeit Ein anderer Aspekt ironischer Konservativität: Ironie als Altherrenphänomen spätzeitlicher Müdigkeit. Die Dissertation Karl Heinz Staeckers liefert dafür ein beredtes Beispiel. Die Nachwelt verdankt ihm die Beschreibung einer „ironischen Triole“ von „Ironiker, […] Ironisiertem [und dem], der die Ironie versteht“.194 „Voraussetzung für echte Ironie“, und das meint für Staecker männlichbeherrschte Ironie, sei „das Verfügenkönnen über die Rolle, die grundsätzliche Möglichkeit echter Kontaktnahme usw., d. h. Ironie muß aus Stärke und Überlegenheit kommen“.195 Allzu intensives Ironisieren verweise dagegen auf gravierende psychische Störungen (Kontaktprobleme, Ich-Schwäche). Staecker tendiert stark zu einer Version von selbst- und traditionsbewusster Ironie, wie sie exemplarisch Thomas Mann vertrat und von Martin Walser kritisiert wurde, dem zufolge der kunsthandwerkliche „Begriffe-Rangierer“196 Mann zwar „kein ironisches Werk […] aber die Figur des Ironikers geschaffen“197 habe. Diesen Ironiker bestimmt Mann auch politisch präzise: „Der Ironiker ist konservativ.“198 Ironie hat demzufolge eine Vermittlungsfunktion. Die essayistischen Gegensatzpaare Manns lauten: demokratische Ästhetenpolitik, Radikalismus, Nihilismus versus Konservativismus und „erotische Ironie des Geistes“.199 Ironie gilt bei Thomas Mann immer als etwas in letzter Konsequenz Versöhnendes, sie dient der Vermittlung und ist Mittel zu einem Zweck. Alle gedankli192 Eichendorff, Joseph von, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. v. Wilhelm Kosch u. a., Regensburg, 1970, Bd. 9, S. 470. 193 Walser, Selbstbewusstsein und Ironie, S. 71. 194 Staecker, Ironie und Ironiker, S. 99. 195 Ebd. 196 „Der Begriffe-Rangierer kuppelt darauf los. Aber sein Publikum hat bis zum heutigen Tag seine Freude an diesen Begriffswagons“ (Walser, Selbstbewusstsein und Ironie, S. 97). 197 Ebd., S. 105. 198 Mann, Thomas, Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt am Main, 1983, S. 568 f. „Ein Konservativismus ist jedoch nur dann ironisch, wenn er nicht die Stimme des Lebens bedeutet, welches sich selber will, sondern die Stimme des Geistes, welcher nicht sich will, sondern das Leben.“ 199 Ebd., S. 570.

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chen, persönlichen, künstlerischen Inkonsequenzen werden mit Ironie aufzulokkern versucht. Mögliche Konflikte zwischen Geist und Leben, Künstlertum und Bürgerlichkeit werden nicht konsequent zu Ende gedacht, geschweige denn ausgelebt, sondern stattdessen ironisiert. „Ironie als Bescheidenheit, als rückwärts gewandte Skepsis ist eine Form der Moral, ist persönliche Ethik“; sie ist dasjenige, was Mann entlarvenderweise „innere Politik“200 nennt. Nach den (praktischen) politischen Einlassungen der Romantiker bestätigen Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen auch für die Zeit der klassischen Moderne: In ihrer Anwendung auf politischem Terrain zeitigt die Trope Ironie konservative und apolitische, wenn nicht sogar reaktionäre Effekte.

c. Postmoderner Privatismus An einem postmodernen Beispiel konservativer Ironie kann die zuvor schon berührte Rückwärtsgewandtheit, speziell der Einschlag ins Privatistische nun weiter verfolgt werden. Zu Beginn seines Buches Kontingenz, Ironie und Solidarität kommt Richard Rorty im Zusammenhang der Französischen Revolution auf das seiner Meinung nach relevante Kriterium der Romantik zu sprechen: „Etwa zur selben Zeit zeigten die Dichter der Romantik, was geschehen kann, wenn Kunst nicht mehr als Imitation, sondern als Selbsterschaffung des Künstlers aufgefaßt wird.“201 Das wird von Rorty positiv aufgegriffen, allerdings gehe es nunmehr darum, „die Romantik von den letzten Resten des deutschen Idealismus [zu] reinigen“.202 Obwohl Rorty die hier im Vordergrund stehenden frühromantischen Theoreme nicht gekannt zu haben scheint – und trotz seines nicht deutlich definierten Verständnisses von Romantik203 – ist sein Ironieprojekt durchaus im Schatten des romantischen zu lesen. Soweit ein solcher auszumachen ist, scheint der bestimmende Zug von Rortys ‚Romantik‘ dabei auf eine Art privatistische Ästhetisierung hinauszulaufen. Den Ausgangspunkt des Problems soll man sich dabei ungefähr so vorstellen, dass schon Kant selbst entsetzt gewesen sei „über den romantischen Versuch, die idiosynkratische poetische Phantasie anstelle dessen, was er ‚die gemeine sittliche Vernunfterkenntnis‘ nannte, zum Zentrum des Selbst zu machen. Seit Kant lagen Romantik und Moralismus, Beharren auf individueller Spontaneität und privater Vollkommenheit und Beharren auf gemeinsamer sozialer Verantwortlichkeit ständig im Kampf miteinander.“204

200 Ebd., S. 577. 201 Rorty, Richard, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main, 1993, S. 21; näher präzisiert wird „Romantik“ an dieser Stelle nicht. 202 Ebd., S. 203. 203 Vgl. etwa den von ihm deklarierten „romantischen Umsturz“, den Mao oder Hitler vollzogen haben sollen (ebd., S. 119). 204 Ebd., S. 64.

II. THESE UND ANTITHESE

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Was Rorty an dieser Stelle freilich nicht ausreichend hinterfragt, ist, inwiefern diese Unterscheidungskriterien überhaupt erst romantischen Ursprungs sind und somit nicht einfach als Unterscheidungsmerkmal zwischen der Romantik und der – ebenfalls in sich heterogenen – idealistischen Philosophie herangezogen werden können. Rortys Gegenüberstellungen bleiben deswegen abstrakt und münden dann auch in die altbekannten Kurzschlüsse wie die Forderung nach einer „literarisierte[n] Kultur“205, ohne dass mit dieser Poetisierung oder Ästhetisierung irgendein politisch progressiver Verfremdungseffekt – etwa im Sinne von Rancières Produktion neuer Sichtbarkeiten – intendiert würde. Gefordert wird stattdessen ein „Ästhetizismus“ ohne den Versuch, „ihn in Politik zu übersetzen“.206 Die Absicht seines Buches, „die Möglichkeit einer liberalen Utopie vorzustellen: einer Utopie, in der Ironismus in dem Sinn, auf den es hier ankommt, universell ist“207, bekommt so zumindest deutlichere programmatische Züge. Es geht um den „endgültige[n] Sieg der Dichtung in ihrem alten Streit mit der Philosophie“.208 Dass Romantik und Moral seit Kants angeblichem Entsetzen im Kampf miteinander liegen, soll ästhetisch aufgelöst werden. „Ironikerinnen und Ironiker lesen Literaturkritiker und nehmen sie als Ratgeber in moralischen Fragen, einfach, weil solche Kritiker ein außergewöhnlich hohes Maß an Kenntnissen haben“ und als globalisierte Bürger „viel herumgekommen sind“, „mehr Bücher gelesen [haben] und […] sich deshalb weniger leicht vom Vokabular eines einzigen Buches einfangen [lassen].“209 Letztlich kann Rorty seinen Anspruch aber nur vor jenen „unverdorbenen Menschen“ aufrechterhalten, „bei denen die Vernunft, verstanden als wahrheitssuchendes Vermögen, oder das Gewissen, verstanden als eingebauter Rechtschaffenheits-Detektor, stark genug sind, schlimme Leidenschaften, vulgären Aberglauben und fundamentale Vorurteile zu überwinden“.210

Keinesfalls möchte ich bezweifeln, dass dieser ironische Idealstaat für die übrig bleibenden Hundertschaften an Amerikanern glänzend funktionieren würde. Nur gilt es darauf hinzuweisen, dass Rorty hier seinen eigenen Prämissen widerspricht, definiert er doch Ironie an anderer Stelle als „Gegenteil von […] gesunde[m] Menschenverstand“.211 Gleichzeitig aber „[wären in] der idealen liberalen Gesellschaft […] die Intellektuellen immer noch Ironiker, die Nicht-Intellektuellen aber wären nicht Ironiker, sondern auf eine dem gesunden Menschenverstand entsprechende Weise Nominalisten und Historisten“.212

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Ebd., S. 77. Ebd., S. 198. Ebd., S. 15. Ebd., S. 79. Ebd., S. 139. Ebd., S. 89. Ebd., S. 128. Ebd., S. 149.

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Rortys Utopie lebt von dem fundamental apolitischen, ja tendenziell sogar reaktionären „Verdacht, das soziale und politische Denken der westlichen Welt“ habe die „letzte Begriffs-Revolution, die es noch brauchte, hinter sich“.213 Dieser Glaube, ein richtiges, abschließendes Vokabular zu besitzen, charakterisiert an anderer Stelle freilich den Metaphysiker.214 Freilich steht hier weniger die methodische Kohärenz von Rortys ironischem Essayismus zur Diskussion als sein konservatives, progressive politische Ideen systematisch ausschließendes Gesellschaftskonzept. Keine Weiterentwicklung, keine Begriffsentwicklung auf sozialem und politischem Feld ist innerhalb von dessen Rahmen möglich. In strenger Kastentrennung sollen, so scheint es, hochsophistizierte Ironikerinnen und mit gesundem Menschenverstand ausgestattete, aber weniger intellektuelle Nominalisten in Harmonie zusammenleben und nach ihrem persönlichen Glück streben. Diese ausschließende Trennung des Politischen vom Privaten und umgekehrt ist jedoch genauer betrachtet wiederum nichts anderes als ein (a)politisches statement, der Rückzug des verstümmelten Denkens ins traute Heim. David L. Hall zufolge „Rorty plays eiron to the metaphysical alazon. Rorty’s offensive use of irony is a function of his recognition that the ironic sense is a conjunction of two affective extremes – seriousness and lightmindedness.“215 Diese Haltung war eine taugliche institutionelle Kampftechnik, die zu einigen Irritationen im akademischen Establishment der USA geführt hat. Ob die wie bei Sokrates zwischen understatement und Besserwisserei changierende Ironie jedoch über Humanities- und PhilosophyDepartments hinaus eine taugliche politische Strategie bedeuten kann, ist zu bezweifeln. Nicht anders als bei Thomas Mann muss Ironie auch im Fall Rortys die Schwächen der eigenen Argumentation notdürftig kaschieren. Dieses defensive Moment offenbart sich bei genauerer Betrachtung als politisch konservativ. Wendet man Rortys freien Umgang mit den diversen von ihm behandelten Autoren auf ihn selbst an, dann drängt sich der Verdacht auf, eine solche Theorie müsse notwendig in lakonische Lethargie münden. Rortys ironischer Sprachmodus setzt als Selbstschutzmechanismus ein, will den eigenen Diskurs unangreifbar machen und wird damit letztlich autoritär. Die versuchte Reduktion jedes öffentlichen Diskurses auf private Idiosynkrasien ist dafür der deutlichste Beleg. Dabei fügen sich ein beherrschter, selbstbewusster Einsatz von Ironie und anpassungswilliger Relativismus diskursstrategisch problemlos ineinander. „Das Ziel ironistischer Theorie ist es, den metaphysischen Drang, den Drang zum Theoretisieren, so gut zu verstehen, daß man vollkommen frei von ihm wird. Die

213 Ebd., S. 114. Vgl. in diesem Zusammenhang Simon Critchleys kritische Auseinandersetzung mit Rorty in Critchley, Simon, Ethics, Politics, Subjectivity. Essays on Derrida, Levinas, and contemporary French thought, London, 1999. 214 Vgl. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 133. 215 Hall, David L., Richard Rorty. Prophet and Poet of the New Pragmatism, New York, 1994, S. 138.

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ironistische Theorie ist also eine Leiter, die man wegwerfen kann […]. Eine Theorie des Ironismus wäre das letzte, was ironistische Theoretiker wollen oder brauchen.“216

Als eine der philosophischen Einlösungen von Ironie gilt Rortys freien Phantasien über continental philosophy Derrida. „Der spätere Derrida privatisiert sein philosophisches Denken und löst dabei die Spannung zwischen Ironismus und Theoretisierung. Er gibt die Theorie […] auf zugunsten des freien Phantasierens“217 über seine philosophischen Vorgänger. Derrida, Heidegger und Nietzsche seien als „politische Philosophen im besten Fall unnütz und im schlimmsten Fall gefährlich“218, sucht Rorty zunächst eine Übereinstimmung mit Habermas. Heideggers Nazismus wird von Rorty dann aber als belanglos abgetan und privatistisch seinem theoretisch irrelevanten schlechten moralischen Charakter zugeschrieben. Intellektuelles und Moralisches werden nach demselben Muster wie Öffentliches und Privates vorschnell getrennt und somit verfehlt. „Die Differenz zwischen Habermas’ Versuch, eine Form von Rationalismus wiederherzustellen, und meiner Empfehlung zur Poetisierung der Kultur spiegelt sich keineswegs in politischen Meinungsverschiedenheiten wider“219, so Rorty weiter. Interessanterweise deckt diese Aussage zugleich einen weiteren Aspekt seines Ästhetisierungskonzeptes auf. In Rortys Fall handelt es sich nämlich in der Tat um die vielgescholtene versöhnliche und nachträgliche Ästhetisierung (oder eben: Poetisierung) an sich nicht ästhetischer politischer Meinungen. Damit blendet Rorty die Tatsache aus, dass wahre „politische Erfindung […] sich in den Handlungen [vollzieht], die gleichzeitig argumentativ und dichterische/schöpferische Kraftschläge sind“.220 Diese eröffnen neue Handlungen und Optionen, weil sie die Ordnungen des Sicht- und Denkbaren auflösen und neu einteilen. Dass mit Rancière das ‚Dichterische‘ nicht einfach als dem Argumentativen entgegengesetzt zu verstehen ist, verweist – diesmal im Bereich des Politischen – wiederum auf die These einer konstitutiven Rolle des Ästhetischen, die auch für den folgenden Exkurs zu Habermas bestimmend sein wird. An Rorty hat Rancière den „Einklang zwischen der poetischen Metaphorisierung und der liberalen Konsensualität“ kritisiert sowie dass er die politische Bedeutung des Einbruchs „neue[r] Metaphern“ unterschätze, die „früher oder später dazu berufen wären, in den Herrschaftsbereich der gewöhnlichen sprachlichen Werkzeuge und in die konsensuelle Rationalität einzugehen“.221 Der

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Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 163 f. Ebd., S. 207. Ebd. Ebd., S. 119. Rancière, Jacques, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt am Main, 2002, S. 71. Ebd.

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„ausschließende Konsens löst sich nicht nur in Ausnahmemomenten und durch Spezialisten der Ironie auf. […] Es gibt Politik, wenn die Gemeinschaft der argumentativen und der metaphorischen Fähigkeiten jederzeit und durch jeden Beliebigen sich ereignen kann“.222

Exkurs zur Verdrängung des Ästhetischen im Politischen: Habermas vs. Rancière Habermas’ Faktizität und Geltung setzt bekanntlich mit einer sprach- und kommunikationstheoretischen Reflexion in der Folge von Frege und Peirce ein. Alle darauf folgenden Analysen ruhen auf diesem anfangs etablierten Fundament auf, dem zufolge nicht Vorstellungen, sondern „Gedanken […], auch wenn sie von verschiedenen Subjekten an jeweils verschiedenen Orten zu jeweils anderen Zeiten erfaßt werden, ihrem Inhalt nach im strikten Sinne dieselben Gedanken [bleiben]“.223 Anhand des Beispieles „Dieser Ball ist rot“ stellt Habermas fest, dass „sprachliche Ausdrücke für verschiedene Benutzer identische Bedeutung haben […]. Schon auf der Ebene des Zeichensubstrats von Bedeutungen muß der Zeichentypus in der Vielfalt korrespondierender Zeichenereignisse als dasselbe Zeichen wiedererkannt werden können.“224

Was hier so eindringlich beschworen wird, ist in der Tat die Voraussetzung jedes kommunikationstheoretischen Ansatzes. Ästhetische Mehrdeutigkeit und die aus ihr resultierende tendenzielle Unverständlichkeit zwischen den politisch Agierenden werden dann auf einen politischer Kommunikation vorgelagerten Bereich beschränkt. „[A]utonome Öffentlichkeiten“ verlangen eine „diskursive Strukturierung öffentlicher Arenen“ mitsamt ihres „Spielraum[s], den sie dem freien Prozessieren von Meinungen“225 gewähren sollen. Die abgründigen Aspekte von ‚Rhetorik‘ und ‚Macht‘, nietzscheanische und Foucault’sche Momente eines politischen Denkens, welches sich ästhetischen Sensibilitäten nicht von vornherein verschließen will, bleiben in Habermas’ Konzeptualisierung unterbelichtet. Schon in seiner, später teilweise revidierten, berüchtigten Publikation Der philosophische Diskurs der Moderne hat Habermas gegen die „Ästhetisierung der Sprache“ gewettert und, so Rancière, zwei in Spannung stehende, aber getrennte „Typen von Sprechakten: ‚poetische‘ Sprachen der Öffnung zur Welt und Formen innerweltlicher Argumentation und Bewertung“226 unterschieden. Rancière zufolge muss man 222 Ebd., S. 71 f. 223 Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main, 1998, S. 25. 224 Ebd., S. 26 f. 225 Ebd., S. 211. Alle Hervorhebungen der im thematischen Kontext relevanten metaphorischen Sprachentscheidungen Habermas’ von A. A. 226 „Er wirft denen, die er kritisiert, vor, diese Spannung und die Notwendigkeit für die ästhetischen Sprachen der Weltöffnung, sich auch in den Regeln des kommunikativen Handelns zu

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„zuerst (an)erkennen und (an)erkannt machen, dass eine Situation einen Fall von verpflichtender Universalität darstellt. Und dieses (An-)Erkennen erlaubt nicht, eine vernünftige Ordnung der Argumentation von einer poetischen, wenn nicht irrationalen Ordnung, von Kommentar und Metapher zu trennen. Es wird von Sprechakten erzeugt, die zugleich vernünftige Argumentationen und ‚poetische‘ Metaphern sind“227,

etwa dem metaphorischen Ereignis der gegenseitigen Zuerkennung von Rechten. Gemäß einem Verständnis von Ästhetisierungsprozessen als konstitutiven Leistungen sind diese auch nicht aufhebbar. Bei ‚Poetischem‘ und ‚Politischem‘ handelt es sich nicht um getrennte Ordnungen, und sie sind auch nicht im Sinne einer zeitlichen (chrono- wie teleologischen) Entwicklung endgültig auszudifferenzieren. Habermas zufolge jedoch verlieren sich in „dem Maße wie die poetische, welterschließende Funktion der Sprache Vorrang und“, was nur als nachträgliche Ästhetisierung verstanden werden kann, „strukturbildende Kraft gewinnt“, die „kommunikativen Funktionen des Alltags“.228 Damit wäre aber die Unterscheidung von kommunikativem und strategischem Handeln bedroht, welche er sprachpragmatisch mit Austins Unterscheidung lokutionärer (Ausdruck von Sachverhalten), illokutionärer (Sprachvollzug einer Behauptung, eines Versprechens etc.) und perlokutionärer (wirkungsorientierter) Akte begründet. Ähnlich zahlreichen rhetorischen Herangehensweisen an Ironie229 reduziert auch Habermas die Bedeutung der perlokutionären Dimension der Sprache. Norbert Axel Richter zufolge läuft diese Reduktion darauf hinaus, „den illokutionären Akt in seiner Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit als den Standardmodus des sprachlichen Handelns anzusehen – zu dem sich die Perlokution bloß parasitär verhält“.230 Genau diese „parasitären Einheiten der politischen Subjektivierung verschwinden“231 zu lassen, lautet Rancières Vorwurf an Habermas, für den immer schon „Verständigung […] als Telos der menschlichen Sprache inne[wohnt]“.232 An dieser Stelle lässt sich der ganz unterschiedliche, formateriale Einsatz Rancières gut verdeutlichen. Statt auf eine nachträgliche Einigung konzentriert sich Rancière auf ein ursprüngliches Unvernehmen (mésentente). Politisch relevant sind von daher weniger die Sprachformen und -regeln für inhaltliche Einigungen als die Gleichzeitigkeit von „Argumentation und Weltöff-

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legitimieren, zu verkennen. Aber genau die Demonstration, die der Politik Eigen ist, ist immer gleichzeitig Argumentation und Weltöffnung, in der die Argumentation aufgenommen werden und Wirkung haben kann, eine Argumentation über die Existenz selbst dieser Welt.“ (Rancière, Das Unvernehmen, S. 67.) Ebd., S. 68. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 240. Generell gilt: „Rhetorische Ironie kann keine Risiken eingehen“, so Rainer Warning („Ironiesignale und ironische Solidarisierung“, S. 418 und 422), der zugleich den elitistischen „perlokutive[n] Effekt der Ironie“ als „Solidarisierung angesichts eines bloßgestellten Dritten“ definiert. Richter, Norbert Axel, Grenzen der Ordnung. Bausteine einer Philosophie des politischen Handelns nach Plessner und Foucault, Frankfurt am Main, 2005, S. 55. Rancière, Das Unvernehmen, S. 132. Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main, 1981, Bd. 1, S. 387.

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nung“233, von immer neuen räumlichen und zeitlichen, also anschauungsformalen Aufteilungen des Sinnlichen. Gerade gegenüber Habermas hat Rancière das „politische Gespräch“ als ein besonderes Terrain definiert: So gibt es „Gebiete, in denen diese Gemeinsamkeit [von Argumentation und Metapher; A. A.] ihr Maximum erreicht. Das sind jene, in denen die Annahme des Verstehens strittig ist, wo […] gleichzeitig die Argumentation und die Szene, in der sie gehört werden muss, das Objekt der Diskussion und die Welt, in der es figuriert, produziert werden müssen. Das politische Gespräch ist in ausgezeichneter Weise ein solches Gebiet.“234

Entsprechend dieser Gleichursprünglichkeit politischer Formen und der von ihnen produzierten Gegenstände beinhalten genuin politische Aktionen immer auch aisthetische Akte des Sichtbarmachens. Nicht einfach um materielle Verbesserungen geht es bei politischen Aktionen, sondern vorab um formale Änderungen mit Sichtbarkeitseffekten: politische Formaterialität235, als Umdrehung jenes Mechanismus, den Freud ‚Sublimation‘ nannte. Im Gegensatz zu einem Konzept symbolischer Politik und ihrer möglichen nachträglichen ‚Ästhetisierung‘ verweist politische Formaterialität auf formale Sichtbarkeitsveränderungen, die zugleich materielle Konsequenzen zeitigen. Diese ästhetisch verfremdende „Politik besteht darin, die Aufteilung des Sinnlichen neu zu gestalten“236 und mittels ästhetischer Verfremdung „neue Subjekte und Objekte“ zu erfinden und sichtbar werden zu lassen. Diese immer auch ästhetische „Arbeit der Erzeugung des Dissenses macht eine Ästhetik der Politik aus, die nichts mit den Inszenierungen der Macht und der Mobilisierung der Massen zu tun hat, die von Benjamin als ‚Ästhetisierung der Politik‘ bezeichnet wurde“.237 Gleich wie man Ästhetisierung der Politik nun versteht, auch als nachträgliche – sowohl in ihren faschistischen als auch in ihren linken Spielarten (Sorels Generalstreikmythos238, Debords spätkapitalistische Spektakelkritik239) – operiert sie innerhalb der politischen Logik des von Rancière konzeptualisierten ästhetischen Denkregimes. Das verpflichtet demokratisches Denken zum Verständnis der inneren Stringenz und der Möglichkeitsbedingungen auch (scheinbar) devianter Formen von ästhetischer Politik. Habermas’ Vertrauen auf „Allgemeinverständ-

233 Rancière, Das Unvernehmen, S. 67. 234 Ebd., S. 68. 235 Zu einem ersten Versuch der Konzeptualisierung von ‚Formaterialität‘ gerade im Zusammenhang mit Rancière vgl. meinen Aufsatz „Esthétique et violence: autour de Jacques Rancière“, in: Le Philosophoire, Nr. 13 (2001), S. 21–30. 236 Rancière, Das Unbehagen in der Ästhetik, S. 35. 237 Ebd. 238 Vgl. dazu Avanessian, „Esthétique et violence: autour de Jacques Rancière“, S. 27 f. 239 Die treffende Definition Guy Debords (La société du spectacle, Paris, 1992, S. 16) lautet: „Le spectacle se présente à la fois comme la société même, comme une partie de la société, et comme instrument d’unification“; und in der Folge etwas schemenhaft ideologiekritisch: „[I]l est le lieu du regard abusé et de la fausse conscience“.

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lichkeit der kommunikativen Alltagspraxis“240 als wichtigstes Kriterium möglicher Verständigung bleibt diesen Aspekt aber schuldig. Gegen die systemtheoretische Kommunikationsunmöglichkeit setzt er auf sprachtheoretische Beruhigungen. Imaginative Akte werden als initiatorische Auslöser, als „Dramatisierungen mit Signalfunktion“241 zwar zugelassen. Der, in Rancières Terminologie, ästhetische Akt des Erzwingens von Aufmerksamkeit, den Habermas’ sprachtheoretische Voraussetzungen als bloß parasitären perlokutionären Aspekt von Sprache oder gänzlich außersprachlichen zu konzeptualisieren zwingen, wird zugunsten der auf ihn folgenden (diskursiven) Problematisierung relativiert. „Durch spektakuläre Aktionen“ kann Habermas zufolge zwar in „Kernbereiche des politischen Systems“ vorgedrungen werden. Diese halten sich aber ästhetisch keimfrei, denn in ihnen sollen politische Themen rein „formell behandelt“242 werden. Was in sich schlüssig aus Habermas’ ansonsten imposanter politischer Theorie ausgeschlossen wird, kehrt aber an zahlreichen theoretisch relevanten Schnittstellen und Begründungsübergängen seiner Diskurstheorie wieder. Der Versuch, die dunklen oder abwegigen Seiten von Kommunikation zu unterdrücken, kann nie ganz aufgehen. An neuralgischen Punkten einer jeden Theoriekonzeption, dort, wo sie notwendigerweise höhere Instabilität aufweist, tritt ihr jeweils Verdrängtes symptomatisch verzerrt wieder auf: Die wilden, ungezügelten und in höchstem Maße chaotischen „Kommunikationsflüsse“ sind zu „filter[n] und synthetisier[en], daß sie sich zu themenspezifisch gebündelten öffentlichen Meinungen verdichten“243, so Habermas, als ob seine Metaphern besser um die Notwendigkeit metaphorischer Verdichtung der metonymischen Signifikantenströme wüssten als er selbst. Es soll ‚gefiltert‘, ‚synthetisiert‘ und ‚verdichtet‘ werden, nirgends aber wird der Nachweis für die rationale Einholbarkeit dieser Operationen geliefert. Die versöhnliche, „themenspezifisch verdichtende“ Wirkung dieser ästhetischen Synthetisierungen setzt Habermas implizit voraus. So beruhen auch der Begriff und das Funktionieren der ‚Zivilgesellschaft‘ auf bruchlos harmonischen Übergängen und machtausgleichenden „Schleusen demokratischer und rechtsstaatlicher Verfahren am Eingang des parlamentarischen Komplexes“244, die zwischen den vorsorglich getrennten Sphären von Privatem und Öffentlichem vermitteln sollen. „Die Zivilgesellschaft setzt sich aus jenen mehr oder weniger spontan entstandenen Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen zusammen, welche die Resonanz, die die gesellschaftlichen Problemlagen in den privaten Lebensbereichen finden, aufnehmen, kondensieren und lautverstärkend an die politische Öffentlichkeit weiterleiten.“245 240 241 242 243 244 245

Habermas, Faktizität und Geltung, S. 436. Ebd., S. 435. Ebd., S. 461. Ebd., S. 436. Ebd., S. 432. Ebd., S. 443, Hervorh. v. A. A.; zu Habermas’ Schleusen- und Kommunikationsmodell vgl. auch Richter, Grenzen der Ordnung, S. 83.

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Politische Entscheidungen sollen so qua gesundem Menschenverstand – nichts anderes versteckt sich hinter der Formel ‚allgemeinverständlicher Kommunikation‘ – allen zugänglich sein. Notwendige Voraussetzung von Habermas’ transzendentalem Verständigungsoptimismus ist eine Sicht auf Sprache, welche die von Schlegel (Unverständlichkeit), de Man (Rhetorik), Rancière (Dissens) oder Derrida (Kraft) betonten Momente unterschlägt oder zumindest unterbelichtet. „Das Publikum der Bürger muß durch verständliche und allgemein interessierende Beiträge zu Themen, die es als relevant empfindet, überzeugt werden. Das Publikum besitzt diese Autorität, weil es für die Binnenstruktur der Öffentlichkeit, in der Akteure auftreten können, konstitutiv ist.“246

Die theatrale Metaphorik – Habermas selbst spricht von „architektonische[n] Metaphern“247 – evoziert gerade kein politisch-konfliktuelles, sondern ein an einem Polis-Modell orientiertes Konzept von Entscheidungen per Akklamation. Bei aller faszinierenden Komplexität teilt Habermas’ Theorie somit ein spezifisches Dilemma jeden ironischen Als-ob – in vorliegendem Fall die Vorstellung solchermaßen (als ob) agierender Staatsbürger. Diese treten darin weniger als explizit politische Akteure auf denn in der Form möglichst interessierter Zuschauer. Darin liegt eine der symptomalen Wahrheiten von Habermas’ im Kern anästhetischem Ansatz. Wiederum gilt es darauf hinzuweisen, dass und wie dieser sprachliche Verdacht den Kernbereich der Habermas’schen Kommunikationstheorie tangiert. Beide berühren sich dort, wo sich der Anspruch „möglichst unverzerrter Kommunikation“ mit der (Foucault’schen) Frage der Macht kreuzt. „Obwohl der ‚Erfolg der Arenenakteure letztlich auf den Galerien entschieden‘ wird, stellt sich die Frage, wie autonom die Ja- und Nein-Stellungnahmen des Publikums sind – ob sie eher einen Überzeugungs- oder doch nur einen mehr oder weniger kaschierten Machtprozess widerspiegeln. Die Fülle empirischer Untersuchungen erlaubt keine schlüssige Antwort auf diese kardinale Frage“248,

lautet an dieser Stelle das resignative theoretische Resümee. Dass der Habermas’sche Diskurs nicht allein an rein metaphorischen Ästhetisierungssymptomen laboriert, sei noch von anderer Warte aus indiziert. Mit Recht kann Habermas für sich in Anspruch nehmen, der prozeduralen Rationalität Luhmanns mittels ‚Übersetzung‘ in die Sprache der Legitimitätstheorie überhaupt erst eine demokratische Wendung gegeben zu haben. 246 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 440. 247 Ebd., S. 437: „Für die öffentliche Infrastruktur von solchen [dem kommunikativen Handeln gewidmeten; A. A.] Versammlungen, Veranstaltungen, Vorführungen usw. bieten sich die architektonischen Metaphern des umbauten Raumes an: wir sprechen von Foren, Bühnen, Arenen usw. Diese Öffentlichkeiten haften noch an den konkreten Schauplätzen eines anwesenden Publikums.“ 248 Ebd., S. 453; das Zitat im Zitat stammt von Gerhards, Jürgen und Neidhardt, Friedhelm, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit. Fragestellungen und Ansätze, Berlin, 1990, S. 27.

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„Es geht darum, Einrichtungen zu finden, die die Vermutung begründen können, daß die Basisinstitutionen der Gesellschaft und die politischen Grundentscheidungen die ungezwungene Zustimmung aller Betroffenen finden würden, wenn diese an diskursiver Willensbildung – als Freie und Gleiche – teilnehmen könnten.“249

Auch hier argumentiert Habermas analog einem von Kant eingeführten ironischen Provisorium, welches die Notwendigkeit einer historischen Begründung – „als ob allererst aus der Geschichte“250 die tatsächliche Realität eines ursprünglichen Vertragsschlusses (contractus originarius oder pactum sociale) abzuleiten wäre – verabschieden will. An dessen Stelle steht die praktische Realität der Idee der Vernunft. Diese fordere nur Gesetzgebung, so wiederum Kant, „als ob sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können, und jeden Untertan, so fern er Bürger sein will, so anzusehn, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmet habe“.251 Eine diesbezüglich analoge ironische Als-ob-Disposition in Verbindung mit der Beschwörung einer „rationalen Person“, ihrer „Vernünftigkeit“ und „Zurechnungsfähigkeit“252 macht Habermas’ Theorie durchlässig für ungewollte elitäre Konsequenzen. Weniger der aufgeklärte gesetzgebende Monarch Kants droht hier als gerade der Inbegriff zeitgenössischer systemadäquater Rationalität: die sicher auch Habermas suspekte Expertokratie. Denn was Habermas einst „Ausgewogenheit in den Köpfen der Verwalter“ nannte, ist heute am ehesten bei den Expertokraten zu finden, welchen dann eigentlich alle anderen Zuschauer-Akteure – würden sie denn gefragt – sollen zustimmen können. Der genauere Hinweis auf diese Schwachstelle innerhalb einer Konzeptualisierung demokratischen Rechts verdankt sich wiederum Ingeborg Maus. „Eine Diskurstheorie, die in ihrer normativen Ausformulierung die Distanz von faktischer Konsensermittlung zum Prinzip hat, ist gegen eine Umwertung ihrer Intentionen zur Legitimation von Gerechtigkeitsexpertokratien […] nicht geschützt. Sie trifft sich andererseits sogar, indem sie ein demokratisches Diskursmodell entwirft, das nicht institutionalisiert werden kann, mit der antipodischen Systemtheorie, die es vorzieht, Legitimität selber einer Institutionalisierung zu unterwerfen: in der ‚Unterstellbarkeit des Akzeptierens‘“.253

Auch wenn man diese kritische Parallelisierung, ja Identifizierung für überzogen hält, so leuchtet doch ein gemeinsames Defizit von systemtheoretischen und diskursethischen Ansätzen ein. Beide reduzieren das volle Potenzial von (politischer) Reflexion. Anstelle diese höherzupotenzieren und darin ihre auflösende Kraft ge249 Die Zitate aus Habermas’ Aufsatz „Legitimationsprobleme im modernen Staat“, in: Politische Vierteljahresschrift, SH 7 (1976), S. 39 ff., entnehme ich Maus, Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, S. 317. 250 Kant, Immanuel, „Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“, in: ders., Werkausgabe, Bd. XI, A 249 f. 251 Ebd. 252 Zu den Einzelbelegen vgl. Maus, Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, S. 320. 253 Ebd.

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genüber verhärteten Verhältnissen zu betonen, scheint Reflexion auch bei Habermas auf die Rolle einer bewusst eingesetzten, beherrschten Kalkulation beschränkt. Dass freigelassene, ursprünglich ästhetische Reflexion einen positivanarchischen Reflex auslösen kann, fällt damit durch das Raster rational verengter, kalkulatorischer Reflexivität. Gerade einer solchen, sich selbst und die gesellschaftlichen Verhältnisse stets übersteigenden ästhetisierenden Reflexion aber könnten befreiende Aspekte zugeschrieben werden. Und möglicherweise ist es genau jene stets sich weiterpotenzierende Reflexion, die auf dem Niveau der realen politischen Kräfteverhältnisse zugleich formal dekonstruktiv und material progressiv agiert.

Exkurs: Liberalismus und Kommunitarismus Die Frage nach den realen Machtverhältnissen nicht ausreichend zu stellen, sie stellenweise geradezu auszublenden, diese Problematik bildet zugleich die Überleitung zu der hier nachträglich zu diskutierenden vierten Variante des postfoundationalism.254 In den in der Folge zu besprechenden Texten findet die Kategorie ‚politische Ironie‘ wie schon bei Habermas und Rancière keine explizite Verwendung. Gleichwohl bleiben die eingangs als ironisch identifizierten Begründungsprobleme von Systemtheorie und Postmarxismus weiter präsent. Auch werden ‚Liberalismus‘ und ‚Kommunitarismus‘ hier nicht allein deswegen abschließend thematisiert, weil sie „vielleicht als der letzte große Versuch […] Demokratie essentiell zu rechtfertigen“255 zu verstehen sind, sondern weil die beiden Theorieströmungen damit zusammenhängend der theoretische und argumentative Hintergrund der explizit ironischen Überspitzungen Rortys gewesen sind. Ein Proust, Nietzsche und Heidegger gewidmetes Kapitel in dessen ironischem Ritt durch die europäische Geistesgeschichte bedient sich eines politischen Kriteriums, um Philosophen und Literaten zu unterscheiden. Letztere wollen sich angeblich „nicht mit der Macht anfreunden, auch keine Machtposition gegenüber anderen einnehmen“.256 Toni Negri und Michael Hardt haben solche Aperçus Rortys mit süffisanten Bemerkungen bedacht und mit dem knappen Hinweis versehen, dass sich die Demokratie schlicht die Hände nicht schmutzig machen wolle. In der Tat spitzt Rorty die schon Rawls’ Theorie eigene Tendenz privatistischer Ausblendung gesellschaftlicher Zustände noch einmal zu. „Bei Rorty hängt nun die Realisierung des toleranten Rawlsschen Systems von seiner Indifferenz gegenüber sozialen Konflikten und deren Vermeidung ab“257, so Hardt

254 Im ersten Abschnitt (I.) dieses Kapitels habe ich Postmarxismus, Systemtheorie sowie Carl Schmitts politische Theorie auf ihre ironische Grundierung hin untersucht. 255 Brodocz, André, „Das Ende der politischen Ironie? Über die Rechtfertigung der Demokratie und die Ironie ihrer Unmöglichkeit“, in: Die Ironie der Politik, S. 52–64, hier S. 54. 256 Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 171. 257 Negri, Antonio und Hardt, Michael, Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne, Berlin, 1997, S. 91.

II. THESE UND ANTITHESE

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und Negris stimmige Kontextualisierung von dessen scheinbar freien Assoziationen. Ein kurzer Blick auf die soziopolitischen Dimensionen von Rawls’ Theoremen kann verdeutlichen, was hier (auch für Ironie) auf dem Spiel steht. Es handelt sich um die von kommunitaristischer Seite oft kritisierte kantianische Abstraktheit seines Ansatzes, die Rawls in späteren Aufsätzen zu einer diesbezüglichen Überarbeitung seiner Theorie veranlasst hat. Aber schon die „anti-fundamentalisierende Rechtstheorie“258 der Theory of Justice hatte eine elegante Lösung zwischen ursprünglichem Gerechtigkeitssinn und moralischem Kontextualismus vorgeschlagen. Das Konzept der „Gerechtigkeit“ qua „Fairness“ beruht mehr oder minder auf einer gedanklichen Operation, wie Menschen mit gesundem Menschenverstand vor jedem (im kantischen Sinne) ‚pathologischen‘ Wissen um ihre kontingente Existenz die Bestimmung der Grundverhältnisse ihres Zusammenlebens gestalten würden. Nur aus diesem als fiktiv, keineswegs als gewesene Realität misszuverstehenden Als-ob-Urzustand heraus lässt sich Gerechtigkeit nach Rawls konzipieren. Gerade die Angst, nicht unbedingt als reicher, weißer Amerikaner geboren zu werden, soll einem ursprünglichen Gerechtigkeitssinn in dieser fiktiven Ursituation nachhelfen. Das führt zu einem gewissermaßen imaginären Gesellschaftsvertrag, dessen Unterzeichnung nie real vollzogen worden sein muss, um seine symbolische Wirkungen zu zeitigen. Der ‚als ob‘ vollzogene Gesellschaftsvertrag habe Bestand, wenn seine Gründe vernünftig erscheinen. Analog der Kritik des Pragmatismus an metaphysischen Letztbegründungsmodellen verläuft auch Rawls’ Entwurf einer zirkulären Moraltheorie eines – in seiner Bewegungslogik deutlich als ironisch zu verifizierenden – Schwebens zwischen Urteilen und Grundsätzen. „Diesen Zustand nenne ich Überlegungs-Gleichgewicht. Es ist ein Gleichgewicht, weil schließlich unsere Grundsätze und unsere Urteile übereinstimmen; und es ist ein Gleichgewicht der Überlegung, weil wir wissen, welchen Grundsätzen unsere Urteile entsprechen, und aus welchen Voraussetzungen diese abgeleitet sind.“259

Paradoxerweise verweist aber gerade der pragmatistisch motivierte Verzicht auf Letztbegründung der Gerechtigkeit mittels fiktiver Projektionen trotzdem wieder auf die verpönte (Schmitt’sche) Kategorie der Entscheidung. Die tatsächliche Zustimmung der Vertragsteilnehmer mittels eines Vertragsschlusses ist dagegen gar nicht mehr von Bedeutung.260 „Dieser wird abgelöst durch eine Entscheidungssituation, in der die Grundsätze der gesellschaftlichen Güterverteilung bestimmt

258 Ebd., S. 82. 259 Rawls, John, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main, 1975, S. 38. 260 Zu einer dekonstruktiven Lesart des performativen Paradoxes einer immer schon vorauszusetzenden, aber allererst zu konstituierenden community vgl. Derridas Reflexionen über die amerikanische Unabhängigkeitserklärung in: Derrida, Jacques und Kittler, Friedrich, Nietzsche – Politik des Eigennamens. Wie man abschafft, wovon man spricht, Berlin, 2000, S. 9–19; frz. in: Derrida, Jacques, Otobiographies, L’enseignement de Nietzsche et la politique du nom propre, Paris, 1984.

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E. IRONISCHE POLITIKEN

werden.“261 Anders formuliert: Auch der pragmatische Liberalismus und seine kommunitaristische Variation haben die symptomatischen Schwierigkeiten jedes postfoundationalism. Nur mehr mittels ironischer Fiktionalisierung wird eine ursprüngliche Entscheidung, wiederum nur im Modus des Als-ob, herbeizitiert. Als ob wir nicht um unsere Talente und Vorzüge wüssten, als ob wir nicht glaubten, zu wissen, wer wir seien – als ob wir uns dann noch für eine Geschichte entscheiden könnten. Die kommunitaristische Kritik (speziell Taylors) an Rawls erinnert deswegen nicht zufällig stark an diejenige Hegels an Kants. In der Tat werden gegen die vermeintlich liberale Abstraktion seit zweihundert Jahren und mit ständig wechselnder politischer Metaphorik immer wieder materiale Werte eingefordert. Damals wie heute sind diese geistigen Reflexe oft vorschnell und selbst nicht immer ausreichend fundiert. Letztlich sind die beiden Gegenpole von einer spezifischen Komplizenhaftigkeit gezeichnet. Sie sind Ausdruck des politiktheoretischen Scheiterns an der Konzeptualisierung einer formaterialen Konsequenzlogik, also daran, formale Prozeduren zu konzipieren, welche einen materialen Fortschritt produzieren könnten. Lutz Meyers luzide Diskussion in seinem Buch John Rawls und die Kommunitaristen hat in diesem Zusammenhang deutlich gemacht, inwiefern die Fronten zwischen Universalismus und Kontextualismus und zwischen Liberalen und auf Inhaltliches (‚Gutes‘) rekurrierenden Kummunitaristen mit der Zeit porös wurden. Wenn „Rawls den Bezugsrahmen seines Begründungsrahmens […] stärker in Richtung amerikanischer Gesellschaft verändert hat“, hat ihm dies den „Vorwurf eingebracht, er und Walzer hätten in der Auseinandersetzung Universalismus versus Kontextualismus […] die Positionen getauscht“.262 Auch Richard Rortys konservativ-pragmatische Ironie bestellt dieses nur durch scheinbare Alternativen geprägte amerikanische Terrain. So zum Beispiel, wenn er sich besorgt zeigt über die „jungen Schwarzen in amerikanischen Großstädten. Sagen wir, daß diesen Jugendlichen geholfen werden muß, weil sie unsere Mitmenschen sind? Mag sein, aber moralisch und politisch überzeugender ist es, sie als unsere amerikanischen Mitbürger zu bezeichnen – darauf zu insistieren, daß es empörend ist, wenn ein Amerikaner ohne Hoffnung lebt.“263

Es muss offen bleiben, ob er das nun ironisch gemeint hat oder nicht. Fest steht freilich, dass nicht erst in seinen dezidiert patriotischen Überlegungen zu amerikanischem Bürgerstolz und Nationalstolz „Rorty einen Signifikanten ein[führt], durch den die politische Gemeinschaft als Ganzes symbolisiert werden soll: ‚Amerika‘“.264 Eher noch als Zufall ist es eine Ironie der Theoriegeschichte, dass es 261 262 263 264

Meyer, Lutz, John Rawls und die Kommunitaristen, Würzburg, 1996, S. 12. Ebd., S. 84. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 308. Dies die Ansicht von Auer, Dirk, „Kontingenzbewusstsein und Möglichkeitssinn – Ironie und Gesellschaftskritik bei Richard Rorty“, in: Die Ironie der Politik, S. 65–84, hier S. 75; vgl. auch Rorty, Richard, Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus, Frankfurt am Main, 1999.

III. KAFKAS GESETZESLOGIK

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gleichzeitig auch einer der ironiefeindlichsten Texte der letzten Jahre, Das Elend der Ironie des „Ironikers wider Willen“ Jedediah Purdy, „so wichtig“ findet, gegen „die ironische Manier unserer Zeit“ sein „privates West-Virginia“ zu beschreiben.265

III. KAFKAS GESETZESLOGIK III. KAFKAS GESETZESLOGIK

„Die Anarchie erzeugt keine Tyrannen, doch unterm Schatten der Gesetze stehen sie auf, mit Gesetzen ermächtigen sie sich.“ Marquis de Sade266

1. Formale Verschiebungen Kafka und dem Gesetz, genauer: einer spezifisch kafkaesken Ironisierung herkömmlicher Gesetzesvorstellungen, ein Kapitel zu widmen, wirft zuallererst ein Auswahlproblem auf. Kaum ein Text Kafkas, von dem sich nicht Bezüge zu diesem Thema herstellen ließen, und unüberschaubar auch die Menge an Sekundärliteratur. Aus pragmatischen Gründen soll hier einer relativ kurzen Textsammlung – zusammen ergeben die hier untersuchten Aufzeichnungen aus Kafkas Nachlass kaum sieben Seiten – eine detailliertere Analyse gewidmet werden, und zwar so, als ob sie ein gemeinsames Narrativ bilden würden. Aus diesen Kurztexten sowie gegebenenfalls mittels Heranziehung seiner bekannteren Erzählungen und Romane können Kafkas literarische Reflexionen zum Themenbereich ‚Ironie und Gesetz‘ in ausreichendem Maße – auch hier ist keine erschöpfende Diskussion eines Autors intendiert – fruchtbar gemacht werden. Aber nicht nur arbeitstechnische, sondern, wie zu zeigen sein wird, wichtige inhaltliche Gründe sprechen für die ungeordnete, aber zusammenhängende Reihe autobiographischer Aphorismen, die Kafka zwischen 6. Januar und 29. Februar 1920 in seinem Tagebuch notiert hat und die erstmals von Max Brod als „‚Er.‘ Aufzeichnungen aus dem Jahre 1920“ veröffentlicht wurden.267 265 Purdy, Jedediah, Das Elend der Ironie, Hamburg, 2002, S. 8 und 13. Zu Purdy vgl. Thomas Noetzels „Einleitung: Ironie zwischen Tugenddiskurs, politischer Kategorie und sozialem Konstruktivismus“, in: Die Ironie der Politik, S. 9–16, hier S. 9. 266 Genauer: Chigi in De Sades Histoire de Juliette, zit. nach Deleuze, Gilles, „Sacher-Masoch und der Masochismus“, in: Sacher-Masoch, Leopold von, Venus im Pelz, Frankfurt am Main, 1980, S. 237. 267 Die Aufzeichnungen wurden in unterschiedlichen Anordnungen veröffentlicht. Ich zitiere hier nach Kafka, Franz, „‚Er‘. Aufzeichnungen aus dem Jahre 1920“, in: ders., Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß, in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. v. Max Brod, Frankfurt am Main, 1983, o. Bd., S. 216–222.

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E. IRONISCHE POLITIKEN

Bereits der Beginn der ersten Aufzeichnung der Sammlung variiert eine für Kafkas Protagonisten nicht untypische Aufgabenkonstellation. „Er ist bei keinem Anlaß genügend vorbereitet, kann sich deshalb aber nicht einmal Vorwürfe machen“, denn wie „könnte man sich denn vorbereiten, ehe man die Aufgabe kennt“.268 Nicht genug damit, dass Kafka den Sinn der Rede von ‚Vorbereitung‘ damit schon eingangs unterläuft, erhöht er im selben Satz noch einmal das Reflexionsniveau und führt den Textsinn an die Grenze des Kollabierens. Denn, so lautet die Frage der ersten Aufzeichnungen, „kann man überhaupt eine natürliche, eine nicht nur künstlich zusammengestellte Aufgabe bestehen? Deshalb ist er auch schon längst unter den Rädern, merkwürdiger- aber auch tröstlicherweise war er darauf am wenigsten vorbereitet.“269

Kafkas Gebrauch der grammatischen Tempora führt hier gleich eingangs über komplizierte semantische Umwege, aber damit auf schnellstem Wege in Grenzbereiche sinnvollen Erzählens. „Man kann nicht“, und zwar „immer schon“, legt der Text nahe und stellt damit die zusammengehörenden „tröstlicherweise“ und „war“ in jenes Kafka eigentümliche außersinnliche Licht.270 Ohne es zu merken, hat der Leser das Präsens des vorangehenden, drei Viertel dieser Aufzeichnung umfassenden Satzes verlassen. Aber es „war“ auch kein Perfekt mehr. Ein „immer schon“ kann es nicht sein, vielmehr ist Er „schon längst unter den Rädern“.271 Fern aller (theologischen) Implikationen handelt es sich somit zunächst um eine gänzlich unbestimmbare Aufgabe. Diese hat nichts mehr mit einem herkömmlichen Verständnis von ‚Aufgabe‘ zu tun. Schon eher kann von einer Pluralität von Aufgaben gesprochen werden, welche sich in den thematisch so verschiedenen Aufzeichnungen finden lassen. Aufgaben, welche sich nicht einfach von dem herkömmlichen Kriterium eines Gelingens oder Scheiterns und schon gar nicht von Kategorien wie ‚Lösung‘ und ‚Erlösung‘ her verstehen lassen. In der folgenden Aufzeichnung ist, angesichts einer außerordentlichen „Fülle des Neuen“, von einer dilettantischen Unfähigkeit die Rede, „historisch zu werden, die Kette der Geschlechter sprengend“.272 Im Zusammenhang zweier anderer Aufzeichnungen kann das im Sinne einer künstlerischen Selbstreflexion, als Kommentar zu dieser ungeordneten Aufzeichnungsserie gelesen werden. Zunächst betrifft dies die Frage nach der literarischen Ordnung. Eine basale Definition der Funktion und Aufgabe des Erzählens von Christian Metz lautet: „Eine Erzählung ist eine Menge von Ereignissen“.273 Aus Sicht der Aufzeichnungen Kafkas handelt es sich bei deren Verkettung freilich um eine sowohl aus inhaltlichen als auch formalen Gründen unmögliche Aufgabe. 268 269 270 271 272 273

Ebd., S. 216. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Metz, Christian, „Bemerkungen zu einer Phänomenologie des Narrativen“, in: ders., Semiologie des Films, München, 1972, S. 35–50, hier S. 45.

III. KAFKAS GESETZESLOGIK

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„Die Strömung, gegen die er schwimmt, ist so rasend, daß man in einer gewissen Zerstreutheit manchmal verzweifelt ist über die öde Ruhe, inmitten welcher man plätschert, so unendlich weit ist man nämlich in einem Augenblick des Versagens zurückgetrieben worden“,

so eine weitere Reflexion.274 Gewiss stimmt da etwas mit dem Wasser nicht, welches erlaubt, in einer rasenden Strömung zerstreut zu plätschern. Es sind temporale Effekte, welche das Wasser verschieden reflektieren und darüber die logische Bewegung der Metaphern umkehren. Das Wasser, der transparent-bildhafte Emotionsträger des Abschnitts, wird geformt von Kafkas formaler Stringenz, seinem Spiel mit Raum und Zeit. „Er“ schwimmt „jetzt“, ist manchmal „inmitten [lange Zeitspannen evozierender; A.A.] öder Ruhe verzweifelt“, und „man“ ist, noch dazu „in einem Augenblick“, „zurückgetrieben“ worden. Kafkas Text ist eine ständige Reflexion der Bedingungen seiner eigenen (Un-)Möglichkeit. Die Frage nach den literarischen Gesetzmäßigkeiten ist, noch vor jeder explizit politischen Dimension, eine fundamentale nach den – in kantischer Terminologie – Formen unserer Anschauung, Zeit und Raum. Schon in der aisthetisch selbstreflexiven neunten Aufzeichnung ereignet sich eine Variante obigen Plätscherns, diesmal als Raumparadox. Thema ist eine quasi antithetische Wahrnehmung. „Er sieht zweierlei: Das Erste ist die ruhige, mit Leben erfüllte […] Betrachtung, Erwägung, Untersuchung, Ergießung. Deren Zahl und Möglichkeit ist endlos, selbst eine Mauerassel braucht eine verhältnismäßig große Ritze, um unterzukommen, für jene Arbeiten aber ist überhaupt kein Platz nötig, selbst dort, wo nicht die geringste Ritze ist, können sie, einander durchdringend, noch zu Tausenden und Abertausenden leben.“275

Einerseits regiert also eine mit ruhigem Leben erfüllte Betrachtung, der auf anschauungsformaler Ebene eine punktuelle Reduktion des Raumes entspricht. Andererseits wird dann einige Zeilen später eine analoge Entgegensetzung von Zeitlichkeit beschrieben. Denn das „Zweite aber ist der“ als paradoxe Selbstaushebelung der Zeit zu verstehende „Augenblick in dem man vorgerufen Rechenschaft geben soll, keinen Laut hervorbringt, zurückgeworfen wird in die Betrachtungen usw., jetzt aber mit der Aussichtslosigkeit vor sich unmöglich mehr darin plätschern kann, sich schwer macht und mit einem Fluch versinkt“.276

„Es handelt sich um folgendes: Ich saß einmal vor vielen Jahren, gewiß traurig genug, auf der Lehne des Laurenziberges. Ich prüfte die Wünsche, die ich für das Leben hatte“277, so gleich darauf der Beginn der folgenden, zugleich vom Umfang her längsten Aufzeichnung. Die vorhergehende Diskussion einer beschreibungstechnischen Dialektik wird damit auch als ethische Problematik lesbar. Märchen274 275 276 277

Kafka, „‚Er‘“, S. 221. Ebd., S. 217. Ebd. Ebd.

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E. IRONISCHE POLITIKEN

haft beginnt Kafka noch einmal das Geschichtenerzählen – und plötzlich ist der Protagonist ein „Ich“ geworden, dessen wichtigstes Anliegen der paradoxe Wunsch ist, „eine Ansicht des Lebens zu gewinnen (und – das war allerdings notwendig verbunden – schriftlich die anderen von ihr überzeugen zu können)“.278 Diesen „Effekt einer Autonymisierung“, die „eine Mimesis an die Rede des anderen [exerziert]“279, hat Joseph Vogl als grundlegendes Prinzip von Kafkas literarischer Ethik herausgearbeitet. Wie am Ende des zu Beginn geschriebenen Schlusskapitels des Prozeß ein „unvermittelter Wechsel in die erste Person“ steht, so „wurde der ‚Schloss‘-Roman schließlich als Ich-Erzählung begonnen, dann in die ‚Er‘-Form transkribiert“, was „eine partielle Deckungsgleichheit der Pronomina als Kristallisationskern dieser Erzählweise erscheinen“ lässt.280 Aus den daraus resultierenden multiplen grammatischen Textperspektiven resultiert exemplarisch auch für die „‚Er‘“-Aufzeichnungen ein pronominal vervielfachter Blick auf die Wirklichkeit(en). Denn sowohl an dem ‚Ich-Erzähler‘ von „‚Er‘“ als auch an „diesem ‚er‘ stoßen Erzählung und Erzähltes aufeinander, an diesem ‚er‘ artikuliert die Fiktion ihre formalen Bedingungen“ und entscheiden sich meist auch Struktur und Verlauf des Erzählens.281 Um welche literarisch-ethische Aufgabe handelt es sich nun in der weiteren Folge der zehnten Aufzeichnung? Zunächst offensichtlich um eine weitere jener kafkaesken Aufgaben, welche allen immer schon und auch bis auf Weiteres anheimgegeben scheinen. Worum es geht, ist, eine Ansicht zu gewinnen, in welcher das „Leben zwar sein natürliches schweres Fallen und Steigen bewahre, aber gleichzeitig mit nicht minderer Deutlichkeit als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben erkannt werde. Vielleicht ein schöner Wunsch, wenn ich ihn richtig gewünscht hätte.“282

In der Folge verdeutlicht Kafka dieses Spiel einer spezifisch ironischen Dialektik von Nichts und ordentlichem, handwerklichem Hämmern. Weder handelt es sich um eine negative Dialektik noch um eine, die ihre gegensätzlichen Positionen einer Aufhebung zuführt. Am ehesten erinnert dieses Hämmern an Schlegels ironische Synthesis absoluter Antithesen. Es geht darum, so zu hämmern, „dass man sagen könnte: ‚Ihm ist das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts‘, wodurch ja das Hämmern noch kühner, noch entschlossener, noch wirklicher und, wenn du willst, noch irrsinniger geworden wäre.“283

278 279 280 281 282 283

Ebd. Vogl, Joseph, Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik, München, 1990, S. 73. Ebd., S. 76. Ebd. Kafka, „‚Er‘“, S. 218. Ebd.

III. KAFKAS GESETZESLOGIK

303

Nachdem der Ich-Erzähler einmalig direkt ein „du“ angesprochen hat, springt die Aufzeichnung wieder in die sonst meist durchgehaltene Er-Form und produziert en passant eine der schönsten Beschreibungen von Ironie: „Aber er konnte gar nicht so wünschen, denn sein Wunsch war kein Wunsch, er war nur eine Verteidigung, eine Verbürgerlichung des Nichts, ein Hauch von Munterkeit, den er dem Nichts geben wollte […] [als] eine Art Abschied, den er von der Scheinwelt der Jugend nahm, sie hatte ihn übrigens niemals unmittelbar getäuscht, sondern nur durch die Reden aller Autoritäten ringsherum täuschen lassen. So hatte sich die Notwendigkeit des ‚Wunsches‘ ergeben.“284

Es gehört „zur Selbstironie von Kafkas Texten“. so wiederum Joseph Vogl, „daß sie sich um ein leeres Zentrum organisieren, in dem schlechterdings nichts ist, kein Ereignis, kein Gegenstand, kein Wissen, kein Sinn“, und dass ihr Erzählvorgang verstanden werden kann „als eine Bewegung im Stillstand, als Erzählen von Geschichten, die zuweilen kaum über ihr eigenes Beginnen hinauskommen. Diese Ironie arbeitet am Kern des literarischen Selbstverständnisses“.285 Diese ironische Leere, dieses muntere Nichts, das im Kern so vieler Texte Kafkas auftaucht, lässt sich aber aus der ihm eigenen raumzeitparadoxalen Bewegung im Stillstand heraus möglicherweise noch genauer bestimmen. „Die Wirklichkeit des Hämmerns, das Hämmern selbst verdankt sich einer Verbindung mit dem Nichts, erst in ihm liegt das, was es nach Benjamins Wort zu einer entschlossenen Gebärde“, und, so Werner Hamacher, „was die Gebärde zum Entscheidenden macht“.286 An einem anderen ‚Wünschen und Hämmern‘ thematisierenden Fragment wird diese politische, Schmitts Verständnis von ‚Entscheidung‘ diametral entgegengesetzte Dimension von Kafkas Schreiben über das Hämmern noch deutlicher. Es handelt sich um den kurzen Erfahrungsbericht eines Ich-Erzählers über seinen Zellengenossen – nach der Rettung. „Sein Wünschen oder Nicht-Wünschen wird nichts verändern, gerettet wird er, aber die Frage ob er es auch noch wünschen soll, bleibt […]. Für die Rettung genügt ihm scheinbar der kleine Hammer, den er sich irgendwo verschafft hat, ein Hämmerchen um Spannägel in ein Zeichenbrett zu treiben, mehr könnte er sich nicht leisten, aber er verlangt auch nichts von ihm, nur der Besitz entzückt ihn.“287

Auf enigmatische Weise sind auch hier unbegründeter (Nicht-)Wunsch und herkunftsloser Hammer aufeinander bezogen. Für die garantierte und nutzlose Rettung scheint jede beliebige Tätigkeit gleich (un)tauglich. Was das Hämmerchen geradezu prädestiniert, ist dessen gebrauchswertlose Zuhandenheit, die eine eigentümliche Gelassenheit hervorruft.

284 Ebd. 285 Vogl, Ort der Gewalt, S. 150. 286 Hamacher, Werner, „Die Geste im Namen. Benjamin und Kafka“, in: ders., Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt am Main, 1998, S. 280– 323, hier S. 319. 287 Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente, Bd. II, S. 244 f.

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E. IRONISCHE POLITIKEN

„Er weiß daß er mit diesem Hammer keinen Splitter von der Mauer schlagen kann, er will es auch nicht, er streicht nur manchmal leicht mit dem Hammer über die Wände, als könne er mit ihm das Taktzeichen geben das die große wartende Maschinerie der Rettung in Bewegung setzt.“288

Was so noch als musikalisch gemilderter Gewalt-Auftakt einer Befreiung gelesen werden könnte oder zumindest als dessen rhythmische Begleitung, erweist sich in der folgenden Passage als völlig arbiträre Tätigkeit: grundloses Hämmern mit einem bedeutungslosen Hammer, Synkopierung des Nichts. „Es wird nicht genau so sein, die Rettung wird einsetzen zu ihrer Zeit unabhängig vom Hammer, aber irgendetwas ist er doch, etwas Handgreifliches, eine Bürgschaft, etwas was man küssen kann, wie man die Rettung niemals wird küssen können.“289

Ähnlich obigem „‚Er‘“-Fragment verwandelt sich auch an dieser Stelle ein existenzielles Hämmern im Nichts in eine zärtliche Ironisierung, die der unmöglichen oder unbedeutenden Rettung ein wenig Substanzialität zu geben vermag. Martin Walser hat, ausgehend von dem Sokrates zugesprochenen ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß‘, ein Kriterium für „den ironischen Stil“290 Kafkas zu benennen versucht: „Die logische Widersinnigkeit liefert die ironische Qualität.“291 Zweier Korrekturen bedarf diese Formel nun nach obigen Analysen. Erstens bleibt Walser zu sehr auf einer inhaltlichen Analyseebene stehen.292 Zweitens ist nicht jede kafkaeske Widersinnigkeit ironisch, sondern nur eine solche, die zugleich deren strukturelle Notwendigkeit vorführt. Dass und wie Kafka dies noch dazu auf ganz formaler Ebene zu leisten imstande ist, macht sein ironisches Genie aus. Kafkas écriture ist auf der unendlichen Höhe seines Denkens, ja sein Schreiben ist dieses zeitlose Ereignis. Unmöglich, fundamentaler Widerstand zu leisten als Kafka, Widerstand nämlich auf der Ebene der Formen allen unseren Anschauens. Kafka irritiert aber nicht nur die chronologischen, sondern auch die politischen Normierungen unserer Anschauung. Das soll in der Folge anhand weiterer Aufzeichnungen zu zeigen versucht werden. Schon die oben analysierte Theoretisierung des ‚Wunsches‘ lässt sich nicht auf eine autobiographische Komponente beschränken. Die Täuschung ist nicht unmittelbar verordnet, und trotzdem lässt man sich täuschen – als ob auch das einem geheimen Wunsch entspräche. Gerade die Frage des Wunsches, die Frage nach Verlangen und Begehren, führt bei Kafka in den Grenzbereich von Gesetz und Politik. Nach einem kurzen Aufzeigen der anschauungsformalen Spezifik seines Schreibens sollen in der Folge nun Kafkas eigenwillige künstlerische Reflexionen zum Komplex ‚Gesetz‘ zur Geltung kom288 Ebd., S. 245. 289 Ebd. 290 Im Zusammenhang mit Robert Walsers Jacob von Gunten meint Walser (Selbstbewusstsein und Ironie, S. 119): „Das ist ironischer Stil: etwas im Ton einer Errungenschaft erzählen, was dann, als Resultat, doch überraschend wenig, eher das Gegenteil einer Errungenschaft ist.“ 291 Ebd., S. 134. 292 Exemplarisch hierfür seine Beschreibung von Gregors Tod in der Verwandlung als ironisches Happy End (vgl. ebd., S. 174).

III. KAFKAS GESETZESLOGIK

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men. Denn am besten aus der Verschiebung literarischer Gesetzlichkeiten wie ‚Narrativität‘ und ‚Chronologie‘ erklärt sich auch der gesetzesphilosophische Einsatz von Kafkas Prosa: aufzuweisen, inwiefern es „zum Wesen dieses Gesetzes [gehört], in zeitlicher und räumlicher Hinsicht verschoben zu sein“.293

2. Politische Umsetzung „Mit einem Gefängnis hätte er sich abgefunden. Als Gefangener enden – das wäre eines Lebens Ziel. Aber es war ein Gitterkäfig […], der Gefangene war eigentlich frei, er konnte an allem teilnehmen, nichts entging ihm draußen, […] die Gitterstangen standen ja meterweit auseinander.“294 Diese Beschreibungen der dritten Aufzeichnung von „‚Er‘“ werden thematisch ergänzt durch die sechste, welche die innere Problematik dieses Pseudogefangenen noch deutlicher ausspricht. „Fragt man ihn aber, was er eigentlich haben will, kann er nicht antworten, denn er hat […] keine Vorstellung von Freiheit.“295 In diesen Formulierungen drückt sich eine Einsicht in die komplexe Verschlungenheit von Freiheit und Festschreibung aus. Anders als im Prozeß wird hier kein imaginäres Gerichtsverfahren halluziniert und auch keine endgültige Entscheidungsinstanz auf das Gesetz projiziert. Damit entfällt das übliche dialektische Spiel zwischen wirklichem und scheinbarem Freispruch. Und auch die noch eigen- oder fremdverantwortliche Instanzen implizierenden Kategorien ‚Schuld‘ und ‚Verschleppung‘ verlieren ihren Sinn. Die zentrale Allegorie im Prozeß war die Situation Vor dem Gesetz gewesen, ihre Deutung kreiste um die Frage der Täuschung. Bedeutungsoptionen dieser Art entfallen in Kafkas späten Aufzeichnungen. Das Gefängnis ist offen, und doch kennen wir die Freiheit nicht. Kafkas Texte verkünden ein neues Verständnis von ‚Freiheit‘ und ‚Macht‘. Er ist sich keiner Gesetzesübertretung und keiner Schuld bewusst und sitzt zwischen weit voneinander entfernten Gitterstangen „wie bei sich zu Hause […], selbst verlassen hätte er den Käfig können […], nicht einmal gefangen war er“, so das Ende der dritten Aufzeichnung.296 Was ihn zurückhält, wird möglicherweise von der fünften Aufzeichnung ausgesprochen, die hier ihrer aphoristischen Kürze wegen zur Gänze angeführt werden kann: „Sein eigener Stirnknochen verlegt ihm den Weg, an seiner eigenen Stirn schlägt er sich die Stirn blutig.“297 Die subjektiven Verstrickungen in die Wirkungen von ‚Macht‘ sind bei Kafka immer aus konkreten Situationen heraus gedacht und auf verschiedenen Ebenen thematisiert. Bestechend schon die Sensibilität für Macht und Einflussversuche bei den querulantischen Romanprotagonisten: Bei jeder Gelegenheit putzen Josef 293 294 295 296 297

Vogl, Ort der Gewalt, S. 158. Kafka, „‚Er‘“, S. 216. Ebd., S. 217. Ebd., S. 216. Ebd.

306

E. IRONISCHE POLITIKEN

K. und K. irgendwelche unschuldigen Dorf- oder Gerichtsdiener herunter. Dem beschämenden Sadismus korreliert ein masochistisches Verlangen nicht nur ihrer Opfer, sondern der Protagonisten selber gegenüber ihren jeweiligen Vorgesetzten. Wichtige Einsichten in bürokratische Machtstrukturen offenbart schon Josef K.s Mobbing-Paranoia angesichts seines Direktor-Stellvertreters. Auf einer noch individuellen Ebene werden Kafkas Romanprotagonisten, nicht anders als das „Er“ der zwölften Aufzeichnung, getragen von einem spinozistischen conatus – sie werden beherrscht von einem Lebenstrieb, einem Trieb nach Leben qua Machterweiterung: „Menschliche Vereinigungen beruhen darauf, daß einer durch sein starkes Dasein andere an sich unwiderlegbare Einzelne widerlegt zu haben scheint“.298 Noch deutlicher spricht die 24. Aufzeichnung von der „Kraft zum Verneinen, dieser natürlichsten Äußerung des immerfort sich verändernden, erneuernden, absterbenden auflebenden menschlichen Kämpferorganismus“ und definiert: „Leben [ist] Verneinen […], also Verneinung Bejahung.“299 Damit ist ein verändertes Verständnis von ‚Macht‘ angedacht, wie es sich aus der Perspektive des Kleinbüros oder des in verstiegene Höhen projizierten Schlosses nicht gewinnen ließe. So zeigt sich K. noch in einen beständig andauernden Kampf involviert, „denn er war der Angreifer; und nicht nur er kämpfte für sich, sondern offenbar noch andere Kräfte, die er nicht kannte“.300 Aber durch die personale Fixierung auf das gräfliche Schloss und dessen Vertreter Klamm verliert K.s Einsicht in dessen bloß „formelle Macht“ an Wert. Einerseits: „Nirgends noch hatte K. Amt und Leben so verflochten gesehen, wie hier, so verflochten, daß es manchmal scheinen konnte, Amt und Leben hätten ihre Plätze gewechselt.“301 Andererseits, und unmittelbar daran anschließend: „Was bedeutet zum Beispiel die bis jetzt nur formelle Macht, welche Klamm über K’s Dienst ausübte, verglichen mit der Macht, die Klamm in K’s Schlafkammer in aller Wirklichkeit hatte.“ Der ödipale Zwang, dem Vorgesetzten die Freundin (Frieda) auszuspannen, resultiert aus einem simplifizierenden Verständnis der Machtverhältnisse. K.s Träume, dass er „von allem Anfang an, ohne Winkelzüge, offen, Aug in Aug, der Behörde entgegentrat“302, sind noch mit der Hoffnung auf eine finale Entscheidung verbunden, welche nie wird stattfinden können. Alle Dorfbewohner jedenfalls sehen überall den Einfluss Klamms. Und auch K. klammert sich, statt Auswege zu suchen, an dieses eine kontingente personale Glied der Einflusskette und imaginiert Klamm als realen Machthaber. Im Kontrast zu dieser renitenten Uneinsichtigkeit und den Verstrickungen der Protago298 299 300 301 302

Ebd., S. 218. Ebd., S. 221. Kafka, Franz, Das Schloß, in: ders., Gesammelte Werke, o. Bd., S. 58. Ebd., S. 59. Ebd., S. 159; den Zusatz „soweit dies überhaupt möglich war“ lese ich als einen des Erzählers, während K. selbst den Personen auflauert. Eine der von Kafka gestrichenen Stellen des Romans spricht den ‚primitiven‘ Stellenwert des Damentauschs explizit aus: „K. dachte mehr an Klamm als an sie. Die Eroberung Friedas verlangte eine Änderung seiner Pläne; hier bekam er ein Machtmittel, das vielleicht die ganze Arbeitszeit im Dorf unnötig machte.“ (Ebd., S. 313.)

III. KAFKAS GESETZESLOGIK

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nisten buchstabiert die Romantextur exemplarische Reflexionen über die symbolische Bürokratie. Kafkas Texte sind die Antizipatoren faschistischen, stalinistischen und kapitalistischen Bürokratismus an den Grenzen von Souveränität. K. kommt gewissermaßen als Schmittianer ins Dorf und will in der Folge den großen Show-down produzieren. Von der hämmernden Gebärde als Auflösung der Entscheidung in ‚Nichts‘ scheint er noch nichts gehört zu haben. Sein Erzähler weiß es schon besser. Mit jedem Ausritt Richtung Schloss lässt er K. ironischerweise tiefer in Schnee und Schlamm jener Dorfstrukturen versinken, aus denen dieser sich eigentlich befreien will. In dieser Auffächerung unterschiedlicher Perspektiven hat man „die Ironie des Werkes verankert“ gesehen, die sich mittels einer Spaltung der Erzählperspektive vollzieht, zwischen der „vom Protagonisten reflektierte[n] Sicht“ und derjenigen, „die von ihm nicht reflektiert wird. […] Die Erzählironie ist der Widerspruch zwischen den reflektierten und den unreflektierten Teilen von K.s Wahrnehmungen.“303 Was aus literaturtheoretischer Sicht als erzähltechnische Ironisierung analysiert werden kann, die offensichtliche Diskrepanz unterschiedlicher Einschätzungen des narrativen Geschehens zwischen Autor, Erzähler und Leser, das lässt sich in einer historischen Sichtweise zugleich als Zusammenprall diskontinuierlicher politischer Dispositionen verstehen. Drei Tranchen möchte ich diesbezüglich, zugegebenermaßen etwas forciert, aus Kafkas Werk ziehen, wobei ich mich der an Foucaults einschlägigen Untersuchungen orientierten Deleuze’schen Unterscheidung von Souveränitäts-, Disziplinar- und Kontrollgesellschaften bediene. Kafka stand demzufolge an der Nahtstelle der beiden letzteren Gesellschaftstypen und „hat im Prozeß die fürchterlichsten juristischen Formen beschrieben: Der scheinbare Freispruch der Disziplinargesellschaften (zwischen zwei Einsperrungen) und der unbegrenzte Aufschub der Kontrollgesellschaften (in kontinuierlicher Variation) sind zwei sehr unterschiedliche juristische Lebensformen.“304

Deutlich wird das an den jeweiligen Straf- und Gefängnismethoden. In der Souveränitätsgesellschaft galt als Gesetz, was der Souverän sagte. Und was er sagte, war deutlich zu vernehmen. So deutlich, dass es in den Körper der Delinquenten eingeschrieben werden konnte. Kafkas geniale sadistische Imaginationskraft hat diesem Modell nachträglich in der „Strafkolonie“ seine ultimative maschinelle, in der Moderne zur Dysfunktionalität verurteilte Verwirklichung gebastelt. Die Disziplinargesellschaft umgekehrt wirkt mittels Einschließung und Einsperrung. Ihre tote Maschine ist das Gefängnis mit seinen Gitterstäben. In einer fragmenthaften frühen Fassung des „Berichts für eine Akademie“ befindet sich der Affe Rotpeter in einer architektonischen Variante der bereits bekannten Gitterkiste.

303 Sokel, Walter H., „Kafkas ‚Der Prozess‘. Ironie, Deutungszwang, Scham und Spiel“, in: Was bleibt von Franz Kafka? Positionsbestimmung. Kafka-Symposion, Wien 1983, hrsg. v. Wendelin Schmidt-Dengler, Wien, 1985, S. 43–62, hier S. 44. 304 Deleuze, Gilles, Unterhandlungen, Frankfurt am Main, 1993, S. 257.

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E. IRONISCHE POLITIKEN

„In meiner Wut wollte ich niemanden sehn und blieb deshalb zur Kiste gewendet, so lauerte ich dort mit zitternden Knien Tage und Nächte und hinten schnitten sich die Gitterstäbe in mich ein. Man hält eine solche Verwahrung wilder Tiere in der allerersten Zeit für vorteilhaft und ich kann nach meiner Erfahrung nicht leugnen, daß dies im menschlichen Sinne tatsächlich der Fall ist. Aber am menschlichen Sinne lag mir damals noch nichts. Ich hatte die Kiste vor mir. Öffne die Bretterwand, beiße ein Loch durch, presse Dich durch eine Lücke, die in Wirklichkeit kaum den Blick durchläßt und die Du bei der ersten Entdeckung mit dem glückseligen Heulen des Unverstands begrüßest. Wohin willst Du? Hinter dem Brett fängt der Wald an“.305

So endet dieses Fragment, in welchem noch tierische Züge (Heulen, Beißen, Unverstand) dominieren. In der späteren Fassung überwiegt am Menschenaffen dann der Mensch. Und jenseits der Kiste liegt nicht mehr ein Wald, in dem Rotpeter, dieser „sentimentale Ironiker“306, sich einst zu verirren drohte. Stattdessen wird er per Schiff – über das von Schmitt als politisch charakterlos verabscheute Meer307 – in die Zivilisation eingeführt und will auf einmal gar nicht mehr in die Freiheit türmen. „Nein, Freiheit wollte ich nicht. Nur einen Ausweg; rechts, links, wohin immer […]. Weiterkommen, weiterkommen! Nur nicht mit aufgehobenen Armen stillestehen, angedrückt an eine Kistenwand“, so lautet diese, jenseits immerwährender Lösungen, am besten momentanistisch zu nennende Aufgabe.308 „Ich weiß nicht mehr, ob Flucht möglich war, aber ich glaube es; einem Affen sollte Flucht immer möglich sein […]. Ich tat es nicht. Was wäre damit auch gewonnen gewesen? […] [D]ann hätte ich ein Weilchen auf dem Weltmeer geschaukelt und wäre ersoffen. Verzweiflungstaten. Ich rechnete nicht so menschlich, aber unter dem Einfluß meiner Umgebung verhielt ich mich so, wie wenn ich gerechnet hätte.“309

305 Diese Textfragmente, die in thematischem und motivischem Zusammenhang mit dem „Bericht für eine Akademie“ stehen, finden sich in den Oktavheften D und E (vgl. Kittler, Wolf und Neumann, Gerhard, „Kafkas ‚Drucke zu Lebzeiten‘. Editorische Technik und hermeneutische Entscheidung“, in: Franz Kafka: Schriftverkehr, hrsg. v. Wolf Kittler und Gerhard Neumann, Freiburg, 1990, S. 30–74). 306 Vgl. zu dieser Zuschreibung Neumann, Gerhard, „‚Ein Bericht für eine Akademie‘. Erwägungen zum ‚Mimesis‘-Charakter Kafkascher Texte“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 49 (1975), S. 166–183, hier S. 179. 307 „Das Meer hat keinen Charakter in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Charakter, das von dem griechischen Wort charassein, eingraben, einritzen, einprägen kommt. Das Meer ist frei.“ (Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 13 f.; vgl. dazu auch Balke, Friedrich, „Fluchtlinien des Staates. Kafkas Begriff des Politischen“, in: Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, hrsg. v. Friedrich Balke und Joseph Vogl, München, 1996, S. 150–188, hier S. 171.) 308 Kafka, Franz, „Ein Bericht für eine Akademie“, in: ders., Erzählungen, in: ders., Gesammelte Werke, o. Bd., S. 139–150, hier S. 142. Versteckt unter seinen ironischen Höflichkeitsformeln platziert Rotpeter somit „eine eigene, von der Akademie nicht vorgesehene, selbst gestellte Aufgabe“, so Erhard Schüttelpelz („Eine Berichtigung für eine Akademie“, in: Kafkas Institutionen, hrsg. v. Arne Höcker und Oliver Simons, Bielefeld, 2007, S. 91–118, hier S. 96). 309 Ebd., S. 143.

III. KAFKAS GESETZESLOGIK

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Anstelle des abstrakten Sprungs in das Nichts der chaotischen Immanenz wählt der Menschenaffe dessen Verbürgerlichung, wählt Ironie als Verbürgerlichung des Nichts. Schon der Prozeß legt eine dazu analoge doppelte Lesart nahe. Im Mittelpunkt steht entweder die Frage der interiorisierten Schuld, des (theologischen) Gewissens – ‚Prozess‘ hier verstanden in einem juridischen Sinn – oder der Entschuldung qua bürokratisierter Prozessualisierung von Entscheidungen. Dafür spricht die Vermutung, dass „[e]s […] keine Schuld [gab]. Der Prozeß war nichts anderes als ein großes Geschäft, wie er es schon oft mit Vorteil für die Bank abgeschlossen hatte“.310 Aber Josef K. selbst („schuldig ist die Organisation, schuldig sind die hohen Beamten“311) misstraut den Ausführungen seines Advokaten über die unendliche Undurchsichtigkeit der Gerichtsverfahren für die bearbeitenden Beamten.312 Bezogen auf die Bürokratismusdebatte der Zwischenkriegszeit verfügt der Autor Kafka über weitaus komplexere Einsicht in die filigranen zeitgenössischen Vermittlungsstrukturen als etwa Carl Schmitt in seiner dezisionistischen Kritik moderner Bürokratie oder seiner Lobpreisung der „zölibatäre[n] Bürokratie“313 der katholischen Kirche. Denn, so wiederum Deleuze und Guattari, am „Ende geht es bei K. weniger um die allgemeine Funktion, die von einem Individuum übernommen worden ist, als vielmehr um das Funktionieren einer Verkettung, in der das einsame Individuum selber nur Teil oder Rädchen ist“.314 Zu sagen, dass sich jemand gegen Freiheit stelle, hieße das Problem verkürzen. ‚Macht‘ mit Foucault als transzendental sowie als produktives Element zu verstehen, bedeutet, dass das Konzept ‚Freiheit‘ einen Großteil seiner alten heuristischen und emanzipatorischen Bedeutung verliert. Auch wird in der Kontrollgesellschaft nicht mehr in Körper geschrieben oder an verletzende Gitter gepresst. Analoges gilt für das Konzept ‚Flucht‘: In Kafkas Universum kann es angesichts des permanenten Ausnahmezustands der Moderne zu keinen entscheidenden Ausbrüchen mehr kommen; weder im Sinne einer natürlichen Souveränität noch im Sinne einer gesetzgebenden Befehlsgewalt des Souveräns, wie sie bei Bodin und seinen rechten Apologeten konzipiert wurde. Jacques Rancières Vorschlag, Politik immer auch als (ästhetischen) Verteilungs- und Sichtbarkeitskampf zu verstehen, beschreibt diesen Kampf auch als einen um und gegen polizeiliche315 (Ein-)Teilungen von Raum und Zeit. Die an310 Kafka, Franz, Der Prozeß, in: ders., Gesammelte Werke, o. Bd., S. 109. 311 Ebd., S. 76. 312 Die „Gerichtssache erscheint also in ihrem Gesichtskreis, ohne daß sie oft wissen, woher sie kommt, und sie geht weiter, ohne daß sie erfahren, wohin“ (ebd., S. 103). 313 Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, S. 6. 314 Deleuze, Gilles und Guattari, Félix, Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt am Main, 1976, S. 117. 315 Diese Abgrenzung des Politischen von rein ökonomisch-technischer Administration findet sich, wie oben angemerkt, schon bei Schmitt. In Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel (Köln, 1956, S. 65) findet sich auch die terminologische Ausdifferenzierung von „Politik, Polizei und Politesse“.

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E. IRONISCHE POLITIKEN

dauernde Re- und Deterritorialisierung verhindert sowohl anarchistische Auflösungen wie identifizierende Arretierungen der politischen Dynamik durch einen imaginären Souverän. Deswegen werden immer nur einzelne Fluchtlinien innerhalb des jeweiligen arbiträren Macht- und Gesellschaftsdiagramms möglich. Flucht in die außergesellschaftliche Freiheit steht nicht (mehr) zur dispositiven Disposition. Aussteiger im klassischen Sinn mögen auch weiterhin unsere Sympathie haben, als politische Option ist ihr Weg nicht zufällig immer wieder Gegenstand der Ironisierung. Die Frage nach der (un)möglichen Abschaffung der Gesetze findet sich auch bei Kafka gestellt. Seine einschlägigen politischen Überlegungen und schriftstellerischen Fragen zielen auf eine „Partei die neben dem Glauben an die Gesetze auch den Adel verwerfen würde“ und die „sofort das ganze Volk hinter sich [hätte], aber eine solche Partei kann nicht entstehn, weil den Adel niemand zu verwerfen wagt. Auf dieses Messers Schneide leben wir. Ein Schriftsteller hat das einmal so zusammengefaßt: Das einzig sichtbare zweifellose Gesetz, das uns auferlegt ist, ist der Adel und um dieses einzige Gesetz sollen wir uns selbst bringen wollen?“316

Ein analoger Prozess der Enttheologisierung, genauer: Enttranszendierung, findet sich somit auch in der Frage nach dem Gesetz. Es gibt kein „Vor dem Gesetz“ mehr, keinen Ort, an dem es entscheidungshaft auf jeden Einzelnen selbst ankommt oder an dem ein Vorgesetzter über einen entscheiden könnte. Liest man das ‚vor‘ hier in temporalem Sinn, dann ließe sich sagen, wir leben ‚nach‘ dem Glauben ans Gesetz. Aber auch räumlich scheint das ‚Er‘ der Aufzeichnungen den Türsteher passiert zu haben – und nichts geschieht nach dem Gesetz, außer der dämmernden Ahnung, dass der Glaube an letzte Entscheidungsinstanzen unterwegs verloren gegangen sein muss. Das Gesetz ist also nicht mehr nur Produkt eines Begehrens, welches etwas hinter den Türsteher projiziert. Kafka durchleuchtet das Gesetz selbst in seiner produktiven und performativen (Ausnahme-)Funktion.317 Vor allen politischen, poetologischen oder künstlerischen Regeln ist der Gegenstand der Literatur aber das Gesetz der Sprache selbst; einer Sprache, die, folgt man Saussure, von uns angenommen und empfangen wird wie ein unumgängliches Gesetz. Literatur dagegen ist immer schon das unlautere Spiel mit diesen Sprachgesetzen. Dabei ist weniger im Sinne Kristevas an eine vor dem Gesetz liegende ursprüngliche semiotische Qualität von literarischer Sprache zu denken.318 Nicht mehr endgültige Subversion oder ‚Flucht‘ stehen im Raum, sondern singuläre Aus- und Fluchtwege, die Konstruktion von ‚Fluchtlinien‘ im Sinne De316 Kafka, Franz, „Zur Frage der Gesetze“, in: Beschreibung eines Kampfes, S. 68–69, hier S. 69. 317 Die diesbezügliche Hypothese Kafkas lautet: „[V]ielleicht bestehen diese Gesetze die wir hier zu erraten suchen überhaupt nicht. Es gibt eine kleine Partei, die wirklich dieser Meinung ist und die nachzuweisen sucht, daß, wenn ein Gesetz besteht, es nur lauten kann: Was der Adel tut, ist Gesetz.“ (Ebd., S. 271.) Zu einer an Schmitt orientierten Lektüre von Kafkas „Zur Frage der Gesetze“ vgl. Horn, Der geheime Krieg, S. 94. 318 Vgl. dazu unten Kap. G. „Metaphysische Entgrenzungen“; zu einer diesbezüglichen Kritik an Kristeva siehe auch Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 121.

III. KAFKAS GESETZESLOGIK

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leuzes. Literarische Sprachereignisse leben von und in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit, aus dem auf Wiederholbarkeit beruhenden Sprachgesetz heraus. Die irritierende Sogkraft von Kafkas singulärer Prosa beruht darauf, wie er die Grundgesetzlichkeiten der Sprache stets zugleich ironisch zu wiederholen und humoristisch vorzuführen weiß. Auch deswegen bedarf es hier noch einer genaueren Ausdifferenzierung jener beiden benachbarten Subversionsstrategien „Humor und Ironie“, die auch „bei Kafka sehr häufig in enger Verschränkung [operieren]“.319

3. Ironie und Humor bei Deleuze „Was Fr. Schlegel so scharf als Ironie karakterisiert, ist meinem Bedünken nach nichts anders als die Folge, der Karakter der Besonnenheit, der wahrhaften Gegenwart des Geistes. Schlegels Ironie scheint mir ächter Humor zu sein. Mehrere Namen sind einer Idee vorteilhaft.“ Novalis320

Angesichts der völlig widersprüchlichen Zuschreibungen ihrer politischen Bedeutung – „Irony is provocative, disruptive, but also hierarchical“321, so Claire Colebrook – ist Linda Hutcheons These einer „transideological nature of irony“322 plausibel. Gleichwohl möchte ich die Frage nach einem möglicherweise Ideologien gegenüber generell dekonstruktiven Charakter der Ironie noch einmal und anders stellen. Dazu ist nach der exakten Bedeutung des Konzepts einer ‚Ironisierung des Gesetzes‘ zu fragen. Wie genau wäre eine solche zu denken? Speziell Gilles Deleuze hat sich an mehreren Stellen seines Werks dieser und der für ihn damit zusammenhängenden Frage einer Begegnung von Gesetz und Humor gewidmet. Mittels einer systematischen Befragung von Deleuzes quer durch seine Texte verstreuten Bezugnahmen auf Ironie (und Humor) können deren Gesetzmäßigkeit und subversive Kraft genauer bestimmt werden. Als Einstieg in die Thematik taugt vor allem Deleuzes früher Essay zu SacherMasoch. Dessen zentrale These lautet, dass „[d]as Gesetz gar nicht anders als mit

319 „Humor und Ironie […] operieren bei Kafka sehr häufig in enger Verschränkung, beide […] zielen auf den Sturz der Gesetze oder des Gesetzes. Während die Ironie Stufe um Stufe hinaufsteigt, um dort auf eine letzte Lücke oder Leerstelle zu stoßen, nimmt die humoristische, erdnahe Recherche dem Gesetz jede Mystifikation.“ (Vogl, Joseph, „Kafkas Komik“, in: Kontinent Kafka, hrsg. v. Klaus R. Scherpe und Elisabeth Wagner, Berlin, 2006, S. 72–87, hier S. 84.) 320 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 429. 321 Colebrook, Irony, S. 122. 322 Hutcheon, Irony’s Edge, S. 15.

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E. IRONISCHE POLITIKEN

Ironie und Humor gedacht werden“323 kann. Eine Vorform der folgenden Unterscheidung der beiden Phänomene findet sich schon bei Bergson: „Einmal kann man ausführen, was sein sollte, indem man sich den Anschein gibt, als glaube man, daß es genau der Wirklichkeit entspricht. Hierin besteht genau die Ironie. Andererseits kann man umgekehrt das, was ist, ausführlich und bis aufs Haar genau beschreiben und so tun, als glaube man, es sei im Grunde so, wie die Welt sein sollte. So verfährt häufig der Humor […]. Man steigert die Ironie, wenn man sich durch die Idee des Guten, das sein sollte, immer höher tragen läßt“.324

In der Folge Bergsons versteht auch Deleuze das Gesetz als sekundär, als letztlich abhängig von einem Konzept des (platonisch gedachten) Guten. Dem Ironiker als Logiker der Prinzipien entgegengesetzt, betreibe der Humorist umgekehrt „nun nicht mehr das Aufsteigen vom Gesetz zu einem höheren Prinzip, sondern das Herabsteigen vom Gesetz zu den Folgen. Wer wüßte nicht, wie man das Gesetz gerade durch übermäßigen Eifer verdrehen kann“325, so die wohl an Kants Unterscheidung von bestimmender und reflektierender Urteilskraft orientierten Definitionen. Sowohl Ironie als auch Humor zielen Deleuzes frühem Essay zufolge „auf den Sturz des Gesetzes“326 ab. Gerade den Aufstieg zum Guten sowie dass die Ironie demzufolge an eine Gesetzlichkeit gebunden bleibe, wird Deleuze in späteren Texten jedoch an ironischen Verfahren bemängeln. Der Vorwurf ist aber nur unter der Voraussetzung plausibel, dass man den kafkaesken Humor gegenpolig als endgültige Demontage des Mechanismus des transzendenten und unerkennbaren Gesetzes bestimmt. In Wahrheit aber gibt es keine solche endgültige Demontage, höchstens eine Verdrehung von Funktionszusammenhängen. Die Maschine in Kafkas Strafkolonie zerstört sich selbst, macht damit aber auch nur anderen Kontrollmaschinen Platz. Entscheidend für Deleuzes spätere kritische Bewertung von Ironie ist nun deren Anbindung an Sadismus wie andererseits des Humors an masochistische Praktiken. Es sei hier darum noch einmal an einige psychoanalytische Definitionen erinnert, die sich aus ironietheoretischer Sicht als teilwese überhastet erwiesen haben; etwa die strenge Unterscheidung von primärem und sekundärem Narzissmus. Wenn man nicht von einer ursprünglichen Geschiedenheit von Subjekt und Objekt ausgeht, dann tangiert das auch die Bedeutung der für Deleuzes Be323 Deleuze, „Sacher-Masoch und der Masochismus“, S. 232. 324 Bergson, Henri, Das Lachen, Jena, 1921, S. 86; Bergson folgert daraus, dass „[d]er Humor in diesem Sinne […] das Gegenteil der Ironie [ist]. Beide sind Formen der Satire“. 325 Deleuze, „Sacher-Masoch und der Masochismus“, S. 238; vgl. dazu auch Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 20–22. 326 Deleuze, „Sacher-Masoch und der Masochismus“, S. 236; noch deutlicher zeigt sich die Problematik dieser Unterscheidung in Candace D. Langs Irony – Humor. Critical Paradigms, London, 1988, S. 4, bei dem Ironie „virtually synonymous with the now-(in)famous écriture, or writing, in the Derridean sense“ ist. Damit begründet Lang seine Unterscheidung zweier Ironien, von denen er eine, vermeintlich bloß der Übersichtlichkeit wegen, „Humor“ zu nennen vorschlägt.

III. KAFKAS GESETZESLOGIK

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urteilung der Ironie relevanten Phänomene Masochismus und Sadismus.327 So wäre ein sekundärer Masochismus erst recht wieder ein versteckter Sadismus, würde also die zugrunde liegende Trennung eines primären und sekundären Narzissmus prekär erscheinen lassen. Hinter den Masken ironischer Maskierung verschwinden auch die Unterschiede eines späteren narzisstischen Spiegelstadiums zwischen Ich-Ideal und Ideal-Ich, also zwischen konstitutiver und konstituierter Identifizierung.328 Entsprechendes gilt für die Trennung einer Ich-Identität und eines davon unabhängigen Über-Ich. Mit deren Durchlässigkeit fällt auch das Deleuze’sche Entscheidungskriterium zwischen Ich-Triumph im Falle des Humors und ironischem Triumph des sadistischen Über-Ich. Dagegen, dass „in Wahrheit die Ironie das Exerzitium eines allesverschlingenden Über-Ichs“ sein soll329, kann mit Freud und explizit mit Lacans „Kant avec Sade“ darauf hingewiesen werden, dass gerade auch „im Humor die Funktion des ‚Überich‘ ins Lager des Komischen überwechselt“.330 Umgekehrt ist es vor allem ein von Deleuzes Logik des Sinns starkgemachtes ästhetisches Kriterium von auf Unsinn ‚aufliegenden‘ Sinneffekten, das zur Klärung der diesbezüglichen logischen Komponenten von Ironie taugt. Die Kategorien von ‚Unsinn‘ und ‚Unverständlichkeit‘ haben sich, im Widerspruch gegen das eindimensionale Bild einer sehnsüchtigen Romantik, als zentrale Aspekte von (romantischer) Ironie erwiesen. Deren sprachtheoretische Dimension zeigt sich deutlich auch in Kafkas literarischem Schreiben. In der von Deleuze und Guattari propagierten ‚kleinen Literatur‘ (littérature mineure) – geschrieben von „einer Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient“331 – lässt sich Ironie bestimmen. In der Folge der Sprachanalysen Wagenbachs weisen Deleuze und Guattari auf die Übersteigerung der literarisch nur vermeintlich defizitären Verarmung des Pragerdeutsch bei Kafka hin. Dieser selbst hat eine „nur aus Fremdwörtern“ bestehende und von „Völkerwanderungen durchlaufen[e]“332 Sprache als Jargon konzeptualisiert. Das Jiddische ist ironisch insofern, als es Kafka zufolge „keine Grammatik“ hat und als nur gesprochene Sprache im Sinne Bachtins „nicht zur Ruhe [kommt].“333 Äußerlich ins Handlungsgeschehen transformiert zeigt sich solche Ironisierung in den ‚politischen Grotesken‘334 Kafkas etwa an K.s Gehilfen, die ebenso doppelt 327 Die Ergebnisse obiger kritischer Relektüre haben an dieser Stelle auch deswegen ihre Relevanz, weil Deleuzes früher Essay noch mittels ebendieser psychoanalytischen Kategorien argumentiert. 328 Mit Blick speziell auch auf Lacan vgl. dazu Liepold-Mosser, Bernd, Gesetz – Übergang – Stil. Von Immanuel Kant zur Philosophie des französischen Poststrukturalismus, Wien, 1996, speziell S. 53. 329 Deleuze, „Sacher-Masoch und der Masochismus“, S. 269. 330 Lacan, Jacques, „Kant mit Sade“, in: ders., Schriften, Bd. II, 3., korr. Aufl., Weinheim, 1991, S. 133–163, hier S. 139. 331 Deleuze und Guattari, Kafka, S. 24. 332 Kafka, Franz, „Rede über die jiddische Sprache“, in: ders., Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, in: ders., Gesammelte Werke, o. Bd., S. 306–309, hier S. 306. 333 Ebd. 334 Vgl. dazu Vogl, „Kafkas Komik“, S. 86.

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E. IRONISCHE POLITIKEN

sind, wie sie K.s Befehle ironisch verdoppeln. Denn nur im „Äußerlichen waren sie lächerlich folgsam“ gegenüber jemandem, den sie offensichtlich nicht ganz ernst nehmen. Überboten werden sie in ihrem dämlichen (Un-)Gehorsam nur noch durch die Springbälle Blumfelds, jenen materialisiert-dinghaften Nachfahren von Sancho und Jacques dem Fatalisten. Fast immer ist gerade Kafkas komisch-grotesken Nebenfiguren eine solche slapstickhafte Mischung von Sinn und Unsinn eigen. Neben den literarischen Aspekten hat die Frage nach dem Verhältnis von politischer Ironie zum ‚Gesetz‘ jedoch auch eine eminent ethische Dimension. Deleuzes Kantstudie hat den Sachverhalt folgendermaßen paraphrasiert: „Wenn wir gegen das moralische Gesetz entscheiden, hören wir nicht auf, eine intelligible Existenz zu haben […]. [W]ir hören auf, Subjekte zu sein, aber zunächst weil wir aufhören, Gesetzgeber zu sein.“335 Gerade das aber wurde der Ironie, genauer: dem Ironiker, von jeher vorgeworfen. Gleichwohl erhebt Deleuze in der Logik des Sinns folgenden diametral entgegengesetzten Vorwurf: „Gemeinsam ist […] diesen Figuren der Ironie, daß sie die Singularitäten in die Grenzen des Individuums oder der Person einzwängen. Darum ist die Ironie nur scheinbar ein Vagabund […]. Das Individuum hielt den klassischen Diskurs, die Person den romantischen Diskurs.“336

Diese Einschätzung setzt aber ein immer schon moralisch prekäres Gesetz voraus, welches den paradoxen ethischen Aufruf zu seiner Übertretung impliziert. In dem Maße, in dem Kafkas Ironisierung des Gesetzes keine Übertretung mehr intendiert, wird das Gesetz selbst als nicht mehr endlos sich aufschiebendes denkbar. Warum dem Gesetz nicht einfach mit Transgressionen beizukommen ist, kann die vierzehnte von Kafkas ‚Er‘-Aufzeichnungen verdeutlichen helfen: „Er lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens.“337 Kafka scheint hier noch einmal die Eigentlichkeit autonom selbstbestimmter ‚Person‘ gegen das Gesetz der ödipalen Familie anzurufen. „Wegen dieser unbekannten Familie und dieser unbekannten Gesetze kann er nicht entlassen werden.“338 Diese letzte Formulierung legt aber bereits eine neue Lesart nahe. Der Ausdruck ‚Entlassung‘ evoziert eher einen Genesungsvorgang in einem Spital als die gerichtliche Konfrontation eines Delinquenten mit dem Gesetz. Zudem handelt es sich um ein unpersönliches Denken, um Reflexionsprozesse quasi ohne individuell-gesetzmäßige Steuerung. Dieser Entpersonalisierung entspricht in der folgenden Aufzeichnung die Entdämonisierung auch des Gesetzes. „Die Erbsünde, das alte Unrecht, das der Mensch begangen hat, besteht in dem Vorwurf, den der Mensch macht und von dem er nicht abläßt, daß ihm ein Unrecht geschehen ist, daß an ihm die Erbsünde begangen wurde.“339 Der Geistliche im Dom hat 335 336 337 338 339

Deleuze, Kants kritische Philosophie, S. 75. Deleuze, Unterhandlungen, S. 176. Kafka, „‚Er‘“, S. 219. Ebd. Ebd.

III. KAFKAS GESETZESLOGIK

315

somit recht. Gerade die Schuldigen sind es, welche zu beteuern pflegen: „Ich bin aber nicht schuldig.“340 Nicht das Abstreiten allein, sondern die implizite Identifikation mit der Schiedsinstanz ist die Erbsünde der ewig Schuldigen. Dagegen wendet sich die moderne Umdrehung, politisch bei Hobbes und Schmitt, moralphilosophisch bei Kant, Rawls und Habermas.341 In der Moderne gibt allein noch das formale Gesetz das inhaltsleere Gute vor: Kants bloße Form des Gesetzes, Scholems auf Kafka bezogene „Geltung ohne Bedeutung“.342 Bei Kafka bedeutet Gesetzesironie damit nicht mehr, worauf Deleuze sie tendenziell verengt; sie ist keine manische „Kunst der Tiefen und der Höhen“343 mehr, die der Gefahr depressiven Abstürzens ausgesetzt ist. In den „‚Er‘“-Aufzeichnungen sind Idee und Ursprung der Erbsünde als subjektive Projektionen ausgesprochen. Diese ironische Einsicht zeichnet sie aus vor der tragischen „Ödipus-Ironie“344 Gregors, die Schuld schon vor der Erkenntnis antizipiert und akzeptiert. Die destabilisierende Ironie von Kafkas „‚Er‘“ verabschiedet sich davon, indem sie bis in den Gegenstand der Befragung hinein ihr eigenes thematisches Fundament zum Implodieren bringt. Kafkas Einsatz literarischer Ironiestrategien eröffnet aber noch weiter gehende theoretische Einsichten. Versteht man nämlich die produktiven Machtstrukturen als konstitutiv auch für die jeweiligen Subjektivierungsprozesse, dann unterläuft dies eine an die Unerreichbarkeit des Gesetzes gebundene Mangeltheorie des Begehrens. Die Über-Ich-Strukturen zeigen selbst ihren diagrammatischen345 Charakter. Das führt über die gewohnte Lacan’sche Lesart des Gesetzesprozesses hinaus, der zufolge ‚Gesetz‘ in der weitestmöglichen Formalisierung erlebt wird und „niemand […] wirklich in Unkenntnis der Gesetze [lebt], weil das Gesetz des Menschen das Gesetz der Sprache ist“346, in dessen Durchgang Subjekte sich allererst konstituieren und gleichzeitig sich selbst gegenüber heteronom werden. Die Pointe des Lacan’schen Ansatzes ist die radikale Umwertung der Funktion des Über-Ich. Dessen Gebot lautet Lacan zufolge, zu genießen. Diese Erfahrung macht auch Josef K. vor dem Gesetz. Was er bei Gericht erfährt, ist, dass das Gesetz gebietet, zu genießen. Sein Blick in die pornographischen Gesetzbücher ist nur eine offizielle Bestätigung für sein ständiges Begehren. Fast in jedem Kapitel steigt er einer anderen Frau nach – egal, ob es Fräulein Bürstner ist oder ob er sich mitten im Schmutz des Gerichtssaals mit der Frau des Gerichtsdieners zusammenfindet. Wie die Dogmatiker bei Nietzsche an der weiblichen Wahrheit 340 Kafka, Der Prozeß, S. 180; analog K.s „Ich will immer frei sein.“ (Das Schloß, S. 11.) 341 Zu einer Parallelisierung der Rawls’schen Prämissen mit denjenigen Kants vgl. Liepold-Mosser, Gesetz – Übergang – Stil, S. 43. 342 Zu Scholems auf Kafka bezogene Bemerkung in einem Brief an Benjamin vgl. Agamben, Giorgio, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main, 2002, S. 61 f. 343 Deleuze, Logik des Sinns, S. 25. 344 Walser, Selbstbewusstsein und Ironie, S. 184. 345 Zu einer Theorie des Diagramms bei Foucault vgl. Deleuze, Gilles, Foucault, Frankfurt am Main, 1995. 346 Lacan, Jacques, „Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse“, in: ders., Schriften, Bd. I, 1973, S. 71–170, hier S. 112.

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E. IRONISCHE POLITIKEN

scheitern, so auch Josef K. an seinem groben Zugriff auf das andere Geschlecht. Letztlich hört er seinen Frauen einfach nicht genug zu. Und auch der SchloßProtagonist überhört einen diesbezüglichen Hinweis oder zieht zumindest nicht die entsprechenden antidezisionistischen Schlüsse: „‚Es ist hier die Redensart, vielleicht kennst du sie: ‚Amtliche Entscheidungen sind scheu wie junge Mädchen.‘ – ‚Das ist eine gute Beobachtung‘, sagte K., er nahm es noch ernster als Olga, ‚eine gute Beobachtung, die Entscheidungen mögen noch andere Eigenschaften mit Mädchen gemeinsam haben.‘“347

Überhaupt tönt aus dem Schloß eine deutliche obszöne Sprache. Die Möglichkeit reiner Entscheidungen ist bei Kafka aber nicht nur von schmutzigen Obszönitäten aller Art bedroht. Die ironische Kontiguität des Gesetzes verunmöglicht die dezisionistische Purifizierung: „Eine amtliche Entscheidung ist [doch] nicht etwas wie z. B. diese Medizinflasche, die hier auf dem Tischchen steht. Man greift nach ihr und hat sie schon. Einer wirklichen Entscheidung gehen unzählige, kleine Erhebungen und Überlegungen voraus, es bedarf dazu der jahrelangen Arbeit der besten Beamten, […] auch dann wenn etwa diese Beamten gleich anfangs die […] Entscheidung wussten. Und gibt es denn überhaupt eine schließliche Entscheidung? Um sie nicht aufkommen zu lassen, sind ja die Kontrollämter da“.348

Versinnbildlicht ist die hysterische Dimension des (Schmitt’schen) Dezisionismus im zwangsneurotischen Reinlichkeitsfimmel des Offiziers der „Strafkolonie“: „Dann sah er prüfend seine Hände an; sie schienen ihm nicht rein genug, um die Zeichnungen [der idealen Maschine; A. A.] anzufassen; er ging daher zum Kübel und wusch sie nochmals“.349 Auf eine politiktheoretische Formel gebracht, bedeutet dieser Drang nach Sauberkeit den antidemokratischen Widerwillen, Ambiguitäten zuzulassen. Die moralische Formel dazu lautet: „Die Schuld ist immer zweifellos.“350 Deswegen darf sich der Angeklagte auch gar nicht erst verteidigen. Das schmutzige, ölige Räderwerk der Bürokratie ist dem Offizier dagegen naturgemäß ein Dorn im Auge. „Die Maschine ist sehr zusammengesetzt, es muß hie und da etwas reißen oder brechen; dadurch darf man sich aber im Gesamturteil nicht beirren lassen.“351 Weil nur mehr dieser an sie glaubt, demontiert sich die Maschine selber am Körper des Offiziers. Sie hat ihre Schuldigkeit getan. Anders als die kurzen Geschichten reflektieren die Romane Kafkas, der Länge des Mediums gemäß, eher die Prozessualität von Urteilen. Dort,

347 Kafka, Das Schloß, S. 166 f. 348 Kafka, Franz, Das Schloß, Apparatband, hrsg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt am Main, 1982, S. 273. 349 Kafka, Franz, „In der Strafkolonie“, in: ders., Erzählungen, S. 151–180, hier S. 155. 350 Ebd., S. 156. 351 Ebd., S. 161.

III. KAFKAS GESETZESLOGIK

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„wo man das Gesetz vermutet hatte, ist in Wahrheit Verlangen, bloßes Verlangen. Das Gericht ist Verlangen, nicht Gesetz. Alle sind faktisch Gerichtsfunktionäre […], auch die zwielichtigen Frauen und perversen Mädchen“.352

Der Prozeß, dieses „Procedere ist seinerseits ein Kontinuum, aber ein Kontinuum aus lauter Kontiguitäten“.353 Von einem Gang zum anderen, von einem Büro zum nächsten driftet Josef K.s metonymisches Begehren seinem Wesen gemäß rastlos weiter; so wie K. von einer Kneipe in die andere zieht und dort von immer anderen Frauen bedient wird. Immer weiter, nur nicht stillstehen. „Er wehrt sich gegen die Fixierung durch den Mitmenschen“354, dieser Eingangssatz der achtzehnten Aufzeichnung aus „‚Er‘“ verweist auf eine wichtige Verschiebung: von der Frage nach (Freiheit von) Schuld zu derjenigen nach politischer Beweglichkeit. Der zuvor angesprochene conatus, weniger Machtgier als Lebenstrieb nach immer neuen Potenzialitäten, zeigt sich so als ausreichende, materielle, körperliche Begründung für politisches Widerstehen.355 Mit dem Schlusssatz der dreizehnten Aufzeichnung ist er bezeichnet als „Verlangen“, „ein wichtiges Element der Lebenskraft oder vielleicht sie selbst“.356 Es ist „der Wille nicht dermaßen, nicht von denen da, nicht um diesen Preis regiert zu werden“.357

352 353 354 355

Deleuze und Guattari, Kafka, S. 68. Ebd., S. 71. Kafka, „‚Er‘“, S. 220. Zum spinozistischen conatus vgl. Antonio Negris frühe Studie Die wilde Anomalie. Baruch Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft, Berlin, 1982. 356 Kafka, „‚Er‘“, S. 219. 357 Vgl. Foucault, Michel, Was ist Kritik?, Berlin, 1992, S. 52.

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E. IRONISCHE POLITIKEN

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„Denn was fängt man am Jüngsten Tag, wenn die menschlichen Werke gewogen werden, mit drei Abhandlungen über die Ameisensäure an, und wenn es ihrer dreißig wären?! Andererseits, was weiß man vom Jüngsten Tag, wenn man nicht einmal weiß, was alles bis dahin aus der Ameisensäure werden kann?!“ Robert Musil1

„Essayistisch schreibt, wer experimentierend verfaßt, wer also seinen Gegenstand hin und her wälzt, befragt, betastet, prüft, durchreflektiert, wer von verschiedenen Seiten auf ihn losgeht und in seinem Geistesblick sammelt, was er sieht, und verwortet, was der Gegenstand unter den im Schreiben geschaffenen Bedingungen sehen läßt“, so Max Bense in seinem Aufsatz „Über den Essay und seine Prosa“.2 Sieht man von dem unklaren Konzept ‚verwortender Geistesblicke‘ ab, so benennt Bense hier deutlich die hervorstechenden Elemente des Essays: Experimentieren und Schreiben. Hauptsächlich diesen miteinander verbundenen Verfahrensweisen widmet sich vorliegendes Kapitel, um davon ausgehend erstens die Frage nach einer eventuellen ironischen Intentionalität essayistischen Schreibens zu stellen. Nachdem zuvor die Bindungen von Ironie an die beiden Gattungen von philosophischem Fragment und literarischem Roman diskutiert wurden, stellt sich nun zweitens die Frage, ob und inwiefern der Essay als paradigmatische Form ironischen Nachdenkens zu verstehen wäre. Dies ist nicht in einem unhistorischen Sinn gemeint. Auch im Falle des (ironischen) Essays gilt, dass vieles, was wir seit 1800 als ironisch zu verifizieren gelernt haben, nachträglich auch in früheren Phänomenen sichtbar wird. Das anhaltende Interesse am Essay hat Wolfgang Müller-Funks Erfahrung und Experiment – Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus auch geschichtsphilosophisch zu untermauern versucht und dabei den „Essayismus als Denken dritter Ordnung“3 zur Diskussion gestellt. Rationalität allein wäre demzufolge kein ausreichendes Kriterium für ein Denken zweiter Ordnung. Erst Denken des 01 MoE, S. 248. 02 Bense, Max, „Über den Essay und seine Prosa“, in: Merkur 1 (1947) 3, S. 414–424, hier S. 418. 03 Müller-Funk, Wolfgang, Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus, Berlin, 1995, S. 269. Christian Schärf (Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno, Göttingen, 1999, S. 17) hat diesen Siegeszug des Essayismus zugleich konstatiert und problematisiert: „Was als Durchbruch zum totalen Essayismus im gegenwärtigen Kulturzustand erscheint, ist gleichbedeutend mit der radikalen Destruktion des Essays“, in dem es, anders als gegenwärtig zu beobachten, „gerade um die Selbstbehauptung des Subjekts im Kontext seines Wissens“ gegangen war.

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Denkens als systematisch reflektierendes könne für ein solches einstehen, „wobei die Reflexion Indikator für die verlorengegangene Selbstverständlichkeit eines im Mythischen eingeschlossenen Denkens“4 ist. Nicht als historische Abfolge will Müller-Funk diese Unterscheidung verstanden wissen, sondern im Sinne einer heuristischen Einteilung. Denn mit Yehuda Elkana setzt er die „Entstehung des Denkens zweiter Ordnung im antiken Griechenland“5 an, spielt aber zugleich Montaigne gegen die Eindimensionalität des wissenschaftlichen Rationalismus des 17. Jahrhunderts aus. Mit Luhmann versteht er des Weiteren ‚Kontingenz‘ als Modalform der Moderne, welche sogar das einst angeblich blinde Vertrauen in die Wissenschaft erschüttert habe. In diesem Funktionszusammenhang sieht Müller-Funk den Essay ausgestattet mit einem „ironizistische[n] Moment“, dem „paradoxe[n] Spiel moderner Systemik (von Bateson bis Luhmann) […], eben jene[r] Semantik, die versteht, daß man nicht versteht. Die essayistische Ironie hat sich wie ein Virus im System festgesetzt. Dem entspricht der Gestus des Spiels.“6

Diese in extenso referierten eingängigen Formeln sollen nun weder bestätigt noch einfach widerlegt werden, nur scheint doch Skepsis gegenüber dieser Glorifizierung des Essays angebracht. Erstens aus historischen Gründen: So hat schon Bacon Essays oder praktische und moralische Ratschläge7 geschrieben und hat Descartes, der andere Säulenheilige des neuzeitlichen Wissenschaftsrationalismus, seine wissenschaftliche Purifizierung mit einer provisorischen Moral abzufedern versucht. Zweitens aus ironiespezifischen Gründen: Denn auch für den Essay gelten die an Ironie aufgezeigten Ambiguitäten. Wer kennt nicht die snobistische Ironie kulturkonservativer Kritiken, welche sich angesichts eines Mangels an systematischer Strenge mit einer schwammigen Terminologie glauben behelfen zu können. Der Essay, das ist mit Nachdruck zu betonen, lebt nur in und aus dieser Spannung zwischen seiner wissenschaftlichen und seiner lebensweltlichen Dimension, von der her die eingangs erwähnten kritisch-relativierenden Elemente in ihr Recht kommen. Adorno zufolge lässt sich der Essayist „sein Ressort nicht vorschreiben. Anstatt wissenschaftlich etwas zu leisten oder künstlerisch etwas zu schaffen, spiegelt noch seine Anstrengung die Muße des Kindlichen wider, der ohne Skrupel sich entflammt an dem, was andere schon getan haben. Er reflektiert das Geliebte und Gehaßte, anstatt den Geist nach dem Modell unbegrenzter Arbeitsmoral als Schöpfung aus dem Nichts vorzustellen. Glück und Spiel sind ihm wesentlich […]. [S]eine Interpretationen sind nicht philologisch erhärtet und besonnen, sondern prinzipiell Überinterpretationen.“8

04 Ebd. 05 So der Titel eines Aufsatzes von Yehuda Elkana. Vgl. dazu Müller-Funk, Erfahrung und Experiment, S. 269. 06 Ebd., S. 283. 07 Bacon, Francis, Essays oder praktische und moralische Ratschläge, Stuttgart, 1999. 08 Adorno, Theodor W., „Der Essay als Form“, in: ders., Noten zur Literatur, S. 9–33, hier S. 10.

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Sich auf den „Essay als Form“ zu konzentrieren, bedeutet, sich für die seiner Form eigentümliche Methodik zu interessieren. Nicht anders als für Adorno liegt der Essay auch für Musil zwischen zwei Gebieten. „Er hat von der Wissenschaft die Form u. Methode. Von der Kunst die Materie.“9 Denn wenn der „Zusammenhang der Ideen unter sich kein ganz genügender ist, und der Zusammenhang in der Person des Autors, also jede Art von persönlicher Tuschung und indirekter Zeichnung eines interessanten Autors verschmäht wird, so bleibt ein weder subjektiver, noch objektiver Zusammenhang übrig, wohl aber einer, der beides sein könnte, ein mögliches Weltbild, eine mögliche Person, und diese beiden suche ich.“10

In den Leibniz’sche Reflexionen ironisch potenzierenden Kapiteln zu „Möglichkeitssinn“ und „Prinzip des unzureichenden Grundes“ im Mann ohne Eigenschaften hat Musil diese radikale Kontingenz literarisch zu bewältigen versucht. Dass der Zusammenhang und die innere Stringenz allgemein gültiger Ideen nicht mehr genügt, ist eine der zentralen Einsichten seines Romans. Eine selbstreflexive Aufzeichnung aus den zwanziger Jahren spricht das klar aus: „Es steckt keine Notwendigkeit dahinter! – Dies war der erste Gedanke, der, noch unklar, alles enthielt. – Diese Welt ist nur einer von unzähligen möglichen Versuchen?“11 Gegenüber den unzähligen Möglichkeiten, gegenüber dieser hier bereits mehrfach als ironisch eingesehenen Disposition, kann sich Denken nur als versuchendes erhalten. Versuchendes Denken als Haltung ist essayistisch – auch unabhängig von der ‚Essay‘ genannten Literaturgattung meistens nicht allzu langer Prosatexte. Auch an umfangreicheren Arbeiten kommt die von Adorno umschriebene, rhizomatische Begriffsverflechtung zu sich selbst. „Weniger nicht, sondern mehr als das definitorische Verfahren urgiert der Essay die Wechselwirkung seiner Begriffe im Prozess geistiger Erfahrung. In ihr bilden jene kein Kontinuum der Operationen, der Gedanke schreitet nicht einsinnig fort, sondern die Momente verflechten sich teppichhaft […]; er verfährt, wenn man will, methodisch unmethodisch.“12

Die Einsicht in die differenzielle Wechselwirkung der Begriffe hat sich bereits den Romantikern ergeben. Somit ist es auch nicht zufällig, wenn schon Schlegel, auch hier im Zusammenhang mit (mäeutischer) Ironie, den Essay thematisiert. Wie meist bei Schlegel geschieht das in geradezu hektischer Übersteigerung diverser spekulativ hochgeschraubter Konzepte: „Der maieutische Essay scheint sich dem Symposion zu nähern, in Rücksicht der Wechsel-Gedankenentwicklung. Alle maieutische Philosophie sollte in Form von Essays behandelt werden.“13 Dazu gehört, dass das „Symposion […] ein System von Experimenten, ein systematisches 09 Musil, Robert, [Über den Essay], in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. v. Adolf Frisé, Hamburg, 2000, Bd. II: Essays und Reden, S. 1334–1337, S. 1335. 10 TB I, S. 664. 11 MoE II, S. 1649. 12 Adorno, „Der Essay als Form“, S. 20 f. 13 Schlegel, Sta, Bd. 5, S. 61.

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Experiment“ ist und überhaupt „[d]er Essay nicht Ein Experiment sondern ein beständiges Experimentiren“.14 Wie schon an seiner Romantheorie ist auch an Lukács’ Überlegungen zur Ironizität des Essays eine spezifische Verengung Schlegel’scher Ansätze, Denkversuche und Intuitionen zu konstatieren. Lukács versucht Ironie und Essay platonisch zusammenzudenken. Sein schon in früheren Jahren pathosgeladenes Weltbild lässt ihn aber beide verfehlen. Deutlich wird das an seinem messianischen Verständnis von ‚Mäeutik‘ in fast deckungsgleichen Bestimmungen von ‚Essay‘ und ‚Ironie‘. Essayistische Ironie sei nicht einfach erkenntnisproduzierend, sondern der „Essayist […] ist der reine Typus des Vorläufers“, „ein Täufer, der auszieht, um in der Wüste zu predigen von einem, der da kommen soll“.15 Essayismus macht so verstanden nur begrenzt Sinn; nur als vorläufiges Zwischenstadium, vor der Erfüllung im erlösenden System, ist solch sehnsüchtig-ironisches Denken gerechtfertigt. Der dem entsprechenden Reflexivität bleibt nicht jedes Ergebnis ein nur vorläufiges, stets weiter zu potenzierendes, sondern die Reflexion läuft teleologisch vor in die denkerische Auf- und Erlösung. So zugerichtet, geht Ironie wieder einmal unter. Sie verschwindet als negatives Moment innerhalb einer dialektischen Teleologie, in der auch das fragmentarische, unabgeschlossene Wesen essayistischer Kritik ein nur vorläufiges zu sein hat. An der Idee Lukács’ wird alles morsch und kraftlos, teleologisch hin- und hergerichtet mit Blick auf die große Ästhetik. Der Essay ist für Lukács das auf diese zukünftige Instanz gerichtete Urteilen und der „Prozeß des Richtens. Jetzt erst dürften wir […] niederschreiben: der Essay ist eine Kunstart, eine eigene restlose Gestaltung eines eigenen, vollständigen Lebens. Die Rolle der Ironie ist dabei irgendwie im Sinne lebenskünstlerischer Bescheidenheit verstanden. Die Ironie meine ich hier, daß der Kritiker immer von den letzten Fragen des Lebens spricht, aber doch immer in dem Ton, als ob nur von Bildern und Büchern“16

die Rede wäre. Dieses letzte von Lukács angesprochene Motiv ist ernst zu nehmen. Schon die Essays des Erfinders der Gattung zeichnet eine unauflösbare Durchdringung von Leben und Schreiben aus. So konstituiert sich Michel de Montaigne erst in dem Schreiben seiner Essays. Das hat Jean Starobinskis schöne Studie17 über dessen „Denken und Existenz“ nachdrücklich gezeigt: Montaigne ist ein durch Schreiben sich selbst Erschaffender. „Ich habe mein Buch nicht mehr gemacht, als mein Buch mich gemacht hat, ein Buch von Fleisch und Blut seines Verfassers, nur mit mir selbst beschäftigt, als ein Teil meines Lebens“.18 Die rastlose Unbeweglichkeit und die Dezentriertheit von Montaignes Essais gehören zusammen. Sich der be14 Ebd., S. 63. 15 Lukács, Georg, „Über Wesen und Form des Essays. Ein Brief an Leo Popper“, in: ders., Die Seele und die Formen, S. 7–31, hier S. 29. 16 Ebd., S. 18 f. 17 Starobinski, Jean, Montaigne. Denken und Existenz, Frankfurt am Main, 1989. 18 Montaigne, Michel de, Essais, Zürich, 1995, S. 541.

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ständigen Differenz zu sich selbst hingegeben zu haben, die Dinge je nach momentaner, situativer Wahrnehmung zu beschreiben, macht die Lebendigkeit Montaignes bis heute aus. Und mehr noch, es ist gerade die Einsicht in die Unmöglichkeit vollständiger (Selbst-)Beschreibung, welche das Autorsubjekt Michel überleben ließ. Vor diesem historischen Hintergrund lässt sich die Musil’sche Formel von zwischen Kunst und Wissenschaft angesiedeltem Essay sowohl präzisieren als auch ergänzen. Sicher zielt der Essay auf Erkenntnis, methodisch aber bildet er den Gegenpol zu wissenschaftlichem Positivismus. Vor allem anderen praktiziert die prekäre Methode Montaignes die radikale Einbeziehung des (zu) untersuchenden Subjekts. Noch einmal ist damit die paradoxale, Subjektivität umkreisende Qualität essayistischen Denkens berührt. Der Schriftsteller Montaigne lässt sich von einem Gegenstand zum anderen treiben, von einer Idee zur anderen, von einem Zitat zum nächsten – und immer erscheint er anders. Aus dem anfänglichen Überschuss an Zitaten bildet sich, anfangs noch nebelhaft neben all den meisterhaften Vorbildern, Michel heraus. Wie sich Montaigne von der Welt zurückzieht und sich schließlich wieder mit ihr aussöhnt, das könnte die ‚epikuräische Utopie des frühneuzeitlichen Essayismus‘ genannt werden. „Man muß seine Rolle getreulich spielen, doch als eine angenommene Schauspielrolle.“19 Montaigne weiß das für sich gut abzuwägen, und alles bleibt noch in geordneten Bahnen. Die eigentümliche schriftstellerische Spontaneität des Genres kann aber noch weiter gefasst werden. Vielleicht ist es ein Imperativ essayistischen Schreibens, nicht einfach zu schreiben, was man vorher schon weiß. Der paradoxe Imperativ des Essays würde demgemäß lauten, sich auf die Unwägbarkeit und das Risiko ‚Schreiben‘ einzulassen, immer auch der unwägbaren Versuchung nachzugeben, versuchsweise schreibend weiterzugehen. Weiter zu schreiben, als man es vorher schon wusste; darauf zu vertrauen, dass das Schreiben manchmal mehr weiß als man selbst. Die Fragen an dieser Stelle lauten: Was produziert die Verbindung von hoher Konzentration und Materialbeherrschung? Was passiert mit dem manchmal über Monate und Jahre angesammelten Material? Kann man es sich schreiben lassen, ohne sich in Beliebigkeit treiben zu lassen? Welche Schreibsituationen (jenseits institutioneller, theoretischer, methodischer Absicherung) entsprechen politisch motivierten Äußerungen der Empörung? Spontane Kritik oder irgendeine idiosynkratische Überempfindlichkeit kann manchmal genügen, sich zu einem Ausflug außerhalb der methodischen Bahnen hinreißen zu lassen: voll Zorn und Liebe aus der Unmethode Methode zu machen; das Schreiben ernst zu nehmen, nicht bloß als stilistisches Bemühen um prägnante Formulierungen, sondern als Prozess, als riskiertes Glück und Spiel. Leibniz hat einen besonderen Vergleich für die Tätigkeit des Philosophierens gefunden: immer wieder zu glauben, in den sicheren Hafen einzufahren, und doch stets wieder zurück aufs Meer getrieben zu werden. Fast in jedem gelingenden Text stellt sich dies auch als pragmatische Fra19 „Aus Maske und Faltenwurf darf man nicht ein wirkliches Wesen machen, noch aus dem Fremden sein Eigenes.“ (Ebd., S. 794.)

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ge. Weitersegeln oder dorthin heimkehren, wo man anfangs schon hinwollte? Wenn es Übersetzungen von ästhetischen in ethische Entscheidungen und Fragen gibt, dann solche wie diejenige, ob man sich absetzen und hinübersetzen kann in andere Zustände theoretischer wie lebenstechnischer Produktivität. Es war Musil, der prosaische Poet des nicht einfach rationalen, sondern ‚ratioiden‘ Zustands, der diesem Aspekt vielleicht am konsequentesten nachgedacht hat. Ihm „knüpfen sich an das Wort Essay Ethik und Ästhetik“.20 Dementsprechend entwickelt sich Ulrichs essayistisches Lebensprogramm in vier Schritten: 1) Möglichkeitssinn (ironische Kontingenz), 2) Utopie des exakten Lebens, 3) Essayismus, 4) anderer Zustand. Die vier Stufen folgen nicht zeitlich aufeinander. Denn auch der ‚andere Zustand‘ als Sprung aus der gewohnten Wechselwirkung der Wörter und Dinge kann als eine der utopischen Formen des Essayismus gelesen werden. „Dieses plötzliche Lebendigwerden eines Gedankens, dieses blitzartige Umschmelzen eines großen sentimentalen Komplexes […] durch ihn, so daß man mit einemmal sich selbst und die Welt anders versteht: Das ist die intuitive Erkenntnis im mystischen Sinn. In kleinerem Maße ist es die ständige Bewegung des essayistischen Denkens. […] [D]er Faden eines Gedankens reißt die andren aus ihrer Lage und ihre – wenn selbst nur virtuellen – Umlagerungen bedingen das Verständnis, das Klingen, die zweite Dimension des Gedankens.“21

Die Forderung des Mann ohne Eigenschaften nach phantastischer – anstelle pedantischer – Genauigkeit kann am besten aus diesem essayistischen Geist heraus verstanden werden. Schon in seiner Jugend wollte Ulrich ja hypothetisch leben. Der erwachsene Mann ohne Eigenschaften macht damit Ernst. „Ungefähr wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen“22, heißt die Aufforderung in dem Kapitel „Die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus“. Die essayistische Utopie ist das zarte Herauslösen jeweils anderer in der Wirklichkeit angelegter Möglichkeiten – und ihre Zusammensetzung zu immer neuen Wirklichkeitsgefügen. „Utopie bedeutet das Experiment, worin die mögliche Veränderung eines Elements und die Wirkungen beobachtet werden, die sie in jener zusammengesetzten Erscheinung hervorrufen würde, die wir Leben nennen.“23 Die „Umsetzung des eigenen Selbst in die Schrift“24, das ästhetische Gleichsetzen von Theorie und Leben, ist nietzscheanischen Geistes. Als Versucher hatte sich Nietzsche selbst verstanden, als Versuch seine Philosophie. Dies freilich in ganz be20 Musil, [Über den Essay], S. 1334 (vgl. dazu auch die Tagebuchnotiz „Ich habe von Jugend an das Ästhetische als Ethik betrachtet“, TB I, S. 777). 21 Ebd., S. 1336 f. 22 MoE, S. 250. 23 Ebd., S. 246. 24 So Schärf (Geschichte des Essays, S. 37), der zugleich die ästhetische Dimension dieser essayistischen Selbstkonstitution betont. „Immer wenn das Subjekt als Ausgangspunkt und Zielpunkt von experimentellen Verfahren in Erscheinung tritt, kommt es zu einer Akzentuierung der Wahrnehmung, die sich allein auf ästhetischem Terrain verwirklichen läßt.“ (Ebd., S. 27)

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stimmter Weise, welche über ein herkömmliches Verständnis von Essayismus hinausgehend eher auf experimentelle Hypothetik verweist und „subjektive Perspektivik“ zu einem Subjektivität überschreitenden Polyperspektivismus radikalisiert. „Es gibt nur ein perspektivisches ‚Sehen‘, nur ein perspektivisches ‚Erkennen‘; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für die Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ‚Begriff‘ dieser Sache, unsere ‚Objektivität‘ sein.“25

Noch im technischen Vokabular des jungen Ulrich (und seiner Welt als „Laboratorium“, „Experimentalgemeinschaft“26 etc.) zeigt sich der nietzscheanische, ‚lebensphilosophische‘ Unterbau seines Szientismus. In diesem Punkt stimmen Nietzsche und Musil überein. Als eine Anforderung an den Mann ohne Eigenschaften als Theoretiker notiert Musil: „Forscher. Experimentatoren. Menschen ohne Bindung. Ohne Bedürfnis nach Ja oder Nein.“27 Das klingt in seinem Pathos schon fast penetrant nach Nietzsche. Dessen Parole, man müsse „durch viele Individuen gegangen“ sein und „alle früheren als Funktionen“ brauchen28, charakterisiert den Mann ohne Eigenschaften wie kaum eine andere. Damit sollte auch der Unterschied zwischen Nietzsches (oder Musils29) und Lukács’ Verständnis des Essays als Form deutlich geworden sein. Bei Nietzsche geht es nicht einfach um eine feste Lebenshaltung gegenüber einer morschen Welt. Stattdessen zielt er auf deren experimentelle Erkenntnis ab. Seine Versuche sind solche auf ungewissem Terrain. Das unterscheidet sie von einer strategischen Philosophie des Entwurfs, in der immer absehbar bleibt, worauf man abzielt. Der Essayismus als Schreibexperiment ist sodann ein doppeltes: Experiment des Schreibens und des Schreibenden zugleich. Es sind die Fragen Kafkas: Was geschieht mit mir? Wie halte ich mir die Männer und Frauen vom Leib, die ich doch brauche wie nichts anderes sonst? Wie integriere ich diese meine Umwelt in meine Erkenntnismaschine? Wie baue ich gegen mich vorgehend weiter an mir? Ecce Homo: „[E]s ist vielleicht bloss ein Vorurtheil, daß ich lebe“.30 Jacques Derrida: „Et si la vie revient, elle reviendra au nom et non au vivant, au nom du vivant comme nom du mort.“31 Denis de Rougemont hat in Die Liebe und das Abendland auf eine in diesem Zusammenhang interessante und noch kaum ausreichend gedeutete Verbindung 25 26 27 28

Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 365. MoE II, S. 1414. Musil, Robert, Essays und Reden, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. II, S. 1382. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1881, 13[5], in ders., KSA, Bd. 9, S. 619; vgl. Dresler-Brumme, Charlotte, Nietzsches Philosophie im „Mann ohne Eigenschaften“, Wien u. a., 1993, S. 53. 29 Zum Vergleich von Musils und Lukács’ Essayismus siehe auch: Nübel, Birgit, Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne, Berlin/New York, 2006, speziell das Kapitel „Robert Musil und Georg Lukács oder der Essay als ‚relative Totale‘“ (S. 130–145). Zu einem prinzipiellen Vergleich Musils und Nietzsches vgl. Venturelli, Aldo, „Die Kunst als fröhliche Wissenschaft. Zum Verhältnis Musils zu Nietzsche“, in: Nietzschestudien, Bd. 9 (1980), S. 302–338. 30 Nietzsche, Ecce Homo, S. 257. 31 Derrida, Otobiographies, S. 49.

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von Essay und höfischer Liebe hingewiesen, wonach das Motiv des „asag, assays oder essai“ ursprünglich „die Probe welche die Dame ihrem Verehrer auferlegt“32 bedeutet habe. Das aufnehmend und auch auf Montaignes Rückzug anwendend, deutet Müller-Funk die Revolution der abendländischen Seele als hohe Kunst der Sublimation, und zwar entlang der Vorstellungen von ‚Askese‘ als wahrer Lust und von ‚Erfüllung‘ als Zerstörung eines emphatisch vorgestellten Begehrens. Besonders interessant ist „der hohe Grad von Künstlichkeit, der dem essayistischen Verfahren innewohnt“33, eine Künstlichkeit, die jedoch nicht sublimatorischen Charakter haben muss. Hier lässt sich mit Bezug auf die Produktionslogik von (essayistischem) Schreiben auf obige Analysen des historischen Dandyismus zurückgreifen. Als bezeichnend für die emotionale Ökonomie des Dandys hatte sich eine gegen sich selbst gerichtete Kälte erwiesen. Daraus folgt ein Erkenntnisgewinn durch den und mittels dessen, der man nun einmal ist. Ins Leben laufen und an den Schreibtisch stürzen. Lebens- und Schreibtischlust. Sich ins Leben stürzen und schreiben: so wenig zu leben wie nötig, um so viel vom Leben mitzubekommen wie möglich. Oder alles erleben wollen, aber nur, um darüber schreiben zu können. In alldem muss keine utopische Sehnsucht nach einer Lebenskunst enthalten sein. Und auch von einer ästhetischen Existenz ist nur insofern zu sprechen, als ‚Existenz‘ hier einen Bezug zu Erkenntnis impliziert. Der Imperativ von so etwas wie Nietzsches ästhetischer Existenz ist nur von dieser Spannung zur Erkenntnisproduktion her zu denken. Dazu bedarf es letztlich „tiefe[r] Gleichgültigkeit gegen sich“. „Wir selber wollen unsere Experimente und Versuchstiere sein“; „ich handhabe meinen Charakter“.34 Jacques Derrida hat im Zusammenhang gerade von Nietzsches ständigem Autobiographieren die Frage gestellt nach „cette bordure entre l’‚œuvre‘ et la ‚vie‘, le système et le ‚sujet‘ du système. Cette bordure – je l’appelle dynamis à cause de sa force, de son pouvoir, de sa puissance virtuelle et mobile aussi – n’est ni active ni passive, ni dehors ni dedans.“35 Das Leben spielt an den Grenzen von Aktivität und Passivität, bespielt und dissimuliert sie zugleich. Wenn nach Derrida „Leben […] Dissimulation [ist]“36, so steht Verstellung im Dienste von Erkenntnis: Verfremdung seiner selbst und der Realität. Es soll Menschen geben, die sich ständig direkt auf ihre Umgebung werfen. Nicht mehr, welchen Eindruck sie machen, sondern was aus Situationen allererst an Gehalt zu ziehen ist, interessiert sie noch. Hauptsache, es gibt überhaupt einen Eindruck; und außerdem: Was soll ein ‚falscher Eindruck‘ sein? Zwi32 Rougemont, Denis de, Die Liebe und das Abendland, Zürich, 1987, S. 434 f., vgl. dazu und zu weiteren Deutungen des ‚asag‘ auch Müller-Funk, Erfahrung und Experiment, S. 287. 33 Müller-Funk, Erfahrung und Experiment, S. 288. 34 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 551; Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Nov. 1887 – März 1888, 11[300], in: ders., KSA, Bd. 13, S. 126. Vgl. Dresler-Brumme, Nietzsches Philosophie im „Mann ohne Eigenschaften“, S. 69. 35 Derrida, Otobiographies, S. 40 f. Die Diskussion dieser nicht aktiven, pas-activen, Innen/AußenAufhebung als ironischer wird im folgenden Kapitel G. abschließend Gegenstand eines philosophischen Definitionsversuchs sein. 36 Zit. nach Behler, Ernst, Derrida-Nietzsche. Nietzsche-Derrida, Paderborn, 1988, S. 135.

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schen Distanzlosigkeit und schreibbedingter Abstandnahme pendelt dann der Rhythmus des experimentellen Vordenkopfstoßens. Einziges Ziel: Reaktionen provozieren; Provokationen gegen die allgemeine Unmündigkeit, die triste Professionalität. Anstelle der allgemeinen Müdigkeit: erschöpfen, seine Umwelt reizen, Situationen ausreizen, Themen ausschöpfen; verführen, sich in Abhängigkeiten begeben, sich unterwerfen, sich unscheinbar klein machen. Unsicher und gebrochen sein, oder eben arrogant, peu importe, who cares – deswegen war der Ironische schon bei seiner Geburt kleintuender eiron und sein angeberisches Gegenteil alazon zugleich. Alles geschieht dann aus einem momentanen Interesse an der Situation, nicht aus einem Ernstnehmen des jeweiligen Gegenübers: ein Geschehenlassen nicht primär um irgendeines Werkes willen, sondern aus einem eigentümlich intransitiven Zwang, weil die Immanenz jeder Situation überreich sein kann. Mitunter gilt es mit aller Langsamkeit in einer Rolle zu verharren, bis sie ausgekostet und erschöpft ist und keine neuen Aspekte mehr verspricht. Das also war ich. Und das habe ich euch zu sagen: „‚Werde der Mensch deiner Missgeschicke, lerne, deren Vollkommenheit und Glanz verkörpern.‘ Mehr kann man nicht sagen, nie wurde mehr gesagt: dessen würdig werden, was uns zustößt, darin also das Ereignis wollen und freilegen“.37 Das klingt verschroben und führt doch als Einstellung weit: zu einer anderen Methode, jenseits des herkömmlichen Historismus. Gegen jene Historiker, die ihre „eigene Individualität auslöschen, damit sich die anderen in Szene setzen und das Wort ergreifen können. Er muß also gegen sich selber wüten: muß seine Vorlieben zum Schweigen bringen und seine Abneigungen überwinden; er muß seine eigene Perspektive verleugnen und eine allgemeine Geometrie vortäuschen; er muß den Tod nachahmen, um ins Reich der Toten einzutreten.“38

Dieses Spiel von Leben und Tod ist es, das der biographisch geprägte Essay gerade umkehren will. Umkehren in ein anderes Jenseits. Jenseits von Eindimensionalität und Historismus, das will jedenfalls nicht jenseits philologischer Präzision heißen. Wenn ich sage, ich will „interessantere Dinge tun, originellere und weniger langweilige Dinge, dann sage ich das weder im Namen des guten Geschmacks noch im Namen eines aristokratischen Ästhetizismus. Es bedeutet nur: Etwas bekäme endlich eine Chance, zu geschehen oder stattzufinden, das ist alles. Es steht nicht fest, es ist nicht voraussagbar – es ist einfach nur besser, daß etwas geschieht. Das ist alles: Daß etwas geschieht, ist besser, das ist alles. Aber es ist eine schwindelerregende Wahl: Sie geht jeder Ethik, jeder Politik, jeder Ästhetik, jeder historischen oder sozialen Realität voraus“.39

37 Deleuze, Logik des Sinns, S. 187. 38 Foucault, Michel, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in: ders., Von der Subversion des Wissens, Frankfurt am Main, 1996, S. 69–90, hier S. 83. 39 Derrida, Jacques, Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New-Ismen, PostIsmen, Parasitismen und andere kleine Seismen, Berlin, 1997, S. 37.

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G. METAPHYSISCHE ENTGRENZUNGEN (OHNE STÄNDIGE RÜCKSICHT AUF IRONIE) G. METAPHYSISCHE ENTGRENZUNGEN G. METAPHYSISCHE ENTGRENZUNGEN

„[U]m eine Sache zu verstehen, [werden wir] durch verschiedene Landschaften und mehrere Epistemologien wandern. Vielleicht müssen wir mit mehreren Stimmen sprechen. Und diese Sprache mit mehreren Eingängen nenne ich philosophisch.“ Michel Serres1

Als Phänomenologie ironischen Geistes in Ethik, Poetik und Politik der Moderne könnte vorliegende Studie als abgeschlossen betrachtet werden. Rhetorischlogischen, kulturtheoretisch-ethischen, poetologisch-ästhetischen und politikwissenschaftlichen Analysen soll hier gleichwohl abschließend eine spekulative Grenzbestimmung, genauer: eine Bestandsaufnahme der materialen Be- und Entgrenzungen der Ironie folgen. Dieser philosophische Anspruch ließe sich zunächst mit Hegel begründen, dem zufolge die Grenzbestimmung einer philosophischen Denkfigur, welche Ironie allenthalben ist, sich nur in Kenntnis auch des Jenseits der jeweiligen Grenze exakt durchführen lässt. Auch für (das Nachdenken über) den ironischen Geist gilt von daher: Damit „die Grenze, die am Etwas überhaupt ist, Schranke sei, muß es zugleich in sich selbst über sie hinausgehen, sich an ihm selbst auf sie als ein Nichtseiendes beziehen“.2 Immer wieder auch hat sich Ironie als anhaltende Provokation für ganz unterschiedliche philosophische Denkrichtungen erwiesen. Wenn es nun darum geht, die Logik der Ironie, diesmal ihre Grenzlogik, abschließend zu bestimmen, so kann dies wiederum nicht im Sinne einer lückenlosen Rekonstruktion der Kampflinien etwa zwischen traditioneller Phänomenologie und dem Œuvre Jacques Derridas oder zwischen der universitären Philosophietradition und den Befreiungsversuchen eines Gilles Deleuze geschehen. Stattdessen soll eine ontosemiotische Kampflinie der Ironie gerade zwischen den beiden letztgenannten Autoren markiert werden. Am Beginn der ironischen Moderne stand die Selbsterfindung der Ironie durch Friedrich Schlegel. Und deren ontosemiologisches Weltverständnis ist noch die uneingeschränkte Voraussetzung poststrukturalistischer Theorien. Als möglicher Ausgang aus dieser ironischen Konfiguration zweier Jahrhunderte ist immer wieder eine materialistisch-ontologische Radikalisierung anvisiert worden. In diesem Zusammenhang soll ein Grenzbereich beleuchtet werden, der sich exemplarisch in der Differenz zwischen Derridas Konzept der Wiederholung als ‚Iteration‘ und Deleuzes Wiederholung als materialer auftut.3 01 Serres, Der Parasit, S. 15. 02 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Wissenschaft der Logik I, in: ders., Werke, Bd. 5, S. 143. 03 Zur diesbezüglichen Differenz, explizit zu Derrida, vgl. Jäger, Christian, Gilles Deleuze. Eine Einführung, München, 1997, S. 77.

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G. METAPHYSISCHE ENTGRENZUNGEN

Diese mit der Begriffsperson ‚Derrida‘ zu markierende Grenzbestimmung der Ironie ist ein erster, am ehesten philosophiegeschichtlich zu nennender Anspruch dieser abschließenden Überlegungen vorliegender Phänomenologie ironischen Geistes. Wenn hier von einer ‚phänomenologischen‘ Methodik dieser Studie die Rede war, dann sicher nicht im Husserl’schen Verständnis, und auch im Sinne Hegels nur unter den in der Einleitung genannten erheblichen Einschränkungen. Schon der Versuch trennscharfer Romantikphilologie, exakter Periodisierungen ethischer Ironiekonstellationen oder die Bemühung, eine tragfähige Systematik in die Fülle literaturwissenschaftlicher Überlegungen zu Ironie zu bringen, waren oft auch auf den nachträglichen Aufweis und eine Rekonstruktion ironischer Konstellationen angewiesen. Damit können neben 1) dem Aufweis der Grenzen der (rhetorologischen) Ironie die beiden weiteren Ziele dieses Kapitels benannt werden: 2) die ontologische Einholung von zuvor meist rein rhetorologisch bedachten Reflexionsmomenten und 3) der damit verbundene Versuch einer (materialen) Ausweitung des Geltungsbereichs zentraler Begriffe der Hegel’schen Logik. Trotz einer Vielzahl an Überschneidungen sind damit auch drei Abschnitte vorgegeben, deren erster die Frage nach den „Grenzen der Ironie“ auszuloten versucht. Notwendigerweise entfernen sich die folgenden ontologischen Spekulationen von einem fest umrissenen Phänomen ‚Ironie‘. Sie versuchen über Ironie hinauszugehen – über Ironie im Sinne der ironischen Metaphysik eines sprachlich-rhetori-schen Weltverständnisses. Eine solche kann es nicht geben – denn ironisch sind höchstens Weltanschauungen. Zu fragen ist, inwieweit dieser Einwand nicht streng genommen auch für die des Öfteren vage postulierte Idee eines ‚ironischen Denkens‘ gilt. Denn „Denken ist nicht kontemplieren, nicht signifizieren, nicht kommunizieren und auch nicht dekonstruieren“.4 Alle Produktivität und Effektivität ironischer Denkstrategien macht Denkakte als solche noch lange nicht zu ironischen. In besonderem Maße gilt dieser philosophische Einspruch für die hier behandelte ontologische Fragestellung: Bis dato wurde kein ironisches Sein gesichtet; kein ironischer logos des Seins also, durchaus aber Sein als ständig heimgesucht (hanté) von allerlei ironischen Konfigurationen. Im resümierenden Rückgriff auf eine Vielzahl einschlägiger Phänomene wird in einem zweiten Abschnitt eine vierstufige „Hanthologie“5 von ‚Gespenst‘, ‚Parasiten‘, ‚Porosität‘ und ‚Vampir‘ ausgeführt. Die vier nach ihrer zunehmenden Materialität angeordneten Phänomene, die im Fortlauf der Studie immer wieder aufgetaucht sind, verweisen also zunächst auf die Obsession unterschiedlicher Autoren, einer hypostasierten Essenz der Ironie auf den Grund zu kommen. Zugleich handelt es sich aber auch

04 Balke, Friedrich, „Was zu denken zwingt. Gilles Deleuze, Félix Guattari und das Außen der Philosophie“, in: Zeitgenössische französische Denker: eine Bilanz, hrsg. v. Joseph Jurt, Freiburg i. Br., 1998, S. 187–210, hier S. 189. 05 Den Ausdruck hantologie, den der Übersetzer richtigerweise der Assonanz zu ontologie wegen im französischen Original belassen hat, entnehme ich Derrida, Jacques, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt am Main, 1996, S. 27.

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um eine ‚Anthologie‘ von Heimsuchungen des sprachlichen Diskursphänomens Ironie selber. Insgesamt stehen abschließend einige genauer zu präparierende Begriffe, Problemstellungen und Fragen im Vordergrund, welche sich bei der intensiveren Beschäftigung mit Ironie immer wieder aufgedrängt haben und die keinesfalls mehr mit Ironie oder ironischer Theorie zu fassen sind. In diesem Zusammenhang werden literaturtheoretisch und politiktheoretisch diskutierte Themen als explizit philosophische Fragen wieder aufgenommen: Welche sprachmagischen Komponenten liegen Schlegels Spekulationen über ‚Spinozas mystische Fantasie‘ zugrunde? Was ist das Verhältnis von Körper und Sprache (im Einsickern der Außenwelt in die Erzählersprache Musils)? Gibt es einen materialen Kern im Begehren der vampirischen Ironiker oder von Baudelaires vampirischem Dandy? Auf welche Weise ist der formateriale Übergang von formalen politischen Richtlinien zu materialen Fortschritten philosophisch zu denken? Wie soll unvernünftige Ironie als Abgrenzung von pathologischen Phänomenen (Wahnsinn und Unsinn) funktionieren? Nach der kurzen kontrastierenden Lektüre von (rhetorologischem) Derrida und (materiologischem) Deleuze und der vierstufigen Heimsuchungslehre philosophischer Ontologie – schon da hinsichtlich solcher Begriffspaare wie Form/Materie, aktiv/passiv, Allgemeines/Besonderes – soll gleichberechtigt der oben bereits kurz angedeutete dritte Anspruch dieses Kapitels eingelöst werden. Mit der Gegenüberstellung „Hegel vs. Deleuze“ sind die grundsätzlichen Fragen des dritten Abschnitts zu „Disjunktiver Dialektik“ deutlich angezeigt: Lässt sich die für die Literaturwissenschaft heuristisch so wertvolle mediale Reflexion in ihrer materialen Dimension spekulativ durchdringen oder philosophisch präzisieren? Und kann der oftmals diskutierte Aspekt der ständigen Weiterpotenzierung ironischer Reflexion als Intensivierung auch an materialen Effekten abgelesen werden? Am Schluss des Kapitels sowie vorliegender Studie insgesamt münden diese Überlegungen in die Hypothese einer ironischen Dialektik, nicht als negativer oder paradoxer, sondern als disjunktiv-synthetischer.

I. GRENZEN DER IRONIE I. GRENZEN DER IRONIE

Der Frage nach der philosophischen Grenzziehung von Ironie als sprachlichem Phänomen und ihren materialen Außengrenzen kann man sich vielleicht am besten anhand der Unterschiede zwischen Derridas und Deleuzes Konzeptionen von Sprache und zunächst Spiel nähern. SPIEL „Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform“, so Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen. Und an anderer Stelle definiert er: „[E]ine Spra-

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che vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen“6 beziehungsweise „eine Lebensform teilen“7, wie Hilary Putnam, Wittgenstein für seinen pragmatistischen Ansatz mobilisierend, paraphrasiert. Bei Wittgenstein handelt es sich um Formen regelgeleiteter Abrichtung im Dienste zukünftiger Übereinstimmung.8 So etwas wie „,falsche Züge‘ kann es nur als Ausnahme geben. Denn würde, was wir jetzt so nennen, die Regel, so wäre damit das Spiel aufgehoben, worin sie falsche Züge sind“.9 Wittgensteins Spiel ist normativitätsstiftend insofern, als erst dessen Regeln die Voraussetzung bilden für die Differenzierung richtiger von falschen, regelverletzenden Handlungen oder Zügen. Auch an Wittgensteins Überlegungen lassen sich die oben im Exkurs über die „spielerische Genese des Ich“ bei Rilke im Zusammenhang von Meads Spielverständnis diskutierten Reduktionen beobachten. Und ähnlich Mead beschreibt auch Huizingas Homo ludens ‚Spiel‘ als Kernmoment jedweder Kultur, etwa ‚Potlatsch‘ und ‚Agon‘ als Bestandteile, ja Voraussetzungen erster primitiver Rechtssysteme.10 Diese Ausweitung ist jedoch um den Preis eines analog reduzierten Verständnisses des Charakters von ‚Spiel‘ auf eine regelgeleitete Ordnung erkauft. Schon Kierkegaard hat davon ein Spiel „sensu eminentiori“11 zu unterscheiden versucht. Und in der Folge Nietzsches kann Spiel statt von seinem Regelcharakter eher von der Übertretung von Regeln her verstanden werden. Die daraus resultierende Unterwanderung von Sinn hat Deleuze anhand ProporzWettlauf und Croquetpartien in Alice im Wunderland als Züge eines ‚reinen Spiels‘ zu interpretieren versucht. Dem regulierten und beherrschten Spiel Meads diametral entgegengesetzt ist ein Spiel ohne „vorgängige Regeln“, in dem „jeder Spielzug […] sich seine Regeln neu [erfindet]“, und „auf seiner eigenen Regel“12 beruht. Die Bejahung aller Zufälle als Spielzüge würde ein quasi mediales, „regelloses Spiel ohne Sieger oder Verlierer, ohne Verantwortlichkeit“ bedingen.13 Dieses reine Spiel spielt also jenseits aller möglichen und pragmatisch wohl auch notwendigen sinnvollen Sprachspielregeln Wittgensteins und kann „nur als Unsinn gedacht werden“.14 06 Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt am Main, 1989, §§ 23 und 19, S. 250, 246. 07 Putnam, Hilary, Pragmatismus. Eine offene Frage, Frankfurt am Main/New York, 1995, S. 57. 08 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 223 f., S. 352. Ich kann hier wiederum nicht auf die, speziell von Seiten analytischer Philosophen verschiedentlich hervorgehobene, innovative Leistung des Wittgenstein’schen Regelbegriffs eingehen. 09 Ebd., S. 573. 10 Vgl. speziell Huizinga, Homo ludens, Kap. 3: „Spiel und Wetteifer als kulturschaffende Funktionen“, und Kap. 4: „Spiel und Recht“; zur Analogie unserer heutigen Unterscheidung Ernst/ Unernst mit der mittelalterlichen von folie/sens, Wahnsinn/Sinn vgl. ebd., S. 17. 11 Vgl. Smyth, John Vignaux, A question of Eros. Irony in Sterne, Kierkegaard and Barthes, Tallahassee, Florida, 1986, S. 118. 12 Deleuze, Logik des Sinns, S. 84. 13 Ebd., S. 85. 14 Ebd. Selbstverständlich ließen sich zwischen diesen beiden Extrempolen von ‚Spiel‘, analog zu denjenigen von konformistischer und radikal unvernünftiger Ironie, aber auch unterschiedliche (melancholische) Zwischenformen denken.

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Ähnlich Deleuze, aber mit stärkerem Bezug auf Nietzsches „fröhliche Bejahung des Spiels der Welt“ und unter genauer Akzentuierung des Aspekts der ‚Übertretung‘ argumentiert auch Derrida. Die „Bejahung bestimmt demnach das Nicht-Zentrum anders denn als Verlust des Zentrums. Sie spielt, ohne sich abzusichern. Denn es gibt ein sicheres Spiel: dasjenige, das sich beschränkt auf die Substitution vorgegebener, existierender und präsenter Stücke. Im absoluten Zufall liefert sich die Bejahung überdies der genetischen Unbestimmtheit aus, dem seminalen Abenteuer der Spur (l’aventure séminale de la trace).“15

SPRACHE Der Begriff der ‚Spur‘ ist nur einer aus dem reichen Reservoir dessen, was man Derridas ‚parasitäre Quasibegriffe‘ nennen könnte.16 Jeder dieser den theoretischen Raum auf „‚quasi‘-transzendentale Weise“17 organisierenden, den von ihnen parasitierten Kontext wie sich selber dekonstruierenden Begriffe operiert mit eigentümlicher Stoßrichtung (auch gegen sich), und alle sind gegen eine naturalisierte logische Widerspruchsfreiheit gerichtet. Sprachtheoretisch wird das am deutlichsten an der doppelten Logik der ‚Iterabilität‘. Bereits etymologisch – aus dem Sanskrit: ‚iter‘ (anders) – verweist diese für Derrida auf die Andersheit der Wiederholung, impliziert also eine Tendenz auf Abweichung.18 „Diese Kraft zum Bruch verdankt sich der Verräumlichung, die das geschriebene Zeichen [signe] konstituiert: einer Verräumlichung, die es von den anderen Elementen der internen kontextuellen Kette trennt (die stets offene Möglichkeit, es herauszulösen oder aufzupfropfen)“,

aber auch von allen Formen von Präsenz.19 Diese unhegelianische Dialektik der Iterabilität ist eine Logik ironischer Dopplung. „Denn die Struktur der Iteration […] impliziert gleichzeitig Identität und Differenz. Die ‚reinste‘ Iteration – aber sie ist niemals rein – bringt in sich selbst die Abweichung [écart] einer Differenz mit sich, die sie als Iteration konstituiert.“20

Gerade dasjenige, was ihre Identifizierbarkeit garantieren soll, nämlich dass Zeichen wiederholbar sind, ist Grund für die praktische Verunmöglichung ihrer Selbstidentität. Iterabilität ist Ermöglichungs-, und in ihrer alterativen Funktion zugleich Verunmöglichungsgrund von Identität. „Sie ist eine differentielle Struktur, die der Präsenz oder dem (einfachen oder dialektischen) Gegensatz Prä-

15 Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 441. 16 Als andere Quasibegriffe wären zu nennen différance, parergon oder Dehiszenz; vgl. zu Letzterem Derrida, Jacques, „Signatur Ereignis Kontext“, in: ders., Limited Inc, Wien, 2001, S. 15–45, hier S. 40. 17 Derrida, Jacques, „Nachwort. Unterwegs zu einer Ethik der Diskussion“, in: ders., Limited Inc, S. 171–238, hier S. 197. 18 Vgl. Derrida, „Signatur Ereignis Kontext“, S. 28. 19 Ebd. 20 Derrida, Jacques, „Limited Inc a b c …“, in: ders., Limited Inc, S. 53–170, hier S. 89.

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senz und Absenz entgeht“ und die wie „die Spur […] weder anwesend noch abwesend“21 ist. DERRIDA Alles im Denken Derridas scheint unter dem Vorzeichen jenes bereits mehrfach angesprochenen paradoxen Als-ob zu stehen; das Leben nicht anders als die (dekonstruktive) Philosophie. Und noch an Derridas Denken (und dessen Rezeption) lässt sich die schon an der Romantik beobachtete Diskrepanz zwischen einer fröhlichen Bejahung des Spiels einerseits und einer unterdrückten „Sehnsucht nach reiner Präsenz“22 andererseits festmachen. In Zurückweisung historischer Epochentrennungen oder willkürlicher Entwicklungsphasen – der Entwicklung etwa von frühem lustvollen anything goes zu einer defensiveren Haltung der alt gewordenen Postmodernen – ist festzuhalten, dass das Werk Derridas von einer tiefen Melancholie getragen scheint, für deren Struktur ein ironisches Paradox verantwortlich zeichnet. Diese Melancholie resultiert aus dem Anspruch einer Verabschiedung der als phallogozentrisch oder teleotheologisch analysierten Metaphysik, verbunden mit der Einsicht in die Unmöglichkeit solcher Versuche, die notwendigerweise eine komplizenhafte Bindung an ihr Gegenüber bewahren. So ist schon die kreuzweise Ausstreichung des Seins durch Heidegger nicht bloß als negatives Zeichen zu verstehen, sondern vielmehr als die „letztmögliche Schrift einer Epoche. Unter ihren Strichen verschwindet die Präsenz eines transzendentalen Signifikats und bleibt dennoch lesbar.“23 In der Folge scheinen alle Begriffe nur mehr als solchermaßen durchgestrichene brauchbar, und die Suche gilt solchen letztlich selbstzerstörerischen, ironisch die von ihnen evozierte Logik unterlaufenden Als-ob-Begriffen. Ein exemplarisches Beispiel dafür ist der Begriff der „Urspur“. Denn auch das „Denken der Spur kann […] so wenig mit einer transzendentalen Phänomenologie brechen wie auf sie reduziert werden“.24 Gerade daraus gewinnt die Dekonstruktion die ihr eigentümliche, in ihrem Eigentlichen sich fremde, unheimliche Macht, welche nirgends eine Kraft direkter Stärke ist. Die Bindung an die Metaphysik bleibt bestehen, ist aber eine distanziert ironische, mit dem gesamten hier bereits vielfach explizierten Spektrum von melancholischer Anhänglichkeit (etwa in Derridas Schriften über Levinas), distanzierter Parodie (zum Beispiel Kants in „Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie“25) und purer Angriffslust (in Limited Inc. als einer der größten Persiflagen der neueren Philosophie). Immer aber arbeitet die Dekonstruktion mit der inneren Verschiebung von Texten, und dass das möglich ist, gilt ihren Anhängern als ausreichende methodische Evidenz. „Daher verfaßt Derrida statt bündiger logischer Beweisführungen vielmehr lange 21 Ebd. 22 Vgl. dazu Derridas Selbstverteidigungen mit Bezug auf die Formulierung „begehrte Präsenz“ in der Grammatologie (Frankfurt am Main, 1974), S. 244. 23 Ebd., S. 43. 24 Ebd., S. 108. 25 Derrida, Jacques, Apokalypse. Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie, Wien, 2000.

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Texte, in denen man auch einiges über Philosophiegeschichte erfährt“, konstatiert Geoffrey Bennington erfrischend nüchtern. „[E]r schneidet bestimmte Begriffe aus ihnen heraus, um sie dann in den mit ihrer Hilfe gelesenen Text wiedereintreten zu lassen.“26 Die schon in ihrem Namen auf diese doppelte Bewegung verweisende Dekonstruktion „kann sich nicht auf eine Neutralisierung beschränken […]: Sie muß durch eine doppelte Gebärde, eine doppelte Wissenschaft, eine doppelte Schrift eine Umkehrung der klassischen Opposition und eine allgemeine Verschiebung des Systems bewirken.“27

Die systematische Unterwanderung setzt nicht zufällig an hier immer wieder berührten, nur scheinbar rein disjunktiven Oppositionen an wie „ernst oder nichternst, ironisch oder nicht-ironisch, präsent oder nicht-präsent, metaphorisch oder nicht-metaphorisch, intentional oder nicht-intentional, parasitär oder nichtparasitär, zitathaft oder nicht-zitathaft“.28 An der Schnittstelle von textuellen Figuren und körperlichen Konfigurationen lässt sich an Derrida noch die pragmatische, ja in gewisser Weise auch lebenstechnische Notwendigkeit dieser diskursiven (Ent-)Spannung in metaphysische Oppositionen verifizieren. So „[schützt sich das] Leben […] zweifellos mit Hilfe der Wiederholung, der Spur und des Aufschubs (différance). Vor dieser Formulierung muß man sich aber in acht nehmen: es gibt nicht zunächst präsentes Leben, das sich anschließend zu schützen […] begänne. Der Aufschub bildet das Wesen des Lebens […]. Das Leben muß als Spur gedacht werden, ehe man das Sein als Präsenz bestimmt. Das ist die einzige Bedingung, um sagen zu können, das Leben sei der Tod.“29

Das war mit Hinblick auf Freud gesagt. Derridas Abstandnahme von der Psychoanalyse Lacans gilt nur deren Mangeltheorie des Begehrens, nicht aber dessen Konzeption als eines unerfüllbaren.30 Aus demselben Grund, aus dem reine Lust ohne Aufschub tödlich wäre, schließt Derrida auch die Möglichkeit direkter Kommunikation durchgehend aus. Derrida ist kein vitalistischer Denker, seine diesbezügliche Reserviertheit bewahrt ihn auch vor dem Abfeiern einer materialistischen Kommunion von Körpern. Damit ist kein Werturteil impliziert, sondern schlicht eine melancholische Disposition seines Denkens. Gut möglich, dass er der exemplarische Denker des hier gezeichneten ironischen Universums war, seiner Einsichten, seiner Größe nicht anders als seiner Paradoxien, seiner ungeklärten Fragen und letztlich auch blinden Flecken. Natürlich hat auch Derrida nirgends Materialität als irreduzibles Moment auch von Sprachprozessen geleugnet.

26 Bennington, Geoffrey, „Derridabase“, in: ders. und Jacques Derrida, Jacques Derrida. Ein Portrait von Geoffrey Bennington und Jacques Derrida, Frankfurt am Main, 1994, S. 103 und 136. 27 Derrida, „Signatur Ereignis Kontext“, in: ders., Limited Inc, S. 44. 28 Derrida, „Nachwort“, S. 180. 29 Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 311. 30 Zur Frage nach ‚Lust‘ und ‚Begehren‘ vgl. Bennington, „Derridabase“, S. 150.

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Trotzdem sind Fragen nach der direkten Materialität von (Sprach-)Ereignissen mit Derrida nicht zu begreifen. SINNMITTEILUNG In der einzigen genaueren sprachlichen Analyse eines Romans, die in dieser Arbeit durchgeführt worden ist, haben sich die wunderlichen materialen Transformationen der Figuren des Mann ohne Eigenschaften zugleich als solche der Musil’schen Prosa selbst erwiesen. Zugleich war damit eine (ästhetische) Grenze von Ironie erreicht, die es in diesem Kapitel im eingangs erwähnten Sinn einzuholen gilt. Der poetologische Anspruch der Musil’schen Prosa hat auf semontologische, über rein literaturwissenschaftliche Fragestellungen tendenziell hinausgehende Problemstellungen verwiesen. Dies gilt ebenso für die Möglichkeit eines Einsickerns der Außenwelt in den jeweiligen Sprachkörper wie grundsätzlich für die Frage nach einem doppelten Verhältnis von ‚Körper‘ und ‚Sprache‘: einerseits nach den körperinduzierten Transformationen der Sprache (der Protagonisten nicht anders als des Erzählers), andererseits damit zusammenhängend diejenige nach der osmotischen Sprachdurchlässigkeit von Körpern überhaupt. Die Frage lautet an dieser Stelle zunächst: „Was teilt die Sprache mit? Sie teilt das ihr entsprechende geistige Wesen mit.“31 Benjamins gesamter Aufsatz „Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen“ dreht sich um diese erstaunte Eingangsfrage sowie deren irritierende Antwort, die sich wie ein Echo von Novalis’ berühmtem „Monolog“32 liest. „Dieses Mitteilbare ist unmittelbar die Sprache selbst. Oder: die Sprache eines geistigen Wesens ist unmittelbar dasjenige, was an ihm mitteilbar ist. Was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, in dem teilt es sich mit – oder genauer: jede Sprache teilt sich in sich selbst mit, sie ist im reinsten Sinne das ‚Medium‘ der Mitteilung. Das Mediale, das ist die Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung, ist das Grundproblem der Sprachtheorie, und wenn man diese Unmittelbarkeit magisch nennen will, so ist das Urproblem der Sprache ihre Magie“.33

Winfried Menninghaus hat dieses Mediale dann genauer definiert. Ihm zufolge ist „ein Medium […] das Element einer Darstellung, ohne doch deren Mittel zu sein.“34 Immer wieder hat sich auch für obige kunsttheoretische Fragestellungen eine Verbindung romantischer Ontosemiologie mit Theoremen Deleuzes als hilfreich erwiesen. Die innertheoretische Notwendigkeit dieser Verbindung kann jetzt noch einmal begründet werden. Denn auch in den sprachästhetischen Überlegungen der Logik des Sinns tauchen obige (sprachmagische) Fragestellungen wie31 Benjamin, Walter, „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, S. 140–157, hier S. 142. 32 „Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß keiner. Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Geheimniß“ (Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 672). 33 Benjamin, „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, S. 142 f. 34 Menninghaus, Winfried, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt am Main, 1995, S. 17.

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der auf. Wie sind, so lauten einige der Fragen, die Verhältnisse zwischen Körper und Sprache, Aktivität und Passivität, Innen und Außen angemessen zu denken? Deleuze mobilisiert zu deren Beantwortung Ockham, Gregor von Rimini sowie den Logiker Meinong für seine These, der Sinn sei „das Ausgedrückte des Satzes, dieses Unkörperliche an der Oberfläche der Dinge, irreduktibles komplexes Gebilde, reines Ereignis, das im Satz insistiert oder subsistiert“.35 Sinn selbst ist so verstanden Ereignis, das Ausgedrückte des Satzes. Diese Ausführungen sind nicht im Sinne einer bloßen Formalisierung oder als eine weitere theoretische Begründungsvariante für die Relativierung der repräsentativen Funktionen der Sprache in der literarischen Moderne zu verstehen. Zur Diskussion stehen vielmehr die materialen (körperlichen oder unkörperlichen) Implikationen diverser Sprachfunktionen. Deleuzes Formulierung erinnert an Benjamins Unterscheidung zwischen einer Mitteilung in der Sprache und (energetischem) Mitteilen durch Sprache. Die diesbezügliche Forderung lautet, „auf ein Gebiet zu gelangen, auf dem die Sprache in keiner Beziehung zum Bezeichneten mehr steht, sondern nur noch zum Ausgedrückten, d. h. zum Sinn“.36 Was Benjamin das ‚geistige Wesen‘37 nennt, wird bei Deleuze gefasst als körperlicher ‚Sinn‘, wie ihn die Stoiker verstanden haben sollen, denen zufolge „die Dingzustände, Quantitäten und Qualitäten nicht weniger Wesen (oder Körper) als die Substanz“38 seien. SPRACHKÖRPER Wie Deleuze denkt auch Benjamin die Möglichkeit von Mitteilungsvorgängen als energetischen. Speziell für die Frage nach einer direkten Form von Körpersprache bzw. von Sprachkörpern, also nach sprachlichen Trägern materialer Ereignisse, sind die Überlegungen Benjamins richtungweisend. Als den wirklichen „Sündenfall des Sprachgeistes“ beschreibt Benjamin das Heraustreten aus der „immanenten eigenen Energie“, dass dieser „etwas (außer sich selbst) mitteilen“39 soll. Indem der Mensch die Sprache zum Mittel der Repräsentation, der Mitteilung semantischer Inhalte macht, erhebt sich eine andere Magie, „die Magie des Urteils […], die nicht mehr selig in sich selbst ruht“.40 Benjamins Interesse gilt demgegenüber der „intensiven Totalität“41, dem Ausdruckscharakter der Sprache und ihren „physiognomischen Kräften“.42 Das ist nicht mit einem Aufspüren ursprünglicher und vermeintlich geschichtlich verschütteter Sprachfähigkeiten zu verwechseln. Vielmehr beschreibt Benjamin die 35 Deleuze, Logik des Sinns, S. 37. 36 Ebd., S. 45. 37 Ich übergehe hier die teilweise zu Missverständnissen einladende Metaphorik Benjamins. Von ‚emanationistischen‘ Restbeständen ließe sich anhand von Formulierungen wie „Seinsgrade“, „Offenbarung“ oder das „Ausgesprochenste [ist] zugleich das reine Geistige“ sprechen (Benjamin, „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, S. 146). 38 Deleuze, Logik des Sinns, S. 22. 39 Benjamin, „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, S. 153. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 144. 42 Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, S. 71.

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„mimetische Begabung“ der Sprache als eine, die erst in „jahrtausendelangem Gange der Entwicklung ganz allmählich in Sprache und Schrift hineingewandert“43 ist. Ihre verzerrende Kraft, ließe sich mit Roland Barthes sagen, bildet sich in der Sprache in dem Moment, in welchem sie reflexiv wird, also sich zu denken beginnt, und „korrosiv“44 wird. Diese Korrosion ihres Körpers und ihrer Form kann auch als ‚Anamorphose der Sprache‘ bezeichnet werden. MAGISCHE EMANATION Einer Briefstelle zufolge wollte Benjamin auch seine eigene „Denkkraft“ daran bewähren, die „verkrustete Oberfläche“ tradierter Worte in „magnetischer Berührung“ zu lösen und das in ihnen „verschlossenene sprachliche Leben […] auszuschachten“.45 Damit stellt sich wiederum die Frage nach der sprachphilosophischen Dimension von ‚Kraft‘. Benjamin argumentiert hier in Umkehrung einer bis in die deutsche Mystik Jakob Böhmes einflussreichen kabbalistischen Sprachtheorie, welche durchgehend vom Phänomen ‚Kraft‘ organisiert scheint. „Jeder Buchstabe“, so Böhme, „deutet an eine Kraft und sonderliche Wirkung, als eine Form in der wirkenden Kraft“.46 Diese umkehrende Aufhebung der Tradition findet sich bereits in der deutschen Frühromantik. So dekretiert Friedrich Schlegel zunächst, das „Princip d[er] Sprache […] ist die Energie“47, um sogleich zu präzisieren: „Alle Magie ist immanent d. h. der Mensch ist nur menschlich d. h. durch Vernunft ein Zauberer“.48 Beide, sowohl Schlegel als auch Benjamin, versuchen sich an einer Aufhebung der metaphysischen Emanationsprinzipien Böhmes zugunsten poetischer Immanenz. Sie übernehmen also ein kabbalistisches Element (Böhmes)49 und kritisieren an ebenjener sprachtheoretischen Tradition ein und denselben problematischen metaphysischen Zug.50 Benjamin moniert in einem Brief an Scholem die „Emanationslehre“ der Kabbala, welche diese bei aller Nähe zum „stärkste[n] Antagonismus“ seiner Sprachtheorie mache. Analog dazu bedauert Schlegel, dass Böhme seine „magische Ansicht […] nie von der emanativen ganz losgerissen hat“.51 Die philosophiegeschichtliche Auslotung dieser Schlegel’schen Intuition findet sich wieder43 Benjamin, Walter, „Lehre vom Ähnlichen“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, S. 204–210, hier S. 209; vgl. zum Aufweis dieser Zusammenhänge das Kapitel „Geschichte des mimetischen Vermögens“ in: Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie. 44 Barthes, Roland, Über mich selbst, Berlin, 1978, S. 73. 45 Zit. vgl. Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, S. 18. 46 Zit. ebd., S. 201. 47 Schlegel, KA, Bd. 18, S. 227. 48 Ebd., S. 389. 49 Zu Schlegels enigmatischen Formulierungen „grammatische Mystik“ bzw. „mystische Grammatik“, sowie „Kabbala = (r) (unendliche Grammatik)“ vgl. wiederum Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, S. 218. 50 Analog dazu findet Benjamin an abgelegener Stelle seines Werks – etwa in einer Rezension von Albert Béguins L’âme romantique et le rêve. Essai sur le romantisme allemand et la poésie française – zu der prägnanten Formulierung, dass „die Romantik einen Prozeß vollendet, den das 18. Jahrhundert begonnen hatte: die Säkularisierung der mystischen Tradition“ (Gesammelte Schriften, Bd. III, S. 557–560). 51 Vgl. Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, S. 198 und 224.

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um in Deleuzes Abgrenzung neuplatonischer Emanation von (Spinozas) materialistischer Immanenzphilosophie.52 KÖRPERSPRACHE Unter ästhetischen Gesichtspunkten und mit Bezug auf Julia Kristevas Die Revolution der poetischen Sprache könnte von einer säkularen Beerbung von Magie, Schamanismus, Esoterik, Karneval durch (unverständliche) Poesie gesprochen werden. Was sie alle vereine, sei, „den Stempel dessen [zu tragen], was verdrängt wurde: des Prozesses, der über das Subjekt und die Kommunikationsstrukturen hinausweist“.53 Kristeva geht bei ihren Überlegungen von einer vorsymbolischen, ursprünglich semiotischen chora aus, aus der Subjektivität zuallererst entstehe und zu der sie in stetem Kontakt bleibe. Die Triebentladung werde „durch biologische und gesellschaftliche Strukturzwänge aufgehalten und Stasen ausgesetzt: ihre Bahnung fixiert sich provisorisch und markiert auf diese Weise Diskontinuitäten im semiotisierbaren Material von Stimmen, Gesten oder Farben. Phonetische (später phonematische), kinetische und chromatische Einheiten bzw. Differenzen sind die Markierungen solcher Triebstasen. Zwischen diesen Markierungen stellen sich in der Folge Verbindungen, Funktionen her, die von den Trieben aufgesogen werden, und die sich nach Ähnlichkeit oder Opposition mittels Gleiten und Verdichten artikulieren. Wir haben es also mit dem Prinzip von Metonymie und Metapher zu tun, die beide von der sie umgreifenden Triebökonomie nicht zu trennen sind.“54

Mit Lacan denkt Kristeva den menschlichen Körper insgesamt, nicht nur seine Körperöffnungen, sprachlich. Deutlich wird das an ‚Metapher‘ und ‚Metonymie‘, nunmehr nicht rhetorologisch verstanden als Konstituenten witzig-allegorischer Ironie, sondern in ihren Funktionen als ‚Verdichtung‘ und ‚Verschiebung‘ in symptomalen Prozessen oder Widerstandsanzeigen des Körpers selbst. Nicht nur in Symptomen aber äußern sich Körper voll von Sinn, sondern auch in Kunst und Literatur. „Die Sprachstrukturen werden durch eine solche Praxis des Prozesses gänzlich verändert. Rhythmische, lexikalische, selbst syntaktische Umbildungen greifen die signifikante Kette an und öffnen den materiellen Schmelztiegel ihrer Erzeugung. Mallarmé und Joyce sind nur lesbar, wenn man vom Signifikanten aus zum triebhaft materiellen Gesellschaftsprozess vorstößt“.55

Was anderes war denn mit dem jungen Reiterleutnant Ulrich geschehen? Der Sprachrhythmus Musils hatte sich verändert, die Szenerie war plötzlich in tiefdunkle Farben getaucht gewesen, und wilde Phantasien aus der Vergangenheit waren Ulrich durch den Kopf geschossen. Nur unter Vorbehalt ist deswegen 52 Vgl. Deleuze, Gilles, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München, 1993; speziell Kap. IX: „Die Immanenz und die historischen Elemente des Ausdrucks“, S. 151–189. 53 Kristeva, Julia, Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt am Main, 1978, S. 30. 54 Ebd., S. 39. 55 Ebd., S. 109.

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G. METAPHYSISCHE ENTGRENZUNGEN

Menninghaus’ Einschätzung zuzustimmen, Musils Aneignung mystischer Schriften gelte „weniger deren Verhältnis zur Sprache […] als jener (Selbst-)Phänomenologie mystischer Erfahrung“.56 Die ganze Frage des Musil’schen Romanexperiments gilt durchaus auch den von daher möglichen Ausweitungen des Sprachvermögens. Sie dient unterschiedlichen Darstellungen und Versprachlichungen des „anderen Zustands“ als eigentlicher poetischer Absicht des Romans. PHANTASMA Deswegen musste obige Analyse von Musils Prosa an den tagträumerischen ‚Phantasien‘ und entsubjektivierten ‚Phantasmen‘ seiner Protagonisten ansetzen. Imaginäre Begebenheiten, nicht Aktionen oder Passionen sind als die wahren Ereignisse nicht nur dieses Romans zu verstehen. Phantasmen, die sich ausdrücken durch „das Verb, das Verb im Infinitiv“57: auf einer Wiese liegen, Maisonneblau-Werden. Die Veränderungen der Umgebung mitphantasieren, wie die Protagonisten des Mann ohne Eigenschaften Veränderung in die Umgebung hineinphantasieren, bis man irgendwie wieder zu sich zurückkehrt. Nicht zufällig waren es die von Deleuze mobilisierten Stoiker, welche sich zugleich für sinnliche Oberflächenwirkungen interessiert haben. Wenn Phantasmen an die Oberfläche steigen, dann zeigt das körperliche Wirkung. „Es handelt sich nicht mehr um Trugbilder, die sich aus der Tiefe lösen und überall einschleichen [wie bei Platon; A. A.], sondern um Wirkungen, die sich offenbaren und an ihrer Statt gelten, Wirkungen im kausalen Sinn, aber auch Ton- und optische ‚Effekte‘, Sprachwirkungen“58,

die dann aber nichts Körperliches mehr an sich haben. Des Weiteren handelt es sich um optische Effekte, Farbeinwirkungen, Stimmenhören, diverse körperinduzierte – aber nicht unbedingt an körperliche Veränderungen gebundene – Deformierungen der Sprache. Der daraus resultierende „geistige“ Sinn erhält sich als Ereignis oder Wirkung so lange aufrecht, wie die „Wesensdifferenz zu den körperlichen Ursachen, Dingzuständen, physischen Qualitäten und Mischungen“59 bestehen bleibt. Auch für die Produktion dieser Opto- und Sonozeichen gilt, mit Joseph Vogl gesprochen: Das Ereignis ist „kein Objekt, kein Referent und kein Gegenstand, oder genauer: Es ist eher ein ästhetisches, ein poetisches Ding.“60 GRENZPATHOLOGIEN Dort, wo reale Phantasmen imaginierte Phantasien ablösen, reißt die geordnete Sinnoberfläche. Deleuze beschreibt das als (schizophrenen) Zusammenbruch traditioneller Sinngefüge. Im schizophrenen Prozess61 verliere sich die Oberfläche,

56 57 58 59 60 61

Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, S. 266. Deleuze, Logik des Sinns, S. 264. Ebd., S. 23. Ebd., S. 126. Vogl, „Was ist ein Ereignis?“, S. 69. ‚Schizophrenie‘ meint hier eher einen prozessualen Verlauf denn einen festgefügten Zustand.

I. GRENZEN DER IRONIE

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„verfügen das Innere und das Äußere, das Behältnis und der Inhalt über keine präzise Grenze mehr, und versinken in einer universellen Tiefe […]. Daher diese schizophrene Art und Weise, den Widerspruch zu leben: sei es in der tiefen Spalte, die den Körper durchzieht, sei es in den zerstückelten Teilen, die sich verschachteln und herumwirbeln.“62

So gedacht, wird die schizophrene Sprache, die durch alle Öffnungen des Körpers hindurch eindringend und wieder austretend Wirkungen produziert, zum Extrempunkt einer ästhetischen Sprachlogik. An diesem Überflusspunkt werden die repräsentativen Funktionen der Sprache zugunsten der sie bedingenden Materialität überschwemmt. „Diese zweite Sprache, dieses Aktionsvorgehen, wird praktisch durch seine konsonantischen, gutturalen und aspirierten Überladungen, seine Apostrophen und seine inneren Akzente, seine Atem- und Betonungstechnik, durch seine Modulation bestimmt, die alle Silben- oder sogar buchstäblichen Bedeutungen ersetzt […]. Sprache ohne Artikulation.“63

So wie Deleuze, der in der Logik des Sinns noch eine Art Reformierung des psychoanalytischen Diskurses beabsichtigt, rekurriert auch Julia Kristeva auf Untersuchungen Melanie Kleins.64 Und auch sie beschreibt, wie der diversen inneren und äußeren Kräften und Dynamiken ausgesetzte menschliche Körper „seinerseits zum Prozess“65 wird. Der Versuch einer Parallelisierung von Schizophrenie und poetischer Sprache ist speziell für die Untersuchung des Verhältnisses von Körper, Sprache und Welt relevant. Wie verdichtet sich die Sprache im Körper? Wie verschiebt sich die Welt in den Körper? Letztlich sind das wiederum Fragen nach dem ‚Innen‘ und ‚Außen‘, diesmal von Sprache selber. Sowohl schizophrener als auch poetischer Sprachgebrauch verändern den diesbezüglichen Stellenwert der sprachlichen Ordnung. Die sprachliche „Normativität gerät ins Wanken; es handelt sich dabei um Textphänomene, die auf eine besondere Triebökonomie verweisen – Verausgabung bzw. Entwirrung des ‚Triebvektors‘, das heißt Veränderung in der Beziehung zwischen Subjekt und Draußen.“66

Kristevas Überlegungen erkunden die Bedingungen und Effekte der (unmöglichen) Verwerfung oder Negation der Syntax. Die Logik der Ironie hingegen – nicht zufällig wird der Roman stets als das bürgerliche Genre bezeichnet – ist die hier oftmals beschriebene doppelte. Jedes Verwerfungspathos weiß sich im erzählenden Roman sofort ironisch eingeholt. Der Roman zeigt die Befreiungskräfte 62 „Siebkörper, zerstückelter-Körper und abgetrennter-Körper bilden die drei ersten Dimensionen des schizophrenen Körpers.“ (Deleuze, Logik des Sinns, S. 116.) 63 Ebd., S. 118. 64 Entscheidend ist vor allem die Unterscheidung zwischen gelungenen und weniger gelungenen Sublimationen; vgl. in diesem Zusammenhang auch den Aufsatz „Qui est Melanie Klein?“ von Nicolas Abraham und Maria Torok, in: dies., L’écorce et le noyau, S. 184–199. 65 Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, S. 109. 66 Ebd., S. 129.

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G. METAPHYSISCHE ENTGRENZUNGEN

von innen und die Reterritorialisierungskräfte außen. Dass seine Figuren stets bewegliche und offene Handlungsträger sind, beruht auf der dem Roman eigentümlichen Sprachlichkeit. Das Genre Roman wird fast ausschließlich schriftlich rezipiert, kaum je wird ein Roman laut vorgelesen. Künstlerische Utopien des Ausbruchs aus dem Symbolischen sind dagegen oft Resultate einer aus der Präsenz der lebendigen Stimme resultierenden utopischen Versprechens. Als solche sind sie aber nur entfernte poetische Verwandte des Romans. In der psychotischen Verwerfung, die zu einem „,fading‘ der Negation“ führt, wird die „Koppelung der Oppositionsterme“67 zerstört. Das unterscheidet sich von der ironischen Bespielung von Gegensätzen in den meisten Prosaromanen. Wer etwa Finnegan’s Wake bis zu Ende oder Musils frühe Novellen gelesen hat, wird diese – im Gegensatz zum Ulysses und dem Mann ohne Eigenschaften – nicht als ironische deklarieren können. Sie bilden die Außengrenzen der (Roman-)Ironie. Im Gegensatz zu den Protagonisten der frühen Novellen gelingt es dem Mann ohne Eigenschaften, pathologische Extremzustände auf Distanz zu halten. Ulrich wird nicht schizophren, und die Prosa des Mann ohne Eigenschaften bricht bewusst nicht endgültig aus. Mit der ihm eigenen ironischen Ernsthaftigkeit hat Musil dieses konservative Moment bürgerlicher Triebsublimierung explizit poetologisch bejaht.68 Noch ein anderes Moment lässt sich aus Kristevas Beschreibung des die Innen/Außen-Grenzen unterlaufenden Triebs ableiten: „Da-Begehren (désir-là)“69, Kristevas Wortschöpfung in Anspielung auf Heidegger, operiert jenseits von reiner Aktivität oder Passivität und ist ein Begehren, welches die Grenzen von Eigenem und Fremdem verschwimmen lässt, ja gerade die aufgehobenen Grenzen heimsucht und bespielt. Lacans Formel des „Begehrens als Begehren des Anderen“ meint in diesem Kontext ein Begehren jenseits von genetivus objectivus und subjectivus: Begehren des Anderen als Begehren, der Andere zu sein. Wenigstens ein bisschen, einen kurzen Moment lang sich anders fühlen. Sich selber im Anderen fühlen, jenseits von aktiv und passiv. Auf diese Themen wird noch einmal zurückzukommen sein. Bevor aber die Frage nach der Auflösung oder zumindest Korrumpierung traditioneller metaphysischer Dichotomien (aktiv/passiv, Subjekt/Objekt, Form/Materie) verhandelt wird, soll zunächst die angekündigte vierstufige Heimsuchungslehre metaphysischen Denkens entworfen werden.

67 Ebd., S. 131. 68 „Ich war nun zunächst auf die Absicht gekommen, die erste Notiz auszuführen; es hätte einen neuen Erzählstil gegeben, worin das äußerlich Kausale zu Gunsten phänomenaler und motivischer Zusammenhänge ganz aufgelöst worden wäre. Es hätte sicher Eindruck gemacht. Ich hätte die Linie der ‚Vereinigungen‘ weitergebaut und wäre irgendwie ein Erzvater der neuen Erzählkunst geworden. Aber ich bin in Stilfragen konservativ und wünsche nicht mehr zu ändern, als ich unbedingt brauche. So habe ich mir innerlich geholfen mit dem ‚Urlaub vom Leben‘ u. den Begriffen ‚Mann o. E.‘ und ‚Seinesgleichen geschieht‘“ (Musil, Robert, Briefe 1901–1942, Reinbek, 1981, Bd. I, S. 497 f.). 69 Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, S. 137.

II. HANTHOLOGIEN I–IV

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II. HANTHOLOGIEN I–IV II. HANTHOLOGIEN I–IV

ERSTE HEIMSUCHUNG: DAS GESPENST Auch für die folgende kleine Ansammlung verschiedener Heimsuchungsformen kann eine kurze Kontrastierung mit Derridas Dekonstruktion als Ausgangs- und Absetzpunkt dienen. Es handelt sich um Fragen, die in spezifischer Weise über das Derrida’sche Œuvre hinausweisen, genauer: um Fragen nach der möglicherweise metadiskursiven Materialität von Konzepten. Denn wie steht es mit der oben schon angesprochenen ‚Verräumlichung‘, welche mittels Schrift in die Sprache eingeführt wird? Welche philosophische Bedeutung hat der schon im 19. Jahrhundert zunehmend zugunsten von ‚Energie‘ aufgegebene Begriff der ‚Kraft‘ philosophisch?70 Wie lässt sich ‚Materie‘ thematisieren, ohne sie, in Schellings Worten, „selbst zu einem Gespenst, zur bloßen Modifikation einer Intelligenz“71 zu machen? Nicht nur im Sinne einer Kontrast- oder Grenzfigur taugt Derrida als Einstieg in die folgenden Heimsuchungsstufen. Vielmehr zeigt sich auf der ersten hanthologischen Ebene – derjenigen der Verkörperung einer per definitionem materiefreien Gestalt – sofort ein zutiefst Derrida’sches Symptom: „Ein Phantom/Gespenst stirbt niemals, es bleibt stets zu-künftig und wieder-künftig.“72 Alles, was zu Anfang dieses Kapitels über die Logik der Spur, Quasi-Transzendentalität und seinen nicht-materialistischen Wiederholungsbegriff gesagt wurde, spielt in Derridas Gespensterlogik hinein. Es ist die Methode der Dekonstruktion, die von (philosophiegeschichtlichen) Texten immer mit mehr oder minder ‚guten‘ Gründen verdrängten und unterdrückten Ideen und Inhalte wieder auftauchen zu lassen, ohne dass es zu einer klaren Verurteilung der jeweils unterliegenden Vorentscheidungen kommen kann. Ergebnis der dekonstruktiven Lektüre ist immer auch eine Einsicht in die keineswegs kontingenten Zwänge und QuasiNotwendigkeiten sowie in die innere Plausibilität metaphysischer Präferenzen. Was in nicht nur kanonischen Texten der Metaphysikgeschichte dekonstruktiv aufgespürt wird, sind zumeist von dieser Tradition notorisch verdrängte Phänomene und Problemstellungen. Wie einem philosophischen Geisterjäger folgt man zuweilen Derridas Texten: Derrida jagt das Hirngespinst eines sich selbst gegenwärtigen Geistes; er stöbert im Phantasma absoluten Geistes und spürt in diesem die zwanghafte Abwehr alles vermeintlich Nicht-Geistigen auf. Gerade das Geisterhafte diverser zentraler Begriffe der Metaphysik (Sein, Vernunft, Idee) spiegelt sich in dem von ihnen Unterdrückten. Wie Gespenster tauchen Körper, Geschlecht und Weiblichkeit quer durch die Philosophiegeschichte als deren Heim70 Vgl. dazu die sowohl philosophie- wie wissenschaftsgeschichtliche Studie von Jammer, Max, Concepts of Force, Mineola, NY, 1999. 71 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von, System des transzendentalen Idealismus [1800], in: ders., Ausgewählte Schriften, Frankfurt am Main, 1985, Bd. 1, S. 475. 72 Derrida, Marx’ Gespenster, S. 160; ich verdopple hier die Übersetzung des französischen fantôme als Phantom und Gespenst.

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G. METAPHYSISCHE ENTGRENZUNGEN

suchungen auf. So verstanden ist ‚Dekonstruktion‘ immer auch Symptomatologie und diente in der Folge der Aufweichung dogmatisch verhärteter Fronten. Wie sich schon in der Diskussion eines dekonstruktiv-ironischen Politikverständnisses angedeutet hat, muss die Dekonstruktion kraft ihres Wesens auf Subversion von innen her setzen.73 Mehr noch als gespenstisch zu sein, bezeichnet ‚Parasitismus‘ das (Un-)Wesen von Dekonstruktion. „Der Parasit parasitiert die Grenzen, welche die Reinheit der Regeln und Intentionen sichern, und dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf Recht, Politik, Ökonomie, Ethik.“74 Keineswegs zufällig ist es deswegen, dass sich eine entscheidende Diskussion zwischen Searle/Austin und Derrida am Begriff des Parasitären entzündet hat. Dabei kann Derrida bis zu einem bestimmten Punkt eine – freilich über den für sie bekömmlichen Rahmen hinaus – Zuspitzung der Austin’schen Kategorie des ‚Performativen‘ zugeschrieben werden. Diese Radikalisierung sprengt die Grenzen einer sprechakttheoretischen Mitteilungsund Kommunikationstheorie. In dem dazumal skandalösen Aufsatz „Signatur Ereignis Kontext“ wird ‚Mitteilung‘ wörtlich gelesen. Eine „Bewegung“, „eine Erschütterung, ein Stoß, oder eine Kraftverschiebung“75 kann mitgeteilt werden. Kommunikation, von ihrem performativen Pol her gedacht, betont eher deren Gewaltpotenzial, als dem frommen Wunsch einer gewaltfreien Beförderung semantischen Inhalts nachzuhängen. Auch hier sind also die Reflexionen über Sprache mit der Frage der ‚Kraft‘, nietzscheanisch: von Kräften, verbunden. Deutlich wird das im Kontrast zu Austins pejorativen Aus- oder Eingrenzungsversuchen der „parasitic“, „not serious“ und „not full normal uses“76 von Sprache wie etwa des Zitats. Für Derrida sind „Parasitäres, Nicht-Ernstes, Nicht‚Standard‘, Fiktives, Zitathaftes, Ironisches“77 umgekehrt zentrale Sprachbedingungen. Was oben mit Bachtin auf den Roman bezogen analysiert wurde, ist Derrida zufolge ein Moment von Sprache überhaupt. Das ist, was jede ironische Aussage performativ behauptet. Mehr noch: Es zeigt sich, dass Ironie nur scheinbar ein sprachlicher Ausnahmefall ist. Von Kontexten kann nie abstrahiert werden, jedes Zitat verändert sich mit seinem Rahmen. Deshalb ist es in seiner Wie73 Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 425. Diese Zusammenhänge, aber auch die begrenzte Reichweite einer dekonstruktiven Konzeption ‚symbolischer Politik‘, haben sich schon in der Diskussion eines dekonstruktiv-ironischen Politikverständnisses ergeben (vgl. das Unterkapitel zum Postmarxismus in Kap. E. „Ironische Politiken“). 74 Derrida, „Limited Inc a b c …“, S. 155. 75 Vgl. Derrida, Jacques, „Signatur Ereignis Kontext“, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien, 1988, S. 291–314, hier S. 291. 76 Austin, John L., How to do things with words, Oxford/New York, 1976, S. 104; Derrida zitiert auch Beschreibungen Searles von parasitären Sprachformen wie dem „Erzählen von Witzen oder das Spielen in einem Stück“, wobei Searle „von ‚wörtlichen‘ Äußerungen […] im Gegensatz zu solchen, die metaphorisch, sarkastisch usw. sind“ spricht („Limited Inc a b c …“, S. 112), bezeichnenderweise also Formen, die im Zusammenhang ironischen Agierens gehäuft begegnen. 77 Derrida, „Limited Inc a b c …“, S. 82. Zu den vielfältigen analytischen Bemühungen etwa Tarskis, Quines, Freges und anderer, sprachliche Phänomene wie Zitat oder Anführungszeichen analytisch unter Kontrolle zu bringen, vgl. Davidson, Donald, „Zitieren“, in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt am Main, 1986, S. 123–140.

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derholung schon ein anderes. „Der Kontext ist immer schon innerhalb der Stelle und nicht um sie herum“, so Derrida analog der anfangs diskutierten EchoTheorie der Ironie.78 Für Philippe Hamon ist „citer indirectement“ gleich „faire ‚echo‘ à“, wobei sich geschriebene von gesprochener Ironie dadurch unterscheide, dass der „‚corpus‘ (littérataire) replacera le ‚corps‘ avec ses gestes, ses mimiques et ses intonations, du parleur absent“.79 Die strukturelle Wiederholbarkeit, die „Iterabilität des Zeichens [marque] lässt keinen jener philosophischen Gegensätze intakt, die die idealisierende Abstraktion regulieren (zum Beispiel ernst/unernst, buchstäblich/metaphorisch, eigentlich/ironisch, eigen/parasitär, strikt/nicht strikt und so weiter). Die Iterabilität verwischt a priori die lineare Grenze, die zwischen diesen gegensätzlichen Werten verliefe, sie ‚korrumpiert‘ sie, wenn man so will, kontaminiert oder parasitiert sie als Grenze selbst. Das Bemerkenswerte/Wiedermarkierbare [remarquable] des Zeichens [marque] schließt den Rand [marge] in das Zeichen [marque] ein.“80

Austins Säuberungsversuch gewisser „Arten von Übeln […], die alle Äußerungen befallen können“81, hat von dieser Warte aus betrachtet Aspekte einer zwanghaften Einstellung. Nicht von außen nämlich werden Aussagen von sprachfremden Parasiten befallen, sondern die ironische Abdrift jeder Kommunikation ist im Wesen der Sprache selbst angelegt und somit nicht zu eliminieren. ZWEITE HEIMSUCHUNG: DER PARASIT Als zweite, im Vergleich mit dem Gespenst bereits deutlicher materialisierte hanthologische Figur erweist sich somit der Parasit. Immer wieder hat sich das ‚Parasitieren‘ als Kennzeichen der ironischen Redefigur erwiesen. Ironie parasitiert stets an der vorgegebenen Bedeutung, deren etablierten Gehalt sie einerseits zu ihrer Existenz benötigt und andererseits zu subvertieren sucht. Ähnliches kann vom Parasiten gesagt werden. Immer schon zu Gast bei Tisch, steht er symbolisch für die Anwesenheit des nur vermeintlich Äußeren: die Stelle (lt. situs) nährt sich selbst schon an der Speise (gr. sitos) neben (gr. para) ihr. Wer parazitiert, nimmt nicht nur metaphorisch, theoretisch auf, sondern tatsächlich – eine materielle Dimension des Parasiten, die nicht auf eine dekonstruktive Tätigkeit zu reduzieren ist. Um gleichwohl einen von Derridas Paradoxalbegriffen zu bemühen: Der Parasit ‚pfropft‘ sich ganz real auf sein Wirtstier. Gegen mögliche Abwehrreaktionen produzieren biologische Parasiten zu diesem Zweck ein mit den Kontaktstellen ihres Wirtstiers identisches Gewebe. Im Falle des Zitats wird der Kontext präpariert, es werden grammatische Kongruenzen (Genus, Numerus, Kasus) hergestellt, scheinbar unbedeutende Füllwörter zugefügt, Punktfolgen umgesetzt etc. Alles wird getan, um den überwältigenden Eindruck eines organischen, scheinbar nahtlosen Einpassens zu pro78 Derrida, „Limited Inc a b c …“, S. 100. Zu Alain Berrendonners Definition vgl. oben Kap. B. II. „Sehnsucht der Kunst“. 79 Hamon, L’Ironie littéraire, S. 24 f. 80 Derrida, „Limited Inc a b c …“, S. 115. 81 Zit. nach Derrida, „Signatur Ereignis Kontext“, in: ders., Limited Inc, S. 37.

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G. METAPHYSISCHE ENTGRENZUNGEN

duzieren. Michel Serres hat in seiner Studie Der Parasit genau beschrieben, was dann passiert: „Der mißbrauchte, getäuschte, vom Parasiten heimgesuchte Körper reagiert nicht mehr, er akzeptiert, er verhält sich so, als wäre der Besucher sein eigenes Organ. Er willigt ein, ihn zu versorgen. […] Der Parasit übt Mimikry. Er täuscht nicht nur vor, ein anderer zu sein, er täuscht vor, derselbe zu sein.“82

Für sprachliche Phänomene heisst das, dass die Anpassung des eigenen Texts immer auch eine des zitierten Materials bedeutet. Und umgekehrt: Was der ahnungslos Zitierende selbstbewusst seinem Text einfügt, kann schlagartig das regionale Kommando übernehmen. Dann wird der eigene Text zum Kontext, das dem Ko-text entnommene Zitat zur Stelle. In den Worten einer Derrida gewidmeten Überlegung in Giorgio Agambens Idee der Prosa: „[D]as in Anführungszeichen gesetzte Wort [wartet] nur darauf […], sich zu rächen. Und keine Rache ist scharfsinniger und ironischer als die seine.“83 Die Utopie des Parasiten lautet: Was immer geschieht, muss mich passieren, an mir vorübergehen. Dem Parasiten soll sich alles zur freien (egal ob erstmaligen oder Wieder-)Nutzung darbieten. Dafür gilt es die richtige Stelle im Informationskörper zu bestellen, überall einzudringen, in alle Informationskanäle, denn die „Tätigkeit des Parasiten besteht darin, sich an die Beziehungen“, an die Schnittstellen, die offenen Brüche, welche zwischen allen Silben, Worten und Wortfolgen intervenieren, „heranzumachen. Er macht sich instinktiv an die Vermittlungen heran und besetzt alles. Er intrigiert.“84 Die gesamte ironische Romanliteratur ist bevölkert von solchen direkten und indirekten Nachfahren des parasitos der griechischen Komödie. Am deutlichsten vorgemacht hat das wohl Diderots Rameaus Neffe, dessen titelgebender Protagnist bei Tisch sitzt, mitisst, parodiert und parasitiert. Versteckter ist das der Fall bei Tartuffe, dem Beobachter und Analytiker, dessen perfekte Mimikry an den Familienvater die gesamte Familie (bis auf die buffoneske Haushälterin) paralysiert und zugleich die innerfamiliären Konflikte katalysiert. Nichts bricht durch den Parasiten auf, was nicht schon vorher in der Familie angelegt war. Wiederum mit Michel Serres ist auf die präzise Namensgebung Molières hinzuweisen. Tartuffe, die Trüffel, der unterirdische Pilz, ist nicht einfach Betrüger (imposteur). Er parasitiert im Haus eines bigotten Höflings, der vom Eintreiben der Steuern (impôts) lebt und also selber parasitiert. „Wer ist Tartuffe, der gleichzeitig aus so vielen Metamorphosen besteht? Ist er der Komödiant? Ist der Komödiant der, der einen anderen spielt? […] Wie ist es möglich, daß der Parasit, der Irre, der Joker und der Komödiant Abarten des Heuchlers sind? Kurz, er ist a und nicht nur a, er ist genauso gut auch b, er kann das Umgekehrte, Entgegengesetzte, Widersprüchlichste sein; a ist b, was zu beweisen ist. Das ist streng genommen die Logik der Auflösung.“85 82 83 84 85

Serres, Der Parasit, S. 310. Agamben, Idee der Prosa, München/Wien, 1987, S. 81 f. Serres, Der Parasit, S. 317. Ebd., S. 318.

II. HANTHOLOGIEN I–IV

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Ein wichtiger Aspekt des Parasitismus ist seine universelle Reziprozität oder Wechselbezüglichkeit. Ein ausreichendes Verständnis des Parasitierens als gegenseitigen kann aber nur mittels Verstehen der spezifischen Materialität parasitärer Transformationen geleistet werden. Denn der „Parasit ist der Ort und das Subjekt der Transformationen“.86 Wie aber geht etwas von einem Körper in einen anderen über? Wie gehen Körper wechselseitig ineinander über? Worin besteht ihre Durchlässigkeit, und wie lässt sich diese begrifflich fassen? DRITTE HEIMSUCHUNG: POROSITÄT (DIE KRAFT DES AUCH) Mittels Hegels Wissenschaft der Logik lässt sich einerseits zeigen, inwiefern ‚Porosität‘ die prinzipielle Offenheit von Dingen auf den Begriff bringt und andererseits eine gegenüber materialistischen Interventionen offene Stelle des philosophischen Idealismus selbst indiziert. Speziell der zweite, der ‚Erscheinung‘ gewidmete Abschnitt der Wesenslogik thematisiert die Porosität der Materie in eigentümlicher Weise. Schon die Eigenschaften von Dingen hatte Hegel als äußerliche Reflexion des Ding an sich selbst bezeichnet. Das ‚Ding an sich‘ existiere wesentlich, „die äußerliche Unmittelbarkeit und die Bestimmtheit gehört zu seinem Ansichsein oder zu seiner Reflexion-in-sich. Das Ding an-sich ist dadurch ein Ding, das Eigenschaften hat, und es sind dadurch mehrere Dinge, die sich nicht durch eine ihnen fremde Rücksicht, sondern sich durch sich selbst voneinander unterscheiden. Diese mehreren verschiedenen Dinge stehen in wesentlicher Wechselwirkung durch ihre Eigenschaften; die Eigenschaft ist diese Wechselbeziehung selbst, und das Ding ist nichts außer derselben“.87

Innerhalb eines Dinges sind einzelne, besondere Materien „unwesentlich verknüpft“ und in ihrer Beziehung zum Ding gleichgültig, verbunden nur durch ein „Auch“.88 Wo eine Materie ist, ist die andere nicht, nur im Ding ist mit einer auch die andere. „Insofern also die eine Materie in dem Dinge ist, so ist die andere dadurch aufgehoben; aber das Ding ist zugleich das Auch oder das Bestehen der anderen […]; und indem das Ding zugleich nur das Auch derselben und die Materien in ihre Bestimmtheit reflektiert sind, so sind sie gleichgültig gegeneinander und berühren sich in ihrer Durchdringung nicht. Die Materien sind daher wesentlich porös, so daß die eine besteht in den Poren oder in dem Nichtbestehen der anderen; aber diese anderen sind selbst porös“.89

Im folgenden dritten Kapitel des „Erscheinungs“-Abschnitts indiziert das ‚Auch‘ dann eine andere logische Funktion. „Das wesentliche Verhältnis“ teilt sich in die Abschnitte „A. Das Verhältnis des Ganzen und der Teile“, „B. Das Verhältnis der Kraft und ihrer Äußerung“ und „C. Das Verhältnis des Äußeren und Inneren“. Die spezifische Denkbewegung von einem Verhältnis zum anderen und schließ86 87 88 89

Ebd., S. 325. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Wissenschaft der Logik II, in: ders., Werke, Bd. 6, S. 137. Ebd., S. 141. Ebd., S. 143.

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G. METAPHYSISCHE ENTGRENZUNGEN

lich über das Konzept ‚Verhältnis‘ selbst hinaus, diesen dialektischen Prozess einer angemessenen Mikroanalyse zu unterziehen, kann hier nicht geleistet werden. Nur quasi von außen ist darauf zu verweisen, dass die einzelnen Verhältnispole sich gegenseitig regulieren. Wird einer theoretisch heimgesucht, affiziert das auch alle anderen. Modifiziert man also zum Beispiel das Hegel’sche Verständnis von ‚Kraft‘, bleibt dies nicht ohne Auswirkung auf die Unterscheidung des Ganzen und seiner Teile, sondern destabilisiert über diese noch die Trennung von Innen und Außen. Das Hegel’sche ‚Auch‘ erweist sich als ein solches pharmakon, heilende Gabe (englisches gift) und Gift zugleich. Weil sich das ‚Auch‘ zusätzlich als zentrales Moment und logisches Regulativ der dialektischen Prozessierung der Kategorie ‚Verhältnis‘ erweist, lässt sich an dieser (materialen und logischen) Kategorie die hier abschließend versuchte ‚materiologische Entgrenzung‘ ursprünglich nur rhetorologisch gefasster Begriffe weiterführen. Wenn nach Hegel „das wesentliche Verhältnis nur erst das erste, unmittelbare ist, so ist die negative Einheit und die positive Selbständigkeit durch das Auch verbunden; beide Seiten sind zwar als Momente gesetzt, aber ebensosehr als existierende Selbständigkeiten“.90

Schon an früheren Stellen seines Werkes ist Hegel bemüht, das ‚Auch‘ auf die Ebene geistloser Materie oder vernunftloser Wahrnehmung zu beschränken. Wo es in anderem Kontext auftaucht, unterliegt es einer symptomatischen Ausgrenzung. Das zeigt sich in den das ‚Auch‘ thematisierenden Passagen des Abschnitts „Die Verstellung“ der Phänomenologie des Geistes, der zuvor91 nur mit Bezug auf seine moralischen Verurteilungen der Ironie diskutiert wurde. Vehement widerspricht Hegel an dieser Stelle jener Synthesis oder Verbindungslogik von allem und jedem, selbst dem Disparatesten, die sich immer wieder als diejenige der Ironie erwiesen hat. Konkret befinden wir uns an der Stelle, an der der reine Moralismus zusammenbricht und in die Heuchelei übergeht: „In diesem rein moralischen Wesen aber nähern sich die Momente des Widerspruchs, in welchem dies synthetische Vorstellen sich herumtreibt, und die entgegengesetzten Auchs, die es, ohne diese seine Gedanken zusammenzubringen, aufeinanderfolgen und ein Gegenteil immer durch das andere ablösen läßt, so sehr, daß das Bewusstsein hier seine moralische Weltanschauung aufgeben und in sich zurückfliehen muss.“92

Immer wieder tritt das ‚Auch‘ außerhalb von Hegels materialem Eingrenzungsversuch auf und erweist sich somit als ein eminent philosophisches Problem. Seine Bestimmung als moralphilosophisches Problem ist Teil eines strategischen Eindämmungsversuchs, Ausdruck von Hegels synthetisch-dialektischer Reduktion des ‚Auch‘. Denn die Beschränkung des ‚Auch‘ dient immer der Einschränkung der Reichweite von Materialität selbst. Ein Beispiel für die Identifizierung und Begrenzung dieser Logik des Auch: 90 Ebd., S. 167. Das Zitat ist dem Abschnitt „Das Verhältnis des Ganzen und der Teile“ entnommen. 91 Vgl. Kap. C. I. „Böse Romantik bei Hegel und Kierkegaard“. 92 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 462.

II. HANTHOLOGIEN I–IV

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„Dies Salz […] ist weiß und auch scharf, auch kubisch gestaltet, auch von bestimmter Schwere usw. […]; das Weiße affiziert oder verändert das Kubische nicht, beide nicht das Scharfe usw., sondern da jede selbst einfaches Sichaufsichbeziehen ist, läßt sie die anderen ruhig und bezieht sich nur durch das gleichgültige Auch auf sie. Dieses Auch ist also das reine Allgemeine selbst oder das Medium, die sie so zusammenfassende Dingheit.“93

Der unvermittelte Zusammenhalt diverser Eigenschaften – dieser und dieser und auch dieser – in einem materiellen Ding begrenzt hier den Bereich des ‚Auch‘ auf spekulativ unriskante materielle Eigenschaften von Gegenständen. Hegel denkt das „Ding als das Wahre der Wahrnehmung“, als „gleichgültige passive Allgemeinheit, das Auch der vielen Eigenschaften oder vielmehr Materien“.94 Das Ding als „das Wahre der Wahrnehmung“ zu denken bedeutet aber zugleich: als Wahres nur der Wahrnehmung. Wie etwa der Übergang von ‚Wahrnehmung‘ zu ‚Verstand‘ zeigt, konzeptualisiert Hegel ‚Kraft‘ vornehmlich im gedankenlosen Inneren der Wahrnehmung. Jedenfalls steht der gesamte Vernunftbereich unter dem Vorzeichen eines tendenziellen Ausschlusses des Kraftbegriffs. Das ist, in Gestalt des Untergangs des Verstandes als Reflexionslogik, programmatisch im „Kraft-und-Verstand“-Kapitel der Phänomenologie nachzulesen. Nur ‚sinnliche Gewissheit‘, ‚Wahrnehmung‘ und ‚Verstand‘ setzen den Gegenstand außer sich. Hegels Vernunft dagegen suspendiert das Spiel der Kräfte, um geordneter, nicht poröser, Verhältnisse von Innen und Außen willen. Die Substanz als Subjekt denkend, hebt Hegel zwar dessen Vorrangigkeit auf95, aufgrund seines ‚Prädikat‘-Begriffs bleibt er aber weiter einem subjektorientierten Verständnis von ‚Eigenschaft‘ verhaftet. Eine juristische Unterscheidung anwendend ließe sich sagen, dass Hegel das Prädikat eher als Besitz des Subjekts, weil seiner Verfügungsgewalt unterstehend, begreift denn als Eigentum im Sinne bloßer Zugehörigkeit. Hegel denkt das ‚Prädikat‘ nicht im Sinne ereignishafter, infinitiver Verben, sondern eher attributiv. Gleichwohl hat Hegel die Spekulationen zum Zusammenhang von ‚Kraft‘, ‚Äußerung‘, ‚Äußerem‘ und ‚Innerem‘ nicht nur in dem „Kraft-und-Verstand“Kapitel auf extreme Weise vorangetrieben. Gleichlautend wird in der Phänomenologie des Geistes wie der Wissenschaft der Logik die Analyse der ‚Kraft‘ bis an den Punkt der Aufhebung einer Unterscheidung von Aktivität und Passivität getrieben. Hegels Resümee: „Von diesem Spiele der Kräfte haben wir aber gesehen, dass es diese Beschaffenheit hat, dass die Kraft, welche sollizitiert wird von einer anderen Kraft, ebenso das Sollizitierende für diese andere ist, welche selbst erst hierdurch sollizitierende wird.“96

Und gleich darauf: 93 Ebd., S. 95. 94 Ebd., S. 96. 95 Ebd., S. 58 heißt es: „[…] das Subjekt zum Prädikat übergegangen und hiermit aufgehoben […]. Sonst ist zuerst das Subjekt als das gegenständliche fixe Selbst zugrunde gelegt.“ 96 Ebd., S. 119.

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G. METAPHYSISCHE ENTGRENZUNGEN

„Diese beiden Seiten, das Verhältnis des Sollizitierens und das Verhältnis des bestimmten entgegengesetzten Inhalts ist jedes für sich die absolute Verkehrung und Verwechslung. Aber diese beiden Verhältnisse sind selbst wieder dasselbe; und der Unterschied der Form, das Sollizitierte und das Sollizitierende zu sein, ist dasselbe, was der Unterschied des Inhalts ist, das Sollizitierte als solches, nämlich das passive Medium; das Sollizitierende hingegen das tätige, die negative Einheit oder das Eins. Hierdurch verschwindet aller Unterschied besonderer Kräfte“.97

Diese wesenslogischen Spekulationen führen in ein Jenseits traditioneller (Onto-)Logik, in dem die traditionellen Unterscheidungen von Innen/Außen, aktiv/passiv, Form/Materie nicht weniger brüchig werden als diejenige von lebendig/tot. VIERTE HEIMSUCHUNG: VAMPIRISMUS Auf dem vierten hanthologischen Niveau erweist sich der Vampir als Personifikation oder Verkörperung einer Vielzahl der zuvor analysierten Momente (parasitäres Sich-am-Leben-Erhalten eines Toten, poröse Nahrungsmittelaneignung). Bevor in der Folge das Konzept einer materialen oder disjunktiven Dialektik zu skizzieren sein wird, stellt sich schon hier die Frage nach einem erweiterten Verständnis von Materie. Dafür möchte ich vorschlagen, Hegels ontologische Spekulationen über die Porosität lebloser Stoffe auszuweiten auf Phänomene prekärer ästhetischer Lebendigkeit. Auch dazu taugt am besten der – nachdem die 70 Jahre zuvor plötzlich aufgetretenen Epidemien langsam abgeebbt waren – um 1800 im Imaginären der Literatur wiederkehrende Vampir.98 Mit Gespenst und Phantom teilt er „avec son statut ontologique les mêmes existentiaux fondamentaux. Il flotte entre vie et mort“.99 Aber im Gegensatz zum körperlosen Gespenst zeichnet sich der Vampir durch eine ganz spezifische Materialität aus. Diese zeigt sich am klarsten in seiner parasitären Nahrungsaufnahme. Der Vampir macht Ernst mit dem Parasitismus. Er ist nicht mehr wirklich zu Gast, sondern schleicht sich ein und parasitiert direkt. Seine Nahrungsaufnahme ist schlichtweg porositär. Der Vampir saugt das Blut aus dem anderen Körper. Er leert nicht mehr unmerklich den Tisch seines Gastgebers, sondern schwächt direkt das Kraftpotenzial seiner Opfer. Denn Blut ist, nicht nur symbolisch, Zeichen von Lebensenergie als solcher. Der Umstand, dass sich der Vampir aber nicht nur nicht fortpflanzt, sondern direkt gegen das Weiterleben der allzumenschlichen Gattung Widerstand leistet, verweist auf die Frage, wie sich der Untote denn biologisch am Leben halten kann. Die Frage, was das 97 Ebd., S. 119 f. 98 Nach dem plötzlichen realen Auftreten von Vampirseuchen um 1730 war das Phänomen des Vampirismus zunächst in aller Munde. Nach einer Vielzahl medizinisch, theologisch, philosophisch inspirierter symbolischer Er- und Aufklärungen verschwindet das Thema schon nach einigen Jahrzehnten wieder fast gänzlich aus dem Diskurs. Sein Wiederauftreten im literarischen Imaginären macht den Vampir somit zu einem Wiedergänger auch im kulturgeschichtlichen Sinn; vgl. dazu Avanessian, Armen, „Die ästhetische Wiederkehr des Vampirismus“, in: Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, hrsg. v. Armen Avanessian, Winfried Menninghaus und Jan Völker, Berlin, 2009, S. 157–176. 99 Belhaj-Kacem, Mehdi, Society, Paris, 2001, S. 62.

II. HANTHOLOGIEN I–IV

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Weiterleben des Vampirs ermöglicht, ist kurzzuschließen mit derjenigen nach der (Un-)Natur seines potenzierten oder purifizierten Festhaltens am Begehren. Letzteres erweist sich als Begehren des Begehrens selbst, als Begehren des eigenen Begehrens, nicht das der Anderen. Der Blutsauger begehrt zweierlei. Nicht einfach ein Bedürfnis nach Blut treibt ihn an, sondern ein Begehren, am Trieb selbst zu saugen. Das von Lacan als lamellenhaft gefasste „organ, whose characteristic is not to exist, but which is nevertheless an organ“ ist Slavoj Žižek zufolge die „libido, qua pure life instinct, that is to say, immortal life, or irrepressible life, life that has need of no organ, simplified indestructible life“.100 Wenn der zwar nicht organlose, aber doch nichtphallische Blutjunkie süchtig nach Blut ist, dann ist das auch als ein unstillbares Begehren nach dem Lebenselixier schlechthin zu verstehen: reines Begehren des (eigenen) Begehrens, die Sucht nach Libido pur. Als Objekt-Ursache des Begehrens ist Blut „ein ironisches Objekt, welches das Subjekt“101 in ständige Unruhe versetzt, wie Elisabeth Strowick mit psychoanalytischem Blick auf Kierkegaards Ironie erläutert. Blut erweist sich aber als Lacans ironisch-fetischistisches petit objet a auf besondere, paradigmatische Weise insofern, als es „die Doppelbewegung der Wiederholung“, „das Objekt a“, „die Paradoxie des Begehrens“ nicht nur „in sich versammelt“102, sondern auch in seine eigene Bewegungsaktivität lebensspendender Aktivität inkorporiert. Der Vampirismus konfrontiert also mit der zentralen Frage nach der Natur jedes Begehrens. Und er unterläuft philosophische Versuche seit der Romantik – egal ob in ihrer androgynen Variante (Schlegels Lucinde) oder der hegelianischchauvinistischen (Kierkegaard) –, etwa zwischen (ephemerem) passivem Begehren und (hyperviriler) Begierde zu unterscheiden. Deswegen verlieren sich die Interpreten seiner verführerischen Tätigkeiten oft zwischen vermeintlich nekrophilem Täter und todessehnsüchtigem Opfer. Daher auch die Schwierigkeit, die hypertrophe (A-)Sexualität des Vampirs zu beurteilen. Die imaginäre Realität des Vampirismus verweist auf die oben skizzierte doppelte gegenseitige Anziehungskraft zwischen Subjekten in der Verführung.103 Jenseits der unterschiedlichen ironischen Verwirrungen – entweder der problematischen Identifikation von Opfern mit ihren Tätern oder der Korruption der jeweiligen Verführer durch ihre Begehrensobjekte – inkorporiert der Vampir ein Begehren nach zirkulären Bluttransfusionen, das sich in einen Bereich, sein heimliches Reich, jenseits von Passivität (Mangel) und Aktivität (Gewalt) absetzen will. Auch im passivsten Opfer des Vampirismus pocht das Blut aktiv darauf, gesaugt zu werden.

100 Žižek, Slavoj, „Kant as a Theoretician of Vampirism“, in: Lacanian Ink 8 (1994), S. 19–34, hier S. 30. 101 Strowick, Elisabeth, Passagen der Wiederholung. Kierkegaard – Lacan – Freud, Stuttgart, 1999, S. 274. 102 Ebd. 103 Vgl. die Diskussion u. a. von Jean Baudrillards kritischer Relektüre Kierkegaards in Kap. C. VII. „Verteidigung der Verführung“.

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G. METAPHYSISCHE ENTGRENZUNGEN

VAMPIRISCHE IRONIE Von Anfang an hat sich das prekäre Versprechen ästhetisierten Lebens als mit mortifizierenden Zügen behaftet erwiesen.104 Schon an dem ersten systematischen Analytiker ästhetischer Existenzen (also von Ironiker, Ästhetiker, Verführer, Flaneur, Dandy etc.), Sören Kierkegaard, kann der vampirische Untergrund ästhetischer Existenz verifiziert werden. Und es kann gezeigt werden, dass und inwiefern das Vampirische als materiologische Außengrenze diverser Personifizierungen der Ironie verstanden werden kann. Nicht zufällig nimmt Kierkegaard nämlich schon in seiner Dissertation einen Vergleich aus den Wolken des Aristophanes (saug ihm das Blut) zur Beschreibung der „sokratisch aussaugenden Fragen“105 auf. Zu Recht wurde festgehalten, der „vampire becomes the figure of irony, the ironic figure par excellence, while blood sucking stands for the ironic/vampironic method“.106 So wie Ironie, mit Paul de Man gesprochen, nicht irgendeine, sondern trope of the tropes ist, kann der Vampir als materialisierte Personifikation dieser Mastertrope gelesen werden. Denn das vampirische Gebaren setzt sich nahtlos fort in allen auf den Ironiker folgenden historischen Ausbildungen ästhetischer Lebenskunst. Sowohl in seiner blasierten Lebensgier wie in seinem rebellischen Einzelgängertum deckt sich „die romantische Vorstellung vom Vampir, des boshaften und charismatischen Einzelgängers mit der dandyistischen Selbstwahrnehmung“.107 Für den konsequenten Dandy führt sein parasitärer Narzissmus notwendig in die Amoralität – egal ob man die Züge dieses ‚vampirischen Ästhetizismus‘ nun bei Byron, Oscar Wilde oder wie hier bei Baudelaire untersucht.108 BAUDELAIRE Die Künstlichkeit ästhetischer Existenz hat Baudelaire in seinen Überlegungen zum Dandyismus als impassibilité umschrieben. Zusätzlich aber hat er diese vampirische Unempfindlichkeit als zentrales poetologisches Prinzip verstanden. Schon in seinem programmatischen Epilogentwurf für die Fleurs du mal („adressé à une dame“) hat er eine sadomasochistische Triebkraft seines explizit ironischen Schreibens – „je suis le vrai représentant de l’ironie“109 – benannt. 104 Allgemein ästhetisch vgl. dazu Liessmann, Konrad Paul, Ohne Mitleid. Zum Begriff der Distanz als ästhetische Kategorie mit ständiger Rücksicht auf Theodor W. Adorno, Wien, 1991. 105 Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, S. 44. Der Erotiker und verderbliche Mäeutiker Sokrates wird zudem beschrieben als „Menschenfresser“ (ebd., S. 216). Das Aristophanes-Zitat stammt aus den Wolken (V. 810) und wird von Kierkegaard in extenso zitiert (ebd., S. 144). 106 Antal, Éva, „Vamp-Irony. The Bestiality of the Socratic Irony“, in: Monsters and the Monstrous. Myths & Metaphors of the enduring evil, hrsg. v. Paul L. Yoder und Peter Mario Kreuter, Oxford, 2004, S. 191–202, hier S. 199. 107 Fratz, Kristine, Dandy und Vampir. Die Sehnsucht nach Ungewöhnlichkeit, St. Augustin, 2001, S. 48 f. 108 Nina Auerbach (Our Vampires, ourselves, Chicago, 1995, S. 83) zufolge ist „Dracula’s primary progenitor […] not Lord Ruthven“, der von Byrons Leibarzt nach dessen Vorbild gezeichnete Held der ersten überlieferten Vampirnovelle, Polidoris The Vampyre (1819), „but Oscar Wilde“. 109 „L’amour ne me reposera pas. – La candeur et la bonté sont dégoûtantes. – Si vous voulez me plaire et rajeunir les désirs, soyez cruelle, menteuse, libertine, crapuleuse, et voleuse; – et si vous ne voulez pas être cela, je vous assommerai, sans colère. Car je suis le vrai représentant de

II. HANTHOLOGIEN I–IV

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Diese Motive von libertiner Grausamkeit, krankhaft unstillbarem Begehren und ironisch distanzierter, heroischer Melancholie werden besonders in Baudelaires Vampirgedichten thematisch fassbar. „Toi qui, comme un coup de couteau, Dans mon cœur plaintif est entrée;“110

wird „Le Vampire“ mit einem Generalthema traditioneller Misogynie eingeleitet und mit der brutalen Einsicht in das trügerische Versprechen jedes Begehrens beendet: „Imbécile! – de son empire Si nos efforts te délivraient, Tes baisers ressusciteraient Le cadavre de ton vampire!“111

Noch deutlicher die Worte einer Prostituierten in dem zunächst von der Zensur verbotenen Gedicht „Les Métamorphoses du Vampire“: „Moi, j’ai la lèvre humide, et je sais la science De perdre au fond d’un lit l’antique conscience. Je sèche tous les pleurs sur mes seins triomphants, Et fais rire les vieux du rire des enfants.“

In postkoitaler Erschöpfung antwortet ihr Bettgenosse im zweiten Teil des Gedichts: „Quand elle eut de mes os sucé toute la moelle, Et que languissamment je me tournai vers elle Pour lui rendre un baiser d’amour, je ne vis plus Qu’une outre aux flancs gluants, toute pleine de pus! Je fermai les deux yeux, dans ma froide épouvante, Et quand je les rouvris à la clarté vivante, À mes côtés, au lieu du mannequin puissant Qui semblait avoir fait provision de sang, Tremblaient confusément des débris de squelette, Qui d’eux-mêmes rendaient le cri d’une girouette Ou d’une enseigne, au bout d’une tringle de fer, Que balance le vent pendant les nuits d’hiver.“112

Der Vampir ist hier eine die Lebenskräfte des Protagonisten aussaugende Prostituierte. Letzteres ist sie nicht einfach von Berufs wegen, sondern determiniert durch ihr Geschlecht. Damit scheint Baudelaire eine lange Tradition metaphysil’ironie, et ma maladie est d’un genre absolument incurable.“ (Baudelaire, Charles, „Notices, Notes et Variantes“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 789–1224, hier S. 984 f.) 110 Baudelaire, Charles, Les Fleurs du Mal, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 1–145, hier S. 33. Eine eingehende stilistische Analyse von Baudelaires Gedichten kann hier nicht geleistet werden. Allgemein zum teilweise „parasitären Versmaß“ in den Fleurs du mal sowie der „satanischen Wendung“ Baudelaires vgl. Greiner, Thorsten, Ideal und Ironie. Baudelaires Ästhetik der „modernité“ im Wandel vom Vers- zum Prosagedicht, Tübingen, 1993. 111 Baudelaire, Les Fleurs du Mal, S. 34. 112 Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. 1, S. 159.

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G. METAPHYSISCHE ENTGRENZUNGEN

scher Sexualfeindlichkeit fortzusetzen, deren zentrale philosophische Frage stets der Verbindung zwischen Seele und Körper galt. Am prägnantesten ausformuliert ist das in einem, wenn nicht dem zentralen lebenstheoretischen Text der frühen Neuzeit, Marsilio Ficinos drei Büchern über das Leben, De vita libri III.113 Blut kommt darin eine für die gesamte neuplatonische Ontologie bedeutende Schlüsselstelle zu, nämlich zwischen Geist und Materie zu vermitteln. Zugleich entwirft Ficino eine spekulative kosmologische Theorie, die auf epochemachende Weise misogyne Materiefeindlichkeit mit der Personifikation ontologischer Prostitution (ontological whoredom) als einer blutsaugenden mythischen Venus verbindet.114 FORM UND MATERIE Lässt man die angstbeladenen geschlechtsspezifischen Polarisierungsversuche beiseite, dann zeigt sich das (gleich ob männliche oder weibliche) Vampirische als eine Heimsuchung der traditionellen ontologischen Disjunktionen von aktiver Form und passivem Stoff, von männlicher Seele und weiblichem Leib. Was Vampire philosophisch unheimlich macht, ist, überspitzt zitiert, der existenzielle Widerstand gegen den aristotelischen Glauben, dass „die vollendete Form“ nicht „nach sich selbst streben“ kann, sondern es immer „dies [Strebende] der Stoff [ist], so wie wenn Weibliches nach Männlichem und Hässliches nach Schönem [begehrt]“.115 Ebenso ist das von Vampiren begehrte Blut ein weder rein formales noch bloß stoffliches Medium; mit ihm sich zu vermengen, verspricht den Gegensatz von aktivem Geist und passivem Fleisch aufzuheben. Es sind diese Motive einer (neu)platonischen und aristotelischen Verklärung des ‚unsagbaren Geschlechterverhältnisses‘ (Lacan116), die Baudelaire aufnimmt und ästhetisch rekonfiguriert. Konträr zu obigen Reduktionen der Verführungs113 Ficino, Marsilio, Three Books on Life, New York, 1989. Ficino verbindet auf originelle Weise eine neoplatonische Stufenlehre des Kosmos (von reinem, göttlichen Geist, spiritus, bis zu profaner Körperlichkeit, mit einer dämonischen Seele als Zwischenfigur und Vermittler) mit antiken (aristotelischen, vor allem aber galenischen) Theoremen, welche Blut eine zentrale Rolle als Lebenselixier zusprachen. 114 Es handelt sich um kastrierende „Lamiae, that is lascivious and Venereal demons who take up the shape of beautiful girls and entice handsome men; as the serpent with its mouth sucks the elephant, so they likewise suck those men, using their genital opening as a mouth, and drain them dry [exhauriant]“ (Ficino, Three Books on Life, S. 355). Zudem ist es Blut in maximalster Verdünnung, welches aus den Augen strahlend überhaupt erst die Verführung bewirkt. Vgl. in diesem Zusammenhang Kodera, Sergius, „Ethereal Blood and Lady Vampires. On Blood, Body and the Preservation of Life in Marsilio Ficino’s De vita libri III“, in: Bios, Eros og Thanatos in Ancient and Early Modern Philosophy, hrsg. v. Vigdis Songe-Möller und Viebeke Tellmann, Bergen, 2002, S. 71–94 (dort auch zu David Boyarins Formulierung eines „ontological whoredom“, S. 81). 115 Aristoteles, Physik, Hamburg, 1987, Buch 1, Kap. 9 (192a), S. 47. 116 Lacan zufolge handelt es sich bei den Termen „aktiv und passiv […], die alles beherrschen, was über das Verhältnis von Form und Stoff gedacht worden ist, dieses so fundamentale Verhältnis, auf das sich jeder Schritt von Platon bezieht, dann von Aristoteles, hinsichtlich dessen, was es mit der Natur der Dinge auf sich hat“, um Bestimmungen, die „sich nur auf ein Phantasma stützen, durch das sie versucht haben, dem zu supplieren, was auf keine Weise sich sagen kann, nämlich das Geschlechterverhältnis“ (Lacan, Jacques, „Eine Lettre d’amour“, in: ders., Das Seminar, Buch XX, Weinheim, 1975, S. 89).

II. HANTHOLOGIEN I–IV

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kraft von Vampiren hat er nämlich auch einer medialer Ironie analogen Form von ästhetischem Vampirismus literarischen Ausdruck gegeben. Die damit einhergehende klinische Purifizierung eines vom Sex losgelösten Begehrens findet in „L’Héautontimorouménos“ („Der Selbsthenker“) ihre präziseste Reflexion innerhalb seiner erotologischen Poetik vampirischer Ironie. „Je te frapperai sans colère Et sans haine, comme un boucher, […] Mon désir gonflé d’espérance Sur tes pleurs salés nagera […] Ne suis-je pas un faux accord Dans la divine symphonie, Grâce à la vorace Ironie Qui me secoue et qui me mord? […] Je suis la plaie et le couteau! Je suis le soufflet et la joue! Je suis les membres et la roue, Et la victime et le bourreau! Je suis de mon cœur le vampire, – Un de ces grands abandonnés Au rire éternel condamnés, Et qui ne peuvent plus sourire!“117

Jede Form (traditionell: maskuliner) Aggression zeigt sich hier als Autoaggression. Hass ist Selbsthass, und Sadismus erweist sich, wo Baudelaires cœur mis à nu offen liegt, als Masochismus. „Il serait peut-être doux d’être alternativement victime et bourreau“118, lautet die auch ethische Variation vampiristischen Denkens, die einem prinzipiellen Vergleich korrespondiert, dem zufolge „[i]l y a dans l’acte de l’amour une grande ressemblance avec la torture, ou avec une opération chirurgicale“. „Self purification and anti-humanity“ lautet dann der nächste – im Original englische – Eintrag im Abschnitt IX der Fusées, der bezeichnenderweise einsetzt mit dem epigrammatischen „Auto-idolátrie“, also dem Verweis auf ein ganz auf sich selbst bezogenes, selbstvampirisierendes Begehren.119 Künstlerisches Leben laboriert an dem Paradox, an sich selbst zu saugen und sich dabei selbst zu zerstören. Präziser lässt sich das vampirische Moment ironischer Verfahrensweisen, seien diese nun als Sprechakte oder Lebensformen verstanden, nicht fassen.

117 Baudelaire, „L’Héautontimorouménos“, in: ders., Les Fleurs du Mal, S. 87 f. 118 Baudelaire, Charles, „Journaux intimes“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 1, S. 647–710, hier S. 676. 119 Ebd., S. 658 f.

356

G. METAPHYSISCHE ENTGRENZUNGEN

III. DISJUNKTIVE DIALEKTIK (HEGEL VS. DELEUZE) III. DISJUNKTIVE DIALEKTIK (HEGEL VS. DELEUZE)

PAS-AKTIVITÄT Sowohl die Abfolge der vier Hanthologien als auch die vampirische Aufhebung der Pole von lebendig/tot, aktiv/passiv und Form/Materie selbst lassen sich unter dem Gesichtspunkt einer zunehmenden Materialisierung analysieren. Die Logik dieses Zusammen-Brechens von Gegensätzlichem verläuft nach einem Muster ‚disjunktiver Dialektik‘, die ich als eine materialistische Radikalisierung von Hegels dialektischer Methode verstehe. Schon Hegels Dialektik ist gegen metaphysische Polarisierungen gerichtet, greift diese aber oft nur auf, um deren problematische Momente auf einer Ebene höherer Komplexität wieder einzusetzen. Der im vampirischen Begehren aufgelöste ‚aktive Formbegriff‘ etwa erfährt in dem „Grund“ betitelten Kapitel der Wissenschaft der Logik seine dialektische Aufhebung. Denn es kann „nicht gefragt werden, wie die Form zum Wesen hinzukomme, denn sie ist nur das Scheinen desselben in sich selbst, die eigene ihm inwohnende Reflexion“.120 Aber auch als Gegenüber von Materie hält sich der abstrakte Formbegriff nicht. Form und Materie sind dialektisch miteinander verschränkt. „Die Materie muß daher formiert werden, und die Form muß sich materialisieren, sich an der Materie die Identität mit sich oder das Bestehen geben.“121 So verstanden ist Materie ein Medium, in dem sich aktive und passive Prinzipien durchdringen. Nicht einfach passiv und nicht-aktiv (pas active), kann das die ‚pasactive Medialität der Materie‘ genannt werden. Das wird deutlicher noch an den in ihr eigentümlichen operativen Funktionen der Wesenslogik: Das abschließende, schon auf die Begriffslogik vorausweisende Kapitel behandelt die entsprechenden Kategorien ‚Verhältnis‘, ‚Kausalität‘ und vor allem ‚Wechselwirkung‘. Letztere stellt „sich dar als eine gegenseitige Kausalität von vorausgesetzten, sich bedingenden Substanzen; jede ist gegen die andere zugleich aktive und zugleich passive Substanz. Indem beide hiermit sowohl passiv als aktiv sind, so hat sich bereits jeder Unterschied derselben aufgehoben; er ist ein völlig durchsichtiger Schein; sie sind Substanzen nur darin, dass sie die Identität des Aktiven und Passiven sind.“122

Die Ursache hat an ihr selbst, durch sich selbst gesetzt, etwas Äußerliches, die „durch ihre Aktivität selbst gesetzte Passivität. – Die Kausalität ist bedingt und bedingend; das Bedingende ist das Passive, aber ebenso sehr ist das Bedingte passiv“.123 Die Durchdringung von Aktivem und Passivem in der Materie verdoppelt sich somit in den unterschiedlichen operativen Polen der Logik selbst (nicht nur das Bedingte, sondern auch das Bedingende erweist sich als passiv bestimmt). Auch deswegen ist die hier spekulativ skizzierte Pasaktivität ein doppeltes materiologi120 121 122 123

Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 87. Ebd., S. 90. Ebd., S. 238. Ebd.

III. DISJUNKTIVE DIALEKTIK (HEGEL VS. DELEUZE)

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sches Konzept. Diese Dopplung entspricht den, neben der zurückblickenden Grenzbestimmung der Ironie, beiden Stoßrichtungen des vorliegenden Kapitels: einerseits der ontologischen Einholung von zuvor meist rein rhetorologisch bedachten Reflexionsmomenten, andererseits dem dazu notwendigen Versuch einer (materialen) Ausweitung des Geltungsbereichs zentraler Begriffe der Hegel’schen Logik. ALLGEMEINES UND BESONDERES Die Notwendigkeit einer solchen Ausweitung zeigt sich beispielhaft an dem ersten, „die Subjektivität“ betitelten Abschnitt der „Lehre vom Begriff“, welcher im Gegensatz zum dritten Abschnitt der Wesenslogik statt „der Wirklichkeit“ nun „den Begriff“ behandelt. Hegel bremst hier seine dialektische Verve. Dass seine Untersuchungen zur Subjektivität mit einer Theorie des Begriffs beginnen, indiziert bereits eine klare theoretische Vorentscheidung. Immanente Reflexion kann nun nur diejenige des Begriffs sein, welcher nur als Allgemeines (die Totalität des Begriffs!) Konkretes ist. „Das Allgemeine ist daher die freie Macht; es ist selbst und greift über sein Anderes über; aber nicht als ein Gewaltsames, sondern das vielmehr in demselben ruhig und bei sich selbst ist. Wie es die freie Macht genannt worden, so könnte es auch die freie Liebe und schrankenlose Seligkeit genannt werden, denn es ist ein Verhalten seiner zu dem Unterschiedenen nur als zu sich selbst“.124

In dieser pazifizierenden Zurichtung geht das dialektische Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem auf Kosten des Partikularen. Mit Bezug auf die Frage nach den Außengrenzen der Ironie kann nun zunächst auf Herder verwiesen werden, der Ironie schon Ende des 18. Jahrhunderts als Spiel zwischen Allgemeinem und Besonderem verstanden hat. Und im Zusammenhang einer Diskussion von Ironie als Reflexionslogik taucht diese Zusammenstellung auch danach immer wieder auf. Dabei kann Ironie entweder ein „nichtdialektisierbares“ Moment zugeschrieben werden125 – oder aber es wird ihr als Kunst der Fragen und Probleme gerade ein unüberwindbares dialektisches Moment vorgeworfen. Deleuze etwa schien Ironie philologisch mit einem platonischen Verständnis von Dialektik engzuführen – eine Gleichsetzung der dialogischen Mastertrope Ironie mit Dialektik, wie sie ein halbes Jahrhundert zuvor schon Kenneth Burke vertreten hatte.126 So verstandene mäeutische Ironie operiert analog dialektischer Gesprächsführung; sie ist argumentative Prüfung der doxa des Gegenübers im Dienste der Wahrheit. Wiederum anders lautete Hegels Vorwurf gegen Schlegels Kunsttheorie und die ihr eigentümliche Form reflexiver, sich immer höherpotenzierender Wechsel124 Ebd., S. 277. 125 Vgl. hierzu Behler, Ironie und literarische Moderne, S. 169; dort auch (S. 42–44) die entsprechenden Passagen Herders. 126 Vgl. Burke, Kenneth, A Grammar of Motives, New York, 1945, S. 503. In seinem abschließenden Exkurs zu „four master tropes“ beschreibt Burke die Metapher als Perspektive, Metonymie als Reduktion, Synekdoche als Repräsentation und die einzige dialogische Trope Ironie als dialektisch.

358

G. METAPHYSISCHE ENTGRENZUNGEN

bestimmung. Sowohl philologisch (Ironie als korrupte Nachfolge von Fichtes tendenziell noch mit einem transparenten Ich operierender Dialektik) als auch inhaltlich ist Hegels Ironiekritik plausibel, nur muss deswegen nicht das damit einhergehende Werturteil übernommen werden. Ganz im Gegenteil lässt gerade eine Relektüre von Hegels Ironiekritik das teleologische Moment seiner synthetischen Dialektik sichtbar werden. Denn Ironie bewegt sich nicht zwischen aufhebbaren Polen, etwa von Allgemeinem und Besonderem. Als sich ständig weiterpotenzierende lässt ironische Reflexion die unterschiedlichen Aussagen oft unvermittelt und unversöhnt bestehen. Ja gerade dass sie in einer Aussage auch die andere impliziert, führt zu einer gegenseitigen Zuspitzung der unterschiedlichen Aussagegehalte. Ironische Reflexion kann somit als Operator einer Intensivierung fungieren, die eher zu einer markanten Stärkung einander durchdringender, aber gleichwohl disparater Pole führt, als diese einer synthetischen Auflösung zuzuführen. Jede ironische Aussage beharrt auf sich, und zugleich sagt sie anderes als sich. Je mehr sie anders spricht, desto extremer unterscheidet sie sich von dem gleichwohl durch sie durchscheinenden Inhalt. Was in der Folge als ‚disjunktive Dialektik‘ auf den Begriff gebracht werden soll, hat zunächst einen negativen, in der Terminologie der Frühromantiker: ‚annihilierenden‘ Aspekt. NEGATIVE DIALEKTIK Fichte war in den Überlegungen zu seiner Wissenschaftslehre einst auf dialektische Bezüge der Wechselbestimmung zwischen Ich und Nicht-Ich gestoßen. Dieses Moment nimmt Adorno in seinem Versuch einer rettenden Konzeption von Dialektik auf. Denn einzig „sofern es seinerseits auch Nichtich ist, verhält das Ich sich zum Nichtich, ‚tut‘ etwas, und wäre dieses Tun Denken. Denken bricht in zweiter Reflexion die Suprematie des Denkens über sein Anderes, weil es Anderes immer in sich schon ist.“127

Gerade den Autoritätsverlust rationalen Denkens hatte Hegel aber unter Verweis auf den unendlichen Regress an der ironischen (oder ästhetischen) Weiterpotenzierung der Reflexion beanstandet und verurteilt. Adornos Ansatz kann nun als Versuch einer Verbindung dieser beiden divergenten Ansätze verstanden werden. Seine rettende Lektüre der Hegel’schen Dialektik zielt auf eine Reflexion zweiter Potenz. Diese soll zugleich weder der Machtlosigkeit positivistischen Denkens noch der identifizierenden Logik Hegels verfallen. Das von Adorno skizzierte „Denken braucht nicht an seiner eigenen Gesetzlichkeit sich genug sein zu lassen; es vermag gegen sich selbst zu denken, ohne sich preiszugeben; wäre eine Definition von Dialektik möglich, so wäre das als eine solche vorzuschlagen […]. Dialektik ist, als philosophische Verfahrungsweise, der Versuch, mit dem ältesten Medium der Aufklärung, der List, den Knoten der Paradoxie zu entwirren. Nicht zufällig war das Paradoxon seit Kierkegaard die Verfallsform von Dialektik“128

und zugleich stetes Indiz von Ironie. 127 Adorno, Theodor W., Negative Dialektik, Frankfurt am Main, 1992, S. 201. 128 Ebd., S. 144 f.

III. DISJUNKTIVE DIALEKTIK (HEGEL VS. DELEUZE)

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Zwar gesteht Adornos Ästhetische Theorie Kunstwerken ästhetische Immanenz durch Ironie zu, aber ansonsten findet sich kaum eine explizite Thematisierung von Ironie in Adornos philosophischen Hauptwerken. Aber nicht nur aus solchen philologischen Gründen muss gegen die von Kierkegaard postulierte These einer „negative[n] Dialektik“129 der Ironie Einspruch erhoben werden.130 Der Unterschied zwischen ironischer und negativer Dialektik liegt letztlich in einer bestimmten Kapazität ironischer Reflexion, ihrem Hang zu Absurdität und Paradox. Nur teilweise nämlich ist für Schlegel „Ironie […] Analyse der These und der Antithese“.131 Zugleich weiß Schlegel um den paradoxen Gehalt seiner Intuitionen: „Die groteske Philosophie scheint nah an der Ironie zu sein.“132 Genau dieses letzte, mit gewollter Unverständlichkeit verbundene Moment von Unvernünftigkeit ist es aber, das aus der Sicht von Adornos primär ethisch bestimmter negativer Dialektik suspekt erscheinen muss. Speziell im Zusammenhang von Kunstwerken hat dagegen Niklas Luhmann von einer „Wahrheitsoszillation des Paradoxes“133 gesprochen. Damit liegt er näher als Adorno an einem radikalisierten Verständnis des Paradoxen, wie es auch Schlegel dort propagiert, wo er ‚Sinn‘ nicht sehnsuchtsvoll als unendlich aufgeschobenen versteht. „Paradoxien sind nichts anderes als Darstellungen der Welt in der Form der Selbstblockierung des Beobachtens.“134 An diversen Stellen seiner Kunst der Gesellschaft behilft sich Luhmann dabei mit dem paradoxen Begriffs der ‚re-entry‘: Durch den Künstler/Beobachter zweiter Ordnung bringe „re-entry der Erzeugungsoperation in das erzeugte Werk die Paradoxie“135 hervor. Denn was eigentlich nicht möglich sein sollte, geschieht doch paradox – auch und gerade in Kunstwerken. Der Paradoxie gelingt es, „die Beobachtung, die sich auf sie beziehen, sie bezeichnen will, in der Form einer Kurzzeitoszillation still[zustellen].“136 REFLEXION Hegels Überlegungen zur ‚Reflexion‘ selbst können helfen, dieses paradoxe Oszillieren auch als ironisches zu identifizieren, wobei seine „Dialektik der Reflexion“ Dieter Henrich und Slavoj Žižek zufolge als „Matrix des dialekti-

129 Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, S. 139. 130 Jochen Hörischs vehementer Unterscheidung frühromantischer Theorieansätze von denen Adornos etwa ist zuzustimmen – nicht unbedingt jedoch seiner Bewertung. Vgl. dazu Hörisch, Jochen, „Herrscherwort, Geld und geltende Gesetze. Adornos Aktualisierung und ihre Affinität zur poststrukturalistischen Kritik des Subjekts“, in: Materialien zur ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos. Konstruktion der Moderne, hrsg. v. Burkhardt Lindner und Martin Lüdke, Frankfurt am Main, 1980, S. 397–414. 131 Schlegel, Sta, Bd. 5, S. 218. 132 Ebd., S. 40. 133 Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 192. 134 Ebd., S. 191. 135 Ebd., S. 123; zur paradoxen „re-entry“ vgl. auch S. 78 sowie 174: „An dieser Stelle müssen wir erneut mit dem (paradoxen) Begriff der re-entry aushelfen.“ 136 Ebd., S. 73.

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G. METAPHYSISCHE ENTGRENZUNGEN

schen Prozesses“137 insgesamt zu lesen ist. Analog etwa Novalis’ innovatorischer Bestimmung der Reflexion als Urreflexion bestimmt auch Hegel sie paradoxal: „Die Reflexion also findet ein Unmittelbares vor, über das sie hinausgeht und aus dem sie die Rückkehr ist. Aber diese Rückkehr ist erst das Voraussetzen des Vorgefundenen. Dies Vorgefundene wird nur darin, daß es verlassen wird; seine Unmittelbarkeit ist die aufgehobene Unmittelbarkeit […]. Damit ist dieses Ankommen bei sich das Aufheben seiner und die [sich] von sich selbst abstoßende, voraussetzende Reflexion, und ihr Abstoßen von sich ist das Ankommen bei sich selbst. Die reflektierende Bewegung ist somit nach dem Betrachteten als absoluter Gegenstoß in sich selbst zu nehmen.“138

In der Beziehung auf sich selbst findet Reflexion in sich statt. Jedes Gesetztsein ist damit dialektisch verstanden bereits ein Aufgehobensein. An diversen Stellen seiner großen Logik arbeitet Hegel mit dieser herkömmlicher Logik widersprechenden, explosiven Logik eines Sich-Abstoßens von sich selbst. Meist denkt er diese Logik aber als eine Rückkehr in Vorausgesetztes, weil er die spekulative Dialektik doch letztlich als Gang des sich selbst erfassenden Geistes versteht. Abgesehen von diesem bewahrenden Moment einer Rückkehr decken sich Hegels zitierte Überlegungen mit dem Performativ ungebremst potenzierter ironischer Reflexion. Diese Differenz ist jedoch eine ums ironische Ganze. Selbst wo Ironie im Dienste romantischer Sehnsucht auf ein Absolutes abzielend verstanden wird, bleibt es in all ihren logischen Ausdifferenzierungen bei einem Oszillieren, bei einem Schweben zwischen Gegensätzen. Das widerstrebt Hegels ständigem Versuch, ausgleichende Gewichtungen zum Zwecke der Arretierung des reflektierten Schwebens und Strebens (romantischer Sehnsucht) einzuführen. Hegel versucht solcher Sehnsucht, die, in Dieter Henrichs kompaktem Resümee, „schlechte, […] abstrakte Unendlichkeit“139 und beunruhigendes Indiz unendlicher Unabgeschlossenheiten ist, Einhalt zu gebieten. Aber auch ein (rhetorologisch drittes) radikalisiertes Ironieverständnis übersteigt diese zweite, melancholische Disposition der Ironie. Das auch dialektische Skandalon dieser unvernünftigen Ironie ist es nun nicht nur, sich in jener schlechten Unendlichkeit gut einzurichten, mit der sie aus Sicht der Proponenten ‚beherrschter Ironie‘ identifiziert wird. Schlimmer noch ist die (rhetorologisch dritte) ironische Tendenz, mittels hypertropher Reflexion noch über die Instanz eines Absoluten hinauszugehen. Solche Ironie verweigert sich – und ihrer Aufhebung das Recht. Die Differenz zwischen der hier skizzierten ironischen Dialektik und derjenigen Hegels zeigt sich deutlich an ihren unterschiedlichen Relativierungen von ‚Subjektivität‘. Das seiner selbst und des kontrollierten Einsatzes seiner Ironie bewusste Subjekt hat sich als nur eine erste Variante und eher als Ausnahmefall 137 Žižek, Slavoj, Der erhabenste aller Hysteriker. Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus, Wien, 1992, S. 189. Das ist auch schon die These von Dieter Henrichs Hegel im Kontext, Frankfurt am Main, 1981 (vgl. speziell das Kapitel „Hegels Logik der Reflexion“, S. 95–156). 138 Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 27. 139 Henrich, Hegel im Kontext, S. 29.

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denn als Regel ironischer Rede erwiesen. In jedem Fall wird das ironische Subjekt, wird das Subjekt in der Ironie durch die im ironischen Sprechakt angelegte Weiterpotenzierung der Reflexion potenziell destabilisiert. Es ist diese sprachlich induzierte Weiterpotenzierung, die bei Hegel teleologisch aufgefangen und arretiert wird. Die Hegel’sche Relativierung des Subjekts folgt umgekehrt eher der Logik einer Aufhebung im Dienste des Allgemeinen, nicht der Hoffnung auf Rettung des Partikularen. Die prägnantesten Formulierungen hierzu findet Hegel gerade im Zusammenhang einer Kritik unendlicher Reflexion. In der Einleitung zur „Lehre vom Begriff“ heißt es dazu: „Diese unendliche Reflexion in sich selbst, daß das Anundfürsichsein erst dadurch ist, daß es Gesetztsein ist, ist die Vollendung der Substanz. Aber diese Vollendung ist nicht mehr die Substanz selbst, sondern ist ein Höheres, der Begriff, das Subjekt. Der Übergang des Substantialitätsverhältnisses geschieht durch seine eigene immanente Notwendigkeit und ist weiter nichts als die Manifestation ihrer selbst, daß der Begriff ihre Wahrheit und die Freiheit die Wahrheit der Notwendigkeit ist.“140

Diese Beförderung des Subjekts ist ambivalent. Die Höherhebung des Konzepts ‚Subjekt‘ erweist sich in der Tat als dessen Auslöschung. Wie jede Teleologie ist auch die Hegel’sche nicht vom Subjekt bestimmt. „Der teleologische Prozeß ist Übersetzung des distinkt als Begriff existierenden Begriffs in die Objektivität“.141 In dem Moment, wo Hegels Dialektik begrifflich wird, geht dies aber nicht nur auf Kosten von Subjektivität, sondern zugleich gegen Reflexion als prozessuale. Der Geist von Hegels Phänomenologie ist ein absoluter, welcher, teleologisch zu sich gekommen, um die Belanglosigkeit des Ich weiß. „Ich“ hat sich dort nicht mehr „in der Form des Selbstbewusstseins gegen die Form der Substantialität und Gegenständlichkeit festzuhalten, als ob es Angst vor seiner Entäußerung hätte“.142 Die Kraft des Geistes, das ist die Hegel’sche Beruhigungsformel, sei es, „in seiner Entäußerung sich selbst gleich zu bleiben“.143 Bei Hegel zielt ‚Denken‘ in Richtung des Allgemeinen, nicht wie ironische Reflexion auf dessen Zerlegung. Immer schon steht Ironie somit auch vor der Frage des Umgangs mit Partikularem und Disparatem. Von Beginn an ist ihr dabei die Option einer Einheit von Entgegengesetztem – und sei es die Hegel’sche Einheit von Einheit und Differenz – verwehrt. Ironie operiert zumeist in doppelter Weise. Einerseits ist sie der geübte Umgang mit unversöhnten Widersprüchen, und andererseits eignet ihr, als Resultat daraus, eine distanzierte Sensibilität. Nur einer solchen kann es gelingen, Widersprüche als solche zur Rede zu bringen, statt Singularitäten frühzeitig auszuschließen. So verstandene Ironie lässt auch Hegels Kritik an der mit ihr verwachsenen romantischen Subjektivität ins Leere laufen. Ironische Aussagen wis140 141 142 143

Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 248 f. Ebd., S. 454. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 588. Ebd. Analog ließe sich von einem Idealistischwerden des Romantikers Schelling gerade an der Stelle des System des transzendentalen Idealismus sprechen, wo dieser den Begriff teleologisch denkt: „[…] der Begriff des Begriffs, und dieser selbst ist der Begriff eines Zwecks außer dem Objekt“ (Schelling, System des transzendentalen Idealismus, S. 621).

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sen immer schon um ihr ausschließendes Anderes, um jenes Allgemeine, dem sie ausschließlich ihre subjektive Ausdrücklichkeit verdanken. Diese negierende Verbundenheit ironischer Aussagen gilt es nun mit einem, naturgemäß paradoxen, Konzept auf den Begriff zu bringen. DISJUNKTIVE DIALEKTIK Im Zusammenhang der Thematisierung von nicht-transzendenter Mystik und Sprachmagie haben sich im Anschluss an die Theorien Benjamins und Kristevas Fragen nach Überschneidungen und Durchdringungen von Körper, Welt und Sprache ergeben. Hier sind nun des Weiteren Deleuzes Überlegungen zu Lewis Carrolls ‚esoterischen Wörtern‘ heranzuziehen. Deren Kapazität, Verschiedenes, Unterschiedliches oder Disjunktes zu koordinieren, verweist auf einen auch für das begriffliche Verständnis der Außengrenzen von Ironie wichtigen Aspekt. So evoziert Carolls Beschreibung des Wortes ‚grommelig‘ ein schwebendes Gleichgewicht an Bedeutung(slosigkeit), das Hegels Bestimmungen diametral entgegengesetzt ist. Ausgangspunkt sind zwei unterschiedliche Wörter. „Wenn eure Gedanken auch nur ein weniges zu ‚grimmig‘ neigen, werdet ihr ‚grimmig-grollend‘ sagen; wenn sie sich, und sei es um die Breite eines Haares, zu ‚grollend‘ neigen, werdet ihr ‚grollend-grimmig‘ sagen; doch wenn ihr die seltenste aller Gaben besitzt, ein gänzlich ausgeglichenes Gemüt, dann werdet ihr sagen ‚grommelig‘.“144

Deleuze kommentiert diese Gedanken über solch ein stoisches Gemüt folgendermaßen: „Die notwendige Disjunktion erfolgt also nicht zwischen grollend und grimmig, da man sehr wohl beides zugleich sein kann, sondern zwischen grollend-und-grimmig einerseits und grimmig-und-grollend andererseits. In diesem Sinn besteht die Funktion des Schachtelworts immer darin, die Serie, in die es sich einfügt, zu verzweigen.“145

Daraus resultiert die Unterscheidung zwischen drei Möglichkeiten, Verschiedenes, im Fall der Logik des Sinns: verschiedene Serien, zu verbinden: die konnektive (wenn/dann), die konjunktive (und) sowie die disjunktive Synthese (oder).146 In Analogie dazu lassen sich auch die Unverständlichkeiten der Ironie verstehen. ‚Disjunktiv dialektisch‘ verfährt Ironie nun aber weniger auf der Wort- als auf der Sinnebene. Und sie tut dies angesichts von Disparatem, das sich von Gegensätzlichem oder Antithetischem insofern unterscheidet, als es sich herkömmlicher dialektischer Synthese verweigert. Wiederum lässt sich die spezifisch ironische Dialektik auch gegenüber Adornos negativer Dialektik kontrastieren. Für Adorno ist der Widerspruch „Index der Unwahrheit von Identität, des Aufgehens des Begriffenen im Begriff“.147 Da jedoch 144 145 146 147

Carroll, Lewis, Die Jagd nach dem Schnark, Frankfurt am Main, 1982, S. 13. Deleuze, Logik des Sinns, S. 69. Vgl. ebd., S. 69 f. Adorno, Negative Dialektik, S. 17.

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„Totalität sich gemäß der Logik aufbaut, deren Kern der Satz vom ausgeschlossenen Dritten bildet, so nimmt alles, was ihm nicht sich einfügt, alles qualitativ Verschiedene, die Signatur des Widerspruchs an. Der Widerspruch ist das Nichtidentische unter dem Aspekt der Identität.“148

Adorno setzt letztlich noch auf eine Selbstübersteigung der Dialektik im Dienste des ausgeschlossenen Dritten. Dagegen ist die Option disjunktiv synthetischer Ironie gerade die Verbindung von gänzlich Heterogenem. Nichts soll draußen bleiben, alles wird paradox in die ironische Aussage hineingenommen: Zwischen manifestem semantischem Inhalt und latentem ironischem Gehalt bleibt der Widerspruch erhalten. Gerade dadurch soll er ironisch zur Sprache kommen. Singuläres wird ironisch nicht mehr als Besonderes ausgesprochen; damit entzieht es sich der dialektischen Verbindung mit dem Allgemeinen. Letzteres ist aber genau Hegels Verfahrensweise noch dort, wo er Disjunktion thematisiert. Am deutlichsten wird dies, wenn er den „disjunktiven Schluss“ behandelt149, und, für die hier versuchte materiologische Entgrenzung der Ironie noch interessanter, in seinen Überlegungen zum „disjunktiven Urteil“. Völlig ungewohnt bei Hegel ist das zweite Kapitel („Das Urteil“) des ersten Abschnitts der Begriffslogik („Die Subjektivität“) in vier Abschnitte gegliedert, ein Indiz für die Schwierigkeiten, das disjunktive Urteil (als Punkt C. c. den Übergang zu „D. Das Urteil des Begriffs“ bildend) in eine dialektische Dreischrittlogik zu integrieren. Hegel situiert die Diskussion der Disjunktion dabei in einem Feld natürlich geordneter – einer Linné’schen und somit prädarwinistisch als kampf- und kraftlos gedachten – Teleologie, der Diskussion von Gattungen und Arten: „Konträr sind die Arten, insofern sie nur verschieden sind – nämlich durch die Gattung als ihre objektive Natur haben sie anundfürsichseiendes Bestehen –, kontradiktorisch, insofern sie sich ausschließen. Jede dieser Bestimmungen für sich ist aber einseitig und ohne Wahrheit; im Entweder-Oder des disjunktiven Urteils ist ihre Einheit als ihre Wahrheit gesetzt, nach welcher jenes selbständige Bestehen als konkrete Allgemeinheit selbst auch das Prinzip der negativen Einheit ist, wodurch sie sich gegenseitig ausschließen.“150

Zwei zusammenhängende Momente sind an Hegels Dialektik besonders hervorzuheben: erstens deren Verständnis als treibende Kraft im Prozess der Selbstaufhebung des Verstandes im Dienste der Vernunft (und gerade nicht der Unvernunft!); zweitens der Ausschluss der Disjunktion aus dem Bereich des Vernünftigen. Der Verstand setzt einen Inhalt als seiend, die Vernunft erkennt diesen als einseitig, und – dies ist unendliche Negativität als beherrschtes dialektisches Moment – die sich negierenden Gegensätze heben sich gegenseitig auf. Diese Aufhebung von stets symmetrisch als gegenteilig Angeordnetem ist die Garantie positiver Spekulation, in der sich die Vernunft selbst erkennt und die schon das Muster der platonischen Beherrschung sokratischer Ironie war. 148 Ebd. 149 Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik II , S. 398–401. 150 Ebd., S. 341.

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Schon der antike Philosoph Arkesilaos von Pitane hatte nach dem Vorbild der meist in Aporien endenden sokratischen Dialoge dagegen ein diametral entgegengesetztes Modell von Dialektik vorgeschlagen. Das dialektische Aufweisen von Problemen und Widersprüchen führt bei diesem Skeptiker des dritten vorschristlichen Jahrhunderts zu der ethischen und erkenntnistheoretischen Devise einer Zurückhaltung mit Urteilen, ja – ganz im Gegensatz zu Hegels Aufhebung des ‚disjunktiven Urteils‘151 – der radikalen Urteilsenthaltung (epoché). Die moderne Dialektik ist nun keine Methode der Gesprächsführung oder Argumentation, sondern konfrontiert mit Gegensätzen in den Dingen selbst. In Analogie dazu ist die moderne Ironie nun als eine solche zu verstehen, in der sich die Gegensätze nicht entkräften, sondern bestärken. Gegen die von einer widerspruchsfrei sich auflösenden Logik gesteuerte, scheinbar natürliche und vernünftige Ordnung ist Ironie seit mehr als zwei Jahrhunderten Amok gelaufen. Wer ironisch spricht, etwas ironisch ausspricht, ist dies nicht. Der ironisch Sprechende ist auch nicht das Gegenteil von dem, was er sagt. Ironisch ist man nicht nur beides (Gesagtes und sein Anderes), sondern alles zusammen: eine Vielzahl von Möglichkeiten. Die ganze Tonleiter von mitschwingenden Bedeutungen und Echos jeder Aussage wird in der ironischen noch weiter potenziert. ‚Ich bin das alles, bin es aber nicht‘, lautete schon der zugespitzte Vorwurf Hegels: „Ich bin auch dabei und darin, aber auch noch weiter als Ihr, ich bin auch darüber hinaus und kann es so oder so machen.“152 Und in der Tat behauptet man ironisch so einiges und auch anderes, oder Gegenteiliges – und bezieht keine dieser gleichwohl dialektisch aneinander gebundenen Positionen wirklich. Wenn es ein ironisches Denken gibt, dann „manifestiert [es] sich nicht im gesunden Menschenverstand, sondern im Paradox“, als „Pathos oder Passion der Philosophie“153 und des Denkens der hier gezeichneten ironischen Moderne. Das Risiko der Unsinnigkeit, der krassen Unvernunft, muss Ironie immer eingeschrieben sein. Anders kann nicht versucht werden, Unmögliches oder Absurdes zu denken. Und nichts anderes als paradox und absurd ist die disjunktive Dialektik der Ironie.154 Absurd ist die Idee, ironisch zu sprechen; paradox die Hoffnung, 151 Der Sinn der Aufhebung des disjunktiven Urteils zeigt sich nachdrücklich auch innerhalb des Abschnitts „Das Urteil des Begriffs“ in dessen drittem Teil „c. Das apodiktische Urteil“: „Das Subjekt des apodiktischen Urteils (das Haus so und so beschaffen ist gut, die Handlung so und so beschaffen ist recht), hat an ihm erstens das Allgemeine, was es sein soll, zweitens seine Beschaffenheit; diese enthält den Grund, warum dem ganzen Subjekt ein Prädikat des Begriffsurteils zukommt oder nicht, d. i. ob das Subjekt seinem Begriffe entspricht oder nicht. – Dieses Urteil ist nun wahrhaft objektiv; oder es ist die Wahrheit des Urteils überhaupt. Subjekt und Prädikat entsprechen sich und haben denselben Inhalt, und dieser Inhalt ist selbst die gesetzte konkrete Allgemeinheit; er enthält nämlich die zwei Momente, das objektive Allgemeine oder die Gattung und das Vereinzelte.“ (Ebd., S. 349.) 152 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 279. 153 Deleuze, Differenz und Wiederholung, S. 288; vgl. zu diesem Thema auch Schapers, Susanne, Ironie und Absurdität als philosophische Standpunkte, Würzburg, 1993. 154 Zu einer Unterscheidung von zwei Formen des Absurden und des Unsinns als a) regressiver Synthese (einer Menge, die sich selbst als Element einschließt) und b) disjunktiver Synthese

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aus der extremen Spannung des ironischen Performativs könnte Verständigung anders auftauchen. Ironisch ist somit letztlich noch der Versuch, das Bewusstsein der unumgänglichen Unsinnigkeit solcher Versuche performativ mitzukommunizieren. Von der Notwendigkeit kommunikativer Paradoxien gibt Ironie, noch in der Produktion offensichtlichen Widersinns, ein sicheres Gefühl von Unsicherheit. Die so weitreichende Formulierung einer „Disjunktion in Extreme“, findet sich bei Hegel im Zusammenhang einer Diskussion des „Übergang[s] des Chemismus“155. Als ein Versuch, das Recht dieser radikalisierenden Dialektik auch für Phänomene menschlichen Geistes einzufordern, hat sich demgegenüber der erstmals von Schlegel vorgebrachte Einsatz der Ironie erwiesen. Seitdem ist Ironie nicht mehr wie in einer lange anhaltenden platonisch-hegelianischen Tradition ein beherrschbares mäeutisches Prinzip im Dienste der spekulativen Ideenlehre. Für Schlegel ist umgekehrt eine Idee selbst „ein bis zur Ironie vollendeter Begriff, eine absolute Synthesis absoluter Antithesen, der stete sich selbst erzeugende Wechsel zwei streitender Gedanken“.156 Identität somit von Idee als ironischer und Idee der Ironie. Das ironische Ideal der Ironie als zugleich letztgültige Idee über Ironie. Widersprüche inklusive.

(ein Element, welches die vorausgesetzte Menge unterteilt) vgl. Deleuze, Logik des Sinns, S. 95. „Die Kraft der Paradoxa besteht darin, daß sie nicht widersprüchlich sind, sondern uns der Entstehung des Widerspruchs beiwohnen lassen.“ (Ebd., S. 101.) 155 Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 434. 156 So der Beginn des Athenäumsfragments 121, S. 115.

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DANKSAGUNG

Mit der Danksagung muss auch die Ironie an ihr Ende kommen und dies nicht zuletzt aus dem traurigen Grund, dass ich einigen wichtigen Gesprächspartnern der letzten Jahre nun nicht mehr persönlich danken kann: Garbis Kortian und Michael Turnheim für ihr Vorbild als Lehrer und ihre Freundschaft sowie Gert Mattenklott für seine Unterstützung und Kritik als Zweitgutachter der diesem Buch zugrunde liegenden Bielefelder Dissertation. Am Leitfaden ihrer Theorien über Melancholie erinnere ich die intensiven Jahre der Lektüre und des Schreibens und die vielen Menschen in Frankreich und England, die in vorliegendem Text ihre Spuren hinterlassen haben. Mein besonderer Dank gilt den Freunden und Mitbewohnern in Paris, insbesondere Theresa Geissler und Mario Horta, die mir bei der Erstkorrektur behilflich waren, sowie Jacques Rancière für seine Liebenswürdigkeit, Gesprächsbereitschaft und sein frühes Interesse an meiner Arbeit. Nach London geht mein Dank an die Familie Scrimgeour, in deren Garten ich in besonderen Stunden das Gefühl hatte meine Ideen und mein Schreiben seien der in ihrem Haus genossenen Gastfreundschaft nicht ganz unwürdig. Für wichtige Kommentare und Kritik, weit reichende Einwände und philologische Rettungsdienste, die in Berlin die Verwandlung der Dissertation in ein Buch beförderten, danke ich Thomas Brandstetter, Jan Niklas Howe, Daniel Illger, Susanne Leeb, Frank Ruda, Jan Völker und vor allem Barbara Wittmann, sowie für spannende gemeinsame Seminarstunden zum Thema Juliane Rebentisch (und den Studenten in Potsdam und an der Freien Universität Berlin). Lina Kokaly, Norbert Richter, Olga Katharine Schwarz und Sylvia Zirden haben mich schließlich bei der Endkorrektur und der Einrichtung des Manuskripts unterstützt. Insbesondere aber habe ich dem Betreuer der Dissertation und ständigen Begleiter meiner Gedanken zur Ironie, Karl Heinz Bohrer, zu danken: für seinen unerbittlich chevaleresken Ansporn und für all die frohen Abende, wann und wo immer wir uns treffen. Zugeeignet kann dieses Buch nur jener Person werden, der ich alles und noch einiges mehr verdanke: meiner Mutter.